Jubiläum: Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen [1 ed.] 9783737008013, 9783847108016

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Jubiläum: Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen [1 ed.]
 9783737008013, 9783847108016

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Schriften der Wiener Germanistik

Band 6

Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Franz M. Eybl / Stephan Müller / Annegret Pelz (Hg.)

Jubiläum Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen

Unter Mitarbeit von Thomas Assinger und Dennis Wegener

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-7766 ISBN 978-3-7370-0801-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Deutsches Wçrterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band 4, 2. Abtheilung, bearbeitet von Moriz Heyne, Leipzig 1877, Sp. 2343

Inhalt

Jubiläen. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alois Hahn Jubiläum und Gedenken im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Berner Vom Erlassjahr zur heilsgeschichtlichen Zäsur. Das Jobeljahr im Alten Testament und in der frühjüdischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Kammer Zur Gegenwart der Jubiläen. Zeitform und Zeitformat einer Selbstbeobachtung von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Macho Die Stunde Null . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Birgit R. Erdle Die Jahre der Universität sind gezählt. Zur Zeitlichkeitsfigur des Jubiläums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Winfried Müller Die inszenierte Universität. Historische und aktuelle Perspektiven von Universitätsjubiläen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Brigitta Schmidt-Lauber Die (sich) feiernde Universität. Bedeutungsstiftungen durch Jubiläen

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. .

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Inhalt

Veit Damm Wirtschaft und Kultur im Kaiserreich – Systematische Überlegungen am Beispiel der Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Wolfgang Flügel 1817 in Amerika. Das Reformationsjubiläum als Minderheitenphänomen

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Jubiläen. Eine Einleitung

Die Jubiläumsfeier zum 650-jährigen Bestehen der Universität Wien (2015), der ältesten im deutschen Sprach- und Kulturraum, entfachte lange ante festum universitätsweit Aktivitäten zur zweckmäßigen Gestaltung und gehörigen Wirkung des Anlasses. Dazu gehörte die Reflexion über die Zeit und ihre Rhythmisierung und Sinnstiftung sowie über die damit verbundenen Praktiken, also über die kulturwissenschaftlichen Grundlagen eines Jubiläumsszenarios. Im vorliegenden Band sind als Antwort auf diese Fragen spezifische Aspekte des Jubiläumsthemas vorgestellt, die vielfach mit dem Typus des Universitätsjubiläums im Allgemeinen und der Universität Wien im Besonderen zu tun haben. Als eine Instanz dieser Reflexion formierte sich eine Arbeitsgruppe am Institut für Germanistik, die das Projekt 650 Jahre Sprach- und Textkulturen. Das materielle und immaterielle Kulturerbe der Universität Wien entwickelte und unter die Schirmherrschaft der Österreichischen UNESCO-Kommission stellen konnte. Im Rahmen des UNESCO-Wissenschaftsprogramms, das die Anpassung der Wissenschaftspolitik an die Bedürfnisse der Gesellschaft ausdrücklich fördert und auf allen Ebenen die kulturelle Vielfalt und den Pluralismus in den Medien durch den Erhalt und die Sicherung des schützenswerten beweglichen und unbeweglichen dokumentarischen Erbes der Menschheit unterstützt (Bücher, Manuskripte, audiovisuelle Medien), zielte das Projekt 650 Jahre Sprach- und Textkulturen auf die Förderung einer qualifizierten Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Herausforderungen der wissenschaftlichen (und alltäglichen) Praxis im Forschungs- und Bildungsbereich gerade durch eine breite historische Reflexion sprachgebundener Praktiken im Fokus einer Institution während langer Zeiträume. Text, Institution und Zeit sind die Eckpfeiler der theoretischen Modellierung unseres Feldes. Dass Sprach- und Literaturwissenschaften auf Texte verpflichtet sind, bedarf keiner Abstützung. Vom Aspekt der Materialität und Medialität her rücken jedoch sofort die Institutionen des Bewahrens und der Dissemination ins Blickfeld, die Horte des Bewahrens und Deutens, mithin das Archiv und die

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Jubiläen. Eine Einleitung

Universität, die Wissensansammlung (memoria) und Wissenszirkulation ermöglichen und deren Wandel von der Manuskript- zur Druckkultur sowie deren elektronischer Weiterentwicklung begleiten und behausen. Mit diesem Eckpunkt »Materialität und Raum« setzte die Vermittlung und Vertiefung des Themas durch eine Reihe von Veranstaltungen ein. Stephan Kammer leitete während seiner Wiener Gastprofessur im Wintersemester 2012/ 13 den Workshop »Archive lesen« (Jänner 2013), der mit Blick auf wichtige Wiener Archive und durch ihre Vertreter die Grundlagen materieller Sicherung und Bereitstellung von Texten und Archivmaterialien textkulturellen Zusammenhangs erörterte und problematisierte; Archivbegehungen durch die Studierenden folgten. Im Zuge der gleich betitelten Vortragsreihe erweiterten wir im Sommersemester 2013 die erarbeiteten Aspekte durch ein Board internationaler Forscherinnen und Forscher im Rahmen einer Ringvorlesung. Der Aspekt der Zeit musste uns in mehrfacher Hinsicht interessieren, sie spielt im diachronen Forschungsparadigma von Sprach- und Literaturentwicklung eine ebenso große Rolle wie in den Untersuchungsobjekten und Artefakten des Gegenstandsbereichs selbst, ist doch schon seit Lessing mit der Definition der Poesie als »artikulierte Töne in der Zeit« (Laokoon, 1766, Kap. 16) die Kategorie der Zeit mit dem Zeichenstrom der Sprache untrennbar verbunden: »Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters« (Kap. 18). Nicht nur auf der Ebene der Artikulation selbst, sondern als Objekt wie als ästhetischer Modus der Verzeichnung interessiert Chronikalität und chronikalisches Schreiben Geschichtswissenschaft und Textwissenschaften gleichermaßen. Diesen Gesichtspunkt hat Detlev Schöttker als Gastprofessor im Wintersemester 2013/14 entfaltet und im Jänner 2014 im Workshop »Chronistik und Literatur« diskutiert. Hier wurden die Modi des literarischen Aufzeichnens in ihrer Relation zur Historiographie, aber auch zu jeweiligen geschichtsphilosophischen Zeitkonzepten gemustert und in Bezug auf ihre ästhetische Leistungsfähigkeit untersucht. Fortgesetzt hat dies die Vortragsreihe »Literatur und Chronistik«, die im Sommersemester 2014 mit nationalen und internationalen Vortragenden aus der Älteren und Neueren deutschen Literatur ein breites Panorama chronikalischen Schreibens und vor allem dessen literarischer Produktivität vom Mittelalter bis in die Darstellungsformen der Netzliteratur hinein aufweisen konnte. Nun eignet der Zeit das kontinuierliche Element der Dauer ebenso wie das Element des Ereignisses, das singulär bleiben kann, oder aber, bereits im Jahreskreis und dessen kultureller Überformung von den römischen Tages- und Monatsnamen bis zum christlichen Festkalender, zyklisch wiederkehrt. Es ist der Gegensatz, der zwischen Alltag und Fest, Belanglosigkeit und Sensation, Kalender und Prodigium Unterscheidungen herstellt und als kulturell hoch ausdifferenzierte Kodifikations- und Verhaltensstrategie den Umgang mit Zeit

Jubiläen. Eine Einleitung

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kennzeichnet. Zeit und Zeitverlauf wird innerhalb eines geschichtsteleologischen Sinnrahmens darstellbar und begreifbar. In dieses Problemfeld gehören die Jubiläen als herausgehobene, außeralltägliche Ereignisse innerhalb kulturell dicht codierter Zeitabläufe. Ursprünglich aus der jüdischen Tradition der alttestamentarischen Jubeljahre stammend, wurde die Praxis im Mittelalter mit der Institution des Heiligen Jahres auch für das Christentum adaptiert. Längst werden indes nicht nur diese ursprünglichen Formen gefeiert: Von runden Geburtstagen bis hin zu Universitätsjubiläen provoziert das Auftauchen von Nullen Jubel. Hier setzte die abschließende Tagung Jubiläum. Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen aus Anlass der 650-Jahrfeier der Universität Wien vom April 2015 an, aus deren Beiträgen dieser Band hervorgeht. Einer linearen Zeitstruktur werden Zäsuren eingeschrieben und ein Zeitrhythmus festgelegt, was den Übergang von Linearität zur Zyklizität ermöglicht. In der Kultur des Jubiläums wird Zeit überschaubar und verlangsamt erfahren, denn neben das Rauschen des linearen Zeitverlaufs in Sekunden, Stunden, Tagen oder Jahren treten ordnende Makrostrukturen wie die Dekade, das Centennium oder das Millenium. Die Deutung des Zeitverlaufs erfolgt durch Einschreiben symbolischer Markierungen für bestimmte Daten. An den so geordneten Zeitverlauf binden sich in spezifischer Weise und aus verschiedensten Motiven die Akteure des Jubiläums, deren Biographie an mehreren solchen Jubiläen partizipiert und so diverse soziale Felder integriert. Jubiläen können aber auch exkludierend wirken, indem sie die menschliche Lebenszeit gegenüber der langen Frist zwischen Jubiläen marginalisieren und das Erreichen etwa einer Milleniumsfeier zur Kontingenz stempeln. Jubiläen als Zeitindices erzeugen also kulturelle Semantiken, die in Beziehung zu den Trägern der Jubiläen in verschiedenster Weise verstanden werden können. Ausgangsfragen der hier zusammengestellten Beiträge sind demgemäß: Welche Konsequenzen hat das Innehalten, die Zäsur gegenüber der Kontinuität der Zeitläufte? Welche kulturellen Praktiken bilden sich heraus? Was tut sich im Vor- und Nachfeld des Jubels? Welche Artefakte bringt ein Jubiläum hervor und wie werden Jubiläen selbst zum Gegenstand von Artefakten? Was wird umjubelt und wie wird den Gegenständen der Jubiläen durch den quasi objektiven Zeitpunkt, an dem sie gemessen werden, Geltung zugeschrieben? Wer bestimmt Jubiläumseignung, was in Zeiten immer hemmungsloserer Selbstverliebtheitsszenarien vielleicht keine unwichtige Frage ist. Wie verhält sich das Gefeierte zu den Feiernden? Insgesamt ging und geht es uns um die kulturwissenschaftliche Koppelung von Text und Tun, von den Aufzeichnungs- und Archivierungsverfahren, ihren Medien und Orten, mit den in Hinsicht auf Ort und Zeit ganz unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und Praktiken und ihren symbolischen Bezugssystemen. Non omnia possumus omnes: Wir haben vielen für das Zustandekommen dieses Ergebnisses zu danken, denn unterstützt haben uns Mitarbeiterinnen und

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Jubiläen. Eine Einleitung

Mitarbeiter, Geldgeber und die österreichische UNESCO-Kommission als eine international verankerte Schirmherrin. Hier danken wir namentlich Frau Präsidentin und Botschafterin i.R. Dr. Eva Nowotny und Frau Generalsekretärin Mag. Gabriele Eschig. Die Universität Wien hat uns im Jubiläumsprogramm mitgeführt und unser Projekt unterstützt, ebenso wie die Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät und das Institut für Germanistik. Für tatkräftige Hilfe bei Vorbereitung, Durchführung und Drucklegung der Tagungsbeiträge danken wir Thomas Assinger und Dennis Wegener. Gedankt sei aber auch allen Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland, die als GastprofessorInnen, Vortragende und Diskussionsteilnehmer zur Ausarbeitung unseres Themas inhaltlich entscheidend beigetragen haben. Franz M. Eybl, Stephan Müller, Annegret Pelz

Alois Hahn

Jubiläum und Gedenken im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen

Vorbemerkung Jubiläen sind besondere Formen kollektiv institutionalisierter und inszenierter Erinnerung, ein Sonderfall des Gedenkens. Sie benutzen neben für alles Gedenken typischen Relevanzkriterien wie z. B. die sachliche Bedeutung des Ereignisses, seine moralische Dignität und die soziale Vorbildlichkeit, auch die Identität prägende Wirkung und die lange Tradition als Legitimitätsgrund für ihre Feier. Wie für alle Erinnerung ist es auch für Jubiläen unvermeidlich, das Gedenken auf der Basis des Vergessens zu konstruieren. Dabei muss nicht unbedingt – anders als der Name es nahelegt – die Inszenierung als Vergegenwärtigung von Ruhmestaten organisiert sein. Sie kann – im Gegenteil – als Schuld- und Schamgeschichte veranstaltet werden, wenn diese als Mahnung an das Gewissen oder eine neue Politik auftritt. Wie alles Gedenken sind auch Jubiläen und ihre Gestaltung Beiträge zum Kampf um legitime Daseinsauslegung. Bevor ich aber auf das Jubiläum und das Gedenken komme, möchte ich zunächst einige Anmerkungen zum Gedächtnis und zur Erinnerung machen. Ich gehe dabei zunächst vom individuellen Gedächtnis, also einer Leistung des Bewusstseins, aus, um schließlich Formen von kollektivem Gedächtnis und kollektiver Erinnerung zu erörtern.

1.

Gedächtnis und Erinnerung als Leistungen des Bewusstseins

Wer oder was verfügt eigentlich über die Kriterien, nach denen ein Gedächtnis Inhalte festhält oder eliminiert? Wonach richtet sich, ob etwas für längere oder kürzere Zeit bewahrt wird? Ob es im Kontext von vorgängigen oder nachfolgenden Ereignissen und/oder im Verein mit begleitenden Umständen, Anlässen, Problemen sich einprägt? Jedenfalls sind die Individuen nicht Herr über ihre Gedächtnisinhalte, zumindest nicht vollständig, wenn auch natürlich durch

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Alois Hahn

bewusste Anstrengungen Gedächtnisleistungen gesteigert, bestimmte Inhalte durch wiederholtes Memorieren gegen das Vergessen abgeschirmt werden können. Aber wir können trotzdem nicht beliebig darüber entscheiden, was wir speichern und was wir tilgen wollen; denn auch das Vergessen folgt teilweise einer Eigenlogik, ist Resultat von Strukturen, die von der Gehirnphysiologie oder der Psychologie aufgedeckt werden mögen, die aber jedenfalls nicht in die Kompetenz der freien Selbstreflexion des Bewusstseins gegeben sind. Der Gedächtnisinhalt ist möglicherweise verstehbare Gegebenheit, aber ob etwas als solche fungiert, hängt von nicht selbst verstehbaren Voraussetzungen ab. Die Soziologie hat stets behauptet, dass schon die Wahl dessen, was ein individuelles Bewusstsein als gedächtniswürdig speichert, von sozialen Relevanzstrukturen abhängig ist. Vor allem die Sprachlichkeit vieler, wenn nicht der meisten sinnhaften Erlebnisse bindet deren Speicherung im Gedächtnis an soziale Ordnungsstrukturen. Aber auch da, wo das Gedächtnis Wahrnehmungen optischer, akustischer, z. B. musikalischer, oder olfaktorischer Art registriert, sind diese nicht frei von kulturellen Überformungen. Auch Bilder, an die wir uns erinnern, sind typischerweise mit Bedeutungen durchwebt. Dass wir uns an bestimmte Tonsequenzen besser als an andere erinnern können, hängt einerseits von unserer musikalischen Kultur und unserer diesbezüglich größeren oder geringeren Kompetenz ab, andererseits von der Häufigkeit, Intensität oder eben auch der lebensgeschichtlich bedingten Assoziation von Tönen und biographisch relevanten Ereignissen.1 Individuelle Erinnerungen haben ihren Sitz im Leben, und das heißt, sie vollziehen sich im Kontext von Handlungen und Erwartungen, die durch die Gesellschaft vorgezeichnet sind. Selbst wenn kein Individuum dieselben Erinnerungen hätte wie ein anderes – was so gewiss nicht stimmt –, wären doch die, so unterstellen wir einmal, einzigartigen Inhalte des jemeinigen Gedächtnisses Folgen von Auseinandersetzungen mit sozialen Begegnungen, Lektüren, Ängsten, Kämpfen, Siegen und Niederlagen. Die Rede vom »Speichern« ist dabei metaphorisch aufzufassen. Denn Speichern im Zusammenhang von Gedächtnis und Erinnerung heißt zunächst nur, dass das Bewusstsein sich in bestimmten Situationen eines Inhalts bewusst ist, den es sich als zwar vergangenes, aber doch wirkliches Geschehnis vorstellt, also nicht als bloße Phantasie oder Erfindung. Es mag sich zwar aus der Perspektive eines Beobachters um eine Illusion handeln. Aber derjenige, der sich erinnert, empfindet das anders. Er hat den zwingenden Eindruck, dass seine »Gedächt1 Den Typen des Hörers, wie sie etwa Adorno unterschieden hat, entsprechen durchaus auch Typen des musikalischen Gedächtnisses. Das simple Wiedererkennen von Einzelmotiven beim »Bildungskonsumenten« und das strukturelle Hören des musikalischen Experten wären denkbare Alternativen des Erinnerungsvermögens. Die Differenz korrespondiert mit sozial fundierten Unterschieden der Hörgewohnheiten und der musikalischen »Kultur«. Vgl. Adorno 1977, S. 14–34.

Jubiläum und Gedenken im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen

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nisvorräte« wirkliche Gegebenheiten der Vergangenheit repräsentieren, auf die er aktuell zugreift. Ihm erscheint sein Gedächtnis wirklich als Speicher, dessen »Bestände« er besser oder schlechter »wiederfindet«, die sich vermehren oder vermindern, über die er eine genauere oder ungenauere Übersicht hat usw. Mit dieser Selbstauffassung von sich als einem »Speicher«, in dem sich etwas befinden muss, wenn man es wieder finden können soll, verbirgt das Gedächtnis seine eigene konstruktive Leistung. Vom Gedächtnis möchte ich die Erinnerung unterscheiden. Wenn das Gedächtnis bereits eine Auswahl aus den im Laufe der Zeit erlebten Ereignissen bildet, so könnte man die Erinnerung als jene Auswahl bezeichnen, die aktuell für einen Augenblick aus den Beständen des Gedächtnisses getroffen wird. Für Computerfreunde: Die Erinnerung wäre der »retrieval function« analog. Denn wenn auch der Umfang des Gedächtnisses noch so groß sein mag, im jeweiligen Moment kann es niemals als Ganzes herbei zitiert werden. Die Erinnerung wäre also eine Auswahl aus einer Auswahl. Sie wird nicht – jedenfalls nicht primär – vom Gedächtnis selbst gesteuert, sondern folgt den Zwängen der gegenwärtigen Situationen. Diese entlassen gleichsam Suchaufträge an das Gedächtnis, das sich dann einer solchen Vergegenwärtigungsintention fügen oder verweigern kann. Der Strom unserer Erinnerungen, der bewussten Thematisierungen von Gedächtnisinhalten, die u. U. nicht nur für uns, sondern auch für andere produziert werden, ist also sorgfältig vom bloßen »Vorrat« des Gedächtnisses zu scheiden, der vielleicht niemals »angezapft« wird. Andererseits ist stets damit zu rechnen, dass unsere Erinnerungen nicht die Vergangenheit so wiedergeben, wie sie damals für uns wirklich war. Die vergegenwärtigte Vergangenheit sieht stets anders aus als die Vergangenheit, als sie noch Gegenwart war2 Sich erinnern kann also niemals heißen, eine Vergangenheit so zu vergegenwärtigen, wie sie als Gegenwart war. Wenn man unter der Mahnung, etwas wiederzugeben, so wie es wirklich gewesen ist, eben jenes versteht, verlangt man Unmögliches. Und das gilt nicht erst, wenn es sich um die Geschichte eines Staates oder auch nur einer Schlacht, einer Debatte etc. oder eben der Gründung einer Universität handelt, sondern bereits bei der Vergegenwärtigung indivi2 Eine Einsicht, die sich bereits bei Augustin in der Unterscheidung von praesens praeteritum und praeteritum praesens findet. Das ist so, nicht nur weil unsere Erinnerung uns direkt täuscht, uns also Ereignisse als Erlebnisse vorspiegelt, die wir damals nie hatten. Vielmehr entsteht die Differenz zwischen der Vergangenheit als Erinnerung und der jetzt vergangenen früheren Gegenwart auch dann, wenn die Einzelereignisse je für sich korrekt wieder auftauchen. Die Inkommensurabilität ergibt sich aus der Nichtidentität der Horizonte, in denen die Ereignisse im Erleben und in der Erinnerung erscheinen. Nicht nur, dass die Totalität der vergangenen Umstände, unter denen das erinnerte Moment sich ereignet hat, nicht miterinnert werden kann, spielt hier eine Rolle. Wichtiger ist wohl, dass das, was aus den damaligen Möglichkeiten geworden ist, was wir aber damals nicht wissen konnten, und ganz generell: das, was wir inzwischen erlebt haben, die erinnerte Vergangenheit in ein anderes Licht stellt.

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Alois Hahn

duellen Erlebens. Allerdings machen wir uns diese Differenz im Alltag normalerweise nicht klar. Wir sind vielfach subjektiv überzeugt, dass unsere Erinnerung die Wiederbelebung der Vergangenheit ist3. Man kann das auch so ausdrücken: Alle Erinnerung ist Konstruktion. Sie lässt die Vergangenheit nicht einfach wieder aufleben. Diese Einsicht ist phänomenologisch evident. Aber auch die soziologischen Analysen der Erinnerung, z. B. die von Maurice Halbwachs, haben das stets betont.4 Die Erinnerung an Vergangenes hat stets die Gegenwart gleichsam »im Rücken«. Von ihr her springt sie in ihrer Vergangenheit hin und her, ohne an die ursprüngliche Reihenfolge gebunden zu sein, ohne die Fülle der Kopräsenzen der vergangenen Gegenwart berücksichtigen zu müssen. Das ist im Falle von Erinnerung an Schmerzen normalerweise ein Segen. Aber auch Glücksgefühle lassen sich erinnernd nicht »live« rekonstruieren. Vor allem aber geht in die Erinnerung bereits das intellektuelle »Gepäck« ein, das wir uns nachträglich angeeignet haben. Nie wird aus der gegenwärtigen Vergangenheit eine vergangene Gegenwart. Ähnlich wie die Wahrnehmung für die Gegenwart bringt das Gedächtnis für 3 Zumindest was ihren inhaltlichen Bestand – ihre No[mata im Husserlschen Sinne betrifft; denn dass die no[tische Gegebenheit eine andere ist, das wissen wir immer schon, also dass wir es jetzt bloß erinnern, damals aber erlebt haben. Ich will noch eine andere Differenz zwischen aktuellem Erleben und Erinnern erwähnen. Ein großer Teil unserer Erinnerungen erscheint uns in der Form einer Selbsterzählung, damit sind sie, und zwar nicht nur dann, wenn wir sie anderen mitteilen wollen, an narrative Form gebunden. Mit dieser Trivialität ist etwas nicht ganz so Triviales verknüpft: Die narrative Form zwingt dem Dargestellten seine Gesetze auf. Das Dargestellte ist schon, weil es das Dargestellte ist, nicht dasselbe wie das, was es vor aller Darstellung war. Und zumindest ein großer Teil unserer Erinnerungen hat auch für uns selbst, also wenn wir nicht anderen etwas erzählen, die Form einer Erzählung, ist Selbstgespräch. Damit soll gewiss nicht behauptet werden, alle Erinnerung sei so beschaffen. Von der sprachlich-logischen Erinnerung könnte man eine ikonische unterscheiden. Und vielleicht sollte man auch eine dritte Variante nicht vergessen, die man als »deiktische« bezeichnen könnte. Kommunikativ wird sie dann aktiviert, wenn wir etwa einem anderen nicht ein konkretes Ereignis berichten, sondern lediglich auf etwas verweisen, von dem wir annehmen, dass der andere schon weiß, was wir meinen. In Wirklichkeit mögen dann in seinem Bewusstsein Erinnerungen aufsteigen, die sich himmelweit von denen unterscheiden, auf die wir verweisen wollten. Da man aber darüber nicht weiter redet, bilden sich u. U. lebenslange Konsensfiktionen in Bezug auf die Gemeinsamkeit geteilter Erinnerungen aus. Oft sind es pure Zufälle, die solche Fiktionen blitzartig als solche enthüllen. Hier besteht die Fiktionalität primär in der Unterstellung der interindividuellen Gemeinsamkeit von Erinnerung. Aber auch ohne dass andere beteiligt sind, ist der subjektive Glaube, die eigene Erinnerung sei deckungsgleich mit der Vergangenheit, auf die sie sich bezieht, eine Fiktion, oft allerdings eine notwendige und jedenfalls unvermeidliche. Sie sollte deshalb nicht etwa mit Täuschung oder Lüge verwechselt werden. 4 Vgl. Halbwachs 1976, S. 27–39 (urspr. Paris 1925). Halbwachs war unter Soziologen auch in Deutschland eigentlich stets bekannt, durch die vergleichsweise frühe Übersetzung (1966) sogar eher als sein Lehrer Durkheim. Populär geworden ist er aber bei uns wohl erst seit Aleida und Jan Assman ihn in den letzten Jahren auch für ein nicht-soziologisches Fachpublikum wieder entdeckt und adaptiert haben: Interdisziplinarität als Generator von Erinnerung.

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die Vergangenheit jene erstaunliche Leistung zustande, dass das Bewusstsein Veränderung seiner eigenen Zustände nicht auf sich selbst, sondern auf die Umwelt bezieht und so zwischen bloßen Phantasien und wahrgenommenen bzw. erinnerten Wirklichkeiten unterscheidet. Obwohl es sich also um Konstruktionen des Bewusstseins handelt, kann dieses sich nicht beliebig einbilden, etwas wahrzunehmen oder zu erinnern. Es stößt auf mit seiner eigenen Struktur gegebene Widerstände. »Das Bewußtsein glaubt nicht an alles, was es denken kann.«5 Der gleiche Typus von Widerstand findet sich auch für alle Formen des sozialen Gedächtnisses: Auch hier kann nicht Beliebiges als erinnerte Vergangenheit behauptet werden. Was als Erinnerung sozialen Kurswert beanspruchen will, muss sozial kreditwürdig sein. Die Kriterien dafür variieren allerdings von Gesellschaft zu Gesellschaft erheblich. Immer aber ist es so, dass nicht die Wahrheit der Vergangenheit selbst sich gegen falsche Inanspruchnahme wehrt. Es sind die sozial gültigen Regeln der Beschwörung dessen, was war, die den Horizont dessen bilden, was als Vergangenheit beschworen werden kann. Zumindest für moderne Gesellschaften sind diese nicht einheitlich, so dass wir mit gleichzeitig kursierenden, aber einander widersprechenden Vergangenheiten konfrontiert sind. Doch davon später. Immerhin haben diese Bemerkungen schon angedeutet, dass Gedächtnis nicht ausschließlich etwas Privates und Individuelles ist, sondern auch etwas Kollektives.

2.

Kollektives Gedächtnis

Dem französischen Soziologen Halbwachs verdankt die Soziologie den Begriff des »kollektiven Gedächtnisses«. Er schließt sich mit diesem Konzept eng an Vorstellungen seines Lehrers Durkheim an. Dieser hatte zwischen individuellem und kollektivem Bewusstsein unterschieden. Das kollektive Bewusstsein meint aber bei Durkheim keinesfalls ein jenseits individueller Hirne operierendes Mysterium, sondern jene Inhalte des individuellen Bewusstseins, die eine gegebene Person mit den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe oder Gesellschaft teilt. Dabei bezieht sich dieses »Teilen« nicht nur auf die Inhalte rein als solche, sondern auch auf die Struktur ihres Zusammenhanges, auf die Sprache, in der sie ausdrückbar wären, auf die Ordnung ihrer Details, auf die emotionale Stimmung und die moralische oder religiöse Färbung ihrer Empfindung. Halbwachs spricht in diesem Zusammenhang von den »cadres sociaux«. Für Durkheim nun ist klar, dass die Kollektivvorstellungen nicht etwa die Vorstellung eines Kollektivs sind, sondern Vorstellungen von einzelnen, die einem bestimmten Kollektiv ange5 Luhmann 1995, S. 168.

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hören und auf Grund der gemeinsamen Erziehung und Tradition ähnliche Formen und Inhalte des aktuellen Empfindens und Erinnerns aufweisen. Halbwachs hat das eindringlich »ausbuchstabiert« und die kollektiven Strukturen des Gedächtnisses von Mitgliedern der gleichen Familie6, Religionsgemeinschaft7 oder Klasse, bzw. des gleichen Standes, wie z. B. des Adels, der Bourgeoisie oder bestimmter Berufsgruppen, beschrieben. Durkheim selbst war sich indessen zunehmend mehr der Tatsache bewusst, dass das kollektive Gedächtnis für die Moderne eine immer geringere Rolle spielen kann, dass es also eigentlich eher eine historische Formation des Bewusstseins ist. Mit wachsender Arbeitsteilung müssen die kollektiv gemeinsamen Inhalte der Bewusstseine aller Individuen zunehmend reduziert werden. Die Säkularisierung führt zu einer Abnahme der religiösen, die Privatisierung der Familie und der Bedeutungsverlust der Verwandtschaft zu einer Erosion der privaten Formen des Kollektivbewusstseins. Für Schichten und Klassen ließe sich das Gleiche zeigen.8 Für Durkheim war überdies wichtig, dass alle Formen der kollektiven inneren Wirklichkeit der permanenten äußeren Bestätigung und vor allem der rituell inszenierten und wiederholten Demonstration ihrer Gültigkeit bedürfen. Auch für das Gedächtnis gilt, »[…] daß der Mensch für die Realität seiner Vorstellungen und Emotionen weitgehendst auf die sozialen Gruppen angewiesen ist. So wie das Kind zum Erwerb geformter Vorstellungen und Empfindungen der menschlichen Gruppe bedarf, so bedarf der Erwachsene ihrer, um sich der Realität seines Bewußtseins zu versichern. Je weniger konkret die Gegenstände von Bewußtseinsinhalten sind und je weiter diese von der formlosen und impulsiven Basis individuellen Erlebens entfernt liegen, d. h., je stärker sie kultureller Erwerb sind, um so mehr ist ihre Realität in der Gruppe investiert. Ihrer Wirklichkeit versichert sich der Mensch, indem er die mit ihnen gesetzten Formen sprachlich, emotionell, vorstellungshaft und in Handlungen am sozialen Gegenüber erlebt, und diese wiederholt und vorhersehbar zu erleben und mitzuteilen sind. Die soziale Realität vertritt die objektive Realität.«9 Damit dies aber möglich ist, bedarf es 6 Ebd., S. 146–177. 7 Ebd., S. 178–221. 8 Das heißt nicht, dass es nicht immer wieder neue Gruppierungen gibt, deren Mitglieder partiell kongruente Auffassungen hätten. Aber jedes der beteiligten Individuen gehört eben zahlreichen anderen Kreisen an, in denen andere Vorstellungen gelten. Simmel hat das so sich konstituierende Individuum deshalb als »Kreuzungspunkt sozialer Kreise« beschrieben. Die These Durkheims meint folglich, dass es immer weniger Inhalte gibt, die von allen Individuen einer Gesellschaft geteilt werden. Man könnte den gleichen Tatbestand auch so formulieren: Die Schwächung des Kollektivbewußtseins ergibt sich daraus, dass es sich pluralisiert, und zwar sowohl bezogen auf die Gesellschaft als Ganzes als auch im Hinblick auf die heterogenen Kombinationen von Kollektivbewusstseinen, die ein Einzelbewusstsein prägen. Ausführlicher zu diesem Thema: Bohn / Hahn 1999, S. 33–61. 9 Tenbruck 1960, S. 131.

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spezifischer »reality maintaining procedures«. Berger und Luckmann10 hatten diesen Begriff geprägt für soziale Institutionen, die angesichts schwerer Krisen – z. B. Tod oder Katastrophe oder Invasionen durch »foreign interpretations of reality« – ein sozial konstruiertes Wirklichkeitsverständnis plausibel erhalten. Für die Aufrechterhaltung des Realitätsstatus von kollektiven Gedächtnissen sind aber permanente Prozeduren erforderlich, deren Ziel es sein muss, immer zahlreicheren und heterogener geprägten Bewusstseinen die gleichen Inhalte als Memorabilien einzuschärfen. Natürlich kann man auch Selbsterlebtes vergessen oder verdrängen. Die kollektiv »erinnerte« Vergangenheit bezieht sich aber zum größten Teil auf Ereignisse, die vor der eigenen Geburt oder außerhalb der aktuellen Reichweite des eigenen Erlebens geschehen sind. Dass man an sie glaubt, setzt also voraus, dass man den Mitteilungen vertraut, durch die wir von ihnen erfahren. Die Wahrheit kollektiv akkreditierter tradierter Erinnerungen zu leugnen, heißt also immer auch die Gültigkeit verpflichtender Auffassungen von Wirklichkeit zu bezweifeln. Im 16. Jahrhundert war die Leugnung bestimmter Offenbarungen, z. B. dass Christus selbst dem Heiligen Petrus die Schlüsselgewalt verliehen habe, gleichbedeutend mit einer empörenden Herausforderung der etablierten Autorität. In dem Maße, wie kollektiv sanktionierte Inhalte zu identitätsrelevanten Beständen eines sozialen Systems, z. B. eines Staates oder einer Kirche, werden, löst ihre Bestreitung denn auch Empörung und Sanktionsbereitschaft aus. Diese Reaktion ist von der historischen Wahrheit der Bestände, wie sie ein äußerer Beobachter feststellen könnte, ganz unabhängig. Galileis Thesen wirkten empörend, obwohl sie aus unserer Sicht eher den Tatsachen entsprachen als die tradierten Auffassungen seiner Gegner. Umgekehrt würde uns heute jemand kaum übermäßig aufregen, der das geozentrische Weltbild propagieren würde, obwohl wir es für falsch halten. Wir würden darauf vertrauen, dass solche »offensichtlichen« Irrtümer im Prozess der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von allein korrigiert würden. Das Gleiche trifft auf die Behauptung zu, drei Jahrhunderte der europäischen Geschichte des Mittelalters seien schlicht erfunden. Das heißt aber nicht, dass wir unsererseits bereit wären, alle Bestände kollektiven Gedächtnisses der schlichten Prüfung der in ihren Ergebnissen ja unberechenbaren historischen Forschung auszusetzen. Wir könnten es auch gar nicht, weder individuell, noch kollektiv. Denn bestimmte Erinnerungen werden nicht dadurch verzichtbar, dass sie in Einzelheiten mit dem akuten Stand falsifizierbarer empirischer Forschung inkompatibel sind.11 Da, wo es unter modernen Bedingungen überhaupt noch kollektives Ge10 Berger / Luckmann 1966, S. 143. 11 Diese These ist selbstredend nicht normativ, sondern empirisch gemeint, also als selbst falsifizierbare Behauptung.

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Alois Hahn

dächtnis gibt, wird der Anteil an planvoll inszenierter Arbeit, es herzustellen, immer größer werden. Man kann auch sagen: Angesichts der enormen Heterogenität dessen, was gegenwärtig Moment des individuellen Bewusstseins ist, sind die Chancen für jeden einzelnen Inhalt, Moment des kollektiven Bewusstseins zu werden, extrem gering. Und das gilt auch für das Gedächtnis. Hier herrscht Knappheit! Herstellung von kollektivem Gedächtnis ist deshalb gegenwärtig nur durch Inszenierungen zu bewerkstelligen, die Massenaufmerksamkeit binden. Kollektives Gedächtnis wird deshalb im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften kürzere Verfallszeiten aufweisen. Unter diesem Aspekt wird es folglich nicht mehr selbstverständlich, dass man die Gründung einer Universität vor 650 als Jubelfeier begeht. Nicht die Relevanz des Ereignisses als solchem kann das begründen. Es handelt es sich um aktuelle Relevanzsetzung. Kollektives Gedächtnis muss institutionalisiert sein. Seine Bestände sind nicht einfach gegeben sind, sondern es wird ihnen eine Art von Verbindlichkeit vindiziert. Sie haben insofern kanonischen Charakter. Ob man z. B. einen Dichter oder Gelehrten oder ein Ereignis wie eine Universitätsgründung vergisst oder nicht, hängt dann nicht mehr bloß an individuellen Vorlieben. Man ist verpflichtet, eine ganz bestimmte Vergangenheit in der Form zu kennen, in der sie in einem Volk, einem Staat oder einer religiösen oder wissenschaftlichen Gemeinschaft als Wahrheit gilt. Man definiert seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppierung dann u. a. durch die Kenntnis bzw. den Glauben an diese Vergangenheit und ihre feierbare Bedeutung. Das Gedächtnis als gemeinsames ist insofern eine wesentliche Basis der Gemeinsamkeit selbst. Sie wird geradezu durch jenes gestiftet. Dabei geht es nicht bloß um die gleichsam zufällige interindividuelle Konstanz von Bewusstseinsbeständen, sondern um deren ausdrückliche und zum Thema gemachte Gleichheit. Die sanktionierte Identität des Gedächtnisses der Gruppenmitglieder wird bisweilen sogar als Voraussetzung für die Identität der Gruppe selbst proklamiert. Dabei spielt es nicht unbedingt eine Rolle, ob die Inhalte sich auf selbst Erlebtes stützen oder aber weit zurück in einer Vergangenheit liegen, die kein einziges Gruppenmitglied noch erlebt hat. Entscheidend ist, dass die Kriterien für die Institutionalisierung von kollektivem Gedächtnis, als deren profiliertesten Fall man Kanonbildungen12 ansprechen könnte, nicht in der realen Vergangenheit selbst liegen. Nicht weil es geschehen ist, ist es schon bedeutsam. Nicht weil es wahr ist, muss es auch erinnert werden. Die Institutionalisierung ratifiziert nicht reale Bedeutsamkeiten, sondern kreiert sie. Bisweilen ist diese Schöpfung sogar eine creatio ex nihilo.

12 Vgl. hierzu Hahn 1987, S. 28–37 und Hahn 1998, S. 459–466 und zahlreiche weitere Beiträge dieser beiden Bände.

Jubiläum und Gedenken im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen

3.

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Soziales Gedächtnis

An dieser Stelle soll ein weiterer Begriff eingeführt werden, nämlich der des sozialen Gedächtnisses. Das soziale Gedächtnis, man könnte auch vom »objektivierten« oder »archivierten« sprechen, so wie es hier verstanden wird, darf nicht mit dem kollektiven verwechselt werden. Letzteres ist ja stets ein Moment individueller Bewusstseine. Das soziale Gedächtnis hingegen kann sich – zumindest seit es Schrift und andere Formen der Aufzeichnung von Kommunikation gibt – vom Gedächtnis der Individuen völlig unabhängig machen. Während für das kollektive Gedächtnis gilt, dass es Moment aller Bewusstseine eines gegebenen Kollektivs ist, kann ein Text in einer Bibliothek für Jahrhunderte überdauern, ohne während dieser Zeit Moment auch nur eines Gedächtnisses zu sein. Mit anderen Worten: Im sozialen Gedächtnis befinden sich Kommunikationen, auf die unter bestimmten Bedingungen zurückgegriffen werden kann. Geht man vom Gesamtbestand aller Inhalte von Gedächtnis aus, so stellen alle anderen Formen des Gedächtnisses schon rein quantitativ nur einen Bruchteil des virtuell Erinnerbaren zur Verfügung. Die »Speicher«, um die es sich hier handelt, sind also größtenteils bewusstseinsextern: Bibliotheken, Archive, Disketten, Festplatten, Filme usw. Das heißt nicht, dass in Gesellschaften dieser Art Aktualisierungen von Gedächtnis, also Erinnerung, von psychischen Gedächtnisleistungen unabhängig würde. Fast ist man versucht zu sagen: Im Gegenteil! Denn gerade Schriftkulturen können ja nur funktionieren, »[…] wenn alle Teilnehmer sich laufend daran erinnern können, wie geschrieben und gelesen wird. Ein soziales Gedächtnis muß sich außerhalb – was nicht heißt: unabhängig von – psychischen Gedächtnisleistungen bilden. Es besteht denn auch allein in der Verzögerung von Wiederverwendungen der Worte und des mit ihnen gebildeten Aussagesinns. Psychische Systeme werden gleichsam nur als Zwischenspeicher benutzt. Entscheidend für das soziale Gedächtnis ist das Abrufen von Gedächtnisleistungen in spätere sozialen Situationen, wobei das psychische Substrat über längere Zeit durchaus wechseln kann.«13 Einige der vorstehenden Überlegungen über Gedächtnis und Erinnerung lassen sich trotz der Unterschiede der involvierten Systeme auch auf das soziale Gedächtnis anwenden. Auch »soziale Speicher« sind selektiv, obwohl die Menge des prinzipiell Gedächtnisfähigen in der Gegenwart gegen unendlich gehen mag. Jetzt erst existiert ein Gedächtnis, das sich unabhängig gemacht hat von seiner Verankerung in einem individuellen Bewusstsein. Die Bestände des objektiven Gedächtnisses entspringen zwar in letzter Instanz subjektivem Bewusstseinsleben, aber sie können weiter existieren ohne Moment eines individuellen Gedächtnisses zu sein. Um sich ihrer zu erinnern, bedarf es freilich ihrer Re13 Luhmann 1995, S. 216f.

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inkarnation in ein individuelles Bewusstsein oder einer aktuellen Kommunikation. Aber ihre virtuelle Unsterblichkeit hängt nicht mehr vom ununterbrochenen Strom der Tradition von Bewusstsein zu Bewusstsein ab. Sie können nach einem langen Dornröschenschlaf immer noch wieder erweckt werden. Mit der Vervielfältigung des objektiven oder archivierten Gedächtnisses wächst nicht nur die Differenz zwischen dem, was ein Einzelner wissen kann und dem, was virtuell als aktualisierbares Wissen zur Verfügung stünde. Es reduziert sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Inhalt zum Moment des kollektiven Gedächtnisses wird, vor allem, dass dies auf Dauer geschieht, wird für immer weniger Inhalte vorstellbar. Spontan kann sich die Transformation von archiviertem in kollektives Gedächtnis ohnehin nicht vollziehen. Es bedarf der Veranstaltung, des Kampfes um Aufmerksamkeit. Und die ist ohne Inszenierung nicht zu haben. Doch bevor wir uns mit dieser vielleicht allzu skeptischen Ansicht abfinden, möchte ich noch eine Alternative prüfen. Könnte nicht die Selektion des Erinnerungswürdigen – also dessen, was vom bloß Archivalischen mit Recht zum Moment der lebendigen kollektiven Erinnerung wird – mit Qualitäten des Erinnerten selbst zu tun haben?

4.

Kulturbedeutung und Objektivität

Wenn es darum geht, die Gründe zu bestimmen, die etwas Vergangenes bedeutsam machen, so ließen sich verschiedene Kriterien denken. Man könnte zunächst vielleicht glauben, dass es so etwas wie objektive Bedeutsamkeit gibt. Man würde dann über ein Kriterium verfügen, bei dem die Auswahl des Gedächtniswürdigen nicht aus den Prägungen des Gedächtnisses, sondern aus den Eigenschaften und Strukturen seiner Gegenstände folgt. Bekanntlich hat Max Weber mit aller Entschiedenheit diese Möglichkeit für die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit bestritten. Ich darf das einschlägige Zitat aus dem »Objektivitätsaufsatz« ins Gedächtnis zurückrufen: Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit […] ist eine Erkenntnis unter spezifisch besonderen Gesichtspunkten. Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementare Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unterscheidung die erforderlichen ›Gesichtspunkte‹ habe, so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit – bewußt oder unbewußt – auf universelle ›Kulturwerte‹ zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem ›Stoff selbst entnommen‹ werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff

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herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt.14

Weber hat hier zunächst nur die notwendig selektive Vorgehensweise der Kulturwissenschaft im Auge, die sich auf Gegenstände der Geschichte richtet. Aber die Geschichte der Kulturwissenschaft unterliegt gewiss dem gleichen Prädikament. So wie die Wirklichkeit des Wirklichen kein Kriterium für die Stoffauswahl, so enthält auch die Wahrheit des Wahren keines für das Gedächtnis der Wissenschaft. Nicht einmal für sie! Geschweige denn für die Gesellschaft als Ganze oder irgendeine Kollektivität, welche auch immer. Weber zweifelt nicht an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis, wohl aber an der Ableitbarkeit der Gedächtniswürdigkeit aus der Wahrheit.

5.

Gedenken und Jubiläen

Wir haben zwischen Gedächtnis und Erinnerung für Personen unterschieden. Lässt sich eine analoge Unterscheidung auch für das »kollektive Gedächtnis« treffen? Was würde in diesem Falle der Inszenierung der individuellen Erinnerung entsprechen? Ich möchte vorschlagen, hier von öffentlichem »Gedenken« zu sprechen. Kollektive Identitäten stiften sich durch Gedenken, durch mehr oder minder verpflichtende Formen des Bekenntnisses zu einer kollektiven Vergangenheit. Das trifft schon für kleine Kollektive zu wie etwa Familien oder Vereine. Durch Gedenktage, Familiengeburtstage, Jahrestage, Photoalben, Grabstätten, Feste, Denkmäler, Ahnenkulte, Gedenkgottesdienste usw. identifizieren sie sich mit einer Geschichte. Das Gedenken wird so zum Generator kollektiver Identität. Für die Moderne dürfte eine der wichtigsten kollektiven Identitäten, die sich über diese Art von Erinnerung »erschafft«, die Nation sein oder gewesen sein. Ein diesbezüglich ebenso folgenreicher wie charakteristischer Analytiker der Nation als einer historischen Identität war Ernest Renan. So wie Halbwachs die Funktion des Gedächtnisses vom Bewusstsein auf das Kollektiv überträgt, so setzt auch Renan Nation und Seele in eine Analogiebeziehung. Auch für die Nation wird Identität zum Resultat von Erinnerung. Ihr Gegenstand sind zwar einerseits Heldentaten und ruhmreiche Ahnen, in deren Kult sich die Nation ihrer selbst versichert. Wichtiger aber als all dies ist für Renan das Gedenken an gemeinsames Leid. Während für das europäische Individuum die eigene Identität auch in ruhmreichen Nationen stark an die Vergegenwärtigung seiner Schuld gebunden war, lässt Renan die Identität der Nation als Erinnerung an ihre Leidensgeschichte, wenn auch Ruhm und Heldentum 14 Weber 1968, S. 181.

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nicht fehlen, entspringen. Auch Renan ist freilich durchaus bewusst, dass es sich hierbei um eine Entscheidung handelt. Die Nation hat nicht einfach eine Geschichte, sondern wählt sie im Lichte eines Zukunftsprojekts. Nicht als könnte sie dabei einfach Beliebiges erfinden. Sie bleibt an Historisches gebunden. Gleichwohl verfügt sie »willentlich« über die Vergegenwärtigungen ihres vergangenen Geschicks in ihrer jeweiligen Gegenwart. Im Zentrum steht aber für sie (nach Renan!) die Idee der Schicksalsgemeinschaft, die stärker bindet als »Rasse«, Sprache oder Religion. Ihr Zentrum ist gemeinsame Leiderfahrung.15 Die Beschreibung Renans trifft gewiss den dominanten Typ nationaler Identifikation mit Erinnerungen, wenn auch die Verteilung von Ruhm und Leid in den verschiedenen nationalen Erinnerungen zu verschiedenen Epochen durchaus unterschiedlich sein dürfte. Renan hat die zitierte Rede nach der Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Deutschland gehalten. Ein sicherlich noch stärker überzeugendes Beispiel könnte heute das moderne Israel und dessen Kultur des Gedenkens an den Holocaust sein. Was in Renans Überlegungen nicht auftaucht, ist die Möglichkeit, dass auch Nationen analog zu den oben dargestellten Verhältnissen bei Individuen ihre Identität aus der öffentlichen Inszenierung der Erinnerung an unvergessliche Schuld gewinnen könnten. Gibt es so etwas wie Schulderinnerung als Generator nationaler Identität? Ich glaube ja. Das berühmteste Beispiel könnte man ebenfalls aus der Geschichte Israels entnehmen, und zwar aus der theologischen Verarbeitung des babylonischen Exils. Auch hier ergeben sich Identifikationen aus gemeinsamem Leid und der erinnerten Klage. Aber es kommt ein Moment hinzu, das sich sonst im Kontext nationaler Erinnerung nicht findet: die Interpretation des Verhängnisses als Strafe Gottes und als Folge von Schuld, von Untreue gegenüber Gott: Im Elend zeigt sich die Allmacht Gottes. In der Anerkenntnis der Schuld ihm gegenüber liegt die Begründung von Hoffnung auf Erlösung. Beides aber : Leiderfahrung und Schuldeingeständnis gegenüber 15 »Une nation est une .me, un principe spirituel. Deux choses qui, / vrai dire n’en font qu’une, constituent cette .me, ce principe spirituel. L’une est dans le pass8, l’autre dans le pr8sent. L’une est la possession en commun d’un riche legs de souvenirs; l’autre est le consentement actuel, le d8sir de vivre ensemble, la volont8 de continuer / faire valoir l’h8ritage qu’on a reÅu indivis. La nation, comme l’individu, est l’aboutissant d’un long pass8 d’efforts, de sacrifices et de d8vouements. Le culte des ancÞtres est de tout le plus l8gitime […] Un pass8 h8ro"que, des grands hommes, de la gloire […], voil/ le capital social sur lequel on assied une id8e nationale. […] Dans le pass8, un h8ritage de gloire et de regrets / partager, dans l’avenir un mÞme programme / r8aliser; avoir souffert, joui, esp8r8 ensemble […] voil/ ce que l’on comprend malgr8 les diversit8s de race et de langue […] oui, la souffrance en commun unit plus que la joie. En fait de souvenirs nationaux, les deuils valent mieux que les triomphes, car ils imposent des devoirs, ils commandent l’effort en commun. Une nation est donc une grande solidarit8, constitu8e par le sentiment des sacrifices qu’on a fait et ceux qu’on est dispos8 / faire encore.« Ernest Renan: »Qu’est-ce qu’une nation? Conf8rence faite en Sorbonne, le 11 mars 1882«, zitiert nach: Renan 1992, S. 54.

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JHWH begründen die Ausnahmestellung Israels unter den Völkern und befestigen seine Identität als durch die Schließung des Bundes mit Gott auserwählte Gemeinschaft.16 Man kann es als makaber ansehen, dass diese selbst anerkannte Schuld vor Gott sich nach dem Sieg des Christentums und der aufgezwungenen Existenz in der Diaspora mit dem von außen erhobenen antijudaischen Vorwurf des Gottesmordes verbindet – der eine der historischen Wurzeln des Antisemitismus ist –, der dann als krude Rechtfertigung für Verfolgung und Ermordung instrumentalisiert wird. Das bezeichnendste Beispiel für ein kollektives Gedächtnis, das auf der Erinnerung an nationale Schuld und am Gedenken daran aufbaut, dürfte aber die Bundesrepublik Deutschland – zumindest bis zur Wiedervereinigung – (gewesen?) sein. Ähnlich wie für das moderne Israel das einzigartige Leid, so dürfte für die BRD die Erinnerung an die einzigartigen Verbrechen, die sich mit dem Namen Holocaust verbinden, zumindest für die öffentliche nationale Identität konstitutiv gewesen sein. Es gab keine Nation mehr, außer in jenem negativen Sinne der Identifikation mit der Scham über die Morde, die, wie man zunächst euphemistisch sagte, »in deutschem Namen« begangen worden waren. Deren Einzigartigkeit stand allgemein fest. Gewiss, auch andere Völker mochten Böses verbrochen haben. Aber nichts Vergleichbares. Dabei war schon die Suche nach einem Vergleich selbst ein Sakrileg. Denn die Einzigartigkeit der Verbrechen war nicht eine bloß objektive, keine Einzigartigkeit an sich, sondern eine Einzigartigkeit für uns.17 Bei 16 Vgl. hierzu etwa: »Der Sieg Babylons war nach dessen eigenem Verständnis der Sieg seiner Götter. Für jede nationale Religion […] mußte das das Ende bedeuten. Für Israel und sein Überleben war die wichtigste Voraussetzung, daß nach dem Zeugnis der Prophetie wie des Deuteronomiums die Katastrophe als vom eigenen Gott herbeigeführt verstanden werden konnte und mußte. Nicht andere Götter, JHWH selbst hatte das alles bewirkt. Die Bestätigung der großen Unheilspropheten von Amos bis Jeremia und Ezechiel war erfolgt. Ihre Bücher wurden in dieser Zeit gesammelt und bearbeitet, kommentiert und neu gedeutet. […] In dieser Zeit entsteht das große Geschichtswerk, das die Bücher Josua bis 2. Kön. umfaßt und das man das deuteronomische nennt […] Es versucht […] auf die Frage nach dem Warum Antwort zu geben. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Seine Antwort wird mit den theologischen Grundkategorien des Deuteronomium gefunden […] Das Opfern auf den ›Höhen‹, also die Nichtbeachtung des einen Gottes mit dem einzigen legitimen Heiligtum, wird als Hauptgrund für die Katastrophe gesehen.« Zitiert nach: Crüsemann 1997, S. 159f. 17 Einzigartigkeit soll hier also nicht im positivistischen Sinne als numerische Qualität, als dem factum brutum inhärente Eigenschaft fetischisiert werden. Sie stellt vielmehr einen Relevanzbegriff dar, nämlich den einer singulären moralischen Referenz. Nur als solche entzieht sie sich allem Vergleich. Sie steht folglich auch nicht im Widerspruch etwa zu vergleichenden Strukturuntersuchungen über »totalitäre« Führerdiktaturen oder Analysen, die die Anwendbarkeit des Konzepts der charismatischen Herrschaft auf das Hitlerregime untersuchen. (Zu solcher Art von Vergleichen ist es selbstredend auch schon sehr bald gekommen. Man denke nur an die einschlägigen Arbeiten von Hannah Ahrendt u. v. a. m.) Wenn man diesen Referenzcharakter von Einmaligkeit in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt, verwi-

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uns war dies geschehen, im Lande Kants, Goethes usw. Unsere Väter waren es gewesen. Zugleich stiftete diese kollektive Scham eine neue moralische Gemeinschaft: eine Nation, die keine mehr sein wollte. In gewissem Sinne kann man schon sagen, dass »Auschwitz«, das als pars pro toto für die Naziverbrechen schlechthin stand, das Moment der kollektiven Erinnerung war, das für die alte Bundesrepublik identitätsstiftend war. So wie in Freuds »Totem und Tabu« die Mörder nach dem Vatermord aus dem Abscheu über das Verbrechen selbst eine prekäre tabugeschützte moralische Gemeinschaft entstehen lassen. Für die Shoah und Israel ließe sich »seitenverkehrt« ähnliches sagen: Die überlebenden Opfer gründen ebenfalls eine moralische Gemeinschaft, in der auch das »So etwas darf nicht wieder geschehen« bei allen moralischen Konflikten im Einzelnen einen Grundkonsens stiftet, der gegen jedes Begründungsansinnen immun ist, der als Erinnerung ständig beschworen wird und eine nationale Identität erzeugt, so wie sie Renan beschrieben hat. Für Deutschland könnte man nun vielleicht sagen, dass die Stiftung kollektiver Identität durch Inszenierungen des Gedenkens an die Verbrechen der Nazis mit der Einzigartigkeit des Leids zusammenhängt, das die Deutschen anderen angetan haben. Mir scheint das aber nicht schlüssig. Schon das Beispiel der ehemaligen DDR oder auch Österreichs zeigt, dass die Identifikation mit belastenden Vergangenheiten nicht zwingend ist. Ob man sich als in die Kontinuität der Verantwortung gestellte Nation empfindet oder nicht, hängt von Entscheidungen ab, die sich aus den Tatsachen keinesfalls automatisch ergeben. Man kann sich als Opfer statt als Erbe der Täter fühlen. Vielfach sind solche Entscheidungen selbstredend auch nicht freiwillig. Das Gedenken an die Naziherrschaft in der BRD hängt vermutlich ebenso mit der Reeducation zusammen, wie die österreichische Alternative mit deren Fehlen. Man braucht sich im Übrigen – so grässlich der Gedanke auch ist – nur für einen Augenblick vorzustellen, die Nazis hätten den Krieg gewonnen, um zu sehen, dass es keine Zwangsläufigkeit in der Verknüpfung von Verbrechen, Schuldbewusstsein und nationaler Erinnerung an zugefügtes Leid gibt. Wie auch andere Genozide18, zeigen, ist das Verbrechen und das unermessliche Leid, dass man anderen angetan hat, vielleicht eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für entspreckelt man sich m. E. in fatalen Schlingen, aus denen man sich dann nur noch mit bedenklichen – to put it mildly! – argumentativen »Befreiungsschlägen« lösen kann. So wenn etwa versucht wird, die Einzigartigkeit der Naziverbrechen daraus abzuleiten, dass hier die Opfer zu Tode gequält wurden, während die Sowjets – es ging um Buchenwald – ihre zwar ebenfalls unschuldigen Opfer verhungern ließen, wie Eberhard Jäckel vor einigen Jahren in der FAZ unterschied. Wenn das das einzige relevante Unterscheidungsmerkmal wäre, dann müsste man mit Jäckel wohl in eine Debatte darüber eintreten, wie vergleichsweise weniger inhuman es ist, Opfer »lediglich« verhungern zu lassen, statt sie auf andere Weise zu ermorden. 18 Selbst wenn zuzugeben ist, dass sie an Furchtbarkeit nicht mit denen der Nazis vergleichbar sind, ändert das am hier vorgetragenen Argument nichts.

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chendes Gedenken der Schuldigen bzw. ihrer Nachfahren. Die Niederlage muss hinzukommen. Sieger identifizieren sich so gut wie nie über ihre Schuld. Was hier für nationales Gedenken formuliert wurde, lässt sich weitgehend auch auf das Gedenkfeiern wie sie als Jubiläen für einzelne Institutionen ausgerichtet werden übertragen. Auch eine Universität kann sich beim Jubiläum der 650 Jahrfeier zur Sicherung ihrer Identität nicht mit allem identifizieren, was in diesem langen Zeitraum »der Fall war«. Man kann sich auch nicht schlicht auf die historische Reminiszenz der Gründungsereignisse beschränken. Gedenken ist immer nur möglich, wenn mehr vergessen als erinnert wird. Das gilt zwangsläufig. Bei Jubiläen dürfte der Anteil des zu Vergessenden enorm steigen. Objektive Maßstäbe für eine bewusst vorgenommene Entscheidung für die zu verantwortende Auswahl können wissenschaftlich nicht angeboten werden. Alle Beschwörung von Identität braucht ein Narrativ. Das aber verdankt sich aktueller Selbstverpflichtung, so wie Renan es für die Nation als Wahlheimat für die Bereitschaft formuliert hat, Traditionen zu übernehmen und lebendig zu gestalten.

Literatur Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt am Main 21977. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. Garden City, N. Y. 1966. Bohn, Cornelia / Hahn, Alois: ›Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft‹, in: Willems, Herbert / Hahn, Alois (Hg.): Identität und Moderne. Frankfurt am Main 1999, S. 33–61. Crüsemann, Frank: ›Geschichte Israels als Geschichte der Bibel‹, in: Lessing, Erich (Hg.): Die Bibel. Das Alte Testament. München 1997, S. 133–170. Hahn, Alois: ›Kanonisierungsstile‹, in: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation. Bd 2. München 1987, S. 28–37. Hahn, Alois: ›Einführung‹, in: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte von Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, S. 459–466. Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la m8moire. Paris 1925 (ND Paris 1976). Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt am Main 1995. Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation? Et autres essais politiques. Textes choisies et pr8sent8spar Jo[l Roman. Paris 1992. Tenbruck, Friedrich H.: ›Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft. Ergebnisse und Deutungen der ›Reutlingen-Studie‹‹, in: Goldschmidt, Dietrich / Greiner, Franz / Schelsky, Helmut (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde. Stuttgart 1960, S. 122–131. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. erw. und verb. Aufl. hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1968

Christoph Berner

Vom Erlassjahr zur heilsgeschichtlichen Zäsur. Das Jobeljahr im Alten Testament und in der frühjüdischen Literatur

Obwohl seit Entstehung der Bibel mehr als zwei Jahrtausende vergangen sind, erweist sich ihr Erbe in vielen Bereichen nach wie vor als prägend. Sowohl die christlich-jüdischen Feste als auch die inzwischen weitgehend säkularisierte sieben-Tage-Woche haben ihre Ursprünge in den biblischen Texten, und nichts anderes gilt für das moderne Jubiläum, dessen Wurzeln sich bis ins Alte Testament zurückverfolgen lassen. Allerdings liegen die Dinge deutlich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Schon die Rede von einem alttestamentlichen Jubeljahr ist historisch unzutreffend, denn ein solches wird nirgends erwähnt. Das Alte Testament kennt kein Jubel-, sondern ein Jobeljahr (sˇenat hajjibe¯l), wobei die Semantik des hebräischen Begriffs den Aspekt des Jubels überhaupt nicht einschließt. Die Verknüpfung beruht erst auf einer spätlateinischen Volksetymologie aus dem Mittelalter. Auch seinem Wesen nach unterscheidet sich das alttestamentliche Jobeljahr markant vom modernen Jubiläum. Es steht nicht im Zusammenhang mit der Wiederkehr eines bestimmten Ereignisses und seiner feierlichen Begehung, sondern repräsentiert vielmehr eine sakralrechtliche Institution, die in regelmäßigen Abständen von 49 bzw. 50 Jahren einen allgemeinen Schuldenerlass und eine Ackerbrache vorsieht. Das Jobeljahr ist damit im Horizont der alttestamentlichen Erlass- und Brachjahrbestimmungen beheimatet und zunächst in diesem Zusammenhang zu beschreiben. Es sollte freilich bereits in vorchristlicher Zeit eine signifikante Transformation zur heilsgeschichtlichen Zäsur durchlaufen, die in einigen frühjüdischen Texten dokumentiert ist. Beiden Aspekten ist im Folgenden nachzugehen.

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I.

Christoph Berner

Das Jobeljahr im Horizont alttestamentlicher Brach- und Erlassjahrpraxis

Das Alte Testament umfasst Schriften ganz unterschiedlichen Charakters und historischer Provenienz. Neben Sammlungen von Weisheitssprüchen und Prophetenworten finden sich ausführliche Erzählungen über Ursprünge und Geschichte des Volkes Israel, aber auch eine Reihe von Gesetzeskorpora, die ihrerseits eng in die narrativen Zusammenhänge eingewoben sind.1 Die sachliche Mitte, die das überaus heterogene Material zusammenhält, besteht in der Beziehung zwischen dem Volk Israel und seinem Gott Jahwe. Die einzelnen alttestamentlichen Schriften reflektieren die wechselvolle Geschichte dieser Gottesbeziehung, die sie über die Königszeit bis hin zum konstitutiven Ereignis des Exodus und darüber hinaus zurückverfolgen. Das dabei entstehende Bild hat freilich nur wenig mit den historischen und religionsgeschichtlichen Gegebenheiten zu tun, die sich durch externe Quellen verifizieren lassen. Der überwiegende Teil der alttestamentlichen Schriften stammt erst aus exilischer und nachexilischer Zeit (6.–3. Jh. v. Chr.) und konstruiert in der Rückschau eine Ursprungsgeschichte, die die Widerfahrnisse der Vergangenheit theologisch deutet und zur Vergewisserung der eigenen religiösen Identität in nachstaatlicher Zeit dient. Pointiert gesagt, geben die Schriften des Alten Testaments damit kaum Aufschluss über das Alte Israel, sondern vor allem Einblick in die Vorstellungswelt des werdenden Judentums, das seine Identität von den biblischen Texten her bestimmt sah und sich ihrer durch die Ergänzung und Aktualisierung der Texte stets aufs neue vergewisserte.2 Die Folgen dieses Prozesses sind im vorliegenden hebräischen Text des Alten Testaments an allen Orten zu greifen. Schon bei oberflächlicher Lektüre offenbart sich eine Vielzahl widerstreitender Positionen, und zwar nicht nur im Vergleich zwischen den unterschiedlichen alttestamentlichen Büchern, sondern oft auch innerhalb ein und desselben Buches. Das Phänomen ist unmittelbarer Ausdruck der hochkomplizierten Literargeschichte, die die meisten alttestamentlichen Schriften durchlaufen haben. Eine Buchgruppe wie der Pentateuch etwa ist über mehrere Jahrhunderte gewachsen, wobei eine Vielzahl unterschiedlicher Hände beteiligt war, die dem Text je ihre spezifische Perspektive aufgeprägt haben.3 Man kann diesen Prozess freilich nicht nur an den erzählenden, sondern eben auch an den gesetzlichen Partien des Pentateuchs relativ leicht nachvollziehen. Gerade die unterschiedlichen Vorschriften zum Brach- und Erlassjahr sind hierfür ein gutes Beispiel. 1 Vgl. grundlegend Levin 2006. 2 Vgl. Kratz 2013. 3 Vgl. Houtman 1994 sowie zuletzt Dozeman u. a. 2011.

Vom Erlassjahr zur heilsgeschichtlichen Zäsur

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Entsprechende Vorschriften finden sich in drei Büchern des Pentateuch: Exodus (Ex), Levitikus (Lev) und Deuteronomium (Dtn). Sie stehen dort jeweils im Zusammenhang ausführlicherer Rechtssammlungen, über deren Chronologie in der Forschung weitgehend Einigkeit herrscht:4 Am ältesten ist das sogenannte Bundesbuch in Ex 21–23, eine Sammlung von Rechtssätzen aus der Königszeit (8./7. Jh. v. Chr.). Jünger ist das deuteronomische Gesetz in Dtn 12–26, das das Bundesbuch novelliert und vielleicht schon aus der Zeit des Babylonischen Exils stammt (frühes 6. Jh. v. Chr.). Sicherlich nachexilisch und damit am jüngsten ist dagegen das sogenannte Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26. Es stammt aus priesterlichen Tradentenkreisen und dürfte im späten 5. Jh. v. Chr. entstanden sein. Alle drei Rechtskorpora enthalten wie gesagt Vorschriften zum Erlassbzw. Brachjahr, die es nun näher zu betrachten gilt. Die älteste der drei Rechtssammlungen, das Bundesbuch, wird in Ex 21,2 durch die Vorschrift eröffnet, einen hebräischen Sklaven nach sechs Jahren Dienst wieder freizulassen.5 Ex 21,2

Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre dienen, im siebten aber soll er umsonst frei ausziehen.

In thematisch entsprechender Weise schließt das Bundesbuch in Ex 23,10–11 mit Bestimmungen zur Ackerbrache: Ex 23,10 Sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seinen Ertrag einsammeln. 11 Aber im siebten sollst du es brachliegen lassen und nicht bestellen, damit die Armen deines Volkes davon essen. Und was sie übriglassen, mögen die Tiere des Feldes fressen.

Beide Gebote, das der Sklavenfreilassung und der Ackerbrache, haben einen identischen Zeittakt von je 6 + 1 Jahren, und in beiden Fällen ist ein Interesse an sozialem Ausgleich erkennbar. Dieses Interesse tritt indes im Rahmen des jüngeren, deuteronomischen Gesetzes noch um einiges deutlicher zutage: Hier wird in Dtn 15 für jedes siebte Jahr ein Schuldenerlass (hebr. ˇsemitta¯h) in ganz Israel ˙˙ gefordert, der ein Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich verhindern soll. Dtn 15,1

Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass gewähren. 2 Und so soll man es mit dem Schuldenerlass halten: Jeder Gläubiger soll das Darlehen erlassen, das er seinem Nächsten gegeben hat. Er soll seinen Nächsten und Bruder nicht drängen, denn man hat einen Schuldenerlass ausgerufen zu Ehren Jahwes. […] 4 Doch Arme wird es bei dir nicht geben, denn Jahwe wird dich segnen in dem Land, das dir Jahwe, dein Gott, zum Erbbesitz gibt.

4 Vgl. Kratz 2000, S. 99–155; Schmid 2007, S. 102–108 u. 172–173. 5 Die Übersetzungen hebräischer Texte wurden hier wie im Folgenden vom Vf. erstellt.

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Christoph Berner

Im Vergleich mit den älteren Bestimmungen des Bundesbuches fallen vor allem zwei Aspekte ins Auge: Einerseits die gesteigerte Reichweite der Maßnahmen, die nicht mehr allein die Freilassung von Sklaven, sondern einen generellen Schuldenerlass zum Inhalt haben. Andererseits die Ersetzung der individuellen durch eine absolute Zeittaktung. Mit anderen Worten: Es gibt nicht länger einzelne, gegeneinander verschobene Sieben-Jahres-Zählungen für jeden konkreten Einzelfall, sondern es wird ein absoluter Erlassjahrzyklus eingeführt, dem die Einzelfälle unterworfen sind. Diese festen Zyklen von 6 + 1 Jahren erinnern nicht von ungefähr an die alttestamentliche Sieben-Tage-Woche mit dem Sabbat als Höhepunkt. Erlassjahr- und Wochenzyklen bilden strukturell analoge Phänomene, die, nach allem was wir wissen, auch entstehungsgeschichtlich miteinander verbunden sind. Beide Denkmuster haben sich erst in nachexilischer Zeit herausgebildet und zu identitätsstiftenden Merkmalen des werdenden Judentums entwickelt. Die Anfänge dieses Prozesses können wir mit Dtn 15 greifen. Dagegen liegt im Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26), dem jüngsten der drei großen alttestamentlichen Rechtskorpora, bereits ein deutlich weiter fortgeschrittenes Entwicklungsstadium vor. Hier, genauer gesagt in Lev 25,6 wird auch erstmals die Sabbatlogik der Sieben-Jahreszyklen terminologisch explizit gemacht: das siebte Jahr, so heißt es in Lev 25,5, ist »ein Sabbatjahr« (sˇenat ˇsabba¯tin), und zwar »für das Land«. Mit diesem Sabbatjahr verbunden ist freilich nur eine allgemeine Ackerbrache, nicht jedoch ein genereller Schuldenerlass oder eine allgemeine Sklavenfreilassung. Für entsprechende Maßnahmen des sozialen Ausgleichs hat das Heiligkeitsgesetz nämlich in Lev 25,8ff. mit dem Jobeljahr eine neue chronologische Superstruktur eingeführt: Lev 25,8

Und du sollst dir sieben Sabbatjahre zählen, siebenmal sieben Jahre, so dass die Tage von sieben Sabbatjahren dir 49 Jahre ausmachen. 9 Und du sollst ein Lärmhorn erschallen lassen; im siebten Monat, am Zehnten des Monats, an dem Versöhnungstag sollt ihr ein Horn erschallen lassen durch euer ganzes Land. 10

Und ihr sollt das Jahr des fünfzigsten Jahres heiligen. Und ihr sollt im Land Freilassung für all seine Bewohner ausrufen. Ein Jobel soll dies für euch sein, und ihr werdet jeder wieder zu seinem Eigentum kommen und jeder zu seiner Sippe zurückkehren. 11 Ein Jobel soll dieses, das Jahr des fünfzigsten Jahres, für euch sein. Ihr dürft nicht säen und seinen Nachwuchs nicht ernten und seine unbeschnittenen Weinstöcke nicht abernten. […] 13 In diesem Jobeljahr sollt ihr jeder wieder zu seinem Eigentum kommen.

Bereits der kurze Textauszug aus Lev 25 veranschaulicht, worum es beim Jobeljahr im Kern geht. Leitend ist der Begriff der Freilassung (hebr. derir), eine Terminologie, die im übrigen bereits in altorientalischen Rechtstexten aus dem 6 Zum neuesten Forschungsstand zu Lev 25 vgl. Nihan 2007, S. 520–535. Monographische Abhandlungen zur Jobeljahrgesetzgebung bieten Fager 1993; Lefebvre 2009.

Vom Erlassjahr zur heilsgeschichtlichen Zäsur

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zweiten vorchristlichen Jahrtausend begegnet und damit bereits auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken kann.7 ›Freilassung‹ wird dabei in Lev 25 in einem doppelten Sinn verwendet und meint sowohl das Ende von Schuldknechtschaft als auch die Rückerstattung von verlorenem Grundbesitz. Hinzu tritt noch der Aspekt der Ackerbrache. Damit werden in Lev 25 zentrale Aspekte aus den älteren Erlass- und Brachjahrbestimmungen des Alten Testaments (Ex 23; Dtn 15) aufgenommen und zu einer neuen Synthese geführt. Obwohl die Grundzüge der Jobeljahrgesetzgebung in Lev 25,8–13 klar zutage treten, bereiten manche Details Verständnisschwierigkeiten. Dies betrifft vor allem die Frage des genauen Termins. Schon die rabbinischen Gelehrten der Spätantike haben darüber gestritten, ob das Jobeljahr in jedem 49. oder in jedem 50. Jahr zu begehen ist (bNed 61a; bRHSh 9a), und auch heute noch schwelt dieser Streit in exegetischen Fachkreisen.8 Dies ist ein klarer Hinweis auf ein Problem im Text, der in dieser Frage in der Tat widersprüchliche Aussagen trifft. Während nach Lev 25,8–9 sieben mal sieben Jahre abzuzählen und das Lärmhorn an einem bestimmten Tag im 49. Jahr zu blasen ist, spielt dieser Tag im Folgenden keine Rolle mehr. Lev 25,10 springt vielmehr recht abrupt zum 50. Jahr und schreibt vor, an einem nicht näher spezifizierten Termin die allgemeine Freilassung auszurufen. Damit ergibt sich der eigentümliche Befund, dass das exakt datierte Lärmblasen im 49. Jahr ohne weitere Funktion bleibt, während beim eigentlichen Schlüsselmotiv, der Ausrufung einer allgemeinen Freilassung, eine exakte Datierung fehlt. Gleichzeitig fällt auf, dass in Lev 25,10.11.13 gleich dreimal betont wird, dass das durch diese Freilassung gekennzeichnete Jobeljahr mit dem 50. Jahr identisch ist. Die inhaltliche Unausgewogenheit des Textes im Verbund mit seiner nachgerade penetranten Redundanz deutet wie in vielen vergleichbaren Fällen darauf hin, dass die vorliegende Gestalt von Lev 25,8–13 literarisch gewachsen ist. Wie die folgende Übersicht zeigt, lassen sich all jene Passagen, die dem Leser einhämmern, dass das Jobeljahr auf das 50. Jahr fällt, als Bestandteile einer Bearbeitung verstehen, die das Motiv des 50. Jahres erst nachträglich in den Text eingeführt hat.9

7 »Als altoriental. Analogien läßt sich auf die aus Alt- u. Neubabylonien, Nuzi u. Neuassyrien belegten Freilassungs- (andura¯rum) u. Schuldenerlasse (mı¯ˇsarum) verweisen, die freilich nicht wie das J[obeljahr] periodisch od. kalendarisch festgelegt, sondern ad-hoc-Bestimmungen der Könige waren. Cod. Hammurabi § 117 regelt für Babylonien die Freilassung nach drei Jahren« (Seidl 2009, Sp. 855f.). Zu diesen und weiteren altorientalischen Hintergründen der alttestamentlichen Erlassjahrbestimmungen vgl. ausführlich Lemche 1976, S. 38–59; Otto 1997, S. 26–63. 8 Vgl. zuletzt Bergsma 2005, S. 121–124. 9 Der älteste Textbestand ist linksbündig gesetzt, die späteren Zusätze nach rechts eingerückt. Die Literargeschichte von Lev 25,9 konnte erst vorläufig geklärt werden; hier sind weitere

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Christoph Berner Lev 25,8

Und du sollst dir sieben Sabbatjahre zählen, siebenmal sieben Jahre, so dass die Tage von sieben Sabbatjahren dir 49 Jahre ausmachen. 9 Und du sollst ein Lärmhorn erschallen lassen im siebten Monat, am Zehnten des Monats [an dem Versöhnungstag sollt ihr ein Horn erschallen lassen] durch euer ganzes Land. 10

Und ihr sollt das Jahr des fünfzigsten Jahres heiligen.

Und ihr sollt im Land Freilassung für all seine Bewohner ausrufen. Ein Jobel soll dies für euch sein, und ihr werdet jeder wieder zu seinem Eigentum kommen und jeder zu seiner Sippe zurückkehren. 11

Ein Jobel soll dieses, das Jahr des fünfzigsten Jahres, für euch sein. Ihr dürft nicht säen und seinen Nachwuchs nicht ernten und seine unbeschnittenen Weinstöcke nicht abernten. […] 13

In diesem Jobeljahr sollt ihr jeder wieder zu seinem Eigentum kommen.

Aus der obigen Rekonstruktion der Literargeschichte von Lev 25,8–13 ergibt sich, dass der Abschnitt nicht eine, sondern zwei voneinander abweichende Konzeptionen des Jobeljahres überliefert. Der älteren Konzeption zufolge wird der allgemeine Erlass im siebten Monat jedes 49. Jahres im Land ausgerufen. Das Ereignis fällt also selbst in ein Sabbatjahr, und zwar in jedes siebte. Erst ein späterer Bearbeiter hat an dieser Überschneidung von Jobel- und Sabbatjahr Anstoß genommen und sie dadurch behoben, dass er das Jobeljahr vom 49. auf das 50. Jahr verschob.10 Erst jetzt muss in Lev 25,11 eigens betont werden, dass auch im Jobeljahr eine Ackerbrache einzuhalten ist. In der ursprünglichen Konzeption des Textes war dies als selbstverständlich vorausgesetzt, da das Jobel- mit einem Sabbatjahr zusammenfiel, das nach Lev 25,1–7 durch eine Ackerbrache charakterisiert ist. Die Literargeschichte von Lev 25,9–13 ist nicht nur in chronologischer, sondern auch in terminologischer Hinsicht aufschlussreich. Im ältesten Textbestand begegnet der Begriff jibe¯l lediglich in V. 10b, wo er nicht das Jahr, sondern den Akt der Freilassung näher qualifiziert: »Ein Jobel soll dies [sc. die Freilassung] für euch sein […]«. Man kann hier einen etymologischen Zusammenhang mit der hebräischen Verbalwurzel ja¯bal (»zurückbringen«) erwägen und jibe¯l im Sinne von »feierliche Rückkehr« interpretieren.11 In diese Richtung deutet auch die griechische Übersetzung der Septuaginta, die den Begriff in Lev 25 mit %vesir Arbeiten unter Berücksichtigung der signifikanten Abweichungen in der Septuaginta erforderlich. 10 Ein analoger Vorgang ist auch in Lev 23,15–16 zu beobachten, wo der Beginn des Wochenfestes durch die Ergänzung von 23,16a nachträglich vom 49. auf den 50. Tag nach der Darbringung der Erstlingsgarbe verschoben wurde. Auch hier geht es darum, eine Überschneidung von Festbeginn und Sabbat zu vermeiden, wobei wir uns im Unterschied zu Lev 25 nicht auf Jahres-, sondern auf Wochenebene bewegen. 11 Vgl. North 2009, Sp. 556.

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(»Zurücksendung«) bzw. !v´seyr sglas¸a (»Proklamation der Zurücksendung«) wiedergibt. Nicht plausibel ist hingegen der verschiedentlich postulierte etymologische Zusammenhang mit der vereinzelt bezeugten Verwendung von jibe¯l im Sinne von ›Widder‹ (Jos 6,4–6.8.13) bzw. ›Widderhorn‹ (Ex 19,13).12 Schon die syntaktische Einbettung des Begriffs in Lev 25,10 schließt diese Bedeutung aus, wobei noch hinzukommt, dass bei der in Lev 25,9 unmittelbar vorangehenden Beschreibung des Hornsignals eben nicht der Terminus jibe¯l, sondern das viel geläufigere ˇsipar verwendet wird. Lev 25,10b lässt sich folglich nicht sinnvoll mit »ein Widder/-horn soll dies [sc. die Freilassung] für euch sein« übersetzen, sondern muss die oben umrissene Bedeutung (»eine feierliche Rückkehr soll dies für euch sein«) haben.13 Auch die vom Bearbeiter des Textes in Lev 25,13 zur Bezeichnung des 50. Jahres eingeführte Konstruktusverbindung ˇsenat hajjibe¯l lässt sich noch in demselben Sinne als »Jahr der feierlichen Rückkehr« wiedergeben. Gleichzeitig fällt in Lev 25,11 eine gewisse semantische Verschiebung auf, insofern der Begriff jibe¯l hier auch als Bezeichnung des Jahres selbst verwendet werden kann (»ein Jobel soll dieses, das Jahr des fünfzigsten Jahres, für euch sein«). Ein Changieren zwischen dem absoluten Gebrauch von jibe¯l (als Bezeichnung des Jahres oder des in ihm zu vollziehenden Schuldenerlasses) und der Konstruktusverbindung ˇsenat hajjibe¯l ( »Jobeljahr«) ist auch im weiteren Verlauf von Lev 25 sowie an den wenigen übrigen Belegstellen im Alten Testament zu verzeichnen.14 Wie bereits angedeutet, übersetzt die Septuaginta jibe¯l konsequent mit %vesir (»Zurücksendung«) und unternimmt damit den Versuch, auch dem griechischen Leser die ursprüngliche Semantik zu erschließen. Dagegen ist der Begriff in der Ende des 4. Jh. n. Chr. entstandenen lateinischen Bibelübersetzung der Vulgata bereits erstarrt; hier erfolgt keine Übersetzung mehr, sondern jibe¯l wird durchweg als latinisiertes Fremdwort (iobeleus) wiedergegeben. Erst im Laufe des Mittelalters bürgert sich auf dieser Grundlage der lateinische Terminus iubilaeus ein.15 Es handelt sich um eine volksetymologische Ableitung vom Verb iubilare (bzw. iubilum = »Signal-/Jubelruf«), die erstmals ausdrücklich den Aspekt der ausgelassenen Freude mit dem alttestamentlichen Jobeljahr verbindet. In der römisch-katholischen Kirche wird seit dem Spätmittelalter ein entsprechend konnotiertes annus iubilaeus (»Jubeljahr«) begangen, das die alttestamentliche Jobeljahrgesetzgebung spiritualisiert und alle 50 (später alle 25) Jahre die Möglichkeit einer vollständigen Sündenvergebung einräumt. Das

12 13 14 15

So etwa Meinholdt 1988, S. 280. Zur Diskussion der geläufigen etymologischen Theorien vgl. North 1980, Sp. 554–559. Vgl. Lev 27,17.18.21.23.24; Num 36,4. Vgl. hierzu und zum Folgenden Smolinski 1988, S. 282–285.

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zeitgenössische Jubiläum ist ein säkularisierter Ableger dieser Praxis, der seine Wurzeln in der frühen Neuzeit hat. Nach diesem kurzen Ausflug in die Nachgeschichte des alttestamentlichen Jobeljahres sei abschließend noch ein letzter Aspekt gewürdigt, der bei seiner Behandlung nicht unerwähnt bleiben darf: die Frage der Praktikabilität und Praxis. Schon bei einer kursorischen Lektüre der Bestimmungen in Lev 25 fallen Aspekte auf, die zeigen, dass man es hier nicht einfach mit einem typischen Fall von angewandtem Recht zu tun hat: Anders als bei einem siebenjährigen Turnus geht eine Sklavenfreilassung alle 49/50 Jahre klar an den Nöten der und des Einzelnen vorbei. Viele würden überhaupt nie in den Genuss der Maßnahme kommen. Auch eine Ackerbrache im 50. Jahr wäre praktisch gesehen wenig sinnvoll, ökonomisch betrachtet hingegen geradezu desaströs: Da bereits das unmittelbar vorangehende 49. Jahr eine Ackerbrache vorsieht – es ist ein Sabbatjahr –, wäre ein mehrjähriger Ernteausfall die Folge gewesen. Dies hätte jede antike Gesellschaft in ihrer Existenz bedroht – so auch die Bevölkerung Palästinas. Bereits die beiden genannten Punkte dürften genügen, um zu zeigen, dass das Jobeljahr nicht unbedingt praktikabel war. Es ist daher wenig verwunderlich, dass es offenbar auch nie praktiziert wurde. Zumindest gibt es keinerlei Quellen, die darauf hindeuten würden. Selbst innerhalb des Alten Testaments wird das Jobeljahr lediglich in der Gesetzgebung des Heiligkeitsgesetzes (Lev 25; 27) sowie an einer davon abhängigen Stelle (Num 36,4) erwähnt.16 Einen Eingang in die narrativen Partien hat es hingegen nicht mehr gefunden. Die Quellenlage verdeutlicht, dass es sich beim Jobeljahr um eine äußerst späte Innovation aus persischer oder frühhellenistischer Zeit handelt, die dabei weniger eine praktische Rechtsnorm als ein theologisches Ideal formuliert. Es beschreibt, wie in regelmäßigen Zyklen von 49 bzw. 50 Jahren die Besitzverhältnisse geordnet und ein gerechter Urzustand wiederhergestellt wird. Dabei geht es im Kern nicht mehr um das Schicksal des Einzelnen, sondern um die grundsätzliche Relativierung menschlicher Besitzansprüche im Lichte der Überzeugung, dass Gott allein der wahre Eigentümer des Landes und dieses darum auf Dauer unveräußerlich ist (Lev 25,23). Letztlich entfalten die Bestimmungen zum Jobeljahr damit eine theologische Utopie, deren Realisierung zwar Anspruch, aber nie Wirklichkeit war. Dieser utopische Charakter der Gesetzgebung dürfte entscheidend mit dazu beigetragen haben, dass das Jobeljahr in einigen frühjüdischen Texten eine signifikante Transformation erfuhr. Aus einer theologisch überhöhten Rechtsnorm wird nun 16 Vgl. Ez 46,17. In Jes 61,1; Jer 34,8.15.17 ist zwar wie in Lev 25,10 vom Ausrufen einer Freilassung (derir) die Rede, doch geht es dabei nach altorientalischem Vorbild nicht um einen regelmäßigen, sondern einen spontanen Akt.

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eine zeitliche Maßeinheit, die man zur Periodisierung der Heilsgeschichte verwendet. Das Jobeljahr wird also in übertragenem Sinne als chronologisches Ordnungsmoment der göttlichen Geschichtslenkung gedeutet und damit auf eine ganz neue Ebene gehoben. Ich will diesen Prozess im Folgenden noch kurz anhand zweier Beispiele veranschaulichen.

II.

Jahre, Jahrwochen und Jobelperioden: heptadische Geschichtsperiodisierungen im Antiken Judentum

Als 1947 durch puren Zufall die ersten Qumranschriften entdeckt wurden – ein Beduinenjunge war auf eine der Höhlen am Toten Meer gestoßen –, konnte noch niemand die Tragweite dieses Textfundes abschätzen. In den bald 70 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich das Bild entscheidend gewandelt, und man kann, nachdem die allermeisten Qumranschriften inzwischen editorisch erschlossen wurden, mit Fug und Recht behaupten, dass es sich vielleicht um den wichtigsten Textfund der Neuzeit handelt. Verstreut über insgesamt elf Höhlen fanden sich Abschriften von biblischen Büchern, aber auch eine ganze Reihe bis dahin völlig unbekannter Kompositionen.17 Hierzu zählt auch der sogenannte Melchizedek-Midrasch 11Q13 (oder 11QMelchizedek), ein exegetischer Text aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert.18 Wie der spätere Hebräerbrief des Neuen Testaments kennt auch 11Q13 die Gestalt des himmlischen Hohepriesters Melchizedek und misst diesem eine tragende Rolle in den letzten Tagen am Übergang zur Endzeit zu, in denen sich der Verfasser bereits selbst wähnte. Durch ein kunstvolles exegetisches Flechtwerk aus verschiedenen alttestamentlichen Stellen, die aufeinander bezogen werden und sich so gegenseitig auslegen, entfaltet 11Q13 eine endzeitliche Vision. In dieser Vision spielt besonders die Jobeljahrgesetzgebung aus Lev 25 eine tragende Rolle – und zwar in thematischer wie in chronologischer Hinsicht. Thematisch, insofern das Ausrufen einer generellen Freilassung (Lev 25,10) aufgenommen und eschatologisch transformiert wird: Die erwartete Freilassung hat nicht länger eine primär soziale oder ökonomische Dimension, sondern erfüllt sich in der endzeitlichen Sündenvergebung durch den himmlischen Hohepriester Melchizedek. Allerdings begnügt sich der Verfasser nicht mit einer vagen Ankündigung, sondern liefert die entscheidenden chronologischen Eckdaten gleich mit (11Q13 Kol. II Z. 6–8):

17 Zu den Qumranfunden und ihrer Bedeutung vgl. grundlegend VanderKam 1998. 18 Vgl. Steudel 2001, S. 175–185.

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Christoph Berner

Und er wird ihnen Freilassung ausrufen, um ihnen [die Last] all ihrer Sünden zu erlassen. Und diese Angelegenheit wird sich in der ersten Jahrwoche der Jobelperiode nach den neun Jobelperioden ereignen. Aber der Versöhnungstag, das ist das Ende der zehnten Jobelperiode, dass er an diesem Tag alle Söhne Gottes und alle Männer vom Lose Melchizedeks entsühne.

Der Terminus ›Jobelperiode‹ kam in den bisherigen Ausführungen noch nicht vor. Es handelt sich ebenfalls um eine Übersetzung des hebräischen Schlüsselbegriffs jibe¯l, die der Tatsache Rechnung trägt, dass dieser in 11Q13 in einer nochmals anderen Weise verwendet wird. Im Unterschied zur Jobeljahrgesetzgebung in Lev 25 bezeichnet er weder den Akt des Schuldenerlasses noch das Jobeljahr selbst, sondern steht vielmehr für den Zeitraum von sieben Sabbatjahrzyklen. Eine Jobelperiode19 umfasst also sieben mal sieben oder 49 Jahre. Dabei werden die einzelnen Sequenzen von sieben Jahren mit dem hebräischen Terminus ˇsa¯bua’ (»Siebent« / »Woche«) bezeichnet, der im Deutschen für gewöhnlich als »Jahrwoche« wiedergegeben wird. Sieben Jahrwochen ergeben also eine Jobelperiode. Ein entsprechendes chronologisches System ist in einer Reihe frühjüdischer Kompositionen bezeugt und liegt auch dem Qumrantext 11Q13 zugrunde.20 Der Verfasser rechnet wie gesehen mit einer Sequenz von zehn Jobelperioden oder 490 Jahren bis zur endzeitlichen Heilswende. Ab welchem Zeitpunkt gerechnet wurde, lässt sich aus 11Q13 leider nicht mehr entnehmen, denn der Anfang der Handschrift ist zerstört. Es gibt aber eine Reihe zeitgenössischer Texte, am bekanntesten wohl Dan 9, die ebenfalls das Motiv der 490 Jahre verwenden und die die Jahressequenz mit dem Babylonischen Exil einsetzen lassen. Nimmt man Entsprechendes auch für 11Q13 an, so ergibt sich für das Ende des zehnten Jubiläums ein Zeitpunkt im ersten vorchristlichen Jahrhundert, nach der Berechnung mancher das Jahr 72 v. Chr.21 Ob die Berechnung dieses Endzeittermins im Sinne des Verfassers von 11Q13 nachvollzogen wurde, mag hier dahingestellt bleiben. Worauf es mir ankommt, ist lediglich zweierlei: Der Verfasser von 11Q13 nutzte ein heptadisch strukturiertes System aus Zyklen von Jahrwochen und Jobelperioden für chronologische Spekulationen über den Ablauf der Endzeitereignisse. Dabei stand ihm sowohl für seine Chronologie als auch für die Erwartung der großen Freilassung am Ende der Zeiten die Jobeljahrgesetzgebung aus Lev 25 Pate, die freilich wie gesehen in entscheidender Weise eschatologisch transformiert wurde. Dass man ein entsprechendes chronologisches System auch noch ganz anders 19 In der Forschung wird die betreffende Zeiteinheit von 49 Jahren gewöhnlich als ›Jubiläum‹ bezeichnet. Um die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs zu vermeiden, verwende ich den präziseren Terminus ›Jobelperiode‹. 20 Zu den heptadischen Chronologien im frühen Judentum vgl. ausführlich Berner 2006. 21 Vgl. Steudel 2001, S. 268.

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verwenden konnte, soll abschließend das Beispiel des Jubiläenbuches veranschaulichen. Der Text aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bietet eine Neuerzählung des gesamten Buches Genesis sowie von großen Teilen des Buches Exodus und zeichnet alle Ereignisse in eine minutiös ausgeführte, heptadische Chronologie ein, die ihren Anfang mit der Erschaffung der Welt nimmt.22 Dabei wird jeweils angegeben, im wievielten Jahr der wievielten Jahrwoche der wievielten Jobelperiode ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist. Wie in 11QMelchizedek ist also vorausgesetzt, dass eine Jobelperiode den Zeitraum von 49 Jahren bezeichnet, der sich dann weiter in sieben Jahrwochen unterteilen lässt, die ihrerseits aus sieben einzelnen Jahren bestehen. Dieses in sich perfekte heptadische System hat freilich im Jubiläenbuch keinerlei eschatologische Implikationen. Es wird ja ausdrücklich auf die biblische Vorgeschichte appliziert. Gleichwohl ist unübersehbar, dass das System planvoll auf einen signifikanten Gesamtzeitrahmen von 50 Jobelperioden angelegt ist. In die 50. Jobelperiode fällt hier nur nicht das Endgericht, sondern der Auszug der Israeliten aus Ägypten und ihr Einzug in das verheißene Land. Auch im Jubiläenbuch ist der Einfluss der Gesetzgebung aus Lev 25 klar zu erkennen, wobei hier im Unterschied zu 11Q13 auch die literarisch sekundäre Verschiebung des allgemeinen Erlasses vom 49. auf das 50. Jahr rezipiert wird. Wie in Teil I. dargelegt, führt erst ein Bearbeiter den Gedanken in Lev 25 ein, dass im 50. Jahr alle Sklaven freigelassen werden und ein jeder zu seinem Grundbesitz zurückkehrt. Der Verfasser des Jubiläenbuches hat dieses Grundmuster aufgegriffen, seinen zeitlichen Maßstab gestreckt und es auf die Heilsgeschichte appliziert: Nicht im 50. Jahr, sondern in der fünfzigsten Jobelperiode (das heißt in den Jahren 2402–2450) endet die Knechtschaft in Ägypten und die Israeliten nehmen das ihnen verheißene Land in Besitz. Die Geschichte, so lautet die zentrale Botschaft, verläuft nicht zufällig, sondern folgt einem festgelegten göttlichen Plan, der sich für den Verfasser bereits in den biblischen Texten andeutet. Das Grundmuster, an dem sich der gesamte Lauf der Geschichte orientiert, ist die Siebenzahl, die die Zeit von der einfachen Wochenebene bis hin zu den chronologischen Makroeinheiten der Jahrwochen und Jobelperioden strukturiert. Man kann daher mit Fug und Recht von einer Sabbatstruktur der Geschichte sprechen.23 Mit diesem kurzen Ausblick in die antik-jüdische Literatur will ich meine Ausführungen zu den frühen Transformationen der Jobeljahrgesetzgebung aus Lev 25 beschließen. Es hat sich bestätigt, dass die theologische Utopie des Jobeljahres einen Deutungsüberschuss in sich trägt, der seit jeher auf Explikation drängte und diese früh und in ganz unterschiedlicher Weise fand: Sei es im 22 Eine deutsche Übersetzung des Jubiläenbuches bietet Berger 1981. 23 Vgl. Koch 1983, S. 403–430.

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Rahmen von Endzeitdeutung und -berechnung wie in 11QMelchizedek oder aber im Zusammenhang von heilsgeschichtlichen Periodisierungen wie im Jubiläenbuch. Der hebräische Terminus jibe¯l durchlief dabei ebenfalls eine entscheidende Wandlung: ursprünglich Bezeichnung des allgemeinen Schuldenerlasses im 49. Jahr (Lev 25,10b), wurde jibe¯l in der literarisch erweiterten Gestalt von Lev 25 zum Begriff für den Erlass wie für das mit ihm nun verbundene 50. Jahr. Die frühjüdischen Texte schließlich orientieren sich erneut verstärkt an der ursprünglichen heptadischen Logik von Lev 25, bezeichnen mit jibe¯l aber nicht mehr das 49. Jahr, sondern eine Jobelperiode von 49 Jahren. Damit hatte das Konzept des Jobeljahres bereits in vorchristlicher Zeit einige markante Transformationen durchlaufen. Zahlreiche weitere sollten nötig sein, bevor sich aus ihm über die lateinischen Zwischenstationen iobeleus und iubilaeus langsam unser modernes Jubiläum entwickeln sollte.

Literatur Berger, Klaus: Das Buch der Jubiläen. Gütersloh 1981. Bergsma, John S.: ›Once again, the Jubilee, every 49 or 50 Years?‹, in: Vetus Testamentum 2005/1, S. 121–124. Berner, Christoph: Jahre, Jahrwochen und Jubiläen. Heptadische Geschichtskonzeptionen im Antiken Judentum. Berlin / New York 2006. Dozeman, Thomas B. u. a. (Hg.): The Pentateuch. International Perspectives on Current Research. Tübingen 2011. Fager, Jeffrey A.: Land Tenure and the Biblical Jubilee. Uncovering Hebrew Ethics through the Sociology of Knowledge. Sheffield 1993. Houtman, Cornelis: Der Pentateuch. Die Geschichte seiner Erforschung nebst einer Auswertung. Kampen 1994. Koch, Klaus: ›Sabbatstruktur in der Geschichte. Die sogenannte Zehn-Wochen-Apokalypse (I Hen 93 1–10 91 11–17) und das Ringen um die alttestamentlichen Chronologien im späten Israelitentum‹, in: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 1983/3, S. 403–430. Kratz, Reinhard G.: Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik. Göttingen 2000. Kratz, Reinhard G.: Historisches und biblisches Israel. Drei Überblicke zum Alten Testament. Tübingen 2013. Lefebvre, Jean-FranÅois: Le jubil8 biblique. Lv 25 – ex8gHse et th8ologie. Fribourg / Göttingen 2003. Lemche, Niels Peter : ›The Manumission of Slaves – the Fallow Year – the Sabbatical Year – the Yobel Year‹, in: Vetus Testamentum 1976/1, S. 38–59. Levin, Christoph: Das Alte Testament. München 32006. Meinholdt, Arndt: ›Jubeljahr I. Altes Testament‹, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 17. Berlin / New York 1988, S. 280–281.

Vom Erlassjahr zur heilsgeschichtlichen Zäsur

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Nihan, Christophe: From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus. Tübingen 2007. North, Robert: ›@5ú*9= jibel ‹ in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. 3. ¯ Stuttgart u. a. 1980, Sp. 554–559. Otto, Eckart: ›Programme der sozialen Gerechtigkeit. Die neuassyrische (an-)dura¯ruInstitution sozialen Ausgleichs und das deuteronomische Erlaßjahr in Dtn 15*‹, in: Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 1997/1, S. 26–63. Schmid, Konrad: Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung. Darmstadt 2008. Seidl, Theodor : ›Jobeljahr‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5. Freiburg 2009, Sp. 854–856. Smolinski, Heribert: ›Jubeljahr II. Kirchengeschichtlich‹, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 17. Berlin / New York 1988, S. 282–285. Steudel, Annette (Hg.): Die Texte aus Qumran II. Darmstadt 2001. VanderKam, James C.: Einführung in die Qumranforschung. Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer. Göttingen 1998.

Stephan Kammer

Zur Gegenwart der Jubiläen. Zeitform und Zeitformat einer Selbstbeobachtung von außen

I.

Verspäteter Schmuck (Goethe, Schellhorn) »Daß im großen Jubeljahre Wir dein Jubiläum schmücken, Das erlebe, das gewahre, Treuer Diener mit Entzücken. Dir gelangs in stiller Sphäre Deinen Fürsten zu begleiten, Werde teilhaft seiner Ehre Bis in allerspätste Zeiten.«1

Mit diesen Zeilen adressiert Johann Wolfgang Goethe zum 3. Dezember 1824 den Weimarer Rat und Kammersekretär Franz Wilhelm Schellhorn, der an diesem Datum sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum als Weimarischer Hofbeamter feiern darf. Die auffällige Doppelung von »Jubeljahr« und »Jubiläum« dient dazu, allfälligen Irritationen entgegenzuwirken, die angesichts der acht Verse Casualpoesie entstehen könnten – Rat Schellhorns Jubiläum, das dem Gefeierten einen bescheidenen Eintrag im Archiv der Goetheschen Schriften verschafft, ist als solches selbstverständlich keineswegs der Anlass für besonderen Jubel. Vielmehr findet es seinen ebenso bescheidenen kalendarischen Platz im »großen Jubeljahre« von Carl Augusts fünfzigjährigem Regierungsjubiläum, dessen »höfischen Höhepunkt«2 Weimar am 4. September 1825 begehen wird, also beinahe 1 Johann Wolfgang Goethe: [An Rath Schellhorn]. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 1985–1998. Bd. 13.1: Die Jahre 1820–1826. Hg. von Gisela Henckmann und Irmela Schneider. München: Carl Hanser Verlag 1992, S. 114. Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter der Sigle MA mit Angabe von Band- und Seitenzahl. – Goethes Briefe werden zitiert nach der IV. Abteilung von: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin von Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, unter der Sigle WA IV mit Angabe von Band-, Briefnummer und Seitenzahl. 2 Friedrich Sengle: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalis-

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Stephan Kammer

auf den Tag genau neun Monate nach dem Datum des Gedichts. Und noch einmal gute zwei Monate nach dieser Jubeljahr-Klimax sollte das Dienstjubiläum eines anderen, ungleich bekannteren Weimarer Beamten fällig sein. Dennoch gehen mit dem Erstdruck im Gedichtband aus dem Nachlass, der 1833 im Rahmen der Ausgabe letzter Hand erscheint, das Datum des 3. Dezember und der Name Schellhorn endgültig auch in Goethes literarisches Werk ein. Dabei könnte man es angesichts des Gedichtes wohl auch bewenden lassen. Doch aus dieser Daten-, Ereignis- und Textkonstellation kann man möglicherweise einiges über Jubiläen und die Abgründe ihrer Zeitlogiken lernen. Nimmt man das Text-Ereignis genauer in den Blick, irritiert mehr als nur die acht Verse für einen anscheinend recht unbedeutenden Hofbeamten, dessen Wirken – jenseits einer kargen Notiz über seine Beförderung vom Straßenbauaufseher zum »Cammer-Copisten« im Sommer 1776 – auch in den Akten des Geheimen Consiliums, also dem, was man großzügig zu Goethes ›amtlichen Schriften‹ zu zählen pflegt, keinerlei Spuren hinterlassen hat.3 Franz Wilhelm Schellhorn, 1750 in Weimar geboren als Sohn eines »herzogl. Oberconsistorialbotenmeisters«, gestorben ebenda 1836, gehört unter den von Voigts Neuem Nekrolog der Deutschen in diesem Jahr »biographisirten 321 Verstorbenen« zu denjenigen, die nicht »geschrieben haben« und über die demzufolge in der Regel auch nicht geschrieben wird.4 Immerhin postum aber erhält er doch eine Biographie, die über die überlieferten Jubiläumsverse hinausweisen – und zur Motivation dafür mag das Fortleben des eben Verschiedenen in Goethes Werk nicht geschadet haben. Schellhorn studierte in Jena Rechts- und Kameralwissenschaften und besserte sich dabei den kärglichen Lebensunterhalt eines Halbwaisen als Porträtist und Miniaturenmaler auf – eine Beschäftigung, der er bis ins hohe Alter treu blieb. Bei Schellhorns Rückkehr aus Jena sorgte der noch minderjährige Erbprinz Carl August für eine Anstellung als »Wegebaucondukteur«, deren Amtstätigkeit in der Beaufsichtigung des Chausseenbaus von Weimar nach Erfurt lag. 1776 wurde er, wie erwähnt, Kammerregistrator, im Revolutionsjahr 1789 Sekretär des Kammercollegiums. Als solcher »zeichnete [er] sich durch unermüdete Thätigkeit, Geschicklichkeit, Ordnungsliebe, Beharrlichkeit und Verschwiegenheit aus«. Diesen Beamtenprimärtugenden entsprang eine institutionelle Innovation, die allerdings, der Logik des Archivs zugehörig, keinen Namenseintrag in mus und zu einem vernachlässigten Thema der Goetheforschung. Stuttgart, Weimar : Metzler 1993, S. 491. 3 Aufstellung eines Kammer-Etats. 1776 Juli 6. In: Goethes amtliche Schriften. Veröffentlichung des Staatsarchivs Weimar. Hg. von Willy Flach. Bd. 1: Goethes Tätigkeit im Geheimen Consilium. Teil 1, S. 5–15, hier S. 14. 4 Neuer Nekrolog der Deutschen. Hg. von Bernhard Friedrich Voigt. 14. Jg. Erster Theil. Weimar: Voigt 1838, S. xiii–xiv.

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den Registern der Autorschaft nach sich zog: »die veränderte Einrichtung der gangbaren Repositur, die systematische Ordnung der Kammerakten und die Fertigung eines übersichtlichen vollendeten Repertoriums über dieselben, worin sein Andenken fortlebt und fortleben wird«.5 Zum besagten Dienstjubiläum erhielt er, wie der anonyme Nekrolog berichtet, neben den Goethe-Versen die großherzogliche silberne Verdienstmedaille »am Bande des Hausordens vom weißen Falken«. 1828 sollte Schellhorn, 78jährig, in den Ruhestand versetzt werden, den er »wahrhaft patriarchali[sch]« im Kreise seiner Lieben verbrachte. Soviel zu einem öffentlich ereignisarmen, privat aber scheinbar durchaus bewegten Beamtenleben. Schellhorn überlebte zwei Ehefrauen und trennte sich 1791 »ganz ohne sein Verschulden« von einer dritten; er wurde 1784 vom Fürsten für einige Zeit beurlaubt zwecks einer »längere[n] Kunstreise« – in seinem Fall nicht nach Italien allerdings, sondern nach Hamburg.6 Zurück aber zum Jubiläum. Einen ersten Einblick in die vertrackte Zeitlogik, die das Gefüge dieses unscheinbaren Dienstjubiläums entfaltet hat, eröffnet Goethes Tagebuch. »Gedicht für Schellhorns gestrigen Jubeltag«, hält eine Eintragung vom 4. Dezember 1824 fest, und wiederum einen Tag später bilanziert das Tagebuch Schellhorns Dank »für das gestrige Gedicht«.7 Am Jubeltag selber hat Goethe, so dokumentiert es die Chronik seines Lebens, anderes zu tun. Er schreibt an Zelter, revidiert ein wenig für Über Kunst und Altertum, isst mittags zuhause, liest Platons Ion. Am Nachmittag bringt ihm Kanzler von Müller die »Colossalbüste von Dante« vorbei, die Anlass zu allerlei bedeutender Kontemplation wird,8 und abends muss Goethe seinem Eckermann das Ansinnen ausreden, für eine englische Zeitschrift »monatliche Berichte über die neuesten Erzeugnisse deutscher schöner Prosa« zu verfassen – »halten Sie Ihre Kräfte zusammen«, befiehlt der sichtlich »verdrießlich[e]« Goethe und verbietet Eckermann bei der Gelegenheit auch gleich noch die Dante-Lektüre.9 Und somit ergehen, entgegen den Angaben im Nekrolog, die Goetheschen Occasionalzeilen mit einem Tag Verspätung, nachträglich zum Ereignis.

5 Ebd., S. 40. 6 Ebd. 7 Goethe. Begegnungen und Gespräche. Begründet von Ernst Grumach und Renate Grumach. Hrsg. von Renate Grumach. Bd. 14: 1823–1824. Bearbeitet von Angelika Reimann. Berlin, Boston: de Gruyter 2011, S. 522f. 8 Ebd. S. 520. 9 MA 19, S. 115f. – »Ihnen, wendete sich Goethe freundlich zu mir, soll das Studium dieses Dichters von Ihrem Beichtvater hiemit durchaus verboten sein.« (MA 19, S. 117).

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II.

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Bei Gelegenheit (Eckermann, Schellhorn)

Halten wir fest: »Göthe übersandte ihm am Morgen jenes Tages folgendes eigenhändig geschriebene Gedicht«10 – wie der Nekrolog behauptet – eher nicht. Allerdings muss beziehungsweise darf der arme Schellhorn an seinem Jubeltag zwar ohne Goethe-Verse, aber doch nicht ohne Festgedicht bleiben. Einspringt derjenige, dem am gleichen Abend noch eigenständiges Schreiben und zu komplizierte Lektüren untersagt werden sollten: Johann Peter Eckermann. Sein ›Lied, beym festlichen Mittagsmahle zur Feyer des Dienstjubiläums des Herrn Rath Schellhorn‹ am 3. Dezember bildet den vorweggenommenen Ersatz der am nächsten Morgen anstehenden Goetheschen Zeilen zum 3. Dezember. Während Goethe am heimischen Mittagstisch bleibt – »Mittag für uns« notiert das Tagebuch11 –, trägt Eckermann beim Festmahl gleich sechs Strophen eigener Jubiläumsachtzeiler vor : »Wie in Amt und Dienstgeschäften Unser Schellhorn nie gefehlt; Wie er stets nach besten Kräften Nur das Gute hat erwählt; Wie er auch, der Kunst beflissen, Kein geringer ward erprobt; Dieß sind Dinge, die wir wissen, Und wir haben sie gelobt. Aber wie er so gefällig, Treuer Freund von Herzens Grund, Bieder, heiter und gesellig, So an Seel’ als Leib gesund: Sind zwar auch bekannte Dinge, Die man rühmet nah und fern; Doch wenn gut ich sie besinge, Hört man sie im Liede gern.

10 Neuer Nekrolog der Deutschen (Anm. 4), S. 41 – Die Dienstjubiläumsereignisse für Schellhorn haben eine weitere Datumsirritation nach sich gezogen. Rätselhafterweise legt das Tagebuch des Kanzlers Müller »Schellhorns Jubelfest im Stadthause« nicht auf Freitag, den 3., sondern auf Samstag, den 4. Dezember. Und Müller notiert bei der Gelegenheit: »Erhaltne Veranlassung zu einem Toast, dem ich Göthes ›hohes Jubel-Jahr‹ in seinem Gedichte an den Jubelgreiß zum Text nahm und der sehr beyfällig aufgenommen wurde.« – Friedrich von Müller : Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe besorgt von Ernst Grumach. Weimar : Böhlau 1956, S. 127 (Danach »Werthers Leiden gelesen.« – Für den 3.12. notiert Müller »Dantes Büste« – was einen Datierungsfehler in Goethes Tagebuch unwahrscheinlich macht.). 11 Goethe. Begegnungen und Gespräche (Anm. 7), S. 522.

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Darum nun zunächst erfahren Sollt ihr, wie der wackre Mann, Trotz den vierundsiebzig Jahren, Noch so gut spazieren kann. Sey das Wetter rauh und windig, Stürm’ es Schloßen oder Schnee, Doch den muntern Alten find’ ich Oft bey Wittichs auf der Höh’. Kehrt er Abends dann zurücke, Zu den Seinen in der Stadt, Preis’t er billig sein Geschicke, Das ihn reich gesegnet hat. Seine Kinder ihn umgeben, Enkel auch zu schönstem Heil, Und so ward das reichste Leben Ihm, dem Würdigen, zu Theil. Ihm, dem würd’gen, biedern Alten! Dessen Worte, für und für, Wie die Farben Probe halten, Die er wählt zur Miniatur. Spricht er euch von künft’gem Wetter, Seyd gewiß, es trüget nicht; Und dem Fremden, wie dem Vetter, hält er treu was er verspricht. Und so lebt er ohne Feinde. – Und er sieht an diesem Mahl Seine Gönner, seine Freunde, Mehr als hundert an der Zahl! Alle freu’n sich seiner Tugend; Und sie wünschen ihm noch lang’: Die lebend’ge Kraft der Jugend, Und den graden, leichten Gang.«12

Nach Anzahl der Verse jedenfalls und im Datum liegt Eckermann vorn. Die länglichen Jubelstrophen machen allerdings ganz für sich plausibel, warum und woran die Poetikdebatten des 18. Jahrhunderts und ihre literaturwissenschaftlichen Nachfolger zu unterscheiden pflegen mit Blick auf das »Gelegenheitsgedicht, das als Erlebnisgedicht ein Kunstwerk und als Casualcarmen ein Mach-

12 Johann Peter Eckermann: Lied, beym festlichen Mittagsmahle zur Feyer des Dienstjubiläums des Herrn Rath Schellhorn. Weimar am 3. December 1824. In: J. P. E.: Gedichte. Leipzig: Brockhaus 1838, S. 164–166.

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werk ist«.13 So mahnt etwa Basedow, gute siebzig Jahre vor unserem Ereignis: »Was kann man an […] Gedächtnißtagen, bey […] Jubiläen für Gutes sagen, wenn die Personen, die es angeht, nicht von hohem Werthe sind, oder ein dankbares oder zärtliches Herz nicht etwas erfindet, das es auch sonst hätte sagen können?« Man müsse deshalb, schlussfolgert Basedow »der Versuchung, Verse zu machen, widerstehen«, wolle man nicht »seinen poetischen ehrlichen Namen verlieren«.14 Doch sollte man der naheliegenden Versuchung widerstehen, angesichts der Eckermannschen Strophen in die wohlfeile Casualkritik einzustimmen, die den Kanon der Literatur von »literarische[n] Gebrauchs-, Mode- und Massenartikel[n]«15 dieser Art zu reinigen unternommen hat. Denn bemerkenswert ist an Eckermanns Versen immerhin eins: eine Zeitlogik, in der die Gegenwart des Jubiläums und damit die Existenzbedingung dieser Verse selbst ausschließlich performanzbezogen – das heißt: selbstadressiert an die Umstände des Liedvortrags (»nun«, v.17; »an diesem Mahl«, v.42) – zu existieren scheinen. Jubiläen und die dort sich ereignenden Sprachhandlungen neigen bekanntlich per se zur Selbstbezüglichkeit, aber gerade deshalb fällt die Reduktion der Ereignisreferenz auf die raum-zeitliche Deixis umso mehr auf. Derweil erfindet das Gedicht eingestandenermaßen in der Tat nur, was man über den Jubilar, mit Basedows Worten, »auch sonst hätte sagen können«: er geht gerne spazieren und hält seine Versprechen ebenso verlässlich wie das Wetter seinen Prognosen folgt.16 Nicht minder bemerkenswert ist, dass Eckermanns 13 Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 26 und passim. 14 Johann Bernhard Basedow: Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit in verschiedenen Schreibarten und Werken zu academischen Vorlesungen (1756), S. 621. Hier zit. nach Wulf Segebrecht (Anm. 13), S. 295. 15 Ebd., S. 77. 16 Wenn Eckermanns fünfte Strophe Schellhorns Wetterprognosen und Versprechen zu Medien einer Zukunftsgewissheit macht, für die die »Worte« des Jubilars gleichermaßen einzustehen vermögen, ist das, wie der Verfasser wissen müsste, ganz ungoethisch gedacht und gedichtet. Vgl. das Briefkonzept an Carl August, 1. August 1824: »Was die Witterungslehre betrifft so bin ich gleicher Überzeugung daß sie nicht auszulernen sey, besonders möchte man alle Hoffnung aufgeben, selbst das nächstbevorstehende Wetter voraus zu verkünden, oder auch von dem vergangenen etwas Rationelles zu prädiciren.« (WA IV.38, Nr. 174, 207). – Bei Goethe scheint – in optimistischeren Formulierungen – die Wetterprognostik konsequent probabilistisch angelegt (vgl. »Versuch einer Witterungslehre 1825«, MA 13.2, 286f. und 290–293). Vgl. auch die Notiz zur ›Anerkennung des Gesetzlichen‹, ebd., 300: »Bei dieser, wie man sieht, höchst komplizierten Sache glauben wir daher ganz richtig zu verfahren, daß wir uns erst am Gewissesten halten; dies ist nun dasjenige was in der Erscheinung in gleichmäßigem Bezug sich öfters wiederholt und auf eine ewige Regel hindeutet. Dabei dürfen wir uns nur nicht irre machen lassen daß das was wir als zusammen wirkend, als übereinstimmend, betrachtet haben auch zu Zeiten abzuweichen und sich zu widersprechen scheint. Besonders ist es nötig, in Fällen wie dieser wo man bei vielfältiger Verwickelung Ursache und Wirkung so leicht verwechselt, wo man Korrelate als wechselseitig bestimmend und bedingend ansieht. […] Hält man fest an der Regel, so findet man sich auch immer in der

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Jubiläumslied den Anlass, dem es seine Existenz verdankt, gerade einmal in den ersten zwei von achtundvierzig Versen abhakt.

III.

Extasen der Zeit

Goethe »reichte mir freundlich die Hand entgegen und begrüßte mich mit dem Lobe meines Gedichtes zu Schellhorns Jubiläum«, weiß Eckermann einige Tage später zu berichten.17 Allein die knappen Verse vom 4. Dezember halten dagegen. Sie sprechen kein topisch organisiertes, disproportioniertes Jubilarenlob, sondern erteilen Rezeptions- und Verhaltensanordnungen – gleich denen, die am 3. Dezember an Eckermann ergangen sind. Gegen die sechs Strophen, die zum Dienstjubiläum eines mittleren Hofbeamten von 74 Jahren in jedem Sinne ausschweifend von dessen Wettervorhersagekompetenzen und dem Leistungsvermögen als Spaziergänger handeln, setzt der 75jährige Goethe den knappen Doppelbefehl einer Ekstase. »Entzücken«, der Wahrnehmungs- und Erlebnismodus, den das Gedicht dem Jubilar mit einem Tag Verspätung aufgibt, bedeute »eigentlich raptus, secessus mentis a corpore, ecstasis«, einen kleinen Tod also, besagt das Wörterbuch der Brüder Grimm.18 Diese Ekstase soll nicht etwa dem festlichen Innehalten angesichts eines halben Jahrhunderts treuer (da ist man sich einig) Fürstendienste entspringen, sondern dem exzentrischen Befund, dass im »großen Jubeljahr« auch für einen Schellhorn noch Platz für ein Festornat aus Goethes Feder bleibt – ein Jubiläumsgedicht aus der Hand dessen also, der doch in mehrerer Hinsicht den Kosmos des Jubeljahres selbst auszugestalten übernommen hat. Zum »50jährigen Dienstjubiläum des Großherzogs […] am 3. 9. 1825«, das »in allen Formen der feudalen Kultur« begangen werden soll,19 trägt Goethe nämlich einiges bei, auch und gerade wenn er selber an der offiziellen Feier nicht teilnimmt und statt dessen am Frauenplan eine bürgerliche Parallelaktion zu Ehren des Fürsten abhält. War die Selbstbezogenheit von Eckermanns Strophen exemplarisch casual (hic et nunc), so ist es die von Goethes ersten vier Versen gleichsam strukturell. Auf den stillen Trabanten falle fortan, so heißt es dann in der zweiten Hälfte des Gedichts, die anlassgemäß die Zeitmodi von Vergangenheit und Zukunft verfugt, der Schatten einer Ehre, die allein dem vom Gedicht gesetzten Zentralgestirn des Fürsten gebührt. Casualpoesie verdanke sich der »Koinzidenz von Zeit und Gelegenheit«, so Erfahrung zu derselben zurückgeführt; wer das Gesetz verkennt verzweifelt an der Erfahrung, denn im allerhöchsten Sinne ist jede Ausnahme schon in der Regel begriffen.« – Von einer »geregelten Empirie« spricht Goethe andernorts (MA 13.2, 272). 17 MA 19, 117. 18 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 3 [1862], Sp. 669. 19 Friedrich Sengle (Anm. 2), S. 492.

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Wulf Segebrecht nicht zuletzt mit Blick auf Goethes entschiedene poetologische Stellungnahme zugunsten eines revidierten Bedingungsgefüges für diese Gattung. Mit dem Gelegenheitsgedicht »nimmt der Dichter das Gegenwärtige wahr, reagiert auf die lebendige Gegenwart, erkennt die Bedingungen an, in die er gestellt ist«, fasst Segebrecht zusammen.20 Was aber geschieht, wenn diese Gegenwartsbezogenheit der Casualpoesie, die ja bekanntlich einer Vielzahl von Anlässen entspringen kann, auf die eigentümliche Zeitlogik des Jubiläums trifft – und wenn sie diese zudem, wie in diesem Fall, zu verdoppeln, zu spiegeln beginnt? Dass Goethes Verse für Schellhorn eine im Verhältnis zu ihrem direkten Anlass doch überkomplexe Konstellation mit dem Weimarer Jubeljahr und seinen zahlreichen Ereignissen eingehen, mögen die ersten Andeutungen bereits gezeigt haben. Tatsächlich dürfte das fünfzigjährige Dienstjubiläum des »Raths« beziehungsweise »Dieners« Schellhorn – da muss man der doch an der Grenze zur Dreistigkeit selbstbewusst auftretenden Aussageinstanz recht geben – allein durch die Goetheschen Verse zu einem memorablen Ereignis im Gefüge des Weimarer »Jubeljahr[s]« geworden sein. Als Ereignis wird darin das »Jubiläum« im Gedicht genau genommen, wenngleich ein wenig paradox formuliert, zu einer parasitären Vorwegnahme: von Carl Augusts Regierungsjubiläum neun Monate später, erst recht natürlich aber von Goethes eigenem fünfzigjährigen Dienstjubiläum, das man auf Geheiß des Fürsten elf Monate später, am 7. November 1825, in dann erheblich aufwendigerer Form feiern wird – es ist das dritte Jubiläum in diesem Ereignisgefüge, dem Goethe selbst seine Anwesenheit weitgehend entzieht. Chronologisch betrachtet ist Carl Augusts ›erster Beamter‹ der letzte, dem ein Jubeltag in diesem Jubeljahr gewidmet sein wird. Das im Vergleich zum 3. Dezember 1824 hochkomplexe, differenzierte Spiel von Adressierungen, An- und Abwesenheiten dieses Novembertages hat im übrigen selbstredend casualpoetische Ausschweifungen ganz anderer Dimension zutage gefördert.21

IV.

Ambivalenz der Gegenwart

Damit zurück zur Sache des Jubiläums. Mit der Differenz von »Jubeljahr« und »Jubiläum«, die Goethes Verse für Schellhorn den Weimarer Ereignissen vorausschicken, wird eine Frage aufgeworfen: Mit welcher Form, welchem Format von Gegenwart konfrontiert uns das Jubiläum? Zweifellos muss man ›Gegenwart‹ semantisch und begriffsgeschichtlich weiter fassen, als es die umgangssprach20 Wulf Segebrecht (Anm. 13), S. 324. 21 Friedrich von Müller : Goethe’s goldner Jubeltag. 7. November 1825. Mit des Gefeierten Bildniss, seinen Schriftzügen, und einer Abbildung des Festsaales. Weimar : Wilhelm Hoffmann 1826.

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lich übliche, historisch seit ca. 1800 gebräuchliche Verwendung als temporaler Index nahelegt. ›Gegenwart‹, dieses »vielfach merkwürdige wort« beziehe sich, so ist dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zu entnehmen, auf Ort und Zeitpunkt eines (zumeist antagonistischen) Geschehens mit offenem Ausgang – formal einen Chronotopos und konkret einen Schauplatz also. Wortgeschichtlich ist der Gebrauch vornehmlich für die Schauplätze juristischer oder militärischer Entscheidungen, also für Gericht oder Schlachtfeld belegt.22 Dieses Verständnis von ›Gegenwart‹ eröffnet erst die explizit performative Dimension, die wir auch in der Funktionsbestimmung der Casualpoesie wiederfinden. ›Gegenwart‹ setzt die Eingebundenheit, die Responsivität der beteiligten Akteure voraus: Im Chronotopos ›Gegenwart‹ ist die Zuschauerposition nicht vorgesehen. Vielleicht könnte man Gegenwart, so gefasst, als intensivierte, möglicherweise auch ritualisierte Form jener Verhandlungen und Austauschbedingungen verstehen, die man ganz generell als ›Kultur‹ bezeichnen kann: Orte-und-Zeiträume, in denen wir zugleich in diesem Sinne aushandelnd tätig sind und aber gleichzeitig auch beobachten, was wir tun, wenn wir kulturell so handeln. Von diesem reflektierten Involviertsein zeugt Segebrechts Konzeptualisierung der Casualpoesie und ihrer Gegenwartsbezugsstiftung.23 Im Vergleich zu solchen Aushandlungsperformativen, die eine genuin reflexive Gegenwärtigkeit verlangen, erzeugt die kalendarische Taktung von Jubiläen eine andere Form von Gegenwart, die allerdings ebenfalls reflexiv ist. Doch ein konzeptueller Unterschied fällt stärker ins Gewicht. Denn zwar instituiert auch das Jubiläum die temporal komplexe Logik, die Gegenwart ganz grundsätzlich kennzeichnet – ist letztere doch nicht als quasi ausdehnungsloser Zeit-Punkt der Präsenz, sondern als zugleich retentional und protentional verspanntes Zeitgefüge zu verstehen. Aber dieses Spannungsgefüge wird dabei entdynamisiert, indem selbst die allen Gegenwarten eigene Zukunftsoffenheit von den Regularien des Jubiläums domestiziert, ja kolonisiert wird: »Bis in allerspätste Zeiten«, so Goethes Verse; Winfried Müller spricht von einer »Zeitkonstruktion«, die »in der Gegenwart jene Vergangenheit aktualisier[t], die auch in der Zukunft Bestand haben so[ll]«.24 Die Jubiläumsgegenwart kann man somit als Kompromissform zwischen den systemisch in modernen Gesellschaften jederzeit benötigten Aushandlungsdynamiken und der Stillstellung solcher Dynamiken im zyklisch wiederholten Ritual bezeichnen. Man könnte auch sagen: Jubiläen sind die periodische temporale Erscheinungsform von Institutionen, sie »indizier[en] In22 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 5 [1897], Sp. 2281 und 2284–2286. 23 Vgl. das Modell bei Wulf Segebrecht (Anm. 13), S. 68–73. 24 Winfried Müller : Vom ›papistischen Jubeljahr‹ zum historischen Jubiläum. In: Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum… Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen: Klartext 2005, S. 34.

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stitutionalität«.25 Sie kehren somit die gesellschaftliche Logik des alttestamentarischen Jubeljahrs, auf das sie semantisch rekurrieren, geradewegs um: Während im Jubeljahr alle kulturell verfestigten Verpflichtungen, vom Ackerbau bis zum Schuldendienst, sistiert, ja sogar zurückgesetzt werden, sistiert das moderne Jubiläum umgekehrt deren Aushandlung, indem es das institutionelle Gehäuse feiert, das (ob stählern oder nicht) ja gerade von derartigen Aushandlungen entlasten soll. – Wenn die Taktung von Jubiläumszyklen immer wieder dazu zu verleiten scheint, den gefeierten Institutionen, meist von außen, eine Krisendiagnose zu stellen, dann liegt das möglicherweise weniger an der Mäkelei übellauniger Kritiker, Fundamentalopponenten oder Jubiläumsverächter, sondern daran, dass die Krise selbst als gesteigerte Form jener dynamisch-reflexiven Gegenwart bezeichnet werden kann, die das Jubiläum zugunsten ihrer institutionellen Fassung stillstellt. Die Krise ist, so besehen, die Rückseite der Münze, auf deren Vorderseite das Jubiläum eingeprägt ist. Das Jubiläum, soviel dürfte deutlich geworden sein, kann man damit als ein aus strukturellen Gründen ambivalentes Format bezeichnen. Dementsprechend gibt Goethes achtzeilige Zumutung an Schellhorn eine notwendige Folge solch casualen Involviertseins zu bedenken: das Involviertwerden, das Jubliäen erzwingen. Wenn in seinen Versen kein Platz ist für die ambulatorischen Passionen oder Wettervorhersagekünste des Gefeierten, wie sie Eckermanns Gedicht entfaltet hat, dann schlicht und ergreifend darum, weil es auf solches, auf diesen selbst als Person gar nicht ankommt. Es mag um den Rat Schellhorn gehen am 3. Dezember 1824 – und Goethes Verse beharren darauf: auch um ihn nur vermittelt durch den größeren Rahmen des fürstlichen Jubeljahrs, vor allem aber aufgrund der Tatsache Goethescher Jubiläumsverse. Sicher aber geht es nicht um das Individuum Franz Wilhelm Schellhorn. Goethes Verse feiern konsequenterweise nicht das Verdienst des Jubilars, diese bürgerlich-aufklärerische Leitwährung individueller Leistung, sondern eine buchstäblich geräusch- und reibungslose institutionelle Anwesenheit: »Dir gelang’s in stiller Sphäre / Deinen Fürsten zu begleiten«.

V.

Die zwei Körper des Jubilars (Goethe, Goethe)

Solcher Ambivalenz nun begegnet man im November 1825 aus Anlass des schon erwähnten dritten Dienstjubiläums wieder. Der dabei Gefeierte ist Goethe selber, und in seinem Fall kann von stiller Begleitung fürstlichen Wirkens wohl kaum 25 Winfried Müller: Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion. In: W. M. (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster : Lit Verlag 2004, S. 7.

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die Rede sein. Doch auch sonst wird die institutionelle Verfugung von Amt und Individuum, wie sie doch im Dienstjubiläum allein (wieder)hergestellt und memoriert wird und die deshalb Goethes Verse für den Rat Schellhorn gleichsam zur Korrektur von Eckermanns unangebrachtem Personenlob zugespitzt haben, in den Ereignisserien von Goethes Dienstjubiläum zugleich vervielfacht und unterlaufen. Und auch in diesem Fall wird die besagte Ambivalenz unter anderem an einer Zeitmanipulation der Jubiläums-Gegenwart ablesbar. Während es sich aber im Fall des Jubiläums vom 3. Dezember 1824 um eine minimale Verschiebung gehandelt hat, die kaum deutlicher als in der semantischen Differenz der Präpositionen (zum vs. am 3. Dezember) ablesbar geworden und deshalb selbst der Aufmerksamkeit eines geübten Diplomaten und Politikers wie Müller bis hin zur Erinnerungstäuschung entgangen ist, haben wir es beim Jubiläum vom 7. November 1825 mit einem massiven Eingriff zu tun, der beinahe zu groß und zu explizit zu sein scheint, um wirklich wahrgenommen zu werden. Denn das Datum entspricht nicht etwa dem Tag von Goethes Verbeamtung, sondern dem Tag seiner Ankunft in Weimar. Als »weimarischer Staatsdiener verpflichtet« worden war Goethe erst am 11. Juni 1776, also ein halbes Jahr nach dem vom Jubiläum gefeierten Tag. Über diese souveräne Zeitmanipulation waren sich der Festorganisator Müller und Carl August unmissverständlich einig. »Der Großherzog beschloß, daß die funfzigste Wiederkehr des Tages, wo Goethe zuerst in Weimar einging, zugleich als sein Dienstjubiläum angesehen und gefeiert werden sollte, weil der Freund und Vertraute seiner Jugend nicht erst durch förmlichen Diensteid sich ihm auf ewig verpflichtet und verbündet habe«, führte von Müller aus.26 So auch die offizielle Adresse des Fürsten: »Gewiß betrachte ich mit allem Rechte den Tag, wo Sie, Meiner Einladung folgend in Weimar eintrafen, als den Tag des wirklichen Eintritts in Meinen Dienst, da Sie von jenem Zeitpunkte an nicht aufgehört haben, Mir die erfreulichsten Beweise der treuesten Anhänglichkeit und Freundschaft durch Widmung Ihrer seltenen Talente zu geben. Die fünfzigste Wiederkehr dieses Tages erkenne ich sonach mit dem lebhaftesten Vergnügen als das Dienstjubelfest Meines ersten Staatsdieners«, schlussfolgert Carl August.27 Deutlicher noch als im Fall Schellhorns zeichneten sich die zwei Körper des Jubilars in diesem Ereignisgefüge ab – souverän ist, wer über die Gegenwart des Jubiläums und die des Jubilars entscheidet, wer das Ankunftsdatum eines physischen Körpers zur institutionellen Übernahme eines/in einen Beamtenkörper(s) umwidmen kann. Demgemäß spann sich nicht nur um das festgesetzte 26 Friedrich von Müller (Anm. 21), S. 7. 27 Carl August an Goethe, 7. November 1827, in: Briefwechsel des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach mit Goethe in den Jahren von 1775 bis 1828. Bd 2. Weimar : s.n. 1863, Nr. 583, S. 272.

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Datum, sondern auch im Ablauf der Feierlichkeiten ein fein austariertes, bedeutungsvolles Spiel von Anwesenheiten. Beim offiziellen »Bibliotheks-Actus« war Goethe, ebenso wie das Fürstenpaar, nur symbolisch, in Gestalt der Gedenkmünze präsent und erhielt im Anschluss einen Stapel Papiere, die das Stattgehabte dokumentierten und beglaubigten (das »Protocoll« der Festereignisse, »Prachtexemplare« des für den Anlass hergestellten Iphigenie-Druckes, Abschriften, »Duplicate« …).28 Dem mittäglichen Festmahl im Stadthaus blieb Goethes »persönliche Gegenwart« ebenfalls vorenthalten, metonymisch vergegenwärtigt war er dort aber mehrfach: in einem »große[n] allegorische[n] Gemälde«, in »Medaillons« seiner Werke, in effigie »des Gefeierten jugendlich schöne[r] Büste von Tiek« und in Repräsentation seines Sohnes. Coudray stellte ihm unterdessen am Frauenplan, wo ihm zwei Hofdamen beim Mittagessen aufwarteten, »in treuer Zeichnung das Bild der sinnreichen Ausschmückung des Festsaales vor die Augen«.29 Gleich doppelt präsent war schließlich »der fast unsichtbar gegenwärtige Held des Tages« bei der Festaufführung der Iphigenie im neuen Weimarer Hoftheater (dessen Einweihung nach dem Regierungsjubiläum nun »gleichsam zum zweite Male« vorgenommen wurde), »als der aufgezogene Vorhang statt den erwarteten Hain Iphigeniens, einen festlich decorirten Saal und im Vordergrunde rechts Goethe’s Büste, auf lorbeerumkränzten Postamente, überrascht erblicken ließ.«30 Die ambivalente Funktion einer Selbstbeobachtung von Außen, in die Jubiläen per Zeitextase und Verdoppelung des Jubilarkörpers zwingen, bringt Goethes Freund Zelter auf den Punkt, wenn er tags darauf angesichts des eben vergangenen Dienstjubiläums auf die Hyperbel eines geradezu kosmischen Ereignisses fällt: »Wohl bekomme Dir die Brautnacht! Wenn solch ein Jubiläum keine Hochzeit ist so weiß ich keine: Du Weltbräutigam der Zeit und Ewigkeit!«31 Personaljubiläen dieser Art zeigen, vorsichtig gesprochen, auch eine Neigung zur Mortifikation, indem und gerade wenn sie den unsterblichen (institutionellen) Körper des Jubilars besingen. Besonders unzweideutig schreiben die Verse des Kanzlers von Müller, mit denen die für Goethe geprägte Gedenkmünze begleitet wird, den Adressierten aus der Zeitlichkeit irdischer Existenz und Verdienste heraus: »Es strahlt der Tag, der neues Glück verkündet, Dem ahnungsvoll das Herz entgegen schlug, Der Tag der einst Dich Weimar’s Ruhm verbündet, Der unser Dank längst zu den Sternen trug, 28 29 30 31

Friedrich von Müller (Anm. 21), S. 19f. Ebd., S. 27–30. Ebd., S. 36f. Carl Friedrich Zelter an Goethe, 5.–8. November 1825, MA 20.1, Nr. 483, S. 875.

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Der Tag, der uns ein ewig Licht entzündet, Zur Sonne rief des Adlers kühnen Flug! Und, wie auf goldnem Fittich Deiner Lieder, Schwebt seligen Blickes die Erinn’rung nieder. Du schlangst den Schmuck, den ewig lorbeerfrischen, Um Deines Fürsten ruhmbestrahltes Haupt, Riefst Sternen zu, dem Eichkranz sich zu mischen, Der unsrer Fürstin heil’ges Bild umlaubt: Den Muth des späten Enkels anzufrischen, Der unerreichbar Heldengröße glaubt, Zeigst Du, in unvergänglich Erz gegraben, was wir verehrt, geliebt, besessen haben. O goldner Tag, wo Sie Dir wiedergeben Den Kranz der lohnenden Unsterblichkeit! Den Freund, den Sänger wollen Sie umweben Mit Ihres Ruhmes heitrer Ewigkeit Und Ihn vereint mit sich der Nachwelt geben, Ihn, der Sein Leben Ihrem Dienst geweiht: Wohl konntest Du nach höchsten Kränzen ringen, Doch solchen Dank nur solche Fürsten bringen!«32

Der Verhaltensbefehl des Festgedichts an Schellhorn fällt so massiert auf den zurück, der ihn zum Beginn des Jubeljahrs ausgesprochen hat. Nur Symbolpolitik sind Ereignisse dieser Art eben nicht. Solche Extasen der Zeit gehen einem, wie Zelter weiß, zu Herzen.33 Wie Geburt und Tod sind solche »Feyertage« Ereignisse, »die der Mensch nur Einmal erlebt«.34 In einem Briefkonzept vom 4. Dezember 1825 – das Jubeljahr, das die Verse an Rat Schellhorn eröffnet haben, ist vergangen; Goethes Jubiläum liegt auch schon beinahe einen Monat zurück – vermeldet Goethe den Beginn einer allmählichen Erholung von den Anstrengungen seiner Verdopplung zum Festkörper Goethe: »Erst nach und nach gelange ich zu dem ruhigen Genuß des vielen Guten, das mir am siebenten November überraschend geworden«, schreibt er an den Jenenser Hofrat von Hoff und unterstreicht jenes d8lassement temporel, das die auf den/die Körper des Jubilars bezogenen Folgen der Zeitextase erst heilen kann: »So wie der Eindruck des Unglücks durch die Zeit gemildert wird, so bedarf das Glück auch dieses 32 »Goethen zum goldenen Jubeltage. VII. November 1825. Eine Denkmünze geweiht von der Huld seines Fürsten«, Friedrich von Müller (Anm. 21), S. 64f. 33 Carl Friedrich Zelter an Goethe, 5.–8. November 1825, MA 20.1, Nr. 483, S. 875: »Holl wiß! alter Gesell und laß Dich machen; Noch einmal soll das starke Herz Stich halten. Es will schon was sagen! Ich habe an der Hälfte beinahe zu viel gehabt, bin aber noch so davon kommen daß es nur geritzt hat.« 34 Goethe an Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck, 13. November 1825, WA IV.40, Nr. 119, S. 122.

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wohlthätigen Einflusses und ich also desselben gar sehr, um nur wieder mir selber anzugehören.«35

35 Goethe an Carl Ernst Adolf von Hoff, 4. Dezember 1825, WA IV.40, Nr. 139, S. 149 [meine Hervorhebung]. – Tatsächlich setzt erst nach diesem Datum der Strom der Dankesschreiben für die Jubiläumsgaben ein; nur in vereinzelten Fällen findet man in den Briefen vor diesem Datum Dank oder auch nur Hinweise auf die konkreten Ereignisse des 7. November. Das Argument einer zeitlichen Erholung hat Goethe – noch ohne die abschließende Pointe einer Wiederaneignung – bereits am 26. November an Zelter erprobt: »So wie der Eindruck des Unglücks durch die Zeit gemildert wird, so bedarf das Glück auch dieses wohltätigen Einflusses; nach und nach erhol’ ich mich vom siebenten November. Solchen Tagen sucht man sich im Augenblick möglichst gleichzustellen, fühlt aber erst hinterher, daß eine dergleichen Anstrengung notwendig einen abgespannten Zustand zur Folge hat« (MA 20.1., Nr. 486, S. 879).

Thomas Macho

Die Stunde Null

Prozesse kultureller Erinnerung verweisen zumeist auf Ereignisse, auf einen Anfang oder ein Ende, ein Geburts- oder Sterbedatum, eine Neugründung oder einen finalen Untergang. Sie tragen ein Janusgesicht, mit Blick nach hinten und nach vorn. Zu diesem Charakter passt die Null: als Markierung auf dem Zahlenstrahl, als Kerbe einer Zeitachse, mit deren Hilfe die Jahre vor und nach dem bestimmten Ereignis – der Gründung Roms, der Geburt Christi, der Hidschra Mohammeds von Mekka nach Medina, des Sturms auf die Bastille oder das Winterpalais – gezählt werden. Spätestens seit 1929 fungiert die Null auch als Zielpunkt eines Countdowns vor Explosionen oder Raketenstarts. Vermutlich war es Fritz Lang, der den ersten Countdown in einem der letzten deutschen Stummfilme – unter dem Titel Frau im Mond – in Szene gesetzt hat; an der Premiere am 15. Oktober 1929 soll auch Albert Einstein teilgenommen haben. Und nicht umsonst heißt die zentrale Stelle einer Nuklearexplosion – unter oder auf dem Boden – seit dem ersten Atombombentest bei Los Alamos am 16. Juli 1945 Ground Zero; als Ground Zero wird bekanntlich auch der Platz in New York bezeichnet, an dem die Zwillingstürme des World Trade Center vor dem Aufprall der Flugzeuge am 11. September 2001 standen. »Was sich vor uns auftut ist so etwas wie eine / Unmögliche Geschichte Wir stehen vor einer Art Null«:1 So lauten die Sätze, die in den ersten Minuten von Film Socialisme (2010) gesprochen werden, dem letzten Film Jean-Luc Godards vor seinem 3D-Film Adieu Au Langage (von 2014). Wenig später bemerkt eine Stimme: »Einmal bin ich dem Nichts begegnet / Und es ist viel kleiner als man meint / Jaffa 1948«. Ort und Jahreszahl markieren den blutigen Angriff der Irgun (im April 1948) und die Vertreibung der Araber aus dem alten Hafen bei Tel Aviv. »So jetzt geht’s auf Null zurück mein Lieber / Ein Glück dass die Araber sie erfunden haben / Und die kriegen nicht einmal Tantiemen dafür / Poor chaps«, heißt es danach, bevor eingewendet wird: »Die negativen Zahlen stammen aus 1 Godard 2011, S. 7. Die Filmanalyse bezieht sich auf die DVD-Ausgabe der filmedition suhrkamp: Godard 2012.

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Indien Und sie haben / Einige Jahre in Arabien Station gemacht bevor sie in Italien gelandet sind / Fibonacci hat sie als Erster verwendet«.2 Den halben Film hat Godard auf dem Kreuzfahrtschiff »Costa Concordia« gedreht. Wenige Monate nachdem der Film in die deutschen Kinos gekommen war, rammte das Schiff am 13. Januar 2012 – mit mehr als viertausend Passagieren an Bord – einen Felsen und kenterte vor der Hafeneinfahrt der Isola del Giglio; 32 Menschen starben. An ihren Tod erinnert seit mehr als zwei Jahren eine Gedenktafel mit den Namen der Toten – und eine halbwegs verloren wirkende, kleine Madonna auf der Kaimauer, die in Richtung der Unglücksstelle blickt und ihre Hände wie zum Empfang auszubreiten scheint. Am 16. und 17. September 2013 wurde das Schiff – in Anwendung ebenso innovativer wie spektakulärer und extrem kostspieliger Techniken – aufgerichtet, um die Abschleppung im Frühjahr 2014 vorzubereiten. »Costa Concordia«: Der Name zitiert Giacomo Costa, der 1854 den Schifffahrtskonzern gegründet hat, und das Ideal der Herzenseintracht, der Harmonie, der Seelenverwandtschaft. In JeanLuc Godards Film ist die »Costa Concordia« freilich auch ein Symbol für die Kreuzzüge und für die Verrohung des mediterranen Geistes, den Albert Camus oder Cesare Pavese noch in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Urquell europäischer Identität beschworen hatten; schon in den ersten Minuten des Films wird der Stoßseufzer laut: »Und wir / Wenn wir wieder einmal Afrika / Im Stich gelassen haben«.3 Rund zwei Wochen nach der Wiederaufrichtung der »Costa Concordia« – am 3. Oktober 2013, 450 Meilen südlich von Giglio – kam es vor einer anderen Insel zur Havarie eines Flüchtlingsboots, bei der mehr als dreihundert Menschen starben. Ihre Namen werden auf keiner Gedenktafel erinnert, und keine Madonna breitet ihre Arme zum Empfang aus. In den folgenden drei Abschnitten werde ich Roberto Rossellinis Film Germania, anno zero (von 1948) kommentieren, danach die Stunde Null vor siebzig Jahren, und zuletzt Robert Neumanns Roman Children of Vienna, der 1946 in London (bei Victor Gollancz) publiziert wurde, danach 1947 in New York (bei Dutton & Co) und zugleich in Mailand (bei Mondadori), unter dem Titel Ragazzi di Vienna (in einer Übersetzung von Alessandro Gallone). Es wäre möglich, dass diese italienische Ausgabe nicht nur Roberto Rossellini, sondern auch den damals 25jährigen Pasolini beeinflusst hat, dessen Debütroman aus dem Jahr 1955 – Ragazzi di Vita – geradezu den Roman Neumanns zu zitieren scheint. In deutscher Sprache erschien Children of Vienna erstmals in Amsterdam (1948 bei Querido), in einer Übersetzung von Franziska Becker, der damaligen Ehefrau Neumanns, danach 1974 bei Piper und schließlich in einer vorzüglichen Edition

2 Godard 2011, S. 7f. und 19. 3 Ebd., S. 5.

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als Band 279 der Anderen Bibliothek (bei Eichborn 2008), mit einem kenntnisreichen Nachwort von Ulrich Weinzierl.4

1. Ein Jahr Null der Zeitrechnung hat es nie gegeben. Eine halbwegs exakte Datierung der Geburt Jesu – die jahrhundertelang die prospektive und retrospektive Jahreszählung des christlichen Kalenders trennte – blieb erfolglos, da die verschiedenen Referenzpunkte der Evangelien einander widersprechen. Eine Art von Steuer-Census zur Zeit des römischen Statthalters Publius Sulpicius Quirinius in Syrien (nach dem Lukasevangelium) fand erst in den Jahren 6 und 7 p. C. statt; Herodes der Große, der (nach dem Matthäusevangelium) den Befehl zum Kindermord von Bethlehem erteilt haben soll, war bereits im März 4 a. C. gestorben. Die Himmelserscheinungen (ein Komet oder Jupiter-Saturn-Konjunktionen), die einige chaldäische Astrologen dazu gebracht haben könnten, nach einem neugeborenen König der Juden zu fahnden, deuten auf das Jahr 7 a. C. Ein Jahr Null hat es auch darum nicht gegeben, weil die griechisch-römische Antike – wie in Godards Film betont wird – die Null gar nicht kannte, die nur allmählich in der abendländischen Mathematik heimisch wurde. Wir dürfen nicht vergessen, wie lange es üblich war, Zahlen nicht mit Ziffern, sondern mit Buchstaben zu notieren. Die runde Zahl, die »Chiffre« schlechthin, das Zeichen der Leere: die Null wurde erst ab dem zwölften Jahrhundert eingeführt; auf dem römischen Abakus wurde die Null nicht notiert, sondern lediglich durch eine freigelassene Stelle angezeigt. Bis zur Neuzeit blieb die Null, das »signifizierte Nichts« (nach Brian Rotman5), ein unheimliches Symbol, dessen Verwendung gelegentlich sogar verboten wurde. Noch im 15. Jahrhundert wurde sie als dunkel und unklar angesehen, und der Name Null verwies darauf, dass sie nulla figura, also kein geometrisches Zeichen sei (wie ihr Verwandter, der Punkt). Das Jahr Null: Der Begriff bezieht sich gegenwärtig zumeist nicht mehr auf Christi Geburt oder auf das Gerücht von den angeblichen Schrecken des Jahres eintausend, das bereits Ortega y Gasset widerlegt hatte,6 sondern auf das Ende des Zweiten Weltkriegs, den Zusammenbruch der NS-Diktatur und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Allerdings hat sich schon bald die Redensart von der Stunde Null eingebürgert; und es ist merkwürdig, dass einzig Roberto Rossellini am Jahr Null – Anno Zero – festhielt. 4 Vgl. Weinzierl 2016, S. 169–201. 5 Vgl. Rotman 1987. 6 Vgl. Ortega y Gasset 1992.

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Das Rätsel wird auch nur halb gelöst, wenn wir uns daran erinnern, dass Rossellini selbst am 8. Mai 1906 in Rom geboren wurde, und vielleicht die deutsche Stunde Null von seiner eigenen Ora Zero abgrenzen wollte. Dieser Wunsch mag umso verständlicher erscheinen, als Rossellini nicht nur den italienischen Faschismus – mit den Filmen La nave bianca (1941), Un pilota ritorna (1942) und L’uomo dalla croce (1942–43), der sogenannten faschistischen Trilogie – unterstützt, sondern auch eine enge Freundschaft mit Vittorio Mussolini, dem Sohn des Duce, gepflegt hatte. Rossellinis filmische Stunde Null begann kurz nach Kriegsende mit Roma, citt/ aperta (1945) und Pais/ (1946), bevor er sich entschloss, den letzten Teil der neorealistischen Trilogie, die in gewisser Hinsicht die faschistische Trilogie überbieten sollte, in Berlin, mit deutschen Laien-Schauspielern und in deutscher Sprache (unter Verwendung innovativer Originalton-Aufnahmetechniken) zu drehen. An seine ersten Eindrücke von Berlin hat sich Rossellini in einem Essay über Dix ans de cin8ma erinnert, der in der Ausgabe vom 2. November 1955 der Cahiers du cin8ma abgedruckt wurde: »The city was deserted, the gray of the sky seemed to run in the streets and, from the height of a man, you could look out over all the roofs; in order to find the streets under the ruins, they had cleared away and piled up the debris; in the cracks of the asphalt, grass had started to grow. Silence reigned, and each noise, in counterpoint to it, underlined it even more; the bittersweet odor of rotting organic material constituted a solid wall through which one had to pass«.7 Rossellini drehte den Film im Sommer 1947;8 er schilderte die Geschichte des zwölfjährigen Jungen Edmund, der in der zerstörten Stadt nicht nur das eigene, sondern auch das Überleben seiner kleinen Familie zu sichern versucht: Der Vater ist schwer krank, der Bruder versteckt sich vor den Soldaten, gegen die er bis zum Schluss gekämpft hatte, und mit denen sich die Schwester prostituiert. Es ist trostlos. Der Regisseur stellte dem Film eine gesprochene (nicht in allen Fassungen enthaltene) Absichtserklärung voran, in der er festhielt: »Dieser Film, der im Sommer 1947 in Berlin gedreht wurde, will nichts anderes sein, als ein objektives und wahrhaftes Bild dieser riesigen und fast völlig zerstörten Stadt, in der 312 Millionen Menschen ein schlimmes, verzweifeltes Dasein fristen, fast so, als seien sie sich dessen gar nicht bewußt. Sie leben in der Tragödie, als sei diese ihr natürliches Lebenselement. Aber das tun sie nicht aus Seelenstärke oder Überzeugung heraus, sondern einfach aus Müdigkeit. Hier geht es nicht um eine Anklage gegen das deutsche Volk, sondern um eine sachliche Bestandsaufnahme der Tatsachen. Sollte jedoch jemand glauben, nachdem er diese Geschichte von Edmund Koehler miterlebt hat, es müßte etwas geschehen, man müßte den 7 Zitiert nach Brunette 1996, S. 77. 8 Verwendet wurde die DVD-Ausgabe von Zweitausendeins: Rossellini o. J.

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deutschen Kindern beibringen, das Leben wieder zu lieben, dann hätte sich die Mühe desjenigen, der diesen Film gemacht hat, mehr als gelohnt.« Kurz zur Handlung. Edmund arbeitet auf einem Friedhof; er hilft beim Ausheben von Gräbern. Als bemerkt wird, dass er keine Arbeitskarte hat, wird er fortgeschickt. Auf dem Heimweg sieht er ein Pferd auf der Straße liegen, das offenbar gerade gestorben ist. Und wie in der Brecht-Eisler-Ballade von der Anklage des Pferdes »O Falladah, die du hangest« (ein Zitat aus dem GrimmMärchen von der Gänsemagd), stürzen sich sofort hungrige Menschen auf das Tier, um sich ein Stück Fleisch abzuschneiden: »Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig mit dem Sterben«.9 Zuhause trifft Edmund auf den Hausbesitzer Rademacher, der herumschimpft, dass der Vater des Jungen in der Nacht so oft stöhnt: »Das dauernde Gejammer und Gewimmere von deinem Vater […] Warum verreckt der nicht – damit wir unsere Ruhe haben.« In der folgenden Szene begegnet Edmund dem ehemaligen Lehrer Enning, der sich jetzt als Zulieferer für pädophile Militärs betätigt; in einer für sensibilisierte Wahrnehmungen schwer erträglichen Szene belästigt Enning den Jungen und schickt ihn mit einer Hitler-Schallplatte in die ehemalige Reichskanzlei, wo er versuchen soll, die Platte an alliierte Soldaten zu verkaufen. Als Edmund vom kranken Vater erzählt, der in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, bemerkt der schmierige Lehrer : »Um ihn am Leben zu erhalten, könnt ihr doch nicht alle verhungern. […] Schau dir die Natur an. Die Schwachen werden vernichtet, damit die Starken bleiben. Man muss eben den Mut haben, die Schwachen verschwinden zu lassen. Darüber musst du dir klar sein, mein Junge. Es geht darum, dass wir uns retten.« Nach der Rückkehr des Vaters aus der Klinik kocht ihm Edmund einen Tee, in den er etwas Gift hineinmischt, das er bei einem Krankenhausbesuch mitgenommen hat; der Vater trinkt den vergifteten Tee und stirbt kurz darauf. Als Edmund zu Enning geht und ihm mitteilt, er »habe es getan«, beschimpft ihn der Lehrer als Ungeheuer. Edmund flieht erschreckt, läuft ziellos durch die Straßen, streift und klettert durch Trümmer, findet keinen Anschluss bei Kindern, die Fußball spielen – und stürzt sich zuletzt aus dem Fenster einer Hausruine, gegenüber von seinem Elternhaus. Der Film wurde in Deutschland schlecht aufgenommen und selten gezeigt; symptomatisch war etwa eine Rezension von Hans Habe, die am 28. September 1949 in der Süddeutschen Zeitung erschien, und in der es hieß: »Rossellini pflückt in diesem Film nicht Blumen vom Grab einer Nation, er erbricht sich in den Sarg.« Hans Habe hatte übrigens auch Robert Neumanns Roman Die Kinder von Wien aus dem Jahr 1946, auf den ich noch zu sprechen kommen werde, mit ähnlicher Grobheit verrissen, was Neumann zu dem seither oft zitierten Gedicht inspirierte: »Der See ist trüb, die Luft ist rein, Hans Habe muss ertrunken sein.« 9 Brecht 2007, S. 928.

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Freilich hielt Hans Habe – zumindest in dieser Hinsicht im Einklang mit Rossellini – an der Vorstellung vom Jahr Null fest; soviel verrät eine Sammlung von Essays zur Geschichte der deutschen Presse, die er 1966 – ausgerechnet unter dem Titel Im Jahre Null – im Desch-Verlag München veröffentlichte. Die Dreharbeiten zu Germania, anno zero begannen am 15. August 1947. Das Datum ist dem Film, dessen Titel auf Zeitrechnung referiert, nicht äußerlich. Und tatsächlich ist Rossellinis erster Sohn Marco Romano (aus seiner Ehe mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Marcella De Marchis, geboren am 3. Juli 1937) am 14. August 1946 an einem Blinddarmdurchbruch (mit anschließender Peritonitis) gestorben. Rossellini hat den Film vom Jahre Null ausdrücklich dem toten Sohn gewidmet; und mehr noch: Er war geradezu besessen davon (wie alle Quellen zur Geschichte des Films übereinstimmend berichten), einen Jungen zu finden, der seinem eigenen Sohn so ähnlich wie möglich sehen sollte. Beim Casting soll er Edmund Meschke oder Moeschke, das unbekannte Zirkuskind, so lange gekämmt haben, bis der Eindruck stimmte: Er inszenierte also, mehr als zehn Jahre vor Hitchcock, einen Vertigo-Effekt, der sich in den Figuren, die sich um ihre eigene Achse drehen, ausdrückt und wiederholt. Vordergründig wird eine ödipale Konstellation präsentiert; aber der Vatermord ist ein erweiterter Suizid, eine Antizipation des Suizids, den der Junge begehen wird.

2. Vor 25 Jahren – im Mai 1990 – publizierte Hans Magnus Enzensberger in der Reihe Die andere Bibliothek als 65. Band eine Sammlung von Augenzeugenberichten. Seine Einleitung begann mit einigen Situationsschilderungen: »›Kurz bevor ich Luanda verließ, war ich von amerikanischen Freunden in ein Schwarzmarktrestaurant eingeladen worden. Wir aßen draußen. Die Gäste machten alle mehr oder weniger den Eindruck, als verdienten sie selber am schwarzen Markt. Ich saß mit dem Rücken zum Geländer. So hatte ich gar nicht bemerkt, daß sich Leute hinter uns angesammelt hatten, die uns das Essen vom Teller zu fischen versuchten. Sofort schickte das Management einen Gorilla hinaus, der eine alte Frau mit einem Schlag vor den Kopf zu Boden warf und die Menge zurückdrängte, meist Frauen und Kinder.‹ […] ›Hier in Beirut liegen Flüchtlinge auf allen Treppen, und man hat den Eindruck, sie würden nicht aufschauen, wenn mitten auf dem Platz ein Wunder geschähe; so sicher wissen sie, daß keines geschieht. Man könnte ihnen sagen, hinter dem Libanon gäbe es ein Land, das sie aufnehmen werde, und sie sammelten ihre Schachteln, ohne daß sie daran glaubten. Ihr Leben ist scheinbar, ein Warten ohne Erwartung, sie hängen nicht mehr daran; nur das Leben hängt noch an ihnen, gespensterhaft, ein unsichtbares Tier, das hungert und sie durch zerschossene Straßen schleppt,

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Tage und Nächte, Sonne und Regen‹. […] ›Das Unheimliche an diesem Ort im Norden von Sri Lanka ist nicht, daß dich jemand überfallen könnte, wenigstens nicht bei Tag; sondern die Gewißheit, daß unsereiner, plötzlich in dieses Leben ausgesetzt, in drei Tagen untergehen würde. […] Ganze Quartiere ohne ein einziges Licht. Ein Hügelland von Backstein, darunter die Verschütteten, darüber die glimmernden Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten.‹«10 Die Pointe dieser Beschreibungen wird unmittelbar im Anschluss an diese Zitate offengelegt: »Berichte aus der Dritten Welt, wie wir sie jeden Tag zum Frühstück lesen können. Nur die Ortsangaben sind gefälscht. Die Schauplätze, um die es geht, sind nämlich nicht Luanda und Beirut, San Salvador und Trincolamee, sondern Rom und Frankfurt am Main, Berlin und Athen. Ganze fünfundvierzig Jahre trennen uns von Zuständen, die wir für afrikanisch, asiatisch oder lateinamerikanisch zu halten uns angewöhnt haben.«11 Die Beiträge zu Enzensbergers Sammlung sind chronologisch angeordnet; die Schauplätze wechseln ebenso wie die Autorinnen und Autoren: Stig Dagerman, Alfred Döblin, Janet Flanner, Max Frisch, Martha Gellhorn, John Gunther, Norman Lewis, Abbott Joseph Liebling, Robert Thompson Pell und Edmund Wilson. Was sie porträtiert haben, mit seltener Genauigkeit und Intensität, ist eine Stunde Null, die geradezu als Geisterstunde bezeichnet werden kann. Denn jede Stunde Null hat zwei Gesichter : das Gesicht des Neuanfangs und das Gesicht des Untergangs, des Todes. Es ist bemerkenswert, dass schon 1990, aber auch in der aktuellen Flut von Neuerscheinungen, Romanen, Ausstellungen und Dokumentationen die Aufmerksamkeit besonders auf den Tod, auf die dunkle Seite der Stunde Null, gerichtet wird: Diese dunkle Seite wurde allzu lang verschwiegen und verdrängt; sie betrifft vor allem die Suizidepidemie des Frühjahrs 1945, die der Psychiater Erich Menninger-Lerchenthal als einen »organisatorisch groß angelegten Massenselbstmord« charakterisierte, wie er »in der Geschichte Europas noch nicht dagewesen ist«.12 – Schon in seinen kürzlich auszugsweise wieder veröffentlichten Tagebüchern zum Ersten Weltkrieg hatte übrigens Romain Rolland an mehreren Stellen vom Krieg als einem »Massenselbstmord« Europas gesprochen.13 In seiner präzis recherchierten Geschichte des Suizids im Dritten Reich berichtet Christian Goeschel zunächst von den hohen Suizidraten während der Weimarer Republik, die auf die gescheiterte Bewältigung der Kriegsniederlage, auf Inflation, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not zurückgeführt wurden. Die Zahlen der Statistik waren hoch; sie blieben hoch, auch nachdem die Nazis 10 11 12 13

Enzensberger 1990, S. 5f. Ebd., S. 6. Menninger-Lerchenthal 1947, S. 10 und 13. Vgl. Rolland 2015, S. 13, 22 oder 93.

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die Macht übernommen, den Suizid als Ausdruck »erbkranker« Schwäche abgewertet und zugleich als sozialdarwinistisch interpretierte »Selbstreinigung« des Volkes begrüßt hatten. Nicht wenige Suizide wurden direkt provoziert; und manche Morde wurden nachträglich als »Selbstmorde« camoufliert.14 Die Zahlen blieben folglich hoch; nach dem Kriegsende wurden zahlreiche Suizide – aus Schuld, Angst vor Strafe, Folter, Vergewaltigung und Verzweiflung über die Kapitulation – begangen; Lee Miller hat einige Suizide fotografisch dokumentiert.15 Im letzten Kapitel seiner Studie fragt Christian Goeschel, ob die beispiellose Suizidepidemie des Frühjahrs 1945 auf die nihilistische Grundhaltung eines Selbstmordregimes zurückgeführt werden könne;16 er bezieht sich hier auf Hermann Rauschning oder William L. Shirer, der in seinem Berliner Tagebuch zum Tod Hitlers notierte: »Selbstmord wäre mehr als nur der einfachste Ausweg aus einem Dilemma, da er nun sein Vaterland ruiniert hat, da es – in einer wahrhaft Wagnerschen Szenerie – in Schutt und Flammen liegt. […] Ach, Sie kennen nicht die selbstzerstörerische Lust, die in der deutschen Seele wohnt«.17 Die deutsche Geschichte des Suizids im 20. Jahrhundert – von der Kriegsbegeisterung im August 1914 bis zu den RAF-Selbstmorden in Stammheim – wurde noch nicht geschrieben. Kürzlich erst ist eine Studie Florian Hubers zu den Suizidwellen im Jahr 1945 erschienen, basierend auf der Auswertung von Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen und Erzählungen, wie sie etwa im Deutschen Tagebucharchiv von Emmendingen aufbewahrt werden.18 Die Effektivität der Propaganda eines Selbstmordregimes bezeugte sich nicht nur in Hitlers »Nero-Befehlen«, sondern auch in der massenhaften Verteilung von ZyankaliKapseln, besonders in Berlin. Was der Arzt Hans von Lehnsdorff in seinem Königsberger Tagebuch am 23. Januar 1945 mit Entsetzen protokollierte – nämlich den Ausspruch einer älteren Dame, »die ihn um eine lang aufgeschobene Krampfader-Operation ersuchte, während draußen die Kanonen wummerten […]: ›Unterm Russ’ lässt uns der Führer nicht fallen, da vergast er uns lieber‹«19 – wurde in der Hauptstadt zu alltäglicher Realität: An keinem Ort war die Nachfrage nach Zyankali »so stark wie in Berlin. Nirgendwo war es so einfach, an die tödlichen Ampullen zu gelangen. Verschiedene Berichte lassen vermuten, dass dies nicht nur im Wissen, sondern mit aktiver Unterstützung der Partei geschah. So soll die städtische Gesundheitsbehörde selbst Zyankali an die Bürger verteilt haben. Bei der letzten Aufführung der Berliner Philharmoniker am 12. April, als Beethovens Violinkonzert, Bruckners ›Romantische Sinfonie‹ 14 15 16 17 18 19

Vgl. Goeschel 2011, S. 90–148. Vgl. Penrose 2005, S. 160–189. Vgl. Goeschel 2011, S. 230–241. Shirer 1994, S. 68. Vgl. Huber 2015. Ebd., S. 88.

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und das Finale von Wagners Götterdämmerung verklungen waren, sollen am Ausgang uniformierte Hitlerjungen mit Körben voller Zyankali-Kapseln gestanden haben. Es lag in der Logik des Regimes, dass es bei seiner Selbstvernichtung das Volk mit in den Untergang reißen wollte.«20 – Zurück zu Godards Film Socialisme. Da hören wir auf dem Kreuzfahrtschiff eine Nachrichtenmeldung: »Wellen alliierter Bomber zermalmen das Dritte Reich unter den Bomben. Die Luftwaffe versucht mit einer grauenvollen Taktik die Oberhand zu gewinnen. Die deutschen Piloten schleudern ihre eigene Maschine gegen die feindlichen Bomber. Ach Deutschland. Wusstest du, dass Kamikaze auf japanisch Göttlicher Wind bedeutet?«21

3. Die Stadt Wien wird in Hans Magnus Enzensbergers Sammlung von Europa in Trümmern nur an einer einzigen Stelle repräsentiert, und zwar durch einen Auszug aus dem Tagebuch Max Frischs. Die Szene im Kaffeehaus, in der junge Mädchen um die Gunst amerikanischer Besatzungsoffiziere buhlen, erinnert ein wenig an Robert Neumanns Roman Die Kinder von Wien. Dessen Inhalt ist rasch zusammengefasst: Erzählt wird vom Leben einiger Kinder in einer Kellerruine. Zu ihnen gehören Jid, der raffinierte Schwarzmarkthändler aus dem KZ, der blonde Goy aus einem Kinderverschickungslager und der siebenjährige Curls, der die Ruine entdeckt und in Besitz genommen hat. Ewa ist etwa 15 Jahre alt; sie betreibt Gelegenheitsprostitution. Ihre Freundin Ate war ehemals BDM-Führerin, was man ihren Sprüchen auch sofort anmerken kann: »Ich weiß ein Gedicht. Über allen Wipfeln ist Ruh, in allen Gipfeln spürest du die Reihen fest geschlossen. SA marschiert die toten Brüder die Rotfront und Reaktion in unsern Reihen mit. Das ist das Horstwesselgedicht.« Darauf erwidert Ewa: »›Ich weiß auch ein Gedicht.‹ Sie sagt es auf, vier Zeilen, reimt sich Schurz mit Furz und ticken mit ficken, sie sagt es auf wie gesungen, mit einer eifrigen Schulmädelstimme, die ist viel jünger wie Ewa selbst. Man muß sich wundern, wo sie die Stimme herhat.«22 Wie in einem Film hat Robert Neumann virtuos das Chaos der Slangs, der Anspielungen und Sprachmischungen in Szene gesetzt; die Ruinen der Stadt spiegeln sich in den Ruinen der Sätze, die im Keller gesprochen werden. Ja, man muss sich wundern, dass die Kinder überhaupt noch sprechen. »Eine Drehorgel draußen, irgendwo. ›Hören Sie?‹ sagt Jid. ›Schöneblauedonau. Das hat man im 20 Ebd., S. 126f. 21 Godard 2011, S. 14. 22 Neumann 2016, S. 70.

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Lager gespielt, auf dem Lautsprecher, damit man den Krach nicht hört.‹ […] Jid sagt: ›Sie haben geschrien und geschrien und man hat nichts gehört. Nur gesehen hat man: sie schrein.‹«23 Kulturelle Versatzstücke wie Goethes Gedicht oder der bekannte Strauß-Walzer wirken wie Schutt; daneben tummelt sich ein Hund, der ›Herr Müller‹ genannt wird, und alle kümmern sich um das ›Kindl‹ im Babywagen, ein verschwindend kleines Mädchen mit einem Ballonbauch. Der schwarze Reverend Hosea Washington Smith aus Louisiana, der mit seinen Traktaten mehr oder weniger zufällig in das Keller- und Ruinen-Inferno geraten ist, unternimmt nicht nur den hilflosen Versuch, die Kinder für Bücher und Gedichte zu interessieren; er will sie auch aus ihrem Elend retten, durch eine Übersiedlung in die Schweiz. Aber sein Versuch scheitert. Und am Ende bleibt ein totes, namenloses ›Kindl‹ im Kellerschutt zurück – ebenso wie der tote Junge Edmund, dessen Darsteller nach Ende der Dreharbeiten zu Germania, anno zero auch aus der Filmgeschichte verschwunden ist. Einer vorsichtig ambivalenten Rezension der Aufführung (und Auszeichnung) des Films bei den Filmfestspielen von Locarno gab das Nachrichtenmagazin Der Spiegel – damals in seinem zweiten Jahrgang – den Titel »Das Leben steht auf Null«.24 Nur allmählich erschließen sich die Geschichten der Wiener Kinder in Neumanns Roman: Jids Erzählungen aus den Konzentrationslagern, vom Tod seiner Eltern; Goys Bericht vom vergeblichen Versuch, im HJ-Lager ein »Werwolf« zu werden: »Eigentlich hab ich in eine Burg gesollt weil der Doktor gesagt hat, so eine prima Rasse wie ich, das gibts sonst gar nicht, daß einer so eine prima Rasse ist. Aber wie dann die Roten gekommen sind, haben sie gesagt, jetzt müssen wir zuerst die Roten schlagen. Also war ich ein Werwolf, zwei Tage lang. Alle sind weggerannt. Da haben wir einen LKWorganisiert, und davon. Das is, wie ich ein Werwolf gewesen bin.«25 Ate erzählt dagegen Geschichten aus einem Bordell: »Warst du schon in einem Puff ? Mich haben sie einmal eingefangen und ins Puff. Die Russen. Wegen – wie haben sie gesagt? Vagabundasch.«26 Im präzisen Blick auf die Erfahrungen und Geschichten der Kinder verwischen sich – fast unmerklich – die Grenzen zwischen Tätern und Opfern; diese Perspektive eskaliert in einer wütenden, geradezu apokalyptischen Vision des Reverend Smith, kurz bevor er – fast schon zum Ende des Romans – verhaftet wird: »Ich seh sie auferstehn – […] eine Armee. Hundertmal schrecklicher wie was auf dem Schlachtfeld gefallen ist. Kinder mit geblähten Bäuchen. Kinder mit eingeschlagenen Schädeln mit Gliedern abgerissen mit blauen Zungen, die heraushängen aus ihrem Mund, so wie man sie aus der Gaskammer gezerrt hat zum 23 24 25 26

Ebd., S. 69f. Das Leben steht auf Null 1948, S. 24. Neumann 2016, S. 44. Ebd., S. 33.

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Massengrab. […] Kinder vermodert ohne Augen und Würmer tropfen aus den leeren Höhlen. Aber sie werden auferstehn. Das wird der Tag sein für die große Rechnung. […] Das wird die große Armee der Gespenster sein am großen Tag der großen Rechnung. Und da wird kein Unterschied sein zwischen denen was der Nazi massakriert und denen was der Sieger-Befreier mit seinen Bomben zerfetzt hat. Kein Unterschied zwischen deutscher Pest und russischer Pest und westalliierter Pest. […] Dies irae dies illa solvet saeculum in favilla!«27 Er reißt sich seine Abzeichen, ja sogar das Kreuz, das ihn als Militärpfarrer ausweist, von der Uniform. Und die Stunde Null verschmilzt insgeheim mit dem Jüngsten Tag. Zwei Jahre nach Neumanns Children of Vienna erschien Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung im Bermann Fischer Verlag, damals noch in Amsterdam. Auch Aichinger erzählte eine Geschichte von Kindern in Wien, freilich noch vor Kriegsende. Im Mittelpunkt steht die fünfzehnjährige Ellen, die zwei »falsche« Großeltern hat. Ihre Mutter ist emigriert; der Vater hat die Familie verlassen, um seine Offizierslaufbahn nicht zu gefährden. Sie wohnt bei der »falschen« Großmutter und ihrer Tante Sonja; und sie träumt davon, der Mutter nach Amerika zu folgen. Also schleicht sie sich ins amerikanische Konsulat ein, wo ihr der machtlose Konsul rät, sich selbst ein Visum auszustellen: »Wer sich nicht selbst das Visum gibt, bleibt immer gefangen. Nur wer sich selbst das Visum gibt, wird frei.«28 Ellen sucht den Kontakt zu anderen Kindern – wie Bibi, Georg, Kurt, Leon, Hanna, Ruth oder Herbert – die noch mehr »falsche« Großeltern haben als sie selbst und einen gelben Stern auf dem Rock tragen müssen; sie bastelt sich selbst auch einen solchen Stern – wie zuvor das Visum –, wird aber prompt aus der Konditorei, in der sie eine Torte kaufen will, hinausgeworfen. Tante Sonja ist wenig später plötzlich verschwunden; und die Großmutter hat ihren Pelz versetzt, um sich die weißen Giftpillen kaufen zu können, mit denen sie der Deportation zuvorkommen will. Ellen wehrt sich zwar zunächst dagegen, ihr zu helfen; schließlich resigniert sie, und mit dem letzten Rest des Wassers, das sie der Großmutter gereicht hatte, damit sie die Pillen schlucken konnte, tauft sie – in einer für heutige Wahrnehmung schwer erträglichen Szene – die Sterbende. Die Parallele zu Edmunds Vatermord in Rossellinis Film drängt sich zwar auf; doch wird Ellen keinen Suizid begehen, sondern im vorletzten Satz des Romans »von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen«.29 Ein dritter Roman über Kinder in Wien während der Zeit der NS-Diktatur ist bereits 1940 erschienen, und zwar auf Jiddisch im New Yorker Verlag von Moyshe Shmuel Shklarski; auch die Wiederentdeckung und Erstübersetzung dieses Romans verdanken wir übrigens der Reihe Die andere Bibliothek. Sein Autor 27 Ebd., S. 157f. 28 Aichinger 2016, S. 20. 29 Ebd., S. 269.

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hieß Yankev Glatshteyn; mit achtzehn Jahren war er 1914 nach New York emigriert. Sein Roman, konzipiert als Kinder- und Jugendbuch, trug – vielleicht in Anspielung auf Erich Kästners Emil und die Detektive – den Titel Emil und Karl. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 und dem ersten Kindertransport im Dezember desselben Jahres. »Der aus Polen stammende Autor schrieb den Roman und gab ihn vermutlich noch in den Druck, bevor der Krieg ausbrach. Seit seiner Reise in das heimatliche Lublin im Jahre 1934 hatte er die Geschehnisse in Europa genauestens verfolgt und verfügte über eine, wie sich in den folgenden Jahren herausstellen sollte, untrügliche Intuition bezüglich der politischen Entwicklungen auf dem alten Kontinent.«30 Der Roman handelt von der engen Freundschaft zwischen zwei Jungen: Emil ist jüdisch, Karl der Sohn eines Sozialisten. Erzählt wird vom Mobbing in der Schule, von den Szenen der Demütigung, in denen Juden nach dem »Anschluss« zur Straßenreinigung mit bloßen Händen und Zahnbürsten gezwungen wurden, vom Kontakt zu einer kleinen Widerstandsgruppe, deren Anführer sich in der Öffentlichkeit als harmloser Verrückter gebärdet. Zum Ende werden die beiden Jungen gerettet, jedoch getrennt. Karl muss auf einen zweiten Zug warten; und in diesen Momenten bewegt ihn eine Vision des Untergangs, die zwar nur entfernt an den apokalyptischen Wutausbruch des Reverends in Neumanns Roman erinnert, doch umso bemerkenswerter ist als sie bereits vor Kriegsausbruch verfasst wurde. »›Noch zwei Stunden in Wien‹, dachte Karl. Vor seinen Augen brach seine ganze bisherige Welt zusammen. Das Bild des Vaters fiel von der Wand, die Wände stürzten ein, das ganze Haus, Emils Haus, alle Häuser Wiens stürzten ein. Die Menschen wurden von den Trümmern begraben, die überall herabfielen, sogar von den Dächern.« Doch Karls Stunde Null ist auch die Stunde eines Neuanfangs, anders als für Edmund, Ellen oder Neumanns ›Kindl‹. Denn Karl weiß: »Nur die wenigen Kinder und Erwachsenen, die auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug warteten, wurden gerettet.«31 Die Stunde Null ist die Stunde des Untergangs und des möglichen Neuanfangs, vor allem aber : die Stunde der Kinder, die in ein Zeitalter des Nihilismus, Age of Nothing – nach dem Tode Gottes – hineinwachsen müssen. Dem dritten Teil seiner umfangreichen Kultur- und Ideengeschichte zur Frage How We Have Sought to Live Since the Death of God (von 2014) hat Peter Watson den Titel gegeben: Humanity at and after Zero Hour.32 Und er beschließt seine mehr als 700 Seiten lange, mit ungezählten Zitaten und Mottos überreich gepflasterte Reise in 30 Wiecki 2014, S. 138. 31 Glatshteyn 2014, S. 135. 32 Vgl. Watson 2014. Vgl. auch die deutsche Ausgabe, die 2016 unter dem Titel Das Zeitalter des Nichts. Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkins, übersetzt von Am8lie Brandeis, im Bertelsmann Verlag München erschienen ist. In dieser Übersetzung trägt der dritte Teil den schlichten Titel: Die Stunde null der Menschheit.

Die Stunde Null

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eine Epoche jenseits von Religionen und Göttern mit einem Satz Nicolas Malebranches: »Die Welt ist unvollendet.«33 Die Null ist auch tröstlich.

Literatur Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/Main 132016. ›Das Leben steht auf Null. Enttäuschung und Pokal‹, in: Der Spiegel 1948/30, S. 24. Brecht, Bertolt: ›O Falladah, die du hangest!‹, in: Brecht, Bertolt: Die Gedichte. Hg. von Jan Knopf. Frankfurt/Main 2007, S. 927–929. Brunette, Peter : Roberto Rossellini. Berkeley, Los Angeles, London 1996. Enzensberger, Hans Magnus: ›Europa in Trümmern. Ein Prospekt‹, Einleitung zu: Ders. (Hg.): Europa in Trümmern. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944–1948. Frankfurt/Main 1990 (= Die andere Bibliothek 65), S. 5–23. Glatshteyn, Yankev : Emil und Karl. Übersetzt von Niki GraÅa und Esther Alexander-Ihme. Berlin 2014 (= Kometen der Anderen Bibliothek 7). Godard, Jean-Luc: Film Socialisme. Dialoge mit Autorengesichtern. Aus dem Französischen übersetzt von Ellen Antheil und Samuel Widerspahn. Zürich 2011. Goeschel, Christian: Selbstmord im Dritten Reich. Übersetzt von Klaus Binder. Berlin 2011. Huber, Florian: Kind, versprich’ mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin 2015. Menninger-Lerchenthal, Erich: Das europäische Selbstmordproblem: Eine zeitgemäße Betrachtung. Wien 1947. Neumann, Robert: Die Kinder von Wien. Roman. Frankfurt/Main 22016. Ortega y Gasset, Jos8: Die Schrecken des Jahres Eintausend. Kritik an einer Legende. Übersetzt von Ulrich Kunzmann. Leipzig 1992. Penrose, Antony (Hg.): Lee Miller’s War. Photographer and Correspondent with the Allies in Europe 1944–45. London 2005. Rolland, Romain: Über den Gräben. Aus den Tagebüchern 1914–1919. Hg. von Hans Peter Buohler. München 2015. Rotman, Brian: Signifying Nothing. The Semiotics of Zero. Stanford 1987. Shirer, William L.: Berliner Tagebuch. Das Ende. 1944–45. Übersetzt und hg. von Jürgen Schebera. Leipzig 1994. Watson, Peter : The Age of Nothing. How We Have Sought to Live Since the Death of God. London 2014. Watson, Peter : Das Zeitalter des Nichts. Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkins. Übersetzt von Am8lie Brandeis. München 2016. Weinzierl, Ulrich: ›Lust und Laster der Pointe‹, Nachwort zu: Neumann, Robert: Die Kinder von Wien. Roman. Frankfurt/Main 22016 (= Die andere Bibliothek 279), S. 169–201.

33 Vgl. Watson 2016, S. 705.

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Wiecki, Evita: ›Nachwort‹ zu: Glatshteyn, Yankev : Emil und Karl. Übersetzt von Niki GraÅa und Esther Alexander-Ihme. Berlin 2014 (= Kometen der Anderen Bibliothek 7), S. 137–152.

Filme Godard, Jean-Luc: Film Socialisme, DVD, 97 Min., Berlin: filmedition suhrkamp 2012 [Schweiz, Frankreich 2010]. Rossellini, Roberto: Deutschland im Jahre Null, DVD, 70 Min., Leipzig: Zweitausendeins Edition o. J. [Italien, BRD 1948].

Birgit R. Erdle

Die Jahre der Universität sind gezählt. Zur Zeitlichkeitsfigur des Jubiläums

Die Jahre eines Lebens öffentlich zu zählen, ist eine nicht unheikle Angelegenheit. Es sei nur an die Inständigkeit erinnert, mit der Siegfried Kracauer seinen Freund Theodor W. Adorno darum bat, bei der von diesem geplanten Radiosendung zu seinem 75. Geburtstag seines »chronologischen Alters«1, wie er formuliert, nicht zu gedenken. Schrecken breitet sich aus angesichts des drohenden Überfalls der Daten von außen her. Als öffentlich Ausgestellte nehmen die Daten den Charakter einer unauslöschlichen Inschrift an – einer Inschrift, so bemerkt Kracauer, welche jeder, »mich eingeschlossen, immerfort sehen muß.«2 Dagegen reklamiert Kracauer für sich vehement das Recht auf chronologische Anonymität. Es liege ihm dabei, so unterstreicht er, nichts daran, jung oder jünger zu erscheinen. Das würde ja den chronologischen Maßstab nur bestätigen. Im Gegenteil: worum es ihm geht, ist, der Fixierung des Datums zu entkommen, um so der chronologischen Etikettierung überhaupt zu entgehen. Was für das Leben des Subjekts zutreffen mag: die Scheu davor, im öffentlichen Raum der chronologischen Anonymität entrissen zu werden, trifft nicht zu für das Leben der Universität (oder allgemeiner, für das Leben der Institution). Die Institution, so lässt sich häufig beobachten, sammelt ihr chronologisches Alter unter sich und stellt es aus wie ein Vermögen – wie einen Schatz, der den Anspruch der Institution darauf, auf Dauer gestellt zu sein, untermauert, und der auf eine Autorität spekuliert, die ihr mit den Jahren, quasi natürlich und an der Zahl ablesbar, zugewachsen ist. Wie Autorität in der Vergangenheit verankert ist, hat Hannah Arendt anhand des Gründungsmythos des römischen Staats zu zeigen versucht. Die Gründung der Stadt Rom stiftet eine Autorität, deren Funktion es nach Arendt ist, jedem einzelnen Augenblick gleichsam das ganze

1 Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno, Brief vom 25. 10. 1963, in: Adorno / Kracauer 2008, S. 611. 2 Ebd., S. 612. Und insistierend: »Also, lieber Teddie, nenne die Ziffer nicht, mache sie nicht zum Anlaß.« (Ebd., S. 612).

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Gewicht der Vergangenheit hinzuzufügen.3 Wenn man der Lesart von Hannah Arendt folgt, so zeichnet sich hier die Figur einer Rückbindung an den Anfang ab, die potentiell jeden einzelnen Augenblick – des Handelns oder des Entscheidens – mit dem Gewicht der Vergangenheit ausstattet und ihm gerade dadurch Autorität verleiht. Der einzelne Augenblick hebt sich aus einer gedachten, unendlichen Anzahl möglicher Augenblicke hervor. In diesem Sinne wären alle Augenblicke gleichberechtigt – punkthafte Gegenwarten, die die Autorität des Vergangenen vor sich her tragen. Die Figur einer Rückbindung an den Anfang, die das Jubiläum in Szene setzt, operiert dagegen mit einem davon sehr verschiedenen Zeitkonzept, wie wir noch sehen werden. Wenn man Hannah Arendt darin zustimmen will, dass das Vergangene im 20. Jahrhundert nicht mehr Autorität stiftet, sondern etwas an deren Stelle, das sie die Dimension der Grösse4 nennt, hätte das Konsequenzen für die Jubiläumsfeier. Nicht Traditionsbezug wäre dann, was sie in ihrer Rückbindung an die Vergangenheit betreibt, sondern es ginge ihr um das Hineinragen der Gegenwart in die Dimension der Größe: ein Eintauchen der Institution in die Dimension der Größe. Größe ist, so bemerkt Arendt, monumental, unbewegt, und die Theatralität der Universitätsjubiläumsfeier muss mit einer solchen Anforderung des Monumentalen umgehen. Könnte man Jubiläumsfeiern in Gesten auflösen, in Ausdrucksformen und Körperformationen wie im ›epischen Theater‹, ließe sich beobachten, wie sich dies konkret im Raum gestaltet. Beim Studium der Gesten käme man aber auch einer anderen Zeitlichkeit auf die Spur – anders im Verhältnis zu jener Zeitlichkeitsstruktur, die sich aus dem für das Jubiläum charakteristischen Paradigma von Chronologie, Wiederholung und Intervall ergibt. Wenn wir die Frage nach der Ordnung der Zeit, die das Jubiläum instituiert, stellen, so müssen wir zunächst darauf zurückkommen, dass das chronologische Alter der Universität sich einer Zeitrechnung verdankt – und sich nach ihr bemisst –, die ihre Dauer nach Jahren zählt. Insofern ist der Anfang der Universität im Arbiträren fundiert – im Arbiträren der Zahl nämlich. 1365 ist eine Zahl auf einer Zeitlinie, die – entsprechend der Zählung der Jahre im christlichen Kalender – mit der Zahl 1 beginnt: das Jahr 1 ist willkürlich auf der Zeitlinie festgelegt. Zugleich kommt im Jubiläum aber Zeit wie etwas Objektives entgegen, wie ein natürlich-zyklischer Geschehensablauf. Die Ordnung der Zeit, die hier zum Tragen kommt, hat ihre Ursprünge, wie die Begriffsgeschichte des Jubilä3 »[…] adding, as it were, to every single moment the whole weight of the past.« (Arendt 1961, S. 123). 4 In einer Aufzeichnung vom Dezember 1952 in ihrem Denktagebuch notiert Hannah Arendt: »Die Vergangenheit als Dimension der Grösse ist alles, was uns von Geschichte im Sinne der Tradition verbleibt. […] Wer ohne Vergangenheit lebt, dem fehlt die Dimension der Grösse.« (Arendt 2002, S. 290).

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ums bezeugt, in der jüdischen Tradition der Jubeljahre: sie basiert also auf einer Zählweise, die in biblische Zeiten zurückreicht.5 Diese Zählweise wird überlagert durch die Zeitrechnung des christlichen Kalenders. Nicht nur in der Abkunft aus der religiösen Rede, die das Wort ›jubilieren‹ bezeugt, und nicht nur in der Adaption der Praxis des Jubiläumfeierns in der Institution des ›Heiligen Jahres‹ zeigen sich demnach Momente eines Nachlebens christlich-religiöser Bedeutung im Jubiläum der Universität, sondern auch im Modus des Zählens, in dem dabei zugrunde gelegten religiösen Zeitrechnungssystem. Angemerkt sei, wie Ernst H. Gombrich betont hat, dass die Bezeichnung ›Jubeljahr‹ auf einem Übersetzungsfehler beruht. Wie erinnerlich, so notiert Gombrich, »ist im Alten Testament von einem Hornsignal zu lesen, das den Beginn der Feier proklamieren soll. Das hebräische Wort für das Widderhorn, um das es sich handelt, ist Jobel, was als Jubel, oder lateinisch iubilatio gedeutet wurde.«6 Wie wird die Zeitlinie als Figur überhaupt gebildet? Die kontinuierliche Folge von Jahren, Jahrhunderten und Jahrtausenden muss ja zuerst einmal hergestellt werden. Norbert Elias hat in seiner Studie Über die Zeit dargestellt, dass ohne die Herausbildung sozialer Zeitskalen, das heißt ohne die »allmähliche Schaffung eines relativ gut integrierten Rasters von Zeitregulatoren wie kontinuierlichen Uhren, kontinuierlichen Jahreskalendern oder die Jahrhunderte umspannenden Ära-Zeitskalen«7, der Begriff eines fortlaufenden, irreversiblen Zeitflusses sich nicht hätte entwickeln können.8 Erst Albert Einstein, so erklärt Elias, besiegelte die Entdeckung, dass die Zeit »eine Beziehungsform ist und nicht, wie Newton glaubte, ein objektiver Fluss, Teil der Schöpfung wie sichtbare Flüsse und Berge, nur eben unsichtbar, aber jedenfalls wie diese unabhängig von zeitbestimmenden Menschen.«9 Aber auch Einstein sei, so Elias, dem Zwang der figurativen Rede nicht ganz entgangen und habe dem Mythos von der dinghaften Zeit in seiner spezifischen Weise von neuem Nahrung gegeben, »zum Beispiel wenn er

5 Zur Textgeschichte, Funktion und Observanz des Jobeljahres genauer Berner 2006, S. 12–14, und Berner 2009, S. 17–23 und den Beitrag von Berner in diesem Band. 6 Gombrich 1999, S. 592. 7 Elias 1988, S. 6. 8 Siehe dazu Macho 2008. Eine Verschränkung der Sozialgeschichte des Jubiläums mit den Zeitregimes der Moderne, vor allem mit Standardisierungs- und Synchronisierungszwängen, vermutet Winfried Müller : »Beschleunigung auf der einen, Regelmäßigkeit der Zeitstrukturen auf der anderen Seite – auch das dürfte zur Popularisierung von Zeitkonstruktionen wie Anniversarium und Jubiläum beigetragen haben, die nicht nur der Schnelllebigkeit des Zeitalters etwas Stabiles, sondern gleichzeitig der standardisierten und homogenisierten Zeit des öffentlichen und des Berufslebens etwas Individuelles, die festlich überhöhte Eigengeschichte entgegensetzte.« (Müller 2007, S. 22). 9 Elias 1988, S. 9.

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sich so ausdrückte, als könne die Zeit unter bestimmten Umständen schrumpfen oder sich ausdehnen.«10 Lineare Zeit ist im Jubiläum der Universität überall am Werke – so z. B. in der Konstruktion des Anfangs, der Gründung aus dem Dokument, der Ur-Kunde von der Stiftung, die das Datum des 12. März 1365 trägt. Die Zahl, das Zählen der Jahre, ist der Vorstellung eines chronischen Zeitflusses verhaftet (wobei Chronologie und Chronik in einem eigentümlichen Konfliktverhältnis zu stehen scheinen, da ja die ideale Chronik die Totalität alles Geschehenen aufzählen müsste. Was sie aber nicht tun kann, ohne als Form zu implodieren). Der Modus der Sukzession, des Nacheinanders, der mit der Zählung ins Spiel kommt, stellt auf das Unwiederbringliche der verflossenen Zeit, auf Irreversibilität ein. Das Jubiläum setzt aber paradoxerweise auf beides zugleich: auf das Unumkehrbare, und auf die Wiederkehr. Die Zählung 650 Jahre, die für die Dauer dieses Jahres 2015 überall als Erkennungszeichen des Jubiläums der Universität Wien erscheint, erscheint dann als ein Format, das es schafft, das Unwiederbringliche umzumünzen in Verfügungsmasse – im Akt einer Inszenierung, die Einmaligkeit inauguriert, und deren Zweck die Aktualisierung einer Vergangenheit ist, die auch in Zukunft Bestand haben soll.11 Betrachten wir demnach das Jubiläum als eine Zeitgestalt, die in einem bestimmten Verhältnis zum sukzessiven oder kontinuierlichen Verlauf steht, so ist das Interessante daran, dass sie teils mit Fluss und Linearität kongruiert (der Linearität der Zahlenreihe, in der die Ziffer 1365 eine ausgezeichnete Stelle markiert), teils aber auch, genau gegenläufig dazu, mit Zäsur oder einer Sistierung der Herrschaft endloser Sukzession. Die Jahre der Universität sind gezählt: das deutet auf das Nacheinander der nicht wiederkehrenden Jahre, auf deren Irreversibles und auf Irreversibilität als ›Vergängnis‹ – insofern auch auf die Vergänglichkeit der Universität. Doch die Angst vor der linearen Zeit, die Theodor W. Adorno in seinen musiktheoretischen Schriften hervorhebt, ist im Jubiläum suspendiert. Wie weggezaubert. Beobachtet man, wie die Institution der Universität in diesem Jubiläumsjahr 2015 ihre eigene Zeitlichkeit in Augenschein nimmt, wie sie sie konstruiert und inszeniert, so bemerkt man, dass sie sich nicht ihrer Vergänglichkeit aussetzt; vielmehr geschieht auf merkwürdige Weise gerade das Gegenteil, es findet eine Inversion statt, eine Verwandlung der linearen Zeit zu einem Vermögen, einem Bestand. Die Spannung zwischen der Zahl (als etwas Arbiträrem, bzw. aus Codierung Hervorgegangenem) und dem riesigen Volumen an Bedeutung, das aus der Zahl hervorquillt, hat solche Verwandlung zur Voraussetzung. Das Jubiläum bildet also eine eigentümliche Form der Historizität aus, und 10 Ebd., S. 9. 11 Siehe den Beitrag von Winfried Müller in diesem Band.

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diese Historizität lässt erkennen, wie die Universität ihre eigene Zeitlichkeit konstruiert. Das hat wesentlich damit zu tun, wie das Jubiläum die Eigenzeit der Institution aus dem allgemeinen Geschichtsverlauf heraushebt. Unterstellt man, einem Gedanken von Hannah Arendt folgend, den sie in den fünfziger Jahren in ihr Denktagebuch notiert hat, dass erst nach dem Tod sich erkennen lässt, wie alles angefangen hat, und erst damit Historisierung einsetzt – »nur was zu Ende ist, ist geschichtswürdig«12, notiert sie –, so könnte man behaupten, dass im Jubiläum die Wiederholung des Geschichtewerdens stattfindet, ohne dass das Ende wirklich ein Ende markiert. Hier rückt das Jubiläum unbehaglich nahe an das Begräbnis. Für einen Augenblick werden damit die abgründigen Zeitlogiken des Jubiläums erkennbar, die sich jenseits des Dualismus von Erfahrung des Vergehens der Zeit und Versuch des Festhaltens der Zeit öffnen. Hatten wir zuvor im Kontext von Hannah Arendts Überlegungen zur Autorität die Vergangenheit als Dimension der Größe und das Eintauchen der Institution in sie beschrieben, welches die Jubiläumsfeier inauguriert und zelebriert, so liegt hier nun die Aufmerksamkeit auf dem Aspekt des ›Innehaltens‹, auf der Zäsur in der Kontinuität des Zeitverlaufs. Das Jubiläum schafft einen Zeitraum, der sich als Artefakt, in zyklischer Taktung, zwischen Vergangenheit und Zukunft einschiebt. Bei diesem ›zwischen‹ geht es aber um eine Figur, die nicht vermittelt, sondern einen ›Zeitraum‹ zur Verfügung stellt. Anders gesagt, das Jubiläum konstituiert ein dramaturgisch geblähtes Jetzt, das nicht mehr der brüchigen Duplizität von »nicht mehr« und »noch nicht« verhaftet ist. Für Siegfried Kracauer ist chronologische Zeit nicht erfahrbar, so wie umgekehrt in seinen Augen Erfahrung in einer Ordnung chronologischer Zeit nicht darstellbar ist. Aus der Problematik des Verhältnisses von Erfahrung und chronologischer Zeit, die Kracauer so auf den Begriff bringt, springt das Jubiläum regelrecht heraus – es hat sogar den Anschein, als sei das Jubiläum eine Form, die die Erfahrung chronologischer Zeit in einem Artefakt ermöglichen will. Denn geht es in der Jubiläumsfeier nicht auch darum, das Gefühl der – durch die kalendarische Zeitzählung erlebbar gemachten – Distanz zur Vergangenheit zu befestigen, zugleich aber – performativ, theatral, imaginär – einen unmittelbaren Bezug zum Zeitpunkt der Gründung herzustellen? Die Dimension der Größe umfasst ja auch das eindrucksvolle Alter der Institution – 650 Jahre –, dessen Spannweite die Lebenszeit des einzelnen Universitätsangehörigen weit übersteigt und sich der Naturgeschichte annähert. Das Jubiläum bringt uns mit dieser Zeitdimension in Kontakt. Was Ernst Gombrich für das 19. Jahrhundert feststellt, nämlich dass »auch die regierenden Herrscherhäuser ihr angestammtes Recht auszunützen wußten, ihre

12 Arendt 2002, S. 601.

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Untertanen durch Familienfeste und Jubiläen fester an sich zu binden«13, mag seine Wirkung auch noch für die Jahresfeier dieser Universität entfalten. Als Vergemeinschaftungsform ist das Jubiläum in der jüngsten historiographischen Forschung interpretiert worden.14 Das Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum historischen Moment der Gründung der universitären Gemeinschaft, die auch eine Rechtsgemeinschaft darstellte, wäre dann lesbar als der Versuch, die Beteiligten für die Normen der inszenierenden Institution zu gewinnen. Ob dies in unserem Fall in der Windströmung der Ambition des Stifters geschieht, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese Ambition hat ja auch mit der Verortung Wiens in der dem Translatio-Konzept verpflichteten Topographie – Athen – Rom – Paris – zu tun. Dem Stiftbrief der Universität Wien lässt sich entnehmen, dass dem Gründer vor allem an der Ausbildung klerikaler und säkularer Beamter gelegen war und er sich die Verbreitung des christlichen Glaubens als globales Projekt vornahm. Das Promotionsrecht »in allen erlaubten Wissenschaften« ist in der Urkunde festgeschrieben.15 Über Unerlaubtes gibt das heutige Jubiläumsmotto: »Wir stellen die Fragen. Seit 1365« wenig kund; aber es ist unübersehbar, wie das »wir« in ihm an die gemeinschaftsformative Ausrichtung der Jahresfeier appelliert. Der Zusammenhang zwischen der Universität und der Frage, der so aufgeworfen ist, ruft eine Überlegung von Jacques Derrida in Erinnerung, die für die Universität »über die sogenannte akademische Freiheit hinaus eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung« postuliert – »mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt.«16 Stellt das Jubiläum auch eine Zäsur dar, eine Unterbrechung, die es erlaubt, über die Bedingung dieser Freiheit, über die Bedingung, die Legitimität und die Zukunft dieses Rechts nachzudenken? Signifikant ist, dass im Jubiläumsmotto, das den 650. Geburtstag der Universität Wien feiert, eine Kontinuität des Fragenstellens unterstellt oder konstruiert wird, die mit der Kontinuität des Zeitverlaufs genau korreliert. Aktualität und Anciennität werden damit kongruent. Durch die Datierung »seit 1365« entsteht ein Zeitstrahl, auf dem sich die Fragen anordnen, die – so der Anspruch – nicht irgendwelche, sondern die (entscheidenden) Fragen sind. Damit traut sich die Universität einiges zu: wie eine neue Frage entsteht – das ist ja etwas vom Schwierigsten. Besichtigt man den Auftritt dieses Anspruchs auf der website der Universität, gewinnt man den Eindruck, dass hier, verpackt im Jubiläumsmotto, so etwas wie eine Riesenintegrationsmaschine am Werk ist. Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die Figur der Zeitlinie zurück. 13 14 15 16

Gombrich 1999, S. 594. Müller / Flügel / Loosen / Rosseaux 2004. Stiftbrief der Universität Wien (deutsche Fassung), 12. März 1365. Maisel 2015. Derrida 2001, S. 10.

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Siegfried Kracauer hat in seinem Fragment gebliebenen Buch History – The Last Things before the Last die Vorstellung, dass Geschichte »in chronologisch messbarer Zeit sich entfaltet«17, als eine magische Vorstellung bezeichnet. Von der »Magie der Chronologie«18 spricht er dort, auf die man sich verlasse, wenn man der Vorstellung einer von Augenblick zu Augenblick verstreichenden Uhrzeit oder Kalenderzeit unterliegt. Für Kracauer bedeutet das, menschliche Geschichte in Form von Naturgeschichte zu denken. Eine Konzeption, die Geschichte als einen »immanenten kontinuierlichen Prozess in linearer oder chronologischer Zeit«19 begreift, so argumentiert er, verdankt dabei Entscheidendes dem Aufstieg und Übergewicht der Naturwissenschaft. Ein früher, metaphernreicher Beleg dafür, der die Chronologie als Ordnungsfigur in den Vordergrund rückt, findet sich in den Epochen der Natur von George Louis LeClerc, Comte de Buffon, aus dem Jahr 1778. In der Abhandlung »Von den Zeitpunkten der Natur« ist von der »ewigen Straße der Zeit« die Rede, an der es »eine Anzahl Meilensteine aufzustellen«20 gelte. Weiter heißt es dort: »Die Vergangenheit ist wie die Entfernung; unser Blick nimmt darin ab und würde sich ebenso darin verlieren, hätte nicht die Geschichte (und die Chronologie) Leuchttürme und Fackeln an den dunkelsten Orten aufgestellt.«21 In seinem Buch History – The Last Things before the Last sucht Kracauer dagegen nach Konzepten und Bildern, die Zeitlichkeit anders denken: nämlich so, dass sie geeignet sind, das »Vertrauen in die Kontinuität des Geschichtsprozesses und dementsprechend die Macht chronologischer Zeit«22 zu erschüttern. Er findet sie unter anderem in der Literatur von Marcel Proust. Prousts Literatur steht ihm ein für ein Denken, das versucht, sich dem Verworrenen der Zeit auszusetzen und es zu erfassen. Denn Proust, so erklärt er, »löscht radikal jeglichen Akzent von Chronologie. Ihm zufolge, scheint es, ist Geschichte überhaupt kein Prozess, sondern ein Sammelsurium kaleidoskopischer Veränderungen – etwas wie Wolken, die sich nach Belieben ballen und zerstreuen.«23 Die Zeitlichkeit des Jubiläums will dagegen Kontingenz komplett ausschalten. Chronologie, Wiederholung und Intervall sind, wie wir gesehen haben, die Momente, die in dieser Zeitkonstruktion prominent werden. Die Zeitlichkeit des Jubiläums überspannt alle jene Untiefen der Zeit in der Moderne, die die Zeitregimes seit dem 19. Jahrhundert hervorgebracht haben und die unser Zeitgefühl prägen, das Überstürzte, Verspätete, die Tümpel stillstehender Zeit, die 17 18 19 20 21 22 23

Kracauer 1971, S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 133. Zitiert nach Toulmin / Goodfield 1970, S. 169. Ebd., S. 169. Kracauer 1971, S. 136. Ebd., S. 151.

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Zeitverwechslungen und -verschränkungen, von denen uns etwa Franz Kafkas Literatur erzählt. Ist man mit dem Jubiläum nicht all diesen Tücken der Zeitrechnung der Moderne enthoben? Und genauso – das Datum des 12. März, das die auf diesen Tag datierten, in Wien stattgefundenen Ereignisse der Jahre 1365, 1421, 1938 übereinander legt, mag daran erinnern – den Geschichtsbrüchen, und den Störungen, Spuren und Überresten, in denen diese fortwirken?

Literatur Adorno, Theodor W. / Kracauer, Siegfried: »Der Riß der Welt geht auch durch mich«. Briefwechsel 1923–1966. Hg. von Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008. Arendt, Hannah: ›What is Authority?‹, in: Arendt, Hannah: Between Past and Future. Six Exercises in Political Thought. New York 1961, S. 91–141. Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950–1973. Erster Band. Hg. von Ursula Ludz / Ingeborg Nordmann. München, Zürich 2002. Berner, Christoph: Jahre, Jahrwochen und Jubiläen. Heptadische Geschichtskonzeptionen im Antiken Judentum. Berlin / New York 2006. Berner, Christoph: ›50 Jubilees and Beyond? Some Observations on the Chronological Structure of the Book of Jubilees‹, in: Henoch 2009/31, S. 17–23. Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität. Frankfurt/M. 2001. Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Hg. von Michael Schröter. Frankfurt/M. 1988. Gombrich, Ernst H.: ›Zeit, Zahl und Zeichen. Zur Geschichte des Gedenktages‹, in: Stamm, Marcelo (Hg.): Philosophie in synthetischer Absicht / Synthesis in Mind. Stuttgart 1999, S. 583–597. Kracauer, Siegfried: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Schriften 4. Frankfurt/M. 1971 [1966]. Macho, Thomas: ›Zeitrechnung und Kalenderreform. Himmlische und irdische Zeitmaschinen‹, in: Felsmann, Klaus-Dieter (Hg.): Der Rezipient im Spannungsfeld von Zeit und Medien. München 2008, S. 17–36. Maisel, Thomas: Stiftbrief der Universität Wien (deutsche Fassung), 12. März 1365. 2015, verfügbar unter : http://bibliothek.univie.ac.at/sammlungen/objekt_des_monats/0098 35.html [21. 03. 2015]. Müller, Winfried / Flügel, Wolfgang / Loosen, Iris / Rosseaux, Ulrich (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster, London, Hamburg, Berlin 2004. Müller, Winfried: ›»Nach Jahr und Tag«. Zahl und Zeit in der Geschichte‹, in: Weigand, Katharina / Schmid, Alois (Hg.): Bayern – Nach Jahr und Tag. 24 Tage aus der bayerischen Geschichte. München 2007, S. 11–26. Toulmin, Stephen / Goodfield, June: Entdeckung der Zeit. München 1970 [1964].

Winfried Müller

Die inszenierte Universität. Historische und aktuelle Perspektiven von Universitätsjubiläen

Das Universitätsjubiläum ist – und darum wird es im ersten Teil dieses Beitrags gehen – gewissermaßen das missing link zwischen alttestamentlichem Jobeljahr und spätmittelalterlichem Heiligen Jahr als frühen Praxen einer jubiläumszyklischen Strukturierung von Zeit einerseits und der frühneuzeitlichen Jubiläumskultur andererseits, die den Jubiläumszyklus mit Daten der Eigengeschichte einer Institution engführte und so die moderne Version des Jubiläums als Geschichtsfeier etablierte.1 Um diese zunächst noch etwas abstrakt klingende Differenz aufzuhellen, sei zunächst die Vorgabe des Alten Testaments in Erinnerung gerufen:2 Gemäß Leviticus 25, 8–55 folgte auf sieben Sabbatzyklen, also nach 49 Jahren, das 50. Jahr als Jobeljahr. In diesem sollte veräußerter Grundbesitz an seine alten Eigner fallen, und wer sich als Knecht verkauft hatte, durfte frei zu den Seinen zurückkehren. Das Jobeljahr – die Bezeichnung leitete sich vom Jobel ab, dem Widderhorn, dessen Schall dieses ›Erlassjahr‹ einleitete – sollte den Israeliten bewusst machen, dass sie und ihr Eigentum letztlich Jahwe selbst gehörten. Im christlichen Mittelalter wurde diese Freigabe von Sklaven und verkauftem Grundbesitz bereits relativ frühzeitig spirituell umgedeutet in die Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft der Sünde.3 Die Erlasspraxis des Alten Testaments – in der Gegenwart wirkte sie im bislang letzten regulären Heiligen Jahr, im Jubeljahr 2000, in der Forderung nach einem Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt fort – wurde umgedeutet zur Vergebung von Sünden bzw. dem Nachlass von Sündenstrafen,4 wobei die Beibehaltung des Zusammenhangs von Jubiläum und 50. Jahr zunächst eher die Ausnahme war, für die einige wenige Translationen im 50. Todesjahr von Heiligen als Beispiele ermittelt wurden. Erstmals scheint dies 1189 in Bamberg der Fall gewesen zu sein, als der 1139 1 2 3 4

Der folgende Überblick basiert auf Müller 2004, S. 1–75. Vgl. Meinhold 1988, S. 280f. Vgl. Smolinsky 1988, S. 282ff.; Fuhrmann 1988, S. 239–252. Vgl. Paulus 2000.

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verstorbene Bischof Otto I. heiliggesprochen wurde und seine Gebeine im Benediktinerkloster Michelsberg als der neuen Grabeskirche des Kanonisierten beigesetzt wurden.5 Ein weiteres Beispiel führt nach England6 zu der 1220 erfolgten Umbettung des 1170 ermordeten und bereits 1173 heiliggesprochenen Thomas Becket von seinem Grab in der Krypta der Kathedrale von Canterbury in einen Prunkschrein. Dass der 1220 amtierende Erzbischof von Canterbury, Stephen Langton, bei diesem Anlass auf den Leviticus-Text Bezug nahm und betonte, dass der Heilige durch die im 50. Jahr nach seinem Tode erfolgende translatio für die Menschen die Gnade der Vergebung erlangen werde, legt die Annahme nahe, dass bei der Festlegung des Jahres dieser kultischen Handlung kein Zufall waltete, sondern bewusst der Anschluss an die alttestamentliche Praxis gesucht wurde; aus dem Quinquagenarium sollte eine besondere Fürsprache des Heiligen für die Gläubigen abgeleitet werden. Diese für Bamberg und Canterbury festgestellte Koordination von Jubiläum und 50. Jahr ist zwar ein Beleg dafür, dass die alttestamentliche Bedeutung des 50. Jahres in der Wissenskultur des Mittelalters bewahrt und argumentativ eingesetzt wurde. In diese Richtung deuten auch neuere Forschungen, die belegen, dass eine personenbezogene Jubiläumskultur im monastischen Bereich in der Form des Professjubiläums weiter verbreitet war, als bislang angenommen.7 Allerdings war die Engführung von Jubiläum und runder Jahreszahl keineswegs die Regel. Es dominierte vielmehr eine Auffassung, die das Jubiläum aus chronologischen Zusammenhängen herauslöste: »immer dann, wenn dem Gläubigen die Vergebung seiner Sünden zuteilwerde, sei für ihn ein Jubelfest«.8 Anders ausgedrückt: nicht ein definiertes Zeitraster gab die Jubiläen vor, sondern aus aktuellen Anlässen spontan festgelegte Zeiten der Sündenvergebung bzw. des Nachlasses von Sündenstrafen. Jubiläum war vorzugsweise immer dann, wenn ein besonderer Ablass erteilt wurde. In diesem Sinne hatte bereits der heilige Bernhard Mitte des 12. Jahrhunderts die Zeit, in der ein Kreuzzugsablass, der entweder zur persönlichen Teilnahme an der Wiedereroberung des Heiligen Landes oder zur Ablösung des Kreuzzugsgelübdes gegen Geld animierte, in Anknüpfung an Lev. 25 als ein Erlassjahr bezeichnet, bei dem es sich um ein »annus vere iubilaeus« handele;9 dieses christliche Jubeljahr sei dem jüdischen 5 Vgl. Petersohn 1989, S. 44ff. 6 Vgl. Petersohn 1989/45, S. 31–53. 7 Vgl. hierzu Hinweise in der 2014 in Passau vorgelegten und noch ungedruckten Habilitationsschrift von Stefan Benz: Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur in der frühen Neuzeit. Zur Frage nach den anthropologischen Konstanten historischen Denkens, untersucht auf Grundlage der Geschichtszuwendung in Frauenklöstern. Hinweise zu zeitlich späteren Professjubiläen bei Müller 2004, S. 47. 8 Ebd., S. 34. 9 Zitiert nach Paulus 2000, S. 78.

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vorzuziehen, weil statt der irdischen Schulden nun die Schulden der Sünden erlassen und statt des zeitlichen Besitzes himmlische Güter gewonnen würden. Worauf es nun im Hinblick auf die Entstehung der modernen Jubiläumskultur zunächst ankam, war die Engführung der zeitlich frei flottierenden Ablasspraxis, dem Hauptstrom des mittelalterlichen Jubiläums, mit dem Zeitzyklus des 50. Jahres als dem Nebenstrom des mittelalterlichen Jubiläums. Diese Koordination wurde durch die im Jahr 1300 erfolgte Einführung des Heiligen Jahres als einem Sonderfall der mittelalterlichen Ablasspraxis geleistet.10 An einem besonderen Ort, in Rom, wurde in jubiläumszyklischer Form zunächst alle 100, bald alle 50 und schließlich alle 25 Jahre ein Zeitabschnitt als Gnadenzeit für die Erteilung eines vollkommenen Ablasses hervorgehoben, der allen Pilgern erteilt wurde, die in Rom die Apostelbasiliken bzw. die sieben obligatorischen Hauptkirchen besuchten. Darauf beruhte die außerordentliche, nachgerade massenmobilisierende Attraktivität des Heiligen Jahres bei den Gläubigen und die damit einhergehende, auch mit ökonomischen Vorteilen verbundene Aufwertung Roms als Pilgerzentrum. Die Kombination von mittelalterlicher Ablasspraxis und der Zeitkonstruktion des Jubiläumszyklus war also die Leistung des päpstlichen Heiligen Jahres, des bis heute im Italienischen so bezeichneten giubileo universale.11 Bei der über die Intervallinszenierung des Heiligen Jahres erfolgenden Etablierung des Jubiläumszyklus handelte es sich um ein auf Vereinbarung beruhendes bzw. vom Papst willkürlich gesetztes Datennetz. Mit ihm beanspruchte bzw. demonstrierte die Institution Kirche Verfügbarkeit über die Zeit. Allerdings handelte es sich bei diesem vom Papsttum verwalteten frommen Ereignis um kein historisches Jubiläum, vielmehr haben wir es mit einem von geschichtlichen Ereignissen völlig unabhängigen Zeitraster zu tun, das seit 1475 an die Quartale eines Jahrhunderts gebunden war : 1475, 1500, 1525 … 2000, 2025 usw.12 Worauf es im Hinblick auf die moderne Jubiläumskultur ankam, war also die Flexibilisierung des Jubiläumszyklus, seine Lösung von den Jahrhundertquartalen und seine Applikation auf individuelle historische Ereignisse. Konkret geht es bei dieser Umformung des Jubiläums zum historischen Jubiläum also darum, aus dem Gesamtkomplex der überlieferten Geschichte aus Anlass der jubiläumszyklischen Wiederkehr des durch Quellen belegbaren oder auch nur fiktiven Initiums einen individuellen Geschehensablauf als Eigengeschichte herauszupräparieren und zu inszenieren und die Berufung auf eine 50-, 100- oder gar 1000-jährige Geschichte als legitimierenden Altersnachweis einzusetzen sowie Traditionen und Grün10 Vgl. Thurston 1900; Schimmelpfennig 1999, Sp. 2024f.; Calvesi 1999. 11 Vgl. den Eintrag »Giubileo universale della Chiesa cattolica« in der italienischen Wikipedia, verfügbar unter : https://it.wikipedia.org/wiki/Giubileo_universale_della_Chiesa_cattolica [22. 1. 2016]. 12 Vgl. O’Grady 1999.

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dungsmythen zu generieren. Die 1617 von Kursachsen ausgehenden Reformationsjubiläen13 sind für die Frühe Neuzeit die markantesten Beispiele für diese historische Jubiläumskultur und die Flexibilisierung des Jubiläumszyklus: Nicht mehr 1475, 1500, 1525 etc. – sondern 1617, 1667, 1717 … 2017, die auf den sog. Thesenanschlag von 1517 und die protestantische Eigengeschichte verweisenden Jubiläumszahlen, stehen nun im Zentrum des Erinnerns. Und hier kommen nun die Universitäten als Transmitter ins Spiel, die mit deutlichem Vorsprung gegenüber dem ersten Reformationsjubiläum den Jubiläumszyklus aus seiner Bindung an das Heilige Jahr lösten und auf ihre Eigengeschichte anwandten. Hierbei sind zwei Phasen zu unterscheiden, deren erste vom Verfasser dieses Beitrags als »Inkubationsphase des historischen Jubiläums«14 bezeichnet wurde und die durch eine im Vergleich zur späteren Praxis eher subkutane, d. h. auf die Mobilisierung großer Teilnehmerkreise noch verzichtende Nutzung des Jubiläumszyklus gekennzeichnet war. Gemeint sind damit auf ein Jahrhundertbewusstsein verweisende Artefakte, die allem Anschein nach von keinen größeren Jubiläumsfeierlichkeiten flankiert wurden: ein auf den 100. Jahrestag der Universitätsgründung bzw. -eröffnung verweisendes Schmuckblatt in der Erfurter Universitätsmatrikel im Sommersemester 1492; ein vermutlich den 100. Jahrestag der Universitätseröffnung reflektierendes Glasfenster mit dem Universitätswappen und allegorischen Darstellungen der vier Fakultäten im Regenzzimmer der Universität Basel mit der Jubiläumszahl 1560;15 ein gleichfalls mit der Jubiläumszahl 1572 versehener Hochaltar in Ingolstadt, wo die Universität 1472 gegründet worden war. Stefan Benz und Wolfgang Eric Wagner haben diese kleine Beispielreihe zuletzt mit Hinweisen auf ein frühes Jubiläumsbewusstsein in Löwen, Leipzig und Krakau erweitert.16 Benz stellte dabei für Löwen 1526 bereits bescheidene Ansätze einer Festkultur fest und Wagner hatte zuvor schon für Rostock auf ein 1520 gedrucktes Vorlesungsprogramm hingewiesen, das aus Anlass des 100. Gründungsjahres 1519 herausgegeben worden ist.17 Gerade weil dieses 100. Jahr explizit als Jubiläumsjahr (»anno centesimo jubilaeo«) bezeichnet werde, könne man nicht nur von einer subkutanen Jubiläumskultur sprechen, vielmehr sei von frühen UniVgl. Schönstädt 1978; Flügel 2005. Müller 1998/21, S. 79–102; dort auch die nachfolgenden Beispiele. Vgl. Bonjour 1960, Abb. 27; Müller 2004, S. 21. Ich beziehe mich hier auf die 2014 vorgelegte und noch ungedruckte Passauer Habilitationsschrift von Benz: Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur (wie Anm. 7), ferner auf den noch ungedruckten Vortrag »Die Erfindung des Universitätsjubiläums im späten Mittelalter«, den Wolfgang Eric Wagner 2015 im Rahmen der Wiener Tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte »Zwischen Inaugurationsfeier und FachschaftsParty. Akademische Festkulturen vom Mittelalter bis zur Gegenwart« hielt; der Beitrag wird voraussichtlich 2018 im Druck erscheinen. 17 Vgl. Wagner 2011, S. 137–152. 13 14 15 16

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versitätsjubiläen auszugehen, an die freilich nicht der spätere Maßstab der frühneuzeitlichen Jubiläumskultur mit offiziellen Festakten etc. angelegt werden dürfe. Die bislang ermittelte Beispielreihe, die nachgerade zu einer systematischen und nicht nur die deutschen Universitäten einbeziehenden Spurensuche einlädt, spricht in der Tat dafür, dass im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit in einigen Universitäten ein jubiläumszyklisches Jahrhundertbewusstsein vorhanden gewesen ist und dass diese eigengeschichtliche Nutzung des Jubiläums eine genuine Leistung der Universitäten war. Wenn diese frühen Belege für ein universitäres Jubiläumsbewusstsein als Inkubationsphase des historischen Jubiläums bezeichnet werden und in dieser das missing link zwischen der jubiläumszyklischen Praxis des Heiligen Jahres und der modernen historischen Jubiläumskultur gesehen wird, so zum einen deshalb, weil erst später öffentlichkeitswirksame und bis heute gültige Jubiläumsaktivitäten wie Festakte, Festreden und Festschriften dazukamen, die auf die bereits bei der Intervallinszenierung des Heiligen Jahres üblich gewesene Mobilisierung weiter Teilnehmerkreise zurückverwiesen. Zum anderen erfolgte in der zweiten Phase der universitären Jubiläumspraxis in dezidierter Abgrenzung vom Heiligen Jahr der katholischen Kirche eine reflektierte und offensive, konfessionell konnotierte Aneignung des Jubiläumszyklus. Und hiermit sind wir bei den ersten nicht nur durch Artefakte, sondern durch Festakte, Reden etc. belegbaren Universitätsjubiläen in Tübingen, Heidelberg, Wittenberg und Leipzig, wo 1578, 1587, 1602 und 1609 der 100. bzw. der 200. Wiederkehr der Universitätseröffnung gedacht wurde. Es waren also durchwegs protestantische bzw. protestantisch gewordene Hochschulen, die in nunmehr offiziellem Rahmen auf eine Zeitrhythmisierung zurückgriffen, die – ungeachtet der Beispielreihe der Inkubationsphase – im Bewusstsein der Zeitgenossen noch primär mit dem päpstlichen Heiligen Jahr und dem Ablasswesen verbunden war. Anders sind die harschen Formulierungen der protestantischen Theologen, die eine katholische Erfindung für die Inszenierung der Eigengeschichte protestantischer Institutionen nutzbar machen wollten, nicht zu verstehen. Den Anfang machte dabei Jakob Heerbrand 1578 in Tübingen. Er grenzte das »hundertst Jar / wölches man nennet das Jubel Jar / das ist / Frewden Fest / diser Löblichen hohen Schul all hie zu Tübingen« scharf vom Heiligen Jahr der römisch-katholischen Kirche ab. Bei letzterem, dem »Bäpstischen Jubel Jar«, handele es sich lediglich um »Ablaß kram«, den »der Bapst geben und verkauffet hat / den vnnverstendigen Leuten / und dargegen das gelt und Gütter der armen Christen an sich gezogen«. In Tübingen hingegen feiere man aus Anlass des 100. Jahrestags der Universität das Jubeljahr auf »christliche weiß«.18 Exakt diese Ar-

18 Heerbrand 1578, S. 2f. Zu weiterem Tübinger Jubiläumsschrifttum des Jahres 1578 sowie

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gumentationslinie wurde wenige Jahre später in Heidelberg in der Rede des Prorektors Georg Sohn weiter ausgebaut. Zum einen wurde gegen das katholische Heilige Jahr als Entstellung der alttestamentlichen Tradition polemisiert: »Das alte Jüdische Jubeljahr hat nachmals der närrische Pfaff oder Affe zu Rom nachahmen wollen: aber ein recht närrisch vnnd äffisch / doch zugleich den armen gewissen schädlich / vnd dem das von Gott eingesetzt war / verkleinerlich: nicht aber ein Levitisch oder Christlich Jubeljahr erdichtet«.19 Dieses »Papistische Jubeljahr« sei auf das schärfste abzulehnen. Ihm wird das im Geiste christlicher Erneuerung stehende Jubeljahr an der protestantischen Universität gegenübergestellt. Folgerichtig beging man auch 1602 an der Universität Wittenberg, von der nach protestantischem Selbstverständnis »das Gnadenliecht des allein seligmachenden heiligen Evangelii aus der vorigen dicken finsternis des Bapstthums« ausstrahlte, die 100-Jahr-Feier im Bewusstsein, ein »recht Evangelisch Jubelfest«20 zu zelebrieren. Und 1609 ging der Theologe Johann Mulmann im Rahmen des Leipziger Universitätsjubiläums noch einmal richtig zur Sache, indem er klarstellte, dass es sich beim katholischen Jubeljahr um ein »gantz gottloß vnd verflucht Jubelfest«, um »eine grewliche Abgötterey / Schinderey und Verführung« handele,21 insbesondere wegen der frevelhaften Ablasserteilung. Diese an den protestantischen Universitäten entwickelte Argumentationslinie und die damit einhergehenden offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten – Sohn hielt seine Rede beispielsweise in Anwesenheit des jungen pfälzischen Kurprinzen Friedrich IV., seines Administrators Johann Casimir und zahlreicher Mitglieder des Hofes – waren die entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung der modernen Jubiläumskultur. Aufruhend auf den Vorleistungen der Inkubationsphase wurde nun der Konnex von Heiligem Jahr und Jubiläumszyklus definitiv aufgelöst und kontroverstheologisch aufgeladen. Diese antikatholische Polemik war wiederum die Voraussetzung dafür, dass die protestantischen Landeskirchen nach den Universitäten 1617 mit dem ersten Reformationsjubiläum die stabilisierende und identitätsstiftende Kraft historischer Erinnerungsfeiern für sich nutzen konnten. Dass es sich bei dieser Aneignung des Jubiläumszyklus für historische Erinnerungsfeiern um eine protestantische Erfindung handelte, blieb im Übrigen für die katholische Erinnerungskultur nicht folgenlos. Diese polemisierte nämlich zunächst gegen die evangelischen Pseudojubiläen22 und beharrte damit – sich so

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generell zu Jubiläumsschriften aus dem universitären Bereich vgl. Ermann 1965 [1904], S. 1001f. Sohn 1988 [1615], S. 9. Hunnius 1603, S. 7. Zum Wittenberger Universitätsjubiläum vgl. Loofs 1917/14, S. 1–68. Mulmann [1609], S. 9. Vgl. Müller 2004, S. 28ff.

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zugleich dessen eigengeschichtliche Nutzung versperrend – auf der Verbindung von Jubiläumszyklus und Heiligem Jahr. Diese defensive und einem protestantischen Jubiläumsvorsprung Vorschub leistende Haltung wurde allerdings bereits nach wenigen Jahrzehnten von der Doppelstrategie überwunden, einerseits am Heiligen Jahr festzuhalten, andererseits den Jubiläumszyklus auch für katholische Institutionen einzusetzen. Voran ging hier der Jesuitenorden, der 1640 den 100. Jahrestag seiner Bestätigung durch den Papst feierte. Nachdem die Speerspitze der katholischen Reform das Eis gebrochen hatte, zogen auch die Klöster, Bistümer und nicht zuletzt auch die Universitäten der Germania sacra nach. In Würzburg gedachte man erstmals 1692 offiziell der Gründung und Eröffnung der Universität im jubiläumszyklischen Sinn. 100 Jahre später, 1782, feierte man dann ausnehmend opulent. An der Universität Ingolstadt beging man 1772 zwar eine Säkularfeier, aber in sehr bescheidenem Rahmen. Im 19. Jahrhundert wurde die konfessionskulturelle Differenz zwischen protestantischen und katholischen Universitäten dann vollends eingeebnet. Und hier erreichte der allgemeine Jubiläumsboom dann auch die Universität Wien: 1847 wurde das 50-jährige Jubiläum des Aufgebots der Wiener Universität zum Kriegsdienst gegen das revolutionäre Frankreich begangen – eine Feier, die »um so rührender und erhebender werden mußte, als sich auf überraschende Weise herausstellte, wie viele Theilnehmer jenes Aufgebotes noch am Leben sind«;23 veranstaltet wurde diese Feier im Übrigen am 20. April, dem Tag also, an dem üblicherweise das Restaurationsfest zur Erinnerung an die maria-theresianischen Universitätsreformen begangen wurde. 1865 wurde dann in großem Stil ein richtiges Universitätsjubiläum begangen und ausführlich dokumentiert: die 500-Jahr-Feier.24 »Bedürfte es eines Beweises, wie sehr unsere Zeit das Alter ehrt, so ginge er daraus hervor, dass in keiner Zeit, wie in der unserigen, so viele Jubiläen gefeiert wurden«,25 bemerkte Gerson Wolf in seinen noch im Jubiläumsjahr 1865 erschienenen Studien zur Jubelfeier der Wiener Universität. Er brachte damit auf den Punkt, dass das 19. Jahrhundert, in dem einem Bonmot zufolge bekanntlich neun von zehn unserer Traditionen erfunden worden sind,26 der Zeitraum war, in dem das historische Jubiläum in alle Lebensbereiche – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Familie – diffundierte. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Erschließung der Geschichte als Erfahrungs- und Entfaltungsraum des Menschen seit der Aufklärung, das war die Voraussetzung dafür, dass man sich ihr forschend zuwandte, sie rekonstruierte, nach den in ihr wirkenden Kräften, aber 23 24 25 26

Feuchtersleben [1847], S. 1. Vgl. hierzu u. a. Hyrtl 1865; Schroff 1866; Perkmann 1865. Wolf 1865. Vgl. unter Bezugnahme auf C. P. Snow: Cannadine 1994, S. 7.

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auch nach dem Nutzen der Historie für das Leben fragte und sie auf ihre Aussagekraft für die Zukunft abklopfte. Genau das war das Procedere, das in institutionell verdichteter Form in den Jubiläen praktiziert wurde. Nicht minder wichtig war aber, dass das 19. Jahrhundert gewaltige Umbrüche und einen beschleunigten historischen Wandel zu verarbeiten hatte. Angesprochen ist damit die zwischen die Daten 1789 und 1848 eingespannte Erfahrung der Revolution und der »Explosion von Ereignissen«,27 die vielfach als massiver Traditionsverlust empfunden wurde. Durch den jubiläumszyklischen Rekurs auf die Vergangenheit sollte deshalb jene Treue zu den Institutionen wiederhergestellt werden, deren Auflösung Aufklärung und Revolution angelastet wurde; in dieses Spektrum fügen sich die zahlreichen Monarchie- und Dynastiejubiläen ein.28 Wenn im 19. Jahrhundert vermehrt historische Jubiläen gefeiert wurden, so ist aber sicherlich auch darauf zu verweisen, dass es noch einmal zu einer deutlichen Intensivierung von Zeiterfahrung und -wahrnehmung kam. Die feste Dienstzeit beim Militär und bei den Beamten, die im Jubiläumsdienstalter auf Dauer gestellt wurde, der Ausbau der öffentlichen Verwaltung mit der präzisen Dokumentation von Geburts- und Sterbetag, von Schuleintritt und Eheschließung – dies alles präzisierte die Lebenszeit in einem bislang nicht gekannten Ausmaß. Insgesamt kam es also zu einer intensivierten Prägung des Alltags durch Zeit, die auch dem jubiläumszyklischen Erinnern zuarbeitete, das zugleich eine nicht unbeträchtliche Eigendynamik entfaltete und sich zu einem Jubiläumsboom hochschaukelte, der sich nicht zuletzt auch in zahlreichen Universitätsjubiläen niederschlug.29 Was deren systematische, über die Deskription von einzelnen Beispielen hinausgehende Analyse betrifft, so wurde mit der Einebnung der konfessionskulturellen Differenz, dem in der Frühen Neuzeit beobachtbaren zeitlichen Vorsprung der protestantischen gegenüber der katholischen historischen Jubiläumskultur auch im Universitätsbereich, bereits ein erster Aspekt angesprochen, der noch der Auslotung bedarf. Ein zweiter könnte die mit dem Stichwort ›Eigendynamik‹ angedeutete Selbstreferentialität des Jubiläums sein.30 Gemeint ist damit das Faktum, dass der Verweis auf frühere Jubiläen bis hin zur Rückprojektion nicht stattgefundener Jubiläen in die Vergangenheit sowie die Wahrnehmung von Jubiläen konkurrierender Organisationen und Institutionen ein selbstreferentielles, die Eigengeschichte zu einer Kette von Jubiläen umformendes Verweissystem schufen, das fast schon im Sinne eines Wiederholungszwangs zum Motor der Jubiläumskultur wurde. In dieses Muster fügt sich bei27 28 29 30

Becker 1999, S. 15. Vgl. Mergen 2005. Vgl. Müller 2010, S. 73–92. Vgl. Müller 2002, S. 265–284.

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spielsweise auch der vorliegende Band ein, der aus einer Tagung im Rahmen der 650-Jahr-Feier der Universität Wien hervorging, sich also im Rahmen eines großen Universitätsjubiläums mit dem institutionellen Mechanismus des historischen Jubiläums im Allgemeinen, des Universitätsjubiläums im Speziellen auseinandersetzte. In dieses Paradigma der Selbstreferentialität reiht sich aber auch die Beschäftigung mit früheren Jubiläen innerhalb der eigenen Institution ein. In Wien wurde beispielsweise vor einigen Jahren bereits in einer Lehrveranstaltung der Fokus auf die 600-Jahr-Feier der Universität im Jahr 1965 als Fallstudie zu Wissenschaft und Politik in den 1960er Jahren bzw. im Vorfeld von 1968 gerichtet, »auch im Hinblick auf das 650-Jahr-Jubiläum 2015«,31 das nun selbst bereits wieder Geschichte ist. Dies ermöglicht einen analytisch durchaus fruchtbaren Abgleich von Erinnerungssituationen, weil im Jubiläum ja stets eine Zurichtung der Vergangenheit auf die Eigengeschichte erfolgt. Jubiläen informieren so gesehen in weitaus geringerem Maße darüber, was einmal gewesen ist, sondern sie sagen vor allem etwas über den in einer spezifischen Erinnerungssituation praktizierten Zugriff auf die Geschichte aus: im retrospektiven Sinn, indem deutlich wird, welche Elemente des Traditionsfundus aktualisiert und inszeniert werden, welche der Vergessenheit anheimfallen oder bewusst ausgeklammert werden; unter prospektivem Aspekt, welche programmatischen Botschaften mit der Inszenierung von Teilelementen des Traditionsfundus im Prozess der Selbstgenerierung vermittelt werden sollen. Dass diese Rückbindung an die Vergangenheit zugleich in die Zukunft weist, schlägt sich in der jubiläumsspezifischen Rhetorik nieder : Die im Jubiläum inszenierte Tradition ist stets eine lebendige, die in der Gegenwart bewahrenswert und in der Zukunft entwicklungsfähig ist. Der für das Wiener Universitätsjubiläum 2015 kreierte Slogan »Neu seit 1365« und die für die Jubiläums-Ringvorlesung »Die Wiener Universität 1365–2015« ausgewiesenen Schlüsselbegriffe Tradition und Innovation fügen sich nahtlos in diese Jubiläumstradition und die damit einhergehende Jubiläumsrhetorik. Oder um aus dem Bericht über den am 12. März gehaltenen Festvortrag auf der Homepage der Universität Wien zu zitieren: »Festlich, akademisch, nachdenklich, mit Blick in die Zukunft«.32 Nachdem zuletzt von der Jubiläumsrhetorik die Rede war, vielleicht noch ein Wort zur Sprache selbst. Dass Jubiläumsreden in der Muttersprache gehalten 31 Im Sommersemester fand im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien unter Leitung von Friedrich Stadler und Herbert Posch die Lehrveranstaltung »Wissenschaft und Politik in den 1960er Jahren: Das 600-Jahr-Jubiläum der Universität Wien 1965 als Fallstudie für Wissenschaftsgeschichte im gesellschaftlichen Zusammenhang« statt, verfügbar unter : http://www.iff.ac.at/museologie/activity/aktiv/lehre/uni 1965.php [29. 1. 2016]. 32 Vgl. Redaktion (uni:view): »Unser heutiges Geburtstagskind forschen lassen«. 13. März 2015, verfügbar unter : https://medienportal.univie.ac.at/uniview/uniblicke/detailansicht/ar tikel/unser-heutiges-geburtstagskind-forschen-lassen/ [29. 1. 2016].

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werden, scheint uns mehr oder minder selbstverständlich. Aber noch beim Wiener Universitätsjubiläum 1965 trug der Rektor der Universität Krakau sein Grußwort in lateinischer Sprache vor und erinnerte an die »vincula«, »quibus nostrae Universitates praeterito tempore inter se coniunctae fuerunt«.33 Nun mag das schon vor 50 Jahren eine sprachliche Reliquie gewesen sein, Fakt ist allerdings, dass die Universität der Moderne beträchtliche Zeit wenigstens partiell mit der lateinischen Sprache als Distinktionskriterium und als Symbol für die Harmonisierung von Tradition und Innovation operierte. Als 1860 im Rahmen der 50-Jahr-Feier der Universität Berlin mit Werner von Siemens einer der wichtigen Repräsentanten des industriellen Zeitalters und des technischen Fortschritts geehrt und als Ehrendoktor promoviert wurde, so erfolgte die Ehrung in lateinischer Sprache: »qui apparatus telegraphicos emendavit […] atque scientiam electrices et staticam et dynamicam amplicavit«.34 Auch Einladungsschreiben und Gratulationsurkunden, die aus Anlass eines Universitätsjubiläums ausgefertigt wurden, wurden bis ins ausgehende 19. Jahrhundert in der Regel in der alten Gelehrtensprache Latein verfasst; selbst die amerikanischen Universitäten wechselten erst dann zum Englischen35 – das mittlerweile in der globalisierten Welt der Gegenwart und im Zeichen universitärer Internationalisierungsstrategien fester Bestandteil der akademischen Festpraxis und des universitären Lehrbetriebs ist. Die Erwähnung des Krakauer Rektors und von Werner von Siemens weist auf zwei weitere, der systematischen Erschließung zugängliche Aspekte der Jubiläumskultur : das Delegationswesen und – gewissermaßen das Proprium der Universität – die Ehrenpromotion. Dass sich Universitäten im Rahmen von Jubiläumsfeiern gegenseitig die Aufwartung machten, war bereits in der Frühen Neuzeit üblich, wobei auch konfessionelle Gegensätze überwunden wurden: »Der Gebrauch zu solchen Feyerlichkeiten Abordnungen zu machen ist fast allgemeine, und gründet sich auf Höflichkeit und Schätzung, die Universitäten sich gegeneinander zu erweisen pflegen«, stellte beispielsweise der Dekan der philosophischen Fakultät der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1786 fest, als die Universität Heidelberg zu ihrer 400-Jahr-Feier einlud.36 Dieser Brauch setzte sich im 19. Jahrhundert nicht nur fort, vielmehr zog die Einladungspolitik immer weitere Kreise. Über die politischen und konfessionellen Grenzen hinweg wurden zunehmend nicht nur Universitäten aus den deutschen Ländern, sondern auch Universitäten des Auslands eingeladen. Dass sich die Universitäten auf diese Weise als scien33 34 35 36

Duda 1965, S. 30. Ascherson 1863, S. 109; vgl. auch Müller 2010, S. 82. Vgl. Becker 2008, S. 77–107. Vgl. Müller 1986, S. 522.

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tific community eigenen Rechts definierten, hatte zwei Konsequenzen. Zum einen wurde auch in der offiziellen Berichterstattung sorgfältig darauf geachtet, wer kam und wer sich fernhielt. Beim Berliner Universitätsjubiläum von 1860 versah ein Jubiläumsbeobachter die Universität Wien zunächst mit einem Fragezeichen, weil er sich nicht sicher war, ob die österreichischen Universitätsvertreter den Weg nach Preußen gefunden hatten. Am Schluss ergoss sich der ganze Unmut auf die Universität Prag, die es als einzige namhafte Universität des deutschen Sprachraums nicht für nötig befunden hatte, in Berlin zu erscheinen.37 Zum Zweiten ist bei den Versicherungen wechselseitiger Wertschätzung die Tendenz zur Einebnung faktisch vorhandener Differenzen und zu Überbietungsstrategien unübersehbar. Deutlich wurde das beispielsweise 1872 im Rahmen der 400-Jahr-Feier der Universität München, als Heinrich von Sybel als Sprecher der deutschen Universitäten das Grußwort vortrug. Sybel hatte vor seiner Berufung nach Bonn bekanntlich zwischen 1856 und 1861 in München gelehrt und war dort als Protestant und Befürworter der preußisch-kleindeutschen Lösung im sog. Nordlichterstreit von den katholisch-großdeutsch Gesinnten heftig befehdet worden.38 Davon war natürlich keine Rede mehr. Sybel rühmte vielmehr auch die vom Jesuitenorden dominierte Ingolstädter Epoche der Universität München und war dem Schicksal dankbar, dass es ihm vergönnt gewesen sei, »während mehrerer glücklicher Jahre«39 die Anfänge der letzten Entwicklungsphase der Ludovico Maximiliana miterlebt zu haben. Den Vogel schoss er aber zweifelsohne dadurch ab, dass er nach der Replik von Ignaz von Döllinger noch einmal spontan das Wort ergriff, um dem Rektor zu seinem mit dem Universitätsjubiläum zusammenfallenden Namenstag zu gratulieren: »Am Tage des hl. Ignatius von Loyola bringe ich hier ein Hoch aus auf diesen neuen Ignatius«; das Protokoll vermerkte »begeisterte Zurufe«.40 Richtet man den Blick auf das Delegationswesen der Jahre 1965 und 2015 in Wien, so ist auch hier der Vergleich der Jubiläumssituation durchaus aufschlussreich. 1965 war das Jubiläum gewissermaßen eine alteuropäische Angelegenheit, im Rahmen des offiziellen Festakts kamen die Rektoren der Universitäten Paris, Bologna, Oxford, München, Krakau und Graz zu Wort.41 2015 scheint mir der Radius der Einladungspolitik deutlich weiter gezogen und bezieht beispielweise Universitäten aus den USA und China ein. Im Jubiläum spiegeln sich mithin Globalisierung und internationale Vernetzungsstrategien. Gleichzeitig wurde 2015 das Spannungsfeld von Regionalität und Globalisierung zum Thema einer Jubiläumskonferenz »Global Universities and their Regional 37 38 39 40 41

Vgl. Müller 2010, S. 80. Vgl. Sing 1996. Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München 1872, S. 49. Ebd., S. 52. Vgl. Duda 1965, S. 17ff.

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Impact«.42 Der Konferenztitel indiziert im Übrigen noch einmal den oben angesprochenen Sprachwandel, der für das Lateinische immerhin noch den 13. Mai 2015 als den Höhepunkt der 650-Jahr-Feier reservierte hat: Am dies honorum, dem Tag der Ehrungen, wurden im Rahmen der »Promotio sub auspiciis Praesidentis Rei Publicae« Heinz Fischer die Ehrendoktorate verliehen. Der damit angesprochene Aspekt des Promotionsrechts ist gewissermaßen das Proprium der Universitäten, und das Promotionswesen war deshalb fester Bestandteil der Universitätsjubiläen, wobei ein Übergang von der Promotion zur Ehrenpromotion zu beobachten ist.43 In Heidelberg 1786 und auch noch bei der 100-Jahr-Feier in Göttingen 1837 handelte es sich um streng akademische Graduierungsverfahren. In Heidelberg wurden beispielsweise in Anwesenheit der Festgäste zwei Tage lang von den Promovenden Thesen vorgetragen, und es wurde disputiert und promoviert. So viel hartes Tagesgeschäft wollte man den Jubiläumsgästen und der Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zumuten. Stattdessen ging man zu den Ehrenpromotionen über, wie das in Berlin 1860 der Fall war, d. h., man zeichnete verdiente Persönlichkeiten für ihren Einsatz für Universität, Wissenschaft oder bonum commune aus. Das freute die Ausgezeichneten, und zugleich strahlte die statuserhöhende Kraft der Universität auf diese selbst zurück bzw. trug in Form von Stiftungsaktivitäten der Geehrten eventuell auch ganz unmittelbare materielle Früchte. Dass die Analyse der Ehrenpromotionen im Übrigen interessante Einblicke in Selbstverständnis und Vernetzungsstrategien der Universitäten verspricht, vor allem auch wenn man sie im Lichte der angedeuteten Reziprozität als ein Phänomen der »gift economy« betrachtet,44 sei nicht nur am Rande vermerkt. Der Zusammenhang von Universitätsjubiläum und Stiftungswesen ist evident: Stiftungen, die Vergabe von Stipendien, Finanzierungszusagen für Universitätsgebäude – dies alles machte und macht die Universitätsjubiläen nicht nur zum Ort historischer Gedächtnisbildung, sondern es werden eben auch Geltungsansprüche für die Zukunft aufgebaut. Wenn die in Wien 2015 vorgesehenen Ehrenpromotionen aber auch im Zeichen der Wiedergutmachung und Versöhnung stehen, indem renommierte Wissenschaftler, deren Familien nach 1938 Wien hatten verlassen müssen, und wenn vermehrt auch Wissenschaftlerinnen geehrt werden – 1965 standen 27 männlichen Ehrendoktoraten zwei weibliche gegenüber –,45 so verweist das zurück auf die Aussagekraft des Vergleichs identischer Erinnerungsanlässe zu 42 Vgl. Universität Wien: UVIECON 2015 – University of Vienna Conference 2015, verfügbar unter : http ://www.univie.ac.at/en/650/the-highlights-in-retrospect/uviecon-2015/ [1. 2. 2016]. 43 Vgl. Müller 2010, S. 82. 44 Vgl. u. a. Cheal 1988; Blau 1964. 45 Vgl. Duda 1965, S. 40ff.

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verschiedenen Zeitpunkten sowie auf das Faktum, dass im Jubiläum immer auch ein »Kampf um das Gedächtnis«46 ausgetragen wird. Dieser blieb für die primär affirmative Veranstaltung des historischen Jubiläums nicht folgenlos: Seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich nämlich vor dem Hintergrund der Geschichtskatastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Art GegenJubiläumskultur, die nicht nur positiv konnotierte Kontinuitätslinien herausarbeitete, sondern die auch Fehlentwicklungen und institutionelle Defizite thematisierte.47 Für die Universitätsjubiläen des deutschsprachigen Raums waren hier die 1960er und 1970er Jahre die entscheidende Zäsur. Symptomatisch hierfür war die wohl nicht nur in Marburg anlässlich der 450-Jahr-Feier gestellte Frage, ob man im Zusammenhang mit dem Gründungsjubiläum überhaupt offizielle Jubiläumsfeiern, die das unzutreffende Bild einer ›heilen Universität‹ vermitteln würden, begehen dürfe. In Tübingen legten Studierende und jüngere Wissenschaftler eine »Gegenfestschrift« vor und im Rahmen einer »Gegenausstellung« wurde in einem Schwarzheft eine kritische Gegenpublikation zum Katalog der offiziellen Jubiläumsausstellung vorgelegt. Und auch beim Wiener Universitätsjubiläum von 1965 finden wir Ansätze dafür, dass die Selbstinszenierung mit der Selbstreflexion zusammenfallen konnte, wenn etwa im Rahmen einer mit Golo Mann und Rudolf Augstein hochkarätig besetzten und von der Hochschulschülerschaft organisierten Podiumsdiskussion über die zeitkritische Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft debattiert wurde.48 2015 stand in Wien dann u. a. die Ausgabe einer »Prekärsuppe« durch das mit befristeten Verträgen geplagte wissenschaftliche Universitätspersonal parallel zum offiziellen Festakt am 12. März 2015 in dieser Tradition des Gegen-Jubiläums: »Würde man nur einen Teil des Budgets für die bis Oktober angesetzten Jubelveranstaltungen dafür einsetzen, befristete Uni-Anstellungen in unbefristete Posten umzuwandeln, wäre schon viel getan«.49 Wenn die Universitätsjubiläen seit den 1960er Jahren auch als Forum für eine kritische Auseinandersetzung mit der Eigengeschichte fungierten – eine Neuakzentuierung, die man auch bei der politischen Gedenkkultur, mit zeitlicher Verzögerung aber auch bei Firmen- bzw. Unternehmensjubiläen beobachten kann –, so war und ist diese jubiläumszyklische kritische Geschichtsrevision für 46 Brix 1997. 47 Vgl. Müller 1998/21, S. 91f. 48 Vgl. Augstein, Rudolf: ›Chancen des Intellektuellen zu einer Gestaltung der Wirklichkeit. Vortrag vom 6. Mai 1965 beim Symposium »600. Gestaltung der Wirklichkeit« der Österreichischen Hochschulschülerschaft an der Universität Wien‹, in: Der Spiegel 1965/23, verfügbar unter : http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/46390408 [1. 2. 2016]. 49 Stanzl, Eva: ›Die Lehre in Zeiten des Jubilierens‹, in: Wiener Zeitung Online, verfügbar unter : http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/bildung/uni/741695_Die-Lehre-in-Zei ten-des.Jubilierens.html [1. 2. 2016].

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die Universitäten Deutschlands und Österreichs gleichbedeutend mit einer Auseinandersetzung ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus. Es war diese oft verspätet begonnene Auseinandersetzung, die beispielsweise bei der Wiener 600-Jahr-Feier 1965 noch nicht geführt wurde, um – mit gehörigem zeitlichen Abstand – im Wiener Jubiläumsjahr 2015 eine umso wichtigere Rolle zu spielen: Zu verweisen ist u. a. auf die am 17. März 2015 eröffnete Ausstellung »Bedrohte Intelligenz«, die den sog. Anschluss, die Nazifizierung und die Leiden der NSOpfer thematisierte.50 Und auch die Ehrenpromotionen des Jubiläumsjahres 2015 standen im Zeichen der Wiedergutmachung und Versöhnung, indem u. a. mit Martin Karplus und Ruth Klüger zwei 1930 bzw. 1931 in Wien geborene Gelehrte geehrt wurden, die nach 1938 hatten fliehen müssen bzw. deportiert worden waren. »Ich bin vor 75 Jahren aus Österreich weg und habe danach nie etwas von diesem Land gehört. Und jetzt bin ich hier und werde behandelt wie ein Rockstar. Man versucht natürlich, etwas gutzumachen« – so Martin Karplus, seines Zeichens Nobelpreisträger für Chemie, in einem am 13. Mai dieses Jahres im »Standard« erschienenen Zeitungsinterview.51 Der Aspekt der kritischen Geschichtsrevision lässt sich noch an einem zweiten Schwerpunkt des Wiener Universitätsjubiläums 2015 vertiefen. Gemeint ist der Themenkreis der Gendergerechtigkeit und der Frauen in der Wissenschaft, der »Stieftöchter der Alma mater«,52 um den Titel einer Münchener Ausstellung zum 90. Jahrestag des Frauenstudiums zu zitieren. Deren Veranstaltungsjahr 1993 markiert ziemlich genau den Zeitpunkt, zu dem die Frauen in der Wissenschaft ein eigenständiges Segment der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte wurden – aber auch der universitären Jubiläums- und Ehrungskultur. Der Wandel, der sich hier vollzogen hat, lässt sich wieder recht gut mit einem Abgleich der Wiener Jubiläumssituation 1965 und 2015 veranschaulichen: Was 1965 praktisch kein Thema war, ist 2015 ein dezidierter Schwerpunkt, der u. a. durch eine kritische Beschäftigung mit der akademischen Ehrungspraxis durch Denkmäler und Büsten im Arkadenhof der Wiener Universität belegt wird, wo am 10. Juni 2015 ein Frauen-Sprechchor den Text »Schlüsselgewalt« von Elfriede Jelinek vortrug.53 Jubiläumsunabhängig war die 50 Vgl. Redaktion (uni:view): »Bedrohte Intelligenz«. Eine Ausstellung an der Universität Wien, 10. März 2015, verfügbar unter : https://medienportal.univie.ac.at/uniview/veranstaltungen/ detailansicht/artikel/bedrohte-intelligenz-eine-ausstellung-an-der-universitaet-wien/ [1. 2. 2016]. 51 Vgl. Illetschko, Peter : Nobelpreisträger Karplus: »Ich werde behandelt wie ein Rockstar«, in: derStandard.at vom 13. Mai 2015, verfügbar unter : http://derstandard.at/2000015722578/No belpreistraeger-Karplus-Ich-werde-behandelt-wie-ein-Rockstar/ [2. 1. 2016]. 52 Bussmann 1993. 53 Vgl. unter https://youtube.com die Videoaufzeichnung »Frauen Aus / Schluss – Sprechchor mit Elfriede Jelinek Text ›Schlüsselgewalt‹«, verfügbar unter : https://www.youtube.com/ watch?v=qEwsexzFM7M [3. 2. 2016].

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fehlende Sichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft im Arkadenhof im Übrigen bereits 2009 ein Thema, als mit dem Kunstprojekt »Der Muse reicht’s« die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde, dass auch rund 100 Jahre nach der Zulassung von Frauen zum Studium und rund 50 Jahre nach der Berufung der ersten Professorinnen der Arkadenhof eine Männerdomäne geblieben ist.54 Dass es auch Impulse für eine kritische Auseinandersetzung mit der institutionellen Eigengeschichte zu geben im Stande ist, scheint nicht die geringste Leistung des Universitätsjubiläums, das lange Zeit vorzugsweise auf die Produktion affirmativer Erfolgsgeschichten angelegt war. Das verweist auf einen weiteren systematischen Aspekt, unter dem Universitätsjubiläen betrachtet werden können, nämlich den Zusammenhang von Universitätsjubiläum und Universitätsgeschichte, der ja auch in der Gegenwart noch mit Händen zu greifen ist: Fünf Bände 2009 in Leipzig zur 600-Jahr-Feier,55 die zur 200-Jahr-Feier initiierte und gleichfalls auf sechs Bände angelegte Geschichte der Berliner Humboldt-Universität,56 und eben zuletzt vier Bände »650 Jahre Universität Wien«, wobei man konzeptionell durchaus neue Wege beschreiten wollte, indem beispielsweise der Schwerpunkt auf die kritische Aufarbeitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelegt wurde.57 Alleine diese kleine Liste aus der Gegenwart indiziert den engen Konnex des Universitätsjubiläums mit der historischen Teildisziplin der Universitätsgeschichte, der im Grunde schon mit dem Heidelberger Universitätsjubiläum von 1587 prototypisch vorgeprägt wurde, als der bereits erwähnte Prorektor Sohn die Feierlichkeiten nutzte, um eine ausdrücklich auf Aktenstudium beruhende Darstellung von 200 Jahren Heidelberger Universitätsgeschichte zu geben.58 Dieser enge Konnex wirft natürlich die Frage auf, ob eine sich regelmäßig im Jubiläum aufgipfelnde, dann wieder abflachende Forschungslandschaft dem Forschungsgegenstand der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte gerecht wird und ob nicht vielmehr eine jubiläumsunabhängige Verstetigung in stärkerem Maße wünschenswert ist. Weniger »Jubiläumsschriften«, mehr »Alltagsarbeit« – das hat der Universitätshistoriker Notker Hammerstein bereits in einem 1983 erschienenen Beitrag gefordert.59 Man könnte daran die Frage anschließen, ob die opulenten Jubiläumsfestschriften noch zeitgemäß sind. Ungeachtet ihres Ergebnisreichtums, gelegentlich aber auch kaleidoskopisch an54 55 56 57

Vgl. Maisel 2007. Vgl. Geschichte der Universität Leipzig 2009. Vgl. Tenorth 2012. Vgl. 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2015. Vgl. hierzu die Rezension von Dieter Langewiesche http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbue cher-24705 [3. 2. 2016]. 58 Vgl. Müller 1998/21, S. 90f. 59 Vgl. Hammerstein 1983/236, S. 601.

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mutenden und mehr oder weniger affirmativ grundierten Synthese scheinen sie doch eher in der Tradition der Honoratiorenfestschrift des 19. Jahrhunderts zu stehen, als die Gelehrten mit geringerem Lehrdeputat, geringeren Studierendenzahlen, weniger bürokratisierten Apparaten und weniger Pflichten zur Einwerbung von Drittmittelprojekten deutlich mehr Zeit für die Produktion von Festschriften hatten. Die Frage nach der Zeitgemäßheit der Jubiläumsfestschrift produktiv wendend, schiene es – und das betrifft nun nicht nur die Universitäten – beispielsweise sinnvoll, mit gehörigem zeitlichen Vorlauf Jubiläumsstipendien für Doktoranden und Habilitanden auszuloben, um mit Blick auf das bevorstehende Universitätsjubiläum wissenschaftsgeschichtliche Grundlagenforschung zu betreiben. Zugleich werden mit den Universitätsjubiläen der Gegenwart mit Internetauftritten auch neue Akzente gesetzt, und das scheint mir in Wien 2015 besonders der Fall zu sein. Die Bandbreite reicht hier vom eher spielerischen und fiktiven Blog »650 Jahre studieren in Wien«60 bis hin zu einer dem WikipediaPrinzip folgenden Geschichte der Universität Wien »650 Jahre – Geschichte der Universität Wien«,61 die laufend ergänzt werden kann und die im Übrigen auch einen Beitrag zu den früheren Universitätsjubiläen enthält,62 der zu dem auch in diesem Beitrag vorgenommenen Abgleich der Jubiläumssituationen einlädt und der – dies als abschließender Gesichtspunkt – auch einen beträchtlichen Wandel der Beziehungen zwischen Universität und Öffentlichkeit erkennen lässt. Die in der Tradition des frühneuzeitlichen actus publicus vel solemnis stehenden öffentlichen Umzüge der Universität, in denen die Universitätsangehörigen in ihren Amtsroben durch die Universitätsstadt zogen und sich gleich einer Zunft oder Kaufmannsgilde zur Schau stellten, gehören der Vergangenheit an. Vor allem im 19. Jahrhundert war dieses Prozessionswesen permanent erweitert und mit lebenden Bildern und alten Kostümen zu historischen Festzügen transformiert worden, wie sie auch im Rahmen von Stadt- und Dynastiejubiläen veranstaltet wurden;63 1886 fand in Heidelberg der aufwendigste universitätshistorische Festzug mit 930 Teilnehmern und 100.000 Zuschauern statt.64 Bis in die 1960er und 1970er Jahre war diese Form der öffentlichen Selbstdarstellung üblich, und so zogen denn auch 1965 die Wiener Professoren in den eigens für das 60 Vgl. Universität Wien: uni-fiction. Studieren in Wien. Etwas andere Geschichten (Blog), verfügbar unter : http://blog.univie.ac.at/kategorie/uni-fiction [3. 1. 2016]. 61 Vgl. 650 plus – Geschichte der Universität Wien, verfügbar unter : http://geschichte.univie. ac.at/de/ueber-das-projekt [3. 2. 2016]. 62 Vgl. ebd., verfügbar unter : http://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/universitatsjubilaen [3. 2. 2016]. 63 Vgl. Hartmann 1976. 64 Vgl. ebd., S. 41ff. sowie die als Leporello erschienene Abbildungsfolge: Festzug. Jubiläum der Universität Heidelberg [1886].

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Jubiläum geschneiderten Talaren durch die Stadt, wobei auch die farbentragenden Studentenverbindungen in den öffentlichen Umzug integriert waren. Das alles war schon 1965 nicht unumstritten,65 und spätestens mit dem symbolischen Datum 1968 wurden diese älteren Formen der universitären Selbstdarstellung obsolet. Sie spielten auch 2015 in Wien keine Rolle. Stattdessen wurden Stadtöffentlichkeit und Studierende durch Live-Übertragungen, Campus-Festival und Fotostrecken, in denen man Selfies von den Lieblingsplätzen seiner Universität hochladen konnte, einbezogen. Und mit dem jubiläumsspezifischen Sinn für Zahlensymbolik beteiligte sich die Universität Wien am 12. April 2015 aus Anlass ihrer 650-Jahr-Feier mit 650 Läuferinnen und Läufern im Uni-Wien-Laufshirt am 32. Vienna City Marathon. Anders ausgedrückt: Die scientific community reiht sich mit dem Universitätsjubiläum in die kommunale Event-Kultur ein; das Jubiläum ist eben nie nur eine historische Informationsveranstaltung, sondern auch eine Objektivation des Zeitgeists. Es geht eben nicht nur um die Evokation von Tradition und um die Verdichtung von Traditionsbeständen im kollektiven Gedächtnis, sondern um eine an die jeweilige Gegenwart adressierte und auf die Zukunft berechnete Selbstgenerierung der Institution Universität.

Literatur 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert. Bd. 1: Kniefacz, Katharina / Nemeth, Elisabeth / Posch, Herbert / Stadler, Friedrich (Hg.): Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert; Bd. 2: Ash, Mitchell G. / Ehmer, Josef (Hg.): Universität – Politik – Gesellschaft; Bd. 3: Grandner, Margarete / König, Thomas (Hg.): Reichweiten und Außensichten. Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche; Bd. 4: Fröschl, Karl Anton / Müller, Gerd B. / Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Göttingen 2015. Ascherson, Ferdinand (Hg.): Urkunden zur Geschichte der Jubelfeier der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im October 1860. Berlin 1863. Becker, Ernst Wolfgang: Zeit der Revolution! Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789–1848/49. Göttingen 1999. Becker, Thomas P.: ›Jubiläen als Orte universitärer Selbstdarstellung. Entwicklungslinien des Universitätsjubiläums von der Reformationszeit bis zur Weimarer Republik‹, in: Schwinges, Rainer C. (Hg.): Universität im öffentlichen Raum. Basel 2008, S. 77–107.

65 So wurde 1965 ein Gegensymposium »Gestaltung der Wirklichkeit« durchgeführt: Universität Wien: Symposion 600 – Gestaltung der Wirklichkeit – 600 Jahre Universität Wien (Plakat), verfügbar unter : http://www.bildarchivaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBild ID=16113730 [3. 2. 2016].

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Brigitta Schmidt-Lauber

Die (sich) feiernde Universität. Bedeutungsstiftungen durch Jubiläen

Jubiläen, so viel ist aus heutiger Sicht gewiss, sagen mehr über die Jubelnden und ihre Zeit als über das Bejubelte und seine Geschichte aus. Für Universitäten gilt das nicht weniger als für andere Festanten. Die Alma Mater Rudolphina Vindobonensis alias Universität Wien feierte 2015 ausgedehnt ihr 650-jähriges Bestehen als älteste Universität im heutigen deutschen Sprachraum.1 Sie präsentierte sich auf zahlreichen Veranstaltungen, durch Bücher, Ausstellungen und Filme und produzierte darüber ein nach innen und außen gerichtetes, gezielt zugeschnittenes Bild ihrer selbst. Nicht zuletzt der vorliegende Band ist Ergebnis des Jubeljahres. Mit Jubiläen erfinden Universitäten sich jeweils ein Stück weit neu bzw. nutzen die Gelegenheit, sich im gesellschaftlichen und internationalen Rampenlicht stehend Bedeutung zu geben; zugleich sind sie Ausdruck ihrer jeweiligen Zeit und gesellschaftlichen Verfasstheit. Besonders offenkundig wird dies im Vergleich – verschiedener Jubiläumsfeiern an unterschiedlichen Universitäten, in verschiedenen Ländern oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten –, ermöglicht doch gerade der Vergleich, das Spezifische und Besondere zu erkennen. Sowohl in der Art der Festgestaltung als auch in den thematischen Schwerpunktsetzungen gab es 2015 beim genannten Jubiläum der Universität Wien Veränderungen gegenüber vorherigen Jubiläen. Im Nachfolgenden werde ich dieser Spur folgen und die 650-Jahrfeier der Universität Wien mit vorherigen Jubiläen beziehungsweise vor allem mit dem 600-jährigen Jubiläum im Jahr 1965 vergleichen und so die Feier als Selbstauslegung der Universität in einer bestimmten Zeit lesen.

1 Ich danke Irmgard Mitterwallner sowie vor allem besonders Alexandra Rabensteiner für wertvolle Mit- beziehungsweise Vorarbeit und Unterstützung bei der Fertigstellung des vorliegenden Textes.

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Brigitta Schmidt-Lauber

Jubiläum. Ein Feierformat zur Historisierung der Gegenwart Ich erinnere daran, dass das Jubiläum – wie die reichhaltige Forschung zum Thema gründlich herausgearbeitet hat – kirchlichen Ursprungs ist und von dort in die Universitäten eintrat, wo sich erst das moderne Verständnis von Jubiläen im Sinne der Historisierung der eigenen Institution herausbildete.2 Bis ins 19. Jahrhundert hinein orientierten sich Jubiläumsfeiern weitgehend an den »Riten des Erinnerns in christlich-liturgischer Tradition«3 mit Festgottesdienst, Festpredigt und Glockengeläut sowie Feier der Eucharistie, die teils noch heute zum Rahmenprogramm von Jubiläen gehören. Das erste Universitätsjubiläum fand 1578 an der evangelischen Universität Tübingen statt. Erst allmählich wurde das Feierformat ›Jubiläum‹ zum festen Bestandteil universitären Lebens auch jenseits konfessioneller Selbstdarstellungen und gestaltete sich in verschiedenen Formen aus – zu nennen wären hier auch das Amtsjubiläum oder die sich etablierende Festschriftenkultur.4 Die Säkularisierung des Jubiläums, das zunehmend das öffentliche und private Leben begleitete, setzte im 17. Jahrhundert ein, bevor es im 19. Jahrhundert Eingang in das Leben des städtischen Bürgertums fand und zunehmend auch in politische Kontexte eingebunden wurde.5 Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Universitätsjubiläen so zu großen Nationalfesten nach dem »Typus der geschichtskulturellen Massenveranstaltung«6. Mittlerweile ist das 10-, 50- oder 100- et cetera-jährige Gedenken an Gründungsakte und Entstehungszeitpunkte, besondere Ereignisse oder Personen ein so selbstverständlicher Teil privaten und öffentlichen Lebens, dass bevorzugt Historikerinnen und Historiker von einem regelrechten »Memory-Boom« sprechen, so der US-amerikanische Historiker Jay Winter.7 Seit der 2. Hälfte der 1970er Jahre ist die darin erkennbare und anhaltende Tendenz zur Historisierung der Gegenwart zu beobachten.8 Voraussetzung freilich sind ein gesellschaftlicher Sinn für Geschichte sowie die Einführung des metrischen Systems,9 die in Österreich und Deutschland etwa in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgte und mit einer Änderung der Zeiteinteilung, der Uhrzeit und des Kalenders auf ein Dezimalsystem einherging. Bevorzugt werden bei Jubiläen runde Zahlen erinnert. Auch die Wissenschaft, so urteilt der Europäische Ethnologe Konrad Köstlin, habe die Zehn-Jahresfrist 2 3 4 5 6 7 8 9

Müller 1998, S. 80–82. Mitterauer 1997, S. 82. Müller 1998, S. 84, 90. Ebd., S. 80, 89. Vgl. dazu auch: Drüding 2014, S. 37f. Drüding 2014, S. 39. Winter 21 (2001), S. 52–66; Winter 10 (2001), S.57–66. Cornelißen / Klinkhammer / Schwentker 2003, S. 2. Becker 2008, S. 77.

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übernommen und sich darüber »verpopt«: Sie »beugt sich den Ritualen der Moderne«.10 Die dominante Bedeutung des Dezimalsystems in den »Kulten unserer Erinnerung« beschreibt Köstlin als »Sieg der populären Nullen«.11 In seiner Dissertation attestierte der Historiker Markus Drüding auch deutschen Universitäten seit den 1990er Jahren einen »Jubiläumsboom«, wie insgesamt seit dem Ende der 1990er Jahre eine beachtliche Zunahme sich »traditionsbewusst« gerierender akademischer Feiern wie Examens- und Abschlussfeiern selbst an jungen Universitäten zu beobachten ist.12 Kultur- und geschichtswissenschaftliche Analysen zeigen die identitätsstiftende Dimension akademischer Feiern, durch die Zugehörigkeiten und Abgrenzungen performativ und diskursiv geschaffen13 und besonders im Falle von Universitätsjubiläen jeweils verschiedene Bezüge und Bedeutungen von Geschichte hergestellt werden.14 Dabei basieren akademische Feiern und so auch Jubiläen auf festgelegten Ablaufmustern zugehöriger Programmpunkte, die den Erwartungshorizont abstecken und Ausgangspunkt neuer Planungen sind. Das 19. Jahrhundert ist diesbezüglich – trotz des »Mythos Humboldt«15 – auch für die Universität als zentrale Zeit zu betrachten, in der wesentliche Formen und Grundlagen geschaffen wurden.16 Konkret etablierten sich folgende Bausteine für die Abhaltung eines Universitätsjubiläums: »Fackelzüge, Festumzüge, Festakte einschließlich der Ehrungen, ein Begleitprogramm in Form von Sport- und Kulturveranstaltungen, Vorträge, Festessen und […] auch Universitätsgottesdienste.«17 Im 20. Jahrhundert gerieten Jubiläen immer stärker zu Werbeveranstaltungen,18 für die beträchtliche finanzielle Mittel investiert und generiert werden müssen, und zum medialen Spektakel.19 Diese Tendenz lässt sich auch an der Transformation

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Köstlin 2002, S. 12. Ebd., S. 16. Vgl. Schweiger-Wilhelm 2010, S. 2. Vgl. dazu: Schmidt-Lauber 2014, S. 151–184. In seiner syn- und diachron vergleichenden Untersuchung über Jubiläen verschiedener Universitäten in Ost- und Westdeutschland in verschiedenen politischen Systemen v. a. zwischen 1919 und 1969 arbeitet Markus Drüding (2014) je nach Zeit und Staatsform unterschiedliche Umgangsweisen mit und Bedeutungen von Vergangenheit heraus wie etwa eine inszenierte Verbundenheit mit der Geschichte, die ostentative Überhöhung der Gegenwart, kollektives Beschweigen oder Bestätigung des politischen Regimes. Vgl. dazu: Drüding 2014. Auch der Jubiläumsforscher Paul Münch betont, dass Jubiläen zu einem bestimmten Zweck instrumentalisiert werden können. Geschichtsdeutung ist stets von der jeweiligen Gegenwart abhängig und unterliegt Veränderungen. Vgl. Münch 2005. Vgl. Ash 1999. Drüding 2014, S. 35. Ebd., S. 295. Ebd., S. 296. Ebd., S. 11.

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der Jubiläums-Ausgestaltung der Universität Wien erkennen, wie ich im Folgenden aufzeigen werde.

1965 – Die 600-Jahrfeier der Universität Wien als Spiegel der österreichischen Nachkriegszeit 1965 feierte die Universität Wien ihr 600-jähriges Bestehen, wobei schon die Wahl des genauen Gründungsdatums – ob urkundliche Erwähnung, konkrete Lokalisierung oder zum Beispiel Baubeginn beziehungsweise Aufnahme der akademischen Arbeit et cetera – immer auch ein Akt der Bedeutungsstiftung ist, die bestimmten Ursprungsmythen gegenüber anderen Anfangsideen den Vorrang gibt. Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende schickte sich die größte Universität in Österreich an, in Form eines Jubiläums zurückzuschauen. Statt indes den Anlass zu nutzen und sich mit der zentralen Bedeutung der eigenen Institution als Wegbereiterin antidemokratischer, totalitärer Ideen und Politiken zu konfrontieren und etwa auch die rasche ›Gleichschaltung‹ nach 1938 zu problematisieren,20 wurde die Gelegenheit dazu genutzt, sich auf eine große Vergangenheit zu berufen und die institutionellen Aufgaben inmitten der erlebten Zeit des Umbruchs zu benennen: »Sinn dieses Festes war vor allem,« so lässt sich im Geleitwort des Rektors Karl Fellinger im offiziellen Festbericht der Jubiläumsfeier nachlesen, »unter Rückschau und Berufung auf eine große Vergangenheit den Standpunkt und die Aufgaben dieser heute ältesten Hohen Schule im deutschsprachigen Raum zu klären. […] In einer Zeit, in der alte Formen so vielfach zerbrechen und ungeklärtes Neues fast wie experimentierend zur Gestaltung drängt, schien es von besonderer Bedeutung in dieser alten Schule zu versuchen, die notwendige Neugestaltung vom festen Boden des organisch Gewordenen aus zu bewältigen.«21 Die offiziellen Feierlichkeiten, zu denen zahlreiche Akademiker und Politiker aus dem In- und Ausland erschienen, dauerten fünf Tage – vom 9. bis zum 14. Mai 1965. Den Auftakt bildete der Empfang der Universität in den Festräumen des Hauptgebäudes. Während dort der Rektor und die Senatsmitglieder mit über 300 Gästen das Jubiläum einläuteten, zogen zeitgleich in einem Fackelzug über 2.000 Studierende unter Führung der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) »durchsetzt von Couleur-Studenten und Abordnungen verschiedener studentischer Verbände«22 vom alten Universitätsgebäude auf dem Seipelplatz durch die Wiener Innenstadt bis zum heutigen Hauptgebäude, das neben dem 20 Vgl. Ash / Nieß / Pils 2010. 21 Fellinger S. XI. 22 Universität Wien 1965, S. 3.

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Rathaus in Festbeleuchtung erstrahlte und wo sie vom Rektor mit folgenden Worten in Empfang genommen wurden: »Zweifach ist mir […] dieser Lichterkranz symbolhaft: […] Zum zweiten aber symbolhaft, indem Sie selbst ein Licht sein sollen […]. Denn Akademiker sein heißt nicht nur, mehr zu wissen, sondern auch, und mindestens ebenso, dem Ideal der Humanitas mit allen Kräften zu dienen.«23 Der ÖH-Vorsitzende Manfred Machold überreichte dem Rektor das vom Universitätsarchivar Franz Gall verfasste Buch Alma Mater Rudolphina. Die Wiener Universität und ihre Studenten von 1365 bis 1965.24 Es sei, so Machold, »das erste Mal, daß die Studentenschaft in ihrer Gesamtheit der Universität selbst ein Geschenk widmet und damit alle ihre Lehrer ehrt«25. Auch der Folgetag startete mit einem konventionellen Programmpunkt der lokalen Jubiläumsfeiern, dem großen Festumzug vom Hauptgebäude zum Stephansdom nach konfessionellen Gottesdiensten mit Bläserbegleitung und Vertretern diverser Standes- und Akteursgruppen. Für alle Professoren26 der Universität wurden eigens Talare produziert,27 die darin nach Fakultäten gegliedert und mit Halskrausen, Zylindern, Baretten und Federhüten bekleidet dem Festumzug beiwohnten. Nach dem feierlichen Einzug in den Dom und der Festpredigt des damaligen Kardinals Franz König fand im Zuge des Dankesgottesdienstes die traditionelle Kranzniederlegung am Grab Rudolf des Stifters, bis heute als Gründungsfigur der Universität Wien gefeiert, statt.28 Die offizielle Begrüßung speziell der ausländischen Gäste erfolgte nachmittags im Großen Musikvereinssaal, in der Rektor Fellinger einen »Blick auf die so vielfältige Problematik unserer Zeit«29, aber auch auf die Geschichte der Universität, die »stets eingegliedert war in die geistigen Strömungen der Zeit, ja oft genug diese Strömungen bestimmte oder mitbestimmte«30 warf, ohne indes einen Bezug zum Nationalsozialismus herzustellen. Am Abend war in der Wiener Staatsoper die Festaufführung des Rosenkavaliers zu sehen. Der dritte Tag stand im Zeichen zahlreicher Ehrungen, die Jubiläumsausstellung 600 Jahre Universität Wien wurde eröffnet, und auch ein Stiftungsfond wurde durch Überreichung einer Urkunde über 50 Millionen Schilling durch den Bürgermeister der Stadt Wien, Franz Jonas, gegründet. Höhepunkt der Jubiläumsfeierlichkeiten war der vierte Tag, der die große Festgemeinde zunächst in die Stadthalle und abends in die Prunkräume des 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 5 Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ob auch Professorinnen an der Prozession teilnahmen, ist aus den eingesehenen Quellen nicht ersichtlich. Kniefacz 30. 6. 2015. Universität Wien 1965, S. 7f., 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17.

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Schlosses Schönbrunn zum Empfang durch Bundeskanzler Josef Klaus führte. Gefolgt von wissenschaftlichen Vorträgen und einer Festaufführung im Burgtheater wurde am 13. Mai 1965 ein Totengedenken rund um den seinerzeit noch in der Aula positionierten Siegfriedskopf abgehalten – das politisch aufgeladene Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gestorbenen Studenten und Lehrenden, das noch heute von Burschenschaftlern regelmäßig aufgesucht wird –, wobei er seit 2006, nach einer öffentlichen Diskussion in den 1990er Jahren, zerlegt in Plinthe, Sockel und Kopf unter mit Texten zur Geschichte des Denkmals sowie zu den antisemitischen Übergriffen in den 1920er Jahren bedeckten Glasschichten verdeckt liegt.31 Den Ausklang bildete eine Fahrt in die Wachau am 14. Mai 1965. Nicht zuletzt durch die Einbindung zentraler nationaler Repräsentationsorte als Veranstaltungsbühnen – wie das Schloss Schönbrunn, das Burgtheater und die Staatsoper oder der Stephansdom –, positionierte sich die Universität Wien erneut symbolisch als die zentrale Hauptstadtuniversität und versteht sich bis heute als solche zu positionieren. Trotz mitunter in den Reden und durch das Engagement der Studierenden anklingender Umbruch- und Aufbruchsstimmung brach die Jubiläumsfeier weder formal noch inhaltlich mit Konventionen und Politiken der Zeit und demonstrierte somit letztlich ein unbewegliches, starres Universitätsleben, wie sich auch gesellschaftlich das Alltags- und Arbeitsleben oder Geschichtsbild noch kaum gravierend geändert hatten. Noch immer stand Österreich im Zeichen des Opfermythos, womit die Republik Österreich sich »und der überwältigenden Mehrheit ihrer Bevölkerung die Generalabsolution«32 erteilte. Auch sozial erwies sich die Gesellschaft seinerzeit noch als eher autoritär sowie Hierarchien zwischen den Geschlechtern aufrechterhaltend. Entsprechend waren unter den beim Jubiläum zahlreich Geehrten weiterhin keine Frauen, sondern nur »große Männer«33 zu finden. Vielmehr noch wurde für die Festtage neben den offiziellen Feierlichkeiten sogar ein eigenes »Damenprogramm« des Damenkomitees unter der Leitung der Rektorengattin Barbara Fellinger – selbst Trägerin der Doktorwürde – angeboten, etwa mit einer »Überraschungsfahrt« in den Wiener Prater und verschiedenen Tanz-, Theater- und Musikvorführungen,34 und auch der offizielle Empfang war laut Bericht dezidiert für »Gäste mit ihren Damen«35 gedacht. Neben dieser Positionierung von Frauen lediglich als Begleiterinnen des männlichen Wissenschaftlers – wiewohl Frauen an der Universität Wien zu diesem Zeitpunkt immerhin seit 68 Jahren an der Philosophischen Fakultät studieren durften, seit 1945 überall zugelassen waren und es 31 32 33 34 35

Posch 2015. Albrich 1997, S. 76. Universität Wien 1965, S. 42. Ebd., S. 181. Ebd., S. 3.

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seit 1956 auch Ordentliche Professorinnen gab – wurde auch die Rolle der Universität und Wissenschaft im Nationalsozialismus nicht reflektiert, wie ja insgesamt die österreichische Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich dem Opfermythos verhaftet war. Erst ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kam es im Zuge der Waldheim-Affäre 1986 und dem ›Bedenkjahr‹ 198836 allmählich zu einer kritischen Aufarbeitung und Entmythologisierung des Opferbildes in der Öffentlichkeit. Kritische Töne zur Vergangenheit der Universität Wien waren somit 1965 nur vereinzelt zu hören, obwohl im Jubiläumsjahr die sogenannte BorodajkewyczAffäre rund um die antisemitischen Aussagen des Professors für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel Taras Borodajkewycz und den gewaltsamen Tod des KZ-Überlebenden Ernst Kirchweger bei Zusammenstößen von Borodajkeycz-Gegnern und -Befürwortern internationale Aufmerksamkeit erlangt hatte.37 In der Regel dominierte der eine glorreiche Vergangenheit rühmende Tenor, wie bei der Ansprache des Rektors am 9. Mai 1965, in der Fellinger sich mit folgenden Worten äußerte: »Unsere Universität Wien hat eine stolze Geschichte – schon jahrhundertelang ist sie nun eines der großen geistigen Zentren der Welt, hat der Welt viel geben können, wie sie auch selbst viel empfangen hat […].«38 Frappierend deutlich wird die fehlende kritische Auseinandersetzung mit der Rolle von Wissenschaft und Universität und dem eigenen Verschulden bei der Totenehrung: Ganz besonders soll uns aber der O p f e r t o d d e r v i e l e n M a h n u n g [Hervorhebung im Originaltext, BSL] sein, die in diesen letzten Kriegen starben: Mahnung daran, daß die Auseinandersetzungen und Differenzen, die immer auftreten werden, auf dem Gebiete des Geistigen, niemals auf dem Gebiete der rohen Gewalt ausgetragen werden sollten. Gerade der Akademiker muß es als hohe Verpflichtung sehen, Leidenschaften nationaler, politischer, religiöser, was auch immer Art, die ins Fanatische und damit ins Gefährliche sich zu entwickeln drohen, rechtzeitig als Verirrung der echten Humanitas zu erkennen und mutig zu bekämpfen. Die ungezählten Toten, die vor 20 Jahren auf den Schlachtfeldern, unter Bombenangriffen, aber auch (schwerst zu beklagende Verirrung) in menschlicher Entwürdigung in Konzentrationslagern, in rassischen, religiösen und sonstigen Verfolgungen aller Art ihr Leben geben mußten, müssen uns eine ständige Mahnung sein, daß gerade wir darüber zu wachen haben, daß die menschlichen Leidenschaften unter der Herrschaft des Geistes bleiben müssen […].39

Dass gerade geisteswissenschaftliche Forschungen die Ideologie des Faschismus unterlegte und belebte und naturwissenschaftliche Erfindungen Konzentrationslager und Bomben ermöglichten, ließ Fellinger unerwähnt. 36 37 38 39

Vgl. dazu: Gehler 1997, S. 355–414. Vgl. dazu: Kniefacz 2. 11. 2015. Universität Wien 1965, S. 4. Ebd., S.107.

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Doch nicht nur die Reden des Rektors zeugen vom österreichischen Zeitgeist der Nachkriegszeit, auch ein Blick auf die studentischen Beiträge zum Jubiläumsjahr lässt derartige Rückschlüsse zu. Zwar ist das aktive Einbringen der Studierenden in die Feierlichkeiten durchaus als progressiver Schritt zu deuten, als wichtiger und aktiver Teil der Universität anerkannt zu werden – besonders in Hinblick auf das vorangegangene Universitätsjubiläum 1865, bei dem Studierende unbeteiligt waren und die Feierlichkeiten aus Angst vor Studentenrevolten sogar eigens in den August verlegt worden waren.40 Dennoch zeigt sich in der konkreten Durchführung auch in der Studierendenvertretung die fehlende Geschichtsreflexion: Während sich in Ost- und Westdeutschland seit Beginn der 1960er Jahre die sogenannte 68er Bewegung kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzte, marschierte die Österreichische Hochschülerschaft gemeinsam mit Studentenverbindungen, »tragenden Säulen von Diktaturen«41 im 20. Jahrhundert, durch Wien. Auch das Geschenk an die Universität, in dem »alle ihre Lehrer« geehrt wurden – worunter auch die zahlreichen im Nationalsozialismus tätigen Lehrenden fallen, die trotz des Entnazifizierungsprogramms an der Universität Wien bereits nach wenigen Jahren wieder als Wissenschaftler beschäftigt waren –, belegt das Versäumnis der Aufarbeitung.

50 Jahre später – Die 650-Jahrfeier als Inszenierung der Universität Wien im neuen Licht Gegenüber 2015 nahm sich das 600-jährige Jubiläum der Universität Wien geradezu bescheiden aus. Das 650-jährige Bestehen der Universität wurde nicht an einigen wenigen Tagen zelebriert, sondern erstreckte sich über einen langen Zeitraum von acht Monaten: Von März bis Oktober wurde eine »akademische Großveranstaltung« zelebriert – einen solchen Trend beobachtete jedenfalls Markus Drüding in den vergangenen Jahren an verschiedenen Universitäten im deutschen Sprachraum.42 104 übers Jahr verteilte Ausstellungen und Events43 fanden in Wien statt, Institute und Fakultäten präsentierten sich der Öffentlichkeit, Künstlerinnen und Künstler wurden in den Arkadenhof des Hauptgebäudes eingeladen und mit ihren Werken eingelassen, Symphonien wurden aufgeführt, wissenschaftliche Tagungen abgehalten, Buchreihen und Festschriften erstellt, die erste internationale Universitäts-Ruderregatta wurde organisiert und sogar ein Jubiläumswein prämiert. Dem eigenen Anspruch nach 40 41 42 43

Kniefacz 30. 6. 2015. Weidinger 4. 11. 2015. Drüding 2014, S. 11. Universität Wien (Hg.): 650 Jahre, 2015, S. 9.

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war es Wunsch der Universität, so Rektor Heinz Engl im Vorwort des Programmheftes, durch vielfältige Aktivitäten »die Türen der Universität Wien weit [zu] öffnen und ungewohnte Einblicke in unseren universitären Alltag [zu] geben.«44 Konkret umgesetzt werden sollte dieser Anspruch durch verschiedene Programmpunkte wie den »650 offenen Türen« für Kinder und Familien, die ihnen 650 Mal die Möglichkeit gab, »Universitätsluft zu schnuppern«, zum Beispiel bei einer Kinderführung durch das Hauptgebäude und in Laboratorien45 oder dem »Open House« an verschiedenen Fakultäten und Instituten etwa an der Fakultät für Chemie46, Physik47 oder Philosophie48. Das Rektorat hatte ein eigenes Jubiläumsbüro eingerichtet, das die Aufgabe hatte, die an den Feierlichkeiten Beteiligten zu vernetzen und die Aktivitäten zu koordinieren. Es erließ für jubiläumsbezogene Veranstaltungen im Jubeljahr sogar ausnahmsweise die Raummiete. Außerdem fuhr 2015 eine im Logo des Universitätsjubiläums gestaltete Straßenbahngarnitur mit dem Jubiläumsslogan Wir stellen die Fragen. Seit 1365 durch Wien, und vor dem Universitätshauptgebäude legte eine Plakatwand mit wechselnden Motiven das abgebildete Motto des Jubiläums laufend neu aus.49 Ein eigener Internetauftritt auf Facebook, Twitter und Co. wurde eingerichtet,50 und für das international ausgestrahlte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker wurden Ballettszenen im Hauptgebäude gedreht.51 Das Jubiläum war ein regelrechtes Spektakel und Großereignis, an dem die Wiener Öffentlichkeit nicht vorbeisehen konnte und das in der Stadt vielfältig präsent war. In all dem wurde auch die zunehmende Ökonomisierung von Universität und Wissenschaft52 deutlich sichtbar. Die Eröffnungskonferenz UVIECON widmete sich so auch dem kompetitiv angelegten Thema »Global Universities and their Regional Impact«, die »den ökonomischen, volkswirtschaftlichen Auswirkungen [… nachspürte, BSL], aber auch soziokulturelle Einflüsse und kulturelle Impulse globaler Universitäten in ihrem regionalen Umfeld« in den Blick nahm.53 Auch in diesem Jahr war die auf den Ursprung von Jubiläen verweisende kirchliche Rahmung und Bestätigung ein fester Bestandteil des Jubiläums mit Einzug der universitären Würdenträgerinnen und -träger in den Stephansdom, 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Engl 2015, o.S. Universität Wien (Hg.): 1365–2015, 2015, S. 28. Ebd., S. 46. Ebd., S. 51. Ebd., S. 58. Ebd., S. 7. Ebd., S. 16. Universität Wien (Hg.): 1365–2015, 2015, S. 21. Vgl. dazu u. a. Weingart 2008, S. 477–484. Universität Wien (Hg.): 1365–2015, 2015, S. 13.

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Kranzniederlegung am Grab Rudolf des Stifters sowie dem Abhalten einer Vesper. Anders als bei vorherigen Feiern zeigte sich die Universität aber 2015 offener. So handelte es sich 2015 zum Beispiel um eine gemeinsame ökumenische Vesper von Vertretern der großen Glaubensrichtungen, deren Ansprache der evangelische Bischof Michael Bünker hielt, wobei sie weiterhin von katholischer Seite, namentlich von Kardinal Christoph Schönborn, geleitet wurde. Dieses Mal zog die Professorenschaft auch nicht schon vom Hauptgebäude aus im Talar bis zum Stephansdom und erschien auch nicht sämtlich in Amtskleidung: »Die Gestaltung der Feier wird die Pluralität und Vielfalt der Universität Wien, die sie heute prägen, sichtbar machen«54, lautete die Ankündigung. Im Ornat agierten bei dieser Vesper neben den Kirchenmännern die Dekane bzw. Dekaninnen sowie die Vertreter und Vertreterinnen des Rektorats. Auch in diesem Jahr unterstrichen die außeruniversitären Veranstaltungsorte – wie das Konzerthaus und Rathaus, die Österreichische Nationalbibliothek oder das Naturhistorische Museum – die beanspruchte Bedeutung der Universität Wien als die Hauptstadtuniversität. Den offiziellen Auftakt bildete ein Festakt am 12. März 2015 im Hauptgebäude der Universität mit Festadressen politischer und akademischer Prominenz, Musik sowie einem Festvortrag des schweizerisch-österreichischen Biochemikers Gottfried Schatz, der die Aufgabe der Universität wie folgt definierte: »Die Universität möge Menschen das Vertrauen in den eigenen Verstand geben und sie ermutigen, allgemein akzeptierte Dogmen und vorgefasste Meinungen zu hinterfragen. Sie soll ein Reinigungsbad sein, das von anerzogenen Vorurteilen befreit.«55 Wie gezeigt, manifestiert sich in derartigen Reden das jeweils zeitspezifische Verständnis von Wissenschaft, und es zeigen sich zwischen den Jubiläen 1965 und 2015 somit diesbezüglich eklatante Unterschiede. 1965 wurde noch häufig und implizit legitimierend der Begriff ›Wahrheit‹ verwendet. Im Unterschied zu Schatz’ zu Selbstkritik und Reflexion ermahnenden Worten hatte Rektor Fellinger 1965 in einer Rede beim großen Festakt in der Stadthalle noch verlautbaren lassen: »Wir bekennen uns zu unserer Universität als S t ä t t e d e r W a h r h e i t [Hervorhebung im Originaltext, BSL] im Sinne der Forschung, also der Suche nach dieser, und im Sinne der Lehre, der Weitergabe der erkannten Wahrheit an die Jugend«,56 und auch Kardinal Franz König erklärte in seiner Festpredigt, dass »[d]er Wahrheit durch den Geist zu dienen, die Erforschung und die Vermittlung der Wahrheit das Ziel und Aufgabe der Wissenschaft, […] Ziel und Aufgabe der Universität«57 sei. 54 55 56 57

Ebd., S. 12. Schatz: Universitäten, S. 1. Vgl. Universität Wien 1965, S. 67. Ebd., S. 8.

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In mehrerer Hinsicht unterschied sich die jüngste Jubiläumsfeier von der vorausgehenden. Insofern könnte dies als zaghafter Gegenbeleg für die Aussage Michael Mitterauers (1998) gelten, demzufolge Jubiläen Veränderungsprozesse vernachlässigten und zur Identifikation mit vergangenen Ereignissen, Zuständen und Personen tendierten.58 Obwohl selbstverständlich auch 2015 vergangene Ereignisse und Personen eine zentrale Rolle spielten, suchte sich die Universität Wien nunmehr nicht nur in Umfang und Ausmaß, sondern auch mit den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen in einem neuen Licht zu präsentieren und von bisherigen Versäumnissen abzugrenzen. Markant zeigte sich dies im Bemühen, Genderfragen nunmehr stark in die Aktivitäten und Reflexionen einzubeziehen. Endlich hatte die Universität Wien auch Frauen als Akteurinnen universitären Lebens und akademischer Wissensgenerierung entdeckt und sie in zahlreichen Veranstaltungen in den Fokus rücken lassen. So findet sich in der Programmübersicht zum Jubiläum bereits im Inhaltsverzeichnis neben »Ausstellung & Open House« oder »Vortrag & Symposium« der Programmpunkt »Gendergerechtigkeit«, der unterschiedliche Formate zu einer inhaltlichen Thematik zusammenfasst.59 Teil dieses Schwerpunktes war etwa die Ausstellung Radical Busts der Künstlerin Marianne Maderna, die skulpturale Porträts von 33 bedeutenden Frauen den Männerbüsten im Arkadenhof gegenüberstellte.60 Dennoch blieb am Ende auch diese Aktion eine Intervention, die zeitlich beschränkt war und Frauen keineswegs nachhaltig im Innenhof des Hauptgebäudes sichtbarer machte. Ein weiterer Schwerpunkt war die dieses Mal explizit gewünschte »Aufarbeitung der Universitätsgeschichte des 20. Jahrhundert«61. 70 Jahre nach Kriegsende wurde vor allem ihr Raum und Bedeutung gegeben und so unter anderem die Wanderausstellung Bedrohte Intelligenz. Von der Polarisierung und Einschüchterung bis zur nationalsozialistischen Vertreibung und Vernichtung ins Leben gerufen. Daneben fand ein Symposium zur »Erneuerung der christlich-jüdischen Beziehung«62 unter dem Titel Neues Licht in einer dunklen Tradition statt. Auch in der vierteiligen Buchreihe 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert63, die 2015 – koordiniert durch das Forum Zeitgeschichte der Universität Wien – erschien, kommt die kritische Auseinandersetzung mit nationalsozialistisch ausgerichteten Personen, Positionen und Ak-

58 59 60 61 62 63

Vgl. Mitterauer 1998. Universität Wien (Hg.): 1365–2015, 2015, S. 102–115. Ebd., S. 106. Universität Wien (Hg.): 650 Jahre, 2015, S. 27. Universität Wien (Hg.): 1365–2015, 2015, S. 61. Stadler 2015.

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tionen ebenso wie auf der im Jubiläumsjahr eingerichteten Homepage zur Geschichte der Universität Wien64 verschiedentlich zum Ausdruck. Durch die Themen, Veranstaltungstypen und -orte wird ein Bild der Universität zu korrigieren versucht und Bedeutung gestiftet. Auch durch die Einladung von in- und ausländischen Honoratiorinnen und Honoratioren als Gäste und besonders als Festrednerinnen und Festredner wird Rang und Bedeutung hergestellt.65 Zumal in einer wettbewerbsorientierten Zeit und Gesellschaft wie unserer66 und einer streng hierarchisch aufgebauten Institution wie der Universität hat die demonstrative Zurschaustellung von Netzen und Namen Belang. Dahingehend lässt sich vielleicht auch die im Zuge des 650-jährigen Jubiläums erstmals veranstaltete internationale Ruderregatta verstehen, die an das jährlich stattfindende Boat Race zwischen den beiden renommierten67 britischen Universitäten Cambridge und Oxford erinnert– beide Universitäten schickten übrigens auch eigene Teams zur Wiener Regatta an die Neue Donau.68 Durch all diese Aktionen und Anlässe wird ein Image produziert und Wirk- bzw. Streukraft dokumentiert.

Vom Erinnern und Vergessen – Doing University by Doing History Nicht zuletzt der Jubiläumsforscher und Historiker Winfried Müller hat auf die Geschichte produzierende Relevanz von Jubiläen hingewiesen. Dem praxeologischen Geschichtsverständnis (›Doing History‹) zufolge schaffen Jubiläen eine verbindliche Interpretation der Vergangenheit und bewirken eine Marginalisierung konkurrierender Denkmuster.69 Jubiläen sind eine besondere Gelegenheit zur wissenschaftlichen Aufarbeitung und vor allem zur Konstruktion der Universitätsgeschichte, zur Universitätsgeschichtsschreibung also. Universitäten stellen zu derartigen Anlässen viel und mehr Geld als für unabhängige Universitätsgeschichtsforschung bereit,70 was auch die zahlreichen Konferenzen, Ausstellungen und Publikationen, die rund um das 650-jährige Universitätsjubiläum veranstaltet und gefördert wurden, belegen. Jubiläen sind Bestandteil und Ergebnis von Erinnerungskultur und damit immer zeitspezifisch. Sie sind Belege eines historisch gebundenen Erinnerns Universität Wien (Hg.): 650 Jahre, 2015. Roth 2000, S. 9. Tauschek 2013. Beide Universitäten finden sich auf dem Hochschulranking der Organisation »Times Higher Education« unter den Top 4. Vgl. Times Higher Education 2015. 68 Universität Wien (Hg.): 1365–2015, 2015, S. 127. 69 Müller 2004, S. 2f. 70 Müller 1998, S. 92f.

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und Vergessens, das eine aussagekräftige Quelle zur Zeit- und Gesellschaftsanalyse bereitstellt. Das jüngste Bemühen um Sichtbarmachung von Frauen an der Universität Wien und der Ausgrenzung und Verdrängung ungewünschter Personen zeugt von dem Wunsch, ein selbstkritisches und zeitgemäßes Bild der eigenen Institution zu präsentieren, auch wenn eine solche Perspektive international überfällig war und längst selbstverständlich hätte sein sollen. Die Universität sucht(e) sich als »jung, innovativ und vielfältig«71, als Einrichtung »in Bewegung«72 und »weltweit vernetzt«73 zu zeigen und sich Bedeutung zu schaffen als eine der ältesten und größten Universitäten Europas, wie es immer wieder heißt. Dass die in hohem Maße – nach dem letzten Universitätsgesetz sogar wieder vermehrt – hierarchisch strukturierte und funktionierende Institution damit noch lange nicht zum demokratisch-egalitären Wissensbetrieb geriert und durchaus widersprüchliche Botschaften der Bedeutungsstiftung zu verzeichnen waren, zeigt wiederum schon das Jubiläum. So wurde das Programmheft nur an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschickt, wurde der offizielle Eröffnungsakt zwar für »möglichst viele MitarbeiterInnen und Studierende«74 live übertragen, von der eigentlichen Feier blieben sie aber ausgeschlossen, ganz zu schweigen von anhaltender Geschlechter-Ungleichheitspolitik im universitären Arbeitsalltag. Und nur marginal waren Studierende in die pompösen Jubiläumsfeiern eingebunden, wurden hierzu ›unpassende‹ Statusgruppen von einzelnen Festakten ausgeschlossen und studentische Initiativen kaum unterstützt, wie besonders Vertreterinnen und Vertreter der ÖH kritisierten, aber auch Studierende mit wissenschaftlichen Beitragsangeboten zum Jubiläum erfuhren.75 Ähnlich gefiltert waren die Feiernden: Für die verschiedenen Standesgruppen wurden je eigene Feste initiiert – ein Fest für Studierende, ein Fest für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder das Campus-Festival für Schülerinnen und Schüler bzw. Kinder. Die klar nach Standesgruppen getrennten Feste bestätigten einmal mehr gerade mit dieser Denomination die hierarchische Struktur der Institution Universität. Mögen die zahlreichen Anlässe der Begegnung, des Feierns und der Selbstthematisierung für viele MitUniversität Wien (Hg.): 650 Jahre, 2015, S. 11. Ebd., S. 19. Ebd. S. 41. Heinz W. Engl. Zit. n.: Universität Wien: Universität Wien feiert heute ihren 650. Gründungstag (12. 3. 2015). In: Universität Wien. Medienportal. URL: http://medienportal.univie. ac.at/presse/aktuelle-pressemeldungen/detailansicht/artikel/universitaet-wien-feiert-heuteihren-650-gruendungstag/ [22. 1. 2016]. 75 Im Rahmen eines Studienprojektes organisierten Studierende am Institut für Europäische Ethnologie zum Auftakt der Jubiläumsfeiern im März 2015 eine reflexiv auf das akademische Feld ausgerichtete Tagung zum Thema ›Doing University‹, die nicht in den Genuss der Förderung seitens des Rektorats kam und für die nur äußerst mühsam Gelder akquiriert werden konnten.

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arbeiterinnen und Mitarbeiter und speziell für die häufig agierenden Funktionsträgerinnen und -träger das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit wie die Bedeutung gestärkt haben, so fühlten sich andere umso mehr ausgeschlossen und äußerten sich kritisch über die anhaltende Feierfreudigkeit. So erschafft und präsentiert sich die Universität auch in der Gegenwart nicht zuletzt über Jubiläumsfeiern als sozial geschichtete, hierarchische Einrichtung, die sich nach innen und außen spezifische Bedeutung und Sinn stiftet.

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Veit Damm

Wirtschaft und Kultur im Kaiserreich – Systematische Überlegungen am Beispiel der Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen*

Als die Deutsche Bank 1880 mit dem zehnjährigen Stiftungsfest ihr erstes Jubiläum beging, standen nicht Vergangenheit und Rückschau, sondern Fortbestand und Zukunftsfähigkeit im Mittelpunkt des Festes. Angestellte und Direktion versicherten sich gegenseitig der Stabilität der Arbeitsbeziehungen und der Loyalität zum Unternehmen. Alle 270 Angehörigen der Berliner Zentrale feierten gemeinsam im unternehmensinternen Kreis. Vorstandssprecher Georg Siemens betonte das »gegenseitige Vertrauen« zwischen Direktion und Angestellten: »Es wisse ja ein Jeder, so Siemens, daß ein treuer Beamter mit dem Gedeihen der Bank auch selbst empor komme und dort seine gesicherte Zukunft habe«.1 Zugleich konstruierte er den typischen Mythos vom Unternehmensaufstieg: Bescheiden – »ohne Geld, ohne Wohnung und ohne Geschäfte« – habe die Bank angefangen mit nur »zwei Direktoren, ein[em] Kommis und ein[em] Kassenbote[n]«. Fortwährend sei das Haus »trotz aller Stürme« unter Führung der Direktion »im Ochsenschritt ruhig fortgegangen und groß geworden«. Dies sollte auch Motivation für den weiteren Weg der Bank sein. Ein eigens für den Anlass komponierter »Jubiläums Marsch« betonte den im Raum schwebenden Optimismus.2 »Lasst rüstig weiter wirken uns und schaffen!«, – so eine Erinnerung – sei das Motto für die Zukunft gewesen.3 15 Jahre später – im Jahr des 25-jährigen Jubiläums – hatten sich die Rahmenbedingungen für die Jubiläumsfeier gewandelt. Die Zahl der Mitarbeiter war auf über 1.000 gestiegen, die Arbeitsbeziehungen waren unpersönlicher ge-

* Der Aufsatz beruht im Wesentlichen auf den Ergebnissen meiner Dissertation: Damm, Veit, Selbstrepräsentation und Imagebildung. Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Leipzig 2007. 1 Zitate auch im Folgenden nach Helfferich, S. 293f. 2 Kuntze, W., Jubiläums Marsch zum 10 Jährigen Stiftungsfeste der Deutschen Bank, Berlin o. J. [1880]. Archiv des Historischen Instituts der Deutschen Bank Frankfurt/M. (HADB) J 1742. 3 Deutsche Bank 1870–1895. Zum 6. April 1895, o. O. o. J. [Berlin 1895], S. 3.

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worden und auswärtige Gäste und die Presse in die Festlichkeiten eingebunden.4 Das lockere Fest wich einer streng geordneten Zeremonie. In »officieller« und »ernster« Atmosphäre5 gratulierte ein Prokurist als Vertreter für die Mitarbeiter den Direktoren zum Jubiläum und überreichte Glückwunschkarten, die feierlich verlesen wurden. Die Angestellten dankten den Direktoren dafür, dass sich die Bank in dem Vierteljahrhundert unter ihrer Führung »so prächtig und kraftvoll« entwickelt habe. Diese wiesen die Ehrungen »bescheiden« zurück und machten im Gegenzug die Angestellten und die Filialen für das »Emporblühen« des Instituts verantwortlich. Am Abend versammelten sich alle Unternehmensangehörigen, Pressevertreter und Gäste zu einem Jubiläumsfest in der Berliner Philharmonie. Bei der Bewirtung wurde dezidiert Bescheidenheit demonstriert. Alle erhielten dasselbe »einfache Mahl und ein einfaches Glas Bier«. Allegorien und Gedichte in der Festzeitung verliehen der Hoffnung auf eine rosige Zukunft der Bank Ausdruck, die auch in den Presseberichten ihren Ausdruck fand. Die Zeitungen berichteten nicht nur über die »familiaire« Atmosphäre bei der Jubiläumsfeier, sondern lobten auch die »Energie und Ausdauer«6 der Direktion. Für »die folgenden 25 Jahre« – schrieb die Berliner Börsenzeitung in Anlehnung an von der Bank zum Jubiläum veröffentlichte Materialien – hätten die Ergebnisse des ersten Vierteljahrhunderts so eine »breite, feste Basis« geschaffen.7

I Jubiläen – seien es Gründungsfeiern oder Mitarbeiterehrungen für langjährige »Diensttreue« – suggerieren durch ihre ritualisierte, in regelmäßigen Zeitintervallen erfolgende Inszenierung Stabilität und Zukunftsfähigkeit des sie adaptierenden Unternehmens.8 Damit sind kulturelle Praktiken und Kommunikationstechniken angesprochen, die nicht so recht zu den ökonomischen Leitbildern von Gewinnmaximierung und Kostenminimierung zu passen scheinen. Wohl auch deshalb wurden diese Phänomene von der Unternehmensgeschichte lange Zeit weit weniger beachtet als Produktionsmittel, technische Entwicklungen sowie allgemein die mathematisch operationalisierbaren Größen des Erfolgs von wirtschaftlichen Kooperationen. Dies hat dazu geführt, dass wir nur wenig über menschliches Verhalten sowie kulturelle und kommunikative Handlungsformen 4 1894 beschäftigte die Bank erstmals mehr als 1.000 Angestellte. Vgl. Fuchs1910, S. 866. Die Zahl bezieht sich auf das gesamte Unternehmen mit Filialen und Tochterfirmen. 5 Soweit nicht anders gekennzeichnet, alle Zitate in diesem Absatz nach Berliner Lokal-Anzeiger vom 7. April 1895. 6 Berliner Börsen-Zeitung vom 5. April 1895. 7 Ebd. 8 Vgl. grundlegend zum Begriff des »Jubiläums«: Müller 2004, S. 1–75.

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in der historischen Unternehmenswelt wissen – ein Themenkomplex, der allerdings derzeit in der Forschung auf ein enormes Interesse stößt. Denn verstärkt treten Zweifel darüber auf, dass die so genannten harten Faktoren die einzigen Aspekte sind, die über die Leistung von Wirtschaftsbetrieben und das Entscheidungsverhalten ihres Managements entscheiden. Kommunikationsphänomene geraten verstärkt in den Fokus der Forschung.9 So wird nun etwa ebenfalls dem Unternehmensimage, der Vertrauenswürdigkeit und der Darstellung der Tradition einer Firma auf dem Markt, in der Öffentlichkeit und bei den Mitarbeitern ein großer Stellenwert für den Unternehmenserfolg eingeräumt.10 Neueren Ansätzen zufolge schaffen sie Orientierung, stiften Sicherheit auf einem unübersichtlichen und risikoreichen Markt und tragen so zur Stabilisierung und Legitimierung von Unternehmen bei.11 Da die Generierung von Image und Vertrauen in kommunikativen Akten und symbolischen Handlungen erfolgt, sind diese zweifellos ein legitimer und außerordentlich interessanter Forschungsgegenstand für die Unternehmensgeschichte, besonders für den Zeitraum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als der ›Besitz‹ von Vertrauen zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor wurde. Im Zuge von Industrialisierung und entstehender Wettbewerbswirtschaft erlebten Unternehmen und der Markt, auf dem sie sich bewegten, einen gravierenden Wandel ihrer Rahmenbedingungen oder anders: ihrer institutionellen Arrangements.12 Traditionelle Regelsysteme und gemeinsame Geschäftspraktiken verloren zunehmend an Verbindlichkeit, gewohnte Abläufe wurden gestört und Vorhersehbarkeiten eingeschränkt. Dadurch entstanden neuartige Risiken; jüngst ist diesbezüglich sogar von einer »Eskalation der Unsicherheit« gesprochen worden.13 Symbolische Mittel der Vertrauensgenese erhielten eine große Bedeutung für den Markterfolg von Firmen. Zu ihnen zählen Theoretiker der Unternehmenskultur14 auch die mit Jubiläen verbundenen Maßnahmen wie Festinszenierungen, historische Selbstbeschreibungen,15 wohltätige Stiftungen oder Mitarbeitergratifikationen. In welchem Verhältnis die Ausbreitung von Jubiläumsinszenierungen in jener Zeit zu der angedeuteten Entwicklung während der Zeit des Deutschen Kaiserreichs stand, ist die zentrale Frage des vorliegenden Aufsatzes. Zur Erhellung des Problems sollen am Beispiel von Banken und Versicherungen die verschiedenen Funktionen von Jahrestagsbegehungen

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Vgl. Wischermann 2000, S. 35–48. Vgl. etwa Fiedler 2001, S. 576–592; Berghoff 2004. S. 143–168. Vgl. Argenti 2003; Bruhn 1992; Schug 2003. Vgl. Nieberding / Wischermann 2004. Berghoff 2004, S. 147. Vgl. Olins 1990; Ouchi 1982; Bonus 2000, S. 17–29. Zum Begriff vgl. Melville / Vorländer 2002, S. V.

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in Unternehmen in ihrer spezifischen geschichtlichen Ausprägung definiert und voneinander abgegrenzt werden.

II Die ersten in der deutschen Unternehmenswelt bekannten Jubiläumsfestschriften stammen aus der Bank- und Versicherungsbranche. Auch Festakte anlässlich von Geschäftsjubiläen waren vergleichsweise früh bekannt. Im Jahr 1819 feierte die Hamburger Bank ihr 200-jähriges Bestehen;16 1828 beging die Versicherung »Hamburgische allgemeine Versorgungsanstalt« ihr 50-jähriges Jubiläum mit einem Fest;17 die Hamburger Creditkasse gab zum Tag des 50jährigen Bestehens im Jahr 1832 Gedenkmünzen heraus.18 Allerdings handelte es sich bei den unternehmerischen Jubiläumsfeiern im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch um eine lokale Besonderheit.19 Die generelle Ausbreitung in den deutschen Staaten begann erst nach 1850. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der ersten größeren unternehmensgeschichtlichen Abhandlungen mit Bezug zu einem runden Jahrestag. Hier hatte das Bankwesen eine Pionierrolle inne. Die Preußische Bank (später Königliche Bank) publizierte 1854 einen historischen Abriss über die ersten 80 Jahre ihres Bestehens (1765–1845). In den 1880er Jahren erschienen dann Festschriften der Bremer Bank, der Leipziger Bank, der Ostpreußischen Landschaft in Königsberg, der Landesrentenbank im Königreiche Sachsen, der Deutschen Hypothekenbank in Meiningen, der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank in München und des Bankhauses F. F. Fetschow & Co. in Berlin.20 Das Aufkommen von Jubiläumsfestschriften in Banken und Versicherungen korrespondierte mit einer allgemeinen Ausbreitung von Jubiläen im 19. Jahrhundert. In nahezu allen gesellschaftlichen Institutionen – Kirche, Monarchie, Kommunen und selbst in den Familien – setzte eine wahre Euphorie für runde Jahrestage ein.21 Unternehmer waren von der Kenntnis der Vielzahl von Jubiläumskulturen in immer breiteren Teilen der Bevölkerung nicht ausgeschlossen. Der Anlass runder Jahrestage war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu 16 Vgl. Soltau 1819. 17 Vgl. Die Feyer der funfzigjährigen Dauer der Hamburgischen allgemeinen Versorgungsanstalt am 2. August 1828, Hamburg 1828; Koch 1986; Kuhn / Zerbst 1990. 18 Vgl. die Abbildung der Münze in: Westfälische Privatsammlung im Spiegel der Kulturgeschichte, Köln 1980, S. 2524. 19 Möglicherweise wurden in Staatsbetrieben bzw. Manufakturen schon früher Jubiläen begangen. So ist im Museum der Porzellan-Manufaktur Meissen ein Schmuck-Teller ausgestellt, der vermutlich auf das 50-jährige Bestehen des Betriebs im Jahr 1760 hinweist. 20 Redlich 1974, S. 10–13. 21 Vgl. Müller 2004; Münch 2005; Tsimbaev 2004, S. 75–107; Mergen 2005.

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einer Konvention geworden. Parallel gab es vor allem in den Industriegebieten eine Zunahme von Geburtstagsfeiern, die möglicherweise die Bereitschaft erhöhte, ein Firmenjubiläum zu feiern.22 Es wurde nicht nur erwartet, sondern entsprach nun auch dem Selbstverständnis der Menschen, einen solchen Tag nicht ungenutzt vorüberziehen zu lassen.23 Auch Unternehmen begannen nun damit, ihre eigene Geschichte jubiläumszyklisch zu inszenieren. Die frühesten Beispiele sind die eingangs genannten Jubelfeiern von Hamburger Banken und Versicherungen. Erste Dienstjubiläen wurden in den 1860er Jahren registriert.24 Jubiläumsfeiern in der Unternehmenswelt waren allerdings kein spezifisch deutsches Phänomen. Auch in anderen industrialisierten Ländern wie in England oder den USA feierten Firmen nun ihre Jahrestage, so zum Beispiel die Carolina Savings Bank of Charleston am 2. Mai 1874 ihr 32-jähriges Bestehen.25 Die Einführung von Jubiläen in Unternehmen folgte somit dem Zeitgeschmack, dem – wenn man so will – internationalen »Jubiläumsfieber« im 19. und frühen 20. Jahrhundert.26 Zugleich entstanden historische Jubiläumsfestschriften, vermehrt seit den 1880er Jahren. Es bildete sich eine spezifische Darstellungsform der eigenen Geschichte heraus. Serge Paquier nimmt an, dass die universitäre Historiographie die Festschriften inspirierte. As far as I am informed, I would argue that the German model of Festschriften is closely linked to the German historical school which apply its empirical approach to the industrial firms. The companies are considered as a key factor to understand better the process of economic and social development. So German universities produce studies and thesis on the development of firms and sector of activities. These works often preceded the edition of a Festschrift by a company.27

Diese These ist jedoch problematisch, auch wenn für die Zeit vor 1914 ein Fall bekannt ist, in dem ein Akademiker Festschriften für Unternehmen verfasste. Conrad Matschoß (1871–1942, Professor für Geschichte der Technik an der TU Berlin) erstellte verschiedene Jubiläumspublikationen für industrielle Unter22 Vgl. Linder 1991, S. 243 Anm. 12. 23 Dies zeigt auch die im Untersuchungszeitraum einsetzende literarische Verarbeitung des Themas »Firmenjubiläum«, zum Beispiel im Werk von Thomas Mann und Gustav Freytag. So heißt es in Manns 1901 erschienenem Roman »Die Buddenbrooks« in einem Dialog über eine anstehende Hundertjahrfeier : »Es [wäre] eine Schande, das hundertjährige Jubiläum der Firma ›Johann Buddenbrook‹ sang- und klanglos vorübergehen zu lassen«. Mann 1979, S. 423. Zur Jubiläumsbeschreibung Freytags im Roman »Soll und Haben« vgl. Freytag 1855, S. 239 und 253. 24 Vgl. Hausarchiv des Bankhauses Sal. Oppenheim jr. & Cie. Köln (HBO) A II / 253; KöhleHezinger 1993, S. 233–250. 25 Vgl. Chase 1990, S. 133; Richards 1991. 26 Vgl. Tsimbaev 2004. 27 Paquier 2005, S. 1.

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nehmen, unter anderem zum 25-jährigen Bestehen der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft AEG (1909), war dabei allerdings besonders von technischen Interessen geleitet.28 Für den Bankbereich ist ein vergleichbares Beispiel erst für das Jahr 1922 bekannt, als der Wirtschaftshistoriker Walter Däbritz (1881–1963, Privatdozent in Köln) für die Essener Credit-Anstalt eine Festschrift verfasste. Da die ersten Festschriften privater Banken, wie oben erwähnt, bereits in den 1880er Jahren erschienen, die ersten unternehmenshistorischen Studien aber erst nach 1900,29 ist es unwahrscheinlich, dass von der universitären Geschichte eine Initialwirkung ausging. Paquier belegt seine These dann auch mit Beispielen aus den 1910er und 1920er Jahren. Für das Bank- und Versicherungswesen konnte auch nicht festgestellt werden, dass in den Festschriften auf Werke von universitären Historikern verwiesen wurde. Zudem ist zu Recht eingewandt worden, dass Festschriften überhaupt nicht den Anspruch erhoben, wissenschaftlich ausgewogene Darstellungen zu liefern.30 Neuerdings sind sie daher eher in den Bereich der Kommunikationsphänomene von Unternehmen eingeordnet worden. Diese Perspektive wird auch an dieser Stelle vertreten. Angesichts neuer Anforderungen an die interne und externe Unternehmenskommunikation wurden Darstellungen der Firmengeschichte in Festschriften vor allem dazu eingesetzt, die Geschäftsgrundlagen des Unternehmens zu legitimieren. Die Entstehung und Ausbreitung einer Jubiläumskultur in Banken und Versicherungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel wie bereits angedeutet in eine Zeit, in der die Unternehmen und die Märkte, auf denen sie sich bewegten, einen tiefgreifenden Wandel erlebten. Aufgrund zunehmender Verwissenschaftlichung, Internationalisierung, wirtschaftlicher Spezialisierung und Arbeitsteilung veränderten sich die Anforderungen an die Organisation der Unternehmen und die Interaktion der Menschen im Betrieb und auf dem Markt. In die daraus resultierenden Folgen für die Kommunikation der Unternehmen waren vor allem die Jubiläumsaktivitäten eingebunden, neben Festschriften auch gemeinsame Feiern und Gratifikationen.

III Wie eingangs am Beispiel der Deutschen Bank gezeigt, waren gemeinsame Feiern von Beschäftigten und Unternehmensleitungen ein Merkmal der Jahrestagsbegehung in der Unternehmenswelt. Hinzu kamen häufig noch Zuwendungen der Unternehmen an die Angestellten. So erhielten beim 150-jährigen 28 Festschrift Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft AEG 1909. 29 Vgl. Pierenkemper 2000, S. 32f. 30 Vgl. Linder 1991.

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Jubiläum des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne in Elberfeld 1904 alle Teilnehmer zum bleibenden Andenken an die Feier eine bronzene Denkmünze, auf der die Jahreszahlen 1754–1904 eingeprägt waren. Die Geschäftsinhaber überwiesen den Angestellten zudem »Ehrengaben in Form erheblicher Geldbeträge«.31 Bei der Leipziger Bank »Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt (ADCA)« erhielten die Angestellten zum 50-jährigen Bestehen 1906 als Jubiläumsgabe ein dreifaches Monatsgehalt.32 Aufgrund der Seltenheit und Außeralltäglichkeit eines Jubiläums war die Feier ohnehin schon eine Besonderheit, durch die zusätzlichen Gaben und das Fest wurde versucht, den Augenblick weiter zu erhöhen. Die Feier verdeutlichte dem Einzelnen die Inklusion in die Gruppe der Unternehmensangehörigen und besonders das gemeinsame Essen entfaltete eine emotional-bindende Wirkung. Das gesellige Beisammensein begünstigte zudem die Integration von neuen Angestellten in expandierenden Unternehmen. Weiter bot der Jubiläumsanlass Gelegenheit, stolz auf die gemeinsame geleistete Arbeit zurückzublicken. Die Zugehörigkeit zu einer angesehenen Firma war für viele Angestellte, die ihren – im Vergleich zur Arbeiterschaft – höheren sozialen Status wesentlich aus ihrer beruflichen Stellung ableiteten, ein zentrales sinnstiftendes Moment im Alltag. Das gemeinsame Fest sollte vor allem in größeren Banken und Versicherungen ermöglichen, das Unternehmen als eigenständige menschliche Gruppe zu visualisieren. In Firmen mit hunderten deutschlandweit verstreuten Mitarbeitern existierte das Unternehmen nur noch als abstrakte Einheit und entsprechend ging das Bewusstsein, eine Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Ziel zu sein, schnell verloren. Wachsende Anonymität konnte negative Auswirkungen auf die Zufriedenheit des Einzelnen haben. Die Inklusion in den Kollegenkreis war oftmals ein wichtiger sinnstiftender Bestandteil des Arbeitslebens.33 Mangelnder Zusammenhalt konnte aber auch dem gesamten Unternehmen schaden, zum Beispiel wenn Verkaufs- und Verwaltungspersonal aus jeweiligem Eigeninteresse gewissermaßen gegeneinander arbeiteten. Ein typisches Problem war zum Beispiel im Versicherungswesen, dass Agenten einen Teil ihrer Prämie als ›Werbegeschenk‹ an die Kunden abgaben und dabei die Policen unter Kostendeckung verkauften, was einen erheblichen Preisdruck auf die Unternehmen auslöste.34 Bei Banken stellte die immer wieder auftretende Veruntreuung von Geldern durch Mitarbeiter ein großes Problem dar. Insgesamt wuchs bei geringer Identifikation der Mitarbeiter mit der Firma die Gefahr von unternehmensschädigendem Verhalten. Kollektive Feste machten das abstrakte Unter31 32 33 34

Elberfelder Zeitung vom 30. September 1904. Vgl. Facius 1922, S. 156. Vgl. Sennett 2000, S. 431–446. Vgl. Arps 1965, S. 390.

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nehmen als Gemeinschaft erfahrbar, verdeutlichten dem Einzelnen seine Zugehörigkeit zur Gruppe und zelebrierten die Loyalität zum Unternehmen als Wert und Erwartung. Wichtigste Elemente bei der Inszenierung der Gruppenverbundenheit waren dabei Gegenseitigkeitsrituale wie der Austausch von »Dankadressen« und Geschenken zwischen Management und Angestellten. Sie waren in allen untersuchten Festbeschreibungen zu finden. Beim 25-jährigen Jubiläum der BergischMärkischen Bank in Elberfeld 1896 sammelten die Angestellten Geld für ein Selbstporträt des Vorstandssprechers, das in der Bank aufgehängt werden sollte. Dabei wurde ausdrücklich betont, dass es sich um eine freiwillige Gabe für den »ersten Direktor« handele, was den Charakter als ›echte‹ Wertschätzung unterstreichen sollte. »Ohne irgendwelche Anregung seitens der Direktion [ist] aus dem Kreise der Beamten und Angestellten der Wunsch […] realisiert worden, der Verehrung für den ersten Chef ein sichtbares Zeichen zu geben«.35 Im Gegenzug versuchte das Management, Dankbarkeit gegenüber den Leistungen der Angestellten zum Ausdruck zu bringen. Der Vorsitzende des Verwaltungsrats sagte metaphorisch, »der beste Obergeneral vermöge nichts ohne ein gutes Offizierkorps […] Er stelle es mit Genugthuung fest, daß dem ersten Direktor stets intelligente und pflichttreue Kollegen und eine Gruppe ausgezeichneter Beamter zur Seite gestanden haben«.36 Zur materiellen Symbolisierung der Anerkennung wurden an alle Angestellten »Aufmerksamkeiten« verteilt. Andere Beispiele zeigen ebenfalls die Darstellung von Reziprozität. Zum 25jährigen Jubiläum des A. Schaaffhausen’schen Bankvereins in Köln 1873 lud das Management die Angestellten zu einem gemeinsamen »Souper« in ein Restaurant ein.37 Die Beschäftigten hatten den Direktoren zuvor an der Frontseite des Bankgebäudes vor »begeistert« einstimmender »Volksmenge« ein Ständchen mit den anschließenden obligatorischen »Hochs« dargebracht und das Jubiläumsereignis sichtbar gemacht, indem sie einen Fackelzug bildeten und durch die Straßen zogen.38 Bemerkenswert ist, dass diese Feier im öffentlichen Raum in 35 Elberfelder Zeitung vom 8. Dezember 1896. Auch im Folgenden. 36 Auch die Festschrift betonte: »Daß die Bank […] die materiellen Erfolge erzielte und von dem Vertrauen weitester Kreise getragen ist, verdankt sie der ernsten zielbewussten und uneigennützigen Arbeit ihrer Beamten«. Festschrift Bergisch Märkische Bank 1871–1896. Denkschrift aus Anlass des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Bergisch Märkischen Bank in Elberfeld, Elberfeld 1896, S. 14. 37 Kölnische Volkszeitung vom 28. August 1873. Das Fest oder gemeinsame Essen wurde von zeitgenössischen Autoren und von den Unternehmensleitungen häufig als ›Gegengabe‹ für den Fleiß und die gute Zusammenarbeit in der Vergangenheit aufgefasst. Paul Mieck sieht etwa in Betriebsfesten vor allem eine Wohltätigkeit gegenüber den Beschäftigten. Vgl. Mieck 1904. 38 Der Fackelzug zur Ehrung von Unternehmen und Direktoren war auch in anderen Branchen bekannt. Vgl. Nieberding 2003, S. 249.

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dieser Untersuchung einen Einzelfall bildete, sich also offenbar nicht durchsetzte. Alle anderen Feste wurden in die Verwaltungsgebäude der Unternehmen oder in gemietete Räume hinein verlegt. So erhielten Direktoren anlässlich ihrer Dienstjubiläen in den 1890er Jahren zwar auch noch Ständchen in Form von Chorgesängen, aber die Feiern wurden nun in den geschmückten Räumen der Zentralen abgehalten und nicht davor. Dabei handelte es sich offensichtlich um Sicherheitsvorkehrungen, da aufgrund der vielfältigen Anfeindungen gegen die Unternehmen39 Störungen gefürchtet werden mussten. In anderen Branchen wurde hingegen das Fest im städtischen Raum weiter gepflegt. So feierte die Firma Fried. Krupp ihr 100-jähriges Bestehen mit einem Umzug durch die Stadt Essen.40 Im Bank- und Versicherungswesen war die Öffentlichkeit im Untersuchungszeitraum von den gemeinsamen Feiern und Gegenseitigkeitsritualen von Angestellten und Management ausgeschlossen oder erfuhr davon nur durch Zeitungsberichte oder Erzählungen. Dadurch nahm die Abgrenzung nach außen zu; das Unternehmen wurde als eigenständige Gruppe dargestellt, in der eigene – von der außerbetrieblichen Welt verschiedene – Regeln galten. Diese Regeln wurden als Eigenmerkmale auch bei den gemeinsamen Feiern abgebildet, sie bestanden zum Beispiel in hierarchischen Unterschieden, das heißt der Frage, wer die Deutungshoheit in wichtigen Fragen besaß. Das Management beanspruchte hier die Autorität, die es in gemeinsamen Feiern zu untermauern suchte. Beispiele dafür sind etwa die Dienstjubiläen von Direktoren bei der Deutschen Bank, wo sich diejenigen selbst feierten, denen ein außergewöhnlicher Aufstieg in der Rangordnung des Unternehmens gelungen war. Als Ausweis ihrer herausgehobenen sozialen Stellung in der Bank ließen sie sich von den Kollegen beglückwünschen und beschenken und veranstalteten opulente Feste für die anderen Angestellten. Ein besonderes Beispiel ist das Dienstjubiläum des Deutsche-Bank-Direktors Paul Mankiewitz, der 1.500 Beamte zu einem Fest in eine extra angemietete Berliner Lokalität einlud. Noch stärkere patriarchalische Züge trug das Festengagement der Direktoren und Mitinhaber der Berliner Disconto-Gesellschaft. Sie richteten anlässlich ihrer Dienstjubiläen Stiftungen für Ausbildungszwecke oder Bade- und Landaufenthalte der Angestellten ein,41 die zur bleibenden Erinnerung nach ihnen benannt wurden. So entstand etwa 1888 zum 25-jährigen Dienstjubiläum des Direktors Adolph Salomonsohn die »Adolph-Salomonsohnsche-Stiftung für die Ausbildung der Söhne und Töchter von Beamten«42. Mit solchen Aktivitäten versuchten die Direktoren unter anderem ihr betriebsinternes Ansehen zu ver39 Vgl. Tanner 1998, S. 29; Thiemann 1996, S. 40–47; Bethmann 1963, S. 223ff. 40 Vgl. Tenfelde 2005, S. 126. 41 Vgl. Festschrift Die Disconto-Gesellschaft 1851 bis 1901. Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum, Berlin 1901, S. 249. 42 Vgl. ebd.

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bessern und dadurch ihre Autoritätsstellung zu legitimieren und zu festigen. Sie demonstrierten beim Fest ihre Spitzenstellung in der Gruppenordnung. Die Gruppenstruktur kam zudem durch hierarchisch gegliederte Sitzordnungen oder den Ausschluss von manchen Teilen der Unternehmensangehörigen bei bestimmten Abschnitten des Fests zum Ausdruck. Nur auf den ersten Blick waren alle gleich, bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass die Rangordnung des Alltags im Fest abgebildet wurde. So war etwa auch bei der 25-Jahres-Feier der Deutschen Bank zu speziellen Teilen der Feier, wie der offiziellen Zeremonie mit dem Aufsichtsrat, nur ein Prokurist als so genannte Abordnung der Angestellten eingeladen.43 Die gemeinsamen Feiern symbolisierten so Anerkennung für die geleistete Arbeit und die beruhigende Gewissheit der Gruppenzugehörigkeit auf der einen sowie Aufrechterhaltung und Bekräftigung der Autorität der Vorgesetzten auf der anderen Seite. Es scheint plausibel, dass die Feiern einen tiefen Eindruck hinterließen, im Betriebsalltag nachwirkten und die Arbeit mit neuem Sinn erfüllen konnten. Nicht ohne Wirkung dürfte dabei die Inszenierung des Unternehmens als gemeinsame Gruppe geblieben sein. Die Inklusion in der Gruppe hatte immer auch eine handlungsleitende Dimension, zum Beispiel weil egoistisches Verhalten sanktioniert war. »To act opportunistically towards the group, whose norms of trustworthiness and cooperation have been accepted, invites retaliation and a loss of reputation.«44 Allgemein gesprochen: Das einzelne Mitglied war in seinem Tun gegenüber der Gruppe verantwortlich. Die zum Ausdruck gebrachte Zusammengehörigkeit erzeugte somit einen gewissen Druck zum »unternehmensgünstigen«45 Handeln, insofern, dass hier Unternehmensziel und Gruppenerhalt gleichgesetzt wurden.

IV Neben den Unternehmensangehörigen waren auch externe Partner in die Jubiläumsfeierlichkeiten eingebunden. Dazu zählten vor allem Geschäftsfreunde aus der eigenen Branche und Unternehmenskunden, aber auch Vertreter der Stadtverwaltung am Standort und staatliche Behörden, mit denen die Firma in Beziehung stand. Jubiläumsanlässe waren eine willkommene Gelegenheiten zur Beziehungspflege, zur Bestätigung und Stabilisierung der eigenen Netzwerkkontakte. Dies zeigen zum Beispiel die in den Unternehmensarchiven aufbewahrten, sehr zahlreichen Glückwunschschreiben. Mehr als 50 Briefe, Tele43 Siehe oben, S. 2. 44 Nicholas 1993, S. 146. 45 Begriff nach Kocka 1981, S. 74.

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gramme und persönlich überbrachte »Adressen« – das heißt verzierte Ehrenschreiben – erreichten zum Beispiel das Kölner Bankhaus Sal. Oppenheim jr. & Cie anlässlich des 100-jährigen Bestehens 1889. Darunter waren viele Briefe aus der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, mit der das Bankhaus enge Beziehungen unterhielt, zudem gratulierten der Oberbürgermeister Kölns, zahlreiche in- und ausländische Banken und Versicherungen sowie auch die Börsenpresse. Einige Beispiele sollen die – meist betont freundschaftliche – Ausrichtung der Schreiben illustrieren. Auf der Adresse der Rheinisch-Nassauischen Bergwerks- und Hütten A.G. in Stolberg im Rheinland stand etwa: Die Geschichte unserer Gesellschaft […] ist […] eng mit Ihrem Hause verknüpft […]. Ohne Ihre jederzeit bewährte Hilfsbereitschaft durch Rat und Tat wäre es unserem Unternehmen niemals möglich gewesen, sich aus seinen ursprünglichen kleinen Anfängen weiter zu entwickeln, aber die Anlehnung an Ihr Haus und das Vertrauen, das uns durch Ihren Schutz entgegengebracht wurde, ließ uns alle Schwierigkeiten überwinden.46

Es war eine Gefälligkeit, in einer langfristig bestehenden Beziehung zwischen einer Bank und einer Aktiengesellschaft – die freilich nach 25 Jahren nicht mehr nur eine rein ökonomische war, sondern auch auf persönlicher Bekanntschaft beruhte – zum Jubiläum die positiven Aspekte der Zusammenarbeit zu betonen. Auch wenn es sich nur um eine kleine Geste handelte, war sie jedoch keineswegs bedeutungslos. Solche Praktiken dienten dazu, die beidseitige Kooperation langfristig abzusichern. Die Äußerung von Dankbarkeit hatte als Investition in die Festigung der Netzwerkkontakte des Unternehmens einen konkreten Nutzen. Netzwerke schufen nicht nur Vertrauen und reduzierten damit finanzielle Risiken, sondern ermöglichten auch effektive Informations- und Wissensflüsse. Oftmals entsandten die Banken Vertreter in die Aufsichtsräte der von ihnen finanzierten Aktiengesellschaften, um einen engen Kontakt zu gewährleisten und dadurch die Geschäftsbeziehung zu stabilisieren.47 Für die Aktiengesellschaften als Bankkunden hatten stabile Geschäftsbeziehungen den Vorteil, »eine zuverlässige und günstige Basis der Fremdfinanzierung [zu erhalten], die sie der Notwendigkeit enthob, von Fall zu Fall neue Refinanzierungsmöglichkeiten suchen und aushandeln zu müssen.«48 Insofern waren »Gefälligkeiten« wie die Glückwunschadresse der Bergwerks- und Hütten AG für das Bankhaus Oppenheim eine sinnvolle Investition, um eine nutzbringende Beziehung auf46 Die Adresse ist aufbewahrt in: HBO Band 85 / V. 47 Vgl. Nieberding / Wischermann 2004, S. 196ff. Dort auch ein Überblick über die wichtigsten Meinungen zu der seit Anfang des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutierten Frage über die Bedeutung der für Deutschland typischen Präsenz von Bankiers in den Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften. 48 Ebd., S. 198.

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rechtzuerhalten. Das heißt allerdings nicht, dass solche Ehrerbietungen und Dankesbekundungen bloßes Kalkül spiegelten. Natürlich war es auch eine Frage des Anstands, zu einem solchen Anlass zu gratulieren, »Networking« bedeutete echte Anteilnahme am Leben des anderen. Viele Schreiben betonten ausdrücklich die »Aufrichtigkeit der Teilnahme«.49 Die Mitgliedschaft in einem Netzwerk erzeugte geradezu einen Zwang an Reziprozitätsritualen (wie Feiern und Gratulationen) teilzunehmen, da Nichtbeachtung sanktioniert war und einen Ausschluss aus der Gruppe zur Folge haben konnte. Die Notwendigkeit, die gemeinsame Verbundenheit zu betonen, galt daher genauso für brancheninterne Kooperationen. Die Direktion der Berliner Disconto-Gesellschaft schrieb zum Oppenheim-Jubiläum: Nicht nur in unserer geschäftlichen Thätigkeit gehen wir seit langen Jahren eng neben einander her und erfreuen uns eines erfolgreichen Zusammenlebens mit Ihnen, sondern weit über diese Grenze hinaus sind wir auch noch innig verbunden mit Ihnen durch persönliche Beziehungen […]. So […] bitten [wir] Sie, auch für die fernere Zukunft das wohlthuende Verhältnis zwischen uns walten zu lassen […]. Wir begrüssen Sie in unwandelbarer Hochachtung und treuer Freundschaft.50

Häufig arbeiteten Banken zusammen und bildeten Konsortien, wenn ein einzelnes Institut nicht über genügend Kapital verfügte, um große Anleihen zu zeichnen. Kooperationen zwischen zwei Banken splitteten zudem die Risiken bei undurchsichtigen Geschäften. Sal. Oppenheim und die Disconto-Gesellschaft arbeiteten beispielsweise in Südamerikageschäften zusammen. In Uruguay gründeten sie 1872 gemeinsam die Deutsch-Belgische La Plata Bank.51 Freundschaftliche Beziehungen waren die Voraussetzung für den Austausch von Schlüsselinformationen und somit das »Überleben« am Markt. Die Bestätigung gegenseitiger Verbundenheit, wie sie die Disconto-Gesellschaft an Oppenheim abgab, war daher für beide Seiten von grundlegender Bedeutung. Die bei vielen Unternehmen vorgefundene Praxis, die Glückwunschschreiben über Jahrzehnte hinweg aufzubewahren, spiegelt ihren hohen Stellenwert auch für den Empfänger. Die Gesamtheit der eingegangenen Glückwünsche versicherte den Bankiers ihre Verankerung in einem brancheninternen Netzwerk und symbolisierte gleichzeitig ihr Ansehen und ihre Macht. Beim Jubiläum wurden Adressen und Blumengeschenke als sichtbares Zeichen der Anerkennung und der vielfältigen Beziehungen des Hauses Oppenheim im Bankgebäude aufgestellt, das – nach den Erinnerungen eines Beschäftigten –

49 So zum Beispiel das Schreiben des Berliner Bankhauses J. Raven8 Söhne & Co. HBO Band 85 / V. 50 Schreiben vom 31. Oktober 1889. HBO Band 85 / V. 51 Vgl. Gall 1995, S. 59.

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am »Jubeltage einem Blumengarten« geglichen haben soll.52 Auch die Stadtverwaltung war in das unternehmerische Netzwerk eingebunden. Der Oberbürgermeister Kölns schrieb: [Das Bankhaus Sal. Oppenheim … steht … obenan] unter den hervorragendsten Vertretern derjenigen Geldinstitute, die Köln […] zum Hochsitze der rheinischen Industrie machten, in einem andern aber die Stadtgemeinde mehr innerlich berührenden Verdienste steht es einzig da. Haben doch die Chefs der Firma […] bereits verschiedene Generationen hiendurch [sic] ihrer treuen Anhänglichkeit an die Vaterstadt, ihrem hohen Interesse für Kunst und Wissenschaft, insbesondere aber ihrem hingebenden Wohlthätigkeitssinne durch hochherzige Gaben und Stiftungen […] Ausdruck gegeben. […] Die mit […] gestrigen Schreiben mir freundlich übersandten RM 10,000 bilden neue Glieder in der Kette der Beweise der hochherzigen Theilnahme Ihres Hauses an dem Wohlergehen der Bürgerschaft und der Entwicklung der städtischen Einrichtungen.53

In der Beziehung zwischen Bankhaus und Stadt standen offenbar die konkreten materiellen Unterstützungsleistungen im Vordergrund. Oppenheim hatte sich als ein wichtiger Partner in der Finanzierung von kommunalen infrastrukturellen Vorhaben erwiesen. Bekannt war etwa das von den Oppenheims gestiftete Kölner Kinderkrankenhaus, das 1883 eröffnet wurde.54 Hinter den Glückwunschschreiben und der erwiesenen Dankbarkeit steckte auch hier die Erwartung, die nutzbringende Partnerschaft weiterzuführen und für die Zukunft zu stabilisieren. Auf der anderen Seite wurden die Unternehmen bei ihren Jubiläumsanlässen selbst aktiv, um ihre Beziehungen aufzufrischen und zu stabilisieren. Der typische Weg war die Versendung einer Festschrift, mit der einerseits die empfangenen Glückwünsche erwidert und andererseits über die Arbeit des Unternehmens aufgeklärt werden sollte. Die im überseeischen Geschäft engagierte Norddeutsche Bank, das größte Kreditinstitut am Hamburger Finanzplatz, schickte ihre im Jahre 1906 zum 50-jährigen Jubiläum verfasste Publikation unter anderem an Reichskanzler Bernhard von Bülow und an die KolonialAbteilung des Auswärtigen Amtes.55 Dies war zugleich ein Akt der Beziehungspflege sowie der Versuch, sich stolz als Vertreter der deutschen Wirtschaftsinteressen im Ausland zu präsentieren. Auf dem Höhepunkt des deutschen Imperialismus wurden die Beziehungen zwischen Politik und Banken enger. Berlin war bestrebt, die Banken für die deutsche Außenpolitik in den Dienst zu nehmen. So wurde etwa der Chefposten in der Kolonial-Abteilung des 52 53 54 55

Erinnerungen eines Unternehmensangehörigen. HBO 85 / V. Schreiben vom 1. und 2. November 1889. HBO Band 85 / V. Vgl. Kölnische Volkszeitung vom 9. Oktober 1883. Vgl. auch Effmert 2005. Erhalten sind jeweils die Dankesschreiben für den Empfang der Festschrift. HADB Bestand Norddeutsche Bank K 01/0379.

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Auswärtigen Amtes von Reichskanzler Bülow mit dem Bankier Bernhard Dernburg besetzt.56 Dies bot für die Banken Chancen der Zusammenarbeit, aber auch die Gefahr, dass ihre Unabhängigkeit eingeschränkt würde. Die Kommunikation mit der Politik war daher unabdingbar und Festschriften ein gutes Mittel, die eigenen Leistungen darzustellen und sich einerseits als zuverlässiger Partner für staatliche Aufträge zu empfehlen, andererseits aber auch die eigenen unternehmerischen Interessen zu verdeutlichen. Die von einem leitenden Angestellten verfasste Publikation der Norddeutschen Bank erklärte die Arbeitsweise der Bank, informierte über die Geschäftsentwicklung 1856 bis 1906, alle größeren Beteiligungen, das Engagement bei internationalen Unternehmensgründungen, Direktoren und Aufsichtsrat und zeigte das Geschäftsgebäude.57 Der Jubiläumsanlass wurde genutzt, um Langlebigkeit nachzuweisen sowie die Kontinuität der Geschäftsgrundsätze und das Ansehen am Standort unter Beweis zu stellen. Besonders hervorgehoben wurde die Förderung deutscher Handelsinteressen im Ausland, so etwa bei der Errichtung der Brasilianischen Bank für Deutschland, der Deutsch-Asiatischen Bank oder der Deutschen Afrika-Bank. Bülow würdigte dann auch in seinem Dankesbrief die große nationale Bedeutung des Kreditinstituts.58 Freilich konnte die Bank aus einem solchen Kontakt keine direkte Gegenleistung einfordern, aber zum einem bedeutete das Antwortschreiben einen gewissen Prestigegewinn, zum anderen konnte eine Gefälligkeit des Reichskanzlers zumindest erhofft werden. Andere Adressaten der Festschriften waren die Geschäftspartner des Unternehmens, bei der Norddeutschen Bank unter anderem die britische Midland Bank, die Bremer Bank und der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes. Dabei wird das Anliegen der Festschriften klar : Die historischen Abfassungen sollten die Zuverlässigkeit des Unternehmen als Geschäftspartner unter Beweis stellen. Im Vordergrund stand die Präsentation der Firma als eine in jeder Hinsicht stabile Organisation, hinsichtlich der Personalbeziehungen, dem Ansehen in der Öffentlichkeit und der Geschäftsentwicklung. Oft war der Aufbau der Festschriften gleich, so gab es zum Beispiel eine überaus große Ähnlichkeit bei den Publikationen der Bergisch Märkischen Bank (1896), der Norddeutschen Bank (1906), der Colonia Versicherung (1914) und der Vaterländischen Versicherung (1898). Das Ziel wurde ausdrücklich genannt, so hieß es bei der Bergisch Märkischen Bank: »Die Bankleitung […] ist […] bestrebt, das Vertrauen in die Stetigkeit ihrer Geschäftsgrundsätze zu befestigen«.59 Zunächst wurden dazu sehr ausführlich die Gründungsinitiative, die oftmals erheblichen Schwierigkeiten der 56 57 58 59

Vgl. Reitmayer 1999, S. 262; Zorn 1966, S. 342. Vgl. Festschrift Die Norddeutsche Bank in Hamburg 1856–1906, Hamburg 1906. Vgl. Schreiben vom 6. September 1906. HADB Bestand Norddeutsche Bank K 01 / 0379. Festschrift Bergisch Märkische Bank 1896, S. 13f.

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ersten Monate sowie die Unternehmensziele dargestellt. Diese Themen erhielten mit Abstand den meisten Raum. Im Mittelteil wurden die Bewältigung von Schwierigkeiten (zum Beispiel die Gründerkrise) und die daraus resultierenden Erfolge geschildert. Die Darstellung war in der Regel chronologisch nach der Wirkungszeit der Direktoren gegliedert. Genannt wurden vor allem die Einführung neuer Produkte, die Eröffnung von Filialen, Fusionen und Kooperationen mit anderen Unternehmen. Die Betonung lag auf den Erfolgen. Die von Geschäftspartnern und Aktionären gehegten Hoffnungen seien erfüllt und langfristiges Vertrauen im »Publikum« hergestellt worden, unter anderem durch ein ausgeprägtes wohltätiges Engagement. Nur am Rande – und vor allem zur Stilisierung der überwundenen Schwierigkeiten – wurden der Kampf gegen Konkurrenz und staatliche Einflüsse behandelt. Am Schluss fiel der Blick kurz auf die Personalbeziehungen, die resümierend als äußerst harmonisch dargestellt wurden. Als Begründung für ihre Stabilität erschien die großzügige Gewährung von Sozialleistungen durch das Management. Den letzten Absatz bildete dann jeweils das Fazit, dass es in der Vergangenheit gelungen sei, das Unternehmen auf eine stabile Basis zu stellen. Daraus wurde – gewissermaßen als Extrapolation der Vergangenheit – die Hoffnung auf eine erfolgreiche Zukunft abgeleitet. Vertrauenswürdigkeit wurde aus der Bewährtheit der Initialidee abgeleitet, breite Zustimmung von außen gab den Gründern recht: So hieß es bei der Bergisch-Märkischen Bank: »Die Gründer hatten schon während des ersten Geschäftsjahres die Genugthuung, in dem der Bank von allen Seiten entgegengebrachten Vertrauen […] eine Bestätigung für die Richtigkeit der Gesichtspunkte zu finden, welche sie bei der Gründung der Bank leiteten.60 Oder an anderer Stelle: Dass die Bank […] auf dem rechten Wege ist, beweist die seit Jahren wachsende Zahl ihrer Geschäftsfreunde«.61 Verlässlichkeit resultierte weiter aus der Betonung der Leitfunktion alter Grundsätze und der Aussage, dass das Anliegen der Gründer bis in die Gegenwart gewahrt worden sei. Neben der Bestätigung und Pflege einer freundschaftlichen Beziehung zu den Geschäftspartnern und der Politik hatte die Werbung um Vertrauen bei Jubiläen eine weitere Bedeutung. Der Aufbau von Vertrauen war für die Unternehmen eine wesentliche Grundlage ihres Geschäftsbetriebes. Jubiläen zählten dabei zu den symbolischen Mitteln der Vertrauensgenese.62 Der runde Jahrestag wies darauf hin, dass das Unternehmen bereits eine größere Zeitspanne überdauert hatte, und versinnbildlichte daher Stabilität und Optimismus. Die Jubiläumssymbolik zeigte Langlebigkeit, Bewährtheit und Erfolg an, die als Extrapolation 60 Ebd., S. 5. 61 Ebd., S. 14. 62 Vgl. ebd., S. 158f.

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der Vergangenheit auf die Zukunft projiziert wurden. Jubiläen symbolisierten in diesem Sinne Kontinuität und trugen so zur Unsicherheitsverminderung bei. Die ritualhafte Wiederholung von Jubiläen in bestimmten rhythmisierten Zeitabständen63 – in der Regel im 25-Jahres-Takt, zum Beispiel bei der Colonia Versicherung 1864, 1889 und 191464 – führte dazu, dass die Stabilitätsbehauptung immer wieder erneuert wurde und sich Jubiläen somit zu einem Mechanismus der Vertrauensgenese entwickelten. Die Abfolge runder Jahrestage wurde in Festschriften auch dazu genutzt, eine eigene Geschichte zu konstruieren.65 In der Publikation der Vaterländischen Versicherung dienten Jubiläen als Wegmarken, die die expansive Entwicklung der Firma zäsurierten. So hieß es: Beim ersten Jubiläum gab es 17 Angestellte, beim 50-Jährigen im Jahr 1873 waren es 40 »Beamte«, zum 75-jährigen Bestehen (1898) schließlich 144 Beschäftigte.66 Ein kontinuierliches Firmenwachstum erschien so als selbstverständlicher Bestandteil der eigenen Geschichte und zugleich als Modell für die Entwicklung in der Zukunft. Allgemein wurde bei Jubiläen der »Besitz« von Tradition angezeigt und zur Vertrauensgenese genutzt. Die selbstbewusste Feier der eigenen Geschichte sollte bei fremden Interessenten »ein Gefühl der Vertrautheit« erzeugen67 und vor allem Unabhängigkeit und eine eigenständige Identität unter Beweis stellen. Eine durch Normen, Werte und Tradition definierte Firmenidentität suggerierte Zuverlässigkeit, verlieh dem Unternehmen bei seiner jeweiligen Klientel eine sympathische Ausstrahlung und schuf zugleich eine Abgrenzung der Nicht-Zielgruppen.68 Die im Alltag eingesetzten symbolischen Mittel zur Evokation von Stabilität wie das Firmenlogo oder die Architektur der Geschäftsgebäude wurden in die Selbstinszenierung bei Jahrestagsanlässen visuell eingebunden. Fester Bestandteil waren etwa Jubiläums-Postkarten oder -Fotoalben, die die Prachtbauten der Banken und Versicherungen zeigten. Sie sollten die Größe und daraus abgeleitet die Zuverlässigkeit des Unternehmens zeigen. Auch Aussagen über die Reserven der Firmen, Einlagen, Umsätze oder den Versicherungsbestand sollten die Solidität besonders von Großunternehmen untermauern. Schließlich betonten die auf verschiedene Art in die Jubiläumsinszenierungen eingebundenen Firmenzeichen die Sekurität von Banken und Versicherungen. In der Regel 63 Vgl. Müller 2002, S. 265. 64 Weitere Feiern gab es dann 1939, 1964 und 1989. Vgl. Eyll, K. van, … genannt Colonia. 150 Jahre Kölnische Feuer-Versicherungs-Gesellschaft AG 1839–1989, Köln 1989. 65 Zur Konstruktion von Eigengeschichte bei Jubiläen vgl. Müller 2002. 66 Vgl. Festschrift FS Vaterländische Lebens-Versicherungs-Actien-Gesellschaft zu Elberfeld. 1872 bis 1897. Festschrift aus Anlass des fünundzwanzigjährigen Bestehens, o. O. [Elberfeld] o. J. [1897], S. 136. 67 Schug 2003, S. 20. Vgl. auch Schirner 1994, S. 267–281. 68 Vgl. Argenti 2003, S. 60.

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handelte es sich um Symbole, die eine gewisse Nähe zu kommunalen oder staatlichen Institutionen evozieren sollten, wie Adaptionen des preußischen Adlers oder städtischer Wappen. Dadurch wurde versucht, das hohe Ansehen, das öffentliche Institutionen im Kaiserreich besaßen, auf die Unternehmen zu übertragen.

V Feste, Gaben und Erinnerungen anlässlich von Jubiläen hatten jedoch nicht nur eine strategische Bedeutung für die jeweilige Firmenpolitik, sie entsprachen auch dem – inzwischen gut erforschten – modernen menschlichen Bedürfnis, die Spuren der Vergangenheit zu pflegen, die eigene (mit anderen geteilte) Geschichte aufzuzeichnen und sich seiner Herkunft zu versichern.69 Wissenschaftlich betrachtet, war und ist die Historie die Voraussetzung unserer Existenz. Die Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit bei Jubiläen hieß somit nicht zuletzt, sich seiner Tradition und seiner selbst zu vergewissern, sie war im Grunde ein Prozess der Identitätsbildung.70 So hieß es in der Jubiläumsrede des Generaldirektors der Gladbacher Feuerversicherungs-Aktien-Gesellschaft im Jahr 1911: »Es ist ein schöner und pietätvoller Brauch, Gedenktage zu feiern; sie sollen uns einen Augenblick verweilen lassen, wie es der Wanderer tut, der […] niederblickt auf den zurückgelegten Weg.« Jubiläen böten Gelegenheit, der Vorgänger im Unternehmen zu gedenken, ohne die die Firma nicht geworden sei, was sie heute ist.71 Erinnerungsfeiern waren in Banken und Versicherungen – wie auch in anderen menschlichen Gruppen – eine ritualisierte Form, mit den eigenen Wurzeln umzugehen und den mit den individuellen Biographien verbundenen ›Lebensrhythmus‹ des Unternehmens zu strukturieren. Bankiers bildeten mit den Kaufleuten, zu denen auch die Versicherungsunternehmer zählten, die älteste Gruppe des Wirtschaftsbürgertums in den deutschen Staaten und freien Städten.72 Ein ausgeprägter bürgerlicher Habitus war so meist ein gemeinsames Merkmal der Unternehmensleiter und -inhaber in den Banken und Versicherungen, der im Jubiläumsrückblick als persönliches Attribut zur Schau gestellt wurde. Die Inszenierungen verweisen so auch auf gemeinbürgerliche Lebensideale des 19. Jahrhunderts, wie die Sorge für das Gemeinwohl und die Untergebenen, Bescheidenheit, Glaube an das egalitäre 69 Vgl. Cavalli 1991, S. 202. 70 Vgl. Gall 1995, S. 377f.; Assmann 1988, S. 9–19. 71 Festschrift Gedenkfeier des fünfzigjährigen Bestehens der Gladbacher FeuerversicherungsAktien-Gesellschaft am 11. Mai 1911 von Wilhelm Haus, General-Direktor, o. O. o. J. [1911], S. 21f. 72 Vgl. Reitmayer 1999, S. 9.

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Leistungsprinzip, Zivilität73 oder die Befürwortung einer bürgerlichen Gesellschaft aus freien Staatsbürgern.74 So spielte bei Jubiläumsfeierlichkeiten und in den Festschriften die Aussage eine wichtige Rolle, dass die Interessen der Unternehmer nicht allein auf die Erwirtschaftung von Gewinnen und die Erlangung von Reichtum gerichtet seien, sondern auch darauf, etwas zum Wohle der Allgemeinheit zu tun. Dabei handelte es sich allerdings nicht nur um eine rationale Strategie zur Erzeugung von Sympathie, sondern ebenfalls um den Versuch, das eigene Selbstverständnis zu präsentieren. Oftmals war beides untrennbar miteinander verwoben. So hieß es in der Jubiläumspublikation der Bergisch Märkischen Bank von 1896: »Die Bankleitung hat ihre Aufgabe nicht nur dahin aufgefaßt, daß sie […] für gute Erträge zu sorgen habe, sondern sie ist auch bestrebt gewesen, […] sich als Förderin des gewerblichen Lebens und als Stütze für Handel und Industrie zu bewähren.«75 Die Norddeutsche Bank wies anlässlich des 50. Jahrestags auf ihre Bedeutung für den Standort Hamburg hin und unterstrich ihr Selbstverständnis als ein verantwortungsvolles Glied in der Bürgerschaft der Hansestadt: »Die [Geschäftszahlen] beweisen […], dass die Bank in ihrer Vaterstadt eine wichtige wirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen hatte und dass sie sich die Anwartschaft darauf erworben, auch in Zukunft ein nützliches Glied der heimischen Geschäftsgetriebes zu bleiben.«76 Die Zugehörigkeit zur Heimatstadt war für viele Unternehmer ein wichtiger Punkt ihres Selbstverständnisses; viele Firmen wurden daher als ein Stadtbürger unter anderen präsentiert. In der Festschrift des Bankhauses von der Heydt-Kersten und Söhne hieß es: »Eng mit den Geschicken der Stadt Elberfeld verknüpft, hat diese Firma in ihrem 150-jährigen Bestehen allezeit Männer gestellt, welche […] bereit waren, ihre persönliche Wirksamkeit in uneigennütziger Weise öffentlichen Angelegenheiten aller Art zu widmen.«77 Die Vaterländische Versicherung betonte in ihrer Festschrift, die Mitglieder des Gesellschaftsvorstandes seien in der Vergangenheit stets um das Allgemeinwohl der Heimatstadt Elberfeld besorgt gewesen.78 Dies war zwar sicherlich überzogen, aber auch nicht vollkommen falsch. Die Direktionsmitglieder, die oftmals auch im Stadtrat vertreten waren, trugen durch Spenden tatsächlich zum Ausbau des Schulwesens in Elberfeld bei und unterstützten auch andere, aus bildungsbürgerlicher Sicht bedeutsame Projekte. Ausdrücklich wurde dabei hervorgehoben, dass es sich bei den Förderungsmaßnahmen um »ein stilles Wirken«79 gehandelt habe, also um eine 73 74 75 76 77 78 79

Zum Begriff: Kocka 2001. Wehler 1996, S. 238. Festschrift Bergisch Märkische Bank 1896, S. 13. Festschrift Norddeutsche Bank 1906, S. 24. Festschrift Bankhaus Von der Heydt-Kersten & Söhne, Elberfeld 1904, S. 6. Festschrift Vaterländische 1898, S. 139. Ebd.

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»echte« Fürsorge. Nicht um »laute« Repräsentation »zur Hebung [des] Ansehens« sei es gegangen, sondern darum, sich als verlässlicher Partner des Gemeinwesens zu erweisen.80 Oftmals gingen damit demonstrative Bescheidenheitsgesten der Manager im unternehmensöffentlichen Raum einher. So lehnte der Direktor der Vaterländischen Versicherung ein Geschenk der Firma zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum 1880 ab, weil eine 25-jährige Tätigkeit nach seinen Worten »nichts Besonderes« darstelle und »nicht einer lauten Anerkennung wert« sei.81 Hier zeigt sich auch, wie der bürgerliche Tugendkanon mit den Eckpfeilern »Leistungsprinzip, der Arbeitsethik, der innerweltlichen Pflichterfüllung, dem Aufgehen im ›Beruf‹« von den Unternehmern verinnerlicht worden waren.82 Gerade die Direktoren der großen Berliner Bank- und Versicherungsaktiengesellschaften maßen der eigenen Arbeit und Leistungsfähigkeit eine große Bedeutung zu und unterstrichen, ›ihre‹ Unternehmen durch eigene Kraft und Fähigkeiten in die Spitzengruppe des jeweiligen Sektors gebracht zu haben. Sie empfanden ihre Arbeit nicht nur als Broterwerb,83 sondern zu einem gewissen Teil auch als »Selbsterfüllung«.84 Eine weitere Eigenschaft der Unternehmer war in dem bei Jubiläen entworfenen Bild oft die demonstrative Geringschätzung schnellen Reichtums und der ›Jagd‹ nach materiellen Gütern. Obwohl die meisten Bankiers einen luxuriösen Lebensstil pflegten, wandten sie sich in ihrer Selbstdarstellung vom Streben nach Geld ab. Dazu zählte auch eine deutliche Distanz zu den Wertpapierspekulanten, die in bildungsbürgerlichen Kreisen als Verkörperung einer krankhaften Gewinnsucht und Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wurden.85 Viele Banken grenzten sich in ihren Festschriften von der Spekulationswut der 80 Ebd., S. 139–145, zitiert nach S. 139. Für die Vaterländische, die seit den 1820er Jahren stark im gesamteuropäischen und überseeischen Geschäft engagiert war, ging es hier auch darum, ihre standortgebundene Unternehmensidentität auszudrücken. Der Eindruck, die Firma fördere eher das Ausland als die heimische Wirtschaft, hätte schnell zu Misstrauen und Missgunst und damit zu Wettbewerbsnachteilen am Standort führen können. Vgl. Arps 1965, S. 418. 81 Festschrift Vaterländische 1898, S. 123. Die Ablehnung einer Ehrung war kein Einzelfall. Auch August von der Heydt, Inhaber des Bankhauses von der Heydt-Kersten und Söhne in Elberfeld, verbat sich eine Ehrung seiner Person zum Jubiläum und gestattete nur eine Ehrung der Firma. Protokollbuch für die Sitzungen des Comit8s zur Feier des 150jährigen Bestehens der Firma von der Heydt-Kersten & Söhne Elberfeld. Historisches Archiv der Commerzbank Frankfurt/M., Bestand Von der Heydt-Kersten & Söhne 402/300. 82 Vgl. Wehler 1996, S. 238. 83 Vgl. ebd. 84 Reitmayer 1999, S. 209. 85 So auch der offizielle Standpunkt des Centralverbands des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes: »Es muß jedenfalls offen zugegeben werden, dass der Bankier durch subjektive Beeinflussung seines Kunden zu spekulativen Geschäften einen Verstoß gegen seine Standespflichten begeht.« Zitiert nach Reitmayer 1999, S. 207.

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Gründerzeit ab oder nutzten das Bild des Spekulanten als Kontrastpunkt zu der von ihnen nach eigenen Aussagen betriebenen vorsichtigen Geschäftspolitik. So tadelte die Bergisch Märkische Bank die »ungesunde Bewegung des Geldmarktes« und die »übertriebene Bewerthung aller Handelsartikel« in der Gründerzeit86 und hob im Vergleich ihre eigene solide Geschäftspolitik hervor : Stets walte »Vorsicht in der Beurtheilung bestehender und in der Uebernahme neuer Verbindlichkeiten«; das Ziel seien nicht schnelle Gewinne sondern »in erster Linie [der] systematische innere Ausbau und [die] Consolidirung […] der Bank, um dafür Sorge zu treffen, dass auch in minder guten Zeiten die Bank ihre Aufgabe als Creditinstitut gegenüber den Geldbedürfnissen des Handels und der Industrie erfüllen könne«.87 Die Bankiers und Versicherungsunternehmer versuchten in den Jubiläumsinszenierungen so, dem Idealbild des an den bürgerlichen Tugendkatalog angepassten Unternehmers zu entsprechen. Das Stereotyp dieses »ernsten und nützlich gesinnten« Mannes wurde mit den Eigenschaften eines »unabhängigen, sittlichen, auf Mäßigung triebhafter Genüsse und Fürsorge der von ihm Abhängigen bedachten Haus- und Familienvater[s]« versehen.88 Durch Anleihen bei dieser Idealfigur versuchten die Bankiers und Versicherungsunternehmer bei den Jubiläumsinszenierungen über kommunikationsstrategische Ziele hinaus zugleich ihre Würde oder anders ausgedrückt: die »Ehre ihres Namens« zu vermitteln, die an bürgerliche Moralvorstellungen geknüpft war.89

VI Zusammenfassend zeigen die Beispiele, dass die Hauptaussagen der Jubiläen wesentlich auf die Zukunft ausgerichtet waren. Auf ganz verschiedenen Feldern inszenierten die Jahrestagsaktivitäten die Beständigkeit der Unternehmen, angefangen bei der Darstellung stabiler und harmonischer Sozialbeziehungen, über das Aufzeigen der Reputation unter Geschäftspartnern als Symbol der Solidität bis hin zur Repräsentation des ehrenhaften, vertrauenswürdigen Habitus der Bankiers und Versicherungsunternehmer. Glaubwürdigkeit vermittelte dabei stets der Bezug zur Firmengeschichte, der Bewährtheit und Durchsetzungsvermögen sowie – daraus abgeleitet – Potenzial für die Zukunft ausstrahlte. In volkswirtschaftlicher Perspektive standen Jubiläen und die damit verbun86 Festschrift Bergisch Märkische Bank 1896, S. 6. 87 Ebd., S. 9f. 88 Hodenberg 2000, S. 99. Joachim Linder geht davon aus, dass Unternehmer in den Festschriften »den Anschluß an das allgemeine gesellschaftliche Gespräch über Ethik und Moral zu gewinnen« suchten. Linder 1991, S. 235. 89 Hodenberg 2000, S. 87.

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denen Zuwendungen für die Kontinuität der Anreizstrukturen in der deutschen Wirtschaft und das Phänomen von Stammbelegschaften als Säule des »rheinischen Wirtschaftsmodells«. In der heutigen Zeit, die durch eine Flexibilisierung der Arbeit und Kurzlebigkeit von Unternehmens- und Produktidentitäten gekennzeichnet ist, muss die Frage nach der Bedeutung von Jubiläumsaktivitäten neu gestellt werden. Derzeit scheint es allerdings, als ob der Hinweis auf Tradition als Argument der Unternehmenskommunikation angesichts neuerlich wachsender Faszination für das Historische unverzichtbar ist.90 Auch in einer mehr und mehr ökonomisierten Welt bleibt der Faktor der kulturellen Identifikation eine zentrale Größe für die Genese von Vertrauen und damit das Funktionieren von Arbeits- und Kundenbeziehungen. Wirtschaftliche Prozesse bewegen und bewegten sich stets in einem eigentümlichen Spannungsfeld von subjektiv-lebensweltlichen Bedürfnissen und ökonomischen Zweckmäßigkeiten. Daher erscheint die gezeigte Funktionsweise der Jubiläumsfeierlichkeiten in Banken und Versicherungen auch als ein Beispiel für die gegenseitige Beeinflussung sowie die Wechselbeziehung von Wirtschaft und Kultur beziehungsweise von »Gefühl und Kalkül«91.

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1817 in Amerika. Das Reformationsjubiläum als Minderheitenphänomen Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent […] Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit

Mit diesen Versen bezeichnete Johann Wolfgang von Goethe einem verbreiteten Bild folgend die USA als ›Land ohne Geschichte‹. Doch diese europäische Sichtweise erwies sich als nicht zutreffend. In den Jahrzehnten um 1800 begann Amerika sehr wohl, sich seiner Vergangenheit zu erinnern. Damit nahm eine vielschichtige und eigenständige Erinnerungskultur ihren Anfang, was auf die Bedürfnisse einer noch jungen Nation verweist, die sich von ihrer kolonialen Vorgeschichte abrupt gelöst hatte und die nun im Interesse ihrer Stabilität eine eigene Identität ausbilden musste. Zu diesem Zweck wurden der Independence Day (4. Juli 1776), die Amtseinführung George Washingtons (30. April 1789) oder andere Gründungsereignisse in zahlreichen Anniversarien vergegenwärtigt – und zumindest in Boston würdigte die Historical Society of Massachusetts 1792 in einer Festrede sogar den Umstand, dass Kolumbus 300 Jahre zuvor Amerika entdeckt hatte.1 Da solche Schlüsselereignisse zum festen Bestandteil des »kulturellen Gedächtnisses« gehören und wesentliche Werte und Leitideen der gedenkenden Institution symbolisieren, liegt der prinzipielle Sinn einer solchen Geschichtsvergegenwärtigung darin, bei der Feiergemeinde Zustimmung zu den Werten der feiernden Institution im Sinne eines Wir-Gefühls zu generieren.2 Angesichts dieser Funktionszusammenhänge ist es als Demonstration von kultureller Eigenständigkeit zu verstehen, dass eine Minderheit, nämlich die aus

1 Vgl. Belknap 1792. Zu Kolumbus als Identitätsstifter vgl. Sheldon 2003, S. 326ff., Loock 2014. Bereits seit 1769 wurden außerdem Memorialfeiern anlässlich der Landung der Forefathers, der ersten Siedler Neuenglands, in Plymouth am 20. Dezember 1620, am Landungsort begangen, vgl. Hebel 1999, S. 303 und Hebel 2003, S. 142f. 2 Grundlegend zur identitätsstiftenden Funktion der Geschichtserinnerung und zum kollektiven Gedächtnis vgl. etwa Assmann 1988, passim; ders. 1995, passim.

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Deutschland eingewanderten Lutheraner, diesen Ursprüngen der amerikanischen Nationalgeschichte selbstbewusst und exklusiv ihre eigene Gründungsgeschichte entgegenstellten.3 Während prinzipiell alle US-Bürger Teilhabe und Zugriff auf die genannten Anniversarien besaßen, war das Reformationsjubiläum, das aus Anlass des 300. Jahrestages der Publikation von Martin Luthers Ablassthesen in zahlreichen Gemeinden inszeniert wurde, eine rein lutherische Angelegenheit.4 Kulturhistorisch interessant ist der Umstand, dass die Lutheraner mit ihrer Säkularfeier in einer breiteren Öffentlichkeit in den USA die kulturelle Praxis popularisiert haben, unter dem Zwang der runden Zahl historisch bedeutsame Ereignisse zu vergegenwärtigen, also ein historisches Jubiläum zu begehen.5 Vor dem Hintergrund der Dignität des Alters, die gerade im Jubiläumsmechanismus affirmativ betont wird, gewinnt allerding ein anderer Umstand große Bedeutung für die Selbstbehauptung der Lutheraner. Mit dem Verweis auf ihre Geschichte stießen sie in jenen Zeithorizont vor, in dem auch die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus zu verorten ist. Damit standen sich der für die Genese einer US-amerikanischen Identität wichtige Seefahrer und der deutsche Reformator sowohl als »Erinnerungsfiguren« als auch ›jubiläumstechnisch‹ auf Augenhöhe gegenüber. Letztendlich war das in den USA inszenierte Reformationsjubiläum des Jahres 1817 ein Minderheitenphänomen, das auf eine spezielle Form des kulturellen Gedächtnisses abzielte, welches die deutschen Lutheraner als Minderheit in einem ›fremden‹ kulturellen Umfeld entwickelt haben.6 Ein solches ›MigrantenGedächtnis‹ kann prinzipiell bei allen vergleichbaren Gruppen beobachtet werden.7 Als prägend erweisen sich jene kulturellen Identitäten, welche die 3 Säkularfeiern der reformierten Denominationen bzw. der Presbyterianer etwa anlässlich der 300. Geburtstage von Jean Calvin (1509–1564) oder John Knox (um 1513–1572) aus dem frühen 19. Jahrhundert sind derzeit nicht bekannt. Calvin und – vermutlich in seinem Schatten – Knox sind offenkundig erst 1909 jubiläumswürdig geworden. Immerhin erschien 1813 in New York eine Abhandlung über Leben und Werk von Knox; vgl. M’Crie 1813. Dieses Werk ist allerdings nicht genuin amerikanischen Ursprungs, die erste Auflage war in Edinburgh bereits 1811 erschienen, eine deutsche Übersetzung folgte 1817. Speziell zur Memorialkultur der Deutsch-Amerikaner vgl. Heike Bungert 2003, S. 193–196. Das im Aufsatztitel von Bungert genannte Jahr 1859 verweist auf den 100. Geburtstag von Friedrich Schiller. Aus diesem Anlass fand die erste Feier statt, die überregional und die Grenzen der einzelnen Denominationen überschreitend von allen Deutschamerikanern begangen wurde. 4 Als Vorstufe dazu begingen in New York die lutherische Gemeinde und die German Society im Jahr 1810 ein historisches Jubiläum anlässlich der ersten Ankunft deutscher Siedler in dieser Stadt 100 Jahre zuvor., vgl. New York Journal 16. 6. 1810. 5 Grundlegend zum historischen Jubiläum vgl. Müller 2004. 6 Damit erklärt sich auch, warum das Reformationsjubiläum 1817, wie Lehmann 1988, S. 77–81, anmerkt, im protestantischen Amerika kein Massenphänomen war. Zum weiten Begriff des Protestantismus, der hier zugrunde liegt, vgl. Graf 2010, S. 7–19. 7 Zum Folgenden ausführlich und mit weiterführender Literatur vgl. Bungert 2008, besonders

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Einwanderer in ihrer alten Heimat empfangen haben und die als ein Differenzmerkmal gegenüber anderen Bevölkerungsteilen zur Affirmation genutzt werden können. Dies verweist auf eine Konstellation, die konstituierend für das ›Migranten-Gedächtnis‹ ist: Die Einwanderer müssen einerseits an ihrer Identität und ihren Eigenarten festhalten wollen, dürfen sich aber andererseits nicht gegenüber der Aufnahmegesellschaft verschließen, sondern sollen in vielfältigen Kontakt- und Austauschprozessen mit ihr stehen. Diese Ambivalenz von Inklusion und Exklusion bildet eine ständige Herausforderung für die Migranten, die ihre kulturelle Identität ausgehend von den sozialen Erfahrungen und Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft ständig zwischen den in der Alten Welt empfangenen Prägungen und den Erfordernissen der Neuen Welt abgleichen müssen, nicht zuletzt, um ihren Status in der Aufnahmegesellschaft zu klären und zu legitimieren. Ausgehend von diesen Überlegungen gilt im Folgenden das Interesse dem amerikanischen Reformationsjubiläum 1817 als Ausdruck einer Sonderidentität und als Medium des ›Migranten-Gedächtnisses‹.8 Dabei ist zu fragen, wie die Lutheraner diese Säkularfeier zur Affirmation nutzten: Wie zielten sowohl die Festinszenierung als auch die Vergegenwärtigung der Reformationsgeschichte in den Festpredigten auf Religion, Sprache und ethnische Zugehörigkeit als den zentralen Eckpfeilern der Identität jedweder Migrantengruppen?9 Wo zeigen sich in der Vergegenwärtigung der Reformationsgeschichte Beharrungskräfte und wo erfolgen im Sinn einer Transkulturation Amalgamierungen mit der Kultur des Aufnahmelandes?10 S. 201–206, sowie Brather 2004, S. 104–116. Beide beziehen das Phänomen auf die gesamte Ethnie und nutzen daher den Begriff des »ethnischen Gedächtnisses«. Innerhalb der Ethnie entsteht durch das Zusammenspiel von ›ethnischem Legitimationsgedächtnis‹ (das von »ethnic leaders« vertreten wird) und ›ethnischem Alltagsgedächtnis‹ noch kleinerer Subgruppen ein ›ethnisches Gesamtgedächtnis‹. 8 Zum Reformationsjubiläum der amerikanischen Lutheraner vgl. Lehmann 1988, S. 77–81; Anderson 1980, S. 110f.; Wentz 1964, S. 71, 88 u. 91f. sowie Nolt 2001, S. 110–115; ausführlich Flügel 2012, S. 71–99. Hierauf baut sowohl der Vortrag als auch der hier vorliegende Text auf. 9 Zu kulturellen Identität und ihren Ausprägungen vgl. noch immer Krappmann 2000, passim; Schilling 1991, S. 192–252 sowie die Sammelbände Mosser 2001 und Assmann 1998. Speziell für die Bedeutung von Religion, Sprache und ethnischer/nationaler Zugehörigkeit für die Identitätsbildung von Migranten vgl. etwa Lauser / Weissköppel 2008, passim. In dieser Trias erwächst der Religion – verstanden als ein kulturell geprägtes, stabiles und selbständiges Deutungsgefüge, vgl. Geertz 1983, besonders S. 48 – eine grundlegende Bedeutung als Ressource für Selbstbehauptung bzw. stellt eine bedeutende kulturelle Differenz dar, vgl. Fuchs / Trakulhun 2003, S. 7. 10 Zum Modell der Transkulturation vgl. Welsch 2012, besonders S. 26–30. Dieses Erklärungsmodell wurde seit den 1990er Jahren aus dem in den 1940er Jahren von dem kubanischen Kulturanthropologen Fernando Ortiz vorgelegte Modell der Transkulturation weiterentwickelt. Ortez wandte sich gegen das Modell der Akkulturation, das seiner Meinung nach von einem Kulturgefälle von der Aufnahmegesellschaft hin zu den Auswanderern

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Deutsche Lutheraner in der Krise – Ambivalenz und Konflikt um Sprache, Ethnie und Religion

Um 1800 lebten rund 130.000 deutsche Einwanderer und deren Nachkommen zumeist als Handwerker, Händler und Farmer in Nordamerika, vor allem in Pennsylvania, wo sie ein Drittel der Gesamtbevölkerung und damit die bedeutendste sprachliche und ethnische Minderheit bildeten.11 Weniger als die Hälfte dieser Deutschen bekannte sich zum Luthertum,12 das seinerseits im zeitgenössischen Nordamerika eine doppelte Minderheit darstellte, da es – abgesehen von einigen wenigen schwedischen Lutheranern – eine rein deutsche Denomination war.13 Aufgrund dieser Konstellation bildeten die lutherischen Gemeinden, die deshalb als hotspot dienten, nicht nur einen Hort für das Bekenntnis, sondern zugleich auch für die deutsche Sprache und die deutsche Ethnizität. Aus dieser Verschränkung musste zwangsläufig ein konfliktträchtiges Problem erwachsen, sobald ein Angriff auf nur einen dieser Identitätsmarker erfolgte. Genau dies geschah seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Ergebnis eines Generationswechsels, der sich in der Gesamtheit der deutschen Kommunität vollzog: Die Vertreter der zweiten und dritten Einwanderergeneration waren in ein englisch geprägtes Kulturumfeld hinein geboren und pflegten – anders als die erste Einwanderergeneration14 – mit diesem enge soziale Kon-

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ausging. Stattdessen verwies er auf eine Gleichwertigkeit der Kulturen, die sich bei ihrem Aufeinandertreffen gegenseitig durchdringen und neue ›hybride‹ Forme generieren; vgl. auch Wrogemann 2012, Kap. IV.1. Zur ethnischen Zusammensetzung des Luthertums vgl. Marsden 1990, S. 63; Waldkoenig 1994, S. 189; Löw 2003, S. 24f. Zur ersten Masseneinwanderung deutscher Protestanten im 18. Jahrhundert vgl. Fertig 2000, S. 21–29; Grubb 1990, S. 417. Zuverlässige Statistiken über die Bevölkerungszahlen liegen erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Zur Problematik der Berechnung und Zahlenangaben vgl. Grabbe 2001, S. 98–103. Ein ebensogroßer Teil bekannte sich zum Calvinismus, der Rest gehörte kleineren Denominationen an, etwa den Herrnhutern, den Schwenkfeldern oder den Mennoniten. Zudem stellte das Luthertum im religiösen, von verschiedenen protestantischen Glaubensgemeinschaften geprägten Gefüge der USA nur eine untergeordnete Denomination dar und galt als eine »auffällig unauffällige Kirche«, vgl. Löw 2003, S. 24–36. Während sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur etwa 2,9 % der US-Amerikaner zum Luthertum bekannten, gehörten 34 % den Methodisten und 20,5 % den Baptisten an; vgl. Pentz 2005, S. 24. Zitat: Zu einem sozialen Profil der Lutheraner als »quite ordinarily American[s]« vgl. Noll 1991, passim (Zitat S. 23), zit. nach Löw 2003, S. 25. Allgemein zum Phänomen Esser 2010, S. 160f.; speziell zu den Deutschen vgl. Wellenreuther 2001, S. 466f., ders. 1986, S. 107f.; Splitter 1998, S. 63; Marsden 1990, S. 63; Löw 2003, S. 63. Am Beispiel der Heiratsverbindungen zeigt dies auch Häberlein 2007, S. 141. Die Welt 25. 1. 2016 titelte dazu: »Als Deutsche die Integrationsverweigerer waren«. Ihr striktes Festhalten an der deutschen Sprache signalisierte als scharfes Distinktionsmerkmal diese Abgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen und beeinflusste damit, dass die Deutschen von der englischsprachigen Bevölkerungsmehrheit eher argwöhnisch wahrgenommen wurden, vgl. allgemein zum Phänomen Esser 2006; Trunk 2010, S. 173f.

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takte. Sie fanden deshalb zunehmend ihren Ort in der Aufnahmegesellschaft,15 zumal sie das Englische oft als Umgangssprache nutzen, die ihnen geläufiger war als die deutsche Muttersprache.16 Aus dieser sprachlichen Entwicklung erwuchs aber für die deutschen lutherischen Gemeinden ein Rebound-Effekt: Viele Lutheraner konnten den in deutscher Sprache zelebrierten Gottesdienst schlechterdings nicht mehr verstehen.17 Sie blieben ihm fern oder wanderten zu englischsprachigen, d. h. nichtlutherischen Denominationen ab, was angesichts der religiösen Pluralität in Amerika problemlos möglich war.18 Solche Verluste konnten die Gemeinden jedoch nicht mehr durch neuankommende lutherische Zuwanderer ausgleichen, seitdem aufgrund der politischen und militärischen Ereignisse in Europa und Amerika die Migration vor allem aus Deutschland seit den 1780er Jahren eingebrochen war. Beim Versuch, diesem Abschmelzen des Luthertums gegenzusteuern, kam es in vielen lutherischen Gemeinden zum langandauernden Konflikt zweier Interessengruppen: Viele Pastoren verteidigten den deutschsprachigen Gottesdienst strikt.19 Ihr Hauptargument war, nur wenn deutsch geredet würde, könne sich deutsches Leben und damit evangelischer Glaube in Amerika erhalten.20 Damit wird deutlich, dass für diese ›Germanizer‹ die deutsche Sprache in doppelter Hinsicht konstitutive Bedeutung besaß. Sie war fest verklammert sowohl mit ihrer nationalen Identität als Deutsche als auch mit ihrem religiösen Selbstverständnis als Lutheraner. Demgegenüber forderten zahlreiche Deutschamerikaner, diese Argumente umdrehend, entweder im Gottesdienst neben der deutschen auch die englische 15 Vgl. Lehmann 2007, S. 29–44. Speziell zu Amerika vgl. Löw 2003, passim. Als Indikatoren dienen etwa die Teilnahme am politischen Leben, die Übernahme englischer Rechtstraditionen und die steigende Zahl deutsch-englischer Mischehen, vgl. Ireland 1995, S. 244f.; Baer 2008, S. 45. 16 In diesem Sinne Rese 1996, S. 133f.; dagegen das Argument, dass die Deutschen im Privatbereich länger an der deutschen Sprache festhielten, vgl. Aengenvoort 1999, S. 276; allgemein zum Bedeutungsverlust der deutschen Sprache vgl. Müller 1994, S. 222f.; zu engeren Kontakten zwischen Deutschen und Amerikanern mit Hinweis auf Heiratsverbindungen vgl. Häberlein 2007, S. 141. 17 Zum Bedeutungsverlust der deutschen Sprache vgl. Müller 1994, S. 222f.; zur Sprachsituation insgesamt Flügel 2011, S. 125–127, hier auch weitere Literatur. 18 Zum Wechsel in andere Denominationen vgl. Splitter 1998, S. 323. 19 Entsprechend der Lebensbedingungen im englisch geprägten Kulturumfeld engagierten sich Helmuth und andere Pastoren nicht nur für den deutschen, sondern auch für den englischen Sprachunterricht, vgl. pars pro toto Roeber 1995 und ders. 1997; einen weitergefassten Überblick gibt Erben 2009. 20 Vgl. Evangelisches Magazin 1813, S. 69. Dabei erblickten die Germanizer in der deutschen Gottesdienstsprache auch eine Barriere, die das befürchtete Eindringen des Gedankenguts englischer Denominationen und im Falle Helmuths auch das Eindringen von aufgeklärter Theologie zumindest erschweren sollte, vgl. dazu Baer 2008, S. 16.

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Sprache zu verwenden oder regelmäßig rein englischsprachige Gottesdienste anzubieten. Ausgehend von der Beobachtung, mit der deutschen Sprache sei auch der lutherische Gottesdienst geschwunden, argumentierten diese ›Americanizer‹, gerade das sture Festhalten an der deutschen Sprache gefährde die Existenz des Luthertums in Nordamerika.21 Wer das Luthertum auch in Zukunft erhalten wolle – und zumindest in diesem Punkt waren sich beide Parteien einig – müsse den lutherischen Gottesdienst in Englisch anbieten.22 Ihre Haltung unterfütterten die Verfechter dieser Position mit Verweisen auf die Geschichte des Luthertums: Luther habe die deutsche Sprache in den Gottesdienst nur deshalb eingeführt, weil ihm dies angesichts der Sprachsituation in Deutschland alternativlos erschien.23 Wenn die Americanizer auf diese Art und Weise der gewandelten Sprachsituation Rechnung trugen, dann verweist dies auf eine Neugewichtung im Identitätsgefüge: Die Befürworter des englischen Gottesdienstes hielten sowohl an ihrer deutschen als auch an ihrer lutherischen Identität fest, koppelten diese jedoch nicht mehr an die Sprache, sondern an die ethnische Herkunft und die auf Deutschland verweisende kulturelle Tradition.24 Die englische Selbstbezeichnung als »german-lutheran«, die oft Eingang in die Kirchenbezeichnung fand, illustriert diese Entwicklung. In Opposition dazu verstanden die Germanizers den englischsprachigen Gottesdienst als Angriff auf ihre Identität und als Zeichen einer Unterdrückung ihrer Rechte, insofern die verfassungsgarantierte Religionsfreiheit eben auch das Recht auf deutschsprachige Gottesdienste einschloss.25 Diese Reaktion wird vor dem Hintergrund verständlich, dass die deutschsprachigen Lutheraner eher zu den Verlierern der sozialen Ausdifferenzierung gehörten.26 Entlang dieser Linie kam es seit 1800 vielfach zu Gemeindespaltungen und -neugründungen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die größte lutherische Gemeinde in Pennsylvania, die St. Michaelis- und Zions-Gemeinde in Philadelphia, von der sich zunächst 1805/6 eine englischsprachige Gemeinde abspaltete, bevor in der Rumpfgemeinde der Konflikt im Frühjahr 1816/17 eskalierte.27 In dieser Krisensituation, die auf einen sozialen Differenzierungsprozess und einen Identitätswandel in der zweiten und dritten Einwanderergeneration der deutschen Lutheraner in den USA verweist, fand das Reformationsjubiläum 1817 statt. 21 22 23 24

Bemerkungen 1815, unpag. Vgl. etwa Mühlenberg 1795, S. 14 sowie Adresse 1805, S. 1. Vgl. Adresse 1805, S. 5. Zum Bestand dieser Tradition gehört die deutsche Sprache als ›Kulturgut‹, nicht jedoch als Kommunikationsmittel. 25 Vgl. zu dieser Entwicklung auch Baer 2008, S. 11–17, 45. 26 Baer 2008, S. 111, 117. 27 Umfassend hierzu die ausgezeichnete Studie von Baer 2008, passim.

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2.

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Das Reformationsjubiläum als Brücke zwischen Germanizern und Americanizern

Bereits der Umstand, dass die deutschen Lutheraner in den USA ein Reformationsjubiläum inszenierten, ist ein symbolträchtiger Akt, der sowohl auf die alte als auch auf die neue Heimat verwies. Damit erschien es als geeignet, über alle Konfliktlinien hinweg alle Fraktionen dieser Denomination anzusprechen. Der Bezug zur alten Heimat ist offenkundig: Seit 1617 bilden die Reformationsjubiläen einen zentralen Eckpfeiler der lutherischen Erinnerungskultur in Deutschland. Mit Rückgriff auf diese Tradition haben die Lutheraner ihre Säkularfeier wie folgt legitimiert:28 »In the year 1617 and 1717, the commencement of the Reformation was celebrated in Europe. The thirty first of October, in 1817, was again hailed as an auspicious era; and … the recent Central Jubilee [Hervorhebungen im Original] must have been splendidly solemnized.«29 Damit stimmt überein, dass die lutherische Synode des Staates New York schon 1815, knapp zwei Jahre, bevor in Deutschland die ersten Jubiläumsinitiativen fassbar werden, den Synoden von North Carolina und Pennsylvania ihre Jubiläumsplanungen kommunizierte und zur Nachahmung aufrief.30 Diesem Ansinnen stimmte im Juni 1816 die Synode von Pennsylvania zu.31 Auch die knappen Beschreibungen der Säkularfeiern in den Festschriften geben Hinweise darauf, dass sowohl die anordnenden Kirchengremien32 als auch die verschiedenen Pfarrer auf das formale Vorbild der deutschen Reformationsjubiläen zurückgriffen. Wie in Deutschland auch standen im Mittelpunkt der Säkularfeier Festgottesdienste am Vormittag und am Nachmittag, in denen die Pastoren die Reformation sowie die Person Martin Luthers historisch und theologisch ausdeuteten. Zumindest in Philadelphia kam, ohne dass dies angeordnet worden wäre, ein dritter Festgottesdienst hinzu, der für eine spezielle

28 Zu diesem Aspekt der Selbstreferentialität vgl. Müller 2002, S. 266. 29 F.C. Schaeffer 1817, S. 39. Georg Lochmann verwies zudem in der Jubiläumsanordnung der Synode von Pennsylvania auf eine Jubiläumsanordnung des dänischen Königs; ein Abdruck in Branagan 1817, S. 12. 30 Vgl. Documentary History 1898, S. 490; F.C. Schaeffer 1817, S. 39; Lehmann 1988, S. 77f. Jubiläumsanordnungen lagen in Deutschland ab Frühjahr 1817 vor, jedoch begannen die eigentlichen Vorbereitungen erst relativ spät im Herbst, nachdem eine mehrjährige Hungersnot im Spätsommer 1817 überraschend zu Ende ging, vgl. Flügel 2005, S. 226ff. 31 Protokoll der Evangelisch-Lutherischen Synode von Pennsylvanien 12. 6. 1816, in: Documentary History 1898, S. 490. 32 Etwa die Anordnung des Ministeriums in Pennsylvania vom Juni 1817 und die der Evangelical Lutheran Synode of Pennsylvania vom 23. August 1817; vgl. Branagan 1817, S. 13, 21. Hinzu kommt schließlich der Beschluss der zwischen dem 21. und 24. September 1817 tagenden »Special Conference of Evangelical Lutheran Preachers in Ohio and Western Pennsylvania«, vgl. Lehmann 1988, S. 77f.

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Kinderkatechese genutzt wurde.33 Damit fügte der verantwortliche Pastor Justus Heinrich Christian Helmuth34 (1745–1825) – er landete 1769 in Amerika und gehörte zu einer Gruppe von insgesamt 14 Pastoren, welche die Franckeschen Stiftungen Halle (Saale) zwischen 1742 und 1786 nach Pennsylvania geschickt hatte – eine Inszenierungsform in den Ablauf ein, die in Deutschland im 18. Jahrhundert verpflichtender Bestandteil der Reformationsjubiläen geworden war und die er offenkundig während des Religionsfriedensjubiläums 1755 als Schüler in seiner deutschen Heimatstadt Helmstedt erlebt hatte.35 Gerahmt wurden die Festgottesdienste von Chorgesang und Orgelspiel. Festprozessionen in die Kirchen dürften ebenso wie das Einläuten der Gottesdienste die Feierlichkeiten gerahmt haben. Immerhin sind solche Inszenierungselemente von früheren Kirchenfeierlichkeiten der lutherischen Gemeinde in Philadelphia überliefert.36 Allerdings bildeten vor dem Hintergrund der religiösen Pluralität in den USA solche in den öffentlichen Raum getragenen Inszenierungselemente noch stärker als in Deutschland ein Präsenzsymbol, eine räumliche Verdichtung von Geltungsansprüchen, mit dem die deutschen Lutheraner ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft symbolisch behaupteten.37 Als eine solche »Präsenzbeschaffung«38 im Sinne eines wichtigen identitätsstiftenden Aktes wirkte im unmittelbaren Vorfeld der Säkularfeier auch die Verkündigung des Reformationsjubiläums im Evangelischen Magazin, dem ersten Periodikum des zeitgenössischen deutsch-amerikanischen Luthertums, sowie in der Tagespresse verschiedener Städte.39 33 Vgl. die Festschrift von Helmuth 1817, S. 9–14. 34 Zur Biografie vgl. Roeber 1997, S. 79–84, Glatfelter 1980, S. 57f. sowie http://www.famous americans.net/justuschristianhenryhelmuth/ [24. 01. 2016]. 35 Vgl. Flügel: Konfession 2005, 165f. Das Religionsfriedensjubiläum 1755 wurde im gesamten protestantischen Deutschland begangen, vgl. Gotthard 2004, S. 616–621. Zur Säkularfeier in Helmstedt vgl. Schwarz 1755, S. 1597–1599. 36 Zu nennen sind etwa die gut dokumentierten Feierlichkeiten anlässlich der Weihe von St. Michael in Philadelphia im Jahr 1748, vgl. Bericht der Synode, in Documentary History 1898, S. 5f.; sowie die Grundsteinlegung von St. Zion, der zweiten Kirche der lutherischen Gemeinde in Philadelphia, im Jahr 1766, vgl. Roeber 1998, S. 270–278. 37 Vgl. Rehberg 2004, S. 3–18. Zur symbolischen Bedeutung von Grundsteinlegungen allgemein vgl. Dornheim 2013, S. 201–211 sowie 252. 38 Vgl. Jalabert 2014, S. 398f. 39 Vgl. Abdruck des Protokolls der Synode im Evangelischen Magazin 1817, S. 6, Punkt 14,3f. Hier ist der Brief erwähnt, mit dem die Synode von New York über ihr Jubiläumsvorhaben die Synode in Pennsylvania informierte sowie der Beschluss, am 31. Oktober 1817 auch in Pennsylvania die Säkularfeier zu begehen. Informationen in der Tagespresse etwa in: Columbian Gazette (Utica, NY) 10. 7. 1817; Commercial Adviser (New York), 19. 7. 1817 (mit Hinweis auf Jubiläumsanordnung in Dänemark); New York Daily Advertiser 24. 7. 1817 und erneut 26. 7. 1817 (beide mit Hinweis auf Jubiläumsanordnung in Dänemark); Poulson’s American Daily Advertiser (Philadelphia) 21. 7. 1817; Washington Reporter (18. 8. 1817); Commercial Adviser (New York), 17. 9. 1817 (mit der Anordnung von Lochman); Poulson’s

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Tatsächlich zielte die deutschen Lutheraner mit ihrem Reformationsjubiläum auch in einer religiösen Ebene nach ›außen‹: Die Evangelisch Lutherische Synode von Pennsylvania unter Führung von Johann Georg Lochmann hat im Juni 1817 andere Glaubensgemeinschaften eingeladen, der Säkularfeier beizuwohnen: »With reference to the celebration of Jubilee, the Ministerium resolved that the German Evangelical Reformed Synod, the Moravians (Evangelische Brüder Gemeinde), the English Episcopal and Presbyterian Churches shall be invited by our President to celebrate the Reformation Festival with us.«40 Zumindest unterschwellig symbolisiert diese Einladung zu einer gemeinsamen Feier jedoch einen über die Betonung von Gemeinsamkeiten hinausweisenden Geltungsanspruch, der sich als besondere Affirmationsbehauptung des historischen Jubiläums aus dem beschworenen Alter des Luthertums ableitet: Luthers Reformation, die auch das Gründungsgeschehen anderer protestantischer Denominationen tangierte, ist zeitlich vor der Entstehung dieser Glaubensgemeinschaften angesiedelt. Entsprechend selbstbewusst bezeichnete Pastor Lochmann die Lutherische Kirche als »the mother church of all Protestants«.41 Ob jedoch im Jahr 1817 die Säkularfeiern und die Festschriften als gedrucktes Gedächtnis42 die genannten Religionsgemeinschaften überhaupt erreichten, war jedoch maßgeblich davon abhängig, in welcher Sprache die einzelnen Pastoren die lokalen Feierlichkeiten zelebrierten. Hier zeigen sich drei unterschiedliche Strategien der Festprediger : Eine Engführung vollzog Pastor Helmuth. Indem er sowohl den Festgottesdienst auf Deutsch zelebrierte als auch seine Predigt in dieser Sprache publizierte, wandte er sich ausschließlich an die deutschsprachige Rumpfgemeinde in Philadelphia.43 Damit positionierte er sich erneut als Germanizer in seiner St. Michaels- und Zion-Gemeinde, in der er seit 1779 als Pastor wirkte und damit unmittelbar in den Sprachstreit und die Gemeindespaltung involviert war.44 Zwei Hinweise in der Presse geben jedoch darüber

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American Daily Advertiser (Philadelphia); Spectator (New York), 19. 9. 1817 (mit der Anordnung von Lochman); Spectator (New York) 3. 10. 1817; Saratoga Courier (Ballston Spa, NY) 15. 10. 1817; The Spirit of the Times (Shippensburg, PA) 20. 10. 1817; Northern Post (Salem, NY) 23. 10. 1817; Poulson’s American Daily Advertiser (Philadelphia) 24.10. (mit Hinweis auf die Feier in St. Paul’s Church in New York); ebd., 28. 10. 1817; The New York Columbian 29. 10. 1817 (mit Informationen zum Gottesdienst in St. Paul’s Church). Documentary History 1898, S. 506. Zit. nach Nolt 2001, S. 113. Die Festschrift soll der Festgemeinde und den Nachkommen »zur Lehre und Aufmunterung« dienen sowie helfen, dass die »Kinder und Enkel« das Wissen um die Jubiläumsfeier bewahren, Helmuth 1817, Vorrede, unpag. Vgl. die Festschrift Helmuth 1817. Dass auch die bereits ausgelagerte englischsprachige Gemeinde in Philadelphia das Reformationsjubiläum feierlich beging, lässt ein Zeitungsartikel vermuten, in dem es heißt, dass die Feierlichkeiten »in several protestant congregations of this City, especially the German

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Aufschluss, dass auch die deutschsprachigen Festgottesdienste des Germanizers Helmuth und seines Kollegen Frederick David Schaeffer (1760–1836) über die Sprach- und Denominationsgrenze hinaus wirkten: Zunächst befanden sich unter den Gottesdienstbesuchern Angehörige fremder, d. h. auch englischsprachiger Denominationen, etwa Rev. Bischof White – offenkundig von der Episcopal Church – und Rev. Dr. Alexander, Principal des Theological Seminary Princeton und damit ein Presbyterianer, erwähnt. Außerdem verliehen verschiedene Gottesdienstbesucher ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Predigten von Helmuth und F.D. Schaeffer in englischer Sprache publiziert werden sollten.45 Im Gegensatz zu Helmuth wandten sich die Verfasser weiterer Festschriften auf unterschiedliche Art und Weise auch an englischsprachige Christen. Zumindest auf die Gesamtheit der Lutheraner zielte Pfarrer Frederick Henry Quitman (1760–1832), der als gemäßigter Americanizer zu bezeichnen wäre. Wie Helmuth war auch er sowohl in Deutschland geboren worden als auch Theologiestudent in Halle (Saale), allerdings des Neologen Johann Salomo Semler – und damit eines natürlichen Opponenten des von den Franckeschen Stiftungen getragenen Halleschen Pietismus. Nach einem längeren Aufenthalt in den Niederlanden kam er in den 1780er Jahren in die USA. Seit 1798 war er Pastor an St. Peter und St. Paul in Rhinebeck, einer vor allem von deutschen und niederländischen Familien bewohnten Kleinstadt nördlich von New York City, und wurde als solcher für das Jahr 1817 zum Präsidenten der Evangelical Lutheran Synod des Staates New York gewählt.46 Gleichermaßen gut Deutsch, Holländisch und Englisch sprechend, unterstützte er die Verbreitung von lutherischen Liederbüchern und Bekenntnisschriften, die, in englischer Sprache publiziert, von allen Lutheranern verstanden werden konnten.47 In diesem Sinne hielt er angesichts der Bevölkerungsstruktur Rhinebecks seine Predigten zum Reformationsjubiläum zwar auf Deutsch, aber er übersetzte sie auf Bitten der Evangelisch-Lutherischen Synode des Staates New York für die Drucklegung ins Englische.48

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Lutherans« begangen wurden, Poulson’s American Daily Advertiser (Philadelphia) 4. 11. 1817. Seinem Wunsch, die Predigt F.D. Schaeffers auf Englisch zu publizieren, fügte der Gottesdienstbesucher an: »Many of us, who are unacquainted with the German language, were sorry, that we could not understand the Sermon, wich, as German friends told us, wae edifying, impressive and appropriate.«, Poulson’s American Daily Advertiser (Philadelphia) 7. 11. 1817. Ähnlich in einem Leserbrief im Commercial Advertiser (New York) 25. 11. 1817. Zur Biografie vgl. http://www.famousamericans.net/frederickhenryquitman/ [Zugriff am 24. 01. 2016]. Zur Sprachkenntnis Quitmans vgl. Kolodziej 2006, S. 342; zu seiner Herausgebertätigkeit vgl. Anderson 1980, S. 106. Vgl. Quitman 1817, »To the Reader« [Blatt 1 u. 2].

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Eine noch weitergehende Öffnung vollzog schließlich der Pastor der lutherischen Gemeinde in New York City, Frederick Christian Schaeffer (1792–1832), sowie – mit Abstufungen – sein Bruder David Frederick, der als Pfarrer in Frederickstown, Maryland, wirkte.49 Entscheidend hierfür war vermutlich ihre Sozialisation in Amerika: Als Söhne des aus Deutschland eingewanderten Pfarrers Frederick David Schaeffer50 gehörten beide zu einer Theologengeneration, die bereits in Nordamerika geboren wurde und – obgleich von Germanizern in Pennsylvania ausgebildet – in ihrem Verhalten deutlich stärkere ›Amerikanisierungstendenzen‹ zeigen. Diese Entwicklung wird umso augenfälliger, wenn man Helmuths Säkularfeier mit der vergleicht, die sein akademischer Enkel51 Frederick Christian Schaeffer organisiert hat. Zweisprachig aufgewachsen wandte sich dieser Pfarrer während des Reformationsjubiläums an zwei divergierende Zuhörerkreise. Dabei wird deutlich, dass er ganz im Sinne der anordnenden Synode die Säkularfeier nicht zur Demonstration lutherischer Abgrenzung, sondern bewusst als denominationsübergreifendes Ereignis geplant hatte:52 Zwar feierte er am Vormittag einen deutschsprachigen Gottesdienst in der lutherischen Kirche, setzte jedoch mit dessen Wiederholung am Nachmittag in englischer Sprache die Einladungspolitik der Synode um und wandte sich an einen ungleich größeren, die Grenzen der deutsch-lutherischen und ebenso der englischsprachigen lutherischen Gemeinde weit übergreifenden Rezipientenkreis. Vermutlich auch in Folge der Presseankündigung53 rechnete Schaeffer bereits bei der Vorbereitung des 49 F.C. Schaeffer hatte anstelle des verhinderten Quitman die New Yorker Lutheraner auf jener Synode in Pennsylvania repräsentiert, die 1816 den Jubiläumsbeschluss gefasst hatte; vgl. Evangelisches Magazin 1817, S. 6, Punkt 14,1. 50 Eine Sammelbiografie der drei Schaeffers unter http://www.famousamericans.net/frederick davidschaeffer/ [24. 01. 2016]. Für Frederick David S. vgl. auch Glatfelter 1980, S. 114. 51 Frederick David Schaeffer war aus Deutschland eingewandert, studierte bei Johann Christoph Kunze und wurde Kollege und enger Weggefährte von Helmuth in Philadelphia. Da noch keine akademische Theologenausbildung für Lutheraner an den Universitäten der USA möglich war (lediglich die zum Berufsbild des Theologen passenden Alten Sprachen konnten studiert werden, wobei die lutherischen Pastoren wie Helmuth die entsprechenden Professuren an der Universität Philadelphia innehatten), übernahm er gemeinsam mit Helmuth die Ausbildung seiner Söhne. Zur Ausbildung vgl. Glatfelter 1980, S. 114. 52 Vgl. die Festschrift F.C. Schaeffer 1817, S. 40ff. Hier auch das Folgende. 53 Damit korrespondiert, dass im Nachgang die Presse auch über die Feierlichkeiten in St. Paul’s informierte, vgl. New York Daily Advertiser 13. 11. 1817; The Evening Post (New York) 22. 11. 1817 und Commercial Advertiser (New York) 25. 11. 1817 (zusätzlich auch mit Berichten aus Philadlephia); Berichte aus weiteren Gemeinden etwa in Poulson’s American Daily Advertiser (Philadelphia) 4. 11. 1817, 7. 11. 1817, 10. 11. 1817 (über Lancaster/Harisburg sowie über Jersey). Schließlich wurden auf der Synode des Jahres 1818 zwei Briefe mit Bezug auf das Reformationsjubiläum verlesen, wobei über den Inhalt keine Angaben gemacht wurden. Die Absender waren White (der Bischof der episcopalen Kirche?) und ein Herr Reichelt aus Bethlehem, was auf eine Zugehörigkeit zur Herrnhuter Brüdergemeinde deutet, vgl. Docu-

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Nachmittagsgottesdienstes mit einem Besucherandrang, der das Fassungsvermögen der lutherischen Kirche übersteigen würde. Deshalb hatte er den Bischof der episkopalen Kirche von New York, John Henry Hobart (1775–1830) gebeten, ihm für diesen Gottesdienst St. Paul’s Church zur Verfügung zu stellen. Doch auch dieses Gotteshaus, das 5000 Personen Platz bot, erwies sich als zu klein, weshalb mehrere tausend Bürger keinen Zugang zum Festgottesdienst erhalten konnten.54 Mit dem Charakter einer denominationsübergreifenden Veranstaltung korrespondiert weiterhin, dass sowohl Bischof Hobart als auch weitere Vertreter der episkopalen und der reformierten Gemeinde sowie der Mährischen Brüder der Einladung Schaeffers, ihm während der Festgottesdienste als Konzelebranten zu assistieren, Folge leisteten. Die Behauptung von Hartmut Lehmann, wonach die Lutheraner das Reformationsjubiläum 1817 »nur eher beiläufig observiert« haben, muss zumindest relativiert werden.55 Die aufwändige Feier in New York und ebenso die Tatsache, dass die Musik von The Handel and Haydn Society (Boston) aufgeführt sowie der Druck der Festschrift von der New York Historical Society besorgt worden war, verdeutlichen, wie stark Lutheraner wie Schaeffer denominations- und ethnieübergreifend in die sozialen Netzwerke56 integriert waren. Zugleich liefert gerade die Jubiläumsfeier in New York Indizien dafür, dass viele Lutheraner ein die engen Grenzen der eigenen Denomination überschreitendes protestantisches Zusammengehörigkeitsgefühl zeigen konnten, wie dem bereits Frederick Christian Schaeffer auf der Jahressynode 1812 Ausdruck verliehen hatte, indem er – was an die preußische Kirchenunion von 1817 denken lässt – eine gemeinsame Abendmahlsfeier von Lutheranern und Reformierten »in case of necessity« forderte.57 Indizien dafür, dass diese Haltung innerhalb des Luthertums keinesfalls nur von den Pastoren als der intellektuellen Führungsschicht, sondern auch von zahlreichen Laien vertreten wurde, liefert die Festschrift des Singe-

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mentary History 1898, S. 513. Das Evangelische Magazin war im Sommer 1817 letztmalig erschienen und scheidet somit als Informationsquelle aus. Diesen Sachverhalt erwähnt die Gemeinde auch auf ihrer Homepage, vgl. http://www. stmatthewnyc.org/about/st-matthews-history/a-time-line-of-st-matthew/ [24. 01. 2016]. Lehmann 1992, S. 225. Bereits die aus Halle eingewanderten Pastoren schufen ein belastbares transatlantisches/ amerikanisches Netzwerk, vgl. Wellenreuther 2013, passim. Auch F.C. Schaeffer hatte Verbindungen nach Deutschland: Er schickte ein Exemplar seiner Festschrift an einen Professor Gubitz – gemeint ist wohl der Verleger, Publizist und Künstler Friedrich Wilhelm Gubitz (1786–1870) – nach Berlin, der seinerseits eine Übersetzung durch Hartwig von HundtRadowsky (1780–1835) veranlasste; vgl. F.C. Schaeffer 1818. Dies korrespondiert mit etwa zeitgleich beginnenden von Lehmann beschriebenen Vorgängen, die zur Entdeckung Luthers in Amerika führten bzw. mit den (Bildungs-)Reisen der Amerikaner nach Deutschland, vgl. Lehmann 1983, ders. 1988 sowie ders. 1992. Documentary history 1898, S. 437.

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Chors von Yorktown, in der ebenfalls denominationsübergreifende protestantische Gemeinsamkeiten betont werden.58 Die Deutung dieser denominationsübergreifenden Feier fällt allerdings ambivalent aus: Einerseits steht sie in Übereinklang mit der Geltungsbehauptung als protestantische ›Mutterkirche‹ und symbolisiert damit die selbstbewusste lutherische Selbstdarstellung als »New World’s rightful representatives of the Reformation«59, wobei fast der Eindruck erweckt wurde, als sei das Luthertum die Religion der Deutschen in Nordamerika schlechthin. Andererseits aber deutet sich hier eine Transkonfessionalität60 an, die für amerikanische Protestanten typisch war, und die zugleich ein Bedrohungspotential für die lutherische Identität darstellen konnte: Verwischende Grenzen zwischen den Denominationen waren genau das, was die Germanizers befürchteten. Angesichts der verschiedenen Strategien, mit denen die Germanizer und die Americanizer das Reformationsjubiläum inszenierten, interessiert im Folgenden, wie die jeweiligen Pastoren in ihren Festpredigten die Reformationsgeschichte im Sinne des ›Migranten-Gedächtnis‹ nutzten. Wie deuteten sie in ihren Jubiläumspredigten die Reformation Martin Luthers für Geschichte, Gegenwart und Zukunft der deutschen Lutheraner in Pennsylvania aus und wie fügten sie die verschiedenen Facetten der Eigengeschichte sinnstiftend zu einem konzisen Konstrukt zusammen?

3.

Germanizer und eine transatlantische Reformationsgeschichte

Von besonderer Bedeutung für den affirmativen Anspruch der Festpredigten ist der Umstand, dass der Verweis auf Martin Luther bzw. auf die Publikation der Ablassthesen völlig unabhängig von der theologischen Reformations58 Mit Hinweis auf Zwingli, Calvin, die Hugenotten und die Anglikaner sowie mit Anspielung auf den zweiten Reichstag von Speyer heißt es dort: »Die Mitglieder aller dieser Gemeinen heissen nun mit einem Wort, Protestanten, weil sie alle, so wie ehemals A. D. 1529, die Lutherische Kirche, dem Papst den Gehorsam aufgesagt, und sich für die Religions- und Gewissensfreyheit erklärt haben.«, Singe-Chor 1817, S. 10. Mit Bungert kann die von den Pastoren vertretene Meinung als Ausdruck des ›ethnischem Legitimationsgedächtnisses‹ und die vom Chor bezogene Position als Bestandteil des ›ethnischem Alltagsgedächtnis‹ verstanden werden, vgl. Anm. 7. 59 Nolt 2001, S. 111. 60 Wellenreuther 2006, S. 24f. Der Begriff meint den Umstand, dass aufgrund des Theologenmangels viele Gemeinden ohne Pfarrer blieben und deshalb die Dienste eines jeden protestantischen Pfarrers unabhängig von dessen Denomination akzeptierten. Daraus erwuchs jedoch die Gefahr, dass andere religiöse Anschauungen in das Luthertum einflossen und lutherische Glaubensgrundsätze verwässert wurden.

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deutung per se nicht nur auf das Gründungsgeschehen des Luthertums sondern auch auf zentrale Momente der deutschen Geschichte zielte. Insofern griff die Reformationsvergegenwärtigung auf zwei wichtige Bausteine des Selbstbewusstseins der deutsch-amerikanischen Lutheraner zurück. Damit diente das Reformationsjubiläum zugleich als eine Brücke zwischen der alten und der neuen Heimat.61 Helmuth, Quitman und die Gebrüder Schaeffer legten in ihren Predigten ein unterschiedliches Gewicht auf die Darstellung der Reformationsgeschichte und die Konstruktion von Kontinuitätslinien zwischen deutschem und amerikanischem Luthertum. Dabei überrascht nicht, dass vor allem die Schaeffer-Brüder als Vertreter jener in den USA geborenen Theologengeneration diesem Thema nur untergeordnete Relevanz beimaßen. Selbstverständlich gingen auch sie in ihren Predigten relativ ausführlich auf die Reformationsgeschichte ein, stellten aber keinen unmittelbaren historischen Bezug zur eigenen Festgemeinde her. Frederick Christian Schaeffer etwa verwies lediglich lapidar darauf, dank des Buchdruckes habe sich die Reformation ausgehend von Wittenberg zunächst in Deutschland, dann in Europa und schließlich in der restlichen Welt ausgebreitet und werde dies in Gestalt der Evangelical Church in Amerika auch weiterhin tun.62 Anders argumentierten dagegen die in Deutschland geborenen Theologen. Vor allem Helmuth betonte in seiner Festpredigt die transatlantischen Verbindungen und die deutsche Prägung des Luthertums. So nutzte er den Verweis auf das Reformationsjubiläum in Europa, um die amerikanischen Lutheraner als integralen Bestandteil jener transnationalen Festgemeinde darzustellen, die sich zur Feier des Reformationsgedenkens konstituiert habe: Die Alte Welt mache »herrliche Anstalten, dieses Jubiläum … zu begehen und die evangelischen Prediger in Amerika haben … beschlossen, dasselbe mit ihren Brüdern in Europa an dem nemlichen Tag auf eine würdige Weise zu feiern.«63 61 Vgl. Aengenvoort 1999, S. 252–255. Zum Zusammenhang von religiöser und regionaler Identität vgl. Smith 1978, passim und Roloff 2003, passim. Eine solche Koppelung von territorialem Raum und religiöser Identität gab es bereits bei den protestantischen Landeskirchen in der Alten Welt; vgl. Hölscher 2006, S. 118. 62 So etwa die Behauptung Schaeffers: »the ›Evangelical Church‹ extending her pale«; F.C. Schaeffer 1817, S. 28 (Zitat), ähnlich auch S. 19, 22 und 27. 63 Helmuth 1817, S. 11. Ähnlich auch: Die evangelischen Kirchen haben »allgemein jedesmal das hundertjährige Reformationsfest gefeiert […] Man macht auch nun wieder grosse und herrlichen Anstalten in Europa, dieses hundertjährige Jubiläum, den 31sten October, A. D. 1817, zum drittenmal zu begehen; und die evangelischen Prediger in Amerika haben in ihren letzten Versammlungen beschlossen, dasselbe mit ihren Brüdern in Europa an dem nemlichen auf eine würdige Weise zu feiern.«, Singe-Chor 1817, S. 1. Auf der Gegenseite lassen sich vereinzelte Hinweise in deutschen Jubiläumspublikationen finden, dass man um das Reformationsgedenken der amerikanischen Lutheraner wusste; vgl. von Meding 1986, S. 23. Hier auch die Vorstellung der Vereinigung zu einer großen übergreifenden (Fest-)Gemeinde.

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Ein solcher Kunstgriff stellte einerseits den charakteristischen Versuch einer sprachlichen und religiösen Minderheit dar, die eigene Situation im affirmativen Sinn positiv auszudeuten. Andererseits handelte es sich bei dieser Äußerung aus zwei Gründen um mehr als nur um eine Kompensationsfloskel. Erstens korrespondiert sie gleichermaßen mit der auch von zeitgenössischen Festrednern in Deutschland geäußerten Vorstellung eines ›Weltprotestantismus‹ sowie mit der Vorstellung der amerikanischen Gemeinden als »ecclesia particularis«, die sich bereits in der unter der Federführung von Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787) – er ist der erste der von den Franckeschen Stiftungen nach Pennsylvania geschickten Theologen – entstandenen Kirchenordnung der Gemeinde in Philadelphia von 1762 findet.64 Zweitens ergänzt sie die folgenden Aussagen Helmuths, mit denen dieser in einem elaborierten Konstrukt, das er 1787 erstmals in seiner Leichenpredigt für Mühlenberg entwickelt und in späteren Jahren weiter vervollkommnet hatte65, die eurozentrierte Geschichte des Luthertums zu der der eigenen amerikanischen Gemeinde in Beziehung stellte und so an den Erfahrungshorizont des Einzelnen anknüpfte. Mit diesem Vorgehen verfolgte der Redner ein doppeltes Ziel: Einerseits galt es, die Reformationserinnerung zu intensivieren, zu plausibilisieren, die emotionale Bindung an die alte Heimat zu perpetuieren und so letztendlich die deutsch-lutherische Identität seiner Zuhörer zu stärken. Andererseits wollte er aus seiner pietistischen Prägung hinaus in strenger Opposition zum Gedankengut der Aufklärungstheologie zur Beförderung von Bekehrung und individueller Frömmigkeit sowie zu Trost und Ermahnung seiner Gemeinde beitragen.66 Für Helmuth stellte der Umstand, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 »dem Pabstum in 95 Sätzen den Krieg ankündigte«, lediglich den Ausgangspunkt der Reformation dar.67 Den »völligen, hellen Morgen« erlebte die Kirche Christi nämlich erst, so Helmuth, im Ergebnis Luthers »schöne[r] Übersetzung der Heiligen Schrift«.68 Dieses »Licht« der Reformation habe sich aus Europa kommend über das rückständige Nordamerika verbreitet, wo »die finsterste 64 Zur Vorstellung der »ecclesia particularis« vgl. Schomerus 1965, S. 120. 65 Vgl. Helmuth 1788, passim; [ders.] 1791, passim. 66 Zu einer solchen Erzählstrategie vgl. van Lieburg 2005, S. 738–741. Zu Helmuths Ablehnung der Aufklärung vgl. Roeber 1997, S. 27–29. Dementsprechend versuchte Helmuth die Ausrichtung der Schulbildung in den lutherischen Gemeinden zu beeinflussen, vgl. Splitter 1998, S. 281–284. Aus derselben Motivation heraus gab er zahlreiche Gesangbücher, einen revidierten Luther-Katechismus und das »Evangelische Magazin« heraus; vgl. ebd., S. 255 u. 311. Allgemein zur Ausbreitung aufgeklärter Theologie in den USA vgl. Mead 1987, S. 61ff. sowie Hölscher 2006, S. 120. Zur innerprotestantischen Auseinandersetzung um das aufgeklärte Gedankengut und die daraus resultierende Spaltung in einen aufklärungskritischen konservativen und einen liberalen Protestantismus vgl. Graf 1993, S. 158–164. 67 Helmuth 1817, S. 10. 68 Helmuth 1817, S. 10.

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Nacht des Heidenthums auch noch zu der Zeit herrschte« als 1517 die Reformation in Deutschland ihren Anfang nahm.69 Diese Ausbreitung des Luthertums stellte Helmuth in unmittelbaren Zusammenhang zum eigenen Migrationserlebnis, das somit auch einen heilsgeschichtlichen Bezug erhält: »Wir und unsere Vor-Väter«, so betonte er, »wurden von den Stralen dieses neuen Tageslichtes über grosse Gewässer in diese unbebauete Wüste geleitet, und sein heller Glanz verbreitet sich noch über uns und unsere Kinder. Das theure Evangelium wird hier überall bis an und über der heidnischen Grenze verkündigt«.70 Das Migrationserlebnis wird in dieser Deutung zu einem katalysatorischen Lebensabschnitt, der einerseits für den einzelnen »den individuellen Weg zum gottesfürchtigen Daseins durch die kollektive Leidenserfahrung erleichterte«, und andererseits im Rahmen der Gruppenbiographie als ein gleichsam mythisches Gründungsereignis oder als Passageritual der Inanspruchnahme einer besonderen religiösen Auserwähltheit dienen konnte und so die Gruppenkohärenz bestärkte.71 In diesem Prozess der reformatorischen Ausbreitung verortete Helmuth seine Gemeinde in Philadelphia. Dabei unterstützen die von ihm genutzten Metaphern und Deutungsschemata seine Aussagen zusätzlich auf einer symbolischen Ebene, insofern sie sowohl seine Distanz gegenüber der Aufklärung, die Helmuth nicht nur in der Festpredigt wiederholt für den von ihm konstatierten Verfall des Christentums verantwortlich machte,72 unterstreichen, als auch eine aus der alten Heimat bekannte Sprachtradition markieren.73 In seiner Argumentation konstruierte Helmuth zahlreiche strukturelle Analogien zwischen der Reformationsgeschichte und der Geschichte der lutherischen Gemeinde in Philadelphia. Letztere wird insofern mit heilsgeschichtlicher 69 Helmuth 1817, S. 12; ähnlich heißt es auch in einem Lied, das von der Gemeinde im Abendgottesdienst vor der Predigt Helmuths gesungen wurde: »Das Licht das Luther angesteckt, / verstrahlt auch diese Lande; / […]. Hier, wo schwaerzeste Finsterniß / Das Land wie Nacht bedeckte; / Wo toedtlich gift’ger Schlangenbiß / Der Wilden schreckend weckte; / Da stehen Tempel Gottes nun […]«; ebd., Beilage »Lieder«, S. 16. 70 Helmuth 1817, S. 12. zum Wüstentopos vgl. Flügel 2015, passim. 71 Zum Migrationserlebnis als Katalysator für Frömmigkeit vgl. Schunka 2007, S. 150; Einwanderung als Ursprungserlebnis vgl. Waters 1995, S. 520. 72 Vgl. etwa Evangelisches Magazin, 3. Band 1. Stück, S. 22ff. In der Festpredigt stellte er z. B. jenen »philosophischen Christen«, die ein »vermeintlich gutes Herz« besitzen sowie vom »Adel der Menschlichkeit« sprechen, sein pietistisches Verständnis vom andauernden »BußKampf« des um Erleuchtung und Seelenheil ringenden Christen entgegen, Helmuth 1817, S. 18; ebd., in der angehängten: »Kurze Anzeige von Dr. Luthers frühern Lebensjahren«, S. 22. Mit diesen Vokabeln klingt charakteristisches pietistisches Gedankengut an; zu Begriffen wie »Erweckung« und »Erleuchtung« im pietistischen Sprachgebrauch vgl. Langen 1968, S. 33 und 44. 73 Zum Zusammenhang von Religion und Kommunikation vgl. Tanner 2004, S. 10f. sowie Buntfuß 2004, passim.

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Bedeutung aufgeladen, als sie von der Reformation in Deutschland ähnlich antizipiert wird, wie das Neue Testament durch das Alte: Entsprechend des klassischen Topos protestantischer Geschichtsdeutung schilderte Helmuth in seiner Predigt, dass die Kirche Christi im vorreformatorischen Europa seit der Spätantike zunehmend von Aberglaube und Abgötterei bestimmt gewesen sei und lediglich eine kleine Schar aufrechter Bekenner das wahre Christentum vertreten habe.74 Auffallend ist, dass Helmuth diesen Zustand im weiteren Argumentationsgang nicht wie die lutherische Meistererzählung in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert als Argument gegen die römisch-katholische Kirche benutzt hat (was angesichts der amerikanischen Glaubensfreiheit auch problematisch, aber nicht unmöglich gewesen wäre),75 sondern dieses Konstrukt für einen Vergleich nutzte: Dem auf die Alte Welt verweisenden Erzählstrang der vorreformatorischen Kirchengeschichte stellte Helmuth den ebenso negativ eingefärbten Verweis auf die Neue Welt parallel gegenüber, indem er auf den Anfangszustand des amerikanischen Luthertums verwies: Von – modern gesagt – ›Wirtschaftsflüchtlingen‹ gebildet, war die »Deutsche Gemeinde« zunächst »gering, verachtet und klein«.76 Die ungenannte Ursache hierfür war weniger die anfängliche 74 Vgl. Helmuth 1817, S. 9. Zur kleinen Schar der ›Zeugen der Wahrheit‹ als Argument in der lutherischen Kirchengeschichtsschreibung v. a. vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vgl. Burkhardt 2002, S. 158; Fuchs 1998, S. 592f. 75 Lediglich der Helmuth-Schüler John Georg Schmucker (1771–1854), Pfarrer in York, PA (zur Person vgl. Glatfelter 1980, S. 121) verwies 1817 auf das Vorgehen der römisch-katholische Kirche gegen die Protestanten und interpretierte dies als andauernde Bedrohung; vgl. Nolt 2001, S. 111. Andere Pastoren thematisierten lediglich in traditioneller lutherischer Diktion die Verfehlungen und Missstände in der römischen Kirche bis etwa 1530, vgl. etwa D.F. Schaeffer : 1818, S. 8ff. Dabei wird deutlich, dass die Festprediger die katholischen Zustände sowie die Unterdrückung der Protestanten durch die katholische Kirche als ein charakteristisches Problem der Alten Welt verstanden, vgl. Quarterly Theological Review 1818, S. 446. Gegen solche als antikatholisch verstandenen Darstellungen polemisiert der katholische Pfarrer Bescher 1818, passim. Eine Zurückweisung Beschters mit dem Hinweis, er habe Luther so gezeichnet, dass ihn jeder katholische Priester in Fegefeuer verdammen könne und wolle dem katholischen Leser klarmachen, es gäbe nur eine ›wahre‹, d. h. die römischkatholische Kirche, vgl. The Quarterly Theological Review, 1818, S. 639f. Hier deuten sich beginnende Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken und damit eine ähnliche Entwicklung wie zeitgleich in Deutschland im Zuge der Rekonfessionalisierung an. Im 18. Jh. gab es in Pennsylvania hingegen keine Verwerfungen zwischen Lutheranern und Katholiken, wohl auch, weil diese aufgrund ihrer geringen Anzahl keine Bedrohungsgefühle auslösten. Vielmehr schien es nicht zuletzt aufgrund der Sprachgleichheit eine gewisse Kooperation zwischen deutschen Lutheranern und Katholiken gegeben haben. So wurde etwa 1787 auch der örtlich katholische Pfarrer J.B. Causse in das Board of Trustees des Franklin-College – einer von deutschen Lutheranern und Reformierten gemeinsam betriebenen weiterführenden Schule – kooptiert und als John W. Betscher für den Bau einer katholischen Kirche in Lebanon warb, befanden sich auch Reformierte und Lutheraner in seinem Auditorium, vgl. Nolt 2001, S. 185, Anm. 14. 76 Helmuth 1817, S. 13.

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Armut der deutschen Migranten, sondern vielmehr, dass aufgrund des Pfarrermangels kaum geschlossene Gemeinden existierten und eine geistliche Betreuung nicht ausreichend möglich war.77 Erst im Ergebnis göttlichen Eingreifens sowohl in Europa als auch in Amerika sei es zu einer Verbesserung gekommen: In Deutschland hatte Luther als »Werkzeug in der Hand des Herrn« die Reformation heraufgeführt.78 In Analogie dazu, so konnte Helmuth feststellen, fand der Reformator in Amerika seine Entsprechung in Heinrich Melchior Mühlenberg, der als Erinnerungsfigur mit sakraler Qualität aufgeladen und geradezu zum amerikanischen Luther stilisiert wurde: »Der Herr war es, der den frommen Mühlenberg […] sandte.«79 Tatsächlich gilt Mühlenberg bis in die Gegenwart hinein nicht nur als Patriarch der lutherischen Kirche in Amerika, sondern auch als Schlüsselfigur in der Geschichte der Gemeinde in Philadelphia, womit die Gemeinde eine symbolische Aufwertung erfuhr : Unter seiner »Anleitung vor mehr als 70 Jahren [14. 8. 1748] unsere Verehrungswürdige St. Michaelis Kirche … eingeweihet wurde.«80 Die besondere Brisanz dieses Arguments liegt natürlich darin, dass er einen biographischen Verweis auf Helmuth enthält: Gemeint ist nicht nur der gemeinsame Bezug beider Pastoren zu den Franckeschen Stiftungen, sondern Helmuth war in seiner Funktion als ›Erster Prediger‹ der zweite Amtsnachfolger von Mühlenberg. Diese Sachverhalte waren seiner Gemeinde bekannt. Damit lässt sich Helmuths Auslassung dahingehend verstehen, dass der Pastor, der trotz allen Ansehens in der Gemeinde zunehmend an Einfluss und Meinungsführerschaft verlor, versuchte, seine Position durch diesen Hinweis auf den Patriarchen zu verbessern.81 Von diesen beiden Schlüsselfiguren Luther und Mühlenberg ausgehend konstruierte Helmuth zwei in die zeitgenössische Gegenwart reichende Traditionsstränge. Beide waren durch Krisensituationen, wie dem Bauernkrieg oder dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland oder Seuchen und Brandkatastrophen in Philadelphia, gekennzeichnet. Doch dank Glaubenskraft und Fröm77 Vgl. Müller 1994, S. 97. 78 Sowohl die lutherisch-orthodoxe als auch die pietistische Deutung führte jegliches Geschehen auf göttliche Urheberschaft zurück, wobei die Menschen lediglich als Werkzeuge Gottes fungieren. Dementsprechend habe Gott auch die Reformation durch sein Werkzeug Luther heraufgeführt; vgl. etwa Kaufmann 1998, S. 18f. Zitat: Helmuth 1817, Vorrede. An anderer Stelle erfolgt die Charakterisierung Luthers als ein »gelehrter aber vornehmlich ein redlicher, frommer Mann«; ebd., S. 10. 79 Helmuth 1817, S. 13. 80 Helmuth 1817, S. 13. 81 Tatsächlich zog sich Helmuth 1820 in seine Vorstellungen gescheitert vom Pfarrdienst zurück: 1818 hat die Stadt Philadelphia ein eigenes Schulsystem etabliert, ohne auf Helmuths Vorstellungen einer Kooperation zwischen ›Staat‹ und privaten Religionsgesellschaften einzugehen und ohne seine Pläne eines umfassenden, mehrfach abgestuften Bildungswesen, in dem praktisches Lernen, deutsche Sprache und pietistisch-lutherische Religionserziehung miteinander verbunden waren, zu reflektieren, vgl. Roeber 1995, S. 157f., 176.

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migkeit – »bruenstigem Gebet« – konnten diese »schwarzen GewitterWolken« rasch überwunden werden konnten.82 Als Indiz, dass sich die Gemeinde in Philadelphia seitdem zu ihrem Vorteil entwickeln konnte, verwies der Theologe auf die große Zahl von 1000 Personen, die an der Jubiläumsfeier teilnahmen. Als Beweis für die Wahrheit seiner Ausführungen verwies er auf jene nur noch wenigen Gemeindeglieder, welche sich »in der gegenwärtigen Versammlung insbesondere der ersten Ereignisse unserer theuren Gemeinde erinnern können«.83 Diese Zeitzeugen fungierten demnach als personifiziertes, die gesamte Vergangenheit der Gemeinde umfassendes Gedächtnis. Schienen die Entwicklungsstränge des deutschen und amerikanischen Luthertums in der Vergangenheit in Analogie zueinander verlaufen zu sein, so traten sie in der zeitgenössischen Gegenwart auseinander. Ungeachtet aller Probleme verortete Helmuth die positive Tendenz optimistisch auf Seiten Amerikas! Verantwortlich machte er dafür eine Glaubensstärke der amerikanischen Lutheraner : Nach seiner Interpretation trat »schwarzes Gewölke [die Aufklärung] vor die erwärmende Sonne […] und macht auch unser geliebtes Vaterland Deutschland dunkel, und es ist zu befürchten, daß unterschiedliche der Auswanderer [..]. diesen tödtenden Gift auch unter uns verbreiten.«84 Dieser Gefahr stellte der Pastor die ebenso optimistische wie gegen die Aufklärungstheologie gerichtete Hoffnung entgegen, es werden sich »Amerika’s Einwohner […] nicht leicht von einem solchen trostlosen Dunkel verleiten lassen, das Licht mit dieser Finsterniß zu vertauschen.«85 Im Gegensatz zu Europa, wo sich das Luthertum – zumindest nach seiner Meinung – in einer anhaltenden Krise befinde, werde, so Helmuths optimistische Zukunftsvision, die Gemeinde sowohl an der lutherischen Lehre als auch an ihrer deutschen Kultur festhalten: Tatsächlich besorgten »viele unserer lieben Kinder Gottes Lob lieblich« und führten »unsere kleinen Laemmer auf die Weide ihrer deutschen Voreltern.«86 Hinzu käme eine Bekehrung der deutschen Einwanderer: »einige, welche mit Finsternis bedeckt, hier das Licht des Heils fanden, dass sie im Vaterlande nicht sehen konnten, so fanden, dass sie nicht allein in diesem Lichte selbst zu wandeln anfingen, sondern sogar […] dahin ringen, auch anderen einen hellen Gnadentag zu verschaffen.«87 82 Helmuth 1817, S. 12 (beide Zitate). Zur Krisenproblematik vgl. Lehmann 2007, passim. Zu den Krisensymptomen und deren Ausdeutung schon durch die lutherische Orthodoxie vgl. Leppin 1999, S. 252–262; Flügel 2005, S. 75f. Danach galten Krisensymptome als Warnung bzw. Strafe Gottes für menschliches Fehlverhalten, der durch eine Änderung des Verhaltens entgegengewirkt werden musste. 83 Helmuth 1817, S. 14. 84 Helmuth 1817, S. 14f. 85 Helmuth 1817, S. 15. 86 Helmuth 1817, S. 14. 87 Helmuth 1817, S. 15.

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Damit entwarf Helmuth vor dem Hintergrund des sich 1816/1817 zuspitzenden Sprachstreits in seiner Gemeinde ein ambivalentes Bild. Einerseits verlieh er der Hoffnung Ausdruck, die Gemeinde werde an Luthers Bibelübersetzung festhalten und so auch weiterhin als »deutsch-lutherisch« bestehen. Diese Projektion korrespondiert mit der unter den deutschen Migranten aller Denominationen verbreiteten Hoffnung, dass das ›Deutsche‹ auch in Zukunft einen wichtigen Platz in den USA einnehmen werde: So hatte bereits 1786 ein kurzer Artikel in einem deutschsprachigen Taschenkalender erklärt, eines nicht fernen Tages würden die US-Gesetze auch in deutscher Sprache gedruckt werden. Ähnlich verleiht ein Autor eines 1812 im Evangelischen Magazin publizierten Artikels der Hoffnung Ausdruck, in 40 Jahren können Philadelphia eine deutsche Stadt sowie Lancaster und York deutsche Verwaltungsbezirke geworden sein.88 Vor diesem Hintergrund hielt Helmuth unverkennbar an der deutschen Tradition fest, was sich etwa darin zeigt, dass er Deutschland mehrfach als Vaterland bezeichnete, dessen Sprache und kulturelle Gepflogenheiten, so seine Aufforderung, innerhalb der Gemeinde in Philadelphia zu perpetuieren seien. Auch schien er das Luthertum als den eigentlichen und grundlegenden Träger religiöser Erneuerung zu verstehen. In diesem Sinne verwies er nicht nur auf den Wittenberger Reformator sondern auch auf lutherischen Theologen pietistischer Prägung, etwa Spener oder den Hallenser Pietisten August Hermann Francke.89 In religiöser Überhöhung galt ihm andererseits seine amerikanische Wirkungsstätte als gelobtes Land, als das neue, »gesegnete Zion«, in dem reformatorisches Gedankengut weit und tief verbreitet war und in dem eine neue Erweckung stattfand.90 In einer Zukunftsversion, die auch als Ausdruck von Zivilreligion91 zu verstehen ist, stilisierte er diese neue Heimat zugleich als Ort eines sich auch künftig ausbreitenden Luthertums, wobei er sich ganz – wie noch zu zeigen ist – in Übereinklang mit dem Americanizer Schaeffer befand. Dabei propagierte Helmuth zwar ein eigenständiges deutschsprachiges Luthertum, welches er jedoch als legitimen Teil einer übergeordneten protestantischen Gemeinschaft verstand. So heißt es im Abschluss seiner Predigt: »Erwecke die Einwohner dieser Abendlande […] Segne die ganze Stadt und alle christlichen

88 Vgl. Dritter Zuruf 1813, S. 174–177; vgl. Zustand 1785, unpag. 89 Helmuth 1817, S. 12. 90 Zitat: Helmuth 1817, S. 13. Zur Erweckung als charakteristisches Phänomen v. a. der amerikanischen Religiosität vgl. Lehmann 2004, S. 131–133; Ward 1992, S. 241–295 (Amerika), 57–63 (pietistische Traditionen, Halle). 91 Der Begriff der civil religion wurde von Robert N. Bellah 1967 geprägt. Er bezeichnet ein kollektiv getragenes religiöses Weltbild eines modernen Gemeinwesens; vgl. Hase 2001, besonders S. 203. Zur Diskussion vgl. weiterhin Withöfl 1998, Percic 2004 sowie den Sammelband Kleger / Müller 1986.

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Gemeinden in derselben mit dem Geist der Wahrheit. Vornehmlich siehe in Gnaden auf unsere Gemeinde herab.«92 Zwar traf Helmuth während der Säkularfeier keinerlei Aussagen darüber, ob sein Bekenntnis zur neuen Heimat auch für Bereiche jenseits der religiösen Ebene galt, doch ist dies anzunehmen: Immerhin kann es als politische Zustimmung gelten, dass er 1790 und 1800 den Tod von Benjamin Franklin und George Washington beklagte, was mit dem allgemeinen Lob korrelierte, das zahlreiche lutherische Pastoren der US-Verfassung und den hier verankerten bürgerlichen Freiheiten zollten.93 Während Helmuth bei allem Wohlwollen, welches er gegenüber der neuen Heimat hegte, für die Identitätsstärkung der deutschen Lutheraner als autonome Gruppe innerhalb der amerikanischen Gesellschaft eintrat, und die Reformationsgeschichte als Deutungsautorität benutzte, um in seinen Geschichtskonstrukten eine Überlegenheit des Luthertums in Amerika zu behaupten, verfolgten die Americanizer eine abweichende Strategie. Diese wird im Folgenden am Beispiel der Predigten von Frederick Henry Quitmann und der Gebrüder Schaeffer, eine andere Affirmationsstrategie, vorgestellt.

4.

Americanizer und die positiven Folgen der Reformation

Ungeachtet aller Lagerbildungen verstanden sich die Lutheraner als eine Denomination. Mit Verweis auf die Situation in Philadelphia forderte die Synode des Jahres 1816 explizit: »Synod recommend to both parties in the name of the Lord, to unite again in peace and love as Christians and brethren«.94 In diesem Sinn widmete der Americanizer David Frederick Schaeffer seine Festschrift seinem Vater. Dabei betonte er ausdrücklich, er folge dessen Vorbild als Botschafter Gottes und beide sollten voneinander annehmen, dass sie trotz der Trennung (räumlich und in der Sprachfrage) den Interessen Gottes dienen.95 Eine Visualisierung für diese konfliktübergreifende Einheit der Lutheraner in Amerika – und ebenso den Wunsch, diese zu erhalten! – bildet das Titelkupfer 92 Helmuth 1817, S. 22. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Helmuth im Kontext der Reformatoren neben Luther auch Huldrych Zwingli (1484–1531) erwähnt, nicht aber Calvin; ebd., S. 11. 93 Vgl. Helmuth 1800. Das Lob auf die Verfassung findet sich in den Festreden, welche die lutherischen Pastoren anlässlich der Anniversarien des Unabhängigkeitstages hielten; vgl. Splitter 1998, S. 263–268, 295; Roeber 1997, S. 80, 88. Helmuth »thanked God for the blessings of the American Republic.«, ebd. S. 90. Dem Lob, das Helmuth Washington zollte, steht seine Ablehnung Thomas Jeffersons, der als Deist galt, gegenüber, vgl. Splitter 2005, S. 231. Dort auch ein Hinweis auf den Gedenkgottesdienst für Benjamin Franklin. 94 Documentary History 1898, S. 491. 95 Vgl. D.F. Schaeffer 1818, Widmung.

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der in englischer Sprache publizierten Jubiläumsfestschrift von Frederick Christian Schaeffer.96 Auf den ersten Blick ungewöhnlich für eine Festschrift, die anlässlich des Jubiläums des sogenannten Thesenanschlags publiziert worden war, zeigt es Martin Luther als gemeinsame Gründungsfigur aller Lutheraner in der bekannten Wormser Szene von 1521. Darunter prangt eine Bildunterschrift, die Sprachgrenze überschreitend reformatorisches Gottvertrauen als Gemeinsamkeit betont: Mittig angeordnet heißt es »Luther« und darunter zweispaltig und zweisprachig »auf dem Reichstag zu Worms. Hier stehe ich, ich kann nicht anders: Gott helfe mir! Amen!« sowie opponierend »before the Diet of Worms. Here I stand, I cannot otherwise: so help me God! Amen!« Welche Aufmerksamkeit diese Abbildung bei den Zeitgenossen erregte, lässt ihre Deutung in der Quarterly Theological Review als ausgezeichnetes Memorialzeichen für die heranwachsende Jugend erahnen und auch »The Evening Post« verweist auf diese Illustration.97 Doch nicht nur Frederick Christian Schaeffer, sondern auch andere Autoren bis hin zum Verfasser der deutschsprachigen Jubiläumsschrift des Singechors aus York räumen dieser Szene einen wichtigen Platz ein.98 Dies ist in verschiedener Hinsicht erklärungsbedürftig. Vorauszuschicken bleibt, das die Wormser Szene das früheste bildlich überlieferte Ereignis der Reformationsgeschichte überhaupt darstellt: Im Jahr 1521 erstmals visualisiert, erfuhr die Szene im 18. Jahrhundert im Umfeld des Augustana-Jubiläums 1730 weitere Verbreitung, bis sie im 19. Jahrhundert einen festen Platz in zahlreichen ›Lutherlebenfolgen‹ erhielt und dadurch zu einer Ikone verdichtet wurde, auch wenn sie als Erinnerungsort niemals die Bedeutung des Thesenanschlags erreichen sollte.99 Auch während des Reformationsjubiläums 1817 in Deutschland spielte die Wormser Szene – so zumindest eine erste Durchsicht – kaum eine Rolle. Auffallend ist weiterhin, dass in Amerika die Pastoren zumindest in einem ersten Interpretationsschritt diese Szene als Höhepunkt im Leben des Refor96 F.C. Schaeffer 1817. Frühere Lutherdarstellungen in Nordamerika zeigen die Frontispize des von Johann Christoph Saur (1695–1757), einem den Quäkern nahestehender deutscher Buchdrucker in Germantown, verlegten Marburger Gesangbuch sowie das 1786 erschienene und im Jahr 1814 bereits in der sechsten Auflage vorliegende lutherische Gesangbuch, das unter der Federführung der Hallenser entstanden war. Das Frontispiz aller Auflagen enthält eine ganzseitige Abbildung des am Tisch sitzenden und schreibenden Luthers mit folgender Unterschrift: »D. Martinus Lutherus, nach dem von dessen eigenen Leichnam, als derselbe 1546 von Eisleben durch Halle nach Wittenberg gebracht würde, in Wachs abgedrückten Bildniß gezeichnet: wie es noch bis itzo in Halle äuf der Bibliothec der MarienKirche zu sehen.«, zit. nach der Abbildung bei Müller-Bahlke 2011, S. 97. Zur Entstehungsgeschichte der effigie vgl. Kornmeier 2002, S. 357ff., hier auch die Bildgeschichte. 97 Vgl. Quarterly Theological Review 1818, S. 439; The Evening Post (New York) 22. 11. 1817. 98 Vgl. Quitman 1817, S. 24; FC Schaeffer 1817, S. 24f., D.F. Schaeffer 1818, S. 14; Singe-Chor 1817, Vorwort. 99 Vgl. Kohnle 2002, S. 35–42; Kruse 1996, S. 40–53.

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mators traditionell, eng entlang des Zitats ausdeuteten, ähnlich wie dies ihre Amtsbrüder in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts tun sollten: Luthers Verhalten in Worms gilt als Beispiel für Standhaftigkeit und Mut gegenüber einer übergroßen Macht, und sein Festhalten an der Bibel sowie der Hinweis auf sein Gewissen galten als Ausdruck von Gottvertrauen und daraus resultierender Furchtlosigkeit.100 Zumindest subkutan wird hierbei auch die Situation in Amerika angesprochen, wo aufgrund der religiösen Vielfalt die Entscheidung für eine Denomination als Gewissensentscheidung wahrgenommen wurde. Erfolgte diese Deutung im Rahmen einer Darstellung der Reformationsgeschichte, deren Bogen die Pastoren bis weit über den Tod Luthers hinaus spannten, so siedelten sie den zweiten Deutungsschritt der Wormser Szene im zeitgenössischen Amerika an. Nachdem die Americanizer verbunden mit dem Hinweis, Luthers Schriften »were not confined to Germany, nor to the German language«101, eine Ausbreitung der Reformation konstatierten, führten sie der Festgemeinde en Detail die positiven Wirkungen vor Augen, welche die Reformation aus dem Blickwinkel der Aufklärungstheologie auf die zeitgenössische Gegenwart besaß. Ein Paradebeispiel hierfür lieferte Quitmann, der sich einer Argumentation bediente, die in ähnlicher Form bereits von deutschen Aufklärungstheologen verwandt worden war :102 Auf die Wormser Szene verweisend stilisierte schon Friedrich Germanus Lüdke in seinem 1774 publiziertem Buch »Über Toleranz und Glaubensfreiheit« Martin Luther zum Schutzengel für die Rechte der Vernunft, der Menschlichkeit und der christlichen Gewissensfreiheit.103 Diesen Duktus aufgreifend behauptete nun Quitman in seiner Predigt von 1817, dass die als »glorious revolution« interpretierte Reformation den Fortschritt zahlreicher Länder maßgeblich geprägt habe.104 In diesem Zusammenhang führte er seiner Festgemeinde eine Idealgesellschaft vor Augen, die konsequent auf den »principles, upon the reformers generally acted« fußte105 – was notabene implizieren musste, dass auch die Lutheraner Träger dieser Gesellschaft seien. Unter allen reformatorischen Prinzipien benannte der Festprediger insbesondere die Glaubensfreiheit, die durch Offenbarung, Vernunft sowie christliche Moralvorstellungen abgestützt wurde.106 Dabei betonte er mehrfach: 100 Vgl. Kohnle 2002, S. 50. 101 F.C. Schaeffer 1817, S. 22. 102 Vgl. Quitman 1817, S. 29–42 (= zweite Predigt, die erste schildert Lebenslauf Luthers, vgl. ebd., S. 14–18). 103 Vgl. etwa Zur Mühlen 1995, S. 363f. 104 Quitman 1817, S. 5. 105 Quitman 1817, S. 30. 106 Vgl. Quitman 1817, S. 31f. (Glaubensfreiheit), 33f. (Vernunft und Offenbarung als Quellen religiösen Wissens), 35f. (Moral).

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»No man, or society of men is authorized, to rule over the conscience of others, but every one has the right, to think himself, and to worship God after his conceptions«, womit er sich auf das First Amendment der US-Verfassung bezog, in dem das Recht auf religiöse Freiheit und die Trennung von Kirche und Staat festgeschrieben waren.107 Offenkundig verkörperte die USA in Quitmans Augen diese Idealgesellschaft, die letztendlich auf Luthers Reformation fuße.108 Diese Aussage erhärtete Quitman mit einem Hinweis auf den Zustand des deutschen Luthertums in den USA. Ähnlich wie Helmuth einen Bezug zwischen Reformationsgeschichte und der eigenen Festgemeinde hergestellte, sah Quitman eine Kausalität zwischen den reformatorischen Prinzipien und dem Zustand seiner Gemeinde: »To this principle [Glaubensfreiheit] we are indebt for all the privileges, wich, as a nation, we enjoy ; for all the prosperity, of which we can reasonably boast, even our independence,…«.109 Mit diesem Verweis knüpfte er an den zumeist von Aufstiegschancen geprägten Erfahrungshorizont seiner Rezipienten an, denen es im Regelfall in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht besser als in der alten Heimat erging. Im Zusammenhang mit der Betonung der Glaubensfreiheit sind zwei Momente für Quitmans Sicht auf das deutsche Luthertum in den USA aufschlussreich. Erstens interpretierte der Pastor die aus der reformatorischen Glaubensfreiheit resultierende religiöse Pluralität anders als Helmuth nicht als Bedrohung für die Lutheraner. Hatte er bereits mit der Publikation der englischsprachigen Festschrift ein Zeichen für die Öffnung gegenüber dem englischsprachigen Umfeld gesetzt, so stellte er nun im Sinne einer Akkulturation der Lutheraner in den nordamerikanischen Protestantismus die institutionelle Abgrenzung des Luthertums zugunsten einer die einzelne Denomination übergreifenden protestantischen Glaubenspraxis infrage.110 Ähnlich wie Schaeffer aus New York, der nach eigener Aussage weniger Lutheraner als vielmehr Christ sei,111 verstand sich auch Quitman in einem übergreifenden Sinn als

107 Quitman 1817, S. 37. Ähnlich an anderer Stelle: »No man, or society of men is authorized, to rule over the conscience of others, or to erect a general standard of religious faith and practice.«, ebd., S. 31. 108 Damit baute Quitman eine Argumentationslinie auf, die laut Hartmut Lehmann auch Washington und Jefferson hätten verwenden können, anstatt auf antike Vorbilder zurückzugreifen: Als die Gründungsväter der USA »das Recht auf religiöse Freiheit sowie die Trennung von Kirche und Staat als geistige Prinzipen konzipierten und politisch durchsetzten, dann taten sie dies ohne Rekurs auf Luther, dann verstanden sie ihr Werk nicht als Fortsetzung und Vollendung eines Prozesses, den Luther begonnen hatte.«, Lehmann 1983, S. 152. 109 Quitman 1817, S. 37. Mit dieser Aussage stimmt seine Einschätzung überein, die USA seien die »most enlightened nation of earth«; zit. nach Kolodziej 2006, S. 346. 110 Zu Quitmans Vorstellung einer protestantischen Kirche vgl. Kolodziej 2006, S. 360–362. 111 Vgl. F.C. Schaeffer 1817, S. 31. Ähnlich auch dessen Behauptung, »the most laudable and

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Protestant112 und ergänzte an anderer Stelle, die in der Confessio Augustana beschworene kirchliche Einheit läge nicht in der Uniformität ihrer Riten, »but in a common effort, to preach and to explain the Gospel«.113 Damit verzichtete der Theologe zwar auf die Chance, die performative Wirkmächtigkeit von übergreifenden standardisierten Ritualen und Zeremonien für die Betonung einer überdenominationellen protestantischen Gemeinsamkeit zu nutzen, befand sich aber mit seiner Aussage in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit des nordamerikanischen Kirchenwesens.114 Darüber noch hinausgehend betonte David Frederick Schaeffer – die gängige Zuschreibung konterkarierend, wonach die Reformation die Einheit der Kirche aufgehoben hätte – die durch die Reformation erfolgte Rückführung auf die Bibel als die Ursache dafür, dass verschiedene christliche Denominationen friedlich nebeneinander existieren können.115 Zweitens verstand Quitman – ebenso die beiden Schaeffers – die reformatorische Glaubensfreiheit und damit die Reformation insgesamt als entscheidenden Katalysator für eine Entwicklung, die auch jenseits der religiösen Ebene als dem intendierten Wirkungsfeld der Reformatoren in allen Bereichen der Gesellschaft positive Folgen hervorbrachte.116 Explizit verwies er auf den kausalen Zusammenhang, wonach die religiösen Freiheiten »the parent of civil freedom« seien und als solche etwa die Entwicklung eines modernen Zivil- und Strafrechts zum Schutz von Leben und Eigentum des Einzelnen befördert haben.117 Der Glaube an diese Kausalität bildete einen gesellschaftlichen Grundkonsens, der

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benefical exertions are universally made by evangelical Christians to remove every sectarian barrier«; ebd., S. 28. »As Protestants we are entitled […]«, Quitman 1817, S. 31. Zitat: Quitman 1817 S. 33. Ähnlich verwies auch F.C. Schaeffer auf die zunehmende Einheit der protestantischen Christen in Deutschland, wobei er natürlich von der preußischen Kirchenunion 1817 noch nichts wissen konnte, vgl. F.C. Schaeffer 1817, S. 28. Für Quitman stellten alle Riten in der religiösen Praxis Irrtümer dar, die für die innerprotestantischen Trennungen verantwortlich waren; vgl. Kolodziej 2006, S. 360. Zur Funktion von Zeremoniell und Ritualen vgl. etwa Stollberg-Rilinger 2003, besonders S. 397. D.F. Schaeffer 1818, S. 19: »In this our beloves country, we enjoy the effects of the reformation in a high degree. We are not dictated to in religious matters, by an avaricious pontiff or prince, and each may chose that method of worshipping God wich appeareth most consistent and statisfactory, under the fullest protection of government. And although we are divided into so many different families as it were, yet such is the influence of the gospel, that amng those who experience it, the almost harmony and affection existeth. All agree, that the Bible should be read and diligently studied; that true repentance, faith in Christ Jesus, sanctification by the spirit, are prerequisites to our admission into the mansions of future bliss.« Verantworlich für die gesellschaftlichen Wirkungen der Reformation seien »the same principles, wich inspired the reformers with an holy zeal for promoting genuine religious knowledge and practice.«, Quitman 1817, S. 30. Vgl. Quitman 1817, S. 37f., Zitat ebd., S. 37.

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auch von anderen Festpredigern geteilt wurde.118 So verwies Frederick Christian Schaeffer darauf, dass die Reformation in einem ersten Schritt »religious light and liberty«119 generiert habe. Daraus seien weitere Folgen erwachsen, etwa: »the strong holds of ignorance and superstition were overwhelmed; the consciences of men were liberated from all human tyranny […] and the pure and undefiled religion of Jesus Christ was re-established in the face of the world.«120 Sein Bruder David Frederick Schaeffer betonte in diesem Zusammenhang, dass die Reformation den Grundstein nicht nur für die religiöse, sondern auch für die bürgerliche und politische Freiheit gelegt habe und Gott durch Luther »restored to man his ›natural rights‹.«121 In der Jubiläumsankündigung der Evangelical Lutheran Synod of Pennsylvania wird diese Kausalität von reformatorischer und politischer Freiheit schließlich folgendermaßen betont: »What the 4th day of July 1776 is and must be to our precious political liberty, that the 31st of October of the year 1517, should be, in respect to our religious liberty.«122 Ausgehend von diesem Wirkungszusammenhang führte Quitman seinen Zuhörern und Lesern weitere »happy effects« der Reformation vor Augen, die sich ebenfalls extra muros ecclesiae in verschiedenen kulturellen Bereichen entfaltet haben.123 Dabei antizipierte er in einem typisch lutherischen Selbstbild, in dem die Kausalität von Luthertum und Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur ebenso vorkommen wie Wirtschaft und protestantisches Arbeitsethos; letztendlich all jene Wirkungsfelder der Reformation, die knapp 100 Jahre später Ernst Troeltsch thematisieren sollte.124 Zunächst verwies Quitman darauf, dass die zur Verbreitung reformatorischen Wissens notwendige Lesefähigkeit die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft beeinflusst habe.125 Damit klingt das von allen Festrednern thematisierte, sich im Engagement der Hallenser Pastoren für die Schulbildung widerspiegelnde und von der Forschung immer wieder diskutierte lutherische Selbstbild an, wonach ein speziell reformatorischer Zusammenhang von Bibelübersetzung, Schulwe-

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Vgl. Herz 2003, S. 52. F.C. Schaeffer 1817, S. 6. F.C. Schaeffer 1817, S. 19. Vgl. D.F. Schaeffer 1818, S. 10, Zitat ebd., S. 20. Abdruck bei Branagan 1817, S. 13. Ähnlich auch F.C. Schaeffer 1817, S. 8: »spiritual blessings, the moral light, the religious and political liberty wich we [Hervorhebung im Original– Anm. d. Verf.] so eminently enjoy.«. 123 Quitman 1817, S. 14. 124 Vgl. Troeltsch 2001, S. 250 (Familie), 252 (Recht), 257 (Staat), 262 (Menschenrechte) und 269 (Wirtschaft). 125 Vgl. Quitman 1817, S. 15 und 38. Vgl. dazu: »We are admonished to search the Scriptures, our Lordintimating by this expression, that we ought to employ all the powers of our minds […] to arrive to a sound understanding of the divine Oracles.«; ebd., S. 34.

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sen, Lesefähigkeit und Glauben existiere.126 Von dieser Konstellation ausgehend nahm die Reformation außerdem, so Quitman einen seit der Aufklärung gängigen Topos aufgreifend, Einfluss auf die Wirtschaft, insofern tausende von Müßiggängern wieder sinnvollen Aktivitäten zugeführt worden seien.127 Diese Aussage zielte nicht nur unausgesprochen auf die Insassen ehemaliger Klöster, sondern auch darüber hinaus auf die gesamte Bevölkerung. Dies legt eine Äußerung des Pastors nahe, in der ein protestantisches Arbeitsethos – und subkutan auch der soziale Aufstieg gerade der englischsprachigen Lutheraner – deutlich anklingt:128 Infolge der Reformation sei »love of order and honest industry« gewachsen und die Bevölkerung der »fatal lethargy, wich had depressed the human mind for many centuries past«, entrissen.129 Unter Rekrutierung auf das von Eigenschaften wie Fleiß und Sparsamkeit geprägte Selbstbild der deutschen Einwanderer sprach der Theologe zugleich die Kategorie der Selbstverantwortlichkeit an, die sich auch darin zeige, dass in protestantischen Territorien soziale Haltungen ausgeprägter seien.130 Diese auf die USA bezogene Beschreibung einer idealen Welt verknüpfte Quitman mit der Auswanderung der eigenen Vorfahren: Geleitet vom Gedankengut der Reformation hätten sie die Intoleranz und die Unterdrückung in der alten – nebenbei bemerkt sehr oft protestantischen! – Heimat verlassen, um in Amerika eine neue aufzubauen.131 Mit dieser Behauptung griff der Redner implizit auf den heilsgeschichtlich überhöhten amerikanischen Gründungsmythos

126 In den Festpredigten und ebenso in den für die Festgottesdienste angeordneten Liedern wurde darauf verwiesen, dass bereits Luther der Schulbildung großen Wert beigemessen habe, da Bildung einerseits dem Verfall der Sitten und dem Aberglauben entgegenwirke, andererseits ihr Besitz besonders für Prediger unabdingbar sei; vgl. Liederbeilage zu Helmuth 1817, S. 10 u. 14f. Ähnlich betonte auch F.C. Schaeffer die Wissenserweiterung infolge der Reformation; vgl. F.C. Schaeffer 1817, S. 12. Dabei handelte es sich um ein Standardargument, das spätestens seit dem Jubiläum der Konkordienformel 1676 Eingang in die lutherische Jubiläumskultur gefunden hatte; vgl. Flügel 2005, S. 113–115. Zur habitusprägenden Bildungsaffinität der Protestanten vgl. Schmidtchen 1979, S. 38–55. Zum Zusammenhang von Protestantismus und Bildung vgl. Schreiner 2002, S. 216–233. Mit Anknüpfung an Helmuth vgl. speziell zur Bildungsreform Franckes: Sparn 2005, besonders S. 137. 127 Vgl. Quitman 1817, S. 38. 128 Zur Diskussion vgl. den Sammelband Koller / Fischer 2007 sowie Pawlas 2000. Zur Prägung schließlich vgl. Schmidtchen 1979, S. 111–129. 129 Erstes Zitat Quitman 1817, S. 38, zweites Zitat ebd., S. 15. 130 Vgl. Quitman 1817, S. 41. 131 »It is this principle, wich induced many of the first settlers of this happy country, and also your ancestors, to flee from intolerance and persecution, and to seek an asylum in this western hemisphere«, Quitman 1817, S. 37. Als zentrales Motiv für die Auswanderung wurde immer wieder der Wunsch angegeben, das Leben dem Streben nach materiellem und immateriellem Glück zu widmen. In diesem Kontext spielten religiöse Überlegungen eine, aber keinesfalls die entscheidende Rolle, vgl. Fertig 2000, S. 41 und 195. Zur Diskussion vgl. Grabbe 2001, S. 259–265; Rese 1996, S. 10–17.

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vom Aufbruch in eine ›bessere Welt‹ zurück.132 Damit konzedierte er zugleich, dass die deutschen Lutheraner Teilhabe an der Auswanderung als einer zentralen gemeinsamen Grunderfahrung der amerikanischen Nation besaßen und folglich einen Teil von ihr bildeten. Eine weitere heilsgeschichtliche Aufladung erfuhr dieses Konstrukt, da in der traditionellen zeitgenössischen Auslegung – die bereits der ebenfalls von den Franckeschen Stiftungen nach Amerika geschickte Pastor Johann Christoph Kunze (1744–1807) in Predigten während des Unabhängigkeitskrieges bedient hatte133 – die Emigration nach Amerika mit dem Exodus des Volkes Israel gleichgesetzt wurde, womit die Amerikaner als neues Volk Gottes erschienen.134

5.

Resümee und Ausblick: Best of both worlds

Mit ihrem Reformationsjubiläum des Jahres 1817 adaptierten die in den USA lebenden Lutheraner den Jubiläumsmechanismus und inszenierten damit eines der frühesten historischen Jubiläen in Nordamerika. Ihre besondere inhaltliche Aufladung erfuhr die Säkularfeier, weil ihre Trägergruppe gleichermaßen eine religiöse und ethnische Minderheit bildete. Tatsächlich verwies die in der Säkularfeier vollzogene Reformationsvergegenwärtigung nicht nur auf die religiöse Identität, sondern auch auf die alte und die neue Heimat. Damit diente das Reformationsjubiläum einerseits der Affirmation der religiösen und der ethnischen Identität, andererseits einer Bestimmung jenes Platzes, den die deutschen Lutheraner in den USA einnahmen. Gemeinsam war zunächst allen Festpredigern, dass sie mit Verweis auf die reformatorischen Ereignisse des 16. Jahrhunderts den 31. Oktober 1517 als den Ausgangspunkt verstanden, von dem aus sich der Protestantismus auch durch das Wirken weiterer Reformatoren wie Zwingli und Calvin ausgebreitet hat. Das Luthertum konnte so als die originäre protestantische Konfession behauptet werden. Hiervon ausgehend ist eine Bandbreite an Affirmationsstrategien deutlich geworden, die vor dem Hintergrund des Sprachstreits zwischen zwei Polen changieren: Bereits durch die Sprachwahl vollzog Helmuth eine Engführung auf die deutschsprachigen Lutheraner. Damit bediente er seine Auffassung, wonach die Fortexistenz des Luthertums an die deutsche Sprache gebunden sei, zeigte aber andernorts, dass er keinesfalls eine abgeschottete deutschsprachig-lutherischen ›Parallelgesellschaft‹ befürwortete. Demgegenüber zielten die Americanizer mit 132 Vgl. Herz 2003, S. 54f.; Baglyos 1999, besonders S. 53f. 133 Vgl. Flügel 2012, S. 187–191. 134 Vgl. Herz 2003, S. 54f.

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ihrer Weitführung nicht nur auf die englischsprachigen Lutheraner, sondern auch auf weitere englischsprachige Denominationen. Damit zeigten die Americanizer eine Kontaktfreudigkeit gegenüber anderen protestantischen Denominationen, was auch der von Vielfalt geprägten religiösen Situation in den USA entspricht. Die Entscheidung, ob eine Weit- oder Engführung vollzogen wurde, war jedoch keine Generationsfrage. Gerade das Beispiel Quitmans hat gezeigt, dass auch in Deutschland geborene Redner für eine Öffnung optieren konnten. Mit der Sprachwahl korrespondiert auf der inhaltlichen Ebene, wie die Reformation im Sinne einer ethnischen Identitätsformung ausgedeutet wurde. Helmuth nutzte das Migrationserlebnis, um die Reformationsgeschichte in Deutschland antizipierend auf die Gemeinde in Philadelphia beziehen und hiervon eine positive Geltungsbehauptung für Gegenwart und Zukunft ableiten zu können. Einen deutlich anderen Blickwinkel nahmen die Americanizer ein. Sie thematisierten Luther und die Reformation in Hinblick auf die kulturellen Wirkungen, die sie in allen Bereichen ihrer zeitgenössischen Gegenwart konstatierten. Dabei näherten sie sich mit ihrer Behauptung, die USA gründen auf den reformatorischen Prinzipien, amerikanischen Identitätskonstrukten an. Damit haben Germanizer und Americanizer in ihren Predigten anlässlich des Reformationsjubiläums zwar verschiedene Argumentationsstrategien genutzt, konnten aber ungeachtet dessen übereinstimmend ein positives Bekenntnis zu den USA als ihrer Heimat formulieren – Deutschland lag hinter ihnen. Damit ist zugleich deutlich geworden, dass das spezielle ›Migranten-Gedächtnis‹ zumindest tendenziell auch einen Beitrag sowohl zur Homogenisierung innerhalb der ethnischen Gruppe der deutschen Einwanderer als auch zur Transkulturation zwischen Einwanderern und Aufnahmegesellschaft leisten kann. Die Säkularfeier 1817 schließlich trug nicht nur ein Stück dazu bei, dass Luther im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts denominationsübergreifend entdeckt wurde,135 sondern bildete auch – einem ungeschriebenen Gesetz der Jubiläumskultur folgend – den Ausgangspunkt für eine Entwicklung, in deren Verlauf immer mehr historische Ereignisse als jubiläums- und erinnerungswürdig erachtet werden. Drei Traditionsstränge, die bis in die Gegenwart hinein reichen, lassen sich hier erkennen: Zum Gegenstand einer sich ausbreitenden lutherischen Memorialkultur wurden wie schon zuvor in den lutherischen Territorien Europas erstens Anlässe, die auf Leben und Werk Martin Luthers verweisen136 ; zweitens Schlüsselereignisse der Geschichte einzelner Gemeinden137

135 Vgl. Lehmann 1983 / 2012. 136 Lehmann beschreibt die Säkularfeier anlässlich Luthers 400. Geburtstag 1883 als ein Ereignis, an dem verschiedene protestantische Denominationen in den USA teilnahmen, vgl. Lehmann 1983, 77f. 137 Die Gemeinde in Philadelphia inszenierte in den Jahren 1843 und 1866 Säkularfeiern an-

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und drittens – auf einer deutlich überregionalen Ebene – die Lebensdaten des »Patriarchen der lutherischen Kirche in Amerika«, Heinrich Melchior Mühlenberg, und dessen zum Wendepunkt der Geschichte des amerikanischen Luthertums stilisierte Landung in Pennsylvania im Jahr 1742138.

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lässlich der Grundsteinlegungen der Michaelis- bzw. der Zionskirche, vgl. Zum Andenken 1843; Der Jubeltag 1866. 138 Folgende Säkularfeiern sind u. a. nachweisbar : 1.) 100. Todestag Mühlenberg 1887, vgl. Mann 21888; 2.) 150. Jahrestag der Landung Mühlenbergs 1892, vgl. Ridecker 1892; 3.) 200. Jahrestag seiner Ankunft in Pennsylvania 1942, vgl. Proceedings 1942; 4.) 300. Geburtstag Mühlenbergs 2011.

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