Zukunftssicherung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven 9783839437414

Knowledge of the future is uncertain, future security is the goal - how do these fit together? Cultural-scientific persp

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Zukunftssicherung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven
 9783839437414

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die kommende Pandemie
Vorsorge als Zukunftsbewältigung?
Souveräne Dauer und die Marktzirkulation von Staatsanleihen
Algorithmen der Zukunft
Datenbanken und computergestützte Luftabwehr: Digitale Verfügungen über die Zukunft
Sicherheit – für wen?
Antizipationen des nächsten Anschlags
Zwei Techniken der Zukunftssicherung
Walling out
»How much I dream for this to be the ending«
Das denkbar Schlimmste
»Leben in den Ruinen dessen, was wir Fortschritt nannten«?
Autorinnen und Autoren

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Johannes Becker, Benjamin Bühler, Sandra Pravica, Stefan Willer (Hg.) Zukunftssicherung

Edition Kulturwissenschaft  | Band 126

Johannes Becker, Benjamin Bühler, Sandra Pravica, Stefan Willer (Hg.)

Zukunftssicherung Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Für das gründliche Korrektorat danken wir Hannah Schmedes. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3741-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3741-4 https://doi.org/10.14361/9783839437414 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Benjamin Bühler/Stefan Willer | 7 Die kommende Pandemie. Konturen eines neuen Seuchenregimes

Matthias Leanza | 21 Vorsorge als Zukunftsbewältigung? Konjunkturen und Krise einer Denkfigur der Moderne

Malte Thießen | 39 Souveräne Dauer und die Marktzirkulation von Staatsanleihen

Andreas Langenohl | 57 Algorithmen der Zukunft. Big Data, Sensordaten und mobile Medien

Ramón Reichert | 75 Datenbanken und computergestützte Luftabwehr: Digitale Verfügungen über die Zukunft

Sandra Pravica | 89 Sicherheit – für wen? Drohnen und der »War on Terror«

Michael Andreas | 109 Antizipationen des nächsten Anschlags. Zur Rolle der Imagination im Sicherheitsdiskurs nach 9/11

Michael C. Frank | 123 Zwei Techniken der Zukunftssicherung. Komplizität und Souveränität in den Dokumentarfilmen W ORK H ARD P LAY H ARD (Carmen Losmann, 2011) und IN DIR MUSS BRENNEN (Katharina Pethke, 2009)

Annie Ring | 147

Walling out. Zur Diskurspolitik und Mythomotorik Neuer Mauern in der Populärkultur

Lars Koch | 167 »How much I dream for this to be the ending«. Daniel Suarez’ literarische Präventionsfiktionen Daemon und TM Freedom

Johannes Becker | 185 Das denkbar Schlimmste. Ökologische Sicherheit und die Frage der Demokratie

Benjamin Bühler | 203 »Leben in den Ruinen dessen, was wir Fortschritt nannten«? Isabelle Stengers’ Denken als Parteinahme für das Mögliche wider das Wahrscheinliche

Katrin Solhdju | 221 Autorinnen und Autoren | 241

Einleitung B ENJAMIN B ÜHLER /S TEFAN W ILLER

Die Sorge um die Sicherung der Zukunft ist eines der großen gesellschaftspolitischen Themen unserer Gegenwart. Dafür steht im Titel dieses Bandes das Kompositum ›Zukunftssicherung‹, das zugleich bereits andeutet, wie eng, ja geradezu unlösbar Vorstellungen von Sicherheit und Sicherung mit solchen der Zukunft und Zukünftigkeit verknüpft sind. Die Beiträge untersuchen diesen Zusammenhang mit Blick auf die grundlegenden Konzepte von Sicherheit und Zukunft; sie fokussieren bestimmte soziale, politische und kulturelle Praktiken, in denen jene Konzepte eine Rolle spielen und in denen sie wirksam werden; und sie befassen sich mit den Imaginationen, ohne die Entwürfe von Sicherheit und Zukunft weder konzipiert noch praktiziert werden könnten. Zukunftssicherung kann ganz konkrete Vorschläge und Versuche meinen, die Zukunft sicherer zu machen, ob für einzelne gesellschaftliche Parameter oder mit Blick auf das Überleben der Menschheit als ganzer. Solche mehr oder weniger zielführenden Maßnahmen gehen einher mit der Erzeugung von Wissen über Zukünfte, einem Wissen, das allerdings stets prekär und in hohem Maß von Ungewissheiten und Unsicherheiten geprägt ist.1 Dennoch kann es eingesetzt werden, um gegenwärtige Sicherheitskonzepte und -praktiken zu legitimieren und organisieren. Bei all dem verweist der aktivische Ausdruck ›Sicherung‹ darauf, dass die Herstellung und Erhaltung von Sicherheit immer auch scheitern kann – ein Risiko, das wiederum die Bemühungen um Zukunftssicherung verstärkt. Die Ungewissheit der zukünftigen Sicherheit erweist sich daher keineswegs nur als negativer Faktor, im Gegenteil: Sicherheitsdiskurse operieren nicht nur trotz dieser Ungewissheit, sondern können sie sogar gezielt einsetzen. Das gilt besonders für die Art und Weise, in der Zukünfte heute auf Sicherheit bezogen und ausge-

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Vgl. Bühler, Benjamin/Willer, Stefan (Hg.): Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn: Wilhelm Fink 2006.

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richtet werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes befassen sich vor allem mit dieser aktuellen, mit unserer gegenwärtigen Zukunft. Dazu gehört in kulturwissenschaftlicher Perspektive aber auch ihre genealogische Herleitung aus – oder ihr Kontrast mit – historisch vorgängigen Zukunfsentwürfen, deren Sicherheitsbedürfnisse sich ganz anders darstellen mögen. Für die aktuelle Situation lässt sich feststellen, dass Sicherheit mehr denn je potenziell alles und alle betrifft. Es gibt nichts, was nicht Gegenstand von Sicherheitsmaßnahmen werden könnte: der eigene Leib, die Familie, öffentliche Plätze, Industrieanlagen, die westliche Welt oder die ganze Erde. Drängend wird dies immer dann, wenn Unsicherheit wahrgenommen oder diagnostiziert wird, wobei es darauf ankommt, was überhaupt jeweils als unsicher definiert wird, wie bestimmte Bedrohungslagen konstruiert werden – und nicht zuletzt, wer diese Definitionen und Konstruktionen vornimmt. Diskutiert werden solche Sicherheitsbelange in öffentlicher und privater, in technischer, sozioökonomischer, polizeilicher und militärischer Hinsicht; sie fächern sich auf in semantische Unterscheidungen wie die von safety und security oder ›Sicherheit‹, ›Sicherung‹ und ›Versicherung‹. Seit einiger Zeit sind die Prozessbegriffe securitization und ›Versicherheitlichung‹ hinzugekommen, die die sozial operativen und produktiven Aspekte des Sicherheitsdiskurses betonen. Angesichts dieser immer reichhaltiger werdenden Problemlage verwundert es nicht, dass die Sicherheitsforschung ein expandierendes, florierendes Forschungsfeld darstellt. In der Politikwissenschaft haben die Security Studies bereits den Status einer Subdisziplin erlangt.2 Bemerkenswert ist auch die Vielzahl anwendungsorientierter Forschungsprojekte. Eines davon wurde ab 2009 im siebten Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission gefördert. Der gewundene Name war Programm: Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environ-

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Vgl. folgende Übersichtsbände: Buzan, Barry/Waever, Ole/Wilde, Jaap de: Security. A New Framework for Analysis, Boulder/London: Rienner 1998; Buzan, Barry/Hansen, Lene: The Evolution of International Security Studies, Cambridge: Cambridge University Press 2009; Burgess, J. Peter (Hg.): The Routledge Handbook of New Security Studies, London/New York: Routledge 2010; Schlag, Gabi/Junk, Julian/Daase, Christopher (Hg.): Transformations of Security Studies. Dialogues, Diversity and Discipline, London/New York: Routledge 2016. Außerdem existieren diverse Zeitschriften, z.B. Studies in Security (Stockholm, seit 2005), Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik (seit 2006), International Library of Security Studies (London, seit 2012), Journal of Global Security Studies (Oxford, seit 2016).

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ment, kurz: INDECT.3 Die Ziele des mittlerweile abgeschlossenen Vorhabens werden auf der nach wie vor aktiven Projekt-Website klar formuliert: »The purpose of the INDECT project is to involve European scientists and researchers in the development of solutions to and tools for automatic threat detection.«4 Im Zentrum steht dabei die automatisierte Verarbeitung von Daten aus unterschiedlichen Quellen. Damit soll der Kampf von öffentlichen Sicherheitsbehörden gegen Terrorismus, illegalen Handel, Kinderpornographie, den Gebrauch gefährlicher Objekte wie Messer oder Schusswaffen im öffentlichen Raum unterstützt werden, denn: »Efficient tools for dealing with such situations are crucial to ensuring the safety of citizens.«5 Erklärtes Ziel des Vorhabens war es, menschliche Entscheidungen weitgehend durch algorithmenbasierte Computersysteme zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen. So wollte man zum Beispiel mit dem »Intelligent Monitoring for Threat Detection« die kontinuierliche Anwesenheit einer Person bei der Videoüberwachung vermeiden, zumal in dieser Logik Menschen fehlbar sind: Der Operator könne unehrlich sein und Daten privat missbrauchen. Das »threat monitoring« dagegen erkenne gefährliche Situationen ›automatisch‹ und gebe dem Operator nur dann Zugang auf Videoaufnahmen, wenn seine Aufmerksamkeit auch wirklich erforderlich sei. Die Automatisierung der Gefahrenerkennung war das Grundprinzip des Projekts, das Algorithmen zur Ermittlung von akustischen Ereignissen (Zerbrechen von Glasscheiben, Pistolenschüsse, Explosionen, Hilferufe) oder zum Aufspüren von Personen mit gefährlichen Objekten oder »abnormal behaviour«6 auf Videoaufnahmen entwickelte und unterschiedliche Datenquellen miteinander verschaltete. Während im Fall von INDECT die Algorithmisierung der Gefahrenabwehr noch auf das frühzeitige Erkennen und die Verfolgung von Straftaten konzentriert war, machten und machen sich andere Projekte daran, aus der Erhebung vergangener Delikte oder aus der Auswertung von Überwachungsdatenbanken auch zukünftige Verbrechen vorherzusagen und diese verhindern zu helfen. Nicht selten entstehen solche Vorhaben aus der Zusammenarbeit von polizeilicher Praxis und universitärer Forschung. So wurde aus einem gemeinsamen Pro3

Einen guten Überblick bietet der Wikipedia-Artikel »INDECT«, online: https://de. wikipedia.org/wiki/INDECT (letzter Zugriff: 15.07.2018).

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http://www.indect-project.eu/ (letzter Zugriff: 15.07.2018).

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Ebd.

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INDECT versteht den Terminus »abnormal behaviour as the one related to a threat or ›criminal behaviour‹ and especially as behaviour related to serious criminal activities (e.g.: robberies, distribution of child pornography, etc.).« http://www.indect-project. eu/faq#Q1.3 (letzter Zugriff: 15.07.2018).

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jekt des Los Angeles Police Department und der University of California Los Angeles das Precrime-Unternehmen PredPol, das von sich behauptet, aufgrund der Parameter »crime type, crime location and crime date/time« operative und maßgefertigte Vorhersagen entwickeln zu können: »customized crime predictions for the places and times that crimes are most likely to occur«. 7 Was ScienceFiction-Experten aus Philip K. Dicks Erzählung The Minority Report (1956) und ihrer Verfilmung durch Steven Spielberg (2002) kennen, ist inzwischen Wirklichkeit geworden, weshalb sich auch das Medium der Darstellung ändern kann: Ein Dokumentarfilm mit dem Titel PRE-CRIME (2017) berichtet von Menschen, die auf polizeilichen Listen landen, obgleich sie nichts verbrochen haben. Eine Software berechnet auf Grundlage von Datenerhebungen, welche Personen in der Zukunft Straftaten begehen bzw. an welchen Orten Verbrechen geschehen werden.8 Es geht also darum, »Verhaltensmuster aus Echtzeitdaten und aus der Vergangenheit bekannten Daten zu extrahieren, um damit für die Zukunft Vorhersagen zu machen.«9 Die Vielzahl aktueller Sicherheitsmaßnahmen und -vorkehrungen haben eines gemeinsam: Sie sollen vor einem möglichen Schaden in der Zukunft schützen. Dabei müssen die potenziell schädlichen zukünftigen Ereignisse immer in irgendeiner Art und Weise berechnet, erzählt, visualisiert oder simuliert werden. Sicherheit ist also als strategisches, planerisches Konzept und als soziale Praxis wesentlich prospektiv, und zwar auf doppelte Weise: Einerseits benennt der Ausdruck ›Sicherheit‹ eine für die Zukunft herzustellende oder in die Zukunft hinein zu erhaltende Situation der Unbedrohtheit; andererseits impliziert er, wie eingangs bereits bemerkt, ein gesichertes oder zumindest zu sicherndes Zukunftswissen, eine Art von Gewissheit über die Zukunft. Jedoch bleibt die konstituierende, legitimierende und organisierende Funktion des Zukunftswissens in den politischen, ökonomischen und technischen Diskussionen um Sicherheit häufig unreflektiert. Exemplarisch lässt sich hier die Stellung der Klimaforschung in der Debatte um den Klimawandel nennen: Die politischen Entscheider erwarten von den Forschern konkrete Aussagen über zukünftige Klimaverände7

»How Predictive Policing Works«, online: www.predpol.com/how-predictive-policing -works/ (letzter Zugriff: 15.07.2018).

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PRE-CRIME (Deutschland 2017, R: Monika Hielscher/Matthias Heeder). Kurz, Constanze, »Pre-Crime: Über Menschen, die ungewollt Teil von Datenexperimenten sind«, in: Netzpolitik.org, 06.10.2017, online: https://netzpolitik.org/2017/precrime-ueber-menschen-die-ungewollt-teil-von-datenexperimenten-sind/ (letzter Zugriff: 15.07.2018). Vgl. auch Sommerer, Lucia M., »Geospatial Predictive Policing – Research Outlook & A Call for Legal Debate«, in: Neue Kriminalpolitik 2 (2017), S. 147–164.

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rungen sowie Vorschläge für präventive Maßnahmen angesichts kommender Katastrophen; die Klimaforschung hingegen erzeugt Wahrscheinlichkeitsaussagen, deren gesellschaftlicher Nutzen möglicherweise gerade in der Erzeugung und Kommunikation von Ungewissheit liegt. Angesichts solcher aus unterschiedlichen Formen des Zukunftswissens entstehender Konflikte erscheint es umso wichtiger, die spezifischen Zukunftsbezüge zu untersuchen, aus denen Konzepte und Praktiken von Sicherheit erwachsen. So beruhen die derzeit aktuellen Sicherheitsdoktrinen oft auf Denkfiguren wie Antizipation oder preparedness, also auf mittel- und kurzfristigen Entwürfen von Zukünften, auf die man aus der Gegenwart heraus möglichst direkt zugreifen kann.10 Diese nahe Zukunft erscheint oft als ein tipping point, als Moment, in dem der Alltag in die Katastrophe umschlägt. 11 Gerade die antizipatorisch vorweggenommenen Nah-Zukünfte stehen also in engem Zusammenhang mit der denkbar negativistischen Vorstellung einer »Zukunft als Katastrophe«.12 Diese Vorstellung ist als politische Phantasie zu lesen, in der das Soziale im Modus der ultimativen Krise als Frage von Untergang und Überleben durchdacht wird. In apokalyptischen Szenarien ist die Zukunft ein »radikaler Bruch« mit der Gegenwart, also etwas, das »wir von der Gegenwart aus weder antizipieren noch verhindern können«.13 Solche Fiktionen sind nicht nur Symptome gegenwärtiger Diskurse, sondern »Agenten einer Formatierung von Zukunftserwartung«, die als Interventionen das »kollektive Imaginäre« unserer Gegenwart herstellen, strukturieren und verhandeln.14 Das aus solchen maximalen Unsicherheiten gespeiste Konzept von Sicherheit ist keineswegs klar definiert, weshalb der Politikwissenschaftler Herfried Münkler von einem »catch-all Begriff« gesprochen hat.15 Der langen Geschichte dieses Begriffs ist der Literaturwissenschaftler John Hamilton nachgegangen.16 10 Vgl. Adams, Vincanne/Murphy, Michelle: »Anticipation. Technoscience, Life, Affect, Temporality«, in: Subjectivity 28 (2009), S. 246–265. 11 Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald. Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a.M.: Fischer 2011. 12 Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M.: Fischer 2014. 13 Ebd., S. 15. 14 Ebd., S. 23. 15 Münkler, Herfried: »Strategien der Sicherung: Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. Theoretische Perspektiven«, in: Herfried Münkler/Matthias Bohlender/Sabine Meurer (Hg.): Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2010, S. 11–34, hier S. 22. 16 Hamilton, John: Security. Politics, Humanity, and Philology of Care, Princeton: Princeton University Press 2013.

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Er leitet ihn vom lateinischen Wort securitas her, das einen Zustand bezeichnet, in dem man ohne Sorge (se/sine cura) ist. Hamiltons Gewährsmann für den lateinischen Ausdruck ist Cicero, der sich seinerseits auf griechische Konzepte wie die epikuräische ataraxia (Freiheit von Störung) und die stoische apatheia (Freiheit von Leidenschaften) bezieht. In den Worten Ciceros: »Freizuhalten aber hat man sich von jeder Leidenschaft, sowohl von Begierde und Furcht als auch von Bekümmernis und Vergnügen […], damit Ruhe und Heiterkeit [securitas] nahe seien, die innere Festigkeit und besonders Ehrgefühl erbringt.«17 Cicero wendet den Ausdruck unter anderem auf die politische Stabilität Roms unter Augustus an; im Vordergrund steht aber doch die private Sphäre, bei der Sicherheit als subjektives Phänomen in den Blick rückt. Hamilton weist bei seinen Erkundungen des semantischen Feldes von cura und securitas darauf hin, dass beide Begriffe ambivalent sind: cura kann sowohl ›Betrübnis‹, ›Kummer‹, ›Qual‹ als auch ›Sorgfalt‹, ›Bemühung‹, ›Aufmerksamkeit‹ bedeuten; securitas sowohl ›Gemütsruhe‹ und ›Sorgenfreiheit‹ als auch ›Fahrlässigkeit‹ und ›Gleichgültigkeit‹. Wichtig an dieser doppelten Gegenüberstellung ist die folgende, nur scheinbar triviale Bemerkung: Wenn cura im semantisch negativen Sinn das Vorzeichen se- bekommt, wird es positiviert (von ›Kummer‹ zu ›Sorgenfreiheit‹); wenn es im semantisch positiven Sinn das Vorzeichen se- bekommt, wird es negativiert (von ›Sorgfalt‹ zu ›Fahrlässigkeit‹).18 Will man vor diesem Hintergrund Unsicherheit bestimmten, wird die Sache noch eine Umdrehung weitergetrieben. Unsicherheit kann sozusagen das Positivum zum Negativum sein (die cura zur securitas); sie kann aber auch die Gestalt der doppelten Verneinung haben (sine sine cura; se-securitas). Diese begriffsgeschichtlichen Überlegungen stehen für das von Hamilton formulierte Anliegen, die Security Studies selbst zu einem philologischen Anliegen zu machen.19 Das bedeutet, auf sorgfältige Weise (cum cura) die spezifischen Verwendungsweisen von ›Sicherheit‹ zu untersuchen: historische Semantiken, kulturelle Kontexte, Interessenlagen der Anwendung und Implementierung von Sicherheitsdoktrinen. Ein solches Verständnis von Philologie könnte in der Tat grundlegend für kulturwissenschaftliche Ansätze der Sicherheitsforschung werden, wie sie in diesem Band erprobt werden. Es geht dabei um eine Kritik der Versicherheitlichung, die unterhalb der politischen Implementierung ansetzt und die epistemischen und kulturellen Vorannahmen von Sicherheitsdoktrinen sichtbar macht und an ihrer Historisierung arbeitet. 17 Cicero: De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und Deutsch, übers., komm. und hg. von Heinz Gundermann, Stuttgart: Reclam 1987, S. 62f. 18 J. Hamilton: Security, S. 11. 19 Ebd., S. 12: »security is an urgent philological problem«.

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Der jüngere historische Einsatz des Sicherheitsdiskurses auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene lässt sich auf den Future Shock der frühen 1970er Jahre datieren. Mit diesem Schlagwort benannte der Futurologe Alvin Toffler das krisenhafte Bewusstsein einer sich extrem beschleunigenden technischökonomischen Entwicklung, die nicht mehr mit Fortschrittsoptimismus, sondern mit Verfalls- und Untergangsdrohungen konnotiert war und die deshalb »strategies for survival« notwendig machte.20 Um dieselbe Zeit wurden auf unterschiedlichen wissenschaftlichen und kulturellen Feldern globale Bedrohungslagen für die Menschheit als ganze konstatiert, einhergehend mit Rettungsstrategien, die zugleich Aufrufe zu einem radikal veränderten Zukunftshandeln im Namen ›künftiger Generationen‹ implizierten.21 Wirkungsreiche Zukunftsformeln wurden geprägt wie Blueprint for Survival – so der Titel einer 1972 im Umkreis der britischen Zeitschrift The Ecologist publizierten Schrift22 – oder Limits to Growth, die ebenfalls 1972 erschienene Club-of-Rome-Studie mit ihren richtungsweisenden Modellierungen des Zusammenhangs von Demografie und Ressourcenverbrauch.23 Auch das großangelegte Kultur- und Natur-Erhaltungsprogramm der Unesco, World Heritage, wurde in jener Zeit begründet.24 Der Soziologe Franz Xaver Kaufmann diagnostizierte vor diesem Hintergrund bereits 1970 in einer systematisch und historisch grundlegenden Untersuchung zur sozialpolitischen Reichweite von Sicherheit einen »paradoxen Zu20 Toffler, Alvin: Future Shock, New York: Bantam 1970, S. 369. 21 Vgl. Willer, Stefan: »Nachhaltige Zukunft. Kommende Generationen und ihr kulturelles Erbe«, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hg.): Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010, S. 267–283. 22 Goldsmith, Edward/Allen, Robert: A Blueprint for Survival, Boston: Houghton Mifflin 1972 23 Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jørgen: The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome's Project on the Predicaments of Mankind, New York: Signet 1972. Vgl. Bühler, Benjamin: »Von ›Hypothesen, die auf einer Hypothese gründen‹. Ökologische Prognostik in den 1970er Jahren«, in: Daniel Weidner/Stefan Willer (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München; Fink 2013, S. 59–80; Falko Schmieder: »Überleben«, in: B. Bühler/S. Willer (Hg.): Futurologien, S. 327–337. 24 UNESCO: »Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage« (1972), online: https://whc.unesco.org/en/conventiontext/ (letzter Zugriff: 17.7.2018). Vgl. Willer, Stefan: »Weltkulturerbe«, in: B. Bühler/S. Willer (Hg.): Futurologien, S. 143–153.

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kunftsbezug« dieser Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften.25 Demnach bedeutet die Etablierung von Sicherheit streng genommen eine Stillstellung der Zeit durch die Verlängerung der Gegenwart in eine abgesicherte Zukunft hinein. So entsteht ein Spannungsverhältnis zur eigentlichen »Zeitlichkeit der Zukunft«,26 nämlich zu ihrer unabsehbaren Offenheit. Dieser Befund verweist auf die maßgeblich von Reinhart Koselleck seit den späten sechziger Jahren formulierte These, wonach sich der entscheidende Wandel von Zukunftsmodellierungen, die im modernen Sinn emphatische Futurisierung, in der ›Sattelzeit‹ zwischen 1750 und 1850 vollzogen habe. Nach Koselleck bildete sich in jener Phase durch die zunehmende Differenz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ein neues Zeit- und Zukunftsbewusstsein aus. Die ältere, ›vormoderne‹ Korrespondenz von Vergangenheit und Zukunft – und damit die Möglichkeit der Überführung früherer Erfahrungen in kommende Erwartungen – wurde außer Kraft gesetzt, und Zukunft wandelte sich zu einem offenen, im starken Sinne verzeitlichten Raum des Unbekannten.27 Von einer solchen offenen Zukunft des revolutionären Aufbruchs, der gesellschaftlichen Utopie, des künstlerischen Avantgardismus oder auch noch der wissenschaftsoptimistischen Futurologie der 1950er und 60er Jahre ist der um 1970 einsetzende Future Shock mit seinen Folgen in der Tat relativ deutlich abzugrenzen.28 Angesichts des verstärkten Aufkommens negativer Zukunftsbilder wird seither eine nachhaltige Optimierung bereits bestehender Sicherungssysteme bevorzugt: eine gewissermaßen konservative Futurisierung, ein möglichst gezieltes Management zukünftiger Kontingenzen. Exemplarisch zeigt sich diese Versicherheitlichung in Konzepten und Praktiken der Prävention. Prävention heißt, die Zukunft in der Weise zu kontrollieren und abzusichern, dass man ihr zuvorkommt, damit bestimmte, als nicht wünschenswert charakterisierte zukünftige Situationen nicht eintreten. Es wird also eine Situation bewältigt, die noch nicht existiert – und mehr noch: damit sie möglichst niemals existiert. Vorausgesetzt wird dabei, so Ulrich Bröckling, »dass sich erstens aus gegenwärtigen Indikatoren künftige unerwünschte Zustände prognostizieren lassen, dass sich zweitens Anzeichen von Fehlentwicklungen ohne Intervention ver25 Kaufmann, Franz Xaver: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart: Enke 1970, S. 157. 26 Ebd., S. 160. 27 Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. 28 Zur Umorientierung der Futurologie vgl. Seefried, Elke: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin/Boston: de Gruyter 2015.

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schlimmern, folglich drittens frühzeitige Eingriffe die größtmögliche Risikominimierung versprechen und sich die präventiven Interventionen viertens als Hilfe konzeptualisieren lassen.«29 Prävention weist eine »virtuelle Kausalität«30 auf: Die Ursache präventiver Maßnahmen liegt in der Zukunft, ist ihr also zeitlich nachgeordnet. Daher ist Prävention auf wissenschaftliche Prognosen angewiesen, weshalb das Sicherheitsdenken durch einen unabschließbaren »präventiven Willen zum Wissen« angetrieben wird.31 Zu dem so entstehenden Zukunftswissen gehören systematische Datenerhebungen, Datenanalysen und Techniken der Früherkennung genauso wie Szenario-Techniken, Computersimulationen oder Zukunfts-Erzählungen. Wohlgemerkt wird Prävention als Konzept und als Ensemble von Praktiken nicht erst um 1970 erfunden. Sie ist also nicht ohne Weiteres als Signatur eines ›postmodernen‹ Zukunftskonzepts auszumachen – so wie sich umgekehrt die sattelzeitliche Umbesetzung des Zukunftsdenkens nicht auf die Begrifflichkeit des Fortschritts und der absoluten Innovation reduzieren lässt. Mit Koselleck ist für die Moderne nicht nur das radikal Unbekannte, Unvorhersehbare der Zukunft zu statuieren, sondern auch der Zuwachs an Planungswissen und prognostischen Techniken, die benötigt werden, um jenes ›ganz Andere‹ zu beherrschen, zu programmieren oder wenigstens einzuhegen.32 Im Anschluss an Koselleck hat daher etwa Niklas Luhmann seine Soziologie des Risikos historisch im ausgehenden 18. Jahrhundert verankert. Zentral ist hier die Unterscheidung von Risiko und Gefahr, wobei Gefahr einen extern veranlassten, der Umwelt zugerechneten möglichen Schaden meint, Risiko hingegen immer als »Risiko der Entscheidung« zu verstehen ist, mit einem etwaigen Schaden als »Folge der Entscheidung«.33 Im so entstehenden Spannungsfeld von Sicherheit und Unsicherheit wird Prävention, die »Vorbereitung auf unsichere künftige Schäden«, zum ent29 Bröckling, Ulrich: »Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention«, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2008), H. 1, S. 38‒48, hier S. 39. 30 Leanza, Matthias: »Prävention«, in: B. Bühler/S. Willer (Hg): Futurologien, S. 155‒167, hier S. 155. 31 U. Bröckling: »Vorbeugen ist besser…«, S. 42. Vgl. auch ders.: »Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution«, in: Christopher Daase/Philipp Offermann/Valentin Rauer (Hg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 93‒108. 32 Vgl. Koselleck, Reinhart: »Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose«, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 203– 221. 33 Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos, Berlin/New York: de Gruyter 2003 [1991], S. 30f.

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scheidenden Faktor des Risikomanagements: Prävention beeinflusst die »Bereitschaft zum Risiko« und ist als »Risikoverteilungsstrategie« zu beschreiben; außerdem kann auch »das Unterlassen von Prävention zum Risiko« werden.34 Es gibt also gute Gründe, die Geschichte des ›präventiven Selbst‹ weit in die Geschichte der Moderne zurückzuverfolgen.35 Ähnliches gilt für die Sorge des Staates um und für Sicherheit, so wie sie François Ewald auf den Begriff des Vorsorgestaates gebracht hat.36 Dieser Begriff, l'état providence, steht für die Säkularisierung göttlicher Providenz, in der sich einst Fürsorge und Vorherwissen verbunden hatten.37 Wie weit die staatliche Sorge reicht, kann man bereits einer der grundlegenden politischen Abhandlungen der Neuzeit entnehmen, Thomas Hobbes Leviathan (1651). Der Übergang vom Natur- in den Gesellschaftszustand vollzieht sich nach Hobbes durch die Instituierung eines Souveräns, auf den die Menschen ihre Rechte übertragen. Im Gegenzug dafür muss der Souverän für die »Sicherheit [safety] des Volkes« sorgen. Dabei geht es ihm nicht nur um die bloße Sicherung gegen Gewalt: »Mit Sicherheit ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt.«38 Sicherheit ist hier also nicht auf Privatpersonen und ihre psychischen Zustände bezogen, sondern auf die Gesellschaft, den Staat als Ganzes. Der Souverän erfüllt die Rolle des procurators, er ist derjenige, der die sozialen Beziehungen so organisiert und überwacht, dass die Bürger sicher sein können. Damit sind zwar die Grundlagen für die Entfaltung jedes Einzelnen gegeben, doch um den Preis der Freiheit. Während Sicherheit bei Cicero im Kontext von Selbstpraktiken und damit auch von Selbstbestimmung steht, heißt Sicherheit bei Hobbes die Unterwerfung unter eine absolute Macht. Der Staat und seine Techniken administrativer Implementierung spielen in aktuellen Praktiken der Zukunftssicherung eine zentrale, aber auch prekäre Rolle, die in mehreren Beiträgen dieses Bandes erörtert wird. Das gilt etwa für die 34 Ebd., S. 38–40. 35 Vgl. Lengwiler, Martin/Madarász, Jeanette (Hg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld: transcript 2010. 36 Vgl. Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 37 Vgl. Köhler, Johannes: »Vorsehung«, in: Historisches Wörterbuch der Philoshophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Bd. 11, Basel: Schwabe 2001, Sp. 1206–1218; Saarinen, Risto: »Vorherwissen«, in: ebd., Sp. 1190–1193. 38 Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingel. von Iring Fetscher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 255.

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medizinische Vorsorge, die bei weitem nicht nur der Pflege individueller Gesundheit dient, sondern in genetisch-genealogischer Perspektive mit dem Wohlergehen der nächsten Generation und in epidemiologischer Perspektive mit dem ganzer Populationen verknüpft ist und daher zu einem biopolitischen Anliegen werden kann.39 Es gilt für den futurisierenden Umgang mit den staatlichen Finanzen, die mit dem Risikomanagement des internationalen Finanzmarkts so eng verknüpft sind, dass die staatliche Souveränität in Fiskal- und Haushaltsangelegenheiten fragwürdig werden kann.40 Und es gilt für polizeiliche und militärische Sicherheitspraktiken, die im Fall der Terrorismus-Bekämpfung vielfach ineinander greifen. Dabei führt die Algorithmisierung der Prävention in weiterer Konsequenz oft dazu, den Anteil menschlicher Entscheidung noch weiter zu minimieren, etwa durch den Einsatz von Drohnen.41 Die Sicherheitsinteressen des Staates sind also durchaus kritisch zu sehen. Ilija Trojanow und Juli Zeh schreiben in ihrem Manifest Angriff auf die Freiheit, jegliches zukunftssichernde Handeln von Staaten beruhe auf der Voraussetzung, »alle Menschen als potentiell gefährlich einzustufen und sie entsprechend zu behandeln«.42 In dieser obrigkeitskritischen Sichtweise bedeutet Versicherheitlichung immer eine Beschneidung individueller Freizügigkeit, insbesondere der freien Verfügung über die offene Zukunft. Dass die Zukunft »eine unendliche Vielzahl möglicher Abläufe mit unendlich vielen möglichen Beteiligten« bereit halte, ist demnach für den Einzelnen ein Szenario unbegrenzter Potenzialitäten, für den Staat hingegen ein Szenario dringend einzugrenzender Gefährdung: »Alles kann passieren, jeder ist verdächtig.«43 Nach dieser Diagnose sind die demokratischen Systeme des Westens derzeit auf dem Weg vom Rechts- zum Sicherheitsstaat und bringen sich gegen ihre eigenen Bürger in Stellung, denn »der vermeintlich abgesicherte Bürger ist der regulierte Bürger«.44 Allerdings reduziert sich die aktuelle Problematik der Zukunftssicherung nicht allein auf staatliche Praktiken, denen ›der Bürger‹ unterworfen wäre oder gegen die er sich in starrer Opposition zu positionieren hätte. Sicherheitsmaßnahmen werden nicht nur, vielleicht nicht einmal vorrangig, ›von oben‹ oktroyiert, sondern auch ›von unten‹ betrieben. Digitales Self Tracking, also die Erhebung und Sammlung personenbezogener Messwerte, oft zu medizinischen Zwe39 Vgl. die Beiträge von Matthias Leanza und Malte Thießen. 40 Vgl. den Beitrag von Andreas Langenohl. 41 Vgl. die Beiträge von Michael Andreas und Michael C. Frank. 42 Trojanow, Ilija/Zeh, Juli: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, München: dtv 2010, S. 67. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 46.

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cken, sowie der Erfolg von Online-Angeboten wie Quantified Self sind jüngere Beispiele für den Zusammenhang von Vorsorge und Selbstsorge. Mit bereits üblichen und noch in der Entwicklung begriffenen mobilen Endgeräten – Smartphones, Smartwatches usw. – machen die Benutzer datenrelevante Aspekte ihres Verhaltens mehr und mehr einsehbar und unterziehen sich oft bereitwillig verhaltensoptimierenden Maßnahmen. Wenn man die Wirkungsweise des auf diese Weise dezentralisierten und zunehmend globalisierten Regimes der Versicherheitlichung kritisch analysieren möchte, ist das also nicht auf staatliche Indoktrination zu vereindeutigen, sondern – wie weitere Beiträge des Bandes zeigen – als Gemengelage diverser, oft widersprüchlicher Belange, Aktivitäten und Zuständigkeiten zu untersuchen, zusammengesetzt aus Staatlichkeit, Selbsttechniken und nicht zuletzt Wirtschaftsinteressen.45 Beruht der globale Erfolg solcher Techniken darauf, dass sie in potenziell jedes kulturelle Zeitregime implementiert werden können? Oder bedarf es dafür zumindest einer linearen Zeitvorstellung, bei der alles, was geschieht, nur einmal geschieht – wenn auch mit je unterschiedlicher Finalität? Doch selbst vor dem Hintergrund einer zyklischen Zeitvorstellung lässt sich über eine Absicherung der Zukunft nachdenken. So finden sich bei Friedrich Nietzsche in einer Passage von Menschliches, Allzumenschliches fatalistische Mutmaßungen über einen möglichen »Kreislauf des Menschenthums«, in dem etwa der »Verfall[ ] der römischen Cultur« auf den »einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur« vorausweist. Genau daraus wird dann aber eine präventive Folgerung gezogen: »Gerade weil wir diese Perspective in’s Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.«46 So könnte man das versicherheitlichte Zukunftsmanagement sogar als anthropologische Konstante verstehen. Eine dahingehende Überlegung findet sich bei Hans Blumenberg, der den Menschen ein »auf Prävention eingestellte[s] Wesen[ ]«, nennt: »es sucht zu bewältigen, was noch gar nicht unmittelbar ansteht«.47 Blumenberg spricht dann weiter vom »präventiven Verhalten«, das der Gattung Mensch nach dem »Verlust der Spezialisierung auf körperlichen Nahkampf« evolutionär das Überleben ermöglicht habe. Dieses ›Verhalten‹ sei nach und nach in Richtung auf »ein Konzept, einen Entwurf, eine Planmäßigkeit« ausgebaut worden und habe »zwangsläufig zur Bildung von Gesellschaften ge45 Vgl. die Beiträge von Ramón Reichert und Sandra Pravica. 46 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878], in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München: dtv 1999, Bd. 2, S. 205–206 (= I.5.247). 47 Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. von Anselm Haverkamp, Frankurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 12.

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führt«.48 Wichtig an dieser neo-darwinistischen Interpretation ist weniger die Behauptung ihrer kulturunabhängigen Gültigkeit als vielmehr die Zurückführung des Themas Zukunftssicherung von den Sozialtechnologien unserer Gegenwart auf solche des menschlichen ›Verhaltens‹ auf einer basalen und fundamentalen Ebene. Wenn man menschliche Zukunftsvorstellungen demnach als »Instrumentarium für Möglichkeit«49 bezeichnen kann, dann interessiert besonders der Anteil an Imagination, der bei Fragen nach Sicherheit, Risikomanagement und Prävention mit im Spiel ist. Dabei handelt es sich nicht um akzidentelle Zutaten, in der Weise, dass es einen Kernbereich von rational-technischem Sicherungswissen gäbe, das dann nachträglich in mehr oder weniger plausible erfundene Welten und in mehr oder weniger spannende erfundene Geschichten übersetzt würde. Vielmehr ist jenes Wissen gerade in seinen operativen, praktischen und politischen Effekten ganz und gar vom Imaginären durchdrungen. Dieses Imaginäre kann allerdings gerade durch seine Überführung in konkrete Fiktionen ein hohes Maß an Plausibilität und Realität erhalten.50 Die in diesem Band untersuchten Szenarien der Bedrohung, Unsicherheit, Überwachung und Prävention, die heute in verschiedenen Medien und insbesondere in der Populärkultur zirkulieren, 51 wirken auf gesellschaftliche Prozesse der Zukunftssicherung zurück, bis hin zur Neujustierung demokratischer Entscheidungsprozesse und der Arbeit an der Wiedergewinnung der Zukunft als eines offenen Möglichkeitshorizonts.52

48 Ebd., S. 13. 49 Ebd., S. 17. 50 Zur Bestimmung des Verhältnisses von Imagination und Fiktion vgl. Iser, Wolfgang (1991), Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 19–23 und 401–411. 51 Vgl. die Beiträge von Michael C. Frank, Annie Ring, Lars Koch und Johannes Becker. 52 Vgl. die Beiträge von Benjamin Bühler und Katrin Solhdju.

Die kommende Pandemie Konturen eines neuen Seuchenregimes M ATTHIAS L EANZA

1. E INLEITUNG : M IT S CHADEN RECHNEN Der Horizont hat sich verdunkelt. Zukunft scheint heute weniger ein offener Möglichkeitsraum zu sein, in dem gleichermaßen Chancen, die es zu ergreifen gilt, wie zu vermeidende Gefahren auf uns warten.1 Vielmehr wirkt das, was auf uns zukommen könnte, für viele zutiefst bedrohlich. Ob man an den Klimawandel, den islamistischen Terrorismus oder die anhaltende Instabilität des Bankenund Finanzsektors denkt, in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens wird der kollektive Zukunftsbezug von einer Erwartungshaltung bestimmt, die sich mit Craig Calhoun als »emergency imaginary« 2 bezeichnen lässt. Demnach rechnen wir, ungefähr seit der Jahrtausendwende, in einer Reihe von Themenund Handlungszusammenhängen, die für das gesellschaftliche Zusammenleben von Bedeutung sind, vermehrt mit der Unvermeidbarkeit von Schäden, um uns so zumindest ein Stück weit auf sie vorbereiten zu können. Auch wenn sich Zukunftsimaginationen auf potenzielle Ereignisse und Zustände beziehen, von denen man jetzt noch nicht wissen kann, ob sie jemals Aktualität erlangen werden, bilden sie ein wichtiges Element in der kulturellen Pro1

Zu diesem für die Moderne insgesamt prägenden Zukunftsmodell vgl. Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München: Fink 1997; Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M.: Fischer 1999.

2

Calhoun, Craig: »A World of Emergencies: Fear, Intervention, and the Limits of Cosmopolitan Order«, in: Canadian Review of Sociology/Revue canadienne de sociologie 41 (2004), S. 373–395, hier S. 376. Siehe dazu auch Aradau, Claudia/van Munster, Rens: Politics of Catastrophe: Genealogies of the Unknown, London/New York: Routledge 2011; Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M.: Fischer 2014.

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duktion von Wirklichkeit.3 Indem wir uns ein Bild vom morgigen Tag machen, orientieren wir unser heutiges Handeln und Entscheiden in zeitlicher Hinsicht. Dass sich das gesellschaftliche Zukunftsbild seit der Jahrtausendwende verfinstert, dürfte einem Zusammenspiel von neu entstandenen Gefahren und geschärfter Gefahrenwahrnehmung geschuldet sein: Der sich bereits abzeichnende Klimawandel trifft auf eine erhöhte Aufmerksamkeit in Wissenschaft, Politik und Massenmedien, Maßnahmen im Bereich der Terrorprävention werden durch eine verschärfte Gefährdungslage legitimiert, die in der Eurozone seit 2009 regelmäßig durchgeführten Bankenstresstests evaluieren die Krisenfestigkeit des europäischen Bankensystems, um im gegebenen Fall durch frühzeitige Interventionen einen drohenden Systemkollaps zu verhindern, der nunmehr im Bereich des Möglichen zu liegen scheint. Gegenstand dieses Aufsatzes ist die Verdunklung des Zukunftshorizonts und seine Folgen für das Handeln in einem weiteren Bereich, der von großer Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben ist: dem globalen Seuchenschutz. Seit der Jahrtausendwende unternimmt die Weltgesundheitsorganisation in Zusammenarbeit mit einer großen Zahl lokaler Akteure rege Anstrengungen, die Weltbevölkerung vor hochansteckenden und zumeist neuartigen Viruserkrankungen zu schützen. Auch wenn man hierbei durch ein möglichst frühzeitiges Eingreifen der Ausweitung eines Ansteckungsherds entgegenzuwirken versucht, rechnen die federführenden Akteure zugleich mit einem Versagen der primären Schutzmaßnahmen. Pandemien, so die Überzeugung, ließen sich nicht sicher verhindern. Dennoch könne man im Sinne der preparedness für den Notfall planen, um dem Unvermeidlichen ein Stück weit seine Schwere zu nehmen. Es handelt sich somit um einen Grenzfall von Prävention: Dass künftig Schäden auftreten, wird als (nahezu) sicher erachtet; das jeweilige Schadensausmaß hingegen gilt als kontingent, das heißt durch Handeln beeinflussbar.4 3

Vgl. grundsätzlich dazu Uerz, Gereon: ÜberMorgen. Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, München: Fink 2006 und mit Blick auf Prävention Willer, Stefan: »Sicherheit als Fiktion. Zur kultur- und literaturwissenschaftlichen Analyse von Präventionsregimen«, in: Markus Bernhardt/ Stefan Brakensiek/Benjamin Scheller (Hg.), Ermöglichen und Verhindern. Vom Umgang mit Kontingenz, Frankfurt a.M./New York: Campus 2016, S. 235–255.

4

Prävention kann es nur dort geben, wo sich mögliche Schäden in der Zukunft durch gegenwärtiges Handeln vermeiden, aufschieben oder zumindest in ihren Folgen abmildern lassen; vgl. dazu Bröckling, Ulrich: »Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention«, in: Behemoth 1(1) (2008), S. 38–48, hier S. 39f.; Leanza, Matthias: »Prävention«, in: Benjamin Bühler/Stefan Willer (Hg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, München: Wilhelm Fink 2016, S. 155–167 hier S. 156f.

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Die folgenden Ausführungen nähern sich diesem neuen, gegenwärtig im Entstehen begriffenen Seuchenregime, das Institutionen und Techniken, Wissensordnungen und Normen miteinander verknüpft, um die drohende Gefahr abzuwenden, in drei Schritten: Zunächst möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen zum Problem des staatlichen Seuchenschutzes voranstellen, wobei mich insbesondere das Verhältnis von Souveränität, Grundrechten und Biopolitik interessiert. Im Anschluss daran sollen in historischer Perspektive die Grenzen nationalstaatlicher Souveränität angesichts globaler Seuchengefahren betrachtet werden – und wie durch Bildung formaler Organisationen auf Weltebene dennoch eine suprastaatliche Koordination im Kampf gegen Pandemien möglich wird. Vor diesem Hintergrund kann schließlich das neue Seuchenregime, dessen Konturen sich seit einigen Jahren deutlicher abzeichnen, hinsichtlich seines doppelten Zukunftsbezugs und seiner komplexen Organisationsform betrachtet werden.

2. Z UM P ROBLEM DES S EUCHENSCHUTZES IM MODERNEN S TAAT Die Geschichte moderner Staatlichkeit ist mit der des Seuchenschutzes verschränkt. Nach Thomas Hobbes kann der Souverän – sei dieser eine natürliche Person wie in der Monarchie oder aber eine Versammlung wie in aristokratischen und demokratischen Gemeinwesen5 – seine Legitimation allein daraus schöpfen, dass er seinen Untertanen Schutz gewährt. Der künstliche Staatskörper, »jener große Leviathan«,6 habe die natürlichen Körper der Menschen, die ihn bildeten, vor Schaden zu bewahren, wolle er selbst nicht zerfallen: »Es versteht sich, daß die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän so lange und nicht länger dauert, wie die Macht dauert, mit deren Hilfe er sie schützen kann.«7 Auch wenn Hobbes hierbei vor allem den Schutz vor Diebstahl und Verbrechen, Gewalt und Krieg im Sinn hatte, tauchte am Rande – oder genauer: sehr klein in der Bildmitte – bereits das Problem des gesundheitlichen Schutzes auf. Das wahrscheinlich von Abraham Bosse geschaffene Titelkupfer des Leviathan

5

Dies sind nach Thomas Hobbes die drei Grundformen staatlicher Gemeinweisen: Hobbes, Thomas: Leviathan, hg. v. Hermann Klenner, Hamburg: Meiner 1996 [1651], S. 156–169.

6

Ebd., S. 5.

7

Ebd., S. 187.

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von 1651, das als Ikone des neuzeitlichen Staates gelten kann, 8 enthält nämlich ein bemerkenswertes Detail: Auf dem Kirchenvorplatz in der Stadt, über der der Souverän mit Schwert und Krummstab thront, finden sich zwei Seuchenärzte mit Schnabelmasken, welche an die Pest gemahnen, die im frühneuzeitlichen Europa endemisch geworden war.9 Das leicht zu übersehende Bildelement verweist sowohl auf die Bedrohung, die von der Seuche für Leib und Leben ausgeht, als auch auf den Versuch, die Gemeinschaft vor ihr zu schützen, nicht zuletzt mithilfe von Isolations- und Quarantänemaßnahmen, wie man sie im Kampf gegen die Pest bereits seit dem Spätmittelalter regelmäßig einsetzte.10 Der Souverän – so die Botschaft – gewährt seinen Untertanen Schutz, verlangt im Gegenzug dafür aber Folgebereitschaft. Im modernen Verfassungsstaat, der sich während des langen 19. Jahrhunderts im Westen herauszubilden begann,11 können die zu Bürgern gewordenen Untertanen gegenüber dem Souverän und seinen ausführenden Organen jedoch liberale Grundrechte geltend machen. Die Freiheit des Einzelnen beschränkt den staatlichen Zugriff.12 John Locke, einer der wichtigsten Vordenker des politischen Liberalismus, hatte bereits 1689 vor einer maßlosen Herrschaftsausübung des Staates gewarnt.13 Individuelle Freiheitsrechte seien durch eine Verfassung zu schützen, die sowohl die Teilung wie die Reichweite der durch den Gesellschaftsvertrag legitimierten Staatsgewalt bestimmen solle. Das Schwert, mit dem der Souverän seine weltliche Macht behauptet, hat etwas von seiner Schärfe verloren.

8

Vgl. Bredekamp, Horst: Thomas Hobbes – Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, 1651–2001, Berlin: Akademie-Verlag 2012.

9

Darauf hat Falk, Francesca: »Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken«, in: Leviathan 39(2) (2011), S. 247–266 aufmerksam gemacht; Detailabbildungen finden sich dort.

10 Vgl. Dinges, Martin: »Süd-Nord-Gefälle in der Pestbekämpfung. Italien, Deutschland und England im Vergleich«, in: Wolfgang U. Eckart/Robert Jütte (Hg.), Das europäische Gesundheitssystem. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive, Stuttgart: Steiner 1994, S. 19–51. 11 Mit Blick auf die europäische Geschichte vgl. dazu Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: Beck 2000, insb. S. 410–425. 12 Zu der hiermit in Verbindung stehenden Herausbildung der Vorstellung von Privatheit vgl. Geuss, Raymond: Privatheit. Eine Genealogie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. 13 Vgl. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. v. Walter Euchner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 [1689], insb. S. 283–311.

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Noch in einem weiteren Punkt wandelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Charakter staatlicher Herrschaft: Nach Michel Foucault entstand im Übergang zur Moderne ein neuartiger Machttypus, der im Unterschied zur souveränen Macht, wie sie Hobbes paradigmatisch beschrieben hat, auf eine systematische Bewirtschaftung und Steigerung des Lebens abzielte: die Biomacht. »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist.« Im Gegensatz dazu sei »[d]er moderne Mensch […] ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht«.14 Der Eintritt des natürlichen Lebens in den politischen Raum geschah auf mehreren Wegen: Neben dem Sexualitätsdispositiv, das zusammen mit dem neuzeitlichen Kriegsdiskurs bei Foucault im Mittelpunkt der Betrachtung steht,15 besaß auch der Seuchenschutz, wie ihn der Staat gemeinsam mit Medizinern, Ingenieuren, Erziehern und Statistikern seit dem 19. Jahrhundert systematisch zu betreiben begann,16 einen zentralen Stellenwert hierbei. »Die Tatsache des Lebens«, so die Folge dieser Entwicklungen, »ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt.« 17 Die Seuchenärzte, die jetzt zusammen mit weiteren Akteuren die Gesundheit des body politic überwachen, haben in gewisser Weise an Größe gewonnen, so dass sie im Herrschaftsbild nicht mehr zu übersehen sind. Die Idylle des modernen Staates, der seinen Bürgerinnen und Bürgern sowohl Freiheit als auch Schutz gewährt, wird jedoch durch einen Konflikt getrübt, der sich immer wieder aufs Neue in seinem Zentrum entfacht: Häufig steht der Staat nämlich vor der Situation, zwischen individuellen Freiheits- und kollektiven Schutzrechten abwägen zu müssen, da sich nicht beide zugleich garantieren lassen. Auch wenn im liberalen Verfassungsstaat das Schwert des Souveräns stumpfer geworden ist, kommt es im Zeichen biopolitischer Bevölkerungsregulation doch immer wieder zum Einsatz. »Anstelle der Drohung mit dem Mord«, beschreibt Foucault diesen Zusammenhang, »ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft.«18 Wie weit darf man 14 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 138. 15 Vgl. neben ebd. auch Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 16 Vgl. Baldwin, Peter: Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge: Cambridge University Press 2005. 17 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 138. 18 Ebd.

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den öffentlichen Personen- und Warenverkehr einschränken, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern? Unter welchen Bedingungen lassen sich medizinische Untersuchungen, Schutzimpfungen und Heilbehandlungen, Entseuchungen und Entwesungen staatlich anordnen? Und sollen neben Berufsund Tätigkeitsverboten auch Zwangsunterbringungen auf Isolierstationen erlaubt sein, wenn sie dem allgemeinen Gesundheitsschutz dienen? Die Einschränkung individueller Freiheitsrechte mag zwar im modernen Verfassungsstaat unter einem erhöhten Rechtfertigungsdruck stehen, vollkommen unmöglich geworden ist sie aber nicht.

3. N ATIONALSTAATLICHE S OUVERÄNITÄT UND GLOBALE S EUCHENGEFAHREN Neben dem Konflikt zwischen individuellen Freiheits- und kollektiven Schutzrechten hat der souveräne Nationalstaat mit einem weiteren Problem zu kämpfen: Infektionskrankheiten machen nicht an Staatsgrenzen halt. Vielmehr zirkulieren Krankheitserreger, ohne auf politische und administrative Einflusssphären Rücksicht zu nehmen. Was Gilles Deleuze und Félix Guattari für Rhizome allgemein aussagen, trifft auf die Ausbreitung von Ansteckungsketten ganz besonders zu: Indem sie netzwerkartig in alle Richtungen wuchern, zeitigen sie einen ›Deterritorialisierungseffekt‹.19 Die Geschichte des globalen Seuchenschutzes ist daher auch eine Geschichte der Grenzen souveräner Macht – und des Versuchs, dennoch handlungsfähig zu bleiben. Nicht zuletzt unter dem Eindruck von fünf Cholerapandemien mit zum Teil verheerenden Folgen gewann im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Thema des Seuchenschutzes an Bedeutung.20 Jede Epidemie führte den europäischen Staaten erneut vor Augen, dass sie keine voneinander abgeschotteten Gesellschaften waren, die nur gelegentlich und punktuell miteinander in Kontakt traten. Vielmehr bildeten sie einen gemeinsamen Sozialraum mit einem hohen Grad an innerer Dichte und einer zunehmenden Verflechtung nach außen. Während in den frühen 1830er Jahren Russland, Preußen und die Habsburgermonarchie die europäische Ostgrenze noch durch einen umfassenden Militärkordon von der aus Indien herannahenden Cholera abzuschirmen versuchten, nahm man im Laufe

19 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 19ff. 20 Vgl. P. Baldwin: Contagion and the State in Europe, S. 37–243; Rosenberg, Charles E.: The Cholera Years: The United States in 1832, 1849, and 1866, Chicago: University of Chicago Press 1987.

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des 19. Jahrhunderts zusehends Abstand von Präventionsmaßnahmen dieser Art.21 Durchlässigere und gezieltere Formen der Grenzkontrolle traten an deren Stelle; die Assanierung der Städte und die Verbesserung der Individualhygiene gewannen an Bedeutung. Denn trotz des umfassenden Versuchs der Absperrung grassierte die Cholera in Europa. Die Befürworter des Sperrgürtels mussten einsehen, dass sein gesundheitlicher Nutzen gering war, wohingegen die wirtschaftlichen Kosten enorme Ausmaße annahmen. Mit dem stehenden Heer zählte zwar eine neuzeitliche Institution zu den Hauptakteuren, dennoch erwies sich die Maßnahme insgesamt als anachronistisch. Die zunehmende Verdichtung des europäischen Sozialraums bewirkte nicht nur die sprunghafte Zunahme von Epidemien, sondern bildete auch ein massives Hindernis bei der Abschottung ganzer Regionen. Auch wenn Krankheitserreger nicht an den Grenzen von Nationalstaaten haltmachen, endet an ihnen aber das Herrschaftsgebiet eines Souveräns und das schwierige Terrain der zwischenstaatlichen Diplomatie beginnt. Mit den Internationalen Sanitätskonferenzen, die in den Jahren zwischen 1851 und 1938 vierzehn Mal stattfanden, wurden erste Versuche unternommen, auf diplomatischem Wege ein globales Seuchenregime aufzubauen.22 Standen die ersten Treffen noch ganz unter dem Eindruck der Cholera, lässt sich seit den 1880er Jahren eine thematische Öffnung erkennen. Vereinbarungen im Bereich von Quarantäne-, Inspektions- und Überwachungsmaßnahmen konnten mühsam erarbeitet und vereinzelt ratifiziert werden. Ein weiterer Schritt in dieser Richtung war die Gründung von Tropeninstituten, welche die Übergangszonen zwischen dem kolonialisierenden Zentrum und der kolonialisierten Peripherie regulieren sollten. Neben den 1899 in London und Liverpool eröffneten Forschungseinrichtungen ist das 1900 eingerichtete Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten hervorzuheben.23 In einer Kombination aus Grundlagenforschung und Ärzteausbildung, Krankenbehandlung und Seuchenprophylaxe, Laienaufklärung und

21 Vgl. nochmals P. Baldwin: Contagion and the State in Europe, S. 37–243 sowie Briese, Olaf: Angst in den Zeiten der Cholera. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums. Seuchen-Cordon I, Berlin: Akademie-Verlag 2003, S. 233–280. 22 Vgl. Howard-Jones, Norman: The Scientific Background of the International Sanitary Conferences 1851–1938, Genua: WHO 1975; Bynum, William F.: »Policing Hearts of Darkness: Aspects of the International Sanitary Conferences«, in: History and Philosophy of the Life Sciences 15(3) (1993), S. 421–434. 23 Vgl. dazu Wulf, Stefan: Das Hamburger Tropeninstitut 1919 bis 1945. Auswärtige Kulturpolitik und Kolonialrevisionismus nach Versailles, Berlin/Hamburg: Reimer 1994.

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Politikberatung suchte man den gefürchteten Ansteckungskrankheiten entgegenzutreten. Jedoch erhielt die globale Gesundheitspolitik erst mit der Weltgesundheitsorganisation, die 1948 als Sonderbehörde der Vereinten Nationen eingerichtet wurde, eine Koordinations- und Steuerungseinheit.24 Die souveränen Nationalstaaten nutzten den im Kleinen bereits vielfach bewährten Mechanismus der Organisationsbildung,25 um ihre Zusammenarbeit auf diesem Gebiet abzustimmen. Während Hobbes zufolge »Bündnisse von Untertanen« innerhalb eines Staates »einen Beigeschmack von ungesetzlicher Absicht« besitzen, sofern sie in staatliche Aufgaben- und Hoheitsbereiche hineinzuwirken versuchen, »sind Bündnisse zwischen Gemeinwesen, über denen keine menschliche Macht errichtet ist, um sie alle in Schrecken zu halten, nicht nur gesetzlich, sondern auch nützlich, solange sie dauern«.26 Mit der Weltgesundheitsorganisation (und anderen Einrichtungen dieser Art) wurde, wenn man so möchte, ein künstlicher Körper zweiter Ordnung erschaffen, mit dem die Mitgliedsstaaten, die ihn als künstlichen Körper erster Ordnung trugen, eine globale Handlungsfähigkeit im Bereich der internationalen Gesundheitspolitik zu erlangen versuchten.27 Den souveränen Nationalstaaten war es nunmehr im Prinzip möglich, auf Ebene der sich konsolidierenden Weltgesellschaft kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen. Mit den 1969 erlassenen Internationalen Gesundheitsvorschriften, welche die Internationalen Sanitätsvorschriften aus dem Jahr 1951 ablösten, etablierte die Weltgesundheitsorganisation völkerrechtlich verbindliche Standards und Normen auf diesem Gebiet.28 Das ausdrückliche Ziel der Regularien bestand darin, »the maximum security against the international spread of disease with the mi24 Zu den unmittelbar vorausgegangenen Entwicklungen vgl. Bashford, Alison: »Global Biopolitics and the History of World Health«, in: History of the Human Sciences 19(1) (2006), S. 67–88. 25 Bei Organisationen handelt es sich um einen bestimmten Typus von Sozialsystem, für den formale Mitgliedschaftsverhältnisse und an diese gebundene Entscheidungen konstitutiv sind; vgl. grundlegend dazu Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. Zumeist wird hierbei stillschweigend unterstellt, dass lediglich natürliche Personen Organisationsmitglieder sind. Wie jedoch interund supranationale Organisationen zeigen, können auch – im weitesten Sinne – juristische Personen Mitglied einer formalen Organisation sein. 26 Alle Zitate in T. Hobbes: Leviathan, S. 200. 27 Zu solchen und anderen ›lateralen Weltsystemen‹ vgl. Willke, Helmut: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 107–191. 28 Vgl. WHO: »International Sanitary Regulations, 25. Mai 1951«, in: Treaty Series 22 (1962); WHO: International Health Regulations, 25. Juli 1969, Genf: WHO 1983.

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nimum interference with world traffic«29 zu gewährleisten. Zu diesem Zweck habe man auf Weltebene ein epidemiologisches Überwachungs- und Frühwarnsystem zu installieren; im Einzelnen sei mithilfe von Telefax, Telegramm und Telefon eine zügige Nachrichtenübertragung zu gewährleisten. War die Verbreitung der Kommunikation schneller als die Verbreitung der Erreger, entstand eine zeitliche Differenz, die sich präventiv nutzen ließ. Neben der Einrichtung eines globalen Kommunikationsnetzes sollten Gesundheitskontrollen in Form von Selbstauskünften, ärztlichen Untersuchungen und Impfpässen helfen, die Träger von Krankheitserregern ausfindig zu machen. Eine besondere Aufmerksamkeit erfuhren hierbei See- und Flughäfen, die als Knotenpunkte der globalen Zirkulation in strategischer Hinsicht von zentraler Bedeutung waren. Daneben unternahm die Weltgesundheitsorganisation Anstrengungen, einzelne Infektionskrankheiten gezielt zu bekämpfen. Eines der ersten großen Projekte in diesem Bereich war das Global Malaria Eradication Program. Um die gefährliche Tropenkrankheit, die von der Anopheles-Mücke übertragen wird, zu besiegen, setzte man zwischen 1955 und 1969 in rund 60 Ländern der Welt wiederholt und flächendeckend das Insektizid DDT ein. Jedoch musste man schon bald erkennen, dass das Vorhaben, die Krankheit auszurotten, trotz großer Erfolge in einzelnen Regionen, deutlich zu ambitioniert gewesen war. 30 Anders verhielt es sich bei den Pocken, denen die Weltgesundheitsorganisation 1959 den Kampf ansagte.31 Das bis heute umfassendste Impfprogramm in der Menschheitsgeschichte hat nach rund 20 Jahren sein Ziel erreicht. 1980 konnte die Weltgesundheitsorganisation verkünden: »smallpox is dead!«32 Wie im entsprechenden Beschluss der Weltgesundheitsversammlung festgehalten wurde, haben die verschiedenen Nationen durch eine gemeinsame Anstrengung die Menschheit von einen ihrer größten Geißeln befreit.33 Nur zwei Jahre, nachdem die Menschheit bei den Pocken bewiesen hatte, dass sich der Kampf gegen Infektionskrankheiten mit vereinten Kräften gewin29 WHO: »International Sanitary Regulations and Additional Amending Regulations«, S. 5. 30 Vgl. Zimmer, Thomas: »In the Name of World Health and Development: The World Health Organization and Malaria Eradication in India, 1949–1970«, in: Marc Frey/ Sönke Kunkel/Corinna Unger (Hg.), International Organizations and Development, 1945–1990, London: Palgrave Macmillan 2014, S. 126–149. 31 Vgl. dazu die umfassende Darstellung in Fenner, Frank et al.: Smallpox and its Eradication, Genf: WHO 1988, insb. S. 365–592, 1103–1148. 32 So das jubilatorische Titelcover des WHO-Magazins vom Mai 1980; eine Abbildung findet sich ebd., S. 1106. 33 Vgl. ebd., S. 1135.

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nen ließ, erschien eine neue Seuchengefahr auf dem epidemiologischen Radar: Das von der US-amerikanischen Seuchenbehörde einberufene Gesundheitsforum in Washington verkündete am 27. Juli 1982, dass man fortan jene mysteriöse Viruserkrankung, die seit rund einem Jahr in den Metropolen des Landes vermehrt aufgetreten war, als ›Acquired Immunodeficiency Syndrome‹, kurz AIDS, bezeichnen werde.34 Spätestens zu diesem Zeitpunkt bildete die Krankheit einen öffentlichen, sozialen Tatbestand. Die bis dahin vorherrschende Erzählung von einem nahenden Ende des Seuchenzeitalters entpuppte sich als gefährliche Selbsttäuschung. AIDS schockierte, weil mit großer Plötzlichkeit grundlegende Annahmen über den eigenen Ort in der Geschichte verabschiedet werden mussten. »Seuchen wie Pest und Cholera, folgenschwere Viruserkrankungen wie Pocken und Kinderlähmung«, hieß es beispielsweise 1983 im Spiegel, »hat der Mensch durch zunehmende Hygiene, durch Impfstoffe und Medikamente unter Kontrolle gebracht. Auch über Viruskrankheiten wie Herpes und Hepatitis rückt der Sieg schon in greifbare Nähe – wie ein Schock kommt da die geheimnisvolle Krankheit Aids.«35 Wie die Vereinten Nationen in ihrer Millenniumserklärung mit Nachdruck betont haben, sei es angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart die Pflicht aller Länder, durch eine gemeinsame Anstrengung eine friedlichere und gerechtere Welt zu schaffen.36 Der Kampf gegen HIV/AIDS, Malaria und weitere Krankheiten bildete hierbei eines von acht Entwicklungszielen, die bis zum Jahr 2015 erreicht werden sollten.37 Laut UNAIDS starben im Jahr 2000 weltweit 1,6 Millionen Menschen an den Folgen der Immunschwächekrankheit, wobei rund 80% der Todesfälle im subsaharischen Afrika zu verzeichnen waren.38 Bis 2004 stieg die Zahl der jährlichen AIDS-Toten auf 2 Millionen an, bevor sie langsam, aber stetig zurückging. Im Jahr 2015 sind weltweit 1,2 Millio34 Zur frühen Phase der Epidemie vgl. Grmek, Mirko D.: A History of AIDS: Emergence and Origin of a Modern Pandemic, Princeton: Princeton University Press 1990, S. 3–43; Epstein, Steven: Impure Science: AIDS, Activism, and the Politics of Knowledge, Berkeley: University of California Press 1996, S. 45–78. 35 Anonymus: »Aids: ›Eine Epidemie, die erst beginnt‹«, in: Der Spiegel 38(23) (1983), S. 144–163, hier S. 147. 36 Vgl. UN-Generalversammlung: United Nations Millennium Declaration, New York: UN 2000. 37 Vgl. http://www.un.org/millenniumgoals/ [letzter Aufruf am 31. Januar 2017]. 38 Die Angaben stammen aus der Datenbank auf http://aidsinfo.unaids.org/ [letzter Aufruf am 31. Januar 2017]. Die im Ereigniszeitraum selbst verbreiteten Zahlen lagen jedoch deutlich höher; vgl. etwa UNAIDS: Report on the Global HIV/AIDS Epidemic, Genf: UNAIDS 2000, S. 124.

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nen Menschen an der Krankheit gestorben, was man aufgrund der rückläufigen Entwicklung als großen Erfolg wertete.39 Jedoch hatte AIDS zu diesem Zeitpunkt bereits 35 Millionen Menschenleben gefordert.

4. Z UKUNFTSBEZUG UND O RGANISATIONSFORM DES NEUEN S EUCHENREGIMES Im Schatten der globalen AIDS-Krise, die durch humanitäre Maßnahmen in den Griff zu bekommen versucht wurde und wird, hat sich nach der Jahrtausendwende auf Weltebene ein neuartiges Seuchenregime herauszubilden begonnen, das auf hochansteckende Infektionskrankheiten gerichtet ist.40 Diese gilt es nicht mehr auszurotten, wohl aber einzudämmen. Das zentrale Anliegen besteht darin, sich auf Pandemien vorzubereiten, deren Auftreten man unter den Bedingungen globaler Vergesellschaftung als letztlich unvermeidbar erachtet. Jedoch führt diese Erwartungshaltung keineswegs zu einem abwartenden Verhalten, sondern wird im Gegenteil von einer erhöhten Alarm- und Aktionsbereitschaft begleitet. Das neue Seuchenregime verfolgt somit eine Doppelstrategie: Durch ein frühzeitiges Eingreifen versucht man, dem möglichen Schaden zuvorzukommen, macht sich aber zugleich auf ein Versagen der primären Schutzmaßnahmen gefasst. Den Grundstein für das neue Seuchenregime hat die Weltgesundheitsorganisation mit dem im Jahr 2000 eingerichteten Global Outbreak Alert and Response Network (GOARN) gelegt, das seither in mehr als 120 Fällen aktiv geworden ist.41 Durch »rapid identification, verification and communication of threats leading to coordinated response«42 soll der internationalen Ausbreitung von Infektionskrankheiten zeitnah entgegengewirkt werden. »No single institution or country«, so das Hauptargument für die länderübergreifende Vernetzung, »has all of the capacities to respond to international public health emergencies caused

39 Vgl. WHO/UNAIDS: Global AIDS Response Progress Reporting 2015, Genf: UNAIDS 2015, S. 4. 40 Vgl. Lakoff, Andrew: »Two Regimes of Global Health«, in: Humanity 1(1) (2010), S. 59–79. 41 Vgl. http://www.who.int/csr/disease/ebola/partners/en/ [letzter Aufruf am 31. Januar 2017]. 42 WHO: Global Outbreak Alert and Response: Report of a WHO Meeting, Genf 2000, S. 2.

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by epidemics and by new and emerging infectious diseases.«43 Dass die SARSPandemie von 2002/03, bei der knapp 800 Todesfälle registriert wurden, einen globalen Alarm auslöste, da man die Gesundheit der Weltbevölkerung bedroht sah, ging nicht zuletzt auf das GOARN zurück. Die Risikokommunikation, die sich am Ansteckungspotenzial entfachte, hat in diesem Fall die Ansteckungswirklichkeit überholt.44 Auch die 2005 grunderneuerten Internationalen Gesundheitsvorschriften, die im Juni 2007 in Kraft traten, haben die institutionell verankerte Alarm- und Aktionsbereitschaft deutlich erhöht. Im Unterschied zu den Vorläuferregularien von 1951 und 1969, die noch vergleichsweise statisch auf einen festen Katalog von Infektionskrankheiten bezogen waren, soll nunmehr jeder potenzielle ›Public Health Emergency of International Concern‹ (PHEIC) mithilfe eines sensiblen Frühwarnsystems aufgespürt werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf den Durchgangspunkten (›points of entry‹) der globalen Zirkulation liegt. 45 Die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation tragen die Verantwortung für die lokale Implementierung des globalen Sicherheitsnetzes; im Einzelnen haben sie Überwachungs-, Kontakt- und Koordinationsstellen einzurichten.46 In Deutschland ist seit 2010 das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern, das dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe untersteht, zusammen mit dem Robert-Koch-Institut federführend auf diesem Gebiet tätig.47 Um den potenziellen Gesundheitsschaden, der von einem regionalen 43 WHO: »Global Outbreak Alert and Response Network—GOARN, Partnership in Outbreak Response«, abrufbar unter: http://www.who.int/csr/outbreaknetwork/goa rnenglish.pdf [letzter Aufruf am 31. Januar 2017]. 44 Vgl. dazu Ong, Aihwa: »Assembling Around SARS: Technology, Body Heat, and Political Fever in Risk Society«, in: Angelika Poferl/Nathan Snaider (Hg.), Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt. Auf dem Weg in eine andere Soziologie, Baden-Baden: Nomos 2004, S. 81–89; Pohler, Wiebke: »SARS – Ein globales Risikoereignis«, in: Wiebke Pohler/Markus Holzinger/Stefan May (Hg.), Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, S. 121–151. 45 Vgl. WHO: International Health Regulations, Genf: WHO 2005, S. 11–15, 18–20. Zur Novellierung der Internationalen Gesundheitsvorschriften vgl. Davies, Sara E./ Kamradt-Scott, Adam/Rushton, Simon: Disease Diplomacy: International Norms and Global Health Security, Baltimore 2015; Gostin, Lawrence O.: Global Health Law, Cambridge, Mass: Harvard University Press 2014, S. 175–204. 46 Vgl. WHO: International Health Regulations, S. 11. 47 Zu den rechtlichen Grundlagen vgl. »Gesetz zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) (IGV) vom 23. Mai 2005. Vom 20. Juli 2007«, in: Bundesgesetzblatt 103 (2007), S. 930–994; »Gesetz zur Durchführung der Internationalen Gesundheits-

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Krankheitsgeschehen für die Weltbevölkerung ausgeht, richtig einschätzen zu können, hat die Weltgesundheitsorganisation verbindliche Richtlinien erlassen.48 Die Risikobeurteilung vor Ort soll weltweit einheitlichen Standards folgen, nur so könne die globale Anschlussfähigkeit der lokal generierten Informationen und Entscheidungen gewährleistet werden. Dies verhindert freilich nicht, dass es zumindest in der Rückschau betrachtet zu Fehleinschätzungen kommen kann. So hat die Weltgesundheitsorganisation die Ebolavirus-Epidemie von 2014/15 erst vergleichsweise spät als einen PHEIC eingestuft.49 Zusammen mit den Aufmerksamkeitsschwellen wird versucht, die Reaktionszeiten herabzusenken. Bildet die dezentrale Struktur von Netzwerken hinsichtlich der Alarmfunktion einen Vorteil, insofern sie die Aufmerksamkeit im Raum verteilt, wirkt sich das fehlende Handlungszentrum für die Interventionsfunktion hingegen nachteilig aus. Aller Netzwerkrhetorik zum Trotz wird daher keineswegs auf die altbewährten Strukturprinzipien von Hierarchie und Arbeitsteilung verzichtet. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften etwa sehen vor, dass die zuständigen Einheiten vor Ort bei einer positiven Risikoeinschätzung binnen 24 Stunden die Weltgesundheitsorganisation benachrichtigen, welche dann in einem hierarchisch und arbeitsteilig organisierten Prozess die benötigten Informationen und Experten in die betroffenen Regionen zu versenden hat. 50 An jeder Stelle im Gesamtprozess wird flexibel auf die Strukturprinzipien zurückgegriffen, die das beste Teilergebnis versprechen. Durch eine Kombination von Netzwerk, Hierarchie und Arbeitsteilung soll ein zügiges Eingreifen ermöglicht werden. Trotz der großen Anstrengungen, die man auf Weltebene unternimmt, um Pandemien zu verhindern, wird ihr Eintreffen als weitestgehend sicher erachtet. Der nächste Gesundheitsnotstand komme bestimmt. Schon 2005 gab die Weltgesundheitsorganisation zu bedenken: »Influenza experts agree that another pandemic is likely to happen but are unable to say when. The specific characteristics of a future pandemic virus cannot be predicted. Nobody knows how pathogenic a

vorschriften (2005) und zur Änderung weiterer Gesetze. Vom 21. März 2013«, in: Bundesgesetzblatt 109 (2013), S. 566–584. 48 Die maßgebliche Entscheidungsmatrix findet sich in ebd., S. 43–46. Für weitergehende Bestimmungen vgl. WHO: Rapid Risk Assessment of Acute Public Health Events, Genf: WHO 2012. 49 Für eine ausführliche Betrachtung dieses Falls vgl. die Beiträge in Andrew Lakoff/Stephen J. Collier/Christopher Kelty (Hg.), Ebola’s Ecologies (limn 5) (2015). 50 Zu den genauen Bestimmungen vgl. WHO: International Health Regulations, S. 11– 15, 31–34, 40–42.

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new virus would be, and which age groups it would effect.« 51 Die Unvorhersagbarkeit ist demnach keine absolute sondern eine relative, so dass man sich zumindest im Großen und Ganzen auf das Unvermeidliche – die nächste Pandemie – einstellen kann.52 In einer Hochglanzbroschüre zum Thema präsentierte 2006 auch das United States Department of Homeland Security eine ähnliche Sicht der Dinge: »Some will say«, so der zitierte US-amerikanische Gesundheitsminister Mike Leavitt, »this discussion of the Avian Flu is an overreaction. Some may say, ›Did we cry the wolf?‹ The reality is that if the H5N1 virus does not trigger pandemic flu, there will be another virus that will.«53 Auch wenn niemand vorherzusagen vermöge, wann und wo die nächste Pandemie zuschlägt, könne zumindest als sicher gelten, dass sie kommt. Damit folgt auch der globale Seuchenschutz einem breiten Trend, den Notbeziehungsweise Unfall zu normalisieren. Bereits in den 1970er Jahren und nochmals verstärkt nach der Jahrtausendwende imaginiert man in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, die Zukunft als tendenziell katastrophisch.54 Obwohl sich der gesellschaftliche Erwartungshorizont unter dem Eindruck ökologischer, politischer und wirtschaftlicher Krisen zunehmend verfinstert, lässt man jedoch nicht alle Hoffnung auf Prävention fahren. Zwar sei das Auftreten von Pandemien letzten Endes unvermeidbar, dennoch könne versucht werden, das Schadensausmaß möglichst gering zu halten. Es gilt, mit anderen Worten, für den Notfall zu planen, um ihm ein Stück weit seine Ereignisschwere zu nehmen. Genau dies meint das Konzept der preparedness: ein Handeln, Entscheiden und Regieren unter den Bedingungen von Unsicherheit. 55 »Although it is not considered feasible to halt the spread of a pandemic virus«, gab 2005 die Welt51 WHO: WHO Checklist for Influenza Pandemic Preparedness Planning, Genf: WHO 2005, S. VIf. 52 Vgl. dazu aus ethnographischer Perspektive auch MacPhil, Theresa: »A Predictable Unpredictability: The 2009 H1N1 Pandemic and the Concept of ›Strategic Uncertainty‹ within Global Public Health«, in: Behemoth 3(3) (2010), S. 57–77. 53 Mike Leavitt zit. n. Department of Homeland Security: Pandemic Influenza: Preparedness, Response, and Recovery. Guide for Critical Infrastructure and Key Resources, Washington: US Department of Homeland Security 2006, S. 10. 54 Vgl. neben der in der Einleitung dieses Textes aufgeführten Literatur auch Lakoff, Andrew: »Preparing for the Next Emergency«, in: Public Culture 19(2) (2007) S. 247–271. 55 Vgl. Lentzos, Filippa/Rose, Nikolas: »Governing Insecurity: Contingency Planning, Protection, Resilience«, in: Economy and Society 38(2) (2009), S. 230–254; Anderson, Ben: »Preemption, Precaution, Preparedness: Anticipatory Action and Future Geographies«, in: Progress in Human Geography 34(6), 2010, S. 777–798.

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gesundheitsorganisation zu bedenken, »it should be possible to minimize its consequences through advance preparation to meet the challenge.« 56 Eine intelligente Katastrophenplanung könne somit verhindern, dass sich eine hochansteckende Krankheit im Ernstfall weiter ausbreite und kritische Infrastrukturen, deren Ausfall die nationale Sicherheit gefährdeten, zusammenbrechen.57 Lokale Public Health Emergency Operations Centres (EOCs), die 2012 von der Weltgesundheitsorganisation zu einem globalen Netzwerk (EOC-Net) zusammengeschlossen wurden, um Synergie- und Isomorphieeffekte zu erzielen, tragen den Planungsprozess.58 Neben Bestandsaufnahmen, welche die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kontingente erfassen, besitzen Szenario-Techniken,59 die zunächst unabhängig von Wahrscheinlichkeitsaussagen mögliche Notfallsituationen imaginieren, um sich auf diese einstellen zu können, eine zentrale Bedeutung hierbei. Das Konzept der preparedness arbeitet mit zwei Klassen von Schadensfällen: Erstschäden, die sich nicht verhindern lassen, und vermeidbaren Folgeschäden. Insofern handelt es sich um ein Zurückweichen des präventiven Horizonts, nicht aber um dessen Zusammenbruch oder Verabschiedung. Auf dem Weg der Katastrophenplanung könne man die Widerstandskraft der Weltgemeinschaft stärken und so den »social, economic, and political stress«, 60 der aus Pandemien resultiere, möglichst gering halten. Der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat in diesem Zusammenhang auf der 62. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2009 die Frage aufgeworfen: »how do we build resilience in an age of unpredictability 56 WHO: WHO Global Influenza Preparedness Plan: The Role of WHO and Recommendations for National Measures Before and During Pandemics, Genf: WHO 2005, S. 3. 57 Zu dem hiermit zusammenhängenden Konzept der biosecurity, das den Gesundheitsmit dem Sicherheitsdiskurs verzahnt, vgl. Fidler, David P./Gostin, Lawrence O.: Biosecurity in the Global Age: Biological Weapons, Public Health, and the Rule of Law, Stanford: Stanford Law and Politics 2008; Andrew Lakoff/Stephen J. Collier (Hg.), Biosecurity Interventions: Global Health & Security in Question, New York: Columbia University Press 2008. 58 Vgl. WHO: Framework for a Public Health Emergency Operations Centre, Genf: WHO 2015. 59 Vgl. zu diesen auch Steinmüller, Angela/Steinmüller, Karlheinz: Ungezähmte Zukunft. Wild Cards und die Grenzen der Berechenbarkeit, München: Gerling Akademie Verlag 2003. 60 So die Weltgesundheitsorganisation auf ihrer Homepage zum Konzept der pandemic preparedness, abrufbar unter: http://www.who.int/influenza/preparedness/pandemic/ en/ [letzter Aufruf am 31. Januar 2017].

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and interconnection?« Durch Notfallplanung, lautete seine Antwort. »This is how we will make the global community more resilient. This is how we ensure that wherever the next threat to health, peace or economic stability may emerge, we will be ready.«61 Alle für das gesellschaftliche Leben zentralen Institutionen sollten sich durch eine weitsichtige Planung auf die nächste Pandemie vorbereiten, um so die allgemeine Belastbarkeit zu steigern. 62 »Wir brauchen flexible Systeme«, forderte 2011 auch Nathan Wolfe, Gründer der Initiative Global Viral Forecasting, »die nicht darauf setzen, dass die nächste Bedrohung von Influenza oder SARS ausgeht oder welcher gerade angesagten Infektionskrankheit auch immer. Die Systeme sollten allgemein und auf die Zukunft ausgerichtet sein.« 63 Denn nur Vorhersage-, Frühwarn-, Überwachungs- und Interventionssysteme, die flexibel auf die sich fortwährend ändernden Umweltbedingungen reagieren, seien robuste Systeme. Da sich niemals alle Viren ausrotten ließen, müsse daran gearbeitet werden, zumindest ihre Verbreitungsdynamik zu kontrollieren. Durch Ausbau des globalen Seuchenschutzes habe man der immer enger zusammenrückenden Weltbevölkerung »ein globales Immunsystem«64 zu geben, welches die lokal auftretenden Infektionsherde eindämme. Auch wenn nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation der globale Personen- und Güterverkehr grundsätzlich ungehindert fließen soll, müsse die Zirkulation gelegentlich und punktuell unterbrochen werden, um die Mitreise ungebetener Gäste zu verhindern.65 Tätigkeitsverbote, Reisebeschränkungen, Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen sind daher in den entsprechenden Regularien weiterhin vorgesehen.66 Zugleich werden diese Eingriffe aber als problematisch

61 Ban Ki-moon, »Resilience and Solidarity: Our Best Response to Crisis (Address to the 62nd World Health Assembly 19 May 2009)«, abrufbar unter: http://www. who.int/mediacentre/events/2009/wha62/secretary_general_speech_20090519/en/ [letzter Aufruf am 31. Januar 2017]. 62 Vgl. WHO: Whole-of-Society Pandemic Readiness: WHO Guidelines for Pandemic Preparedness and Response in the Non-Health Sector, Genf: WHO 2009. 63 Wolfe, Nathan: Virus. Die Wiederkehr der Seuchen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012 [2011], S. 276f. 64 Ebd., S. 290. 65 Vgl. Stephenson, Niamh: »Emerging Infectious Diseases/Emerging Forms of Biological Sovereignty«, in: Science, Technology, & Human Values 36(5), S. 616–637; Opitz, Sven: »Regulating Epidemic Space: The nomos of Global Circulation«, in: Journal of International Relations and Development 18(1) (2015), S. 1–22. 66 Dies zeigt sich nicht nur bei den globalen Bestimmungen, sondern auch in der nationalen Gesetzgebung; vgl. nur das »Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vor-

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erachtet, da sie grundlegende Freiheitsrechte der Person antasten. So lautet das erste Prinzip der Internationalen Gesundheitsvorschriften: »The implementation of these Regulations shall be with full respect for the dignity, human rights and fundamental freedoms of persons.«67 Auch in weiteren Bestimmungen und Dokumenten lässt sich ein hohes Maß an Problembewusstsein erkennen: In emergency situations, the enjoyment of individual human rights and civil liberties may have to be limited in the public interest. However, efforts to protect individual rights should be part of any policy. Measures that limit individual rights and civil liberties must be necessary, reasonable, proportional, equitable, non-discriminatory and in full compliance with national and international laws.68

Auch wenn man nicht gänzlich auf seuchenpolizeiliche Maßnahmen verzichten will, lastet nunmehr ein erhöhter Rechtfertigungsdruck auf ihnen. Damit sind einige der Elemente benannt, die für das gegenwärtig im Aufbau begriffene Seuchenregime im Bereich der globalen Pandemieplanung maßgeblich sind. Auch wenn sich bislang lediglich die ungefähren Umrisse abzeichnen, kann man doch etwas von den Ausmaßen dieses neuen Makroakteurs69 erahnen, der da langsam an der Oberfläche der Weltgesellschaft auftaucht. Hierbei hat man es jedoch mit einem Akteur zu tun, der um die Begrenztheit der eigenen Handlungsmacht weiß und aus der Erwartung, das primäre Handlungsziel – Schadensfreiheit – regelmäßig nicht erreichen zu können, neue Handlungsenergie schöpft, um zumindest den worst case abzuwenden. Auch wenn sich Pandemien nicht sicher verhindern ließen, bleibe die Möglichkeit, das Schadensausmaß zu begrenzen. An die Stelle des Versprechens vollkommener Prävention tritt ein Programm zur Verwaltung von Unsicherheit.70

schriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG). Vom 20. Juli 2000«, in: Bundesgesetzblatt 96 (2000), S. 1045–1077. 67 WHO: The International Health Regulations, S. 10. 68 WHO: Pandemic Influenza Risk Management: WHO Interim Guide, Genf: WHO 2013, S. 47. 69 Im Sinne von Callon, Michel/Latour, Bruno: »Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 75–101. 70 Zu dieser Verschiebung im zeitgenössischen Regieren vgl. Bröckling, Ulrich: »Resilienz: Belastbar, flexibel, widerstandsfähig«, in: ders., Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 113–139.

Vorsorge als Zukunftsbewältigung? Konjunkturen und Krise einer Denkfigur der Moderne M ALTE T HIESSEN

I MPFUNGEN ALS G ESELLSCHAFTSGESCHICHTE K OMMENDEN : E INFÜHRUNG

DES

Vorsorge gibt ein Versprechen auf eine planbare Zukunft. Bereits in der Antike galten cura und securitas als Maßnahmen, um zukünftige Entwicklungen zu kontrollieren. Das Einrichten von Korn- und Wasserspeichern oder das Abhalten von Opferfesten und Gottesdiensten waren vorsorgliche Zugriffe auf die Zukunft, mit denen sich kommende Gefahren verhindern, zumindest aber deren Folgen mildern ließen.1 Im Zuge der Säkularisierung erhöhten sich gesellschaftliche Anstrengungen zur Vorsorge. In einem Zeitalter, in dem »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« auseinanderdrifteten, wuchs der Bedarf an Prognosen und Planungen für eine ungewisse Zukunft.2 Seit der Moderne ist Vorsorge so1

Vgl. Gert Melville/Gregor Vogt-Spira/Mirko Breitenstein (Hg.), Sorge (= Europäische Grundbegriffe, Band 2), Köln u.a.: Böhlau 2015. Das DFG-Graduiertenkolleg 1919 »Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage« wirft in seinen Projekten einen epochenübergreifenden Blick auf Vorsorge als Zukunftsbewältigung, vgl. die konzeptuellen Überlegungen bei Scheller, Benjamin: »Kontingenzkulturen – Kontingenzgeschichten: Zur Einleitung«, in: Frank Becker/Benjamin Scheller/Ute Schneider (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte (= Kontingenzgeschichten, Band 1), Frankfurt a.M./New York: Campus 2016, S. 9-30.

2

Vgl. Koselleck, Reinhart: »Über die Verfügbarkeit der Geschichte«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 260-277, bes. S. 264-265; van Laak, Dirk: »Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft«, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305326.

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mit eine Denkfigur, die das Weltbild europäischer Gesellschaften bestimmt. 3 »Vorsorge«, so fasst es Ulrich Bröckling zusammen, avancierte von nun an zu einer »dominante[n] Ratio, unter der zeitgenössische Gesellschaften ihr Verhältnis zur Zukunft verhandeln und organisieren«.4 Schon deshalb ist die Popularisierung von ›Vorsorge‹ als Denkfigur der Moderne nicht zu trennen von einer Geschichte der Zukunft und Geschichte des Sozialstaats.5 Waren zunächst vor allem wohlhabende Adelige oder selbstbewusste Bürger an Vorsorgemaßnahmen interessiert bzw. nur sie in der Lage, diese zu finanzieren, erweiterte sich die Zielgruppe im 19. Jahrhundert erheblich. In dieser Zeit wurde der »Vorsorgestaat« geboren, der sich Versicherung und »Versicherheitlichung« und damit eine rationale Planung von Zukunft auf die Fahne schrieb.6 ›Vorsorge‹ verwandelte sich damit von einer Praxis einzelner Milieus zu einem gesamtgesellschaftlichen Projekt und avancierte fortan zum Werkzeug

3

Vgl. Lengwiler, Martin/Madarász, Jeanette (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik (= VerKörperungen/MatteRealities, Band 9), Bielefeld: transcript 2010; Hannig, Nicolai/Thießen, Malte (Hg.), Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 115), Berlin/München: DeGruyter/Oldenbourg 2019.

4

Bröckling, Ulrich: »Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution«, in: Christopher Daase/Philipp Offermann/Valentin Rauer (Hg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt a.M.: Campus 2012, S. 93-108, hier S. 93. Vgl. Leanza, Matthias: »Prävention«, in: Benjamin Bühler/Stefan Willer (Hg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 155-168.

5

Zur Geschichte der Zukunft vgl. zuletzt Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen: Wallstein 2016; zur Geschichte des deutschen Sozialstaats u.a. die Beiträge Becker, Ulrich/Hockerts, Hans Günter/Tenfelde, Klaus (Hg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 87), Bonn: Dietz 2010 sowie zuletzt Süß, Winfried: Von der Reform in die Krise. Der westdeutsche Wohlfahrtsstaat in der Großen Koalition und der sozialliberalen Ära (= Geschichte und Gegenwart, Band. 12), Göttingen: Wallstein 2019.

6

Vgl. Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993; zum Konzept der »Versicherheitlichung« vgl. Conze, Eckart: »Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 453-467.

V ORSORGE

ALS

ZUKUNFTSBEWÄLTIGUNG ?

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eines »social engineering«, das Zukunftsgestaltung und Sicherheit zu staatlichen Kernkompetenzen erklärte.7 Dieser Art der Zukunftsbewältigung spüre ich in meinem Beitrag anhand der Geschichte von Schutzimpfungen nach. Konkret werde ich fragen, wie im 19. und 20. Jahrhundert Impfprogramme vermittelt, verhandelt und verwandelt wurden – und was das aussagt über den Wandel von Zukunftsentwürfen und Sicherheitsvorstellungen. Ich konzentriere mich dabei auf Deutschland, obgleich sich ähnliche Entwicklungen in Großbritannien und Frankreich, in den USA und Skandinavien zeigen ließen. Trotzdem ist Deutschland ein ganz besonders ergiebiger Untersuchungsgegenstand. Schließlich lassen sich hier Aushandlungen von Sicherheit und Zukunftsentwürfen in ganz unterschiedlichen politischen Systemen untersuchen: im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, in der NS-Zeit, in der Bundesrepublik und in der DDR.8 Wenn uns Impfprogramme Einblicke eröffnen in die Wechselwirkungen zwischen Zukunfts-, Vorsorge- und Gesellschaftskonzepten, so meine Ausgangsthese, ist die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geradezu prädestiniert für Tiefenbohrungen in eine »Gesellschaftsgeschichte des Kommenden«.9 Im Folgenden möchte ich drei solcher Tiefenbohrungen vornehmen, mit denen unterschiedliche Umgänge mit Zukunft im Speziellen sowie ein Wandel von Zukunftsentwürfen vom späten 19. Jahrhundert bis heute im Allgemeinen sichtbar werden. Erstens betrachte ich die ›Verstaatlichung‹ von Vorsorge seit den 1870er Jahren. In dieser Zeit wurde in Deutschland das »Reichsimpfgesetz« und damit zum ersten Mal eine Impfpflicht für alle deutschen Kinder ausgerufen. Seither war Immunität ein staatliches Sicherheitsversprechen, das ›seuchenfreie Zeiten‹ und damit eine sichere Zukunft für den ›Volkskörper‹ suggerierte. Zweitens geht es mir um eine ›Pathologisierung‹ der Zukunft seit den 1930er Jahren, die ich mit neuen Vermarktungskonzepten von Immunität erkläre. Und drittens spüre ich einer ›Flexibilisierung‹ von Zukunftsentwürfen im Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Mit 7

Vgl. Thießen, Malte: »Gesundheit erhalten, Gesellschaft gestalten. Konzepte und Praktiken der Vorsorge im 20. Jahrhundert«, in: Zeithistorische Forschungen 10 (2013), S. 354-365.

8

Entwicklungen von Impfprogrammen in der DDR werden in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht in den Blick genommen, vgl. dazu den Gesamtüberblick bei Thießen, Malte: Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 225), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017.

9

Vgl. Leanza, Matthias: »Die Geschichte des Kommenden. Zur Historizität der Zukunft im Anschluss an Luhmann und Foucault«, in: Behemoth 4 (2/2011), S. 10-25.

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dieser Schwerpunktsetzung möchte ich nicht behaupten, dass sich die drei Entwicklungen eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Vielmehr gehe ich davon aus, dass sich die unterschiedlichen Formen von Zukunftsentwürfen wechselseitig ergänzten. So ist eine Verstaatlichung von Zukunft bis heute wirksam, während sich Pathologisierungen und Flexibilisierungen von Zukunft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitunter wechselseitig beförderten. Auf den ersten Blick könnte man fragen, warum ausgerechnet etwas so Alltägliches wie das Impfen als Untersuchungsgegenstand für Zukunftsentwürfe taugt. Drei Potenziale einer Geschichte des Impfens möchte ich als Begründung anführen, um zugleich meine Ausgangsthese zum Wechselspiel von Impfprogrammen, Zukunfts- und Gesellschaftskonzepten zu präzisieren. Erstens sind Impfprogramme die früheste staatliche Vorsorgemaßnahme für die gesamte Bevölkerung – selbst in Deutschland, das eine lange Tradition von Sozialversicherungen aufweist. Denn schon Jahre vor Einführung der Kranken-, Sozial- und Altersversicherungen versprachen staatliche Impfprogramme jedem Bürger und seinen Kindern Sicherheit, zumindest vor den damals weitverbreiteten Pocken, und damit eine rationale Zukunftsplanung für alle. Immunität gab zweitens nicht nur ein individuelles Sicherheitsversprechen. Darüber hinaus zielten Impfprogramme auf den Schutz der gesamten Gesellschaft, ja mehr noch: Das kollektive Sicherheitsversprechen setzte die Beteiligung jedes Einzelnen voraus. Schließlich hängt der »Herdenschutz«, 10 also die möglichst konsequente ›Durchimpfung‹ der Bevölkerung, von der Beteiligung jedes Einzelnen ab. Immunität nahm also den Einzelnen in die Pflicht und erforderte eine Verständigung über individuelle Verantwortung für die Allgemeinheit und damit über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Und drittens reagierten staatliche Impfprogramme – im Gegensatz zu bislang vorherrschenden Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen – nicht mehr nur auf kommende Gefahren wie Seuchenausbrüche, sondern beugten bedrohlichen Zukünften vor. Aus diesen drei Gründen eröffnet die Geschichte von Impfprogrammen ein besonders fruchtbares Untersuchungsfeld, auf dem wir dem Zusammenspiel von Sicherheitsvorstellungen, Zukunftsentwürfen und Gesellschaftsordnungen nachspüren können.

10 Zum Konzept des Herdenschutzes vgl. Thießen: Immunisierte Gesellschaft, S. 11.

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1. V ERSTAATLICHUNG VON Z UKUNFTSENTWÜRFEN SEIT DEN 1870 ER J AHREN In den frühen 1870er Jahren machten sich die Deutschen auf die Suche nach einem kollektiven Impfschutz gegen die Pocken. Für diese Suche gab es gute Gründe. Als Folge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 und der Einschleppung der Pocken durch Kriegsgefangene wütete die Seuche in ganz Deutschland, mit fatalen Folgen. Über 120.000 Pockentote waren zu beklagen, ungleich mehr noch litten lebenslang an Narben, Verstümmelungen oder Erblindungen.11 Vor diesem Hintergrund beschloss der Reichstag 1874 die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Zum ersten Mal waren alle Deutschen gegen Pocken zu impfen, und zwar im Alter von einem sowie als Auffrischung ein weiteres Mal im Alter von zwölf Jahren. Diese Impfpflicht stieß trotz der noch sehr präsenten Bedrohung keineswegs nur auf Gegenliebe. August Reichensperger von der Zentrums-Partei sprach von der Impfpflicht gar als »Stein des Anstoßes«, ja vom »Ungeheuerlichen dieser Bestimmung«,12 von der »eine Beschränkung der persönlichen Freiheit« 13 ausgehe. Die SPD wiederum hatte zwar wenig gegen die Beschränkung persönlicher Freiheiten im Dienste einer Verbesserung der allgemeinen Gesundheitsverhältnisse einzuwenden. Viele sozialdemokratische Abgeordnete lehnten jedoch eine falsche Zielsetzung des Impfens ab. Ihrer Meinung nach waren Impfungen für den Staat im Grunde nur eine ›billige Lösung‹, um sich vor echten sozialen Verbesserungen zu drücken. Schon an diesen Vorbemerkungen wird deutlich, dass es in der Reichstagsdebatte um sehr viel mehr ging als um das Impfen, nämlich um Gesundheitskonzepte und Zukunftsentwürfe. Das erklärt auch die Dauer und Emotionalität der Debatte, die über mehrere Reichstagssitzungen hinweg ausgetragen wurden. Während eine Gruppe von Abgeordneten zukünftige Seuchen in düsteren Farben ausmalte und die Schrecken kommender Krankheiten als Argument für die Impfpflicht nutzte, kämpften andere Abgeordnete für einen Ausbau sozialer bzw. sozialhygienischer Maßnahmen, von denen die Impfpflicht flankiert werden sollte. Wieder andere Abgeordnete lehnten den Einsatz von Zwangsmaßnahmen überhaupt ab. Ihrer Meinung nach war Immunität eine individuelle Entschei-

11 Vgl. Maehle, Andreas-Holger: »Präventivmedizin als wissenschaftliches und gesellschaftliches Problem: Der Streit über das Reichsimpfgesetz von 1874«, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9 (1990), S. 127-148. 12 Beide Zitate im Reichstagsprotokoll, 17. Sitzung, 14.3.1874, S. 342. 13 Reichstagsprotokoll, 7. Sitzung, 18.2.1874, S. 105.

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dung, die nicht durch staatliche Gesetze geregelt werden sollte. Und nicht zuletzt kamen im Reichstag einzelne Impfgegner zu Wort, die Immunität als Vergiftung des individuellen bzw. ›Volkskörpers‹ ganz verwarfen. Kurz gesagt hatte die Impfpflicht in mehreren Gruppen ein Imageproblem. Umso wichtiger war es für Verteidiger des Impfgesetzes, Überzeugungsarbeit in Parlamenten, Presse und Publikationen zu leisten. Für diese Überzeugungsarbeit war ›Zukunft‹ die wichtigste Ressource: Politiker, Wissenschaftler, Ärzte und Journalisten entwarfen Zukunftsvisionen, mit denen die Deutschen von der Notwendigkeit des Impfens überzeugt werden sollten. Für diese Überzeugungsarbeit spielten Statistiken eine große Rolle. Diese Beobachtung ist zunächst einmal wenig erstaunlich. Schließlich hat die Wissenschaftsgeschichte schon seit langem auf die Deutungsmacht von Statistiken seit dem 19. Jahrhundert hingewiesen.14 Interessanter erscheint mir die Frage, wie genau mit Statistiken Zukünfte entworfen wurden. Ein gutes Beispiel gibt dafür das hier abgebildete Diagramm zur Pockensterblichkeit in Preußen zwischen den Jahren 1816 und 1920. Es findet sich in zahlreichen Veröffentlichungen von den 1890er Jahren bis in die 1920er Jahre in mehreren Auflagen in Broschüren, Büchern und Vorträgen. Abbildung 1: Pockensterblichkeit in Preußen, 1816 -1920

Quelle: Reichsgesundheitsamt (Hg.), Blattern und Schutzimpfung. Denkschrift zur Beurteilung des Nutzens des Impfgesetzes vom 8. April 1874 und zur Würdigung der dagegen gerichteten Angriffe, Berlin: Julius Springer (4. Aufl.) 1925, Tafel I.

Als erste Botschaft des Diagramms springt dem Betrachter der Nutzen der Impfpflicht unmittelbar ins Auge. Die drohenden schwarzen Balken, die die Zahl der Pockentoten versinnbildlichen, verschwinden seit 1875, also seit Einführung der 14 Vgl. u.a. Nikolow, Sybilla: »Der statistische Blick auf Krankheit und Gesundheit«, in: Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.), Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2001, S. 223-241.

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Impfpflicht, ins Nichts. Diese Entwicklung erscheint umso eindrucksvoller, weil die Zahlen zuvor, vor allem während des deutsch-französischen Krieges, bedrohlich hoch angestiegen waren. Die Abbildung markiert die positive Entwicklung der Impfpflicht sogar noch farblich, indem die Balken nach Einführung der Impfpflicht weiß gezeichnet werden. Ein zweites Narrativ der Statistik ist noch bedeutsamer: Die Impfpflicht erscheint in dieser Abbildung nicht nur als eine effektive ›Reaktion‹ auf einen Seuchenausbruch, vielmehr beendete sie vorsorglich das ›Naturgesetz der Welle‹ – und zwar für alle Zeiten. Betrachtet man die Statistik als Ganzes, wird nämlich deutlich, dass die Pockenausbrüche in den 1870er Jahren zwar besonders viele Opfer forderten. Darüber hinaus macht der lange Rückblick indes ebenso deutlich, dass die Pocken als gleichsam ›naturwüchsige‹ bzw. zeitlose Bedrohung seit jeher und immer wieder in einer Art Wellenbewegung die Deutschen heimsuchten. Mit dieser bedrohlichen Zukunft war es, wie das Diagramm suggeriert, seit Einführung der Impfpflicht für immer vorbei. Die Statistik präsentierte ja nicht nur die Effektivität des Impfens im Ausnahmefall. Mehr noch erzählte sie von den Früchten staatlicher Zukunftsgestaltung. Fortan lebte man in seuchenfreien Zeiten – zumindest, wenn man sich an die Impfpflicht hielt. Kurz gesagt erzählte das Diagramm die Erfolgsgeschichte des Sozialstaats, der die Sicherheit seiner Bürger und gesunde Zeiten garantierte. Eine zweite Überzeugungsstrategie war die Retrospektive. Nach Einführung der Impfpflicht häuften sich Artikel, Vorträge und Veranstaltungen, in denen Experten auf eine ›dunkle Seuchengeschichte‹ zurückblickten. Eine wahre Flut solcher Rückblicke können wir um das Jahr 1896 herum beobachten. In diesem Jahr beging die ganze Welt anlässlich des hundertsten Jahrestages der ersten modernen Pockenimpfung – durch den englischen Arzt Edward Jenner – aufwändige ›Jenner-Feiern‹. Nun ließe sich einwenden, dass Rückblicke in die Vergangenheit erst einmal wenig mit Zukunft zu tun haben. Dagegen wendet die Erinnerungsforschung ein, dass Erinnerungen wenig über die Vergangenheit und umso mehr über zeitgenössische Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfe aussagen. Die ›Jenner-Feiern‹ um 1896 spiegeln diesen Befund in Reinform wider. Sie konstruierten Erfolgsgeschichten vom modernen Sozialstaat und von der modernen Medizin, in denen Impfungen den »Beginn einer neuen, segensreichen Aera«15 einläuteten. »In die trostlosen Zustände damaliger Zeit«, so war es beispielsweise auf der Darmstädter ›Jenner-Feier‹ zu hören, »die den Ärzten das 15 Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch), R 86/1142, [Karl] Neidhardt, Zur Jahrhundertfeier der Einführung der Schutzpockenimpfung im Großherzogtum Hessen, Darmstadt: Kunze Buchdruckerei 1907, S. 7. Vgl. Sahmland, Irmtraut: »Die Anfänge der Schutzimpfung in Gießen«, in: Gießener Universitätsblätter 30 (1997), S. 51-62.

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niederdrückende Gefühl gab, einer schweren Krankheit machtlos gegenüberzustehen, fiel der erste Strahl einer besseren Zukunft«.16 Im Rückblick auf die Impfgeschichte schälte sich also ein modernes Fortschrittsparadigma heraus, wie es die Preußische Zeitung beschrieb: »so erscheint uns diese Kuhpockenimpfung nicht mehr als ein Einzelfall, […] sondern sie wird alsdann das erste Glied einer Kette von Beobachtungen, deren Reihe […] der medizinischen Wissenschaft einen Impuls gegeben hat, welcher in der Zukunft sicher fruchtbar werden wird.«17 Rückblicke wie diese machen deutlich, dass sich aus der Retrospektive nicht nur eine ›gute Zukunft‹, sondern ebenso ›große Aufgaben‹ ableiten ließen. So warf auf der Frankfurter ›Jenner-Feier‹ der hiesige Stadtarzt in seiner Festrede »einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft, Befreiung des Menschengeschlechts von allen Infektionskrankheiten und die ›generalisierte Impfung‹ erhoffend.«18 Zukunftsentwürfe fungierten für Experten somit als Ressource, mit der sie ihre gesellschaftliche Stellung legitimierten und ein Agenda-Setting betrieben: »Bei dem allseits vorhandenen Bestreben, auf der einmal eingeschlagenen Bahn fortzuschreiten«, so brachte der Bonner Mediziner Emil Ungar dieses Motiv 1893 auf den Punkt, dürfe man »hoffen, für den Kampf mit jenen kleinen, aber durch ihre ungeheure Zahl so sehr gefährlichen Feinden neue, zum Siege führende Schutzwaffen zu erhalten.«19 Zukunftsentwürfe eröffneten und legitimierten also einerseits gesellschaftliche Interventionsfelder. Andererseits legten sie einen Grundstein zur Professionalisierung, da strahlende Zukünfte eine gesellschaftliche Vorrangstellung von Ärzten, Medizinalbeamten und Wissenschaftlern unterstrichen. Zusammengefasst lässt sich seit dem späten 19. Jahrhundert eine Verstaatlichung von Immunität beobachten. Die Sicherheit vor zukünftigen Seuchen war nun nicht mehr eine individuelle Angelegenheit oder Aufgabe einzelner Gruppen, sondern eine Frage von gesamtgesellschaftlicher Tragweite, mit der die Bevölkerung als Ganzes zum Interventionsfeld erklärt wurde. Diese ›Verstaatlichung‹ und ›Versicherheitlichung‹ einer ›seuchenfreien Zukunft‹ erforderte von Experten das, was ich ›Zukunftsmanagement‹ nenne: Konstruktionen spezifischer Zukünfte, mit denen soziale Interventionen legitimiert, staatliche Kompe16 BArch, R 86/1142, Neidhardt, Zur Jahrhundertfeier, S. 5. 17 BArch, R 86/1197, Preußische Zeitung, Dr. Eduard Zache: Die Schutzblattern, eine Studie über den Wandel der ärztlichen Meinung, 2.8.1891. 18 BArch, R 86/1197, Frankfurter Zeitung, Verein für öffentliche Gesundheitspflege, 21.5.1896. 19 Ungar, Emil: Ueber Schutzimpfungen, insbesondere die Schutzpockenimpfung, Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei A.G. (vormals J.F. Richter) 1893, S. 36-37.

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tenzen sowie Professionalität – im zweifachen Wortsinn – demonstriert werden sollten. Vorsorgemöglichkeiten vor zukünftigen Gesundheitsbedrohungen avancierten von nun an zum Lackmustest des modernen Sozialstaats. In dieser Lesart stellten Zukunftsentwürfe Experten in Wissenschaft, Verwaltung oder in der Arztpraxis ein Zeugnis über deren Leistungsfähigkeit aus. Mit dieser Funktion wird zugleich deutlich, warum bei der Vermittlung von Impfprogrammen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts positive Zukunftsentwürfe dominierten. Sie zeichneten ein rosiges Bild ›seuchenfreier Zeiten‹ und entwarfen Fortschrittsutopien der modernen Medizin, die den Staat und seine Experten legitimierten.

2. E NTDECKUNG DER F REIWILLIGKEIT : P ATHOLOGISIERUNG VON Z UKUNFTSENTWÜRFEN SEIT DEN 1930 ER J AHREN Mit ›guten Zukünften‹ schien es seit den 1930er Jahren vorbei zu sein. Das gilt nicht nur in politischer Hinsicht, also mit Blick auf den Aufstieg des Nationalsozialismus. Vielmehr fällt bei der Vermittlung von Impfprogrammen auf, dass sich der Horizont der Zeitgenossen zusehends verdüsterte. Die rosigen, ›seuchenfreien Zeiten‹ wurden nun immer häufiger von düsteren Prognosen in den Hintergrund gedrängt. In Broschüren, Merkblättern und Zeitungsartikeln war vermehrt von kommenden Bedrohungen, vom nahenden Ausnahmezustand, von zukünftigen Gefahren zu lesen – und zwar bis in die 1970er Jahre. Dieser Befund sorgt für Irritationen. Eigentlich schienen die ›seuchenfreien Zeiten‹ in dieser Zeit doch endlich anzubrechen. Schließlich wurden in den 1930er Jahren in ganz Europa staatliche Tuberkulose- und DiphtherieSchutzimpfungen eingeführt, wenig später kamen noch Impfprogramme gegen Scharlach und Tetanus hinzu und sorgten für sinkende Erkrankungszahlen. In den 1950er Jahren schließlich löste die Einführung von Polio-Impfungen gegen Kinderlähmung auf der ganzen Welt Begeisterungsstürme aus und schürte Hoffnungen auf eine endgültige ›Ausrottung‹ der Krankheit. In den 1960er Jahren wiederum folgten Impfprogramme gegen Röteln, Grippe und Keuchhusten. Gab dieses wachsende Arsenal neuer Impfprogramme dem Vorsorgestaat nicht besonders schlagkräftige Waffen im Kampf gegen zukünftige Bedrohungen an die Hand? Wurden ›seuchenfreie Zeiten‹ und der systematische Schutz vor Infektionskrankheiten jetzt nicht endlich für alle Realität? Wie also lässt sich die Zunahme düsterer Zukunftsentwürfe ausgerechnet in Zeiten erklären, in denen Immunität nicht mehr nur gegen die Pocken, sondern gegen eine Vielzahl bedrohlicher Infektionskrankheiten vergleichsweise einfach zu bekommen war? Und wa-

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ren pessimistische Imaginationen der Zukunft nicht eigentlich ein Phänomen schon des 18. und 19. Jahrhunderts, um eine Fortschrittslogik zu legitimieren, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat?20 Antworten auf diese Fragen gibt die Untersuchung neuer Impfprogramme wie dem gegen die Diphtherie. Seit den späten 1930er Jahren sagten in ganz Europa Gesundheitsexperten der Diphtherie den Kampf an. In Deutschland lieferten die Waffen für diesen Kampf nun immer seltener staatliche Institute, die zuvor noch eine Monopolstellung bei der Herstellung des Pockenimpfstoffs eingenommen hatten. Seit den 1930er Jahren drängten hingegen Pharmaunternehmen auf den Markt.21 Nach der Verstaatlichung von Immunität seit den 1870er Jahren setzte nun also eine Vermarktung von Immunität ein. Diese Vermarktung beförderte neue Konzepte und Praktiken, sowohl des Impfens selbst als auch der Impfwerbung. Das hing zunächst einmal damit zusammen, dass Unternehmen neue Impfstoffe wie die gegen Diphtherie zuerst nur in begrenzten Zahlen anbieten und nur auf wenige Erfahrungen mit DiphtherieImpfungen zurückgreifen konnten. Außerdem stand in den 1930er Jahren die Einführung neuer Impfprogramme in Deutschland unter dem Eindruck des ›Lübecker Impfskandals‹. 1930 hatten zwei Lübecker Mediziner die BCGSchutzimpfung gegen Tuberkulose testweise und mit fatalen Folgen an Lübecker Kindern erprobt. Über 70 Kinder starben wegen einer Verunreinigung der Impfstoffe, was für helle Aufregung im Deutschen Reich und darüber hinaus sorgte. Obwohl die Tuberkulose-Schutzimpfung nichts mit der Pocken- oder Diphtherie-Impfung zu tun hatte, standen fortan sämtliche Impfprogramme unter Generalverdacht. Auch deshalb blieben neue Impfungen wie die DiphtherieSchutzimpfungen von Beginn ihrer Einführung an freiwillig. Das gilt im Übrigen sogar für die Zeit des Nationalsozialismus und für spätere Impfprogramme wie die gegen Scharlach oder Tuberkulose, die in der NS-Zeit allesamt als freiwillige Maßnahmen eingeführt wurden.22 Die ›Entdeckung der Freiwilligkeit‹ und die Fortentwicklung neuer Medienformate beförderten neue Vermittlungsformen. Nicht mehr nur Broschüren und 20 Vgl. Koselleck, Reinhart: »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 349-375, bes. S. 372-374. 21 Zu den Vorläufern der Vermarktung vgl. Axel C. Hüntelmann: »Pharmaceutical Markets in the German Empire. Profits Between Risk, Altruism and Regulation«, in: Historical Social Research 36 (2011), S. 182-201. 22 Vgl. Thießen, Malte: »Vom immunisierten ›Volkskörper‹ zum präventiven Selbst. Impfen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur Bundesrepublik«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 35-64.

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Merkblätter, sondern Plakate, Radiobeiträge und Filme appellierten an den Einzelnen, den freiwilligen Impfschutz zu seiner eigenen Sache zu machen. Das ›präventive Selbst‹, so könnte man zuspitzen, wurde im Dritten Reich geboren. Für den Zusammenhang zwischen Sicherheitsvorstellungen und Zukunftsentwürfen ist allerdings eine weitere Beobachtung interessanter: Die Entdeckung der Freiwilligkeit veränderte das Zukunftsmanagement in Deutschland, was sich an zwei Entwicklungen nachzeichnen lässt. Erstens hatten seit der Entdeckung der Freiwilligkeit bedrohliche Zukunftsszenarien Konjunktur, so dass man seit den 1930er Jahren von einer ›Pathologisierung‹ der Zukunft sprechen kann. Bereits während einer der ersten Kampagnen für die freiwillige Diphtherieschutzimpfung im Frühjahr 1935 bekamen die Deutschen Erschreckendes zu lesen. Ein Aufruf der ›Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt‹ malte die »Zunahme der Diphtherie« in düsteren Farben aus und beklagte »viele junge Menschenleben«, die »der Seuche, die gerade Kinder mit Vorliebe heimsucht, […] zum Opfer« 23 fallen würden. Auch in Fachkreisen war vermehrt von bedrohlichen Zukünften die Rede. »Die Diphtherie«, so lautete 1938 beispielsweise das besorgte Fazit des Leiters der Kieler Kinderklinik, habe sich im Nationalsozialismus »zu einer höchst gefährlichen Volksseuche entwickelt.«24 Das Deutsche Ärzteblatt warnte beim Ausbruch einer Epidemie in Brandenburg Mitte der 1930er Jahre noch eindringlicher: »Alle […] in der Seuchenbekämpfung bewährten Maßnahmen konnten der Diphtherie nicht Einhalt gebieten. Sie wütete weiter und forderte ihre Opfer besonders unter der Jugend.«25 Die Zunahme solcher Pathologisierungen der Zukunft erscheint erklärungsbedürftig. Waren sie nicht ein öffentliches Eingeständnis eines zweifachen Scheiterns, also sowohl des Versagens staatlicher Sicherheitsversprechen als auch ärztlicher Vorsorgekompetenzen? Selbstverständlich war die Pathologisierung der Zukunft höchst funktional, erhöhte sie doch den Zuspruch zu Vorsorgemaßnahmen. Aus diesem Grund endeten alle eben zitierten Schreckensmeldungen mit einem hellen Hoffnungsschimmer, dass neue Impfprogramme zukünftigen Bedrohungen effektiv vorbeugen. So beendete das oben genannte Ärzteblatt seine düstere Zukunftsprognose mit dem Ausblick: »Besprechungen mit den Ärzten des Reichsgesund23 Einen Abdruck des Merkblatts bietet Gundel, Max: Die aktive Schutzimpfung gegen Diphtherie und die Ergebnisse der in den Jahren 1934 und 1935 in Deutschland durchgeführten Diphtherieschutzimpfungen, Berlin: Verlagsbuchhandlung Richard Schoetz 1936, S. 38-39. 24 Rominger, Erich: »Über Diphtherieschutzimpfung«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst 4 (1938/39), S. 81-88, hier S. 81. 25 Deutsches Ärzteblatt, Aufruf zur Diphtherie-Impfung vom 28.9.1935.

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heitsamtes haben ergeben, daß nur noch die aktive Schutzimpfung gegen Diphtherie der Ausdehnung der Seuche Einhalt gebieten kann.« 26 Bedrohliche Zukünfte sollten also den Zuspruch zu Impfungen erhöhen und die ›Volksgenossen‹ mobilisieren. Dieser Zuspruch und die Mobilisierung wurden seit den 1930er Jahren wichtiger, weil die Deutschen nicht mehr – wie zuvor im Falle der Pockenschutzimpfung – mit Zwangsmaßnahmen in die Impfstellen getrieben werden konnten. Die ›Pathologisierung‹ der Zukunft war insofern ein Effekt der Freiwilligkeit. Zweitens veränderte sich das Zukunftsmanagement noch in einer anderen Hinsicht: Seit den 1930er Jahren erweiterte sich die ›sichere Zukunft‹ um ein individuelles Versprechen. Selbstverständlich war im Dritten Reich immer auch vom Dienst an der ›Volksgemeinschaft‹ bzw. vom ›Einsatz für das Volksganze‹ die Rede, den jeder ›Volksgenosse‹ mit seiner Impfung leiste. Semantik, Symbole und Narrative der Werbung legten nun aber einen sehr viel stärkeren Fokus auf die Darstellung individueller Schicksale bzw. Schutzmöglichkeiten und damit auf das Versprechen, das jeder seine Zukunft selbst in die Hand nehmen könne. Plakate, Filme und Broschüren stellten den Bedrohungen populäre Figuren wie die ›geschützte Mutter‹ und ›immunisierte Kinder‹ gegenüber. 27 Ihre größte Überzeugungskraft zogen Impfprogramme selbst im Dritten Reich also seltener aus Appellen an eine sichere Zukunft für das ›Volksganze‹, die im Kaiserreich und in der Weimar Republik oft von entsprechenden Statistiken oder Erfolgsgeschichten unterlegt worden waren. Vielmehr adressierten freiwillige Impfprogramme bevorzugt Ängste des Einzelnen, die mit entsprechenden Zukunftsentwürfen geschürt wurden. Das Wechselspiel zwischen Freiwilligkeit und Vermarktung von Immunität auf der einen Seite und Pathologisierungen der Zukunft auf der anderen ist kein Spezifikum des Nationalsozialismus. Ähnliche Befunde finden sich für Großbritannien und Frankreich seit den 1930er Jahren und eben auch bei der Vermittlung von Impfungen in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren. So warnte die Hamburger Schulbehörde im Frühjahr 1961 beispielsweise in einer Meldung, dass »im Spätsommer und Herbst […] wieder Erkrankungsfälle an Kinderlähmung in erhöhtem Umfang auftreten« könnten. Die düstere Prognose endete mit der ebenso düsteren Warnung: »Es ist nur zu hoffen, daß die zum Teil noch be26 Ebd. 27 Vgl. entsprechende Beispiele bei Thießen, Malte: »Praktiken der Vorsorge als Ordnung des Sozialen: Zum Verhältnis von Impfungen und Gesellschaftskonzepten im ›langen 20. Jahrhundert‹«, in: Sylvelyn Hähner-Rombach (Hg.), Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft, Band 54), Stuttgart: Steiner 2015, S. 203-227, bes. S. 215-216.

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stehende Unbekümmertheit der Eltern sich dann nicht an den Kindern bitter rächen wird.«28 Noch weiter ging ein Jahr später ein Elternbrief der Hamburger Gesundheitsbehörde, der die zukünftige Bedrohung in grellen Farben ausmalte und sogar noch verallgemeinerte: »Von den ansteckenden Krankheiten […] ist die gefährlichste die übertragbare Kinderlähmung […]. Diese Bedrohung lastet auf allen Kindern und Jugendlichen und in zunehmendem Maße auch auf Erwachsenen.«29 Nach wie vor sollte eine Pathologisierung der Zukunft also die Deutschen von Impfungen überzeugen, ja mehr noch: in demokratischen Gesellschaftsordnungen waren bedrohliche Zukünfte besonders gefragt, um den Verlust von Zwangsmaßnahmen zu kompensieren. Flankiert wurde die Überzeugungsarbeit durch sozialen Druck, wie zwei Beispiele zeigen. Anfang der 1970er Jahre erläuterte der niedersächsische Sozialminister allen Eltern im Weserboten den Zusammenhang zwischen sozialer Verantwortung und gemeinsamer Zukunft: Man spricht in unserer Zeit von Verantwortung für die Mitmenschen. Durch die Teilnahme an der oralen Impfung gegen Kinderlähmung kann diese Forderung in die Tat umgesetzt werden: Wer sich impfen läßt, schützt nicht nur sich selbst gegen die Krankheit, sondern er baut gleichzeitig mit an dem Wall, der aufgerichtet werden muß gegen ihre Wiedereinschleppung.30

Etwas drastischer formulierte diesen Appell die ›Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung‹, die seit den frühen 1960er Jahren gemeinsam mit Gesundheitsbehörden die Polioimpfung propagierte: Wer sich nicht impfen lasse, so drohte ihr Merkblatt zur Schluckimpfung, »wird mitschuldig daran, daß uns fortlaufend eine Seuche heimsucht, die verhütet werden könnte.« 31 Pathologisierungen der Zukunft sollten also nicht nur Ängste des Einzelnen schüren und damit seine Motivation zur Beteiligung an Impfprogrammen erhöhen. Darüber hinaus sollten bedrohliche Zukünfte den sozialen Druck steigern und damit soziales Verhalten normieren. Vorsorge vor zukünftigen Gefahren avancierte in solchen Deutungen zum Lackmustest sozialen Verhaltens. Wenn einzelne Bundesbürger schon nicht aus Eigeninteresse zur Impfung kamen, konnten womöglich Fragen oder Vorwürfe von Freunden und Nachbarn nachhelfen. 28 Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden StAHH), 361-2 VI/1312, Öffentlicher Gesundheitsdienst, Pressedienst der Staatlichen Pressestelle, 1961. 29 StAHH, 361-2 VI/1312, Elternbrief Hamburger Gesundheitsbehörde, April 1962. 30 Staatsarchiv Oldenburg (im Folgenden StAOL), Rep 630, 242-4/27, Zeitungsausschnitt Der Weserbote, Minister schrieb an Eltern, 1.11.1971. 31 StAOL, Rep 630, 242-4/5 I, Aufruf zur Schluckimpfung der DVK, 1962.

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3. I NTERNATIONALISIERUNG VON I MMUNITÄT : F LEXIBILISIERUNG VON Z UKUNFTSENTWÜRFEN SEIT DEN 1960 ER J AHREN Obgleich sich die Überzeugungsstrategie der ›Pathologisierung der Zukunft‹ noch heute nachweisen lässt, wie etwa die aufgeregten Debatten um Masernausbrüche und die Einführung einer Masern-Impfpflicht in den letzten Jahren belegen, möchte ich als letzten Punkt eine andere Entwicklung skizzieren: die Flexibilisierung von Zukunftsentwürfen. Der Hintergrund für diese Entwicklung lässt sich schnell umreißen: Seit 1945 schrieb sich die WHO globale Vorsorge auf ihre Agenda,32 auf der Impfprogramme höchste Priorität hatten. Kampagnen wie das ›Smallpox Eradication Programme‹ erklärten die ganze Welt zum Interventionsfeld.33 Mit der zunehmenden Westintegration und Aufnahme in die WHO weitete sich auch der Blick der Bundesbürger gen Afrika, Südamerika und Asien. Mit dieser Perspektivenerweiterung gingen zum einen große Hoffnungen einher. Dank einer Globalisierung von Vorsorge schien eine ›seuchenfreie Zukunft‹ nicht nur denkbar, sondern sogar effektiv planbar. Systematische Massenimpfungen in Afrika und Asien drängten Krankheiten sukzessive zurück. Im Falle der Pocken machten globale Impfprogramme sogar erstmals die vollständige ›Ausrottung‹ einer Krankheit möglich. Eine ›Ausrottung‹ von Seuchen und Vorsorge an ihren Ausbruchsherden erschien in Europa im Übrigen umso attraktiver, weil damit Impfprogramme vor Ort gelockert werden konnten. Schließlich gerieten seit den 1960er Jahren bei freiwilligen Impfungen wie denen gegen Diphtherie und Polio Nebenwirkungen und ›Impfschäden‹ zu einem öffentlichen Dauerbrenner.34 Darüber hinaus mutierte die nach wie vor bestehende Impfpflicht gegen Pocken zu einem Legitimationsproblem für deutsche Gesundheitspolitiker, erschienen Zwangsmaßnahmen doch immer weniger zeitgemäß. Aus diesem Grund drängte Niedersachsens Sozialminister Georg Diederichs (SPD) Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) im Juni 1961, von Deutschland aus eine »Sanierung der endemischen Pockenherde in Asien, Afrika und Südamerika

32 Vgl. Zimmer, Thomas: Welt ohne Krankheit. Geschichte der internationalen Gesundheitspolitik von 1940 bis 1970, Göttingen: Wallstein 2017. 33 Vgl. Manela, Erez: »A Pox on Your Narrative. Writing Disease Control into Cold War History«, in: Diplomatic History 34 (2010), S. 299-323. 34 Vgl. Lindner, Ulrike: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 57), München: Oldenbourg 2004, S. 221-280.

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durchzuführen, um dann die Frage der Beibehaltung oder Auflockerung der Impfpflicht zu prüfen.« Diederichs’ Interesse an Vorsorge lag also weniger in humanitären Krisen der ›Dritten Welt‹ begründet. Vielmehr besorgte ihn die Zunahme von ›Impfschäden‹ unter westdeutschen Kindern. Angesichts der »großen der Impfung gebrachten Opfer an Gesundheit« – Diederichs meinte hier die Opfer von Nebenwirkungen und »Impfschäden« – seien Impfungen segensreich für beide Partner. Die der Entwicklungshilfe bedürftigen Länder würden pockenfrei, die helfenden Länder könnten mit dem danach möglichen Abbau der Massenimpfungen in Europa auf die Zukunft gesehen eine große Zahl von Kindern vor Tod oder Siechtum bewahren.35

Die Zukunftsentwürfe der Westdeutschen veränderten sich aber nicht nur durch neue globale Interventionen. Hinzu kamen neue globale Bedrohungen, die angeblich von Migrationsentwicklungen ausgingen. Schon 1958 erinnerte der Süddeutsche Rundfunk seine Zuhörer an die Bedeutung der Impfung im Zeitalter der Globalisierung: »In Afrika und Indien tritt sie [die Pockenerkrankung] alljährlich in starkem Maße auf. Durch Menschen, die von dort her nach Europa kommen, kann sie jederzeit übertragen werden. Und wären nicht praktisch alle Menschen geimpft, würde sich die Krankheit auch jetzt bei uns stürmisch ausbreiten.« 36 Das Hessische Innenministerium brachte diese konstruierte Gefahrenlage in einer Broschüre besonders anschaulich auf den Punkt: Als »Gefahr!« prangte in der Bildmitte ein mit Pockenpusteln übersätes farbiges Kind, während aus der ganzen Welt Zug-, Schiffs- und Flugzeugverbindungen auf das Gefahrengebiet zielten: die Bundesrepublik, wie die Broschüre erklärte: »Unsere modernen Verkehrsmittel, die weltweite Entfernungen zu einem Nichts zusammenschrumpfen lassen, können uns in wenigen Tagen, ja Stunden, die Seuche jederzeit wieder bringen.«37 Diese Figuration zukünftiger Bedrohungen ist schon deshalb so bemerkenswert, weil die Pocken in den 1960er und 1970er Jahren zwar tatsächlich wiederholt in die Bundesrepublik eingeschleppt wurden. Verantwortlich für diese Einschleppungen waren allerdings in keinem einzigen Fall Farbige, geschweige denn farbige Kinder, die eher selten in Flugzeuge fanden, sondern vorwiegend europäische Touristen und Geschäftsreisende. Bedrohungsszenarien 35 Bundesarchiv Koblenz (im Folgenden BAK), B 208/1015, Schreiben Niedersächsischer Sozialminister an Gerhard Schröder, 19.6.1961. 36 Behring-Archiv Marburg (im Folgenden BAM), 09-15/1612, Manuskript einer Sendung des Süddeutschen Rundfunks, 11.5.1958. 37 BAK, B 142/44, Faltblatt des Hessischen Ministeriums des Innern, »Den Kopf in den Sand stecken« [1956].

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fußten also weniger auf Fakten als auf Vorurteilen, mit denen Zukunftsentwürfe in der Öffentlichkeit verfangen sollten. Auf die Rückkehr alter Seuchen fanden die Deutschen in den 1960er und 1970er Jahren neue Antworten. Die allgemeine Impfpflicht gegen Pocken schien keine Lösung mehr gegen zukünftige Bedrohungen zu bieten. Stattdessen intensivierte man internationale Kooperationen und appellierte an das präventive Selbst von Risikogruppen wie Touristen, für eine gesunde Zukunft selbst vorzusorgen. Plakate zur ›Sehnsucht nach der weiten Welt‹, die beispielsweise in Hessen seit den 1960er Jahren Werbung für individuelle Impfungen machten, waren damit Ausdruck einer Flexibilisierung von Vorsorge. Nach den Erfahrungen mehrerer Pockeneinschleppungen formulierte die Ständige Impfkommission des Bundesgesundheitsamts Mitte der 1970er Jahre in diesem Kontext ein ganz neues Zukunfts- und Sicherheitskonzept: Die Kommission ging nun nicht mehr »davon aus, daß Pockeneinschleppungen in naher Zukunft vermieden werden können. Bei den Risikoabwägungen wird deshalb von einer Pockeneinschleppung alle 2 bzw. 5 Jahre ausgegangen«. 38 Auf diese Risikoabwägung schien eine flexible Impfstrategie die richtige Antwort zu geben. Neben Appellen an freiwillige Pockenimpfungen schufen Gesundheitsbehörden ›Pockenalarmpläne‹ und ›Impfstellen‹ an Flughäfen und Verkehrsknotenpunkten, um auf zukünftige Bedrohungen auch dank internationaler Absprachen schnell reagieren zu können. Auch deshalb war fortan immer seltener vom kollektiven ›Herdenschutz‹ oder von allgemeinen Impfpflichten die Rede. Sehr viel häufiger ging es nun um unterschiedliche Risikofaktoren, aus denen individuelle Impfstrategien abzuleiten waren. »Zukunft gestalten«,39 wie es auf dem oben genannten Werbeplakat für Impfungen im Urlaub hieß, das war fortan die Aufgabe jedes Einzelnen und damit eine Form individueller Zukunftsbewältigung.

V ORSORGE

ALS

›Z WANGSWIRTSCHAFT ‹: F AZIT

In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist nach wie vor die Deutung en vogue, dass moderne Vorsorgemaßnahmen eine ›Bewirtschaftung des Kommenden‹ und ›Disziplinierung der Zukunft‹ versprachen. Allerdings, und das sollte dieser Beitrag zeigen, war ›Disziplinierung‹ ein zweischneidiges

38 Bundesgesundheitsblatt 18/Nr. 1 (10.1.1975), S. 12. 39 BAM, 12-001/1016, Plakat der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung, »Sehnsucht nach der weiten Welt. Gesundheit erhalten – Zukunft gestalten« [1960er Jahre].

V ORSORGE

ALS

ZUKUNFTSBEWÄLTIGUNG ?

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Schwert. Die neuen Möglichkeiten einer ›vorsorglichen‹ Gestaltung von Gesundheit und Gesellschaft waren Segen und Fluch zugleich. Segen, weil sie ein effektives social engineering möglich machten; Fluch, weil sie Sozialstaaten unter ständigen Zugzwang setzten und den Handlungsdruck auf Politiker, Mediziner, Forscher und Verwaltungsbeamte hochhielten. Wenn man Vorsorge überhaupt als ›Bewirtschaftung der Zukunft‹ verstehen möchte, sollte man also von einer ›Zwangswirtschaft‹ sprechen. Eine Antwort auf Handlungszwänge war das, was ich ›Zukunftsmanagement‹ genannt habe: Die Popularisierung spezifischer Zukunftsentwürfe, mit denen einerseits soziales Verhalten mobilisiert und normiert werden sollte und mit denen sich andererseits Experten legitimierten und soziale Interventionsfelder erschlossen. Die Verstaatlichung seuchenfreier Zukünfte, die Pathologisierung bedrohlicher Zukünfte oder die Flexibilisierung individueller Zukunftsentwürfe gaben somit in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Antworten auf die ewige Frage nach den Rechten und Pflichten sowohl des Sozialstaats als auch des Staatsbürgers. Zu diesen Zukunftsentwürfen ließe sich noch sehr viel mehr sagen: Die deutsch-deutsche oder transnationale Perspektive beispielsweise ist in diesem Beitrag nur am Rande Thema gewesen, obgleich die DDR das wohl beste Beispiel für die Ambivalenzen von Vorsorge darstellt. Denn gerade hier, in den ostdeutschen Machbarkeitsphantasien einer ›gesunden‹ und ›neuen Gesellschaft‹, werden Konjunkturen und Krisen von Vorsorge als Denkfigur der Moderne besonders anschaulich. Schließlich stieg in der DDR der Handlungsdruck angesichts des Versprechens nach hundertprozentigen Impfquoten derart in die Höhe, dass das Ministerium für Gesundheitswesen letztlich sogar Westimporte an Impfstoffen beförderte oder bei der Erfüllung von Impfquoten nicht so genau hinsah.40 Weiterführend wäre zudem ein Blick auf alternative Zukunftsentwürfe bzw. auf eine Konkurrenz verschiedener Zukunftsentwürfe unterschiedlicher Akteure. Die kurz erwähnten Impfgegner bieten für alternative Zukünfte ein reichhaltiges Untersuchungsfeld, das sich vom 18. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart ziehen lässt. Und nicht zuletzt regt die Geschichte der Vorsorge dazu an, sich bei der Analyse von Zukunftsentwürfen nicht allein auf die Zukunft zu konzentrieren, sondern stärker in die Gegenwart und Vergangenheit zu blicken. Zukunftsentwürfe sind erst vor dem Hintergrund zeitgenössischer Gegenwartsdiagnosen und Retrospektiven nachvollziehbar,41 wie sie in diesem Beitrag am Beispiel der 40 Vgl. Thießen, Immunisierte Gesellschaft, bes. S. 303-322. 41 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen bei Bühler, Benjamin/Willer, Stefan: »Einleitung«, in: dies., Futurologien, S. 9-26, bes. S. 13-14.

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›Jenner-Feiern‹ skizziert worden sind. Eine Erweiterung der Zukunftsforschung um erinnerungskulturelle Zugriffe könnte also helfen, soziale Voraussetzungen, Formen und Funktionen von Zukunftsentwürfen präziser zu bestimmen. Schon deshalb wird zur Geschichte der Zukunft auch zukünftig noch einiges beizutragen sein.

Souveräne Dauer und die Marktzirkulation von Staatsanleihen A NDREAS L ANGENOHL

1. E INLEITUNG 1 Die Frage nach der merkwürdigen Bindungskraft, die finanzielle Schulden entfalten können, hat in der letzten Zeit in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften breite Aufmerksamkeit gefunden.2 Der vorliegende Artikel möchte zu dieser Debatte beitragen, indem er auf die Bindungskraft von Staatsschulden fokussiert, und zwar unter dem Aspekt der Zeitlichkeit, die diesem spezifischen Schuldentypus zu eigen ist. Der englische Begriff sovereign debt ist dem Anliegen des Artikels dabei weitaus angemessener als der deutsche Begriff der Staatsschulden, weil debt eine finanzielle Schuldigkeit bezeichnet, die nicht, wie im Deutschen ›Schulden‹, Aspekte moralischer Schuld impliziert. 3 Dennoch wird vermutlich kein noch so präzise gewählter Ausdruck der, wie Thomas Macho sagt, »heillose[n] Dreifaltigkeit der Schuldbegriffe – der genealogischen, moralischen und ökonomischen Schuld« – entgehen können.4 Allerdings soll hier der 1

Ich danke Sebastian Giacovelli und Benjamin Wilhelm herzlich für wertvolle Hinweise zu einer früheren Version dieses Aufsatzes.

2

Vgl. etwa Graeber, David: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart: Klett-Cotta 2011; Lazzarato, Maurizio: Governing by Debt, Cambridge, MA/London: MIT Press 2015; Thomas Macho (Hg.), Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten, München: Fink 2014.

3

Vgl. Macho, Thomas: »Bonds: Fesseln der Zeit«, in: Ders. (Hg.), Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten, München: Fink 2014, S. 11-26, hier S. 17; vgl. Von Braun, Christina: »Können Schulden von der Schuld erlösen?«, in: ebd., S. 115-136, hier S. 115.

4

Vgl. T. Macho: »Bonds: Fesseln der Zeit«, S. 19.

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Fokus weniger auf das Changieren zwischen diesen drei Aspekten gelegt werden, sondern auf das Changieren zwischen unterschiedlichen temporalen Implikationen ökonomischer Obligationen – insbesondere solcher Obligationen, die, wie heutzutage sovereign debt, durch marktförmige Praktiken in Zirkulation gehalten werden (und manchmal aus ihr herausfallen). Der Begriff sovereign debt ist aus einem zweiten Grund angemessener als der der Staatsschulden, denn er hebt Souveränität als Kernanspruch moderner politischer Gemeinwesen hervor. Dieser Anspruch bezieht sich nicht nur, wie Max Weber betonte, auf ein Monopol über legitime Gewaltausübung auf dem Territorium des Gemeinwesens, sondern auch auf den scheinbar weitaus banaleren Anspruch, aus eigener Kraft und auf regelmäßiger Grundlage ein Budget zu generieren.5 Moderne postimperiale Staaten tun dies im Wesentlichen durch zwei Verfahren: erstens durch Besteuerung der Bevölkerung, zweitens durch die Ausgabe von Staatsanleihen. Letztere Praxis hat seit ihrem Ursprung, den manche in den spätmittelalterlichen Stadtstaaten Norditaliens verorten, 6 signifikante Transformationen durchlaufen: War die spätmittelalterliche Staatsanleihe ein Zwangskredit, den wohlhabende Bürger der Regierung zur Verfügung stellen mussten, findet die Kapitalisierung der Staaten der Gegenwart in maßgeblicher Weise auf internationalen Bondmärkten statt, wo viele Staatsanleihen nach den jüngsten Turbulenzen stets noch als sehr begehrte, weil verhältnismäßig risikofreie Wertpapiere gehandelt werden. Gerade einige Staaten der Europäischen Union, die mittlerweile für die Ausfallsicherheit, die ihren Anleihen zugeschrieben wird, Negativzinsen erzielen können, erreichen somit den Status zeitlich unbegrenzter Kreditwürdigkeit. Dies sichert ihnen nicht nur budgetäre Souveränität, sondern hat auch einen imaginären Effekt, den ich ›souveräne Dauer‹ nennen möchte und den man, mit Frédéric Gros gesprochen, als Zuschreibung der »Fähigkeit, seine Weiterexistenz von den eigenen Kräften abhängen zu lassen«, kennzeichnen kann.7 Kreditwürdigkeit und Erwartung des Fortbestands des Staates beglaubigen sich gegenseitig. Anderen Staaten hingegen, deren Bonds nicht mehr zirkulationsfähig sind, drohen empfindliche Einschränkungen ihrer Souve-

5

Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft [1921], Tübingen: Mohr-Siebeck 1972, S. 400.

6

Vgl. zusammenfassend Boy, Nina: »Öffentlichkeit als public credit«, in: Andreas Langenohl/Dietmar J. Wetzel (Hg.), Finanzmarktpublika. Moralität, Krisen und Teilhabe in der ökonomischen Moderne, Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 301-317, hier S. 302.

7

Gros, Frédéric: Die Politisierung der Sicherheit. Vom inneren Frieden zur äußeren Bedrohung, Berlin: Matthes & Seitz 2015, S. 135.

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ränität – bis hin zu Prophezeiungen ihres Untergangs, d.h. des Endes ihrer souveränen Dauer. Es ist daher das Hauptargument des vorliegenden Artikels, dass die Marktzirkulation von sovereign bonds eine kritische Schaltstelle politischer Souveränität darstellt – einschließlich der Behauptung souveräner Dauer durch die Gewährung von finanzieller »sovereign safety«, d.h. einer Garantie gegen finanzielle Risiken, die mit dem Staat selbst assoziiert wird. 8 Damit reiht sich der Artikel in diejenigen Arbeiten ein, die den politischen Anspruch auf souveräne Dauer weniger auf Konstruktionen essenzieller (etwa nationaler) Identität zurückführen, sondern auf die Besonderheiten finanzieller Zirkulation.9 Gleichzeitig erwachsen dem Gemeinwesen aus dieser marktbasierten Artikulation politischer Souveränität spezifische Risiken, die dann zutage treten, wenn die Marktzirkulation von Anleihen ins Stocken gerät – was jüngst in einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion der Fall gewesen ist.

2. V ON

SOVEREIGN DEBT ZUR DER S CHULD ‹

›S OUVERÄNITÄT

Jüngste Ereignisse in der Eurozone vermitteln eine Anschauung dessen, was passiert, wenn die Anleihen von Staaten ihre Marktfähigkeit verlieren. Sie sind in ihren allgemeinen Konsequenzen bereits vielerorts dargestellt worden, so dass man es hier bei einer knappen Zusammenfassung belassen kann. 10

8

Vgl. Boy, Nina: »Sovereign safety«, in: Security Dialogue 46 (6/2015), S. 530–547.

9

Vgl. etwa Peebles, Gustav: »The anthropology of credit and debt«, in: Annual Review of Anthropology 39 (2010), S. 225-240; Langley, Paul: Liquidity Lost: The Governance of the Global Financial Crisis, Oxford/New York: Oxford University Press 2015.

10 Vgl. Fouskas, Vassilis K./Dimoulas, Constantine: »The Greek workshop of debt and the failure of the European project«, in: Journal of Balkan and Near Eastern Studies 14 (1/2012), S. 1–31; Donnelly, Shawn: »Power politics and the undersupply of financial stability in Europe«, in: Review of International Political Economy 21 (4/2014), S. 980–1005; Maatsch, Aleksandra: »Are we all austerians now? An analysis of national parliamentary parties’ positioning on anti-crisis measures in the Eurozone«, in: Journal of European Public Policy 21 (1/2014), S. 96–115; Michael-Matsas, Savas: »Greece and the decline of Europe«, in: Critique: Journal of Socialist Theory 40 (4/2012), S. 485–499; Pianta, Mario: »Democracy lost: The financial crisis in Europe and the role of civil society«, in: Journal of Civil Society 9 (2/2013), S. 148–161.

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Die Anleihen vieler Staaten werden heutzutage an Börsen gehandelt. Während der Kreis der Bieter bei der Emission von Staatsanleihen – die den so genannten Primärmarkt bilden – begrenzt ist,11 sind einmal emittierte Anleihen Gegenstand des Sekundärmarktes, d.h. des regulären Börsengeschäfts. Sobald Zweifel an der Marktfähigkeit von Staatsanleihen aufkommen – heutzutage meist festgestellt durch ein so genanntes sovereign rating einer Ratingagentur – steht die Möglichkeit eines ›Staatsbankrotts‹ im Raum. Auch hier ist der englische Begriff wesentlich treffsicherer: sovereign default. Denn worum es geht, ist die Einschränkung staatlicher Souveränität auf dem Gebiet der Erwirtschaftung eines Budgets. Daraus wurde in der jüngsten Finanzkrise häufig der Imperativ konstruiert, die Staatsausgaben drastisch einzuschränken bzw. die Steuern zu erhöhen – eine Art und Weise, durch die zirkulationsunfähige Staatsschulden an die Bevölkerung weitergegeben werden.12 Eine andere besteht darin, dass die Gläubiger rigoros auf der Rückzahlung der Schulden bzw. auf einem strikten Tilgungsplan bestehen.13 Die Souveränität des Staates verschwindet somit auch in symbolischer Hinsicht, nämlich zusammen mit dem Vermögen, die Sicherheiten der eigenen Schulden vor dem Beobachtungsinteresse der (potenziellen) Gläubiger zu schützen. Staaten, deren Schulden ihre Marktgängigkeit verlieren, steht stattdessen eine rigorose Verrechnung ihrer Schulden mit dem Wert ihrer öffentlichen Infrastrukturen, Ausgaben und Investitionen und der Wirtschaftsleistung ihrer Ökonomien ins Haus. Diese »collateralized polities« müssen in einem post-souveränen Offenbarungseid ihre Bücher der Welt offenlegen. 14 Zugleich treten diese Staaten in eine eigenartige temporale Konstellation ein, die man als ›determinierte Zukunft‹ bezeichnen könnte. Der Anspruch souveräner Dauer wird durch ökonomisch kalkulierte Zukunftsszenarien verdrängt, die 11 Vgl. für die Bedingungen einer Bieterschaft im Falle von Bundeswertpapiere http://www.deutsche-finanzagentur.de/de/institutionelle-investoren/primaermarkt/biete rgruppe/, aufgerufen am 19.3. 2017. 12 Vgl. P. Langley: Liquidity Lost. 13 Vgl. Lazzarato, Maurizio: »Die amerikanische Universität als Modell der Schuldengesellschaft«, in: Macho: Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten (2014), S. 383-401; ders.: Governing by Debt, Cambridge, MA/London: MIT Press 2015. 14 Vgl. Langenohl, Andreas: »Collateralized polities: The transformation of trust in sovereign debt in the wake of the Eurozone crisis«, in: Behemoth: A Journal on Civilisation 8 (1/2015), S. 67-90. Siehe auch Jacob Soll: The Reckoning: Financial Accountability and the Making an Breaking of Nations. New York: Penguin 2014, der nachzeichnet, wie seit dem Spätmittelalter politische Gemeinwesen in Europa wiederholt in diese Lage gerieten.

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aus der Laufzeit von außermarktlich gewährten, an Konditionalitäten gebundenen Krediten gebildet sind (wie sie etwa von IMF und EZB an in Not geratene Regierungen in der Eurozone vergeben wurden). Die gesamte Nationalökonomie wird auf die Notwendigkeit hin justiert, zu diesen Daten bestimmte Rückzahlungsleistungen zu erbringen. Faktisch wird die Nationalökonomie wie ein strukturiertes Finanzprodukt behandelt, dessen Logik darin besteht, zu einem im Voraus gesetzten Zeitpunkt einen bestimmten Wert erreicht haben zu sollen, in seiner Komposition hingegen vollkommen beliebig sein zu können. 15 So muss auch die Synchronisierung des Staatshaushalts mit auf das Gemeinwesen bezogenen politischen Zielen aufgegeben werden, weil der Staatshaushalt auf Szenarien bezogen wird, die durch die Laufzeit der (konditionierten) Kredite bedingt sind. Souveräne Dauer wird somit, um mit Roberto Esposito zu sprechen, von einer »Souveränität der Schulden« abgelöst, die sich an den temporalen Punktierungen des Schuldendienstes kristallisiert.16 Diese krisenhaften Prozesse geben Anlass zur Frage, welche temporale Binnenstruktur souveräne Dauer hat und wie exakt sie auf Prozesse der Zirkulation und Inwertsetzung von Staatsschulden bezogen ist.

3. M ÄRKTE FÜR S TAATSSCHULDEN : Z U DEN V ORAUSSETZUNGEN EINER SCHEINBAREN N ORMALITÄT Dass Staatsanleihen auf Märkten gehandelt werden, ist eine verhältnismäßig junge Erscheinung – wie auch allgemeiner die Auffassung, dass Kredite an den Staat als eine lohnenswerte Investition anzusehen seien. Der mittelalterliche Ausdruck debitum publicum bezeichnete, so Nina Boy in ihrer kritischen Zusammenfassung der einschlägigen Literatur, 17 weniger eine ›öffentliche Schuld‹ oder eine Staatsschuld als vielmehr eine Schuldigkeit gegenüber dem Staat, ihm Kredit zu gewähren. Der Staat bzw. der Herrscher konnte Zwangsanleihen requirieren, was häufig vor kriegerischen Kampagnen geschah und dementsprechend

15 Vgl. Lépinay, Vincent-Antonin: »Parasitic formulae: The case of capital guarantee products«, in: Michel Callon/Yuval Millo (Hg.), Market Devices, Oxford: Blackwell 2007, S. 261-283. 16 Vgl. Esposito, Roberto: »Souveräne Schuld (Ökonomische Theologie II)«, in: Macho: Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten (2014), S. 159-167, hier S. 160. 17 Vgl. N. Boy: »Öffentlichkeit als public credit«, S. 302.

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als höchst unsichere Form der Investition galt. 18 Das politische und militärische Sicherheitsanliegen des Staates wurde somit zum Risiko der gezwungenen Kreditgeber. Vor diesem historischen Hintergrund ist die gegenwärtige Geltung von Staatsanleihen als praktisch ausfallsichere Investitionsform, für die Investoren derzeit gar bereit sind zu zahlen (in Form von Negativzinsen), erstaunlich. Zwar gelten der orthodoxen Finanztheorie Staatsanleihen als risikolose Anleihen, d.h. als Investitionen, die keinerlei Risiko bergen, sondern vollkommen berechenbar und transparent sind.19 Dies steht im Kontext einer wissenschaftlichen Entwicklung, die sich insbesondere an der Klassifizierung unterschiedlicher Risikotypen auf Finanzmärkten interessiert gezeigt hat. Die Annahme einer risikolosen Anlage dient dabei dem Zweck, verschiedene Risikotypen in ihrem Ausmaß und Verhältnis zueinander zu bestimmen, etwa Kreditausfallrisiko, Risiko einer schwächeren Wertentwicklung als erwartet oder umgekehrt einer stärkeren als erwartet (was deswegen als Risiko gilt, weil es in diesem Fall rational gewesen wäre, mehr in die betreffende Anlage zu investieren). 20 Jedoch fallen Praxis und Finanztheorie der Staatsschulden auseinander. Staatsanleihen werden heute zu großen Teilen auf Bondmärkten gehandelt, also auf Finanzmärkten, die auf der Grundlage einer sozial und technologisch institutionalisierten Dynamik operieren, in der aus der Verrechnung eines Marktangebotes mit einer Marktnachfrage Wettbewerbspreise für Bonds bzw. für ihre Zinsen bestimmt werden.21 Zugleich ist zu sehen, dass, entgegen der Postulierung von Staatsanleihen als risikolosen Anlagen per se, bei weitem nicht alle Anleihen gleichermaßen als risikolos gelten – dies zeigen die höchst unterschiedlichen sovereign ratings,22 die bis hin zum junk bond reichen können, der zwar als relativ riskant gilt, allerdings auch als potenziell unterbewertet und damit profitträchtig.23 18 Vgl. N. Boy: »Sovereign safety«, S. 530. 19 Vgl. Ebd. 20 Vgl. Langenohl, Andreas: »Von Zukünftigkeit zu Gegenwärtigkeit: Der Aufstieg der Arbitragetheorie im Diskurs der Finanzökonomik«, in: Herbert Kalthoff/Uwe Vormbusch (Hg.), Soziologie der Finanzmärkte, Bielefeld: transcript 2012, S. 151-176. 21 Vgl. Grimpe, Barbara: Ökonomie sichtbar machen, Bielefeld: transcript 2010. 22 Vgl. Kaedtler, Jürgen: »Finanzmarktöffentlichkeit und Finanzmarktrationalität. Zu den Bestandsbedingungen einer Form bedingter Rationalität in der Krise«, in: Langenohl/Wetzel, Finanzmarktpublika (2014), S. 173–195. 23 Vgl. Herrmann, Ulrike: »Wie die Wall Street an die Macht gelangte: Die Erfindung des Junk Bonds und der Verbriefung«, in: Macho: Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten (2014), S. 185-191, hier S. 188.

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Die Herausbildung eines solchen Marktes wäre, unter Bedingungen eines Zwanges zur Staatskreditierung, wie er noch in der frühen Neuzeit vorherrschte, nicht möglich gewesen. Alternativ zur Staatskapitalisierung durch Marktzirkulation von Anleihen konnte der Staat bei seinen Bürgern durch Renten oder Lotterien Darlehen aufnehmen.24 Im 19. und 20. Jahrhundert griffen Regierungen zudem häufig ins Register patriotischer und nationalistischer Rhetorik, um ›Kriegsanleihen‹ unter die Bevölkerung zu bringen: Wie im Mittelalter wurde staatliche Kreditaufnahme in einen expliziten Kontext politischer Sicherheit gestellt, wobei die patriotischen Semantiken die politisch und rechtlich nicht mehr verfügbare Zwangskreditnahme seitens des Staates substituieren sollten. Dieser sehr knappe Durchgang durch die Geschichte der Staatsanleihen macht deutlich, dass Bondmärkte als Arenen der Zirkulation von Staatsanleihen eine recht junge und auch heute keineswegs alternativlose Form der Erhebung eines souveränen Budgets darstellen. Um ihre Bedeutung für die Herausbildung souveräner Dauer zu erfassen, ist es notwendig, sie als Teil des Finanzmarktes und seiner Temporalitätsregime zu betrachten. Dies geschieht im nächsten Abschnitt.

4. D IE T EMPORALITÄT VON F INANZMÄRKTEN : Z WISCHEN Z UKÜNFTIGKEIT UND G EGENWÄRTIGKEIT Sozialwissenschaftliche Forschungen zu Finanzmärkten heben oftmals deren Eigenzeitlichkeit hervor. Hierbei müssen zwei Befunde der gegenwärtigen Forschung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Erstens ist wiederholt festgehalten worden, dass Finanzmärkte Zukunftsmärkte sind, weil ihre Finanzprodukte in der Erwartung ihres ›zukünftigen‹ Wertes gehandelt werden. Aus dieser Sicht kalkulieren (oder ›spekulieren‹) Marktakteure auf zukünftige Gewinne bzw. die Vermeidung zukünftiger Verluste. Zweitens indes wurde eingewandt, dass ein Großteil gegenwärtiger Marktaktivitäten mit dem Ziel der Realisierung ›augenblicklichen‹ Gewinns getätigt werden, weil auf diese Weise jedes Risiko hinsichtlich der prinzipiell ungewissen Wertentwicklung von Finanzprodukten in der Zukunft vermieden werden kann. Diese beiden Argumente werden im Folgenden in etwas größerer Tiefe vorgestellt, weil sich aus ihnen eine paradoxe Zeitlichkeit von Finanzmärkten (und eben auch Bondmärkten) ergibt, die Folgen für das Verständnis der temporalen Beziehungen zwischen Staatsschulden als

24 Vgl. N. Boy: »Öffentlichkeit als public credit«, S. 304.

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Mittel regulärer Budgetierung und Bondmärkten als Kanälen der Zirkulation der Schulden hat. Einerseits sind Finanzmärkte, wo es sich um Terminmärkte handelt, so organisiert, dass verschiedene Produkttypen (d.h. etwa Optionen oder Futures) fixe Ablaufdaten haben, auf die hin das Risiko kalkuliert wird. Lee und LiPuma sprechen hier von einer »Kommodifizierung der Zukunft«, d.h. die grundsätzliche Offenheit der Zukunft wird auf voneinander abgrenzbare Szenarien enggeführt, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten dann berechnet werden.25 Dieselbe, wenn auch spiegelbildliche Logik findet sich bei ›strukturierten‹ Finanzprodukten, die einen Zielwert zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ansteuern und deren Zusammensetzung daher kaum festgelegt ist, um die einzelnen Komponenten mit Blick auf den angezielten Wert optimieren zu können.26 In beiden Fällen geht es also um die Antizipation eines bestimmten Kurswerts eines bestimmten Finanzprodukts zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft. Dies trifft auch auf Staatsanleihen zu, die ebenso fixe Ablaufdaten haben und insofern als Termingeschäfte gelten können, wenngleich sie (aufgrund der oftmaligen Unterstellung der Risikolosigkeit) selten als solche aufgefasst werden. 27 Der Umstand, dass Staatsanleihen bis in die jüngste Zeit häufig als risikolose Anlage – als »safe haven«28 – betrachtet wurden, weshalb die Frage ihrer Fristigkeit nicht im Zentrum der Überlegungen stand, sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Staatsanleihen ihrem temporalen Prinzip nach ebensolche Terminkontrakte sind wie etwa Optionen oder Futures. Andererseits haben Finanzmärkte die Tendenz, Akteure zu risikominimierendem Verhalten zu bewegen. Seit der Portfoliotheorie Harry Markowitz’ zählt hierunter, neben einer Diversifikation des Portfolios, die Minimierung des Investitionszeitraums. Markowitz argumentierte, dass zur Optimierung des Wertes eines Wertpapierbestandes weniger auf die potenziell hohe, aber mit Ungewissheiten belastete Wertentwicklung einzelner Produkte gesetzt werden sollte, als vielmehr auf eine Zusammenstellung (ein ›Portfolio‹) solcher Produkte, deren Wertminderungs- oder Ausfallrisiko geringer sei als der Durchschnitt aller gehandelten Werte. Wertsteigerung sollte somit durch die Minimierung des Wert25 Vgl. Lee, Benjamin/LiPuma, Edward: »Cultures of circulation: the imaginations of modernity«, in: Public Culture 14 (1/2002), S. 191-213. 26 Vgl. V.-A. Lépinay: »Parasitic formulae«. 27 Die Tatsache, dass Terminkontrakte ebenso wie Staatsanleihen auch vor dem Ende des Ablaufdatums weiterverkauft werden können, wenn im Markt entsprechende Liquidität gegeben ist, ändert nichts an der grundsätzlichen Fristigkeit ihrer Wertschöpfungslogik. 28 N. Boy: »Sovereign safety«.

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verlustrisikos erzielt werden. Da Wertverlustrisiken umso höher sind, je mehr Zeit bis zum Ablaufdatum der Terminkontrakte verstreicht, ist die logische Implikation dieser Herangehensweise, den Investitionszeitraum soweit wie möglich zu verringern.29 Als empirisch risikoloser Handel kann daher eigentlich nur die so genannte Arbitrage gelten, d.h. der ›gleichzeitige‹ Kauf und Verkauf von Finanzprodukten auf unterschiedlichen Märkten, wo sie unterschiedliche Preise erzielen. Die Möglichkeit, dass derartige Arbitragechancen entstehen, setzt voraus, dass Märkte nicht immer ›effizient‹ sind, d.h. dass nicht alle Segmente des Handels in einem Produkt integriert sind. Zugleich stellt Arbitrage ein Mittel dar, eine solche Integration herzustellen: Der Finanztheorie nach werden jene Ineffizienzen durch Arbitrage ausgeglichen.30 Mit Blick auf Staatsanleihen bedeutet dies, dass auch sie prinzipiell zum Gegenstand von Arbitrage gemacht werden können. Das mag angesichts der Existenz eines scheinbar voll integrierten Marktes für solche Anleihen, wie in der Rede vom ›internationalen Bondmarkt‹ im Singular mitschwingt, verwundern. Auch ist die oben mehrfach erwähnte Ansicht, dass Staatsanleihen risikolose Anleihen darstellten, die zumindest für die Anleihen einiger Staaten galt und nach wie vor gilt, 31 scheinbar nicht recht mit Arbitrage zur Deckung zu bringen, da diese ja darauf abzielt, Risiken durch Minimierung des Investitionszeitraums auf ein Nichts hin auszuschalten – eine Praxis, die bei risikolosen Investitionen schlicht nicht notwendig wäre. Indes gilt auch hier, dass die vorherrschende Ansicht von Staatsanleihen als risikolosen Anlagen nicht über ihre Charakteristika als Finanzprodukte unter anderen hinwegtäuschen sollte. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn Staatsanleihen an Marktfähigkeit verlieren – ein 29 Vgl. Lee, Benjamin/LiPuma, Edward: Financial Derivatives and the Globalization of Risk, Durham/London: Duke University Press 2004, S. 77-78; Langenohl, Andreas: Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft, Stuttgart: Lucius & Lucius 2007, S. 79-80. 30 Die mathematische Finanzökonomik bemüht sich, diese Spannung zwischen dem theoretischen Axiom effizienter Märkte und den empirisch gegebenen, ineffizienten Märkten auch unterhalb der Ebene klassischer Finanzprodukte anzulegen, nämlich durch eine Analyse von Finanzprodukten auf ihre Risikokomponenten hin, die dann, in anderer Kombination und auf anderen Märkten, andere Gesamtpreise erzielen. Siehe Joshi, Mark S.: The Concepts and Practice of Mathematical Finance, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2003; Černý, Aleš: Mathematical Techniques in Finance: Tools for Incomplete Markets. 2nd Edition, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2009. 31 Bundesanleihen und diejenigen einiger anderer europäischer Staaten, etwa Dänemarks, gelten derzeit als so sicher, dass Kreditgeber einen Aufschlag zahlen.

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Prozess, den man am Beispiel einiger Mitgliedsstaaten der Economic and Monetary Union oder: Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und ihrer Anleihen in den letzten Jahren beobachten konnte. Anleihen werden somit Risiken attribuiert, die sich in ihrer Verkaufbarkeit, dem Zins, der für sie fällig wird, und den steigenden Kosten für Kreditausfallversicherungen niederschlagen. Anhand dieser Prozesse erkennt man, dass Staatsanleihen durch kalkulatorische Praktiken in ihrem spezifischen Risikoprofil mit anderen möglichen Investitionen ›vergleichbar‹ gemacht werden können.32 In der Zusammenschau dieser beiden Befunde finanzmarktlicher Temporalordnungen – einmal Zukunftsorientierung (am Beispiel von Termingeschäften), einmal Gegenwartsorientierung (am Beispiel von Arbitrage) – fällt natürlich zunächst ihre Widersprüchlichkeit auf. Allerdings stellt sich diese Widersprüchlichkeit unter Umständen eher als eine Komplementarität dar, wenn man berücksichtigt, welche Schlussfolgerungen aus den jeweiligen Befunden gezogen werden. Dem ersten Befund – der Zukunftsorientierung – gemäß erscheinen Finanzmärkte in erster Linie als eine Ökonomie der ›Imaginationen‹. Demnach werden auf Finanzmärkten Vorstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich zukünftiger Werte bzw. Wertverluste gehandelt, die angesichts der fundamentalen Ungewissheit der Zukunft33 immer unter dem Proviso des ›Möglichen‹, aber nicht ›Zwingenden‹ stehen. Hieraus ist der Schluss gezogen worden, dass Finanzmärkte, und die Marktwirtschaft im Allgemeinen, weniger auf ökonomischer als auf einer imaginativen Rationalität beruhen.34 So wurden beispielsweise Parallelen zwischen der Geltungsstruktur des modernen Romans – als nicht auf Wahrheit, sondern auf verisimilitude, d.h. auf eine ›mögliche‹

32 Vgl. Beunza, Daniel/Hardie, Ian/MacKenzie, Donald: »A price is a social thing: towards a material sociology of arbitrage «, in: Organization Studies 27 (5/2006), S. 721-745. 33 Vgl. Knight, Frank H.: Risk, Uncertainty and Profit, Boston/New York: Houghton Mifflin, und Cambridge: Riverside Press 1921; vgl. Kessler, Oliver: »Ungewissheit, Unsicherheit und Risiko. Temporalität und die Rationalität der Finanzmärkte«, in: Andreas Langenohl/Kerstin Schmidt-Beck (Hg.), Die Markt-Zeit der Finanzwirtschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen, Marburg: Metropolis 2007, S. 293-321, und Esposito, Elena: »Was binden Bonds? Das Eigentum an der Zukunft und die Verantwortung für die Gegenwart«, in: Macho, Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten (2014), S. 55-65. 34 Vgl. Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitalismus, Zürich: Diaphanes 2010; ders.: Der Souveränitätseffekt, Zürich: Diaphanes 2015.

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Wahrheit bezogen – und der Geltungsstruktur ökonomischer Symbole gezogen. 35 Der zweite Befund – der Gegenwartsorientierung – zieht, im Gegensatz dazu, aus der Praxis der Arbitrage als Ausschluss des Möglichkeitsprovisos von Profit tendenziell die umgekehrte Schlussfolgerung. Indem Arbitrage risikolosen, weil sofortigen und jeglichen Möglichkeitsraum schließenden Profit ermöglicht, behauptet sie die genuin ökonomische, ganz und gar kalkulatorische und insofern ultra-realistische Rationalität von Finanzmärkten.36 Die Frage, die sich anhand dieser Gegenüberstellung ergibt, lautet, wie diese beiden sich scheinbar ausschließenden Temporalitäten von Finanzmärkten, d.h. eine imaginative und eine kalkulatorische Temporalität, ineinandergreifen. Sie soll im Folgenden mit Blick auf Staatsschulden und Bondmärkte beantwortet werden. Gegenwärtige Staatsanleihen sind eigenartige Wertpapiere, weil ihnen Eigenschaften zugeschrieben worden sind, die sie sowohl mit der imaginativen Zukunftslogik wie auch mit der Arbitrage-Logik strikter Gegenwärtigkeit in Widerspruch bringen – vor allem die Attribuierung, eine risikolose Investition zu sein, die von historischen Staatsbankrotten zwar in Zweifel gezogen, aber bisher nicht wirklich effektiv herausgefordert wurde. Ich will dabei der Vermutung nachgehen, dass diese eigentümliche Zuschreibung einer Sonderstellung von Staatsanleihen, die sie als ›nicht wirkliche‹ Finanzprodukte auswies, in einem Bedingungsverhältnis zu der scheinbar widersprüchlichen Finanzmarkttemporalität insgesamt steht – einer Temporalität, die sowohl Zukünfte imaginativ verheißt als auch Gegenwarten kompromisslos setzt. Auf diese Weise lässt sich Aufschluss über die spezifische Geltungsstruktur souveräner Dauer gewinnen – deren zentrale Komponente das Vermögen ist, durch Ausgabe von Staatsanleihen autonom ein Budget zu generieren, und die mit finanzmarktlichen Temporalordnungen in enger Beziehung steht.

35 Vgl. Poovey, Mary: Genres of the Credit Economy: Mediating Value in Eighteenthand Nineteenth-Century Britain, Chicago/London: Chicago University Press 2008; vgl. N. Boy: »Öffentlichkeit als public credit« – Man kann vermuten, dass das geistesund kulturwissenschaftliche Interesse an Finanzmärkten fundamental auf das Argument bezogen ist, dass Finanzmärkte Möglichkeitsräume eröffnen, angesichts derer jede strikt ökonomische Rationalität versagen muss. Daher hat sich diese Forschungsrichtung als besonders empfänglich für die These der Zukunftsorientiertheit von Finanzmärkten erwiesen. 36 Vgl. Abolafia, Mitchell Y.: »Hyper-rational Gaming«, in: Journal of Contemporary Ethnography 25 (1996), S. 226-250; Langenohl: Von Zukünftigkeit zu Gegenwärtigkeit.

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5. D ER W IDERSPRUCH ZWISCHEN T ERMINIERTHEIT UND E WIGKEITSANSPRUCH VON S TAATSANLEIHEN Solange Staatsschulden als risikolose Anlage gelten, können sie, aus Sicht der Marktteilnehmer, ›ewig‹ gehalten werden.37 Ihre Risikolosigkeit ist jedoch nicht, wie bei der Arbitrage, mit einer Minimierung des zeitlichen Anlagehorizontes erkauft, und dies macht sie daher einerseits zu einer ›finanzökonomischen‹ Anomalie. Andererseits aber liegt diese Anomalie an der Basis der ›politischen‹ Fiktion der Risikolosigkeit der Anlage – nämlich der Fiktion eines Kredits, den der Staat niemals zurückzahlen muss, gerade weil er als per se kreditwürdig, als Garant von »sovereign safety« gilt.38 Dieses Argument soll im Folgenden mit Rekurs auf neuere Arbeiten in der Wirtschaftsanthropologie und der kulturellpolitischen Ökonomie plausibilisiert werden. Mit Blick auf die Genese moderner Staatsanleihen – d.h. von Darlehen an den Staat, die nicht durch Zwang ausgehoben, sondern freiwillig gewährt werden – ist die Verbindung vom Handel mit Staatsanleihen zu Praktiken der Zirkulation hervorgehoben worden, aus denen sich letztlich Märkte für staatliche Wertpapiere herausbildeten. Dies geschah durchaus nicht in Gestalt der strikten Umsetzung eines wohlerwogenen Plans, sondern teilweise aus Krisensituationen heraus: Die Begründung eines Marktes für Staatsschulden in Florenz 1345 ereignete sich in Folge eines Staatsbankrotts: zur Rückzahlung seiner Kredite unfähig, konsolidierte Florenz seine ausstehenden Verpflichtungen in einen Fond, so dass Gläubiger fortan durch den Verkauf ihrer Wertpapiere an Dritte ihr Kapital zurückerlangen konnten. 39

Auch das Recht zur Ausgabe von zur Zirkulation bestimmten Banknoten, das englische Bankiers mit der Gründung der Bank of England 1694 gegen einen Kredit an den König erwarben, verknüpfte Staatsschulden und Marktzirkulation auf eher beiläufige, aber signifikante Weise, denn die Zirkulation der Banknoten (die durch die königliche ›souveräne‹ Sicherheit gedeckt waren) konnte nur solange aufrechterhalten werden, wie der Kredit vom König nicht zurückgezahlt wurde.40 In beiden Fällen zeigt sich, dass Märkte für Wertpapiere, die auf Schul-

37 R. Esposito (Souveräne Schuld, S.169) attestiert Staatsschulden den Nimbus einer Heiligkeit, bringt dies allerdings nicht mit Marktprozessen in Verbindung, sondern mit der, im Anschluss an Walter Benjamin, religiösen Struktur des Kapitalismus. 38 Vgl. N. Boy: »Sovereign safety«. 39 N. Boy: »Öffentlichkeit als public credit«, S. 302. 40 Vgl. D. Graeber: Schulden, S. 55.

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den des Staates beruhen – inklusive auf ihnen basierender Währungen – auf der Grundlage einer ›ausstehenden‹ Schuld entstehen. David Graeber geht so weit zu behaupten, dass der unendliche Aufschub der Rückzahlung der Schulden der ultimative Garant des britischen – und jeden nationalen – Währungssystems ist: »Bis heute wurde dieser Kredit nicht zurückgezahlt. Er kann nicht zurückgezahlt werden. Wenn er jemals zurückgezahlt würde, wäre dies das Ende des britischen Währungssystems.«41 Hieraus ergibt sich eine paradoxe Validierungsstruktur von Staatsanleihen. Einerseits begründen Staatsschulden ökonomischen Wert (nämlich als Zahlungswert), indem sie eine Zirkulation in Gang setzen, deren Möglichkeitsbedingung die ›nicht realisierte Rückzahlung‹ der Schulden durch den Staat ist. Staatsschulden müssen somit, ihrer Wertschöpfungslogik nach, zeitlich indeterminiert sein: Kredite an den Staat sind nicht dazu gedacht, zurückgefordert und zurückgezahlt zu werden. Andererseits, und hierauf machen kulturhistorische Arbeiten aufmerksam, muss die Kreditwürdigkeit des Staates auf kontinuierlicher Grundlage kollektiv »akkreditiert« werden,42 d.h. es muss eine ›Sicherheit‹ generiert werden, die für den Wert der Staatsanleihen (und des hierauf errichteten Währungssystems) bürgt. Staatsschulden, obwohl sie nicht zurückgezahlt werden ›dürfen‹, müssen als rückzahlbar ›gelten‹; und umgekehrt erübrigt sich die Forderung nach ›Rückzahlung‹ dann, wenn von ›Rückzahlbarkeit‹ ausgegangen werden kann. In der folgenden Diskussion werde ich diese paradoxe Validierungsstruktur auf ihre Temporalität hin befragen und, im nächsten Abschnitt, auf die Zirkulationsstruktur von Märkten zurückführen. Die Temporalstruktur von Staatsschulden kann man durch eine kurze Diskussion der Unterscheidung von »Kredit« und »Schuld« im Anschluss an David Graeber rekonstruieren.43 Denn Staatsschulden erzielen eine sehr eigentümliche Bindungsqualität, die quer zu der von Graeber dargelegten dualen Bindungslogik ökonomischer Obligationen steht. Graeber unterscheidet zwischen Schuldenund Kreditbeziehung und ordnet ihnen zwei unterschiedliche Typen von Sozialität bei. Die ›Schuldenbeziehung‹ ist hierarchisch strukturiert: 44 Obwohl sie formal auf einer beiderseits freiwillig eingegangenen Abmachung beruht, entsteht 41 Ebd. 42 Vgl. N. Boy: »Öffentlichkeit als public credit«, S. 310-314. 43 Graeber, David: Toward an Anthropological Theory of Value: The False Coin of Our Own Dreams, Basingstoke: Palgrave 2001; ders.: Schulden. – Gustav Peebles (»The anthropology of credit and debt«, in: Annual Review of Anthropology 39 (2010), S. 225-240) bietet einen Überblick über die anthropologische Debatte zu credit und debt, auf die sich Graeber bezieht. 44 Siehe auch M. Lazzarato: »Die amerikanische Universität«; ders.: Governing by Debt.

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eine Asymmetrie, in der in der Regel die Verpflichtungen einzig beim Schuldner liegen. In sehr drastischer Weise zeigt sich diese Asymmetrie in dem Umstand, dass der Schuldner, gerade wenn Schulden weiterverkauft werden können, keine Kontrolle darüber hat, wer sein Gläubiger ist. Zudem ist die Schuldenbeziehung in zeitlicher Hinsicht strikt determiniert, denn sie ist vertraglich vom Fluchtpunkt einer erfolgten Rückzahlung und damit Beendigung der Beziehung her entworfen – eine Beendigung, die Graeber zufolge die Vorbedingung der Wiederherstellung der ursprünglichen Gleichheit ist, die temporär aufzuheben sich Schuldner und Gläubiger vertraglich geeinigt haben.45 Die Kreditbeziehung ist dagegen, Graeber zufolge, eher horizontal strukturiert, beruht auf Gegenseitigkeit, ist sozial eingebettet und daher nicht auf eine Terminierung hin angelegt. Graebers historischen Rekonstruktionen zufolge – insbesondere in Bezug auf Mesopotamien46 – ging die Kreditbeziehung dem geldvermittelten Tausch voraus: Es handelt sich um eine Praxis des wechselseitigen ›Anschreibenlassens‹, bei der ›Geld‹ einzig in seiner Funktion als Rechnungseinheit zum Tragen kam. Auf diese Weise, so macht Graeber deutlich, 47 reicht die Kreditbeziehung nahe an Sozialität unter einander Nahestehenden heran, deren Beziehungen untereinander so gestaltet werden, als würden sie niemals enden.48 Staatsschulden im modernen Sinne nun verbinden in ihrer paradoxen Validierungsstruktur – als rückzahlbar zu gelten, ohne zur Rückzahlung gedacht zu sein – Bindungs- und Zeitlichkeitsaspekte der Schulden- und der Kreditbeziehung miteinander. Einerseits nehmen Staatsanleihen Bezug auf eine Kreditlogik, insofern sie nicht auf ihre Rückzahlung hin entworfen sind. 49 Die Bindungslogik, die von Darlehen an den Staat angerufen wird, ist die einer dauerhaften Bindung, der eine dauerhafte Validierung der Kreditwürdigkeit des politischen Gemeinwesens entspricht, auf der sowohl die budgetäre wie die symbolische Souveränität des politischen Gemeinwesens gründet. Erst auf dieser Grundlage können Staatsanleihen in Zirkulation gehalten werden und die Funktion von Geld an45 Vgl. D. Graeber: Toward an Anthropological Theory of Value, S. 217-228. 46 D. Graeber: Schulden, S. 24, 45f.; vgl. Echterhölter, Anna: »Im Zweistromland der Geldentstehungstheorie. Neutralität und quantifizierte Schuld bei Karl Polanyi und David Graeber«, in: Macho, Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten (2014), S. 343-365. 47 Vgl. D. Graeber: Toward an Anthropological Theory of Value, S. 217-228. 48 Vgl. D. Graeber: Schulden, S. 107. 49 Genauer gesagt ergibt sich dies aus der Unterstellung, dass der Staat fähig sei, bei Ablauf bestehender Staatsanleihen selbige zurückzukaufen und zugleich neue Anleihen auszugeben.

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nehmen, d.h. als ein Zahlungsmittel wie auch als ein Wertspeicher gelten. Andererseits aber rufen diejenigen Marktstrukturen, die die Zirkulation von Bonds erst ermöglichen, zumindest implizit die Struktur und Temporalität der Schuldenbeziehung auf den Plan. Ihrer rechtlich-formalen Gestalt nach sind Staatsanleihen Kredite, die am Ende der Laufzeit unter Einbeziehung der Verzinsung vom Staat zurückgefordert werden können. Insofern sie auf Märkten zirkulieren, implizieren sie die grundlegende Asymmetrie, dass die Schuldner wenig oder keine Kontrolle über die Wahl ihrer Gläubiger haben.50 Man muss daher abschließend die Rolle von Marktzirkulation bei der Konstitution wie der Unterlaufung der Souveränität von sovereign debt genauer betrachten.

6. D IE R OLLE VON B ONDMÄRKTEN IN DER AKKREDITIERUNG SOUVERÄNER D AUER Es wurde in diesem Artikel bereits auf jene kulturgeschichtlichen Studien hingewiesen, welche sich mit den kulturellen Grundlagen der Kreditwürdigkeit von Staaten befassen. Hierzu hat Nina Boy die These vorgelegt, dass die zunehmende Legitimität von Staatsschulden, die sie in zunehmend attraktive Wertpapiere transformierte, mit einer Transformation der kulturellen Möglichkeitsbedingungen von Glaub- und Kreditwürdigkeit seit dem 18. Jahrhundert zusammenhänge. Diesem Argument zufolge wurden sowohl im Bereich öffentlicher Wertzirkulation wie im Bereich kultureller Produktion im Laufe des 19. Jahrhunderts die Parameter von Glaubwürdigkeit weniger mit Faktizität als mit plausibler Möglichkeit korreliert. So wie der realistische Gesellschaftsroman Glaubwürdigkeit beanspruchte, indem er Welten erzeugte, die zwar fiktiv, aber möglich waren, beruhte auch die ›Sicherheit‹ von Wertpapieren auf einer »Akkreditierung«, 51 die sich auf die Wirksamkeit von Wertfiktionen verließ, statt nach der Sicherheit der Papiere zu fragen. Vor diesem Hintergrund legt die »unwirksame[n] Denunziation« des fehlenden Sicherheitssubstrats von Staatsschulden, die Boy anhand von Debatten im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts nachzeichnet, 52 nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Postulat risikoloser Anlagen und dem Postulat staatlicher Souveränität und Autonomie gibt. Letztere zeigen sich gerade in der fehlenden Notwendigkeit, dass der Staat rigorose Auskunft über die Sicherheit seiner Schulden gibt. Staaten gelten im Gegenteil als voll souve-

50 Vgl. J. Vogl: Der Souveränitätseffekt, S. 69-105. 51 Vgl. N. Boy: »Öffentlichkeit als public credit«, S. 310. 52 Vgl. Ebd., S. 312.

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rän, d.h. auch im budgetären Sinne, dann, wenn sie eine solche Darlegung vermeiden können, ohne dass dies an der ›sovereign safety‹ ihrer Schulden etwas ändert.53 Diesem Argument, dem zufolge die Kreditwürdigkeit eines Staates letztlich auf eine »neue Toleranz und kollektive Beglaubigung von Fiktionen« 54 begründet wird, ist nun eine Betrachtung der Praxis der finanzmarktlichen Zirkulation von Staatsanleihen hinzuzugesellen. Nicht nur fungierte der Aktienmarkt spätestens seit dem 18. Jahrhundert als Vermehrer der Liquidität von Staatskrediten, indem große, Aktien ausgebende Gesellschaften (oftmals Kolonialgesellschaften) ihre Börsenkapitalisierung in Form von Darlehen an den Staat weitergaben.55 Vielmehr lassen sich, so Boy,56 im 20. Jahrhundert verschiedene Schritte identifizieren, die den Nimbus von Staatsanleihen als risikolosen Anlagen festigten und die, wie hier hervorzuheben ist, samt und sonders im Kontext finanzmarktlicher Zirkulationsprozesse und ihrer Konzeptualisierung durch Marktteilnehmer stehen. Erstens traten Staatsschulden in der Funktion eines liquid government bond auf, d.h. sie wurden als Zahlungs- und Investitionsmittel genutzt. Zweitens wurde ihnen von der Seite der aufstrebenden Finanzökonomik die kalkulatorischheuristische Qualität eines risk-free asset zugeschrieben: Tobin führte dieses Konstrukt 1956 in die Portfolio-Theorie ein, um unterschiedliche Risikoprofile einzelner Wertpapiere und von Portfolios zu modellieren. Durch diese Herstellung von Vergleichbarkeit zwischen Staatsanleihen und anderen Wertpapieren stieg zudem ihre Konvertibilität und damit Zirkulierbarkeit. 57 Drittens, so Boy, wurde die ›sovereign safety‹ von Staatsanleihen in Zeiten finanzökonomischen Niedergangs valorisiert, insofern Staatsanleihen als vergleichsweise sichere Anlagen galten und damit in ihrer Funktion als Wertspeicher stark aufgewertet wurden. Boys Rekonstruktion lässt sich auf das Argument zuspitzen, dass die ›Akkreditierung‹ des Staates als ultimativ kreditwürdiger Schuldner in maßgeb53 Ein schlagendes Beispiel für diese Art von nicht durch ökonomische Sicherheiten hinterlegte Kreditwürdigkeit und Souveränität sind die Vereinigten Staaten, die Staatsanleihen auf Bondmärkten zirkulieren, deren Gegenwert das Bruttoinlandsprodukt um ein Vielfaches übersteigt. Die Kreditwürdigkeit des amerikanischen Staates und die ›Akkreditierung‹ seiner souveränen Dauer beglaubigen sich wechselseitig. 54 Ebd., S. 314. 55 Vgl. Ebd., S. 303f. 56 Siehe für den Rest des Absatzes N. Boy: »Sovereign safety«, S. 534-538. 57 Vgl. D. Beunza/I. Hardie/D. MacKenzie: »A Price is a Social Thing: Towards a Material Sociology of Arbitrage«, in: Organization Studies 27 (5), 2006, S. 721-745.

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licher Weise durch Märkte für Staatsschulden bewerkstelligt wird, welche wie Finanzmärkte organisiert sind. Denn solche Märkte verschieben die Orientierung der Gläubiger von der Frage, worin die substantielle Sicherheit der Anleihen besteht, auf die Frage, ob es möglich ist, für diese Anleihen andere Käufer zu finden. Birger Priddat zufolge wird durch die Entstehung von Kreditmärkten die asymmetrische, auf einseitig eingeforderten Obligationen beruhende Beziehung zwischen Schuldner und Gläubiger dynamisiert und in den Horizont potenziell unendlich vieler Dritter – nämlich der Käufer der Anleihen – eingestellt. Solange die Marktzirkulation von Krediten funktioniert, besteht folglich kein Anlass, die Person des Schuldners kritisch zu hinterfragen, weil »der moderne Kredit über einen Vertrauensoperator läuft, während die älteren Formen auf Verpflichtungsstrukturen beruhen.«58 Im Falle von Bondmärkten bedeutet dies, dass durch die Marktzirkulation die Aufmerksamkeit von der ›Sicherheit‹ des Staates abgezogen wird und sich stattdessen auf die Plausibilität der Annahme richtet, Käufer für die Anleihen finden zu können.59 Ist diese Plausibilität gegeben, muss ein Verkauf nicht mehr stattfinden. Zugleich erklärt sich so die paradoxe Validierungs- und Akkreditierungsstruktur von Staatsanleihen als rückzahlbar und nicht rückzahlbar: Ihre Rückzahlbarkeit wird durch ihre Zirkulation als Zahlungsmittel, Investition und Wertspeicher sowohl aufgeschoben wie kompensiert. Für ihren Wert bürgt keine Garantie der Rückzahlung des Kredits durch den Staat, sondern die Glaubwürdigkeit der Annahme, jederzeit Käufer für die Wertpapiere zu finden. Solange verkauft werden könnte, muss nicht verkauft werden.

7. Z USAMMENFASSUNG : D IE ( FINANZ -) ÖKONOMISCHEN G RUNDLAGEN SOUVERÄNER D AUER Die Souveränität vieler gegenwärtiger Staaten – ihr Vermögen, ihr Budget auf Bondmärkten zu erheben, und ihre Behauptung souveräner Dauer – wird durch ein Ineinandergreifen von zukunftsorientierter und gegenwartsorientierter Finanzmarkttemporalität bewirkt. Während die Fiktion von Staatsanleihen als risikoloser Anlage ihre Kraft aus dem imaginativen Potenzial der Zukunftsorientierung finanzmarktlichen Handels zieht, sorgen Märkte dafür, dass diesem imagi-

58 Priddat, Birger P.: »Schuld, Schulden, Kredit. Der Beginn ökonomischer Moderne «, in: Macho, Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten (2014), S. 95-104, hier S. 101. 59 Vgl. A. Langenohl: Collateralized polities.

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nativen Potenzial durch eine strikt rationalistisch-ökonomische Logik sekundiert wird, der zufolge die ›Sicherheit‹ von Staatsanleihen in der ökonomischen Gewissheit besteht, jederzeit für sie Käufer am Markt finden zu können. So zeigt sich am Beispiel von Staatsanleihen und ihren Märkten, dass der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden temporalen Logiken von Zukunfts- und Gegenwartsorientierung eben genau dies ist – ein scheinbarer. Tatsächlich greifen diese Logiken in wechselseitiger Verstärkung ineinander: Das imaginative Potenzial von Zukunftsorientierung – d.h. die Annahme, dass Staatsanleihen auch in der Zukunft sicher sein werden – nährt ihre Marktgängigkeit als ökonomisch rationale Investitionen, und umgekehrt vergewissert diese Marktgängigkeit die Investoren in Bezug auf die Richtigkeit jener Annahme, dass Staatsanleihen risikolose Anlagen seien. Die eigentümliche Bindungswirkung von Staatsanleihen – nämlich die Unterstellung, dies seien Produkte ›ohne Ablaufdatum‹, die somit im Prinzip ›auf unbestimmte Zeit‹ gehalten werden könnten – beruht also letztendlich auf einem Zusammenspiel einer imaginativen und einer kalkulatorischen Finanzmarktlogik. Erst dieses Zusammenspiel ermöglicht es Staaten, Souveränität als Budgetsouveränität und als Behauptung souveräner Dauer zu beanspruchen. So gesehen beruht souveräne Dauer auf einem Zusammenspiel höchst ›unpolitischer‹ Orientierungen, nämlich einer imaginativen Kreditwürdigkeit und eines rational-ökonomischen Kalküls.

Algorithmen der Zukunft Big Data, Sensordaten und mobile Medien R AMÓN R EICHERT

Digitale Kulturtechniken bestimmten heute maßgeblich die Herstellung von Zukunftswissen. Die Konvergenz von mobilen Medien, Sensornetzwerken, digitalen Datenvisualisierungen und den Anwendungen des social web hat dazu geführt, dass Algorithmen eng mit dem monitoring und mapping des Alltags und der Lebenswelt von Mediennutzern verknüpft sind. Algorithmen werden auf unterschiedliche Weise genutzt, um das Verhalten von Mediennutzern zu analysieren und prognostisch darzustellen. Dabei kommen eine Vielzahl statistischer Techniken und Verfahren zur Anwendung, welche die erhobenen Daten sowohl als individuelle als auch als kollektive Messgrößen verwerten können. Auf den ersten Blick stellen die technisch-medialen Infrastrukturen und die rechnerbasierten Verfahren der digitalen Datenanalytik neuartige Modellierungen des Zukunftswissens in Aussicht. Denn die digitalen Infrastrukturen der sich selbst organisierenden ad-hoc-Netze1 und der kontextbasierten Softwaresysteme zeigen auf, dass Mediengebrauch nicht länger als Unterwerfung und Anpassungsleistung einer ›ursprünglichen‹ Subjektivität angesehen werden kann, denn die neuen »Verstehensformen von Subjektivität« 2 sind maßgeblich von den Technologien der Vernetzung und dem Internet als technisches Artefakt geprägt. Andererseits muss eingeräumt werden, dass Algorithmen nicht nur als neutrale Agenten im Auftrag eines technischen Dezisionismus wirksam sind. Denn sie sind interpretatorischen Grundannahmen unterworfen, welche sie in prozesshaf1

Ad-hoc-Netze sind in sich geschlossene Netzwerke ohne verwaltende Infrastruktur, die sich selbsttätig organisieren und keine Hierarchie aufweisen.

2

Paulitz, Tanja: Netzsubjektivität/en. Konstruktionen von Vernetzung als Technologien des sozialen Selbst. Eine empirische Untersuchung in Modellprojekten der Informatik, Münster: Westfälisches Dampfboot 2005, S. 40.

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ten Spielräumen reproduzieren. In diesem Sinne wird die algorithmische Berechnung von Entscheidungszukunft in der Online-Nutzung immer auf der Basis deutungsbasierter Forschungsrahmen getroffen, weshalb Algorithmen keine ›Entbergung‹ der sozialen Realität leisten. Das von ihnen erzeugte prognostische Wissen kann folglich auch keine feststehende Rahmung der Zukunft im Sinne einer lückenlosen Planung anbieten. Denn die statistischen Berechnungen und die Auswertungsverfahren von Nutzungsaktivitäten kreisen um mathematische Optimierungsprobleme, welche die sozialen Netzwerkdaten als instabil, schwach strukturiert und unzyklisch in ihrer Mediendynamik erscheinen lassen. Zur Veranschaulichung der Bandbreite algorithmischer Datenpraktiken werden zwei repräsentative Anwendungsfelder untersucht. (1) Die Geschäftsmodelle von Online-Portalen und KommunikationsPlattformen basieren hauptsächlich auf personalisierenden Algorithmen, mit denen versucht wird, digitale Oberflächen für ein Subjekt zu entwerfen, für das eine Optimierung von Kaufentscheidungen erstellt wird. Der hier ermittelte Subjektstatus stellt eine technische Größe dar, die genuin Nutzungsaktivitäten kumuliert, aber oft mit einem sozial-realistischen Mehrwert aufgeladen wird: Man erwartet, dass Nutzungsaktivitäten einen Rückschluss auf die soziale Welt erlauben. Die mit Hilfe der digitalen Kulturtechniken in Aussicht gestellte Durchdringung aller Lebensbereiche ist aber nicht gleichbedeutend mit einem ›immediaten‹ und ›direkten‹ Zugriff auf die medial hypostasierte Lebenswelt der Subjekte. Die Medien können die Bedingungen der Möglichkeit, ein bestimmtes Leben zu führen, weder ursächlich determinieren noch letztlich rechtfertigen. Dieser Gedanke hat weitreichende Folgen. Denn er verdeutlicht, dass algorithmenbasiertes tracking und monitoring keine ›unmittelbaren‹ Zukunftssicherungen von Nutzungsaktivitäten in Aussicht stellen kann, weil sich die Anwender in digitalen Umgebungen immer auch als Teilnehmende und Handelnde reflektieren und in ihrer reflektierenden Auseinandersetzung mit den technisch-medialen Infrastrukturen spezifische Anpassungsleistungen einbringen. Die beim sogenannten predictive targeting verwendeten Algorithmen setzen jedoch ein primordial gegebenes Subjekt voraus, das im Möglichkeitsraum spezifischer Bedürfnisse, Interessen und Kaufentscheidungen adressiert werden kann. Die Modellierung von individuellen Präferenzen bei kommerziellen Prognosen behaupten kein zuverlässiges Zukunftswissen und verfahren mit dem Ansatz von trial and error. Um den (informations-)politischen Stellenwert von Algorithmen thematisieren zu können, ist es in diesem Zusammenhang wichtig, digitale Medien in ihrem Verhältnis von Benutzeroberfläche (front end) und ihrer Tiefenstruktur (back end, das ist der Datenraum im Back-End-Bereich) zu erschließen.

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(2) Der zweite Teil dieses Beitrags untersucht Anwendungen, die Algorithmen zur Herstellung von sozialen Steuerungsprozessen einsetzen. 3 Mittlerweile häufen sich prognostische Big-Data-Analysen4, welche die schriftbasierte Kommunikation5 der Sozialen Medien untersuchen, um Wahlentscheidungen6, politische Einstellungen7, Finanztrends und Wirtschaftskrisen8 , Psychopathologien9,

3

Vgl. Gillespie, Tarleton: »The Relevence of Algorithms«, in: Tarleton Gillespie/Pablo Boczkowski/Kirsten Foot (Hg.), Media Technologies, Cambridge, MA: MIT Press 2014, S. 347–364.

4

Die maßgebliche Ausrichtung des Big-Data-Ansatzes besteht darin, polystrukturierte Datenmengen großer Kollektivitäten mittels hochskalierbarer Methoden und Technologien zu erfassen. Diese großen Datenmengen werden mittels intelligenter Systeme in komplexen Aufzeichnungs- und Speicherungsverfahren erfasst und automatisiert in Relationierungstechniken verknüpft und schließlich in Echtzeit in Informationsvisualisierungen weiterverarbeitet. Vgl. LaValle, Steve/Lesser, Eric/Shockley, Rebecca/Hopkins, Michael S./Kruschwitz, Nina: »Big Data, Analytics and the Path From Insights to Value«, in: MIT Sloan Management Review 52(2) (2011), S. 20-30, hier S. 30.

5

Die textuellen Daten der Sozialen Medien sind die am schnellsten wachsenden Datenquellen der Gegenwart. Vgl. Manyika, James/Chiu, Michael/Brown, Brad/Bughin, Jaques/Dobbs, Richard/Roxburgh, Charles/Hung Byers, Angela (2011): Big Data: The next frontier for innovation, competition, and productivity, New York: McKinsey Global Institute. 2011. Die verfügbaren Daten in Textform (Blogs, Chats, Tweets, Reviews, Query Logs u.a.) enthalten eine Vielzahl von Informationen, die von Datenauswertungssystemen genutzt werden, um Zukunftswissen in Echtzeitanalysen zu modellieren: »Twitter, Facebook and other social media encourage frequent user expressions of their thoughts, opinions and random details of their lives. Tweets and status updates range from important events to inane comments. Most messages contain little informational value but the aggregation of millions of messages can generate important knowledge«. Paul, Michael J./Dredze, Paul: »You Are What You Tweet: Analyzing Twitter for Public Health«, in: Proceedings of the Fifth International AAAI Conference on Weblogs and Social Media (2011), S. 1, online: http://www.cs.jhu. edu/~mpaul/files/2011.icwsm.twitter_health.pdf (letzter Zugriff: 20.11.2017).

6

Vgl. Gayo-Avello, Daniel: »No, You Cannot Predict Elections with Twitter«, in: IEEE Internet Computing 16 (2012), S. 91-94.

7

Vgl. Conover, Michael D./Goncalves, Bruno/Flammini, Alessandro/Menczer, Filippo: »Partisan Asymmetries in Online Political Activity«, in: EPJ Data Science 1(6) (2012), online: https://epjdatascience.springeropen.com/articles/10.1140/epjds6 (letzter Zugriff: 20.11.2017).

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Aufstände und Protestbewegungen10 und anderes frühzeitig vorherzusagen: »Analysts and consultants argue that advanced statistical techniques will allow the detection of on-going communicative events [natural disasters, political uprisings] and the reliable prediction of future ones [electoral choices, consumption].«11 Von einer systematischen Auswertung der Big Data erwarten sich die Prognostiker eine effizientere Unternehmensführung bei der statistischen Vermessung der Nachfrage- und Absatzmärkte, individualisierte Serviceangebote und eine bessere gesellschaftliche Steuerung. Einen großen politischen Stellenwert hat vor allem die algorithmische Prognostik kollektiver Prozesse. Die politische Kontrolle sozialer Bewegungen verschiebt sich hiermit in das Netz, wenn etwa Soziologen und Informatiker gemeinsam an der Erstellung eines riot forecasting mitwirken und dabei auf die gesammelten Textdaten von TwitterStreams zugreifen: Due to the availability of the dataset, we focused on riots in Brazil. Our datasets consist of two news streams, five blog streams, two Twitter streams [one for politicians in Brazil and one for general public in Brazil], and one stream of 34 macroeconomic variables related to Brazil and Latin America.12

Das social web ist in der Tat zur wichtigsten Datenquelle zur Herstellung von Kontroll- und Planungswissen geworden. Das vor diesem Hintergrund im zweiten Teil untersuchte Anwendungsfeld der public health governance erweitert die 8

Vgl. Gilbert, Eric/Karahalios, Karrie: »Widespread Worry and the Stock Market«, in: 4th International AAAI Conference on Weblogs and Social Media (ICWSM), Washington, DC: George Washington University 2010, S. 58-65; Zhang, Qi (2012): »Cloud computing: state-of-the-art and research challenges«, in: Journal of Internet Services and Applications 1/1, S. 7-18.

9

Vgl. Wald, Randall/Khoshgoftaar, Taghi M./Sumner, Chris (2012): »Machine Prediction of Personality from Facebook Profiles«, in: 13th IEEE International Conference on Information Reuse and Integration 2012, S. 109-115.

10 Vgl. Sitaram Asur/Bernardo A. Huberman: »Predicting the Future with Social Media«, in Proceedings of the 2010 IEEE/WIC/ACM International Conference on Web Intelligence and Intelligent Agent Technology, Vol. 1. IEEE Computer Society 2010, S. 492-499. 11 Burgess, Jean/Puschmann, Cornelius (2013): »The Politics of Twitter Data«, 2013, S. 4, siehe: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2206225 (letzter Zugriff: 20.11.2017). 12 Yogatama, Dani, »Predicting the Future: Text as Societal Measurement«, 2012, online: http://www.cs.cmu.edu/~dyogatam/Home_files/statement.pdf, S. 3.

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Perspektive personalisierender Algorithmen und verdeutlicht, in welchem Ausmaß Gesundheitsdaten aus Mobilitäts- und Kommunikationsdaten gewonnen werden und zur Zukunftssicherung von Risiko- und Vorsorgediskursen verwendet werden.

1. P RÄFERENZMODELLIERUNGEN P REDICTIVE T ARGETING

DES

In plattformbasierten Gesellschaften stellen Soziale Medien eine relevante Datenquelle zur Modellierung von sozialen und kulturellen Präferenzen dar. Von der Sammlung und Auswertung der Daten erwarten sich die Vertreter der digitalen Soziologie Einblicke in die Beziehungspraktiken und die Werteorientierungen der in soziale Netzwerke eingebundenen Akteure. Die Grundlage der digitalen Datenkumulation schaffen die technisch-medialen Plug-in-Strukturen im Bereich der interaktiven Bedienoberflächen. Das Marketing wächst im Internet zu einer entscheidenden Größe sozialer Regulation und die neuen Kontrollformen bedienen sich des consumer profiling. Beim Predictive Targeting werden die Nutzungsgewohnheiten von OnlineRezipient/innen analysiert, um zielgerichtete Werbung auf ein spezifisches Konsumverhalten abzustimmen. Vor diesem Hintergrund entwickelte Microsoft ein Profiling-System, das soziometrische Daten wie etwa Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung mit möglichst großer Wahrscheinlichkeit kompilierte. Der Wirkungsbereich dieser sozialen Software umfasst zwei Bereiche: als ›Medium‹ vermittelt sie Prozesse und bewirkt eine Virtualisierung und Entgrenzung von Kommunikation; als ›Werkzeug‹ greift sie strukturbildend in Zusammenhänge ein, bleibt aber selbst interpretationsbedürftig: »The information architectures and classification tools that underlie many of the new technologies impacting on front-line practice are designed by a small elite, with decisions on what is represented and what is not.«13 Die Online-Plattform Facebook nutzte als erste große social community eine eigens entwickelte predictive targeting technology und ermöglichte somit das Einblenden von personalisierter Werbung. Die von Facebook verwendeten Algorithmen evaluieren bis heute Nutzungsgewohnheiten, private Interessen und demografische Merkmale und erstellen ein statistisches Relief pluraler und flexibler Subjektivität, dessen Zukunftssicherung kurzfristig angelegt ist: In Echtzeit

13 Webb, Stephen: Social Work in a Risk Society. Social and Political Perspectives, Houndmills: Palgrave Macmillan 2006, S. 165.

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werden Nutzungsaktivitäten ausgewertet und mit hierarchisch geordneten Empfehlungen verknüpft. Diese Technologie kombiniert mehrere targetingStrategien und integriert Verfahren der Geolokation, die IP-Adressen ihrer geografischen Herkunft zuordnet, mit Verfahren der prognostischen Verhaltensanalytik. Hier werden Messdaten aus dem Surfverhalten mit Befragungs- oder Registrierungsdaten der eingeloggten Mitglieder kombiniert. Am Beispiel des im Jahr 2009 von den Facebook-Entwicklern eingeführten Like-Buttons kann aufgezeigt werden, dass soziale und kulturelle Präferenzen aktiv von technischmedialen Infrastrukturen konstruiert werden. Präferenzen werden von technischen Agenten nicht nachträglich ›eingesammelt‹, sondern initiiert. Insofern verweisen sie nicht auf eine soziale Welt außerhalb der plattformbasierten Kommunikationsgemeinschaft, sondern können als ein Effekt der InterfaceArchitektur im Frontend-Bereich angesehen werden. Der Like-Button ermöglicht es Facebook-User/innen mit einem One-ClickBefehl ein positives Feedback zu den Aktivitäten anderer User/innen – zu Links, Statusmeldungen, Kommentaren – zu signalisieren. Der Like-Button ist ein zentrales Social-Plug-in der Kommunikation auf Facebook und steht nicht nur für soziale, sondern auch für effektive Kommunikation. Denn keine andere Funktion ermöglicht den User/innen eine derart einfache Möglichkeit zur niedrigschwelligen und zeitsparenden Zustimmung. In der Perspektive der Back-End-Strategie fungiert der Like-Button aber in erster Linie als ein sehr ergiebiger Datensammler und funktioniert wie ein kleines tracking tool. So ordnet der Like-Button die durch ihn generierten Daten dem personalisierten Profil zu und legt sie dort als individuelle Präferenz ab. Seit 2010 ist es möglich, den Like-Button nicht nur als share-icon zu benutzen, sondern er wurde auch auf externen Webseiten implementiert, um bestimmte Inhalte zu liken.14 Für Facebook-Nutzer/innen, die mit dem Like-Button verlinkte Webseiten besuchen und zugleich bei Facebook eingeloggt sind, wird ein automatisch erstelltes Ereignisprotokoll mit Hilfe einer Logdatei erstellt, die bestimmte Aktionen von Prozessen auf dem benutzten Computersystem speichert. Mit dem externen Like-Button konnte sich eine neue »Like Economy« 15 etablieren, die folgende Prozeduren der Datenerfassung und -verarbeitung versammelt: Alle von den User/innen getätigten Aktivitäten in Bezug auf diesen Link können auf die jeweilige URL zurückverfolgt werden. Die Facebook-User/innen sind nur Mittel zum Zweck, um sich auch den Datenver14 Vgl. Gerlitz, Carolin: »Die Like Economy«, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: transcript, S. 101-122, hier S. 102. 15 Carter, Brian: The Like Economy: How Businesses Make Money With Facebook, Indianapolis, Indiana: Que Publishing 2011.

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kehr von User/innen, die selbst kein eigenes Facebook-Profil besitzen, erschließen zu können. Denn mit Hilfe von Cookies der Like-Buttons auf den externen Websites kann auch das gesamte Web-Nutzungsverhalten von Nicht-Mitgliedern erfasst werden. Der externe Like-Button kann folglich als eine transversale Wissenstechnik verstanden werden, welche die Datenverkehrsanalyse auf endlich erweiterbare Websites ausdehnt. Somit generieren digitale Aufzeichnungs-, Speicher- und Kontrolltechnologien wie Protokolldateien, Cookies und LikeButtons personalisierte und kollektive Datenarchive für Facebook. Zur kommerziellen Bewirtschaftung von Online-Profilen und Online-Datenkollektiven müssen diese verstreuten Datensammlungen schließlich nur noch zusammengesetzt werden. Die Prognosemodelle des Data Facebook Teams16 erfolgen den Anspruch, aus den Auswertungen von Likes auf datenkumulative Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen zu schließen. Eine großangelegte Studie, die auf den Daten von mehr als 58.000 US-Bürgern basierte, die mit der Nutzung der FacebookApp myPersonality personenbezogene Informationen ›freiwillig‹ zur Verfügung stellten, sollte folgendes Problem lösen: Ist es möglich, aus der positiven Zustimmung zu bestimmten Online-Inhalten wie Fotos und Statusmeldungen, populären Websites und zu Facebook-Seiten in den Bereichen Produkte, Sport, Musik, Bücher oder Restaurants bestimmte biografische Indikatoren herauszufiltern, die bestimmend für künftige Kaufentscheidungen sind? In diesem Zusammenhang wurde die Auswertung der Likes mit sozialempirischen Indikatoren verknüpft: So sollte aus den Likes die ethnische Zugehörigkeit, die politische Einstellung, die religiöse Überzeugung, der Beziehungsstatus, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder der Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum der beteiligten Nutzer herausgelesen werden können. Zahlreiche Kritiker dieser Online-Forschung haben reklamiert, dass Likes für eindeutige Inhalte kein zuverlässiges Datum für die persönliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe darstellen müssen.17 So wurde bereits in der Studie die Problematik angesprochen, dass Likes der Facebook-Gruppen zu expliziten ›Gay‹-Themen weniger aussagekräftig über eine attestierte sexuelle Orientierung waren als zu bestimmten Facebook-Gruppen, die in der ›Gay-Community‹ populär waren, wie beispielsweise die Seiten zu Britney Spears. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Likes nicht unbedingt personenbezogene Wahrheitsbezüge und -diskurse markieren, sondern fluide und temporäre Popularitätswerte anzeigen, mit denen sich eine Community verständigt. In diesem Sinne firmieren Likes 16 Vgl. Facebook Data Science, online: https://www.facebook.com/data/ (letzter Zugriff: 20.11.2017). 17 Vgl. Backstrom, Lars: Anatomy of Facebook, Palo Alto, CA: Facebook 2011.

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weniger als Individualrepräsentationen, sondern als Indikatoren, mit Hilfe derer Distinktionen der Zugehörigkeit organisiert werden. Angesichts dessen muss gefragt werden, ob Facebook überhaupt Prognosen tätigt, das heißt ob Facebook tatsächlich Handeln mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit voraussagen kann. Kurz gesagt: Damit Soziale Medien prognosefähig bleiben, müssen sie offen sein für die performativen Umarbeitungen ihrer Nutzer, sie müssen fähig sein, der Zukunft ihrer Nutzer selbst einen Raum zu geben, ohne sie einfach deterministisch zu verplanen. Dieser Ausblick darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die algorithmische Profilbildung des predictive targeting auf Wissenstechniken beruht, die sich auf binäre Unterscheidungen stützt, wie beispielsweise die Geschlechtszugehörigkeit; die mit quantitativen Skalierungen operieren, wie etwa hierarchische Ranking-Techniken oder die auf die Erstellung qualitativer Profile abzielen wie das Aufzeigen kreativer Fähigkeiten und Begabungen in ›freien‹ Datenfeldern. Profile reproduzieren einerseits soziale Normen und bringen andererseits auch neue Formen von Individualität hervor. Sie verkörpern den Imperativ der permanenten Selbstentzifferung auf der Grundlage bestimmter Auswahlmenüs, vorgegebener Datenfelder und eines Vokabulars, das es den Individuen erlauben soll, sich selbst in einer boomenden Bekenntniskultur zu verorten. Das ›bedienerfreundliche‹ Profiling besteht in der Regel aus sogenannten Tools, das sind Checklisten, Fragebögen zur Selbst-Evaluierung, analytische Rahmen, Übungsabschnitte, Bilanzen, Statistiken mit Kommentar, Datenbanken, Listen von Adressen und pädagogische Module zur Ermittlung individueller Fähigkeiten, Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen. Kommerzielle Suchmaschinen analysieren mittels predictive targeting die Profile ihrer Nutzer. Diese Suchtechnologie erlaubt es, auf verhaltensorientierte Kriterien wie Produkteinstellung, Markenwahl, Preisverhalten, Lebenszyklus zu reagieren und relevante Werbung zu schalten. Das predictive targeting evaluiert kontinuierliche Nutzungsgewohnheiten, private Interessen und demografische Merkmale und erstellt damit ein statistisches Relief pluraler und flexibler Subjektivität.18 Das wesentliche Merkmal des digitalen Targeting ist der Sachverhalt, dass das Individuum nur noch als dechiffrierbare und transformierbare Figur seiner Brauchbarkeiten in den Blick kommt. Es erzeugt ein multiples und »dividuelles Selbst«19, das zwischen Orten, Situationen, Teilsystemen und Grup18 Vgl. Castelluccia, Claude: »Behavioural Tracking on the Internet: A Technical Perspective«, in: Serge Gutwirth et al. (Hg.), European Data Protection. Good Health?, New York/London: Springer Verlag 2012, S. 21-33. 19 Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier S. 260.

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pen oszilliert – ein Rekurs auf eine personale Identität oder ein Kernselbst ist unter dividuellen Modulationsbedingungen nicht mehr vorgesehen. Predictive targeting ist Bestandteil umfassender Such- und Überwachungstechnologien im Netz: Das data mining ist eine Anwendung von statistischmathematischen Methoden auf einen spezifischen Datenbestand mit dem Ziel der Mustererkennung und beschränkt sich nicht auf die in der Vergangenheit erhobenen Daten, sondern erfasst und aktualisiert die Daten bei jedem Besuch im Netzwerk erneut in Echtzeit. Die im Internet geläufigen surveillance tools ermöglichen es dem E-Commerce-Business, die jeweiligen Zielgruppen im Internet spezifischer zu identifizieren und gezielter zu adressieren. Mit dem digitalen Regime hat sich die computergestützte Rasterfahndung auf die Allgemeinheit ausgeweitet. Professionelle und kommerziell orientierte consumer profiler, die sowohl für das Marketing als auch für das e-recruiting arbeiten, vollziehen eine Transformation des polizeilichen Wissens und sammeln ihr Wissen über die privaten Gewohnheiten der Bürger/innen mit der Akribie geheimdienstlicher Methoden. Bemerkenswert an dieser neuartigen Konstellation ist die emphatische Verankerung der Ökonomisierung des ›menschlichen‹ Faktors in weiten Bereichen des sozialen Lebens: »Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.«20 In der Argumentation von Gilles Deleuze wird nochmals deutlich, dass das numerische Prinzip als Metapher für das Funktionieren neuer gesellschaftlicher und ökonomischer Ordnungsstrukturen verwendet wird. Die neue Sprache der prognostischen Kontrolle besteht – nach Deleuze – aus Nummernkombinationen, Passwörtern oder Chiffren und organisiert den Zugang zu oder den Ausschluss von Informationen und Transaktionen. Soziale Organisationen werden wie Unternehmen geführt und werden nach der numerischen Sprache der Kontrolle kodiert: vom Bildungscontrolling bis zur Rankingliste. Im Unterschied zur klassisch analogen Rasterfahndung geht es beim digitalen data mining nicht mehr um die möglichst vollständige Sammlung der Daten, sondern um eine Operationalisierung der Datenmassen, die für prognostische Abfragen und Auswertungen effektiv in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Es verändert nicht nur die Wissensgenerierung persönlicher Daten und Informationen, sondern auch die Prozesse sozialer Reglementierung. Insofern erzeugt das computergestützte predictive targeting mehr als eine technische Virtualisierung von Wissensformen, denn es transformiert nachhaltig das Konzept des Raums, was zur Folge hat, dass sich das Raster vom topografischen Raum verflüchtigt und an seine Stelle der topologische Datenraum tritt. Dieser topolo20 Ebd.

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gische Datenraum steht in Opposition zur Anwendungsschicht, die dem Kommunikationsraum der Nutzer/innen entspricht. Das futurische Wissen, das aus der statistischen Erhebungsmethode des data mining, der Visualisierungstechnik des data mapping und des systematischen Protokollierungsverfahrens des data monitoring besteht, ist konstitutiv aus der Anwendungsschicht ausgeschlossen und den Nutzer/innen nicht zugänglich. Damit basiert das Zukunftswissen der sozialen Netzwerke auf einer asymmetrisch verlaufenden Machtbeziehung, welche sich in die technische Infrastruktur und in den Aufbau des medialen Dispositivs verlagert hat.

2. Z UKUNFTSSICHERUNG IM N ETZ

DER

V ORSORGE

Internet biosurveillance, oder digital disease detection, stellt ein neues Paradigma der public health governance dar. Während die klassischen Ansätze der Gesundheitsprognostik mit den in der klinischen Diagnose erhobenen Daten operierten, nutzen die Studien der Internet Biosurveillance die Methoden und Infrastrukturen der health informatics. Konkret nutzen sie die unstrukturierten Daten von unterschiedlichen webbasierten Quellen und zielen mit Hilfe der gesammelten und aufbereiteten Daten und Informationen auf die Veränderung des gesundheitsbezogenen Verhaltens. An der Schnittstelle von digitalen Mediensystemen und bioinformatischen Wissensmedien haben mobile Medien wie Smartphones, geolokalisierende Verfahren wie GPS, tracking devices wie Mikrochips, biometrische Bänder und Uhren und digitale Darstellungsverfahren wie MonitoringDashboards maßgeblich dazu beigetragen, den Körper als Medienobjekt »geregelter Gestaltung«21 und »numerischer Ausdrucksformen«22 zu betrachten. Biometrische Apparate, Technologien und Visualisierungen haben darüber hinausgehend einen gesellschaftlichen Trend zur digitalen Selbstvermessung ausgelöst.23 In diesem Zusammenhang kann die These aufgestellt werden, dass Sensortechnologien, GPS-gestützte Lokalisierungen, intelligente Messverfahren,

21 Bourdieu, Pierre: »Programm für eine Soziologie des Sports«, in: ders. (Hg.), Rede und Antwort, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1992, S. 193–207, hier S. 206. 22 Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge, MA: MIT Press 2001, S. 27. 23 Vgl. Lupton, Deborah: »Quantifying the Body: Monitoring and Measuring Health in the Age of Health Technologies«, in: Critical Public Health 23(4) (2013), S. 393–403; Lyon, David: »Biometrics, Identification and Surveillance«, in: Bioethics 22(9) (2008), S. 499-508.

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automatische Identifikationsverfahren24 und zahlenbasierte Wissensmedien die Praktiken der Gesundheitsplanung ermöglicht und dabei neue Formen von datenbasierten Steuerungs- und Kontrollwissen entwickelt haben.25 Die wesentlichen Aufgabenbereiche der internet biosurveillance liegen, erstens, in der Früherkennung epidemischer Krankheiten, biochemischer, radiologischer und nuklearer Gefahren und, zweitens, in der Umsetzung von Strategien und Maßnahmen nachhaltiger governance in den Zielbereichen der Gesundheitsförderung und der Gesundheitsbildung.26 Als eigenständige Disziplin wurde die biosurveillance Mitte der 1990er Jahre etabliert, als sich militärische und zivile Einrichtungen für automatische Überwachungssysteme zu interessieren begannen. In diesem Zusammenhang hat das biosurveillance program des Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University eine entscheidende Pionierrolle gespielt.27 Der digitale Strukturwandel als Haupttreiber für Big Data bietet für die Sensorik sowie die Biometrie als bedeutungsvolle Schlüsseltechnologien ein vielfältiges Einsatzgebiet. Biometrische Analysetechnologien und -methoden halten Einzug in sämtliche Lebensbereiche und verändern hiermit den Alltag. Die Eroberung der Massenmärkte durch Sensoren und biometrische Erkennungsverfahren ist mitunter dadurch zu erklären, dass mobile, webbasierte Endgeräte mit einer Vielzahl diverser Sensoren ausgerüstet sind. Immer mehr Nutzer kommen auf diesem Wege mit der Sensortechnologie oder der Messung individueller Körpermerkmale in Verbindung. Durch die stabiler und schneller werdenden Mobilfunknetze sind viele Menschen mit ihren mobilen Endgeräten außerdem permanent mit dem Internet verbunden, was der Konnektivität einen zusätzlichen Schub verleiht. Die populären health-tracking-Plattformen Google Fit und 24 Das automatische Identifikationsverfahren der RFID-Technologie (radio frequency identification) hat sich in den letzten Jahren zum Anwendungsparadigma im Bereich der kontaktlosen Lokalisationssysteme entwickelt. RFID-Systeme arbeiten mit elektromagnetischen Wellen und bestehen aus einem Datenträger (Transponder) und aus einem Schreib- oder Lesegerät mit Antenne. 25 Swan, Melanie: »Emerging Patient-Driven Health Care Models: An Examination of Health Social Networks, Consumer Personalized Medicine and Quantified SelfTracking«, in: International Journal of Environmental Research and Public Health 6(2) (2009), S. 492–525, hier S. 494. 26 Walters, Ronald A. et al.: »Data sources for biosurveillance«, in: John G. Voeller (Hg.), Wiley Handbook of Science and Technology for Homeland Security, Band 4, Hoboken: Wiley 2010, S. 2431–2447. 27 Burkom, Howard S. et al.: »Decisions in Biosurveillance Tradeoffs Driving Policy and Research«, in: Johns Hopkins Technical Digest 27(4) (2008), S. 299-311.

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Apple Health Kit sorgen für eine zunehmende Verflechtung von digitalen Medien mit dem häuslichen Umfeld des Alltags: mobile Verortungstechniken, sensorbasiertes Körpermonitoring, technische Assistenzsysteme im Wohnumfeld und Systeme der digitalen Verwaltung von Arzt- und Laboruntersuchungen sollen eine permanente Selbst- und Fremdbeobachtung sicherstellen. Innerhalb dieses digitalen Environments werden Zukunftssicherungen in Feedbackschleifen eingebunden und zur verhaltensmoderierenden Steuerung eingesetzt. Die Nutzer von tracking devices werden mit Mikro-Zukunftsentwürfen konfrontiert, die von ihnen bestimmte Handlungsorientierungen und Verhaltensveränderungen fordern. Mit den Apps, der Anwendungssoftware für Mobilgeräte wie Smartphone und Tablet-Computer, hat sich die Anwendungskultur der biosurveillance maßgeblich verändert, da erstere wesentlich von der Beteiligungsdynamik des bottom-up geprägt sind. Andreas Albrechtslund spricht in diesem Zusammenhang von der »Participatory Surveillance«28 auf den social networking sites, die mit ihren Kommentarfunktionen, Hypertextsystemen, Ranking- und Votingverfahren durch kollektive Rahmungsprozesse dafür sorgen, dass biosurveillance immer mehr zum Schauplatz offener Bedeutungsproduktion und permanenter Aushandlung geworden ist. So protokolliert die Sport-App Runtastic unterschiedliche Sportaktivitäten mittels GPS, Mobilgeräten und Sensorik und macht Distanz, Zeit, Geschwindigkeit und Kalorienverbrauch für Freunde und Bekannte in Echtzeit sicht- und überwachbar. The Eatery wird zur Gewichtskontrolle eingesetzt und verlangt von seinen Benutzern mittels self tracking die Fähigkeit zur Selbstoptimierung. Da gesundheitsbezogene Apps durch ihre Nutzung unter anderem darauf abzielen, die Einstellungen ihrer Nutzer zu beeinflussen, können sie auch als persuasive Medien der Health Governance verstanden werden. Die multiplen Beobachtungsanordnungen der Sensor- und Informationstechnik lösen die Oppositionen zwischen dem physischen und medialen Raum auf und sind beispielhaft für die Normalisierung von Fitnesskörpern respektive die Pathologisierung von Risikokörpern als »mediale Konstrukte« 29. Mit ihren Feedbacktechnologien erleichtern sensor- und informationstechnische Beobachtungsanordnungen nicht nur Fragen der gesunden Lebensführung, sondern multiplizieren in den Peer-to-Peer-Netzwerken auch die soziale Kontrolle über die Einhaltung ge28 Anders Albrechtslund: »Online Social Networking as Participatory Surveillance«, in: First Monday Vol. 13/3 (2008), online: http://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/ article/viewArticle/2142/1949 (letzter Zugriff: 20.11.2017). 29 Klein, Gabriele: »BilderWelten – Körperformen. Körperpraktiken in Mediengesellschaften«, in: Tanja Thomas (Hg.), Medienkultur und soziales Handeln, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 209–217, hier S. 211.

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sundheitlicher Richtlinien. Vor dem Hintergrund der Netzwerkanbindung von informationstechnischen Geräten und der kommerziellen Verfügbarkeit biometrischer Instrumente, wie Nike Fuel, Fit Bit oder iWatch, und Infrastrukturen, wie Apps, wird in den öffentlichen Debatten die biosurveillance oft mit dystopischen Vorstellungen einer biometrisch geordneten Kontrollgesellschaft in Verbindung gebracht. Im Unterschied zu früheren Medienkulturen technisch vermittelter Lebensdaten, etwa grafische oder fotografische Aufzeichnungs- und Speichermedien, sind die ›dokumentarisierenden‹ Praktiken auf das Engste mit den ›kommunizierenden‹ Praktiken im Kontext permanenter Konnektivität und kollaborativer Bedeutungsproduktion verknüpft. Die technische Möglichkeit, die statistisch ausgewerteten Daten und Zahlen des eigenen Lebens kontinuierlich auf multiagentielle Kollektive zu beziehen, konstituiert Vergleichs- und Wettbewerbsszenarios nicht nur für das community building, sondern auch für die Agenda der staatlichadministrativen Gesundheitsprognostik. Die Bio-Datenbanken der digitalen Vernetzungskulturen sind daher als offene und dynamische Datenkollektive angelegt und integrieren die Feedbacktechnologien für lebensstilbezogene Transformationen der Selbstformung, Rationalisierung oder Assimilierung. Damit einhergehend haben sich auch die Praktiken der Zukunftssicherung verschoben. Im Netz werden Biowerte und -normen, Risikoeinschätzungen, Planungshorizonte und Vorsorgediskurse sozial geteilt, öffentlich sichtbar gemacht und ausverhandelt. Die soziale Wahrnehmung und Kontrolle der eigenen Zukunftssicherung verlangt vom betroffenen Subjekt die Fähigkeit zur reflexiven Selbstthematisierung, verknüpft mit dem strategischen Ziel der Selbstoptimierung. Die Kommunikationsräume der plattformbasierten Gesellschaft kann man in Anlehnung an Ulrich Bröckling als Räume einer »endlosen Wissensproduktion« verstehen: »Ohne Prognostik keine Prävention. Vorbeugung impliziert daher systematische Wissensproduktion«30. Die soziale Vernetzung erweitert die Diskurse der Zukunftssicherung ins Endlose. Plattformen und Portale knüpfen ein dichtes Netz an Kontrollmöglichkeiten, die das Leben des Einzelnen nicht sicherer, sondern riskanter machen und das Regime der freiwilligen Introspektion und der Selbstkontrolle mit dem digitalen Imperativ der Gegenwart sharing is caring verknüpfen.

30 Bröckling, Ulrich: »Vorbeugen ist besser. Zur Soziologie der Prävention«, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (1) (2008), S. 38-48, hier S. 42.

Datenbanken und computergestützte Luftabwehr: Digitale Verfügungen über die Zukunft S ANDRA P RAVICA

1. E INLEITUNG In diesem Beitrag stelle ich einen Zusammenhang zwischen neueren Entwicklungen in der Datenbanktechnologie und einer frühen Episode der US-amerikanischen Forschung und Entwicklung zur computergestützten Luftabwehr in der Zeit des Kalten Krieges her. Diese auf den ersten Blick nicht naheliegende Kontextualisierung von technologischen Grundlagen aktueller Datenauswertungsund -prognoseverfahren soll dazu beitragen, jüngere Veränderungen in Praktiken der Entscheidungsfindung und bezüglich des auf die Zukunft gerichteten Handelns zu artikulieren und epistemologisch zu bewerten. Was wir heute unter einer digitalen Datenbank verstehen – ein computergestütztes System zur Verwaltung und Abfrage von Daten –, bildete sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts heraus. Vor allem in den Bereichen Management und Unternehmensführung wurden im Laufe der 1960er Jahre die Idee und das Konzept eines elektronischen, rechnergestützten »Informationsabfragepools« vorangebracht, wie Thomas Haigh zeigt. 1 Dass dem Manager eines Konzerns alle für die Arbeit relevanten Informationen mittels eines automatisierten Systems zur Verfügung stehen sollten, war dabei die leitende Vorstellung.2 Als ausgereifte, auf breiter Basis einsetzbare sowie kommerziell handelbare In-

1

Vgl. Haigh, Thomas: »›A Veritable Bucket of Facts‹. Ursprünge des Datenbankmanagementsystems«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3, 2007, S. 57-98; hier S. 58ff.

2

Vgl. ebd., S. 59.

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formations-Technologie standen digitale Datenbanken aber erst ab den späten 1980er Jahren bereit. In technologischer Hinsicht haben hierzu wesentlich zwei Neuerungen beigetragen: die Entstehung von Datenbankmanagementsystemen, einer Software, die im Verbund mit der Datenbank den Zugriff auf die gespeicherten Daten regelt, und die Durchsetzung des sogenannten relationalen Datenbankmodells, welches die Daten in Tabellen organisiert. Beides half unter anderem, den user von Fachkenntnissen über die konkrete Speicherstruktur zu entbinden.3 Diese Errungenschaften der 1970er und 80er Jahre zogen eine derart erfolgreiche Verbreitung von Datenbanksystemen nach sich, dass es heute kaum noch einen Vorgang gibt, sei es in Verwaltung, Wissenschaft, Handel oder Industrie und neuerdings auch in digitalisierten Alltagspraktiken, der nicht in irgendeiner Weise datenbankgestützt vonstattengeht. Interessiert man sich allerdings dafür, wie das anfängliche Konzept einer solchen elektronischen Informationsabfragestelle zur Bezeichnung ›Datenbank‹ beziehungsweise zum englischen ›data base‹ kam, stößt man auf die in den 1950er Jahren gegründete kalifornische Softwarefirma System Development Corporation (SDC), womit sich der Akzent vom betriebswirtschaftlichen Kontext auf einen Bereich verschiebt, der sich mit einem Ausdruck von Thomas Hughes als »Militär-Industrie-Universitäts-Komplex« bezeichnen lässt.4 Das Oxford English Dictionary gibt ein Dokument von SDC als Quelle einer frühen Verwendung und Definition des Terminus data base an: »A ›data base‹ is a collection of entries containing item information that can vary in its storage media and in the characteristics of its entries and items.«5 SDC entwickelte – als einer von einem 3

Vgl. ebd., S. 57; sowie Gugerli, David: »Die Welt als Datenbank. Zur Relation von Softwareentwicklung, Abfragetechnik und Deutungsautonomie«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3 2007, S. 11-35; hier S. 17ff. und S. 22. Zeitgleich wurde die entsprechende Abfragesprache für die Relationen entwickelt, die sogenannte: Structured Query Language (SQL), mit der Datenbanken erzeugt, verwaltet und die in der Datenbank vorhandenen Daten verändert werden können, und die sich als Standard etablierte. Vgl. Geisler, Frank: Datenbanken. Grundlagen und Design, Heidelberg: MITP 2014, S. 63; vgl. für eine historische Perspektive auf die Thematik: D. Gugerli: »Die Welt als Datenbank«, S. 23ff.

4

Vgl. Hughes, Thomas P.: Rescuing Prometheus. Four Monumental Projects that Changed the Modern World, New York: Vintage Books 2000, S. 4; 11. Thomas Hughes stellt die Bedeutung des Militärischen für maßgebliche technologische Innovationen der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert heraus.

5

Eintrag »database«, in: Oxford English Dictionary, www.oed.com; dort angegebene Quelle des Zitats: 1962, Techn. Memorandum (System Development Corp., Calif.) tm- wd-16/007/00. i. 5.

D ATENBANKEN UND COMPUTERGESTÜTZTE L UFTABWEHR | 91

guten Dutzend weiterer Kontraktoren – zusammen mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Programme für das erste computergestützte Luftverteidigungsprojekt der USA, das sogenannte Semi-automatic ground environment (SAGE).6 Anders als die Geschichte ihrer erfolgreichen Etablierung, für die die Bereiche Management und Unternehmensführung maßgeblich sind, sind die Anfänge digitaler Datenbanken also in der militärischen Forschung und Entwicklung zu verorten. Thomas Haigh vermutet dementsprechend, dass der Begriff data base im Zuge der Arbeit der SDC am SAGE-Projekt entstand.7 Anstatt aber den Mutmaßungen über die tatsächlichen historischen Anfänge von elektronischen Datenbanken im Militärkontext nachzugehen, soll im Folgenden eine epistemologische Spur dargestellt werden, die sich erst jetzt, im Nachhinein ergibt, angesichts von Innovationen auf dem Gebiet der Datenbanktechnologie, welche den Anforderungen an neue Größenordnungen und Verarbeitungsgeschwindigkeiten von Daten aus verschiedensten Quellen begegnen – mit anderen Worten, angesichts des Phänomens Big Data.8 Die US-amerikanische Luftabwehr des Kalten Krieges steht bei den anschließenden Überlegungen ebenfalls im Fokus. Meiner Ansicht nach ist das militärische Projekt SAGE aber vor allem vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Datenbanktechnologie einer näheren Betrachtung wert, insbesondere aufgrund der Art und Weise, wie es mit der digitalen Übermittlung, Organisation und Verarbeitung von Daten den spezifischen Herausforderungen der Luftverteidigung begegnete und dabei die Verfügbarkeit und Prozessierung der Daten regelte.

6

Vgl. Baum, Claude: The System Builders. The Story of the SDC, Santa Monica, Calif.: System Development Corp., 1981, S. 12-19.

7 8

Vgl. T. Haigh: »›A Veritable Bucket of Facts‹«, S. 61. Zum epistemologischen Verständnis von »Spur« vgl. Krämer, Sybille: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle?«, in: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 11-33.

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2. R ELATIONALE UND D ATENBANKEN

NICHT - RELATIONALE

Für Nutzer ist eine Datenbank bei ihrer Handhabung in professionellen und alltäglichen Praktiken zumeist eine Blackbox.9 Sei es bei der Produktsuche und Bestellung bei einem Online-Händler – hier kommen unter anderem Produktdatenbanken, Kundendatenbanken, Bestelldatenbanken zum Einsatz – oder wenn in der Personalabteilung eines Unternehmens per Computereingabe alle Mitarbeiter abgefragt werden, die nach einem bestimmten Zeitpunkt eingestellt wurden und eine bestimmte Schulung durchlaufen haben; oder aber wenn der Anbieter eines Online-Finanzservices für eine Echtzeitanalyse von Entwicklungen auf internationalen Finanzmärkten Web-Nachrichten und Social-Media-Interaktionen auswertet – für einen gelingenden Einsatz braucht die innere Komplexität des jeweiligen Datenbanksystems nicht bekannt zu sein. Wie die Datensätze verfügbar gehalten werden und wie genau es zu bestimmten Antworten auf bestimmte Abfragen kommt, ist für den Nutzer im Moment der Performance nicht relevant. Solche Fragen müssen gegebenenfalls sogar ausgeblendet werden, damit diese tools zweckmäßig eingesetzt werden können. »Man geht davon aus, dass sich alles an seinem Platz befindet und betriebsfähig ist«, wie Alexander Galloway zum Begriff der Blackbox anmerkt. 10 Auch das Wort »Datenbank« nimmt sich im Kontext eines aktuellen Vokabulars wie Zettabye, Petabite, Datamining, Scoring oder Predictive Analytics wenig widerständig oder irritierend aus. Es lässt keine technologische Innovation erahnen, suggeriert Kontinuität und trägt damit gewissermaßen zur Unsichtbarmachung der Rolle von Datenbanktechnologien auch in der reflektierenden Literatur bei. Denn im Unterschied zu den Verfahren der »analytischen Verarbeitung«11 großer Datenmengen, den dabei eingesetzten Algorithmen oder Visualisierungsmethoden, werden die technologischen Entwicklungen im Bereich

9

»Blackboxing« verstehe ich hier im Sinne Bruno Latours als »Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren eigenen Erfolg«, vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2000, S. 373.

10 Vgl. Galloway, Alexander R: »Blackbox. Schwarzer Block«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 267-280; hier S. 274. 11 BITCOM (Hg.), Big-Data-Technologien. Wissen für Entscheider, Berlin: BITCOM e.V. 2014, S. 14.

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Datenbank weniger geistes- und sozialwissenschaftlich beachtet.12 Die rezenten datenbanktechnologischen Neuerungen sind jedoch mit gravierenden und möglicherweise epistemologisch relevanten Veränderungen in der Organisation und Bereitstellung von Information und Wissen verknüpft. Um die strukturell-organisatorischen Besonderheiten jüngerer Datenbank-Innovationen hervorzuheben – wie mit ihnen Daten organisiert und Information und Wissen bereitgestellt werden – folge ich in einem ersten Schritt dem in der IT-Fachliteratur üblichen Schema einer Kontrastierung mit dem relationalen Datenbankmodell, um in einem zweiten Schritt Ähnlichkeiten mit dem Luftabwehrprojekt SAGE zu elaborieren. Die relationale Datenbank ist immer noch das am weitesten verbreitete Datenbanksystem. Es hatte sich im Verlaufe der 1970er Jahre gegenüber den zuvor entwickelten Modellen – der sogenannten hierarchischen Datenbank und dem Netzwerk-Datenbankmodell – durchgesetzt. Im Gegensatz zu ihnen trennt sie die Datenverfügbarkeit von der physikalischer Speicherung der Daten. 13 Durch die Abkoppelung der technisch-physikalischen Datenspeicherung – etwa auf einer Festplatte – von der logischen Struktur der Datenrepräsentation wurde der breite 12 Mit den Auswertungsverfahren großer Datenmengen befassen sich etwa Boyd, Danah/Crawford, Kate: »Six Provocations for Big Data«, Vortragsskript, 2011, online: http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.1926431 (zuletzt aufgerufen am 4. Juni 2017); Boyd, Danah/Levy, Karen/Marwick, Alice: »The Networked Nature of Algorithmic Discrimination«, in: Seeta Peña Gangadharan/Virginia Eubanks (Hg.), Data & Discrimination. Collected Essays, Open Technology Institute 2014, S. 43-57, online: http://www.danah.org/papers/2014/DataDiscrimination.pdf (zuletzt aufgerufen am 4. Juni 2017); Goppelsröder, Fabian/Moretti, Franco: »Seeing the Literary. A Conversation with Franco Moretti on Visualizations in the Humanities«, in: Fabian Goppelsröder/Martin Beck (Hg.), Sichtbarkeiten 2: Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Berlin: Diaphanes 2014, S. 217-234; Kirsch, Adam: »Technology Is Taking Over English Departments. The False Promise of the Digital Humanities«, in: New Republic, online: https://newrepublic.com/article/117428/limits-digital-huma nities-adam-kirsch vom 2. Mai 2014; sowie den Beitrag von Ramón Reichert in diesem Band. Datenbanktechnologien stehen dagegen bei nur wenigen Studien im Mittelpunkt, wie etwa bei: Engemann, Christoph: »You cannot not Transact — Big Data und Transaktionalität«, in: Ramón Reichert (Hg.), Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld: Transkript 2014, S. 365-384; sowie im Band: Stefan Böhme/Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer (Hg.), Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen. Die Datenbank als mediale Praxis Sammeln, Münster u.a.: Lit Verlag 2012. 13 Vgl. F. Geisler: Datenbanken, S. 60.

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Einsatz von Datenbanktechnologien damit auch für Nutzer ohne informationstechnische Expertise denkbar.14 Zentrales Element der relationalen Datenbank ist die Weise der Datenrepräsentation mittels Tabelle, auch Relation genannt, also mittels einer zweidimensionalen Anordnung von Daten in Zeilen und Spalten. Durch sogenannte Schlüssel, vorstellbar als fortlaufende Nummern, wie etwa bei Rechnungsnummern, sind die Datensätze in den Zeilen eindeutig identifizierbar.15 Die Kernstruktur einer Beraterfirma wäre beispielsweise mit den zwei Relationen einer Kunden- und einer Beratertabelle darstellbar. Die Beziehungen unter den Datensätzen und den dort angelegten Attributen können mittels Datenbankabfrage abgerufen, neu kombiniert, erweitert und umgeschrieben werden. 16 Vorgeschlagen hatte das relationale Datenbankmodell 1970 der britische Mathematiker Edgar R. Codd im Zuge seiner Forschung für die International Business Machines Corporation (IBM), die den Entwurf 1978 in ein Produkt umsetzte.17 Für eine weite Verbreitung von Datenbanken sorgte ab den 1980er Jahren vor allem das Datenbankmanagementsystem Oracle des gleichnamigen kalifornischen Unternehmens, welches es erstmals ermöglichte, relationale Datenbanken auch auf kleineren Rechnern laufen zu lassen.18 Die digitale Organisation von Daten mittels Tabellen hat Konsequenzen für Gestalt und Inhalt der Information und des Wissens, welches die gespeicherten Daten bereitstellen und erzeugen. Markus Krajewski weist darauf hin, dass die »diagrammatische Relation aus Zeilen und Spalten« als »Paradigma der elektronischen Datenverarbeitung« die bereits vor dem zwanzigsten Jahrhundert gebräuchlichen, mechanischen tabellarischen Datenerfassung per Lochkarten fortführt, wobei mit der Computerisierung eine Dynamisierung dieses zuvor statischen Formats stattfand.19 Die Aufteilung einer Entität – ein Objekt der realen 14 Vgl. D. Gugerli: »Die Welt als Datenbank«, S. 17f; C. Engemann: »You cannot not Transact«, S. 367; F. Geisler: Datenbanken, S. 60. 15 Vgl. ebd., S. 60f. 16 Vgl. ebd., S. 61. 17 Es handelte sich um das Datenbanksystem »System R«. Vgl. F. Geisler: Datenbanken, S. 60. 18 Vgl. T. Haigh: »›A Veritable Bucket of Facts‹«, S. 83; D. Gugerli: »Die Welt als Datenbank«, S. 28. Das Hasso Plattner Institut hat eine Genealogie der relationalen Datenbankmanagementsystene seit 1970 erstellt: https://hpi.de/naumann/projects/ rdbms-genealogy.html (zuletzt aufgerufen am 4. Juni 2017) 19 Vgl. Krajewski, Markus: »In Formation. Aufstieg und Fall der Tabelle als Paradigma der Datenverarbeitung«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3, 2007, S. 37-55, hier S. 37f; vgl. auch T. Haigh: »›A Veritable Bucket of Facts‹«, S. 65.

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Welt, etwa ein Mitarbeiter einer Firma –, innerhalb einer Zeile respektive eines Datensatzes in ihre »wesentlichen Bestandteile«20 und die gleichzeitige Anordnung der Attribute untereinander in Spalten erwirkt eine Vereinheitlichung des Eingetragenen. Die vertikale Anordnung der konkreten Attributwerte, etwa unter dem Attribut »Adresse« oder »Geburtsdatum«, erzeugt außerdem Ähnlichkeitsbeziehungen, deren erkenntnisgenerierenden Effekt Krajewski hervorhebt: Da die Tabelle auf Vollständigkeit des zu Erfassenden ausgerichtet ist, macht sie Wissens- und Informationslücken durch fehlende Einträge erkennbar und fungiert auf diese Weise als Erkenntnisinstrument.21 Wissens- und weltgenerierende respektive -erweiternde Momente des relationalen Modells stellen auch Lev Manovich und David Gugerli in ihren Theorien der Datenbank in den Vordergrund. Indem sie jeweils die Rekombinierungs- und Erweiterungsoptionen von Einträgen und Elementen fokussieren, werden die Offenheit und Erweiterbarkeit des Mediums Datenbank und der mit ihm verknüpften kulturellen Praktiken betont.22 Für die vorliegende Problemstellung sind jedoch vor allem die Zwänge relevant, die durch die Spezifik der tabellarischen Form impliziert werden. Denn eine Datenbank, wie Böhme, Nohr und Wiemer allgemein behaupten, ist immer auch eine »Exklusionsform«: »Nur was ›datenbankkompatibel‹ ist, also was in Form eines (zumeist ja auch digitalen) Datums vorliegt, kann integriert werden.«23 Die Wirklichkeit muss sich bisweilen an die Möglichkeit des Modells anpassen, um abbildbar zu sein.24 Die Unumgehbarkeit

20 M. Krajewski: »In Formation«, S. 37. 21 Vgl. ebd. S. 43ff. 22 Vgl. Manovich, Lev: »Database as a Genre of New Media«, in: AI & Society 14, 2000, S. 176-183, hier S. 177. Manovich begreift die Datenbank die »Schlüsselform des kulturellen Ausdrucks im Computerzeitalter«, bei ihm treten jedoch vor allem die Offenheit und Erweiterbarkeit, durch Kombination und Anfügen in den Vordergrund: »[T]he world appears to us as an endless and unstructured collection of images, texts, and other data records, it is only appropriate that we will be moved to model it as a database.« Ebd. Es kommt ihm unter anderem darauf an, dass die Liste von Einträgen, als die sich die Welt im Modell der Datenbank präsentiert, ungeordnet bleibt und sich der linearen Logik der Narration widersetzt. Gugerli wiederum zeigt, inwiefern die Rekombinationsmöglichkeiten, die sich mit der Datenbanktechnologie ergaben, die Such- und Deutungskultur am Übergang zum 21. Jahrhundert im Unterschied zum früheren hermeneutischen Modell prägten. Vgl. D. Gugerli: »Die Welt als Datenbank«. 23 S. Böhme/R. F. Nohr/S. Wiemer: Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen, S. 12. 24 Vgl. ebd.

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des Datenschemas ist daher die unabdingbare einschränkende Rückseite der epistemischen und ontischen Produktivität des Mediums relationale Datenbank. Das relationale Datenmodell implizierte bereits mit seinem Entwurf spezifische Randbedingungen, nämlich Grundprinzipien, wie die Aufbewahrung und Prozessierung der Daten vonstatten zu gehen habe, die für das, was mit einer Datenbank darstell- und herstellbar ist, Folgen zeitigen.25 Codd hatte neun Anforderungen für Datenbanksysteme formuliert, die im Fachdiskurs von Theo Haerder und Andreas Reuter als das sogenannte ACID-Prinzip zugespitzt und artikuliert worden sind.26 Das Akronym setzt sich zusammen aus Unteilbarkeit (engl. atomicity), Konsistenz (engl. consistency), Isolation (engl. isolation) und Dauerhaftigkeit (engl. durability). Unter Codds Anforderungen finden sich auch die beiden Punkte »Integration«, womit eine einheitliche nichtredundante Datenverwaltung gemeint ist, und »Konsistenzüberwachung«, also die Gewährleistung der Korrektheit des Datenbankinhaltes gemäß dem tabellarischen Schema. 27 Das relationale Modell ist mit diesen Maßgaben von vornherein auf Klarheit, Präzision und Konsistenz in der Datenhaltung und -verarbeitung ausgerichtet. Wie Christoph Engemann gezeigt hat, konnten auf diese Weise spezifische kulturelle Praktiken der Finanzwelt und des Bankenwesen dargestellt werden, die mit dem Erfolg relationaler Datenbanken zur selben Zeit aber auch mitkonstituiert wurden.28 Engemann arbeitet eine »genealogische Verschränkung« von relationalen Datenbanken und Ökonomie heraus und weist darauf hin, dass die Vorrangstellung der Konsistenzsicherung bei relationalen Datenbanken – sie revolutionierten das Bankenwesen und alle Bereiche der Wirtschaft – aus deren »Ko-Evolution« mit dem Bankenwesen herrührt.29 Das Paradigma der Prozesse, die mit einer relationalen Datenbank durchgeführt werden, so Engemann, sei die finanzielle Transaktion.30 Dementsprechend erläutert er die ACID-Prinzipien anhand des Beispiels eines Geldtransfers: Eine Geldbuchung ist eine Sequenz von Operationen, die unteilbar ausgeführt wird, sie findet entweder ganz oder gar nicht statt – halbe Buchungen existieren nicht –, dies entspricht dem Prinzip der Atomizität. Konsistenz wiederum ist bei Geldtransfers gewährleistet, insofern es weder doppelte Buchungen, noch nicht-registrierte Summen geben darf. Isolati25 Vgl. Codd, Edgar R.: »Relational Database. A Practical Foundation for Productivity«, in: Communications of the ACM 25 (2), 1982, S. 109-117. 26 Vgl. Haerder, Theo/Reuter, Andreas: »Principles of transaction-oriented database recovery«, in: ACM Computing Surveys 15 (4), 1983, S. 287-317. 27 Vgl. E. Codd: »Relational database«. 28 Vgl. C. Engemann: »You cannot not Transact«. 29 Vgl. ebd., S. 368ff. 30 Vgl. ebd., S. 368.

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on wird bei Geldbuchungen zugesichert, insofern ein Betrag nicht von anderen Transaktionen beansprucht werden kann. Wenn ein Betrag einmal gebucht ist, bleibt das Ergebnis bestehen, was wiederum der Anforderung der Durabliät entspricht.31 Engemann fasst zusammen, dass Datenbanktransaktionen auf diese Weise ein »monetäres Erhaltungsgesetz« implementierten, das festlegt, dass Geld nicht verschwinden darf.32 Diese Interpretation macht neben den spezifischen Bahnen, innerhalb derer Daten im relationalen Modell zu Information werden, einmal mehr deutlich, dass relationale Datenbanken kein universelles Behältnis für jegliche Art von Information darstellen – als ein solches wurde die elektronische Datenbank seit Anbeginn ihrer Entwicklung aber immer wieder imaginiert, wie Haigh zeigt.33 Ganz konkrete technologische Limitierungen des erfolgreichen relationalen Modells und der von ihm vorgesehenen Datenstruktur machten sich nun aber mit dem gesteigerten Datenaufkommen im Zuge des Internet bemerkbar – vor allem mit dem Bestreben, aus den neu verfügbar gewordenen vielfältigen Informationen und Daten betriebswirtschaftlichen, politischen oder epistemischen Nutzen zu ziehen. Daten aus Quellen wie E-Mails, Videos, Bildern, Textverarbeitungsdateien, Social Media, Blogs oder dem sogenannten internet of things liegen größtenteils nicht im strukturierten Schema vor, welches die relationale Datenbank vorgibt. Sie werden im Fachjargon unstructured oder semi-structured data genannt.34 Mit ihrer Auswertung erhofft man sich in so unterschiedlichen Bereichen wie Kreditkarten-Betrugsanalyse, Verfassungsschutz und Terrorbekämpfung, Digital Humanities, Management und Marketing Erkenntnisse, die – mehr oder weniger erfolgreich – teils auch erzielt werden.35

31 Vgl. ebd. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. T. Haigh: »›A Veritable Bucket of Facts‹«, S. 58; 68f; 84ff; Vgl. hierzu auch M. Krajewski: »In Formation«, S. 49. 34 Vgl. Walker, Michael: »Structured vs. Unstructured Data. The Rise of Data Anarchy«, online: http://www.datasciencecentral.com/profiles/blogs/structured-vs-unstructureddata-the-rise-of-data-anarchy (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017); Leavitt, Neal: »Will NoSQL Databases Live Up to Their Promise?«, in: Computer, Februar 2010, S. 12-14, hier S. 12. 35 Vgl. beispielsweise Helland, Pat: »If You Have Too Much Data, then ›Good Enough‹ Is Good Enough«, in: ACM, 2011, S. 1-11, hier S. 8; BITCOM: Big-DataTechnologien, S. 17; A. Kirsch: »Technology Is Taking Over English Departments«; F. Goppelsröder/F. Moretti: »Seeing the Literary«; Pravica, Sandra: »Variablen des Unberechenbaren. Eine Epistemologie der Unwägbarkeiten quantitativer Voraussage-

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Die Varietät hinsichtlich Ursprung und Format der Daten, die Inkonsistenz ihrer Schemata, ist eine der zentralen Herausforderungen, der die Datenbanktechnologie im Zuge von Big Data begegnen muss. Die hierauf antwortenden Lösungen verzichten auf das strenge Konsistenzpostulat, welches die ACIDPrinzipien des relationalen Modells enthalten. An diesem hing nicht zuletzt aber auch der große Erfolg der relationalen Datenbank, da es die »Qualität« der Informationen und Aussagen, die in Datenbankabfragen generiert werden, garantiert.36 Da bei der Gewinnung von Information und Wissen jedoch nicht gänzlich auf die Konsistenz der zugrundegelegten Daten verzichtet werden kann, wird bei neueren Datenbankmodellen der Konsistenzzwang gewissermaßen aus der Datenbank selbst ausgelagert und in die Anwendung verschoben. Beispielsweise spricht man von application level consistency, welche gegenüber dem relationalen Modell jedoch eine Verkomplizierung der Datenbankarchitektur und einen Rückschritt in Sachen Handhabbarkeit der Technologie bedeutet. 37 Im Zuge dieser Entwicklungen wird der streng formale Konsistenzbegriff gelockert und durch einen relativen ersetzt. Die neueren Datenbanksysteme befinden sich laut Engemann in einem fluiden Zustand, der zur Konsistenz hin »konvergiert«. 38 Um die halb- oder unstrukturierten Daten in für die Analyseverfahren verarbeitbare Formen zu bringen, werden außerdem Transformationen vorgenommen, die Informationsverluste und Ungenauigkeiten mit sich bringen; des Weiteren lassen sich die Veränderungen nicht mehr – in Richtung des Originaldatums – umkehren.39 Angesichts der erhofften Gewinnsteigerungen werden solche Verluste bei der Anwendung von Big-Data-Verfahren in Industrie und Business in Kauf genommen.40 Aber auch in den Bereichen innere Sicherheit, Terrorbekämpfung, Geheimdienst, Militär und den sogenannten Digital Humanities ist Präzision in Haltung und Verarbeitung der Daten zunächst nicht das vorrangige verfahren in Sicherheit und Militär«, in: Jahrbuch Technikphilosophie 3, 2017, S. 123-145, hier S. 125-136. 36 Auch die mit dem relationalen Modell entstandene Abfragesprache SQL kann bei den neuen Systemen angesichts der gelockerten Konsistenz nicht oder nicht ausschließlich angewendet werden. 37 Vgl. Pritchett, Dan: »Base. An Acid Alternative«, in: ACM Queue, Mai/June 2008, S. 48-55; Stonebraker, Michael: »New SQL. An Alternative to NoSQL and Old SQL for New OLTP Apps«, in: Communications of the ACM, 16. Juni 2001, https://cacm. acm.org/blogs/blog-cacm/109710-new-sql-an-alternative-to-nosql-and-old-sql-for-newoltp-apps/fulltext (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017). 38 Vgl. C. Engemann: »You cannot not Transact«, S. 371; 373. 39 Vgl. P. Helland: »If You Have Too Much Data […]«, S. 1. 40 Vgl. ebd., S. 10.

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epistemologische Interesse, vielmehr stehen explorative Motive im Vordergrund. Der schiere neuartige Umfang verfügbarer Daten nährt die Annahme, bisher »verborgene« Informationen, die in den Datenmassen schlummerten, könnten aufgetan werden und zu neuartigen Erkenntnissen führen.41 Das Datenaufkommen selbst, im hohen Giga- und Terabyte-Bereich, stellt technologisch heute keine große Schwierigkeit für die Datenbanksysteme mehr dar.42 Sie müssen von vornherein skalierbar, sein, also ausbau- und vergrößerbar in Hard- und Software ohne Verlust der Grundfunktionen und -struktur.43 Es handelt sich meist um verteilte Systeme, die dezentral auf unterschiedliche Computer und Server verstreut sind. Jedoch stellen neben der bereits angesprochenen Verschiedenheit der Datenquellen insbesondere die Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Ausfallsicherheit kritische Momente und Herausforderungen für die Technologie der Datenbanken dar. Die Verfahren der Datenauswertung, die auf die Datenbanksysteme zugreifen, sind gegenwärtig bereits vielfach in Praktiken der Entscheidungsfindung, teils mit prognostischem Anspruch, eingebunden. Von daher ist die Schnelligkeit der Datenausgabe entscheidend, dies gilt in den Bereichen Militär und Sicherheit ebenso wie bei Finanzen, Marketing und Unternehmensführung. Daten müssen in entscheidungsrelevante Information umgewandelt werden, ob es um Entscheidungen über Leben und Tod oder um Kaufentscheidungen von Kunden geht. Die Verteilung der Systeme bewerkstelligt sowohl eine allzeitige Erreichbarkeit und große Ausfallsicherheit als auch hohe Verarbeitungsgeschwindigkeiten bei den neuen Datenbankmodellen – auf Kosten der Datenkonsistenz.44 Bei den Datenbanken, die auf unterschiedlich lokalisierten Servern abgelegt sind, handelt es sich zum Teil um Replikate, wodurch schnelle, lokale Zugriffe und die Überbrückung von Teilausfällen – durch Bearbeitung von Anfragen durch auf anderen Servern abgelegte Kopien der Datenbanken – ermöglicht werden. 45 Als 41 Vgl. S. Pravica: »Variablen des Unberechenbaren«, S. 128f; vgl. zur »Sichtbarmachung« von Verborgenem in den Digital Humanities Krämer, Sybille: »The Humanities going digital? Vom alphanumerischen Zeichenraum zum vernetzten Datenraum«, in: Digitalität in den Geisteswissenschaften, 24. Mai 2015, http://digitalitaet-geis teswissenschaften.de/the-humanities-going-digital (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017). 42 Vgl. Hofstetter, Yvonne: Sie wissen alles. Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen, München: Bertelsmann 2014, S. 95; D. Pritchett: »Base«. 43 Vgl. BITCOM: Big-Data-Technologien, S. 28. 44 Vgl. D. Pritchett: »Base«, S. 51; Ch. Engemann: »You cannot not Transact«, S. 372. 45 Vgl. ebd., S. 371; BITCOM: Big-Data-Technologien, S. 28.

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Konsequenz ist der Stand einer solchen Datenbank nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort identisch. Wenn eine Abfrage beantwortet wird, können sich die zugrundeliegenden Informationen bereits verändert haben.46 Eine – häufig im Zusammenhang mit Big-Data-Analyseverfahren herausgehobene47 – Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit des mit diesen Mitteln gewonnenen Wissens ist also bereits auf der Ebene der Datenhaltung angelegt und lässt sich somit nicht allein damit begründen, dass die Datenauswertungsverfahren nur Korrelations- aber keine Kausalaussagen zulassen. Diese technologisch-epistemologischen Voraussetzungen der Information und des Wissens, welche auf der Grundlage neuerer Datenbankmodelle gewonnen werden können, werden in der IT-Fachliteratur mittels Versuchen artikuliert, die Unterschiede zum relationalen Modell wiederum durch veränderte Prinzipien der Datenhaltung und -verarbeitung auszudrücken. So werden die erwähnten ACID-Vorgaben durch das sogenannte BASE-Prinzip ersetzt, welches bedeutet »basically available« (jederzeitige Verfügbarkeit), »soft state« (NichtBeständigkeit, Veränderbarkeit der Daten) und »eventually consistent« (Konvergenz, aber nicht strenge Konsistenz).48 Auch wird das sogenannte CAP-Theorem angeführt. Es besagt, dass in verteilten Systemen nicht alle drei Merkmale consistency, availability und partition tolerance (Ausfalltoleranz) erfüllt werden können, sondern dass immer eines vernachlässigt werden muss. 49 Datenbanken, die den genannten Kriterien genügen, arbeiten nicht allein mit der für das relationale Modell entwickelten Abfragesprache SQL (structured query language) und werden daher »not only SQL-Datenbanken« (NoSQL) genannt. Das OpenSource-System Hadoop Distributed File System hat hier als Lösung eine wichtige Stellung eingenommen. Es bedient sich ebenfalls eines Rechnerverbundes, um Daten auf vielen verschiedenen Rechnern abzulegen.50 Jedoch ist die Bandbreite an nicht-relationalen Datenbanksystemen groß und je nach Anwendungsszenario wird die Wahl unterschiedlich ausfallen.51 Die neuen Antworten auf die Herausforderungen an die Datenbanktechnologie wurden vor allem von Firmen wie Alphabet, Facebook oder Amazon voran-

46 Vgl. C. Engemann: »You cannot not Transact«, S. 372; P. Helland: »If You Have Too Much Data […]«, S. 3. 47 Vgl. D. Boyd/K. Crawford, Kate: » Six Provocations for Big Data«, S. 4ff; MayerSchönberger, Victor/Cukier, Kenneth: Big Data, München: Redline 2013, S. 71. 48 Vgl. D. Pritchett: »Base«. 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. BITCOM: Big-Data-Technologien, S. 34; Y. Hofstetter: Sie wissen alles, S. 95f. 51 Vgl. BITCOM: Big-Data-Technologien, S. 44.

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getrieben.52 Die Infrastruktur zum Betreiben dieser Systeme ist so kostenintensiv, dass sie nur für wenige kapitalstarke Firmen erschwinglich ist.53 Teuer ist dabei nicht die einzelne Hardware eines Rechnerknotens innerhalb eines Systems – Hadoop läuft beispielsweise auf preiswerten, kommerziell erhältlichen Personal Computern –, sondern der Unterhalt tausender Systeme in einem Netzwerk. Er ist für individuelle Nutzer sowie für mittlere und kleine Unternehmen nicht bezahlbar.54 Kevin Driscoll stellt zudem heraus, dass die neuen Modelle unabhängig von Kommunikationswissenschaftlern und alltäglichen Nutzern entwickelt wurden, so dass es an »hands-on database experience« fehle, was es wiederum schwierig für user mache, die Datenverarbeitung im großen Maßstab, wie sie Firmen wie Alphabet betreiben, kritisch zu diskutieren und zu beurteilen. 55 So wie die Algorithmen der Google-Suche, der Amazon-Empfehlungen oder Twitter-Trends geheim gehalten werden und deshalb wie Blackbox-Systeme funktionieren – dasselbe Input, etwa eine Abfrage, garantiert nicht ein identisches Ergebnis –, wird auf die Datenbanken von außen auch kein direkter, sondern nur ein vermittelter Zugriff erlaubt.56 Obwohl die Auswertungsverfahren, die auf neuere verteilte Datenbankmodelle zugreifen, in ihrer reduzierten Frontend-Version zum Bestandteil alltäglicher und professioneller Entscheidungspraktiken geworden sind, verfügt nur eine kleine Gruppe von Spezialisten über die Datenbanken selbst. 57 Der Kontrast der neuen NoSQL-Datenbanken mit dem älteren relationalen Modell ist in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Fachliteratur etabliert, stößt allerdings für eine epistemologische Einordnung der neuen Datenbanksysteme in zweierlei Hinsicht an eine Grenze. Zum einen werden je nach Zweck und Projekt neuere Datenbankmodelle in der Anwendungspraxis häufig in Mischformen und Kooperation mit relationalen Modellen eingesetzt. 58 Auch gibt man sich mit der postulierten »gelockerten« Konsistenz nicht zufrie52 In diesen Kontexten entwickelte Datenbanklösungen sind beispielsweise Mongo, Cassandra oder Bigtable. Vgl. ebd. S. 44; C. Engemann: »You cannot not Transact«, S. 373. 53 Vgl. Ebd., S. 375. 54 Vgl. Driscoll, Kevin: »From Punched Cards to ›Big Data‹. A Social History of Database Populism«, in: Communication +1, 1, 2017, Art. 4, S. 1-33; hier S. 26. 55 Vgl. ebd., S. 28. 56 Vgl. ebd., S. 2. 57 Dies gilt vor allem in jenen Bereichen, in denen Daten kommerziell gesammelt und verwertet werden. Für den Bereich der sogenannten Digital Humanities, der in diesem Aufsatz keinen Schwerpunkt bildet, müsste die Aussage ggf. differenziert werden. 58 Vgl. BITCOM: Big-Data-Technologien.

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den: Es wird an Lösungen gearbeitet, die Präzision und Konsistenz auch bei den neuen Modellen gewährleisten.59 Des Weiteren ist beim neuesten »Hype« auf dem Gebiet der Datenbanktechnologie, der dezentralen Technologie »Block Chain«, die ursprünglich die Infrastruktur der digitalen Währung Bitcoin bildete, gerade wieder die finanzielle Transaktion das Verarbeitungsparadigma, weswegen dieses Modell besondere Präzision garantiert und durch die Art und Weise seiner Protokollierung sogar Verträge ersetzen könnte.60 Die zweite und für diesen Aufsatz triftigere Hinsicht, weshalb der Kontrast zwischen relational und nichtrelational epistemologisch ab einem gewissen Punkt nicht mehr weiterführt, hängt mit der oben zitierten Feststellung Driscolls zusammen, dass die Einordnungen, genauso wie die Technologien selber, wenig reflektierende Diskussion und Kritik nach sich ziehen, da sie alle dem IT-Fachdiskurs entstammen und an diesen adressiert sind. Beispielsweise fällt auf, dass die mit dem Phänomen Big Data in Erscheinung getretenen Technologien und deren epistemische Merkmale als absolut neu, scheinbar mit nichts Dagewesenem vergleichbar, präsentiert werden. Für eine kritische Beurteilung oder weitergehende Einordnung der Technologien bietet eine solche Darstellung nicht genug Reflexionsraum. Nichtsdestoweniger sind die oben herausgearbeiteten Anforderungen und Merkmale der neuen Datenbanktechnologie für die folgende Gegenüberstellung relevant. Herausgestellt wurden jederzeitige Verfügbarkeit, Ausfallsicherheit und Schnelligkeit bei der Datenhaltung und -verarbeitung. Zudem ist anzumerken, dass die Kontrolle und das Verfügen über die neuen »verteilten« Systeme sehr viel weniger unter den usern verteilt ist, als es beim relationalen Modell der Fall ist.

3. SAGE: R ÜCKBLICK UND L ÖSUNGEN

AUF DIE

H ERAUSFORDERUNGEN

Im Folgenden geht es mir darum, die Anforderungen und Lösungen hinsichtlich Datenhaltung, -organisation, -verfügbarkeit und -verarbeitung beim ersten computergestützten Luftabwehrprojekt der USA näher in den Blick zu nehmen.

59 Vgl. M. Stonebraker: »New SQL«. 60 Vgl. beispielsweise Mey, Stefan: »Gut vereinbart«, in: IX, 6/2016, S. 50-53; Anonym: »The promise of the Blockchain. The Trust Machine«, in: The Economist, 31. Oktober 2015, online: http://www.economist.com/news/leaders/21677198-technologybehind-bitcoin-could-transform-how-economy-works-trust-machine (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017)

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Hierbei interessiert mich die technologische Beschaffenheit des Projekts insgesamt und nicht die dabei möglicherweise involvierte Datenbanktechnologie. Das auf digitalen Computern und Radar beruhende Verteidigungsprojekt SAGE ist das erste computergestützte Luftverteidigungssystem Nordamerikas und war das Ergebnis einer Initiative des dortigen Department of Defense, das Potenzial der Luftverteidigung in den 1950er Jahren aufzurüsten. Mit ihm sollten sowjetische Langstreckenbomber aufgespürt, verfolgt und abgefangen werden können. Denn nachdem die Sowjetunion 1949 ihre erste Atomwaffe zum Test gezündet hatte, befand ein vom amerikanischen Verteidigungsministerium beauftragtes Gutachten das Luftverteidigungspotenzial der USA für veraltet und ungenügend. Es bestand zu dem Zeitpunkt aus etwa 150 nicht flächendeckend über das Land verteilten Radarstationen, ergänzt von Bodentruppen, die Beobachtungsaufgaben innehatten. Der Informationsaustausch fand weitgehend mündlich statt und der Luftverteidigungsbesatzung fehlte es zum großen Teil an Einsatzerfahrung.61 SAGE entstand in einem Zwischenraum von Wissenschaft, Industrie und Militär. Schon deshalb steht das Projekt neueren Datentechnologien und -verfahren im Zusammenhang mit Big Data näher als das relationale Datenbankmodell, dessen Struktur auf den Praktiken und Kriterien von Wirtschaftsdenken, Management und Verwaltung beruht. Laut Yvonne Hofstetter, die die Geschichte von Big Data gewissermaßen als Militärgeschichte – jedoch unabhängig von SAGE – erzählt, wurden Lösungen, die auf Haltung und Verarbeitung von Daten im großen Maßstab setzten, zuerst vor über zwei Jahrzehnten im staatlich-militärischen Umfeld nachgefragt und entwickelt.62 Die zentralen Akteure beim sehr viel früher initiierten SAGE Projekt waren die RAND Corporation in Santa Monica, die 1948 von der U.S.-Air Force als non-profit-Organisation mit einer Belegschaft aus zivilen Wissenschaftlern und Beratern gegründet worden war und unter anderem zu Verteidigungsproblemen forschte; das Lincoln Laboratory in Lexington, ein Teil des MIT, das Elektronik entwickelte und Computerexperimente zu Verteidigungszwecken durchführte; außerdem die bereits erwähnte Firma SDC, die zusammen mit dem MIT Programme für SAGE entwickelte. SDC spielte später eine Rolle bei ersten Versuchen, Datenbanksysteme für zivile Zwecke kommerziell anzubieten.63 Beteiligt waren außerdem weitere Privatunternehmen: die IBM, die ab 1958 den Hochgeschwindigkeits-Computer für SAGE baute, die Burroughs Corporation, die die Kommunikationselektronik lieferte, sowie die Telefonfirmen Western Electronic, Bell Telephone und AT&T 61 Vgl. C. Baum: The System Builders, S. 14f; T. Hughes: Rescuing Prometheus, S. 16f. 62 Vgl. Y. Hofstetter: Sie wissen alles, S. 10f; 18. 63 Vgl. T. Haigh: »›A Veritable Bucket of Facts‹«, S. 62.

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– womit allerdings nur die wichtigsten Kontraktoren und Kooperationspartner genannt wären.64 Wie sah das Ergebnis dieser Initiative für ein flächendeckendes computergestütztes Luftabwehrsystems der USA aus? Nordamerika war in etwa 23 sogenannte Air-Defense-Sektoren eingeteilt worden. Jeder dieser Sektoren wurde von einem Kontrollzentrum überwacht, an das Informationen aus der Radar- und Funküberwachung übermittelt wurden.65 Ein technologisches Novum hierbei – und Ergebnis intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeit – war es, dass rohe Radardaten an den Überwachungsörtlichkeiten in digitale Signale umgewandelt werden konnten und dann in Sekundenbruchteilen über Telefonleitungen an das entsprechende Kontrollzentrum weitergeleitet wurden, wo per Computer wiederum die relevante Information aus den Daten extrahiert und die Routen aller Flugobjekte des betreffenden Sektors für die Mitarbeiter auf Displays zur Darstellung gebracht werden konnten.66 Das System arbeitete in Echtzeit; der Computer konnte also die Radarinformationen mehr oder weniger unmittelbar, nachdem er sie empfangen hatte, zur Darstellung bringen. Die Personen, die die Displays bedienten, waren durch sogenanntes time sharing simultan »online«, und konnten direkt in das Geschehen eingreifen.67 Es handelte sich um ein interaktives System mit Mensch-Computer-Interface. Auf Internet-Videoplattformen finden sich zahlreiche Dokumentationsvideos mit Originalmaterial zu SAGE.68 Oft heben diese Beiträge jedoch die Errungenschaften des Projekts für die Computertechnologie hervor und nicht diejenigen für die Militärtechnologie. Hinsichtlich seiner ursprünglichen militärischen Aufgabe war das Luftverteidigungsprojekt tatsächlich wenig erfolgreich. Bevor es überhaupt fertig gestellt werden konnte, war es bereits militärtechnologisch obsolet geworden. Denn mit der sowjetischen Einführung von Trägerraketen und der ersten Sputnikrakete 1957 musste sich die US-amerikanische Verteidigungslinie auf Raketenkonfrontationen einstellen. Für diese war SAGE weder

64 Vgl. Valley, George E.: »How the SAGE Development Began«, in: Annals of the History of Computing, 7 (3), 1985, S. 196-226. 65 Vgl. C. Baum: The System Builders, S. 20. 66 Vgl. C. Baum: The System Builders, S. 35; G. Valley, »How the SAGE Development Began«, S. 198; 200ff; 207-210. 67 Vgl. C. Baum: The System Builders, S. 20f. 68 Vgl. beispielsweise https://youtu.be/aDMceSerEYI (zuletzt aufgerufen am 10. Juni 2017); sowie: https://archive.org/details/OnGuard1956 (zuletzt aufgerufen am 10. Juni 2017).

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konzipiert noch ausgestattet.69 Dass die Forschung und Entwicklung zu SAGE dennoch eine wichtige Episode in der Computergeschichte darstellt, ist vielfach dokumentiert und unumstritten. Darüber hinaus ist das Projekt aber insbesondere interessant für die Thematik und Geschichte der Datenbanken, und das nicht nur, weil der Begriff data base zuerst in der Arbeit der SDC auftaucht, dem Kontraktor für Computersoftware bei SAGE. 70 Vielmehr kommt es mir auf Übereinstimmungen der technologischen Herausforderungen sowie der entwickelten Lösungen mit den oben herausgestellten Spezifika aktueller Entwicklungen in der Datenbanktechnologie an. Die in dieser Hinsicht wichtigsten fünf Merkmale sollen nochmals hervorgehoben werden, Es handelte sich bei SAGE, erstens um das erste große digitale Echtzeitsystem, das eine Reaktion innerhalb von Sekundenbruchteilen ermöglichte: Es reagierte sofort (d.h. mit minimal kleiner Verzögerung) auf Anfragen seiner Benutzer und auf Meldungen von Sensoren.71 Zweitens ist die quantitative Rechnerleistung, die erforderlich war, um die Flugrouten instantan digital darzustellen, ein neues Feature der eingesetzten und speziell für das Projekt entwickelten Hochgeschwindigkeitscomputer. Ein drittes wichtiges Merkmal ist die Zuverlässigkeit des Systems: Die SAGE-Computer waren gedoppelt, also mit Back-up-Systemen ausgestattet, welche es gegen Ausfälle absicherten und den 24-Stunden-Betrieb der Luftverteidigung garantieren sollten. Ein technologisch neues und das vierte entscheidende Merkmal ist das genannte time sharing, die simultane Benutzung des Systems durch mehrere user. Dazu gehört auch der direkte »online« Zugang zu einer gemeinsamen data base. So konnte das interaktive System zugleich live Operationen und Übungssimulationen ausführen. Weiteres Novum und fünftes entscheidendes Merkmal ist die erwähnte Digitalisierung von Radarinformationen und deren Übertragung über Telefonleitungen sowie das sogenannte multiple radar tracking, das eine Art Datenfusion von verschiedenen Radararten darstellt. Dass überhaupt Daten aus den Sensoren gewonnen werden konnten und automatisch digital umgewandelt wurden, stellte eine Innovation dar. Es war auch ein Vorteil des Einsatzes von digitalen Computern – am Anfang des Projekts stand keineswegs fest, dass mit solchen gearbeitet werden 69 Vgl. C. Baum: The System Builders, S. 19f. Laut Baum wurden mit SAGE nichtsdestotrotz Maßstäbe für alle folgenden Militär- und Weltraumsysteme gesetzt. 70 Die SDC hatte – laut einer Aussage von Thomas Haigh – den Begriff data base eingeführt, um die Datensammlung des Projekts zu beschreiben, die von mehreren Subsystemen gespeist, und von mehreren Anwendern gemeinsam genutzte wurde, und auf der die von SAGE erzeugten Darstellungen basierten. Vgl. Th. Haigh: »›A Veritable Bucket of Facts‹«, S. 61. 71 Vgl. C. Baum: The System Builders, S. 20f.

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würde –, dass sie die vielen Inputquellen an Daten integrieren konnten, also Luft-, Wasser- und Bodenüberwachungen.72 Heute würde man es das Problem der Datenintegration nennen. Mit dieser Datenintegration aus verschiedenen Quellen, der kurzen Reaktionszeit, der Verlässlichkeit durch ein Back-Up System und der damit erreichten allzeitigen Verfügbarkeit löste SAGE bereits in den 1960er Jahren ein Big Data Problem, das sich so erst wesentlich später stellen sollte. Die Merkmale der Datenhaltung, -verarbeitung und -bereitstellung weisen Überschneidungen mit denjenigen der neueren Datenbanktechnologien auf. In dieser Hinsicht sind letztere vielleicht besser mit SAGE vergleichbar als mit relationalen Datenbanken. Möchte man die Analogie noch etwas weiter treiben, so ließen sich die Sensoren, mit denen bei SAGE Daten gewonnen wurden, also Überwachungsstationen am Boden, in der Luft und im Wasser, im Hinblick auf aktuelle digitale Praktiken – zumindest im kommerziellen und Social-Media-Bereich – mit den neuen Alltagsbegleitern, den mobile applications (»Apps«) vergleichen.73 Um die technologischen Innovationen der beiden hier fokussierten Episoden tatsächlich einem Vergleich zu unterziehen, müsste allerdings sehr viel mehr ins Detail gegangen und der zeitliche und entwicklungstechnische Abstand sowie auch das Aufkommen des Internets in Rechnung gestellt werden. Ein solcher Technologie-Vergleich war jedoch nicht mein Ziel. Um den Reflexionsraum für neue Datenbanktechnologien und die Art und Weise, wie mit ihnen entscheidungsrelevantes Wissen und Information hergestellt wird, zu erweitern, habe ich vorgeschlagen, über den gängigen Vergleich mit dem verbreiteten älteren, relationalen Datenbankmodell hinaus, mit dem zumeist das Problem der gelockerten Konsistenz der neueren Ansätze in den Vordergrund rückt, strukturelle Übereinstimmungen der spezifischen technologischen Herausforderungen und Lösungen beim militärischen Luftverteidigungssystem SAGE der 1960er Jahre herauszuarbeiten. Das Heranziehen der Luftverteidigungstechnologie machte deutlich, dass die datentechnischen Anforderungen und Probleme, die sich in Zeiten von Big Data stellen, keineswegs völlig neu sind. Aufgrund der Zusammenschau trat außerdem hervor, dass es sich bei den neueren Entwicklungen im Datenbankbereich in weiten Teilen um einer breiteren Öffentlichkeit entzogene Technologien handelt, auch wenn diese häufig auf Open-Source-Lösungen beruhen. Hierin ist 72 Vgl. ebd., S. 15; , 21; 24; 35; Edwards, Paul N.: The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America, Cambridge, MA/London: The MIT Press 1997, S. 75; T. Hughes: Rescuing Prometheus, S. 15; 30; G. E. Valley: »How the SAGE Development Began«, S. 198; 200ff. 73 Yvonne Hofstetter bezeichnet Apps als »Sensoren«. Vgl. Y. Hofstetter: Sie wissen alles, S. 12.

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ein gravierender Unterschied zum relationalen Modell zu sehen und gleichzeitig eine Ähnlichkeit mit militärischen Technologien, die zumeist im Geheimen erforscht und entwickelt werden. Um aber (technik-)optimistisch zu bleiben – ich habe die Analogie mit einer Episode militärischer Forschung und Entwicklung nicht angestrengt, um neue Datenbankmodelle als militärische Überwachungstechnologie darzustellen –, ist ein Gedanke Kevin Driscolls hilfreich: Es handle sich bei Datenbanken um ein menschliches, nicht um ein systemisches Problem; um das Wissen über Datenbanken wieder populärer werden zu lassen, sei weniger eine Generalkritik an Datenbanktechnologie nötig, als vielmehr die gelebten Erfahrungen von Usern und Programmierern mit der Technologie.74 Für die Geisteswissenschaften bedeutet das zunächst, sich das Thema (wieder) anzueignen und es nicht dem affirmativen IT-Expertengespräch zu überlassen.

74 Vgl. K. Driscoll: »From Punched Cards to ›Big Data‹«, S. 28.

Sicherheit – für wen? Drohnen und der »War on Terror« M ICHAEL A NDREAS

1. ALGORITHMISIERUNG – DIE D ROHNE ALS ÖKONOMISCH - MILITÄRISCHES P ARADIGMA Denkt man Friedrich Kittlers Satz über den »Mißbrauch von Heeresgerät« 1 konsequent weiter, so sind, nachdem der amerikanische Bürgerkrieg Speichermedien, der Erste Weltkrieg Übertragungsmedien und der Zweite Weltkrieg den Computer hervorgebracht hat, die gegenwärtigen ›Sozialen Medien‹ ein Missbrauch von Heeresgerät des Kalten Krieges. Geheimdienste wie die CIA, der KGB, die Staatssicherheit und – über den Kalten Krieg hinaus – die NSA sammelten und sammeln Unmengen von Daten, um ein Wissen ›vom Feind‹, aber auch über ›den Freund‹ oder die eigene Bevölkerung zu generieren, um also mittels großer Datensätze ein Optimum an Regierbarkeit zu erreichen.2 Konsequent setzt sich dieses Paradigma im kybernetischen Kapitalismus fort; im Tracking von Internetsurfern, Online-Kunden und Mitgliedern in sozialen Netzwerken bis hin zur selbsttechnologischen Überwachung der eigenen Vitalfunktionen. 3 Diskursiv wird dieses Paradigma in dem emblematischen Bild der Drohne verhandelt. Sie steht nicht nur seit den ersten Einsätzen von unmanned aerial ve1

Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 149.

2

Vgl. McDermott, John: »A Special Supplement: Technology: The Opiate of the Intellectuals. Review of the Program on Technology and Society's Fourth Annual Report: 1967-8«, in: The New York Review of Books 13 (1969), S. 25-35.

3

Vgl. Tiqqun: Kybernetik und Revolte, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007; Dany, HansChristian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Hamburg: Edition Nautilus 2013.

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hicles gegen Ziele in Afghanistan 2001 als ethisch prekäres Instrument in bewaffneten Konflikten in Mittelpunkt, sondern findet auch in zivilen Kontexten in den unterschiedlichsten Erscheinungsweisen Verwendung: als Lieferdrohne, als Quadcopter oder in Hobby-Bausätzen gelangt sie zu sogenannten Prosument_innen und damit in unseren Alltag.4 Als Heeres- oder auch als Staatstechnologie kann die Drohne mit den Medien der ›flüchtigen Überwachung‹ mehr als nur metaphorisch in Deckung gebracht werden. Das haben zuletzt David Lyon und Zygmunt Bauman eindrücklich gezeigt. In Anlehnung an die ubiquitären sozialen Medien schreiben sie: Die Drohnen der nächsten Generation werden alles sehen, während sie selbst verlockend unsichtbar bleiben. Niemand wird sich vor dem Beobachtetwerden schützen können – nirgendwo. Auch die Techniker, die die Drohnen in Marsch setzen, werden dann keine Kontrolle mehr über ihre Bewegungen haben und nicht mehr in der Lage sein, irgendwelche Beobachtungsobjekte von der Überwachung auszunehmen […].5

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die neuesten Militär- und Polizeitechnologien des unmanned vehicle exekutive Verantwortungen zunehmend entpersonalisiert. ›Intelligente‹ Waffen, ›smarte‹ Raketen, Grenzüberwachungsroboter, aufklärende und bewaffnete Drohnen mit klingenden Namen wie ›Reaper‹ und ›Predator‹ könnten dem gemeinen Soldaten wie den Kommandanturen die Entscheidungen abnehmen, und, wie es Lyon und Bauman vermuten, »bald ›autonom‹ töten« – damit fände das Phantasma einer Sicherheit, in der statistische Kalküle militärische Entscheidungen automatisieren, ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Drohne ist somit emblematisches Medium einer zunehmenden Automatisierung mit all ihren anthropologischen,6 ethischen und politischen Implikatio4

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass etwa jüngst die irakische Polizei Prosumer-Drohnen waffenfähig umrüstete. Auf diese Weise wird eine etwaige Polysemie Drohne/Drohne erst recht brüchig. Vgl. Gallagher, Sean: »Iraqi police build quadcopter ›bomber‹ with DJI drone and badminton supplies [Updated]«, in: Ars Technica, 3.3.2017, https://arstechnica.com/information-technology/2017/02/isis-builds-quad copter-bomber-with-dji-drone-and-badminton-supplies/ vom 5.3.2017.

5

Bauman, Zygmunt/Lyon, David: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 33.

6

Vgl. in diesem Zusammenhang die noch junge Diskussion der Drohne im Umfeld posthumanistischer Diskurse, etwa bei Braidotti, Rosi: The Posthuman, Cambridge UK: Polity Press 2013, S. 125f.; ferner Suchman, Lucy: »Situationsbewusstsein. Tödliche Biokonvergenz an den Grenzen von Maschinen und Menschen«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 15 (2016), S. 18–29.

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nen. Damit ist die Drohne gerade in Bezug auf Sicherheit die Konsequenz des ›Jahrhunderts der Kriege‹. 7 Die bewaffneten Konflikte des 20. Jahrhunderts nämlich werden zunehmend unter dem Paradigma der Sicherheit geführt, und das heißt: Mit den Mitteln der Technisierung soll eine Distanz der eigenen Truppen zum Kriegsgeschehen hergestellt werden. Damit fällt auch die Verteidigung vor dem Feind unter die Kalküle von Raum, Risiko und Echtzeit. Dieser Sicherheitsgedanke ist dabei ein zutiefst modernes Phänomen. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg kommt die damit einhergehende gegenseitige Beeinflussung ziviler und militärischer Diskurse in den Blick. Zum Beispiel beschreibt Robert Musil in seiner Erzählung Die Amsel den Einsatz von ›Fliegerpfeilen‹ als Einbruch eines statistischen Kalküls in eine Kriegsführung, die zwangsläufig auch Zivilpersonen betrifft. Mit ethischen Bedenken gegen Drohnen gehen daher auch epistemologische, medienhistorische und ästhetisch-politische Fragen der Moderne einher, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll: Wie greifen aktuelle, wie historische Paradigmen der Fernsteuerung in militärischen und zivilen Zusammenhängen ineinander? Welches Wissen um – und welche Ethiken von – Schnittstellen evozieren komplexe Vehikel, die aus großer Distanz, mit chirurgischer Präzision und in »(lebens-)feindlicher Umgebung« operieren müssen? 8 Gerade in Bezug auf die gegenwärtig in aller gesellschaftlicher Breite geführten Diskussionen um Virtualisierung und eine notwendige Ethik algorithmischer Entscheidung für die nahe Zukunft scheint es mir zielführend, den historischen Kontext eines menschlichen Rückzugs aus diesen »Umgebungen« zu diskutieren.

2. D ISTANZ SCHAFFEN ,

IN

D ISTANZ

HANDELN

Der Begriff der lebensfeindlichen Umgebung, oder des »hostile environment«, darauf weist Grégoire Chamayou in seiner Theorie der Drohne hin, stammt aus der Robotik der 1960er Jahre. Er bezieht sich auf eine Gemengelage aus politischen und naturwissenschaftlichen Diskursen nach 1945: den Kalten Krieg, die Tiefseeforschung sowie die Raumfahrt- und Nuklearprogramme der Zeit, die als propagandistische Überbietung oder als »games of deterrence« (als Wettrüstung mit dem Ziel transatlantischer Erreichbarkeit durch Interkontinentalraketen) die

7

Vgl. Kolko, Gabriel: Das Jahrhundert der Kriege, Frankfurt a.M.: Fischer 1999.

8

Vgl. Clark, John W.: »Remote control in hostile environments«, in: New Scientist 389 (1964), S. 300–303.

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1950er und 1960er Jahre bestimmen.9 Chamayou verweist dazu auf das Paradigma der Fernsteuerung, die als »philanthropisches Instrument« 10 des forschenden Eingriffs in fremde Umgebungen den Menschen vor äußerlichem Einfluss zu schützen vermag, weil die Fernsteuerung eine größtmögliche Distanz zwischen Operator und Umgebung herzustellen in der Lage war. Im Jahr 1964 führte der Ingenieur John Clark eine Bestandsaufnahme einer spezifisch auf ›feindliche Umgebungen‹ ausgerichtete Ökologie durch: »When plans are being made for operations in these [hostile] environments«, so Clark, it is usual to consider only two possibilities: either placing a machine in the environment, or putting a protected man there. A third possibility, however, would in many cases give more satisfactory results than either of the others. This possibility employs a vehicle operating in the hostile environment under remote control by a man in a safe environment.11

Dieser Apparat impliziert also eine spezifische Art und Weise, einen zu erkundenden Raum zu denken, dessen Grundschema Clark am Beispiel der Tiefsee-Sonde skizziert. Der Raum zwischen Operator und Maschine ist zweigeteilt: in ein »feindliches« Gebiet und einen »sicheren« Bereich. Es ist das Bild einer geschützten Macht, die aus einem abgeschirmten Raum in einem gefährlichen Außerhalb interveniert. Diese »telearchische« Macht impliziert nach Chamayou eine asymmetrische Grenze: Sie muss jedes Eindringen von außen blockieren und zugleich durchlässig genug sein, um den mit Eingriffen in die feindliche Umgebung betrauten mechanischen Extremitäten freie Hand zu lassen.12

9

Vgl. für das Zeitalter der Langstreckenraketen ab den 1950er Jahren exemplarisch Brodie, Bernard: Strategy in the missile age, Princeton: Princeton University Press 1959.

10 Chamayou, Grégoire: Ferngesteuerte Gewalt. Eine Theorie der Drohne, Wien: Passagen Verlag 2014, S. 35. 11 J. W. Clark: »Remote control in hostile environments«, S. 300. 12 Vgl. G. Chamayou: Ferngesteuerte Gewalt, S. 33ff.

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Abbildung 1: John W. Clark, Hostile Area vs. Safe Area (1964)

Quelle: J. W. Clark: »Remote control in hostile environments«, S. 300.

Aus phänomenologischer Perspektive taucht diese Unterteilung im Ersten Weltkrieg erstmalig auf. Bereits 1917 und unter dem Eindruck eigener Fronterfahrungen beschrieb der Gestalttheoretiker Kurt Lewin aus der Perspektive des Infanteristen verschiedene Gefahrenzonen13, welche bei Vor- und Zurückrücken in der Kriegslandschaft auftauchen. 1916 machen die technischen Zeichner des Generalstabs des Feldheeres eine Gefahrenzone im Luftraum über der Front aus, und ebenfalls ab 1916 wird die Landschaft im Überflug für die Koordinaten der Artillerie berechenbar gemacht.14 Das Medium der Fotografie spielte im Ersten Weltkrieg bei der technischen Konstitution des militärischen Blicks eine zentrale Rolle. Der durch die frühe Luftbildfotografie eröffnete Raum war abstrakt und überstieg die Wahrnehmungsräume der Piloten. Der Blick aus dem Flugzeug machte die von Stellungsgräben und Artillerieeinsätzen zerfurchte Kriegslandschaft sicht- und aufschreibbar, so dass die Erstellung von sogenannten ›Fliegerbildern‹ zunehmend

13 Vgl. Lewin, Kurt: »Kriegslandschaft«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 12 (1917), S. 440–447. Eine kulturgeschichtliche Einordnung über die Verbindung von Wahrnehmung und literarischen Texten seit dem Ersten Weltkrieg bietet Encke, Julia: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne 1914–1934, München: Fink 2006. 14 Vgl. Kehrt, Christian: Moderne Krieger. Die Technikerfahrung deutscher Militärpiloten 1910–1945 (= Krieg in der Geschichte, Band 58), Paderborn/Darmstadt: Schöningh 2010, S. 166ff.

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zur wichtigsten Aufgabe der Fliegertruppe im Stellungskrieg der Artillerie wurde.15 Abbildung 2: »Luftbildmessung im Ersten Weltkrieg. Eines der ersten ›Reihenbilder‹ von [Oskar] Messter, über Edewalle-Handzaeme von Leutnant von Rosen aufgenommen«, datiert 26.5.1915

Quelle: Bundesarchiv, N 1275 Bild-200/Rosen. CC-BY-SA

15 An anderer Stelle habe ich das ausgeführt, Vgl. Andreas, Michael: »Faces/Façades. BildOberflächen in Harun Farockis Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«, in: Gottfried Schnödl/Christof Windgätter (Hg.), Hautlichkeit. Gestalterische und wissenschaftliche Praktiken zur Oberfläche, Berlin: Kadmos, erscheint 2019; Andreas, Michael: »Beschirmungen. Die Erdoberfläche im militärischen Luftbild und der zivilen ›Luftbildforschung‹ 1914-1945«, in: Christina Lechtermann/Stefan Rieger (Hg.), Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, Zürich: Diaphanes 2015, S. 193–208.

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Lassen sich die Bilderfluten gegenwärtiger Überwachungstechnologien nur noch durch zunehmende Algorithmisierung beherrschbar machen – durch automatisierte Mustererkennung und Bildverarbeitung, welche Visualität in Messdaten, also in individuelle Bewegungsprofile und Biometrien umwandelt und somit prozessierbar macht –, so steht dahinter doch eine Praxis militärischer intelligence, die seit jeher daran bemessen wird, wie effektiv sie Nichtwissen in Wissen überführt.16 Epistemologisch wie ästhetisch ist die Drohne ein Bildmedium: Zum einen unterscheiden sich die Raumerfahrungen der Drohnen-Piloten, der sogenannten operators, wesentlich von denen der Kampfpiloten, insofern sie die Erfahrung eines dreidimensionalen Luftraums auf Schnittstellen, auf Benutzeroberflächen glättet.17 Zum anderen besteht die Aufgabe der Drohne darin, technische Bilder zu erzeugen, welche im Überflug Wissen über Territorien generiert und Raum damit erst beherrschbar macht.18 Auf diese Weise schreibt die Drohne eine zweidimensionale Bildlichkeit fort, welche als fotogrammetrische Vermessung von Fassaden im 19. Jahrhundert erstmalig auftauchte. Diese operative Bildlichkeit etablierte sich in der Luftaufklärung während des Ersten Weltkriegs. Sie fand etwas später in den Zwischenkriegsjahren in der kolonialen Luftbildforschung Verwendung und wurde spätestens seit dem Übergang des Zweiten Weltkriegs in den Kalten Krieg (und seinen heißen Stellvertreterkriegen, insbesondere in Vietnam) zu einem festen Element in geheimdienstlichen und militärischen Aktionen. 16 Vgl. Horn, Eva: »Der Spion«, in: dies./Stefan Kaufmann/Ulrich Bröckling (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin: Kadmos 2002, S. 136–155, hier S. 137. 17 Zu dem Begriff des ›glatten Raums‹ vgl. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 2002, Kap.: »1440 – Das Glatte und das Gekerbte«. Ohne die Unterscheidung von ›glatten‹ und ›gekerbten‹ Räumen an dieser Stelle zu vertiefen, sei doch darauf hingewiesen, dass Deleuze und Guattari den ›glatten Raum‹ ihrer ›Kriegsmaschine‹ zuschlagen. Insofern wird die Begriffskopplung des Cyberspace an das Nomadische durch die Virtualisierung des Krieges mit seinen unmanned systems nachhaltig ausgehöhlt. 18 Auch aus ethischer Perspektive lässt sich eine ›Verflachung‹ des Krieges im postheroischen Zeitalter konstatieren, in dem technologische Überlegenheit über Sieg und Niederlage entscheiden soll, möglichst ohne Verluste auf der eigenen Seite und mit mittelbarer und damit emotionaler Distanz der Waffenoperateure zum Kriegsgeschehen, vgl. Münkler, Herfried: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Dierk Spreen/Trutz von Trotha (Hg.), Krieg und Zivilgesellschaft, Berlin: Duncker & Humblot 2012, S. 175–187 sowie Chamayou, Grégoire: »The manhunt doctrine«, in: Radical Philosophy 169 (2011), S. 2–6.

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Ein wesentliches Argument von NGOs wie der Initiative ›Campaign to Stop Killer Robots‹19 ist die Verhinderung von ausschließlich algorithmisch gesteuerten Waffen, in denen also nicht mehr ein Mensch die Entscheidung zum finalen Todesschuss trifft. Ob vollautonome Maschinen ethisch präziser agieren könnten als der Mensch ist eine Frage, die insbesondere im Feld der Roboterethik diskutiert wird.20 Solange noch Menschen an den militärischen Handlungen beteiligt sind, ist diese Frage zunächst hypothetisch, vielmehr stellt sich die Frage nach den zwischen Pilot und als ›Feind‹ identifiziertem Anderen geschalteten Medien. So geht etwa der US-amerikanische Militärpsychologe Dave Grossmann davon aus, dass zwischen körperlicher Distanz und emotionaler Beteiligung eine Reziprozität bestehe: Je näher sich die Kämpfenden sind, desto exponentiell höher ist das Unbehagen, den Gegner zu töten.21 Auf der anderen Seite haben Studien u.a. des US Armed Forces Health Surveillance Center gezeigt, dass die Risiken für posttraumatischen Stress bei Drohnenpiloten vergleichbar sind mit denen von Kampfpiloten, insbesondere weil Drohnenpiloten, eben anders als Piloten von Kampfflugzeugen oder Bombern, immer auch mit den Bildern von Opfern konfrontiert werden, da sie gehalten sind, nach dem Einsatz den Ort des Angriffs ›aufzuklären‹.22 Für die Tötung aus Distanz ist somit die Beherrschbarkeit einer Vielzahl von technischen Bildern entscheidend, wie sie angeordnet, in welchen Settings sie verwendet, wie sie gespeichert und zur Entscheidungsfindung eingesetzt werden.

19 Die Initiative ist ein Zusammenschluss diverser NGOs und Human-Rights-Organisationen und wurde 2013 in London gegründet. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht »to preemptively ban fully autonomous weapons«, vgl. https://www.stopkillerrobots.org/about-us/ vom 24.4.2017. 20 Etwa bei Arkin, Ronald C./Moshkina, Lilia: »Lethality and Autonomous Robots: An Ethical Stance«, in: 2007 IEEE International Symposium on Technology and Society, ohne Paginierung. Die Roboterethik diskutiert außerdem Entscheidungsmöglichkeiten in anderen lebenskritischen Umfeldern, etwa im Straßenverkehr und der Krankenpflege. 21 Vgl. zu einer exponentiellen Abhängigkeit des menschlichen Aggressionsspektrums zur Distanz: Grossman, Dave: On killing. The psychological cost of learning to kill in war and society, New York: Little Brown and Company 2009, S. 98 [Zitiert nach G. Chamayou: Ferngesteuerte Gewalt, S. 125ff]. 22 Vgl. Otto, Jean L. und Webber, Bryant J.: »Mental Health Diagnoses and Counseling Among Pilots of Remotely Piloted Aircraft in the United States Air Force«, in: Medical Surveillance Monthly Report 20(3) (2013), S. 2–8.

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Die technischen Bilder haben auch eine politische Dimension: Spätestens seit dem Zweiten Golfkrieg dienen sie als »Evidenzmaschinen«23, die jenseits ihres Einsatzes als Gebrauchsbilder im Rahmen militärischer Aufklärung zunehmend Argument für globale Sicherheitsrhetoriken werden. Hier wird das technische Bild zu einem wesentlichen Argument für eine Abwehr, die zukünftige Angriffe verhindern soll: etwa im Falle der vermeintlichen irakischen »weapons of mass destruction« 2003.24 Mit dem Projekt ARGUS-IS (Autonomous Real-Time Ground Ubiquitous Surveillance Imaging System) ist seit 2014 eine Bildmaschine durch das US-Militär im Einsatz, die in der Lage ist, ein Videobild von 1,8 Gigapixeln mit zwölf Einzelbildern pro Sekunde zu erzeugen. Die Bilder einzelner Abschnitte werden zusammengesetzt und ergeben so ein Überflugbild, das bis zu 38 Quadratmeilen Erdoberfläche entspricht. Zur Auswertung solcher Bilder mit einem Volumen von mehreren Terabyte pro Minute reicht kein menschliches Auge aus, daher werden Bewegungsprofile von Menschen und Fahrzeugen durch automatisierte Mustererkennung vorsortiert.25 Mittels ›Global Information Grid‹, also eines mit militärischen Datenbanken verschalteten Kommunikationsnetzwerks entsteht so aus der Verschaltung von Überwachungsdrohnen mit Präzisionswaffen die Fiktion einer militärischen R/Echtzeit/igkeit, deren Phantasmen von Allsichtbarkeit bis in die Akronyme militärischer Benennungen vorgedrungen sind. 26 Die Medienwissenschaftlerin Jutta Weber spricht daher von einem »vierdimensionalen Raum«, der sich durch die Verschaltung von Überwachungsdrohnen mit Präzisionswaffen ergibt und der von älteren »[...] Fantasien einer besseren, sichereren

23 Holert, Tom (Hg.), Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit (= Jahresring, Band 47), Köln: Oktagon 2000, S. 33. 24 Vgl. insbesondere Holert, Tom: »Smoking Gun. Über den ›forensic turn‹ der Weltpolitik«, in: Rolf F. Nohr (Hg.), Evidenz – »das sieht man doch!«, Münster: Lit 2004, S. 20–42. 25 Zu den technischen Details vgl. Gregory, Derek: »From a View to a Kill: Drones and Late Modern War«, in: Theory, Culture & Society 28(7–8) (2012), S. 188–215. 26 Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang ein Projekt der europäischen Grenzagentur Frontex, nicht nur weil es die zuletzt stark in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geratene Thematik der Drohne auf nicht-kriegerische Einsätze erweitert: Mit TALOS (für Transportable Autonomous Patrol for Land Border Surveillance System) ist die Landdrohne zur Überwachung illegaler Grenzübertritte ausgerechnet nach dem sagenhaften Riesen benannt, den Zeus zum Schutz seiner Geliebten Europa im Mittelmeer positionierte.

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Zukunft begleitet [wird], in der nur schlechte Menschen getötet und die Unschuldigen verschont werden.«27 Medientheoretiker wie Paul Virilio oder Jean Baudrillard haben die militärische Fiktion einer ›Echtzeit‹ dekonstruiert und zwar insbesondere mit Blick auf die Zäsur, die der Zweite Golfkrieg (neben dem Kroatienkrieg) auch und vor allem für die Massenmedien bedeutet. Paul Virilio hat auf den Zusammenhang von Fernsehen und den Phantombildern von Raketen hingewiesen. In Krieg und Fernsehen schreibt er: Als Erbe der atomaren Abschreckung ist der Krieg heute zu einem totalitären und allgegenwärtigen Phänomen geworden, bei dem das Bild zu einer ›Munition‹ unter anderen geworden ist. Sowohl das Kriegsgerät [...] als auch sein [Radar- und Video-]Bild sind zu Nebensächlichkeiten geworden, was zählt ist ihre Darstellung in Echtzeit.28

Dieser (technisch inakkuraten) ›Echtzeit‹ ließe sich mit der Medienanthropologie Hans Blumenbergs eine Frage nach der ›Rechtzeitigkeit‹ anschließen.29 Denn Bildlichkeit in Echtzeit vervielfältigt sich durch gegenwärtige Kameratechnologien zu vielen Bildern, die vom Operator rechtzeitig bearbeitet werden müssen, und evoziert damit Fragen nach deren Selektion, Aufarbeitung und Steuerbarkeiten.

27 Blackmore, Tim: War X, Toronto: University of Toronto Press 2005, hier S. 9 [zitiert nach: Weber, Jutta: »Vorratsbomben im Himmel. Über digitalen Terror, unsichtbare Opfer und die Rhetorik der Präzision«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), High-TechKriege. Frieden und Sicherheit in den Zeiten von Drohnen, Kampfrobotern und digitaler Kriegsführung, Berlin 2013, S. 31–43, hier S. 33]. 28 Virilio, Paul: Krieg und Fernsehen, München/Wien: Carl Hanser 1999, S. 17. Vgl. ferner Baudrillard, Jean: »Die Illusion des Krieges«, in: ders.: Die Illusion des Endes, Berlin: Merve 1994, S. 101–106. Zu historischen Annäherungsversuchen des US-Militärs an die Echtzeit (d.h. Reaktionsschnelligkeit) vgl. Pias, Claus: Computer – Spiel – Welten, Zürich: Diaphanes 2002, S. 20–28. 29 Vgl. Blumenberg, Hans: »Echtzeit und Echtheit«, in: ders.: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 325–327.

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Abbildung 3: Darstellung einer möglichst geringen Rechtzeitigkeit zwischen Drohnen-Operateur_innen und dem Einsatzgebiet der Drohnen, US Air Force, ca. 2011

Quelle: Dettmer, Paul: »Developing ISR Capabilities for the 21st Century«. Power Point Präsentation, US-Airforce, undatiert, ca. 2011, S. 19. www.rturner.fastmail.fm/AFITDAY/dettmer.ppt vom 25.4.2017.

Mit Hans Blumenberg lassen sich daher Phantasmen von ›Echtzeit‹ diskutieren, die sich in der Medientheorie der 1990er niedergeschlagen haben, und die auf den zunehmend kybernetisierten und globalisierten Schlachtfeldern der Gegenwart wirksam werden. Mit seiner Fassung des Begriffs ›Echtzeit‹ beschreibt Blumenberg jene Rhetorik der Mensch-Maschine-Interaktion, in der die Maschine innerhalb der ›Eigenzeitlichkeit‹ computergestützter Environments seine Leistung ausbringen muss. In den geschützten Umgebungen einer distanten, ferngesteuerten Kriegsführung bedeutet das, dass die militärische Entscheidung einer ›Echtzeit‹ angenähert werden muss. ›Echtzeit‹ fungiert so als ein sicherheitspolitisches und strategisches Ideal, wie innerhalb einer Mensch-MaschineInteraktion reagiert werden kann. »Riskante Handlungen lassen sich ohne Risiko simulieren, wenn der Zeitmaßstab des Systems, innerhalb dessen oder auf das hin agiert werden soll, und der des agierenden Quasi-Systems, das wir gern Subjekt nennen würden, einander genau zugeordnet werden können.« 30 So plant etwa die U.S. Air Force durch die Verschaltung von Sensoren, menschlichen Drohnen-Operatoren, Entscheidungsträgern (also Generalität) und Algorithmen, 30 H. Blumenberg: »Echtzeit und Echtheit«, S. 325.

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die sogenannte kill chain zwischen Nevada, Virginia und dem Rest der Welt bis zum Jahr 2025 auf wenige Sekunden zu reduzieren.31 Neben der Zeit als eine vierte, sicherheitskritische Dimension kommt eine fünfte hinzu, wenn neben der militärischen Beschleunigung von Kommunikation Schlachtfelder zunehmend ›virtualisiert‹, d.h. in der militärischen Praxis: aus der Ferne steuerbar und ansteuerbar werden. Als moralisch oder perfektioniert (lat.: virtuosus) gilt deshalb ein Krieg, welcher die Verluste gering hält, indem die eigenen Soldaten geschont und unschuldige Opfer auf collateral damage beschränkt werden. Der amerikanische Sicherheitswissenschaftler James Der Derian fügt deshalb den Dimensionen Raum und Zeit die Virtualität (mittellat.: virtualis) als weitere Dimension hinzu, und zwar innerhalb dessen, was er virtuous war nennt: At the heart of virtuous war is the technical ability and ethical imperative to threaten and, if necessary, actualize violence from a distance – with no or minimal casualties. Using networked information and virtual technologies to bring ›there‹ here in near-real time [...], virtuous war [means] advantage for the digitally advanced. Along with time (as in the sense of tempo) as the fourth dimension, virtuality has become the ›fifth dimension‹ of US global hegemony.32

Auch die Technologien der vierten und fünften Dimension gehen, medienästhetisch und epistemologisch gesprochen, auf die kartographischen Kulturtechniken der Landvermessung und Landnahme um 1900 zurück. Denn Aufsicht erzeugt Übersicht, und Übersicht bedarf Flächigkeit, die weitere Dimensionen erst denkund aufschreibbar werden lässt, indem sie zeitliche Prozessierungen und ferngesteuerte Virtuositäten anschlussfähig macht.

3. D ROHNENKRIEG

ALS SOZIALES

L ABORATORIUM

Noch vor dem sogenannten Web 2.0 hat das Privatfernsehen mit sogenannten Reality-Formaten Laborsituationen für das Soziale geschaffen, in denen jedes Wimpernzucken, jede nebenbei getätigte Äußerung, jede noch so nebensächliche Tätigkeit aufgezeichnet und somit als Indiz für spätere Entwicklungen innerhalb sozialer Gefüge gewertet werden konnte.

31 Vgl. D. Gregory: »From a View to a Kill«, S. 197. 32 Der Derian, James: Virtuous War: Mapping the Military-Industrial-Media-Entertainment-Network, London: Routledge 2009, hier S. xxi, Hervorhebung im Original.

S ICHERHEIT – FÜR WEN ? | 121

Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die Automatisierung und Autonomisierung militärischer Entscheidung einzugehen (gegen die auch laut einschlägiger NGOs bisher nur präemptiv protestiert wird, weil ihre Verwirklichung in einer vermuteten Zukunft liegt), soll abschließend noch ein Beispiel herausgegriffen werden, welches die von Der Derian beschriebene geänderte Qualität durch Virtualisierung veranschaulicht. Deutlich wird hier auch noch einmal der Aspekt der ›Telearchik‹, die bei Clark als Fernsteuerung im Rahmen der Episteme der 1960er Jahre auftaucht, ebenso wie die Verschränkung militärischer Panoptika mit denen der sogenannten Kontrollgesellschaft. Ein Technical Report zur Future of Air Force Motion Imagery Exploitation der RAND Corporation erklärt 2012 ausgerechnet die Reality-Formate des Privatfernsehens zum Vorbild für die Informationsverarbeitungsprozesse in den Control Rooms der Air Force. In Deckung gebracht werden hier die Pilotenkabinen mit den Bildregieräumen des sogenannten Reality TV. Als Vorlage für das Umfeld der zahlreichen Drohnenbilder gelten hier nicht weniger als die Regieräume der in Echtzeit inszenierten dokudramatischen Bilder des Privatfernsehens: The dramatic increase in motion imagery collections presents a challenge to the Air Force Distributed Common Ground System [...], the global federated enterprise – and formal weapon system – charged with conducting the vast majority of the processing, exploitation, and dissemination processes required to convert raw motion imagery into intelligence useful to the warfighter.33

Bild-Steuerung betrifft auch in diesem Szenario also eine Handhabung des Sozialen mittels einer immer detailreicher werdenden Aufzeichnung in Bildern. Die in Paul Virilios Medientheorie sogenannte ›Echtzeit‹ und die in Hans Blumenbergs Medienanthropologie problematisierte Echtheit der Echtzeit als Resultat einer Eigenzeitlichkeit von Proband_innen unter Bedingungen computergenerierter Bilder zeugen von einer dringlichen Überprüfung des Verhältnisses von Bildlichkeit und Zeitlichkeit im Umfeld eines Sozialen, das zunehmend auch in den digitalen Umwelten der privaten Netzwerke und des Konsums abbildbar wird. Die paradigmatische near-realtime ubiquitärer Überwachungsbilder durch-

33 Menthe, Lence/Cordova, Amado/Rhodes, Carl/Costello, Rachel /Sullivan, Jeffrey: The future of Air Force motion imagery exploitation. Lessons from the commercial world. Prepared for the United States Air Force. Approved for public release; distribution unlimited, Santa Monica, online: http://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/ technical_reports/2012/RAND_TR1133.pdf, S. xi vom 24.4.2017.

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dringt den militärisch-industriellen Komplex bis in die Ästhetiken dargestellter Gemeinschaften und die Geflechte der sogenannten Sozialen Medien.

Antizipationen des nächsten Anschlags Zur Rolle der Imagination im Sicherheitsdiskurs nach 9/11 M ICHAEL C. F RANK

E INLEITUNG : »W IR KÖNNEN

UNS NICHT SICHER SEIN «

Wir können nicht sicher sein, wann oder wo oder wie die Terroristen zuschlagen werden. Aber wir können sicher sein, dass sie es versuchen werden. Sie könnten versuchen, eher bekannte Methoden zu verwenden, wie etwa das Platzieren von Paket- oder Autobomben an öffentlichen Orten oder die Entführung von Passagierflugzeugen. Doch sie könnten auch etwas anderes probieren, möglicherweise ebenso überraschend wie die Angriffe auf das World Trade Center oder die Theater-Geiselnahme in Moskau. Vielleicht werden sie versuchen, eine sogenannte schmutzige Bombe zu entwickeln oder irgendeine Art von Giftgas; vielleicht werden sie versuchen, Schiffe oder Züge zu verwenden anstelle von Flugzeugen. Kurzum: Wir können uns schlichtweg nicht sicher sein.1

Diese Ausführungen erschienen Anfang November 2002 in einer Presseerklärung des britischen Innenministeriums. Anlass war eine Aufstellung der teilweise drastischen Maßnahmen, welche die Blair-Regierung im Namen der inneren Sicherheit getroffen hatte. Dementsprechend deutlich wird die rhetorische Funktion der mahnenden Zeilen: Indem sie der Bedrohung durch den Terrorismus eindringlich Ausdruck verleihen, sollen sie der britischen Öffentlichkeit Eingriffe in ihre Grundrechte schmackhaft machen. Die hierfür gewählte Strategie ist beispielhaft für die Art und Weise, wie zu jener Zeit – etwas mehr als ein Jahr nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 – von Regierungsvertretern und Sicherheitsexperten beidseits des Atlantik über die Gefahren des Terroris-

1

»Text of terror warning«, in: BBC News, 08.11.2002, http://news.bbc.co.uk/2/hi/ uk_news/politics/2420199.stm (letzter Zugriff 09.03.2018; Übers. MCF).

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mus gesprochen wurde: vorzugsweise unter Rekurs auf ebenso spektakuläre wie spekulative Bedrohungsszenarien. Es lohnt sich, die Erklärung des Home Office etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Gleich zu Beginn wird eingeräumt, dass bezüglich eigentlich aller entscheidenden Fragen – nämlich »wann oder wo oder wie« die Terroristen zuschlagen werden – Ungewissheit besteht. Dem wird dann jedoch eine mit größter Gewissheit vorgetragene Äußerung hinterhergeschickt: Das britische Volk könne »sicher sein«, dass al-Qaeda weitere Anschlagspläne aushecken werde. Das Fehlen konkreter Anhaltspunkte legt nahe, dass es zum damaligen Zeitpunkt nichts weiter zu verkünden gab; schließlich ist die einzige gesicherte Information, die übermittelt werden kann, dass die britische Regierung von einer terroristischen Bedrohung ausgeht. Anstatt es jedoch bei einer solchen allgemeinen faktischen Aussage zu belassen, wechselt der Text unvermittelt in den Konjunktiv, wobei das Modalverb may den hypothetischen Charakter der nachfolgenden Ausführungen signalisiert (»They may attempt«, »they may try«). So werden die Wissenslücken mit reinen Mutmaßungen aufgefüllt: Bezüglich ihrer Wahl von Waffen und Zielen könnten künftige Anschläge denjenigen der Vergangenheit ähneln, aber sie könnten auch schmutzige Bomben oder Giftgas zum Einsatz bringen, also die nach 9/11 im politischen Diskurs so allgegenwärtigen Massenvernichtungswaffen.2 Nach diesem kurzen Exkurs kehrt der Text wieder in den Indikativ zurück, wenn auch nur, um zu wiederholen: »[W]ir können uns schlichtweg nicht sicher sein«, was alle vorangegangenen Spekulationen ad absurdum führt. Nur Minuten, nachdem es veröffentlicht worden war, wurde das vom damaligen Innenminister David Blunkett unterzeichnete Dokument wieder zurückgezogen – mit der Begründung, die betreffende Passage sei versehentlich abgedruckt worden. Es sei eigentlich beabsichtigt gewesen, sie vor der Veröffentli-

2

Das Konzept der ›Massenvernichtungswaffe‹ existierte bereits vor 9/11 und kam namentlich in der Clinton-Ära zu einiger Prominenz. Doch erst im Vorfeld des sogenannten ›Kriegs gegen den Terror‹ wurde es zum Dauerbrenner im politischen Diskurs. In Bezug auf die Bush-Administration bemerkt hierzu Michelle Bentley, Expertin für internationale Beziehungen: »[T]he WMD [i.e. Weapon of Mass Destruction] threat did not have to be proven to actually exist in order to comprise a conceptual resource; the concept could be used to construct a hypothetical threat that policymakers could then draw upon in order to influence political discourse«. Bentley, Michelle: Weapons of Mass Destruction and US Foreign Policy: The Strategic Use of a Concept, London/New York: Routledge 2014, S. 106. Wie das hier diskutierte Beispiel belegt, gilt selbiges für die Blair-Regierung in Großbritannien.

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chung durch eine abgemilderte Version zu ersetzen.3 In der nachgereichten neuen Fassung fehlt dementsprechend die Spekulation über mögliche Angriffe mit nuklearen oder chemischen Waffen. Stattdessen werden allgemeinere Worte gewählt: »[D]ie heutige Sorte von Terrorist sucht nach einer immer dramatischeren und verheerenderen Wirkung.«4 Diese Erklärung, so Blunkett, sei im vollen Bewusstsein des »Risikos unberechtigter Panik und Störung« erfolgt, welche »den Terroristen genau den Sieg bescheren würde, nach dem sie streben«. 5 Obgleich der britische Innenminister also explizit darauf hinwies, dass unspezifische Terrorwarnungen selbst Angst erzeugen können (und obgleich er eine solche Angst bezeichnenderweise als »unberechtigt« charakterisierte), bestand er nichtsdestoweniger darauf, dass die Kernaussage des Statements – über die Notwendigkeit allgemeiner Wachsamkeit – nicht von den Änderungen betroffen sei.6 Somit gilt auch für die entschärfte Fassung der Terrorwarnung: Gegenwärtiges politisches Handeln wird mit einer Gefahrensituation begründet, die sich in der Eventualität zukünftiger – und folglich notwendigerweise hypothetischer – Ereignisse manifestiert. »Den Terroristen« wird dabei zweierlei unterstellt: zum einen, dass sie eine auf Serialität setzende operative Logik verfolgen (jeder Anschlag ist zumindest potentiell Teil einer Reihe und muss dementsprechend als Ankündigung weiterer Gewalt betrachtet werden), und zum anderen, dass diese Serialisierung von Gewalt in einer eskalierenden Dynamik verfangen ist (wonach neue Anschläge alle bisherigen überbieten müssen, um die angestrebte Aufmerksamkeit zu erreichen). Vor diesem Hintergrund fungiert die imaginative Antizipation des nächsten Anschlags als Legitimationsgrundlage für antiterroristische Maßnahmen. Im Folgenden soll diese diskursive Ausrichtung auf mögliche zukünftige Bedrohungen als Teil eines nach 9/11 installierten sicherheitspolitischen Dispositivs beleuchtet werden. ›Dispositiv‹ wird in diesem Zusammenhang – mit Michel Foucault – als eine »Formation« verstanden, »deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten«.7 Dies ist die von Foucault im Anschluss an die Veröffentli3

Vgl. »Blunkett admits terror warning error«, in: BBC News, 08.11.2002: http://news. bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/2419115.stm (letzter Zugriff 09.03.2018).

4

Home Office, zit. n. »Terror warning: Revised statement«, in: BBC News, 08.11.2002: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/2420123.stm (letzter Zugriff 09.03.2018; Übers. MCF).

5

David Blunkett, zit. n. »Blunkett admits terror warning error« (Übers. MCF).

6

Vgl. ebd.

7

Foucault, Michel: »Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris VII in Vincennes«, in: ders.: Dis-

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chung von Der Wille zum Wissen erläuterte Bedeutung des Begriffs. Ihr zufolge stellt das Dispositiv »ein entschieden heterogenes Ensemble« dar, welches »Diskurse«, »Institutionen«, »reglementierende Entscheidungen«, »Gesetze« und »administrative Maßnahmen« ebenso umfasst wie »wissenschaftliche Aussagen«.8 Das Dispositiv ist demnach gewissermaßen das »Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann«.9 Auch das hier zur Diskussion stehende Sicherheitsdispositiv ist aus einem (vermeintlichen) »Notstand« hervorgegangen. Es ist das Produkt der nach den Ereignissen des 11. September 2001 bestehenden Dringlichkeit (urgence), auf die grundlegende Erschütterung eines bestehenden Sicherheitsempfindens angemessen zu »antworten«. Scheinbar paradoxerweise bestand die schnell gefundene Antwort ausgerechnet darin, die Entdeckung der eigenen Verletzlichkeit stets aufs Neue zum Gegenstand des Diskurses zu machen – wodurch die Wahrnehmung eines Notstands entscheidend verstärkt (wenn nicht mit hervorgebracht) wurde. Wie die eingangs zitierte Terrorwarnung des britischen Innenministeriums illustriert, lautet die widersprüchliche Kernaussage des ab Anfang 2002 immer deutlicher zutage tretenden Sicherheitsdiskurses, dass Maßnahmen zum Erhalt der inneren Sicherheit gerade deshalb unumgänglich sind, weil vollumfängliche Sicherheit vor terroristischer Gewalt unmöglich ist (in dem Sinne, dass ein weiterer, noch verheerenderer Anschlag jederzeit geschehen kann) – da die Terroristen nicht nur die Absicht haben, neuerlich zuzuschlagen, sondern sie auch Wege finden werden, dies zu tun. Mein Beitrag möchte sich dieser Art des Sicherheitsdiskurses aus mehreren Perspektiven und mithilfe unterschiedlicher theoretischer Ansätze nähern. Dem Rahmenthema des vorliegenden Sammelbands entsprechend, wird dabei die Bezugnahme auf potentielle Bedrohungen im Vordergrund stehen. Gezeigt werden soll, dass die diskursive Ausrichtung auf kommendes Geschehen mit einer Vernachlässigung tatsächlicher, in der Vergangenheit und Gegenwart liegender Ursachen und Bedingungen terroristischer Gewalt einhergeht. Der Fokus wird stattdessen auf zukünftige Ereignisse verschoben, ohne dass man terroristische Gewalt als Auswirkung vorangegangener Handlungen und Zustände begreift – so, als geschehe sie ganz unabhängig von den politischen Gegebenheiten. Dabei wird der Vorstellungskraft eine so zentrale Funktion eingeräumt, dass die diskursive Grenze zwischen Faktischem und Fiktivem zu verschwimmen droht. Denpositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, übers. von Jutta Kranz, Hans-Joachim Metzger, Ulrich Raulff, Walter Seitter und Elke Wehr, Berlin: Merve Verlag 1978, S. 118-175, hier: S. 120. 8

Ebd., S. 119-120.

9

Ebd., S. 120.

A NTIZIPATIONEN DES NÄCHSTEN A NSCHLAGS | 127

noch hat die so begründete Politik freilich ganz reale Auswirkungen, wie insbesondere der sogenannte Präemptivkrieg gegen den Irak zeigt.

1. F IKTION

ALS

P ROGNOSE

Bereits wenige Wochen nach den Ereignissen des 11. September 2001 wurde erkennbar, wie stark das im Entstehen befindliche Sicherheitsdispositiv auf die Kraft der Vorstellungskraft setzen würde. Im Oktober 2001 – die Feuer am Ground Zero waren noch nicht erloschen – folgten dreißig HollywoodRegisseure, -Produzenten und -Drehbuchautoren der Aufforderung der USRegierung, einen Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus zu leisten. 10 Schauplatz der geheimen Zusammenkünfte war das Institut für kreative Technologien der Universität Südkalifornien, eine regierungsgeförderte Forschungseinrichtung, die 1999 gegründet wurde, um im Auftrag der US-Armee Trainingssoftware für die Simulation von Gefechtssituationen zu entwickeln. Variety, ein wöchentlich erscheinendes, stets bestens über die Vorgänge in Hollywood informiertes Branchenblatt der Unterhaltungsindustrie, berichtete, die kurzfristig einberufene Arbeitsgruppe sei damit beauftragt gewesen, »terroristische Szenarien« zu erarbeiten.11 Dem in Los Angeles ansässigen Journalisten Peter Huck zufolge verzichteten die Teilnehmer auf Entlohnung und vereinbarten darüber hinaus Stillschweigen über ihre konspirativen Treffen.12 Nichtsdestoweniger sickerten einige Namen durch. Wie die in Variety aufgeführte Liste beteiligter Filmschaffender deutlich macht, wurde bei der Auswahl der Teilnehmer keine Vertrautheit mit Geschichte und Gegenwart des Nahen Ostens vorausgesetzt. Ebenso wenig scheint ein weitergehendes Wissen über die Bedingungen und Strategien des islamistischen Selbstmordterrorismus gefragt gewesen zu sein. Einziges Qualifizierungskriterium war offenkundig eine andere Expertise: eine ausgewiesene Erfindungsgabe, vorzugsweise bei der Imagination von Angriffen auf amerikanische Ziele.

10 Vgl. Brodesser, Claude: »Feds seek H’wood’s help. Helmers, scribes probe terrorism at U.S. Army’s request«, in: Variety, 07.10.2001, online: http://variety.com/2001/biz/ news/feds-seek-h-wood-s-help-1117853841/ (letzter Zugriff 09.03.2018); Huck, Peter: »Hollywood goes to war«, in: The Age, 16.09.2002, online: https://www.theage. com.au/articles/2002/09/14/1031608342634.html (letzter Zugriff 09.03.2018). 11 C. Brodesser: »Feds seek H’wood’s help« (Übers. MCF). 12 Vgl. P. Huck: »Hollywood goes to war«.

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Abbildung 1: Eine filmische Präfiguration von 9/11?

Quelle: FIGHT CLUB (USA 1999, R: David Fincher) DVD Twentieth Century Fox 2006

So war unter den zu Rate gezogenen Experten für »terroristische Szenarien« beispielsweise der Regisseur David Fincher. Dessen 1999 erschienener Film FIGHT CLUB (eine Adaption des drei Jahre zuvor veröffentlichten, gleichnamigen Romans von Chuck Palahniuk) endet mit einer sorgfältig inszenierten, computeranimierten Zerstörungsarie. In einem Schlag gegen Kreditkartenunternehmen – die stellvertretend für das bestehende kapitalistische System angegriffen werden – zündet eine amerikanische Terrorzelle Sprengstoff in mehreren Bürogebäuden. In großer Höhe vor einer Fensterwand stehend, betrachten der Protagonist und seine Freundin händchenhaltend den Einsturz mehrerer Wolkenkratzer in einer nicht näher identifizierten amerikanischen Stadt. Diese Sequenz, während der unter anderem zwei nebeneinanderstehende Zwillingstürme in sich zusammensinken (vgl. Abb. 1), ist im Anschluss an die Ereignisse von New York immer wieder als eine filmische Antizipation von 9/11 angeführt worden, die rückblickend auf geradezu unheimliche Weise Aspekte der realen Anschläge vorweggenommen zu haben schien. Doch nicht alle an den Meetings beteiligten Vertreter Hollywoods konnten Arbeiten vorweisen, die in so unmittelbarer zeitlicher und inhaltlicher Nähe zu 9/11 standen. Anwesend war etwa auch Steven E. de Souza, der 1988 und 1990 Erfolge als Koautor des Action-Filmklassikers DIE HARD sowie dessen erster Fortsetzung, DIE HARD 2: DIE HARDER, gefeiert hatte. Letzterer Film spielt am Washington Dulles International Airport – demjenigen Flughafen also, an welchem am Morgen des 11. September 2001 fünf Männer aus Saudi Arabien an Bord einer Maschine nach Los Angeles gehen sollten, um diese zu kapern und in

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Abbildung 2: Poster zu den Filmen INVASION U.S.A. (USA 1985, R: Joseph Zito) und DIE HARD (USA 1988, R: John McTiernan)

Quelle: Internet Movie Database (IMDb)

das Pentagon zu steuern. Im Film sind die Terroristen Amerikaner. Colonel William Stuart, ein abtrünniger Oberst der Special Forces, befehligt ein kleines Heer von Söldnern, mit dem er die Kontrolle über den Flughafen übernimmt. Beabsichtigt ist die Freipressung eines lateinamerikanischen Diktators und Drogenbarons, dem in den USA der Prozess gemacht werden soll. Die Erpresser drohen damit, Passagiermaschinen zum Absturz zu bringen, was sie in einem Fall auch in die Tat umsetzen. Strenggenommen handelt es sich um eine kriminelle Handlung, keinen politisch motivierten Terrorismus. Selbiges gilt (in noch höherem Maße) für den ersten Teil von DIE HARD, der vom Überfall deutscher Gangster auf ein fiktives Unternehmen in einem Büroturm in Los Angeles handelt. Ziel des bewaffneten Raubüberfalls mit Geiselnahme ist der Diebstahl von Wertpapieren. Doch zur Ablenkung gibt der Anführer eine terroristische Zielsetzung vor: Hans Gruber (über den wir nur erfahren, dass er einst dem »Radical WestGerman Volksfrei [sic] Movement« angehörte) fordert willkürlich die Freilassung politischer Gefangener, während seine Bande im Tresorraum zugange ist. Augenscheinlich genügten Motive wie abstürzende Flugzeuge und Explosionen in Wolkenkratzern (vgl. Abb. 2 rechts), um den Mitverfasser der betreffenden Drehbücher als einen potentiellen Experten in Sachen Terrorszenarien auszuweisen. Eine ähnliche Überlegung dürfte dazu geführt haben, dass auch der B-

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Movie-Regisseur Joseph Zito bei den Sitzungen an der Universität Südkalifornien zugegen war. Zito zeichnet unter anderem für das martialische Machwerk INVASION U.S.A. (1985) verantwortlich. Chuck Norris, beliebter Kino-Haudegen der Reagan-Ära, darf es hier in Eigenregie mit einer großen Zahl lateinamerikanischer, kommunistischer Guerillas aufnehmen, die unter der Führung eines sowjetischen Erzschurken Amerikas Südostküste mit Gewalt überziehen. Beworben wurde der Film mit der Zeile: »Niemand dachte, dass es jemals hier geschehen könnte... Amerika war nicht bereit... Aber er schon« (vgl. Abb. 2 links oben). Mit »America wasn’t ready...« ist ein entscheidendes Stichwort gegeben. Denn ein wesentlicher Faktor des kollektiven Schocks, der von den Ereignissen des 11. September 2001 ausging, bestand ja gerade darin, dass die mächtigste Nation der Welt völlig unvorbereitet getroffen worden war – zumindest dem eigenen Empfinden nach. Der dominanten Wahrnehmung zufolge war der Angriff der Terroristen im doppelten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel – out of the blue – erfolgt. Immer wieder wurde das Geschehen mit Attributen wie »unvorstellbar« und »unvorhersehbar« versehen. Dieses Narrativ über 9/11 gewann spätestens mit der Veröffentlichung des 9/11 Commission Report Gestalt. In dem 2004 erschienenen, im Auftrag der US-Regierung verfassten Bericht über Vorgeschichte und Verlauf der Anschläge heißt es, am 11. September 2001 seien Polizisten, Feuerwehrleute und alle anderen Menschen vor Ort mit einer »unvorstellbaren Katastrophe« konfrontiert gewesen, »auf die sie sowohl hinsichtlich ihrer Schulung (training) als auch hinsichtlich ihrer Einstellung (mindset) unvorbereitet waren«.13 Dieser Diagnose entsprechend, legt der Bericht großes Gewicht auf die Bedeutung der antizipativen Imagination. Sich für die Bedrohung des Terrorismus zu wappnen, erfordert demnach eine verstärkte Anstrengung der Vorstellungskraft (imagination), damit bislang unvorstellbare (unimaginable) Ereignisse zu vorhersehbaren Szenarien werden, auf die man sowohl praktisch als auch psychisch eingestellt (und somit vorbereitet) ist. In einem Kapitel zur mangelnden Vorausschau bei der Terrorprävention und zu den Lehren, die sich daraus rückblickend ziehen lassen, werden vier Ebenen unterschieden, auf denen es Versäumnisse gegeben habe. Gleich die erste wird mit dem Titel »Imagination« versehen.14 Der betreffende Abschnitt kommt zu dem Ergebnis, Regierung und Ge13 The 9/11 Commission Report. Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks upon the United States, Official Government Edition, Washington, DC: U.S. Government Printing Office, o.J. [2004], S. 315, https://www.9-11commission.gov/ report/911Report.pdf (letzter Zugriff 09.03.2018; Übers. MCF). 14 Ebd., S. 339.

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heimdienste hätten nicht nur die von al-Qaeda ausgehende Gefahr unterschätzt, sondern auch Hinweise auf die Möglichkeit von Angriffen mit Passagierflugzeugen ignoriert, da ein solches Szenario außerhalb dessen lag, was sie sich vorstellen konnten.15 In diesem Zusammenhang konstatiert der Bericht: »Die Vorstellungskraft ist keine Gabe, die man gewöhnlich mit Bürokratien in Verbindung bringt.« 16 Und im nächsten Absatz heißt es weiter: »Aus diesem Grund ist es wichtig, Wege zu finden, die Ausübung der Vorstellungskraft zu routinisieren und sogar zu bürokratisieren.«17 Gemäß der hier verfolgten Logik darf sich Terrorprävention nicht auf die Sammlung und Auswertung von Daten beschränken; denn außer Wissen über Absichten, Strategien und Fähigkeiten terroristischer Netzwerke ist Fantasie vonnöten, um zu einem Bild davon zu gelangen, welche konkreten Handlungen aus diesen Voraussetzungen erwachsen könnten. Oder anders gesagt: Der AntiTerrorismus erfordert nicht nur die Analyse von Fakten, sondern auch das Durchspielen von Möglichkeiten – ein Denken im Konjunktiv. Die entscheidende Aufgabe des Anti-Terrorismus besteht demzufolge darin, mithilfe der Vorstellungskraft vorherzusagen, was alles geschehen könnte, um auf diesem Wege einen Zustand herzustellen, in dem man von keiner Art des Angriffs mehr überrascht werden kann. Und wer wäre dazu besser berufen als Drehbuchautoren und Regisseure, die sich bereits seit Jahrzehnten unermüdlich Angriffe auf heimische Ziele ausmalen oder spektakuläre Zerstörungsszenarien in amerikanischen Großstädten inszenieren, in zunehmend realistisch wirkenden Bildern? Diese Überlegung scheint das amerikanische Verteidigungsministerium auf die Idee gebracht zu haben, Treffen mit Vertretern Hollywoods anzuberaumen. Erklärtes Ziel der Sitzungen war jedenfalls ein Brainstorming über »mögliche terroristische Angriffsziele und Vorhaben in Amerika«. 18 Und nicht nur das: Wie ein in Variety zitierter Mitarbeiter der Universität Südkalifornien berichtet, sollten darüber hinaus »Lösungen für solche Bedrohungen« erarbeitet werden.19 Das Pentagon war per Telekonferenz zugeschaltet.20 In einer im März 2002 ausgestrahlten Episode der BBC-Nachrichtensendung Panorama, die auch auf die Treffen zwischen Filmschaffenden und ranghohen Vertretern des US-Militärs zu sprechen kommt, äußert sich ein pensionierter Oberstleutnant der US-Armee: »Hollywoods Herangehensweise an den Terro15 Vgl. ebd., S. 339-348. 16 Ebd., S. 344 (Übers. MCF). 17 Ebd. (Übers. MCF). 18 C. Brodesser: »Feds seek H’wood’s help« (Übers. MCF). 19 Ebd. (Übers. MCF). 20 Vgl. ebd.

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rismus in den 90er-Jahren [...] war in jeder Hinsicht scharfsichtiger als so gut wie jeder Geheimdienstbericht, den ich während meiner Zeit im Pentagon gelesen habe.«21 Wie die Fernsehdokumentation mit dem vielsagenden Titel A Warning from Hollywood belegt, handelt es sich hierbei um keine isolierte Wahrnehmung: Auch der Reporter Steve Bradshaw selbst schließt sich der Auffassung an, literarische und vor allem filmische Fiktionen hätten – auf geradezu »unheimliche prophetische« Weise22 – genau die Art von visionären Szenarien geliefert, zu denen Regierungs- und Geheimdienstmitarbeiter (mangels Vorstellungskraft) nicht in der Lage gewesen seien. Genau deshalb, meint Bradshaw, sei es zu den Treffen gekommen – nach der Logik: »Wenn Hollywood einmal die Zukunft vorhergesehen hatte, würde es das vielleicht wieder tun können.«23 Bemerkenswerterweise werden an dieser Stelle fiktionale Werke, die ihr Recht auf ›dichterische Freiheit‹ voll ausschöpfen, explizit als »Prophezeiungen« behandelt – so, als sei es ihre erklärte Absicht gewesen, die Zukunft vorauszusagen. Tatsächlich waren die immer wieder beobachteten Entsprechungen zwischen Hollywood-Blockbustern und den Fernsehbildern des 11. September jedoch Produkte des Zufalls, die noch dazu auf einer selektiven Wahrnehmung beruhten, bei der wesentliche, nicht ins Bild passende Unterschiede geflissentlich übersehen wurden.24 Offenbar spielten diese Unterschiede auch dann keine Rolle, als Pentagon-Mitarbeiter von Hollywood-Vertretern wie Steven E. de Souza forderten, sie sollten »das Verrückteste« sagen, das ihnen in den Sinn komme 25 – 21 US Army Lieutenant Colonel Ralph Peters, zit. n. »A Warning from Hollywood«, Panorama, BBC One, Drehbuch Steve Bradshaw, 24.03.2002, online: http://news. bbc.co.uk/hi/english/static/audio_video/programmes/panorama/transcriptsttranscript_ 24_03_02.txt (letzter Zugriff 09.03.2018; Übers. MCF). 22 BBC-Reporter Steve Bradshaw, zit. n. ebd. (Übers. MCF). An der betreffenden Stelle sagt Bradshaw über Tom Clancys Roman Debt of Honor (einen politischen Thriller aus dem Jahr 1994, in dem ein japanischer Fluglinienpilot eine Boeing 747 in das vollbesetzte Washingtoner Kapitol steuert), dieser erscheine heute »uncannily prophetic«. 23 BBC-Reporter Steve Bradshaw, zit. n. ebd. (Übers. MCF). 24 Vgl. hierzu Scheffer, Bernd: »›… wie im Film‹. Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods«, in: Bernd Scheffer/Oliver Jahraus (Hg): Wie im Film. Zur Analyse populärer Medienereignisse, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2004, S. 13-44, hier: S. 2527; King, Geoff: »›Just Like a Movie‹? 9/11 and Hollywood Spectacle«, in: Geoff King (Hg.), The Spectacle of the Real. From Hollywood to ›Reality‹ TV and Beyond, Bristol/Portland, OR: Intellect 2005, S. 47-57, hier: S. 49-50. 25 Drehbuchautor Steven E. de Souza, zit. n. »A Warning from Hollywood« (Übers. MCF).

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was andeutet, dass von ihnen gerade keine probabilistischen Szenarien erwartet wurden, die einen möglichsten hohen Wahrscheinlichkeitswert erreichen sollten. Es genügten ›reine‹ Fiktionen.

2. I MAGINATION STATT I NFORMATION Die Tatsache, dass sich die US-Regierung in ihrem Bemühen, das Land für die neue Gefahr des anti-amerikanischen Terrorismus zu wappnen, unter anderem auf die Unterhaltungsindustrie berief, sollte freilich nicht überbewertet werden. Es handelte sich bloß um eine Maßnahme unter vielen – und zweifellos eine eher nebensächliche. Aber selbst wenn diese Maßnahme praktisch folgenlos geblieben sein sollte, ist sie doch insofern aufschlussreich, als sie Einblick in eine bestimmte politische Sichtweise auf die Gefahr des Terrorismus gibt. Die den Treffen zugrunde liegende Annahme, willkürlich entworfene Bedrohungsszenarien taugten potentiell als Zukunftsprognosen, basiert auf einer Konfusion verschiedener Diskursmodi und Aussagetypen – und diese Konfusion ist symptomatisch für das hier zur Diskussion stehende Sicherheitsdispositiv. Unter den ersten akademischen Kommentatoren, die sich diesbezüglich kritisch äußerten, waren der ungarisch-britische Soziologe Frank Furedi sowie der baskische, an der Universität Nevada in Reno unterrichtende Kulturanthropologe Joseba Zulaika. Aufgrund ihrer einschlägigen Vorarbeiten aus den 1990er-Jahren waren beide prädestiniert für eine derartige kritische Intervention. In seiner 1996 erschienenen, gemeinsam mit William Douglass verfassten Monographie Terror and Taboo vertritt Zulaika die These, die Figur des Terroristen sei tabubehaftet.26 Bereits fünf Jahre vor 9/11 konstatiert Zulaika einen öffentlichen Umgang mit Terrorismus, bei dem »der bloße Versuch, zu ›wissen‹, was der Terrorist denkt oder wie er lebt, [...] als schändlich oder verwerflich erachtet werden kann«.27 Da prinzipiell nicht mit, sondern nur über Terroristen gesprochen werde, entstehe ein selbstreferentieller Diskurs, der bestimmte Annahmen und Mythen perpetuiere, ohne diese jemals ernsthaft auf die Probe zu stellen (durch eine das Terrorismus-Tabu durchbrechende Auseinandersetzung mit den realen Akteuren).

26 Vgl. Zulaika, Joseba/Douglass, William A.: Terror and Taboo: The Follies, Fables, and Faces of Terrorism, New York/London: Routledge 1996, S. x, sowie v.a. das Kapitel »Terror, Taboo, and the Wild Man«, S. 149-190. 27 Ebd., S. 149 (Übers. MCF).

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Seit dem 11. September 2001 erscheint diese These aktueller denn je, weshalb Zulaika inzwischen eine Fortsetzung vorgelegt hat: Terrorism. The Selffulfilling Prophecy, ein Buch, das sich unter ähnlichen theoretischen Prämissen mit dem Terrorismusdiskurs im Kontext des sogenannten War on Terror auseinandersetzt. Zulaika spricht darin von einer »fehlerhaften Epistemologie«, die dazu führe, dass die »politische Subjektivität« der Terroristen unsichtbar bleibe.28 Die Folge sei eine »Krise des Wissens«.29 In Bezug auf die behaupteten Versäumnisse bei der Imagination von Terroranschlägen mit Linienflugzeugen schreibt Zulaika, diese Fehleranalyse lenke vom eigentlichen Problem ab. Viel gravierender unterschätzt worden sei die »Entscheidungsfähigkeit« der Terroristen, ihre Bereitschaft, aus einem politischen Empfinden (konkret: dem Gefühl der Demütigung) heraus ein solches Szenario in die Tat umzusetzen. 30 Aufgrund der kategorischen Verweigerung eines Dialogs mit dem »tabuisierten Subjekt« des Terroristen sei dessen Wut, sein »Wille zur Selbstaufopferung«, nicht realisiert worden.31 Aus dieser Perspektive betrachtet, illustriert der im vorigen Abschnitt beschriebene Versuch des Pentagon, das kreative Potential Hollywoods abzuschöpfen, ein Phänomen, das Zulaika als »vorsätzliche Unkenntnis« beschreibt.32 Die Idee, mit der Unterstützung Hollywoods fiktive Szenarien zu generieren, scheint auf einen Unwillen hinzudeuten, sich mit den realen Bedingungen des Terrorismus auseinanderzusetzen – sprich: den politischen, sozialen und kulturellen Faktoren, welche die Wurzel des Problems darstellen. Hierzu gehören an vorderster Stelle die vielschichtigen und hochgradig komplexen Verstrickungen der USA im Nahen Osten. In jedem Fall bestätigen die Treffen an der Universität Südkalifornien die Beobachtung Frank Furedis, dass das »Imaginieren des Bösen« nach 9/11 immer wieder als das »Medium« präsentiert wurde, »durch welches ein Verständnis der terroristischen Bedrohung erlangt werden kann«.33 Die bereits erwähnte Passage 28 Zulaika, Joseba: Terrorism. The Self-Fulfilling Prophecy, Chicago/London: The University of Chicago Press, 2009, S. 2 (Übers. MCF). 29 Vgl. ebd. (Übers. MCF). Diesem Befund schließt sich der Politikwissenschaftler Richard Jackson, einflussreicher Mitbegründer der Critical Terrorism Studies, an. Vgl. Jackson, Richard: »The Epistemological Crisis of Counterterrorism«, in Critical Terrorism Studies 8.1 (2015), S. 33-54. 30 J. Zulaika: Terrorism, S. 187 (Übers. MCF). 31 Ebd. (Übers. MCF). 32 Ebd., S. 2 (Übers. MCF). 33 Furedi, Frank: Invitation to Terror. The Expanding Empire of the Unknown, London/New York: Continuum 2007, S. xxvi (Übers. MCF).

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aus dem 9/11 Commission Report, in der eine Routinisierung und Bürokratisierung der Imagination gefordert wird, weist in Furedis Augen – neben vielen anderen, vergleichbaren Texten – darauf hin, dass die fehlende Gewissheit über den Feind im Anti-Terror-Kampf »eher als ein Problem der Imagination denn der Information« betrachtet wird.34 Darin, so Furedi, zeige sich eine Abwertung von Forschung, Argumentation und analytischem Denken. 35 Der Einsatz der Einbildungskraft zur spekulativen Antizipation möglicher Zukunftsszenarien soll Beobachtung und Faktenauswertung ergänzen – oder notfalls auch ersetzen –, was es zunehmend schwerer macht, eine Grenze zwischen Fakt und Fiktion zu ziehen. Als Illustration hierfür bietet sich ein im Juni 2002 veröffentlichtes Dokument des Weißen Hauses an, in dem sich die bemerkenswerte Aussage findet: »Terroristen können heutzutage an jedem Ort und zu jeder Zeit zuschlagen, mit praktisch jeder Art von Waffe.«36 Der Satz erscheint im Rahmen einer Vorstellung des neu einzurichtenden U.S. Department of Homeland Defense, das im November 2002 seine Arbeit aufnahm und dessen zentrale Aufgabe darin besteht, das amerikanische Staatsgebiet und seine Bevölkerung vor terroristischen und anderen Bedrohungen zu schützen. Um die Gründung dieses ausgesprochen kostspieligen Ministeriums zu rechtfertigen – das mit über 200.000 Mitarbeitern zur drittgrößten Regierungsbehörde der USA avancieren sollte –, beschreibt das Weiße Haus Terroristen als geradezu allmächtige Feinde; zumindest scheint die ihnen zugesprochene Fähigkeit, überall, jederzeit und mit jeder erdenklichen Waffe zuzuschlagen, auf eine geradezu übermenschliche, gottgleiche Macht hinzudeuten, wie Furedi ironisch anmerkt. 37 Im englischen Originaltext wird an dieser Stelle die Formulierung »with virtually any weapon« verwendet. Das Adjektiv virtually soll dabei im Sinne von practically oder almost verstanden werden. Es lässt sich jedoch auch als Hinweis auf den virtuellen Charakter der dergestalt heraufbeschworenen Gefahr lesen – in der zweiten vom Duden aufgeführten Bedeutung des Wortes: »nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend« oder, positiv formuliert, »als Möglichkeit vorhanden, denkbar, erdenklich, eventuell, imaginabel, im Bereich des Möglichen, möglich, nicht ausgeschlossen/unmöglich, vorstellbar;

34 Ebd., S. xxiv (Übers. MCF). 35 Vgl. ebd., S. xxvii. 36 Bush, President George W.: The Department of Homeland Security, U.S. Department of Homeland Security, Juni 2002, S. 8, https://www.dhs.gov/xlibrary/assets/book.pdf (letzter Zugriff 09.03.2018; Übers. MCF). 37 Vgl. F. Furedi: Invitation to Terror, S. 7.

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(bildungssprachlich) potenziell«.38 Abermals wird eine weitreichende politische Maßnahme mit einer nur denkbaren, imaginablen, potentiellen Bedrohungssituation legitimiert. Für Furedi versinnbildlichen derartige Verlautbarungen einen von der Annahme der Verletzlichkeit geleiteten Zugang zur Gefahr des Terrorismus (»a vulnerability-led approach«39). Die immer wieder behauptete Gewissheit, die Terroristen könnten an jedem Ort und zu jeder Zeit zuschlagen, rufe eine fatalistische, pessimistische Erwartungshaltung sowie eine Stimmung der Hilflosigkeit hervor. Gravierend unterschätzt werde auf diese Weise die Widerstandsfähigkeit menschlicher Gemeinschaften, die historisch vielfach belegt sei (weshalb Furedi folgerichtig »a resilience-led approach« fordert40). An diesem Punkt greift Furedi seine erstmals 1997 präsentierte Idee von einer zeitgenössischen »Kultur der Angst« auf, die sich in einer neuartigen Einstellung zum Risiko manifestiere. 41 Risiken erscheinen gemäß Furedi heute nicht mehr primär als etwas, das man aktiv und bewusst eingeht (ein Wagnis, das zu einem positiven Resultat führen kann), sondern als etwas, dem wir passiv, ohne eigenes Zutun ausgeliefert sind, und zwar permanent – in dem Gefühl, die Risikofaktoren weder beherrschen noch vollauf verstehen zu können. Die Folge ist ein ausgeprägter Sicherheitsfanatismus aufgrund der Empfindung gesteigerter Verletzlichkeit, obwohl die realen Gefahren zumindest in westlichen Gesellschaften statistisch nachweislich abgenommen haben. Dahinter, so Furedi, steht letztlich ein negatives Menschenbild – ein Abweichen vom Glauben an die Möglichkeit der Überwindung von Gefahren und konstruktiven Zukunftsgestaltung, in Verkennung menschlicher Leistungs- und Widerstandsfähigkeit. Dementsprechend orientiere sich auch die Politik nicht mehr an Visionen, sondern an Angst- und Bedrohungsszenarien.42

38 »Virtuell«, in: Duden, online: https://www.duden.de/rechtschreibung/virtuell (letzter Zugriff 09.03.2018). 39 Vgl. F. Furedi: Invitation to Terror, S. 13-15. 40 Vgl. ebd., S. 184-185. 41 Vgl. Furedi, Frank: Culture of Fear. Risk-taking and the Morality of Low Expectation, London: Cassell 1997. 42 Letzteren Punkt aus Culture of Fear entwickelt der Autor weiter in Furedi, Frank: Politics of Fear. London/New York: Continuum 2005.

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3. T ERROR ,

DIE

»ANGST

VOR DEM NÄCHSTEN

M AL «

Wie Furedi in seiner 2007 erschienenen Fortführung dieser Argumentation materialreich darlegt, betonten westliche Politiker und Sicherheitsexperten nach dem 11. September 2001 unermüdlich die Möglichkeit des nächsten, noch schlimmeren Anschlags – so als wollten sie verhindern, dass man ihnen jemals wieder Versäumnisse bei der Imagination künftiger Katastrophen nachsagen können würde.43 Am Ende seines Buchs gibt Furedi zu bedenken, dass derartige Verlautbarungen genau zu dem vom Terrorismus beabsichtigten Effekt beisteuern – nämlich: ein Gefühl der Unsicherheit herzustellen.44 Dieses Phänomen scheint auch Jacques Derrida vor Augen gehabt zu haben, als er sich in einem Interview fünf Wochen nach dem 11. September 2001 zu den Anschlägen äußerte. Auf die Frage zum Status von 9/11 als Kollektivtrauma erwiderte Derrida (ohne dieser pauschalisierenden Schnelldiagnose grundsätzlich zu widersprechen), wir hätten es nicht mit einem klassischen Trauma zu tun. Denn der Trauma-typische »Wiederholungszwang«, der den Anschlägen nachgefolgt sei, reproduziere nicht das, was »schon geschehen« sei; vielmehr liege hier eine andere »Chrono-Logie«, eine andere »Ordnung der Temporalisierung« vor.45 Auslöser der Traumatisierung sei in diesem Fall kein zeitlich zurückliegendes Ereignis, sondern eine unmittelbar bevorstehende Bedrohung: die von der Politik vielfach beschworene Gefahr künftiger Anschläge mit Massenvernichtungswaffen.46 »Stellen Sie sich vor«, so Derrida weiter, man hätte den Amerikanern [...] und dadurch der ganzen Welt [gesagt]: Was gerade passiert ist [...], das ist etwas Schlimmes, ein schreckliches Verbrechen, ein bodenloser Schmerz, aber [...] es ist zu Ende, es wird nicht wieder anfangen, es wird nichts ebenso Schlimmes oder Schlimmeres mehr geben. Ich vermute, daß Trauer dann in relativ kurzer Zeit möglich gewesen wäre. [...] Aber das ist keineswegs geschehen. Wenn das Böse von

43 Vgl. F. Furedi: Invitation to Terror, S. 9. 44 Eine konsequente Gegenreaktion auf die Angsterzeugung durch terroristische Gewalt müsste Furedis Schlusskapitel zufolge in der Weigerung bestehen, sich terrorisieren zu lassen. Vgl. ebd., S. 171-186. 45 Derrida, Jacques: »Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida«, in: ders./Habermas, Jürgen: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, übers. von Ulrich Michael-Schöll, Berlin/Wien: Philo 2004, S. 117-178, hier S. 130 (Hervorh. vorhanden). 46 Vgl. ebd., S. 131-132.

138 | F RANK einer künftigen Möglichkeit des Schlimmeren ausgeht, von einer künftigen Wiederholung, aber einer schlimmeren, dann gibt es ein Trauma ohne mögliche Trauerarbeit. Ein Trauma wird durch die Zukunft geschaffen, eher durch die Bedrohung eines künftig Schlimmen als durch eine vergangene und ›beendete‹ Aggression.

47

Anstatt umständlich zwischen zwei Arten von Trauma zu unterscheiden, hätte Derrida allerdings schlichtweg bei dem Begriff bleiben können, den er selbst an einer Stelle verwendet, wenn er sagt: »Durch den Terror, den Schrecken, bleibt es [i.e. das Trauma des 11. September] eine offene Wunde im Angesicht der Zukunft, nicht nur im Angesicht der Vergangenheit.«48 Es wäre naheliegend gewesen, auf dieser Grundlage zwischen ›Terror‹ und ›Trauma‹ zu unterscheiden, wie dies die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann tut: »Terror ist Erwartungsangst und daher immer in die Zukunft gerichtet. Trauma dagegen ist die Bindung an eine Vergangenheit, die nicht vergehen will, und immer wieder unvermittelt in die Gegenwart einbricht.«49 9/11, so hätte Derrida formulieren können, stellt einerseits eine traumatische Vergangenheit dar; andererseits lässt uns die immer wieder betonte Gefahr nachfolgender Anschläge die Zukunft fürchten (und in diesem Sinne ›Terror‹ empfinden): Wir können auch deshalb nicht mit 9/11 ›abschließen‹, da wir stets schon auf die nächste Katastrophe eingestellt sind. Dass Angst grundsätzlich zukunftsorientiert ist, betonten bereits die Philosophen der griechischen Antike. Platon legt in Protagoras seinem ehemaligen Lehrer Sokrates die Worte in den Mund, unter Angst und Furcht sei »so etwas wie Erwartung eines Übels« zu verstehen.50 Doch was genau heißt es, ein Übel zu erwarten? Der Platon-Schüler Aristoteles widmet der Angst eine etwas längere Passage seiner Rhetorik, wobei er genau diesen Aspekt in den Vordergrund stellt:

47 Ebd., S. 131 (Hervorh. vorhanden). 48 Ebd., S. 130 (Hervorh. vorhanden). 49 Assmann, Aleida: »Bis der andere Schuh herunterfällt. Über den Unterschied zwischen Terror und Trauma«, in: Felix Hoffmann (Hg.), Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2011, S. 354-359, hier S. 356. 50 Platon: Protagoras, komm. und übers. von Bernd Manuwald, in: ders.: Werke. Übersetzung und Kommentar, Band VI.2, im Auftrag der Kommission für klassische Philologie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hg. von Ernst Heitsch/Carl Werner Müller, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999, 358d [S. 62].

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Furcht [phobos] sei definiert als eine gewisse Art von Kummer und Beunruhigung auf Grund der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzhaften Übels. Nicht jedes Übel fürchtet man, [...] sondern nur was großes Leid oder Vernichtung bedeuten kann, und auch das nur, wenn es nicht weit entfernt, sondern in der Nähe befindlich erscheint, so daß es jederzeit eintreten kann. Da Entfernte fürchtet man ja nicht so sehr. Es wissen doch alle, daß sie sterben werden, aber weil sie nicht nahe davorstehen, kümmern sie sich nicht darum. Wenn das nun Furcht ist, so muß all das furchterregend sein, was sehr die Möglichkeit in sich zu bergen scheint, zu vernichten oder Schaden zu stiften, der auf großes Leid hinausläuft. [...] Dinge dieser Art sind Feindschaft und Zorn derer, die etwas dahingehend ausrichten können. Daß sie dazu willens sind, ist offenkundig; daher sind sie auch nahe daran, es auszuführen [...].51

Angst manifestiert sich in der gedanklichen Antizipation von körperlichem Schmerz oder »Vernichtung«. Auf diese Weise kann sie das Überleben sichern, indem sie das angstempfindende Subjekt die Gefahrenquelle meiden lässt. Doch selbst wenn die Bedrohung objektiv gegeben ist, gilt das subjektive Gefühl der Furcht einer vorgestellten Situation: Der Schmerz ist (noch) nicht real, selbst wenn seine potentielle Quelle real ist. Wie mir scheint, lässt sich dieser Angstbegriff auf produktive Weise für ein Verständnis des politischen Terrors nutzbar machen. Denn als wesentliches Merkmal der als ›Terrorismus‹ bezeichneten Handlungen gilt ja, dass sie mit ihren unmittelbaren materiellen Konsequenzen ihren Zweck noch nicht erfüllt haben. Vielmehr dient der physische Akt dem übergeordneten Zweck, in einer größeren Zielgruppe psychische Reaktionen hervorzurufen. Die so erzielte Erzeugung kollektiv empfundener Unsicherheit fungiert ihrerseits als Mittel für einen wiederum übergeordneten politischen Zweck: die Druckausübung auf eine machthabende Instanz, die auf die störende und destabilisierende Wirkung des Terrorismus reagieren muss, um die gegebene Ordnung zu erhalten. Folglich sind zwei Ziele (im Sinne von targets) zu unterscheiden: ein Ziel erster Ordnung, gegen das der terroristische Akt in direkter Weise gerichtet ist; und ein Ziel zweiter Ordnung, an das der Akt als eine symbolische Botschaft mit dem Ziel der Einschüchterung adressiert ist. Davon wiederum zu unterscheiden ist ein drittes Ziel (im Sinne von objective): die längerfristig angestrebte politische Veränderung.52

51 Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam 2007 [1999], 1382a [S. 89-90]. 52 Vgl. stellvertretend etwa die Definition von Hoffman, Bruce: Inside Terrorism. Revised and Extended Edition, New York: Columbia University Press 2006, S. 40-41.

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Soweit so gut. Doch was genau meinen wir, wenn wir sagen, Terrorismus erzeuge in einer breiten Zielgruppe ›Terror‹? Terrorismusdefinitionen haben insofern einen partiell tautologischen Charakter, als sie das zu definierende Konzept unter anderem mit dem Begriff erklären, von dem dieses Konzept abgeleitet ist: »What makes an act terrorism is that someone is terrified by it.« 53 Offenkundig wird ein alltagssprachliches Verständnis von ›Angst‹ und ›Schrecken‹ vorausgesetzt, ohne dass dieses wesentliche Detail für weiter erklärungsbedürftig erachtet wird.54 Mit Aristoteles könnte man diese Lücke zumindest ansatzweise füllen. Für Terroristen gilt (wie für die von Aristoteles genannten Feinde), dass sie die erklärte Absicht verfolgen, ihre Gegner »zu vernichten oder Schaden zu stiften«. Und in dem Maße, in dem sich eine breite Öffentlichkeit als Gegenstand dieses »Zorn[s]« empfindet und sich einem nahenden »Übel« ausgesetzt sieht, kann von kollektiver Angst gesprochen werden. Am 8. Juli 2006, ein Jahr und einen Tag nach den verheerenden Sprengstoffanschlägen auf drei U-Bahnen und einen Linienbus in London, erscheint im Internet ein Video, das Filmaufnahmen eines der vier Selbstmordattentäter enthält. Der in Bradford geborene und in Leeds aufgewachsene Shehzad Tanweer, Sohn eines pakistanischen Immigranten, richtet sich darin an die britische Öffentlichkeit. Sein unverkennbarer Dialekt zeugt von seiner Herkunft aus West Yorkshire. Doch Tanweer spricht seine Landsleute als ein Außenstehender an, der sich mittlerweile einer transnationalen Gemeinschaft der Muslime zugehörig fühlt. Obgleich er – als volljähriger Staatsbürger des Vereinigten Königreichs – selbst Teil der britischen Wählerschaft ist, erklärt er diese für kollektiv schuldig: Durch die Wahl einer Regierung (so seine Logik), welche die Unterdrückung Palästinas befördere und sich an den Kriegen in Afghanistan und im Irak beteiligt habe, hätten die Briten indirekt Unrecht und Gewalt verübt. Tanweer tritt nun als Rächer all jener Muslime auf, die durch die Politik der Blair-Regierung zu Schaden gekommen sind. An die »Nicht-Muslime Großbritanniens« gerichtet, verkündet er:

53 Juergensmeyer, Mark: Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence. Revised edition, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2003, S. 241. 54 Auf dieses Desiderat haben auch Charles Webel und Brett Bowden aufmerksam gemacht. Vgl. Webel, Charles P.: Terror, Terrorism, and the Human Condition, New York/Basingstoke: Palgrave MacMillan 2004, S. 10; Bowden, Brett: »Terror(s) throughout the Ages«, in: Terror. From Tyrannicide to Terrorism, hg. von Brett Bowden/Michael T. Davis, St. Lucia: University of Queensland Press 2008, S. 1-20, hier S. 13.

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Das, was ihr jetzt erlebt habt, ist bloß der Anfang einer Reihe von Angriffen, die, Inschalla [so Gott will], sich intensivieren und fortdauern wird, bis ihr alle eure Truppen aus Afghanistan und dem Irak abzieht, bis ihr jegliche finanzielle und militärische Unterstützung der USA und Israels beendet und bis ihr alle muslimischen Häftlinge aus dem BelmarshGefängnis und aus Euren anderen Konzentrationslagern entlasst. Und seid Euch bewusst, dass wenn Ihr das nicht einhaltet, dieser Krieg nie enden wird, und dass wir dazu bereit sind, hundertfach unser Leben zu geben für die Sache des Islam. Ihr werdet keinen Frieden haben, bis sich unsere Kinder in Palästina, unsere Mütter und Schwestern in Kaschmir und unsere Brüder in Afghanistan und im Irak im Frieden fühlen. 55

Tanweers Aussage ist darauf angelegt, mit dem Ausblick auf künftige Gewalt eine Korrektur des politischen Ist-Zustands zu erzwingen. Das Zielpublikum soll seine Tat als Teil einer Serie wahrnehmen, die sich so lange fortsetzen wird, bis der von ihm gewünschte Soll-Zustand hergestellt ist. Dabei sind es nicht allein die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits geschehenen Ereignisse vom 7. Juli 2005, die Angst erzeugen sollen: Gegenstand der Drohung sind vielmehr daran anschließende, noch nicht geschehene, lediglich angekündigte Anschläge. Die Öffentlichkeit soll sich vor weiterer, möglicherweise noch massiverer Gewalt fürchten, ganz gleich, ob wirklich bereits eine neue Aktion geplant ist oder nicht. Und diese Erwartungshaltung soll ihrerseits Druck ausüben auf die Regierung, um dergestalt die von den Terroristen angestrebte politische Veränderung zu erzwingen – ganz der hier visualisierten strategischen Logik des Terrors entsprechend (vgl. Abb. 3). Terror ist, mit Aleida Assmann gesprochen, die »Angst vor dem nächsten Mal«.56 In dieser Eigenschaft hat er nicht bloß für die Belange substaatlicher Akteure einen Nutzen, sondern auch für die angegriffene Regierung. Wie das Beispiel 9/11 eindrücklich belegt, gibt die Ausnahmesituation des Terrors Gelegenheit zu politischen Maßnahmen, die unter ›normalen‹ Umständen schwer vermittelbar wären und auf größeren Widerstand stoßen würden.

55 Shehzad Tanweer, zit. n. The Middle East Media Research Institute: »American AlQaeda Operative Adam Gadahn, Al-Qaeda Deputy Al-Zawahiri, and London Bomber Shehzad Tanweer in New Al-Sahab/Al-Qaeda Film Marking the First Anniversary of the 7/7 London Bombings«, in: MEMRI, Special Dispatch No. 1201, 11.07.2006, online: https://www.memri.org/reports/american-al-qaeda-operative-adam-gadahn-alqaeda-deputy-al-zawahiri-and-london-bomber (letzter Aufruf 09.03.2018; Übers. MCF). 56 A. Assmann: »Bis der andere Schuh herunterfällt«, S. 354.

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Abbildung 3: Die dreifache Zielsetzung des Terrorismus politisch motivierte Akteure Gegengewalt

Gewalt gegen Personen, Institutionen oder Infrastrukturen – bzw. Androhung derselben direkte Zielscheibe (Ziel erster Ordnung) Angst vor weiterer Gewalt – Gefühl der Unsicherheit

Maßnahmen im Namen der inneren Sicherheit

indirekte Zielscheibe: breitere Öffentlichkeit (Ziel zweiter Ordnung) Erwartungs- und Handlungsdruck

bestehende politische Ordnung

machthabende Instanz

Quelle: Eigene Darstellung

S CHLUSS : T ERROR IM N AMEN

DES

ANTI -T ERRORISMUS ?

Ende Januar 2002 hält der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einen Vortrag an der National Defense University in Washington. Zentrale Botschaft seiner Ausführungen ist die Notwendigkeit eines verteidigungspolitischen Paradigmenwechsels nach dem 11. September 2001. Die USA, argumentiert Rumsfeld, hätten es heute mit einer vollkommen andersartigen Bedrohungssituation zu tun als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Als entscheidendes Merkmal der neuen Gefahr nennt Rumsfeld die Tatsache, dass sie »nicht annähernd so vorhersehbar« sei wie diejenige, welche von früheren Feinden ausgegangen sei (sprich: der nicht namentlich genannten Sowjetunion und ihren Verbündeten): Wer hätte sich noch vor wenigen Monaten vorstellen können, dass Terroristen kommerzielle Linienflugzeuge in ihre Gewalt bringen, sie in Raketen verwandeln und sie für Schläge gegen das Pentagon und die World-Trade-Türme verwenden, wobei sie Tausende töten? Aber es ist passiert. Und an einem kann kein Zweifel bestehen: In den kommenden Jahren ist es wahrscheinlich, dass wir wieder überrascht werden, von neuen Gegnern, die ebenfalls in unerwarteter Weise zuschlagen könnten.

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Und sobald sie Zugriff auf Waffen mit zunehmender Kraft bekommen – und es kann keinen Zweifel daran geben, dass sie dies tun – werden diese Angriffe noch weit todbringender werden als diejenigen, die wir vor wenigen Monaten erlitten haben. Unsere Herausforderung in diesem neuen Jahrhundert ist schwierig. Sie besteht genau genommen darin, unsere Nation gegen das Unbekannte, das Ungewisse zu verteidigen, von dem wir uns klar sein müssen, dass es unerwartet sein wird.57

Aus diesem Grund, so fügt Rumsfeld hinzu, könne sich die US-Armee nicht länger auf Strategien verlassen, welche im Kontext früherer Konflikte entwickelt worden seien. Zweck seiner Rede ist unverkennbar eine Propagierung der sogenannten Bush-Doktrin, auf deren Grundlage sich die USA das Recht auf ›Präemptivschläge‹ vorbehielt, wenn sie von unmittelbar bevorstehenden kriegerischen Handlungen seitens eines Feindes ausgehen konnte. 58 Rumsfelds Vortrag ist folglich als Teil der aufwendigen rhetorischen Einstimmung auf den IrakKrieg zu verstehen, der ja mit eben dieser Doktrin gerechtfertigt wurde: Der Angriff gegen das Regime Saddam Husseins sollte erfolgen, noch bevor sich das Terrornetzwerk al-Qaeda Zugriff auf die im Irak vermuteten Massenvernichtungswaffen beschaffen konnte (oder genauer gesagt: hätte beschaffen können, wenn die verschiedenen dafür erforderlichen Bedingungen gegeben gewesen wären). Diese als Verteidigungsstrategie deklarierte Taktik beruht auf der Unterstellung einer Handlungsabsicht. Man möchte annehmen, dass das hierfür erforderliche Einfühlen in den Feind, dessen intendierte Aktionen im Keim erstickt werden müssen, noch bevor sie ausgeführt werden können, sehr genaue Kenntnisse über diesen Antagonisten voraussetzt. Doch weit gefehlt: Was in Rumsfelds Vortrag unmittelbar ins Auge sticht, ist das darin gezeichnete Bild eines Krieges gegen das Unbekannte. Der Terrorismus ist demnach ein Gegner, der nicht nur vorübergehend eine unbekannte Größe darstellt; nein, es gehört zu seinen wesentlichen Merkmalen, dass er unberechenbar ist. Rumsfeld wird nicht müde zu betonen, es sei unmöglich zu sagen, wer die USA wann und wie attackieren wer57 »Remarks as Delivered by Secretary of Defense Donald Rumsfeld, National Defense University, Fort McNair, Washington, D.C., Thursday, January 31, 2002«, in: U.S. Department of Defense. Office of the Assistant Secretary of Defense (Public Affairs), online: http://www.defense.gov/speeches/speech.aspx?speechid=183 (letzter Zugriff 27.04.2011, Link nicht mehr verfügbar; Übers. MCF). 58 Vgl. die Definition des Präemptivkrieges bei Wittkopf, Eugene R./Martin, Christopher Jones/Kegley, Charles W.: American Foreign Policy. Pattern and Process. 7. Aufl. Belmont, CA: Thomson Wadsworth 2007, S. 12: »striking militarily an adversary who poses an imminent threat before the adversary can strike first«.

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de. Das einzige, dessen sich die Amerikaner gewiss sein könnten, sei die Tatsache, dass der (nicht näher definierte) Feind zuschlagen werde – und, mehr noch, dass der nächste Angriff gravierend sein werde, noch gravierender sogar als der bis dato schlimmste Terroranschlag der Geschichte. Der amerikanische Medienwissenschaftler Richard Grusin sieht seit 9/11 ein neues »Medienregime« am Werk, das auf die »Prämediation« der Zukunft ausgerichtet sei.59 Premediation soll dabei nicht gleichbedeutend mit prediction verstanden werden: Anders als Vorhersagen ziele die Prämediation nämlich nicht darauf ab, jeweils eine zutreffende Prognose über zukünftige Ereignisse zu treffen (»to get the future right«60). Vielmehr stelle sie bewusst eine Proliferation verschiedener, teilweise widersprüchlicher Zukunftsszenarien her, um auf diese Weise die Möglichkeit unvermittelter, schockartiger Erlebnisse zu verhindern. Jedes noch so katastrophale Ereignis solle letztlich so erlebt und wahrgenommen werden, als sei es bereits medial vermittelt. Zu diesem Zweck werde ein »niedriges Angstniveau« in der Bevölkerung hergestellt und aufrechterhalten, um – als »affektive Prophylaxe« – der Art von Traumatisierung vorzubeugen, wie sie den Vereinigten Staaten am 11. September 2001 widerfahren sei.61 Grusin spricht diesbezüglich auch von »medialer Präemption«.62 Etwas zu knapp und kursorisch betrachtet werden dabei die politischen Implikationen der Prämediation, die – der Argumentation dieses Beitrags entsprechend – als Teil eines umfassenderen Dispositivs verstanden werden muss. Zwar kommt Grusin durchaus darauf zu sprechen, dass das von ihm beschriebene Medienregime die Bush-Doktrin der Präemption unterstützte, indem es den IrakKrieg als eine unausweichliche Zukunft erscheinen ließ (und mit vorbereitete); 63 insgesamt entsteht jedoch der Eindruck einer weitgehenden Autonomie der Medien als eigenes Regime, dem noch dazu altruistische Intentionen unterstellt werden: die Vorbeugung böser Überraschungen.64 Auch der kanadische Philosoph Brian Massumi kommt in seinem 2015 veröffentlichten Buch Ontopower auf die Präemption zu sprechen. Im Gegensatz zu Grusins mediendeterministischem Ansatz bietet Massumis Analyse eine theore59 Grusin, Richard: Premediation. Affect and Mediality after 9/11, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan 2010, passim. 60 Ebd., S. 46. 61 Ebd. (Übers. MCF). 62 Ebd., S. 2 (Übers. MCF). 63 Vgl. ebd., S. 41-50, hier: S. 45. 64 Vgl. ebd., S. 2: »Premediation works to prevent citizens of the global mediasphere from experiencing again the kind of systemic or traumatic shock produced by the events of 9/11 [...]«.

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tische Reflexion des Angstaffekts. Ausgehend von der Annahme, Angst sei »die in der Gegenwart spürbare Wirkung einer bedrohlichen, in der Zukunft liegenden Ursache«,65 argumentiert Massumi, die Strategie der Präemption basiere auf dem Fehlen gegenwärtiger Ursachen, wie sie noch im Kalten Krieg (dem Zeitalter der ›Prävention‹ durch gegenseitige Abschreckung) existierten. Da keine objektiv gegebene Gefahrensituation vorliege – in dem Sinne, dass sich die Präemption auf noch nicht konkret in Erscheinung getretene, potentielle Bedrohungen berufe –, trete eine affektive Logik an die Stelle rationaler Gefahrenanalyse. Dabei werde die (zukünftige) Bedrohung gleichsam durch die (gegenwärtige) Empfindung generiert (im Sinne von: ins Leben gerufen, weshalb Massumi von Onto-Macht spricht).66 Die Folge sei eine Entkoppelung der präemptiven Logik von der empirischen Wirklichkeit: Eine heute als solche empfundene zukünftige Bedrohung bleibe immer genau das – eine »affektive Tatsache«, egal was auch geschehe: »[S]elbst wenn die Bedrohung nicht in einer tatsächlichen Gefahr resultieren sollte, hätte sie dies stets tun können, weshalb die präemptive Handlung immer richtig gewesen sein wird.«67 So wenig Massumi vor Spekulationen zurückschreckt (etwa, wenn er der ›Ontomacht‹ apodiktisch eine erfolgreiche Affektmanipulation unterstellt), so wichtig ist sein Hinweis darauf, dass der sicherheitspolitische Diskurs trotz seinem programmatischen Rekurs auf die Vorstellungskraft Tatsachen schafft. Denn dies ist eine wesentliche Komponente der diskursiven Antizipation zukünftiger Bedrohungen: Die Ausrichtung auf eine vorgestellte Zukunft weicht nicht nur einer unbequemen Analyse realer Gegebenheiten aus; sie schafft auch Spielraum für eine Politik, deren Handlungen im Namen der Terrorismusbekämpfung sowohl ›Terror‹ (sprich: eine angstvolle Erwartungshaltung) als auch neuen Terrorismus hervorrufen können, wie es im Falle des Irak-Kriegs geschehen ist. Diese folgenreiche militärische Intervention sollte eine bis dato nur vorgestellte und, wie sich alsbald erweisen sollte, auch potentiell nicht gegebene Bedrohung neutralisieren, bewirkte jedoch genau das Gegenteil, indem sie die gesamte Region in einen tatsächlichen Gefahrenherd verwandelte.

65 Massumi, Brian: Ontopower. War, Powers, and the State of Perception. Durham/ London: Duke University Press 2015, S. 13 (Übers. MCF). 66 Diese Zusammenfassung bezieht sich auf das einleitende Kaputel »The Primacy of Preemption« in ebd., S. 3-19. 67 Ebd., S. 240 (Übers. MCF).

Zwei Techniken der Zukunftssicherung Komplizität und Souveränität in den Dokumentarfilmen W ORK HARD PLAY HARD (Carmen Losmann, 2011) und IN DIR MUSS BRENNEN

(Katharina Pethke, 2009)

A NNIE R ING

Wie stellt sich der zeitgenössische deutsche Film die Erfahrung des zukünftigen Mittelschichtsarbeiters vor? Im Folgenden analysiere ich zwei Beispiele des aktuellen Dokumentarfilms, in denen das Arbeitsleben von Büroangestellten und Freiberuflern in Deutschland nach der Jahrtausendwende dargestellt wird. WORK HARD PLAY HARD von Carmen Losmann (2011) und IN DIR MUSS BRENNEN von Katharina Pethke (2009) werfen kritische Blicke auf die Konstruktionsbedingungen der Mittelschichtsarbeit in der Epoche des westlichen Kapitalismus: einer Arbeit, die, so zeigen diese Filme, immer unter Bedingungen von Überwachung und Selbstüberwachung stattfindet. Kritisiert werden in diesen Filmen die Arbeitsumstände und teilweise auch die Freizeitumstände der heutigen Mittelschichtsarbeiter, die umgeben von den neuesten und subtilsten Überwachungstechniken und beschäftigt mit der vielseitigen Verbesserung des eigenen Selbst gezeigt werden. Durch Selbstoptimierung werden sie zu Subjekten eines futuristischen Arbeitsmodells, innerhalb dessen durch Rekrutierung der arbeitende Mensch trotz oberflächlicher Liberalität der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsmilieus zur Ressource für das Wachstum des multinationalen Konzerns wird. Einer der wichtigsten Beiträge dieser zwei Filme zu einer Reflektion zeitgenössischer Arbeit ist also der Nachweis und Nachvollzug neuer spätkapitalistischer Verhaltenslehren für Mittelschichtsarbeiter. Diese Verhaltenslehren stellen die Komplizität der Mittelschichtsarbeiter mit dem Unternehmen sicher, insofern ihnen Flexibilität und sogar Glück versprochen wird, sie dabei aber eigentlich in unsichere Arbeitsverhältnisse verstrickt werden.

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Die kritische Beobachtung dieser Verhältnisse wird in den zwei Dokumentarfilmen durch die Entscheidung ihrer Autorinnen für die Technik des ›Direct Cinema‹ ermöglicht, eines Dokumentarstils, der seine Bilder ohne VoiceoverKommentar präsentiert, um die Zuschauer zur eigenen Analyse anzuregen. WORK HARD PLAY HARD bietet eine Montage von unkommentierten Szenen aus der zeitgenössischen Geschäftswelt, mit besonderem Blick auf die architektonischen und technologischen Lösungen, die neuerdings für ein flexibles Arbeitsklima eingesetzt werden, durch die jedoch die Mittelschichtsarbeiter unter dem Vorwand der Sicherheit kontrolliert werden. Unternehmensberater und Manager sind die Nebendarsteller dieses Films, seine Hauptprotagonisten sind die ›untergeordneten‹ Angestellten unserer Zeit, also nicht Manager und Berater, die besonders stark der ständigen Bewertung ihrer Leistungen und Verhaltensweisen ausgeliefert sind. Losmanns Film erkundet die Gründe, warum diese Arbeiter sich auf Überwachungspraktiken einlassen. IN DIR MUSS BRENNEN von Katharina Pethke fokussiert auf Coachings und Selbstverbesserungskurse für Angestellte und Freiberufler, die entweder an Burnout leiden oder gar keine Arbeit haben. Der Film begleitet diese Menschen, die im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts, zur Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise, vermehrt an Problemen leiden, die mit der Prekarität von Arbeit und mit der aus dieser Prekarität resultierenden Anforderung an Selbstoptimierung einhergehen. Pethke interessiert sich, wie Losmann, für die Techniken, die den überforderten Menschen wieder arbeitsfähig machen sollen, wobei seine leidenschaftliche Teilnahme vorausgesetzt wird. Die für diesen Band wichtige Einsicht, um die es in beiden Filmen geht, ist die zentrale Rolle der Komplizenschaft der Mittelschichtsarbeiter in der Sicherung der Zukunft des multinationalen Konzerns. Denn die Angestellten und Freiberufler beteiligen sich selbst an ihrer vielseitigen Überwachung, und an ihrer ›Verbesserung‹ durch Begutachtung und Burnout-Therapie. Wie kann man diese Art der Komplizität theoretisch analysieren? Die Sicherheitspraktiken an den von Losmann in WORK HARD PLAY HARD dargestellten Arbeitsplätzen werden unsichtbar verwirklicht, beziehungsweise: da, wo man die Sicherungsprozesse sehen kann, erscheinen sie angenehm flexibel. Diese unsichtbaren Praktiken untersuche ich im ersten Teil dieses Aufsatzes anhand der Lektüre eines Überwachungsmodells, das Michel Foucault in seiner Genealogie der Macht für die westliche Gesellschaft als Sicherheitsregime, bzw. Sicherheitsdispositiv analysiert hat. Die Überwachung in den von Losmann erkundeten Büroarchitekturen liegt weit entfernt von den disziplinären Strukturen des Panoptikums, ganz zu schweigen vom blutrünstigen Straf-Schauspiel des Schafotts, das in Foucaults Analyse des Machtmodells der Souveränität im prärevolutionären Ancien Régi-

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me wirkungsvoll geschildert wird. Zutreffender lässt sich daher Losmanns Film mit der Terminologie von Foucaults Neoliberalismusanalyse behandeln, die er in seinen Vorlesungen zwischen 1977 und 1978 über Sécurité, Territoire, Population darlegte. Allerdings liefern beide Filme eine zweite, überraschende und für die Fragestellung dieses Bandes sehr einleuchtende Einsicht, nämlich die einer unheimlichen Wiederkehr eines Begriffs der Souveränität als Emotion, die die Beteiligung des Mittelschichtsarbeiters im Spätkapitalismus ›sicherstellt‹. Was aber haben die schönen Post-Bauhaus-Architekturen des beginnenden 21. Jahrhunderts, die beide Filme zeigen, mit dem Machttypus der Souveränität zu tun? Die räumliche Kinematographie in WORK HARD PLAY HARD von Losmann und die Diskurse der Erholung in Pethkes IN DIR MUSS BRENNEN machen eine Kontinuität deutlich zwischen der subjektiven Souveränität, die in der deutschen Alltagssprache für Selbstvertrauen und Fähigkeit steht, und der Souveränität als Foucaultsches Machtmodell, im Zusammenhang mit dem der Körper des Subjekts (Subjekt der königlichen Macht) performativ bestraft wurde, um der Anpassung willen. In der neoliberalen Arbeitswelt, so scheint es in beiden Filmen, kommt es darauf an, dass sich das Subjekt konform verhält, die Arbeit genießt, viel erwirtschaftet und gleichzeitig souverän handelt und sich insofern frei für die Arbeit entscheidet, was beim Subjekt ein Gefühl der Erfüllung hervorruft. Im Film von Pethke wird die Komplexität besonders klar, die die Analyse einer Anpassungsleistung unter dem Zeichen der persönlichen Souveränität mit sich bringt. Die Arbeit des heutigen Mittelschichtsarbeiters zählt hier nicht als bloße körperliche Unterwerfung, und die in ihrem Film gezeigten Coaching-Prozesse stellen eine wünschenswerte Hilfe für die ausgebrannten Patienten dar. Warum wirken diese Filme dann so dystopisch? Um die unheimliche Wiederkehr des Souveränitätsbegriffs in den zwei Filmen zu analysieren, beziehe ich mich im zweiten Teil dieses Aufsatzes auf ein Modell der subjektiven Souveränität, das in den Schriften von Helmuth Plessner eine wichtige Rolle spielt. Plessner theoretisierte in den 20er Jahren eine Souveränität des modernen Selbst. Wie Helmut Lethen in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte (1994) zeigt, 1 adaptierte Plessner das in der 1922 von Carl Schmitt verfassten Politischen Theologie entwickelte Souveränitätskonzept, um Verhaltensweisen darzulegen, durch die das moderne Subjekt seine Handlungsmacht innerhalb gesellschaftlicher Gruppen und Prozesse erhalten konnte. Nach der Krise des Ersten Weltkriegs sollte Plessners idealer Mensch lernen, sich mit respektvoller Distanz vor der Verschmelzung in Gruppen zu schützen und durch die 1

Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 94.

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Aneignung der Techniken von Takt und Diplomatie vor Verletzung. Die von Losmann und Pethke gefilmten Mittelschichtsarbeiter versuchen, sich unabhängig, selbstbewusst und – das Wort taucht auffallend oft in beiden Filmen auf – souverän zu verhalten. Souveränität bedeutet hier eine Emotion, die die Arbeiter in diesen Geschäftsumwelten erfahren können möchten, um effizient, aber auch glücklich innerhalb des heutigen Angestelltendaseins zu operieren. Das gelingt teilweise, denn das Versprechen einer genießbaren persönlichen Souveränität garantiert die Komplizität dieser Mittelschichtsarbeiter in den Begutachtungen, Teamübungen und Einzeltherapien, die ihre Arbeitgeber anwenden, um die Zukunft des multinationalen Konzerns in der freien Marktwirtschaft abzusichern. Andererseits wird der Wunsch nach persönlicher Souveränität zur Fallgrube. Denn die Protagonisten dieser Filme leiden unter der Angst vor der Entblößung vor Teammitgliedern, Arbeitgebern oder gar den Zuschauern, die sie im Kino sehen werden, und natürlich der Angst vor dem Verlust ihrer prekären Arbeitsstellen. In diesen Filmen geht es also um die Sicherung einer sehr spezifischen Zukunft, in der nicht die Sicherheit des arbeitenden Subjekts garantiert wird, sondern die Produktivität des Subjekts innerhalb eines Modells des Wachstums, welches das Subjekt nur indirekt unterstützt und gleichzeitig in einem Zustand der erschöpfenden (Selbst-)Arbeit hält.

1. ARCHITEKTUREN FÜR DIE S ICHERUNG DER Z UKUNFT : S OUVERÄNITÄT , D ISZIPLIN UND S ICHERHEIT Das bekannteste Modell der modernen Überwachung liefert das Panoptikum, ein 1785 von Jeremy Bentham entworfener und in den 1970er Jahren von Michel Foucault analysierter Plan für ein Gefängnis, in dem die Möglichkeit der ständigen Überwachung das Verhalten des Gefangenen effizient absichern sollte. Der Wächter kann alle um seinen Wachturm zirkulär eingerichteten Zellen beobachten, so dass die darin gefangenen Insassen ihr Verhalten dieser Kontrolle anpassen, um so schrittweise zu ›besseren‹ Subjekten zu werden. Nach Foucault ging es im Panoptikum um ein neues Regime, das die souveräne Macht ersetzte. Souveränitätsmodelle ermöglichten es dem Monarchen, unbändige Subjekte nach Wunsch im sogenannten »Fest der Martern« 2 zu töten, in Hinrichtungen also, die in aller Öffentlichkeit stattfanden, um allgemeine Komplizenschaft mit der Staatsgewalt zu fördern. Jeremy Bentham hoffte, mit seinem Entwurf für fa-

2

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 44.

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brikmäßige Einzelhaft zu einer humanitären Zukunft beizutragen, in der die Hinrichtung von problematischen Kriminellen nicht mehr nötig wäre. Durch die Praxis der Selbstkontrolle in der panoptischen Zelle würde der Gefangene letztendlich eine tüchtigere Verhaltensweise für seine Zukunft außerhalb des Gefängnisses erlernen. Die Auswirkung der panoptischen Überwachung ist laut Foucault aber nicht diese humanitäre Alternative, sondern eine Formierung einer Disziplinargesellschaft, die immer auf Technologien der Aufsicht und der Beobachtung angewiesen ist, und also weder die Freiheit des Individuums noch die Sicherheit der Gruppe garantieren kann. Das Panoptikum bleibt in den Kulturwissenschaften seit der Analyse in Foucaults Text Surveiller et Punir (1977) ein wichtiges Symbol der modernen Überwachung als zukunftssicherndes System, und das zu Recht. Foucault analysierte jedoch noch ein anderes Überwachungsmodell, die spätmoderne ›Sécurité‹. Der neue Stil der Überwachung, der in Foucaults Vorlesungen aus dem Jahr 1977–78 zu Sécurité, territoire, population behandelt wird, beruht auf unauffällige Prozesse von zeitlicher und topographischer Zukunftsplanung wie Stadtbau, Vorhersagen über Bevölkerungsstatistik, Gesundheitsvorsorge und, das ist entscheidend, die Öffnung von regionalen und staatlichen Grenzen, um einen freifließenden Austausch zwischen Menschen und Gütern zu garantieren. Mit Foucaults Analyse lässt sich der Neoliberalismus beschreiben, und das ist meine Lesart im folgenden Kapitel. Denn Foucault analysiert in seinen Vorlesungen eine kapitalistische Marktlogik, die zur Sicherung der Zukunft eine bestimmte Art der Liberalisierung anstrebt und der gleichzeitig Unauffälligwerden von Überwachungsstrukturen verlangt. Die in Sécurité, territoire, population vorgestellten Thesen bieten, gegenüber dem selten realisierte Entwurf des Panoptikums aus dem 18. Jahrhundert, ein angemesseneres Modell an, um Überwachungstechniken in der späten westlichen Moderne zu analysieren. 3 Foucaults Thesen zur Sicherheit bekunden eine Entwicklung der Überlegungen in seinen früheren Schriften Folie et Déraison (1961) und Surveiller et punir (1976) zu dem spektakulären Hinrichtungsregime der ›Souveränität‹ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und dem unausweichlichen Sichtbarkeitsmodell der ›Disziplin‹, die sich im 19. Jahrhundert festsetzte. In seinen Vorlesungen legte 3

Es gibt manche Gefängnisse, die panoptische Prinzipien teilweise anwenden, darunter der Vestre Fængsel in Kopenhagen, dessen Insassen bis zum späten 20. Jahrhundert sogar während des Gottesdienstes in der Kapelle in Einzelzellen saßen. Auch das Eastern State Penitentiary in Philadelphia machte von Benthams radialem Entwurf Gebrauch. Dickens, der 1842 dorthin zu Besuch kam, schrieb danach mit Empörung über die Existenz dieses Gefängnisses. (Dickens, Charles: American Notes. For General Circulation, London: Penguin 2000, S. 112).

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Foucault Rechenschaft ab über die fließenden, aber sicherheitsorientierten Planungsmodelle der Macht im Westen des 20. Jahrhunderts. Foucault schildert das nicht als Bruch, sondern als Koexistenz verschiedener Machttypen, die einander sogar brauchen, um funktionieren zu können. Die neuen Modelle sind aus den ordentlich geplanten Architekturen der Disziplin erwachsen, bieten jedoch ihren Subjekten eine größere Handlungsfreiheit an, beziehungsweise geben ihnen das Gefühl, mit Freiheit zu handeln, aber gleichzeitig in Sicherheit zu leben. Denn die Räume der Sicherheit (die für die Zwecke der Analyse bei Foucault ›Milieus‹ heißen) haben offene Grenzen, und ihre Herrscher führen Planungsmaßnahmen ein, um die Zukunft mit eingebauter Flexibilität einzurichten: [D]ie Sicherheit [wird] versuchen, ein Milieu im Zusammenhang mit Ereignissen oder Serien von Ereignissen oder möglichen Elementen zu gestalten, Serien, die in einem multivalenten und transformierbaren Rahmen reguliert werden müssen. Der Sicherheitsraum verweist also auf […] das Zeitliche und das Aleatorische, ein Zeitliches und ein Aleatorisches, die in einen gegebenen Raum eingeschrieben werden müssen. 4

Um im Sinne von Sicherheit »Aleatorisches« – das heißt spontane, aber noch vorhersehbare Vorkommnisse – in einen Raum »einzuschreiben«, d.h. für sie zu planen, müssen Foucaults Modell zufolge Prognosen erstellt und für mögliche Ereignisse geplant werden, die auf der Grundlage von Datenanalysen für wahrscheinlich erklärt können. Weil Kontrollverlust und Kriminalität durch Planung, und nicht (unbedingt) durch Einkerkerungen von Individuen vorgebeugt wird, weicht die Macht in Sicherheitsregimen in die Unauffälligkeit zurück, und Bewohner des versicherheitlichten Raumes genießen dadurch das Gefühl, Freiheit zu erleben, indem sie frei über Grenzen reisen und Handel treiben dürfen. Viel subtiler als den durchleuchteten Gängen und Zellen der Disziplin gelingt es der ›Sicherheit‹ unbesehen Gesundheits- und Nationalitätsdaten zu sammeln. Heutzutage passiert das auf noch unauffälligere Weise in den virtuell gesammelten Archiven von Daten, die die ganze Zeit aber der Mehrheit der Menschen freie Bewegung zugestehen, weil ihre Sammlung teilweise durch die Beweglichkeit der Menschen, mittels GPS-Nutzung und Mobilität über nationalen Grenzen ermöglicht wird.

4

Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 40.

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2. N EUE R ÄUME DER S ICHERHEIT : W ORK H ARD P LAY H ARD Foucaults Vorlesungen zur Sicherheit stellen ein neues Modell der Macht vor, worin Subjekt und Gemeinschaft nicht diszipliniert werden, sondern in ein unsichtbar kontrolliertes Fließen von Gütern und Menschen gelenkt werden. Diese fließenden Formen von Sicherheit bei Foucault, die die vorwiegend räumliche Form der Macht in der späten Moderne ausmachen, erkennt man sehr deutlich in WORK HARD PLAY HARD. Losmann beobachtet in ihrem Film die Entwicklung von Arbeitsplätzen nach der Weltwirtschaftskrise bei multinationalen Konzernen wie Accenture, Unilever und Vodafone. Sie zeigt Gespräche zwischen Architekten der Firma Behnisch und Unternehmensberatern von Quickborner Team, die zusammen den Entwurf eines neuen Hauptsitzes für Unilever planen. Räume werden entworfen, in denen sich prekär angestellte Mittelschichtsarbeiter zu Hause fühlen sollen und aufgrund dieses angenehmen Gefühls ihre Komplizität für das Wachstum des multinationalen Konzerns leisten. Wichtig, um die Komplizität der Mittelschichtsarbeiter zu sichern, ist die Herstellung »non-territorialer Arbeitsplatzkonzepte«, wie es im Film genannt wird, in denen Mitarbeiter sich nicht eingeengt fühlen, weil sie sich innerhalb des Bürogebäudes hin und her bewegen dürfen. Die Implementierung des innenarchitektonischen Modells ›Hotdesking‹ zählt dazu. Laut diesem Modell haben Angestellte keinen eigenen Schreibtisch und dürfen sich während des Tages bewegen oder, wie der Film zeigt, müssen dies tun, um Platz für andere zu machen. Erklärt werden die neuen Büro-Entwürfe von einem Manager in der Firma Accenture, der in einem Gespräch mit einem Ansprechpartner im Off über Entwürfe von zukünftigen Arbeitsräumen unter dem Namen ›Workplace 2020‹ redet. Er beschreibt das ›Vitra‹-Konzept, worin der Arbeitsraum so entworfen wird, dass er sich wie ein Zuhause anfühlt. Es werden Kaffeeecken eingerichtet, wo Angestellte sich angeblich gerne aufhalten sollen und sich in Pausen während des Arbeitstages »über Fußball oder über Erlebnisse übers Wochenende unterhalten sollen«. Die Designer haben jedoch darauf zu achten, so dieser Chef, dass Brauntöne nur selektiv benutzt werden, damit das Büro wiederum nicht zu sehr wie ein Zuhause aussieht. Das neue Büro soll also nicht uneingeschränkt Sicherheit, im Sinne von Behaglichkeit, anbieten, sondern ein Gefühl der Sicherheit evozieren, um gleichzeitig die Mobilität des zukünftigen Angestellten zu ermutigen. Losmanns Kamera zeigt in einem unheimlichen, flächendeckenden Kameraschwenk, wie gut moderne Büroräume für die Überwachung der Mitarbeiter geeignet sind, auch wenn diese unsichtbar für die Mittelschichtsarbeiter bleibt,

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die sich in diesen Räumen mobiler und kreativer fühlen sollen als in allen traditionellen Arbeitskontexten. In diesen flexibel aussehenden Milieus wird das zukünftige Arbeitssubjekt unsichtbar modelliert. Der Manager in der Accenture-Sequenz spricht von einem für seine Firma besonders wünschenswerten ›Typ‹, den der ›Workplace 2020‹ besonders ansprechen soll. Die nächsten Szenen im Film machen klar, was für ein Subjekt angesprochen werden soll. Die Zuschauer sehen, wie die deutsche Firma Schott Solar seine Angestellten von einem Unternehmensberater in Assessment-Interviews begutachten lässt. Hierbei geht es nicht um ein Vorstellungsgespräch. Stattdessen streben die Angestellten an, ihre Stellen zu behalten. Dafür müssen sie beweisen, welche Fähigkeiten sie in der Zeit ihrer Beschäftigung bei dem Unternehmen erworben haben und wie sie diese weiterentwickeln wollen. Der Prozess ist ambivalent. Die persönlichen Eigenschaften, die hier als erstrebenswert dargestellt sind, bedeuten Selbstmanagement vonseiten eines Subjekts, welches Führungsqualitäten zeigt. Um die Begutachtung zu bestehen, muss der Mitarbeiter beweisen, dass er sich leitend verhalten kann, gleichzeitig aber den von seinem Arbeitgeber gesetzten Rahmen seiner Rolle einhält. Abbildung 1: Angestellter vor dem Assessment-Interview

Quelle: WORK HARD PLAY HARD (Deutschland 2011, R: Carmen Losmann)5

Nach den Szenen im Assessment-Center, die in schmerzhaften Nahaufnahmen gedreht werden, sehen Losmanns Zuschauer eine teambildende Übung in der Lüneburger Heide. Eine Gruppe von Angestellten navigiert zusammen durch 5

Alle Bilder wurden mit freundlicher Genehmigung der Filmemacherinnen reproduziert.

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einen dunklen Tunnel, eine körperliche Herausforderung, die über die distanzierten Bilder von CCTV-Kameras gezeigt wird. Nach den Bildern der durch den Tunnel kriechenden Leute sehen Losmanns Zuschauer das Team beim Schreiben eines ›Codex‹, einer Art Gebrauchsanweisung für Mitarbeiter ihrer Firma, an die sie sich selbst halten wollen. Am Ende der Übung lesen die Teammitglieder Regeln vor, die lauten: »Anweisungen werden nicht blind übernommen« und »jeder verhält sich souverän«. Auch hier werden die ambivalenten Voraussetzungen profiliert, die am Arbeitsplatz der Gegenwart gelten: Der Mittelschichtsarbeiter muss gleichzeitig mitmachen und die Initiative ergreifen, seine Arbeit also selbstbewusst und angepasst ausführen. Losmann verflechtet die Talking Heads- und Gruppen-Gespräche in ihrem Film mit langen Aufnahmen, in denen Schwenks durch futuristische Arbeitsräume ohne Voiceover aneinander geschnitten werden. Dieses schweigende, panoramierende Schwenken evoziert bewusst eine post-panoptische Überwachung, erlangt durch die Unsichtbarkeit und angebliche Flexibilität des spätmodernen Sicherheitsregimes. Der Film endet mit einer langen Coda, in der mehrere unkommentierte Szenen zusammenmontiert sind, gedreht in den Räumen der Unternehmensberater Towers Watson, Kienbaum, Change Agents und Endress+Hauser. Diese Szenen werden mit den letzten Einstellungen aus der teambildenden Übung in der Lüneburger Heide zusammengeschnitten. Durch den Gegensatz zu den Szenen mit Beratungen darüber, wie Firmen ihre Praktiken für die Kontrolle des flexiblen Arbeitsplatzes am besten gestalten können, wirken in der Montage die vom Team entworfenen Anweisungen für ein sicheres, selbstbewusstes aber gleichzeitig konformes Verhalten unheimlich. In ihrer Kombination machen die von Losmann verwendeten Filmtechniken von Talking Heads, panoramierenden Raumaufnahmen und unkommentierten Montagen die Praktiken von Zukunftssicherung sichtbar, die neuerdings angewandt werden, um Mittelschichtsarbeiter zu kontrollieren, und zwar mit ihrer bewussten Beteiligung. Losmann sagte auf einer Tagung in Cambridge, dass die in ihrem Film gezeigten Angestellten sich »eine souveräne Persönlichkeit« wünschen. Ob in einem Assessment-Gespräch oder in einem Teamtraining wollen diese Mitarbeiter mit Freiheit und eigener Entscheidungskraft handeln. Sie wollen nicht abhängig sein, keine Subjekte, die in einer Masse von manipulierten Arbeitern verschwinden, sondern sie wollen ihre Individualität und das dadurch errungene Gefühl von Freiheit genießen. Wie Losmann zeigt, werden diese Wünsche nach der Weltwirtschaftskrise in einem Geschäftsmilieu angesprochen, das zunehmend flexible, weil zunehmend prekäre Arbeitsmodelle entwickelt. Unter unsicheren Geschäftsbedingungen werden Mitarbeiter benötigt, die gerne während langer

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Arbeitstage zum Wachstum des Geschäfts beitragen. Deswegen werden die im Film gezeigten ›Vitra‹-Entwürfe für häuslich-gemütliche Bürogebäude angewandt, aber auch von den Mitarbeitern Charaktereigenschaften verlangt, die selbst unter unsicheren Arbeitsbedingungen unabhängiges Verhalten garantieren sollen. Die bereits angestellten Mitarbeiter werden daraufhin trainiert, dass sie durch ihre persönliche Souveränität die Unsicherheit ihrer Arbeitsbedingungen bekräftigen.

3. H ELMUTH P LESSNERS H YGIENESYSTEM DER D ISTANZ : EIN M ODELL FÜR DIE SOUVERÄNE S UBJEKTIVITÄT Die von den Angestellten ersehnte Souveränität stellt ein Versprechen dar, für die Teilnahme an den Regeln der unsicheren Mittelschichtsarbeit, wie sie sich nach der Weltwirtschaftskrise gestaltet, entschädigt zu werden. Die ›flexibel‹ angestellten Mitarbeiter von Firmen wie Accenture und Vodafone behalten ihre unabhängige Entscheidungskraft, solange sie ihre Arbeit mit reservierter Selbstkontrolle durchführen. Ein Prototyp für die kontrolliert selbstbewussten Mittelschichtsarbeiter in WORK HARD PLAY HARD ist der distanzierte Mensch, den Helmuth Plessner in Grenzen der Gemeinschaft: Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) beschrieb. Plessner adressierte seine Schrift nicht nur »an die philosophische Fachwelt«6, sondern auch an Laien, die nach Hinweisen suchten, wie sie sich im Nachkriegsdeutschland vor den Verunsicherungen schützen können, die mit den Wandlungen dieser neuen Zeit einhergingen. Helmut Lethen analysiert die Theorie Helmuth Plessners in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte (1994) als ein Beispiel für die sehr unterschiedlichen Ratgeber, die in der Krisenzeit der Weimarer Republik geschrieben wurden.7 In der Weimarer Republik fand sich der liberale, jüdische Plessner zwischen zwei für ihn nicht erstrebenswerten Formen von Gemeinschaft wieder: der Gemeinschaft des kommenden Faschismus und der des Kommunismus. Diese Gemeinschaften seien radikal (lat.: Radix = Wurzel), weil sie einen »Rückgang auf die Wurzeln der Existenz«8 verlangen, und sie seien abzulehnen, weil sie durch »Zartheit bis zur Kraftlosig-

6

Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 11.

7

Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 53-133.

8

H. Plessner: Grenzen, S. 14.

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keit« und »Nachgiebigkeit bis zur Würdelosigkeit« gekennzeichnet seien.9 Gegen diese Gemeinschaftsideologien, in denen das »Selbst […] dem Ganzen zum Opfer gebracht wird«10, stellte Plessner ein »Hygienesystem der Seele«11 vor, in dem ein von persönlicher Kraft und Würde geprägtes Verhalten, im Privaten wie in der Öffentlichkeit, eine Gesellschaft hervorbringen sollte, die wir als nachhaltig beschreiben können. Die Bewohner dieser zukünftigen Gesellschaft brauchten »die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahekommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen«12. Plessners Mensch ist ein verletzlicher Typus, der sich aber dadurch schützen kann, dass er lernt, seine Triebe und Gefühle zu verstecken, und so seine Begegnungen mit anderen zu beherrschen. Eine laut Plessner eigentlich angeborene »natürliche Künstlichkeit« kennzeichnet solche erst noch zu erlernenden Begegnungsformen und produziert die wünschenswerte Gesellschaft, deren Mitglieder sich begegnen, sich unbeschwert ausdrücken und ohne Verletzung wieder auseinandergehen können. Wichtige Merkmale der von Plessner betonten Künstlichkeit der Begegnungsformen sind »Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit«13. Solche Verhaltensweisen bestimmen eine Praxis der »Distanz«14, in der der Mensch eine ›Maske‹ trägt und taktisch zwischen authentischem und sozialem Selbst unterscheiden kann. Die Maske zu tragen, und derart am gesellschaftlichen Spiel teilzunehmen, bietet sowohl Schutz davor, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, als auch einen Zuwachs an Freiheit, der durch eine verminderte Verletzlichkeit gesichert werden soll. Das Subjekt Plessners wird durch die Entwicklung seiner distanzierten Maske zum Souverän über das eigene Leben. In Helmut Lethens Analyse von Plessners Anthropologie der Distanz wird jedoch auch erklärt, weshalb die Souveränität, die durch das Meistern der jeweiligen Verhaltensregeln gewonnen werden soll, so schwer zu erlangen ist. Der distanzierte Mensch muss nämlich trotz der Präsenz einer schützenden Maske sehr sorgfältig auf die Wahrung der eigenen Grenzen im Umgang mit anderen achten. Lethen betont das Ausmaß der Ängstlichkeit, welche die Sicherung der persönlichen Grenzen hervorrufen kann: »Die Aufgabe der Bewachung der

9

Vgl. Ebd., S. 28.

10 Ebd., S. 58. 11 Ebd., S. 133. 12 Ebd., S. 80. 13 Ebd. 14 Ebd.

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Grenzziehung, mit der das Ich sich seiner Identität vergewissert, versetzt es in einen chronischen Alarmzustand.«15 Plessner schrieb in einer Zeit, die von den Menschen verlangte, dass sie auf ihr Überleben als würdiger Mensch und das heißt: auf ihre Grenzen achteten. Die Filme von Losmann und Pethke zeigen nun neue Zeiten der Grenzöffnungen, Zeiten in denen hochmoderne, flexible Muster von Lebensführung und Arbeit herrschen, die wiederum neue Verhaltensweisen verlangen. Auch in unserer Phase der Modernisierung muss der Mensch auf die Wahrung seiner Grenzen, auf seine Integrität als Subjekt und seine Würde vor Anderen achten. Diese Aufgabe ruft, wie Lethen betont, eine Ängstlichkeit hervor, die im Film von Katharina Pethke thematisiert wird.

4. V ERHALTENSLEHREN FÜR DAS ARBEITSSUBJEKT DER Z UKUNFT : I N DIR MUSS BRENNEN IN DIR MUSS BRENNEN begleitet Coachings, Selbstverbesserungskurse und Einzeltherapien für Mittelschichtsarbeiter in Deutschland, die zur Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise vermehrt an Burnout leiden. Der Film verfolgt die Praktiken, durch die überforderte Mittelschichtsarbeiter wieder gesund gemacht und zurück zur Arbeit gebracht werden sollen. Die wichtige Erkenntnis von Pethkes Film ist, dass Burnouttherapien und Arbeitscoachings die Komplizität ihrer Teilnehmer durch die Interaktion zwischen therapeutischen Prozessen und dem von allen Teilnehmern geteilten Wunsch nach persönlicher Souveränität sicherstellen. Diese im Film untersuchten Therapien und Coachings versprechen eine Rückgabe der subjektiven Würde, Kraft und persönlichen Verfügungsmacht in einer höchst verunsichernden Krisenzeit. Wie der distanzierte Mensch in der Theorie Helmuth Plessners, der nach der Krise des Ersten Weltkrieges Verhaltenslehren übt, die ihn vor Verletzlichkeit und Kraftlosigkeit schützen, lernt das Individuum in zeitgenössischen Therapien und Coachings ein ritualisiertes Verhalten, das durch die ihm eigenen Masken und Spielformen Sicherheit mit sich bringen soll. Pethke beleuchtet in ihren in Therapiesitzungen und Arbeitstrainings aufgenommenen Szenen das Lernen von schützenden Regeln für das heutige Subjekt. Diese Szenen schaffen es jedoch vor allem, den dazugehörigen Alarmzustand zu illustrieren, vor dem Helmut Lethen in seiner Analyse der von Plessner dargelegten Verhaltenslehren warnte.

15 H. Lethen: Verhaltenslehren, S. 84.

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In der ersten Hälfte des Films werden Coaches gecoacht, die sich für Stellen als Arbeitslosenmotivator vorbereiten. Die Zuschauer sehen auch, wie der Verkaufscoach Ingo Vogels seine Rolle als Motivator für Selbständige performt und wie er die erste Episode einer Coachingshow dreht. Zu sehen sind außerdem Selbsthilfevideos, die die Therapeutin Christa Graves im Internet präsentiert. Diese Videos schulen ihre Benutzer in der ›Emotional Freedom Technique‹ (EFT), eine Art psychologischer Akupressur, die darauf abzielt, unter Angst leidende Patienten mit einer Mischung aus Energiemedizin und neurolinguistischem Programmieren zu heilen. Ganz besonders in den Szenen mit Ingo Vogels und Christa Graves wird eine Selbstreflexion dieses Filmes als Film deutlich: Die Anfangsepisode von Vogels Coachingshow wird mit einem Countdown eingeführt, währenddessen die die Show aufnehmenden Filmkameras im Vordergrund der Einstellung stehen und erst hinter ihnen die Bühne mit Vogels und seinem gestressten Gast zu sehen ist.16 Christa Graves wird zudem beim Schneiden und Zusammenstellen ihrer Internetvideos gezeigt, in der Art dass Pethkes Kamera quadratisch die für den Schnitt verwendete Microsoft Benutzeroberfläche aufnimmt. Dem Aphorismus von Bertolt Brecht, »Das Zeigen muss gezeigt werden!«17, wird in dieser bewusst selbstreflexiven Einstellung gewissenhaft gefolgt. Das Thema in der ersten Hälfte des Filmes ist »Training für die Coaches«. Wir sehen, wie der Rhetorik-Coach Jörg Breuer hinter einer Schautafel steht, versehen mit dem Motivationsspruch »Ich muss! Ich will! Ich kann!«, und seinen Lehrlingen Prinzipien wie diese beibringt: »Die wichtigste Tätigkeit, das ist die Arbeit an uns selbst« und »In dir muss brennen, was du bei anderen entzünden willst«. Letzteres ist ein Zitat von Aurelius Augustinus, dem Kirchenvater des westlichen Christentums, das nun aber auf die Verhaltenskultur des westlichen Kapitalismus übertragen wird. Pethke schneidet diese ersten Szenen zusammen mit einer statischen Aufnahme des Posters für die von der Bundesagentur für Arbeit durchgeführten Kampagne ›Weiter durch Bildung‹. Das Plakat zeigt eine Frau als Schmetterling mit der Satz: »Sie entwickelt gerade das wichtigste Tool für die Zukunft: sich selbst«. Das Plakat befindet sich im Hintergrund der Einstellung und infolge der mehrmaligen Unterbrechung des Bildes durch 16 Die Szene erinnert an Harun Farockis ersten Direct Cinema-Dokumentarfilm Ein Bild (BRD 1983). Ein Bild zeigt ein Nacktmodell, umgeben von den Kameras und der Crew, die sie aufnehmen. Die starke Präsenz von Händen in den Aufnahmen von Ingo Vogels‘ Coachingshow signalisiert den Einfluss weiterer Filme von Farocki auf Pethkes Film, zum Beispiel Schnittstelle (Deutschland 1995) und Der Ausdruck der Hände (Deutschland 1997). 17 Brecht, Bertolt: Die Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 778.

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Fahrzeuge, die im Vordergrund vorbeirasen, flackert es – im Tempo der flexiblen, unsicheren Wirtschaft, die durch die im Poster angedeuteten Selbstverbesserungspraktiken vergewissert werden soll. Im zweiten Teil des Films wendet sich Pethke dem Phänomen der Einzeltherapie für an Ängstlichkeit und Burnout leidende Mittelschichtsarbeiter zu. In einer Szene wählt der Patient eine Playmobilfigur, die seinem jüngeren Selbst Ratschläge gibt, wie er zu einem Gefühl von Sicherheit gelangen kann. In anderen Sitzungen wird er dazu angehalten, unter Hypnose den Spruch zu wiederholen: »Ich bin frei«. Der an Angstanfällen leidende Patient berichtet seinem Therapeuten, wie er in vier Wochen ungefähr 40,000-mal gezuckt hat. Die »innere Unruhe«, die ihn während dieser Zeit daran gehindert hatte, Entscheidungen zu treffen, sei jetzt zwar »fast ganz weg«. Nur habe er weiterhin ein Gefühl von »Richtungslosigkeit: wo soll es nun hingehen«. Die Arbeit an seinem Selbst ist, so scheint es, noch nicht fertig. Abbildung 2: »Ich bin frei«

Quelle: IN DIR MUSS BRENNEN (Deutschland 2009, R: Katharina Pethke)

In einem Einzelcoaching versucht eine Autorin, Gefühle loszulassen, aufgrund welcher sie sich für »unzuverlässig«, »hinterher« und »nicht nett« hält. Dieses Coaching ist schockierend, weil sich die Frau mit ihrem gesamten Körpergewicht gegen einen in die verletzliche Stelle ihres Rachens gerichteten Pfeil drücken muss, um ihre Ängste zu überwinden. Schließlich wird der zu Beginn des Films beim Motivatortraining gezeigte Jörg Breuer einem Waldcoaching unterzogen, das Pethke für ihn organisiert hat. Dieser Chefcoach, der eine leitende Funktion in einem Coaching-Unternehmen hat, wird zuerst in langen Aufnahmen gezeigt, in denen er sich im Wald ausruht.

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Danach sagt er seinem eigenen Coach, dass er wütend ist, weil er sich nicht »deutlich genug abgegrenzt« hat und deswegen an Burnout leidet. Er mache Arbeit, die ihm Spaß bereite, genieße aber das Leben mit dieser Arbeit nicht. Stattdessen sei er wütend und könne nicht sehen, wie sein Leben weitergehen soll. Abbildung 3: »mein Ziel erreichen«

Quelle: IN DIR MUSS BRENNEN (Deutschland 2009, R: Katharina Pethke)

Mit dem Fokus auf die Werte von Leistungsfähigkeit, Genuss und persönlicher Abgrenzung, die sich die Patienten von diesen Einzeltherapien erhoffen, begibt sich Pethke im zweiten Teil des Filmes auf die Spur einer neuen Version der »Spielregeln«, durch die Plessners Mensch in der unsicheren Zeit der Weimarer Republik zu überleben hoffte. Im Film taucht das Wort »souverän« noch häufiger auf als in WORK HARD PLAY HARD. Arbeitslosenmotivatoren bekommen Feedback darüber, wie sie »selbstbewusst« und »souverän« auftreten und so als Vorbilder für die Arbeitssuchenden in Erscheinung treten können, die sie zurück auf den Arbeitsmarkt führen sollen. An das in Plessners Schrift zur »Hygiene des Taktes«18 Beschriebene erinnert, wie ein Motivator das Feedback bekommt, dass er in seinem Probevortrag »sehr souverän« aber etwas »emotionslos« wirkt; außerdem jene Szenen, in denen sich ein Manager einem Training unterzieht, wie er am besten Angestellte feuern sollte. Dieses Feedback geht mit dem Versprechen einher, es werde seiner »inneren Hygiene« helfen, wenn er im Moment des Feuerns Takt mit Effizienz verbinden kann. Ebenfalls an Plessner erinnert, wenn Ingo Vogels in seiner Fernsehsendung Coaching »für mehr Souveränität« anbietet, womit ein Coaching gemeint ist, das denjenigen helfen soll, die unter 18 H. Plessner: Grenzen, S. 95.

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Zeitdruck stehen und ihr individuelles Potenzial ausschöpfen wollen. Vogels selber wird für Pethkes Film aus dem Off interviewt (»du wirkst sehr souverän«), woraufhin er sagt, dass er seine Schwächen überwinden will, indem er besser lernt, »einen festen Standpunkt einzuhalten«, also auch dann Selbstkontrolle auszuüben, wenn er unter Druck gesetzt wird. Die Protagonisten in Pethkes Film üben sich in Durchsetzungswillen und Takt, um bessere Arbeit zu leisten und ihre Arbeit außerdem besser genießen zu können. Dass diese Eigenschaften in sehr intensiven Einzeltherapiebehandlungen erlernt werden müssen, weist jedoch darauf hin, dass das Erlernen der neuen Spielregeln nicht ohne Kampf auskommt. So liefert Pethkes Film am Beispiel der gezeigten Personen den Nachweis für ein ständiges Überwachen der eigenen Grenzen in der spätmodernen Arbeitswelt, ein Verhalten, das in den 20er Jahren laut Lethen das Resultat des von Plessner dargelegten »Balanceakts« war. 19 Es gibt aber eine Belohnung für den Schmerz, den unsere spätmodernen Protagonisten ertragen. Die Ausrichtung der Einzeltherapien auf die Individualität ihrer Teilnehmer zeigt, dass die Spielregeln auch außerhalb des Arbeitsplatzes eine Wirkung versprechen. Diese Wirkung, so deuten die Coaches und Therapeuten im Film an, ist nichts weniger als die Freiheit. Der Patient, der mit Playmobil und Hypnose seine Therapieerfahrung macht, wird sich danach »frei« fühlen. So zumindest lautet das Mantra, das er während der Hypnose anzustimmen ermahnt wird. So wird sich etwa die freischaffende Autorin frei fühlen von den inneren Hemmungen, die sie vom Schreiben abhalten. Die Freiheit ist das verheißungsvollste Versprechen von allen, welches die Komplizität der Protagonisten am wirkungsvollsten sicherstellt. Sie ist jedoch eine Freiheit, die in einer sicheren, disziplinierten Form ausgedrückt werden muss. Plessner schreibt, dass die Distanz zum anderen vor der Entblößung schützen wird. Entblößung heißt, man ist verletzlich in Bezug auf die Meinung anderer. Wer zu wenig Distanz übt, ist der Lächerlichkeit ausgeliefert: »Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt […] trägt das Risiko der Lächerlichkeit«20. Wer Plessners Verhaltenscodex folgen möchte, muss sich Praktiken aneignen, die ihn vor dem »ironischen Zerstörerblick« des Anderen schützen.21 Übertragen auf die Protagonisten in Pethkes Film sieht es so aus: An Angst vor der Entblößung leidend, aber gleichzeitig vom Wunsch nach persönlicher Souveränität motiviert, muss der Mittelschichtsarbeiter im prekären Arbeitsmarkt seine Freiheit mit Sorgfalt ausüben, muss sich kleiden mit Formen

19 Vgl. H. Lethen: Verhaltenslehren, S. 100. 20 H. Plessner: Grenzen, S. 70. 21 Vgl. Ebd., S. 79.

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des Takts und der psychologischen Panzerung, um seine unsichere Stellung – auf der Arbeitsstelle, aber auch außerhalb davon – in Zukunft zu sichern.

5. T ECHNIKEN DER

FILMISCHEN

E NTHÜLLUNG

Die Filme von Losmann und Pethke analysieren die zukunftssichernden Aspekte der heutigen Arbeit von Mittelschichtsarbeitern und versuchen gleichzeitig, sie durch diese Analyse mit präzisen ästhetischen Mitteln zu unterminieren. Mit Hilfe besonderer filmischer Praktiken fragen die Regisseurinnen nach dem blinden Fleck neuerster Sicherungstechniken, um sie auf eine produktive Weise in den Blick zu bekommen. Beide Regisseurinnen verwenden die Techniken des ›Direct Cinema‹, einem Stil, der durch den Zusammenschnitt von fly-on-the-wallBildmaterial ohne Voiceover-Kommentar gekennzeichnet ist. Die Filme imitieren bewusst die Aufzeichnungen von Überwachungskameras, die unsichtbar die schön designten Büros filmen. Die kritisch ausgerichteten Bilder überdecken sie mit diegetischen Soundtracks, die dazu dienen, die dominanten Geräusche und Diskurse der in ihnen gezeigten Arbeitswelten zu erkunden. Eine bei Filmvorführungen an die Regisseurinnen beider hier behandelter Dokumentarfilme häufig gestellte Frage ist die ethische: Hatten die Protagonisten des Filmes keine Angst, dass man nach ihrer Verfilmung über sie lachen wird? Losmann sagte 2015 in einem Gespräch auf der Universität Cambridge, dass einige der Protagonisten in ihrem Film von der Art ihrer Darstellung durchaus schockiert waren. 22 Jedoch, nach meiner Lesart, interessiert sich ihr Film mehr für die Prozesse der Sicherung als für die einzelnen sich daran anpassenden Personen. Die Teilnehmer an den Szenen im Assessment-Center fühlten sich trotzdem durch ihre Verfilmung entblößt. Für die Zuschauer ist die in beiden Filmen stattfindende Entblößung auch unbehaglich. Zumal man als Zuschauer von WORK HARD PLAY HARD und IN DIR MUSS BRENNEN spürt, wie sehr wir in die gezeigten Komplizitätsmuster involviert sind und wie sehr auch wir uns mit dem Wunsch nach Souveränität identifizieren. Bei Pethke war die Reaktion der gefilmten Teilnehmer anders als beim Film Losmanns, und sie zeigt, wie die Enthüllung von Komplizitätsmustern in beiden Filmen produktiv sein kann. Nach der Erstellung des Rohschnitts hatte sich lediglich Jörg Breuer, der Rhetorik-Coach, der das Waldcoaching in Anspruch nahm, zurückgemeldet. Er war, so schreibt Pethke, »dankbar für die Möglich-

22 Vgl. Losmann, Carmen und Ring, Annie: Gespräch an der Universität Cambridge, 9. Juli 2015.

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keit, die sich ihm durch das Coaching bot«.23 Auch die anderen Teilnehmer haben bewusst und gerne bei den im Film gezeigten Coachings und Therapien mitgemacht. Wenn etwa Ingo Vogels für den Film die erste Episode seiner Coachingshow dreht, geht es ihm um eine Show, die er immer machen wollte, und die ihm die Teilnahme an Pethkes Film ermöglicht hat. Die Therapeutin Christa Graves wiederum hat ihre EFT-Videos für die Zwecke der Verfilmung in IN DIR MUSS BRENNEN freiwillig neu gefilmt. Auch die Szenen im Assessment-Center in WORK HARD PLAY HARD wurden mit Zustimmung der Teilnehmer gedreht. Wiewohl die sich die Personen in Losmanns Film nicht gern im Prozess der Begutachtung auf der Leinwand sahen, erschien es ihnen zumindest am Anfang bedeutsam, ihre Begutachtung verfilmen zu lassen. Obwohl die Lächerlichkeit ein großes Risiko bei beiden Filmen ist, ahnten ihre Protagonisten vielleicht, wie hilfreich die durch die Verfilmung möglich gewordenen Aufdeckung dieser Prozesse sein würde, auch wenn sie diesbezüglich weniger systemkritisch waren als die Filmemacherinnen selbst. Die Zukunftsbilder, wie sie sich in den Architekturen und den Coachings in diesen Filmen zeigen, bleiben sehr einheitlich. In Plessners Modell des distanzierten Menschen ging es nicht um jeden Menschen, denn wenn Plessner schreibt, »Die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt«,24 formuliert er eine Praktik, die nur bei einer ausgewählten Elite durchführbar sein konnte. Die Distanz ist letztendlich eine Funktion der Räume, in Foucaults Worten: der Milieus, die Subjekte für sich beanspruchen, also ist sie ein zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten ungleich verteilter Wert. Damit verbunden ist es wichtig zu bemerken, dass körperliche, manuelle Arbeit in den zwei hier behandelten Dokumentarfilmen kaum vorkommt. Losmanns Kamera beobachtet einmal für eine lange Einstellung die Arbeit einer Putzfrau. Arbeiter im eigentlichen Sinne tauchen jedoch sonst kaum auf, und sie sprechen nie. Statt auf Diversität konzentrieren sich Losmann und Pethke auf eine sehr bestimmte Schicht von Arbeitern: den Mittelschichtsarbeitern. Für die Analyse der Zukunft dieser Art von Arbeit bieten beide Filme jedoch wichtige Einsichten an, in Form von den zwei Techniken: Komplizität und Souveränität. Es entsteht bei ihnen das Bild eines Subjekts, das sich persönliche Souveränität wünscht, da es von seinem Umfeld und durch Coachings lernt, dass diese etwas Wünschenswertes, weil Sicherheit Versprechendes ist. Der Preis für die versprochene Sicherheit ist Kollaboration in der Arbeit, eine Art der Arbeit, die flexibel erscheint, dabei aber normierte Sicherungsprozesse in sich birgt. 23 Vgl. Emailwechsel zwischen Katharina Pethke und Annie Ring, Januar bis März 2017. 24 H. Plessner: Grenzen, S. 80.

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Diese Prozesse, die auf Überwachung und Verhaltensnormierung hinauslaufen, sind zwar unsichtbar, tragen jedoch zur Erschöpfung der an ihnen teilnehmenden Subjekte bei, eine Erschöpfung, die wiederum mit zukunftssichernden Therapien behandelt wird und deswegen einen unsichtbaren, aber spürbaren Kreislauf von Selbstarbeit nach sich zieht. Gibt es hier Hoffnung, vielleicht im wiederholt auftretenden Ausbrennen der Mittelschichtsarbeiter? In der Wut des Chefcoaches, der im Wald sein fehlendes Glück bereut? Vielleicht. Zumindest zeigen die zwei Filme auf ihre eigene Weise Möglichkeiten des Widerstands auf. Denn es wird durch die Form beider Filme deutlich, wie machtvoll die Analyse versteckter Sicherungsprozesse sein kann. Der beobachtende Blick dieser, die Möglichkeiten des Direct Cinema fortführenden Dokumentarfilme, eröffnet einen alternativen Arbeitsprozess von Analyse und (Re-)Kombination der in den gezeigten Arbeitsprozessen wirksamen sinnstiftenden Bezüge. So wird es möglich, dass auch die Zuschauer zu Analytikern von versteckten Machtmodellen werden. Eine solche Analyse kann hoffentlich einen Schritt in Richtung Zukunftsänderung bilden.

Walling out Zur Diskurspolitik und Mythomotorik Neuer Mauern in der Populärkultur L ARS K OCH

Seit im Jahr 2015 immer mehr Menschen aus Afrika und den Ländern des Hindukusch unter großen Gefahren in Richtung Europa aufbrechen, haben apokalyptische Zukunftsbilder Konjunktur. Einen konkreten Ausdruck findet die sich radikalisierende xenophobe Stimmung in Vorstellungen und Maßnahmen der Grenzschließung. Nicht nur lassen Dänemark, Ungarn und die Balkanstaaten Taten bzw. Zäune sprechen, auch in Deutschland formulieren public intellectuals wie Rüdiger Safranski oder Peter Sloterdijk ein identitäres ›Lob der Souveränität‹ und liefern damit die Stichworte, die von der deutschen ›Neuen Rechten‹ mit ihren Vordenkern Götz Kubitschek oder Marc Jongen dankend aufgegriffen werden. Jenseits von Fragen der Realisierbarkeit, der Effizienz und der brisanten ökonomischen und politischen Nebenfolgen einer Abschottung Europas, gelten die folgenden Überlegungen der Persistenz und Neukonfiguration der Imagination geschlossener, vermauerter Grenzen, die sich im politischen Diskurs, aber auch in der Populärkultur seit einigen Jahren beobachten lassen. Nicht nur, dass de facto weltweit immer mehr Mauern errichtet werden1, auch im Kontext politischer Massenmobilisierung sind Mauern – der Wahlkampf Donald Trumps hat

1

Neben der paradigmatischen Abschottung des Westjordanlands wurden entsprechende Architekturen etwa auch an der indisch-pakistanischen Grenze im Kaschmir und an der saudi-arabisch-jemenitischen Grenze realisiert. Vgl. hierzu Agier, Michael: Borderlands. Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition, Cambridge/ Malden: Polity Press 2016, S. 37ff.; Weizmann, Eyal: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung, Hamburg: Edition Nautilus 2009.

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dies überdeutlich gezeigt – zu einem zentralen Motiv populistischer Affektpolitiken geworden. Dies ist zunächst einmal erstaunlich, weil Mauern und andere physische Barrieren einen zwar deutlich sichtbaren, aber steuerungsbezogen unerheblichen Teil moderner Grenzsicherung ausmachen. Moderne Grenzregime sind vor allem als ein komplexes Ensemble aus Baukörpern, Landschaftsformen, Überwachungs- und Kommunikationstechnologien zu beschreiben, die die eigentliche territoriale Grenze in eine räumlich weit ausgreifende Zone des selektiv-regulativen Austauschs von Menschen und Dingen verwandeln. 2 Obwohl es statt Mauern eher die medialen Praktiken eines virtual fencing sind, die solche ›intelligenten‹ Grenzen ausmachen, spielen Mauern und Zäune im Kontext der politischen Debatte über ein rebordering der nationalen Sicherheit in der Post-9/11-Welt eine große Rolle. Nationalistische Akteure nutzen intensiv die suggestive Kraft des Szenarios einer Flut potenziell gefährlicher Fremder, die von den starken Mauern des Staates aufgehalten werden muss. Der im Motiv der Mauer auf der Oberflächenebene transportierte Aufruf zur Rückkehr zum sicherheitspolitischen Dispositiv der Hygiene 3 ist kommunikativ überaus erfolgreich: Nur durch Abschließung, so die Logik, ist den vermeintlichen Gefahren der Zukunft wirkungsvoll entgegen zu wirken.4 Die Semantiken, mit denen dieser Diskurs operiert, rekurrieren einerseits auf einen bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Ideenkomplex von homogener Nation und souveränem Staat.5 Sie beziehen ihre Evidenz andererseits aus einem um die Unterscheidung von Freund und Feind kreisenden politischen Imaginären, aus dem sich in der Bearbeitung durch technische Medien und kulturelle Codes die rezenten Erzählungen und Bilder der Bedrohung speisen. 2

Vgl. Rogers, Christina: »Wenn Data stirbt. Grenze, Kontrolle und Medien«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 10 (2015), S. 57-65.

3

Vgl. Bröckling, Ulrich: »Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution«, in: Christopher Daase/Philipp Offermann/Valentin Rauer (Hg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt a.M.: Campus, S. 93-108.

4

Im Prinzip handelt es sich bei der Affektpolitik der Abschließung um Suggestion der Möglichkeit einer Defuturisierung der Zukunft. Diese wird dann nicht mehr als unbekannter Möglichkeitsraum vorgestellt, sondern als stabilisierter Raum vertrauter Erfahrungen und entsprechender Erwartungen. Vgl. hierzu Luhmann, Niklas: »The Future Cannot Begin: Temporal Structures in Modern Society«, in: Social Research, 43/1 (1976), S. 130-152.

5

Vgl. Matala da Mazza, Ethel/Frank, Thomas/Koschorke, Albrecht/Lüdemann, Susanne: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M.: Fischer 2007.

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Fragt man nach den Mechanismen, die wesentlich dazu beitragen, dass Mauern zu einem Baustein sicherheitspolitischer Ordnungsvorstellungen geworden sind, landet man unwillkürlich bei der Populärkultur. Verstanden als interdiskursive Agentur der symbolischen Kristallisation und resonanzstarken Zirkulation von Imaginationen der Gefahr, ist sie im soziokulturellen Arrangement politischer Grenzziehungen insofern ein relevanter Faktor, als hier das Prinzip der Selektion narrativ affirmiert oder in Frage gestellt, affektiv aufgeladen und in einprägsame ästhetische Figurationen der Ein- und Ausschließung übersetzt wird. Die Populärkultur trägt als Medium kultureller Inklusion dazu bei, Grammatiken vorgestellter Staatlichkeit aus der Sphäre diskursiver Problematisierung heraus und in eine Zone nicht reflektierter Selbstverständlichkeit zu überführen.6 Daher nutzt die popkulturelle politische Ikonografie Mauern als serielles Element – im Folgenden soll von ›Neuen Mauern‹ die Rede sein – und verrät damit viel über die Wiederkehr der »Ideologie des Nationalstaats«7 und die derzeitige Dramatisierung kollektiver Zukunftserwartungen angesichts einer grassierenden »Angst vor dem Barbaren«8. Als Szenographie einer »embodied psychopolitics«9, die mittels »rhetorischer oder erzählerischer Schemata« 10 kollektive Erwartungsstrukturen etabliert, formatieren Neue Mauern in dystopischen Fernsehserien wie COLONY (USA seit 2015, USA Network) oder TREPALIUM (FRA 2015, arte) den 6

Niels Werber und Matthias Schaffrick gehen im Anschluss an Luhmann davon aus, dass populärkulturelle Katastrophen- und Ausnahmeszenarien Realität verdoppeln und sie in der Fiktion beobachtbar machen. Sie sprechen der Populärkultur also ein epistemologisches Potenzial zu. Vgl. Schaffrick, Matthias /Werber, Niels: »Szenarien der Ausnahme in der Populärkultur. Einleitung«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 3 (2016): Szenarien der Ausnahme in der Populärkultur, S. 311320. Anhand der im vorliegenden Beitrag behandelten Ein- und Ausschließungsszenarien kann man allerdings zeigen, dass die Errichtung eines Experimentalraums nur die eine Möglichkeit der Popkultur ist. Sie kann immer auch als eine Produktionsstätte von Selbstverständlichkeit und Akzeptanz fungieren, die en passant zur Legitimation von Macht und Hegemonie beiträgt.

7

Vgl. Appadurai, Arjun: »Streben nach Hoffnung. Das Narrativ der Flucht und die Ideologie des Nationalstaats«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1 (2016), S. 95-103.

8

Vgl. Todorov, Tzvetan: Die Angst vor dem Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen, Hamburg 2010.

9

Masco, Joseph: The Theater of Operations. National Security Affect from the Cold War to the War on Terror, Durham/London: Duke University Press 2014, S. 19.

10 Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation im erzählenden Text, München/Wien: Hanser 1987, S. 105.

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politischen Möglichkeitsraum, indem sie eine dichotomische »structure of feeling«11 vorgeben. Dort, wo Mauern inszeniert werden, ist in einer zweiwertigen Differenzlogik von vorneherein klar, dass an den Peripherien die Gefahr lauert: Das kostbare Eigene (die Identität, die Gesundheit, die biologische Reinheit) muss mit liminaler Gewalt vor einem bedrohlichen Anderen geschützt werden – dies führt etwa die mit einer Invertierungsperspektive arbeitende Einschließungsserie CONTAINMENT (USA seit 2016, The CW) in grellen Bildern vor. Ehe vor diesem Hintergrund im Folgenden das Faszinationspotenzial der Mauer als Kollektivsymbol der Ein- und Ausschließung anhand einiger populärkultureller Formate skizziert wird, soll vorab die materielle Bezugsgröße einer derartigen Kulturdiagnostik populärer Medien genauer profiliert werden. Dabei soll der Frage nachgegangen werden: Welchem Ermöglichungszusammenhang entspringt die populärkulturelle Konjunktur der Neuen Mauern als einer wahrnehmungslenkenden »practice of seeing«?12 Es wird sich zeigen, dass eine soziologische Erklärung, die die Renaissance der Mauer in der Gegenwart alleine als einen anachronistischen Rückfall in ein sicherheitspolitisches Hygiene-Dispositiv sieht, zu kurz greift, solange sie nicht den imaginativen Überschuss neuer Schließungspraktiken ins Kalkül einbezieht.13 Anschließend an diese kursorische Sichtung der Psychopolitik des containment soll gezeigt werden, dass sich in den populärkulturellen Narrativen und Bildern Neuer Mauern geopolitische, biopolitische und sozialpolitische Dimensionen überlagern.

1. D IE P SYCHOPOLITIK N EUER M AUERN Wie Wendy Brown in ihrem Buch Walled States, Waning Sovereignty von 2010 darstellt14, ist das Konzept der Souveränität, das die Nationalstaaten seit ihrer sukzessiven Herausbildung in der frühen Neuzeit geprägt hat, im Zuge der Globalisierung in eine fundamentale Krise geraten: Die beiden zentralen Leistungen staatlicher Souveränität – die territoriale Abgrenzung gegen gleichermaßen sou-

11 Williams, Raymond: Marxism and Literature, Oxford: Oxford University Press 1978, S. 132. 12 Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2007, S. 175. 13 Zu den historischen Genealogien des gegenwärtigen Hygiene-Dispositivs vgl. Falk, Francesca: Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenze kommt, München: Wilhelm Fink 2011. 14 Brown, Wendy: Walled States, Waning Sovereignty, New York: Zone Books 2010.

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veräne Feinde nach außen und die Monopolisierung legitimer Gewalt nach innen – erodieren angesichts transnationaler flows von Kapital, Gütern, Menschen, Informationen und Ideen, die sich in großer Dichte und Geschwindigkeit über den Globus bewegen und in ihrer Komplexität und Konnektivität Konzepte singulärer Steuerung zunehmend überfordern. Die parallel dazu um sich greifende »sozietale Unsicherheit«15 weckt eine wachsende Sehnsucht nach der Rückkehr eines starken ›Vater Staat‹ wie er etwa in den Schriften von Jean Bodin, Thomas Hobbes oder Carl Schmitt entworfen wurde. Die Sehnsucht, eine zunehmend unsichere Zukunft gegen die Vertrautheit der Vergangenheit eintauschen zu können, drückt sich aus in der Forderung nach Errichtung neuer Mauern, die in der projektierten Verhinderung der Grenzüberschreitung von Flüchtlingen, illegalen Arbeitskräften, Drogen, Waffen und Terror die Rückgewinnung von staatlicher Handlungsmacht und die Wiederherstellung der guten alten Zeit versprechen. Browns zentrale These ist, dass die Praxis staatlicher Fortifizierung, wie sie an den Grenzen zwischen den USA und Mexiko, Israel und Palästina, Südafrika und Simbabwe oder auch Indien und Pakistan realisiert wurde und wird, unter sicherheitsfunktionalen Gesichtspunkten ineffizient ist. Obschon Mauern ihre Steuerungsziele verfehlen, immens teuer sind und – etwa im Hinblick auf die Steigerung von Kriminalitätsraten und Fremdenfeindlichkeit – problematische Nebenfolgen haben, erfüllen sie allerdings gleichwohl eine psychopolitische Funktion: Das walling out ist politisch populär, weil sich mit dem Bau neuer Grenzsicherungsanlagen ein kompensatorischer Sicherheitsaffekt erzeugen lässt, der ein Ende der epistemologischen Krise der Souveränität und damit verbunden eine bessere, weil sichere, Zukunft suggeriert. Dort, wo die Post-9/11-Welt davon charakterisiert ist, dass sich alte Unterscheidungen wie Freund und Feind, Innen und Außen, Polizei und Militär mehr und mehr in Auflösung befinden, entwerfen die Neuen Mauern das Bild einer räumlich geordneten, überschaubaren Welt. Eigentlich zu verstehen als ein Eingeständnis der Schwierigkeiten nationaler Handlungskonzepte in einer vernetzten Welt, sind die Neuen Mauern damit das Instrument einer Politik der Gefühle, die Souveränität zwar nicht mehr durchsetzen kann, dafür aber umso spektakulärer aufführt. Sie sind eine komplexitätsreduzierende Law-and-Order-Antwort auf einen grassierenden Eindruck politischer Entsicherung, sie versprechen eine ebenso schlichte wie radikale Gegenmaßnahme gegen eine zirkulierende diffuse Globalisierungs- und Konnektivitätsangst, die sich in zwei konkrete Furcht-Narrative übersetzt: die Furcht vor den hungrigen Massen aus den Ländern des globalen Südens einerseits, die den zukünftigen Wohlstand der westlichen Nationen zu bedrohen scheinen; die 15 Vgl. Gros, Frederic: Die Politisierung der Sicherheit, Berlin: Suhrkamp 2015.

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Furcht vor den religiösen Fundamentalisten andererseits, die den Westen belagern, ihn penetrieren und in seiner kulturellen Identität angreifen. Indem sich im Konzept der Neuen Mauern eine manifeste Funktion – die Dokumentation der Handlungsfähigkeit des Nationalstaats – mit einer latenten Funktion – die Codierung von sozialen und ökonomischen Globalisierungsherausforderungen als steuerbaren Sicherheitsproblemen – verbindet16, erweist sich seine Konjunktur in politischen Programmen und massenmedialen Bildhaushalten als ein theatrales Geschehen, als eine Rhetorik der Macht, die die politische Kultur, in der sie operativ eingesetzt wird, massiv beeinflusst: »Walls built around political entities cannot block out without shutting in, cannot secure without making securization a way of life, cannot define an external ›they‹ without producing a reactionary ›we‹ [...].«17 Die Logik der Versicherheitlichung, die Brown hier im Blick hat, erzeugt eine entmenschlichende politische Asymmetrie, die die Migranten als »verfemte Dritte«18 zum Objekt einer »projektiven Abscheu«19 werden lässt. Aufgerufen ist damit ein ganzes semantisches Feld von Berührungsfurcht, Ansteckung und Quarantäne, das den politischen Diskurs zu einer prinzipiellen Absage an eine Anerkennungslogik der conditio humana zu drängen sucht. Die geweckten Assoziationen und Ängste befeuern wiederum die autopoetische Feedbackschleife von Verunsicherung, Ausschließungssehnsucht und latenter Gewaltbereitschaft. Da die Neuen Mauern sich bei genauerem Hinsehen als »nothing more than a spectacularly expensive political gesture«20 erweisen, ist ihre Wahrheitspolitik notwendig darauf angewiesen, ihre Souveränitätsfiktion evident erscheinen zu lassen. Für das entsprechende Plausibilisierungsgeschehen, in dem Mauern als sinnvolle Antwort auf die »phobische[n] Angst vor Ansteckung durch potenzielle Eindringlinge«21 erscheinen, stellt die Populärkultur eine wichtige Signifizierungsinstanz dar, insofern die hier entworfenen resonanzstarken Bild- und Er16 Vgl. hierzu im Anschluss an Robert Merton Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den Anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 31f. 17 W. Brown: Walled States, S. 42. 18 Bröckling, Ulrich: »Gesellschaft beginnt mit Drei. Eine soziologische Triadologie«, in: Thomas Bedorf/Joachim Fischer/Gesa Lindemann (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München: Wilhelm Fink 2010, S. 161-183, hier S. 165. 19 Nussbaum, Martha C.: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 471. 20 W. Brown: Walled States, S. 91. 21 Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004, S. 215.

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zählwelten einer bedrohlichen Zukunft eine effektive kulturelle Arbeit an der gesellschaftlichen Verankerung der Ein- und Ausschließungslogik verrichten. In dystopischen Kinofilmen wie DIE KOMMENDEN TAGE (BRD 2010, R.: Lars Kraume), THE HUNGER GAMES (USA 2012, R.: Gary Ross) und THE DIVERGENT SERIES: ALLEGIANT (USA 2016, R.: Neil Burger) werden die Mauern, die in ihrer funktionalen Materialität zunächst einmal stumm und wenig aussagekräftig erscheinen, mit Zeichenensembles, Narrativen, Ritualen und Affektbildern besetzt, die sie zu einem leitenden Element gegenwärtiger Sicherheitsarchitekturen aufwerten. Als wichtiger Produktionsort politischer Subjektivitäten und der mit ihnen verbundenen Modalitäten des In-der-Welt-Seins trägt die Populärkultur so zur affektiven Intensivierung, zur Normalisierung oder auch zur Kritik Neuer Mauern bei. Diese erscheinen hier als Kollektivsymbol und bilden den Anlass zur Reflexion einer Praxis ökonomischer, bio- und geopolitischer Macht.

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GEOPOLITISCHE

D IMENSION N EUER M AUERN

Ein erfolgreiches populärkulturelles Format, das sich intensiv mit der geopolitischen Funktion von Mauern auseinandersetzt, ist die HBO-Serie GAME OF THRONES (USA seit 2011; im Folgenden GOT), deren 7. Staffel im Frühjahr 2017 angelaufen ist. Als ein postmodernes pastiche unterschiedlicher historischer Räume und Zeiten konzipiert, besticht GOT durch einen gritty realism und eine für das Fantasy-Genre untypische ethisch-politische Ambivalenz.22 Diese ruft in unterschiedlichen Handlungskontexten die einfache Freund-FeindUnterscheidung zwar auf, stellt sie aber immer wieder auch in Frage. GOT erzählt von einem Erbfolgekrieg unter den Adelshäusern der Welt von Westeros. Dieser Kampf um den Thron entwickelt sich vor einem zeitlichen Horizont drohenden globalen Unheils, das die Zukunft insgesamt als Katastrophe erscheinen lässt. Die im Serientext omnipräsente Formel »winter is coming« verweist auf den bevorstehenden Kollaps einer fragilen topologischen Ordnung, die einzig noch durch die Jahrhunderte alte Eismauer und den sie verteidigenden Orden der Nachtwache aufrechterhalten wird. Die Mauer stellt in den ersten sechs Staffeln eine gewaltsam nicht zu überwindende Demarkationslinie dar, die die sieben Königslande, das Herrschaftsge-

22 Vgl. Koch, Lars: »›Power resides where men believe it resides.‹ Die brüchige Welt von ›Game of Thrones‹«, in: Anne-Katrin Federow/Kay Malcher/Marina Münkler (Hg.), Brüchige Helden – Brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht. Berlin/New York: De Guyter 2017, S. 265-290.

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biet der Andalen, vom wilden Norden trennt. Bewohnt wird der Norden von zwei Gruppen, die sich im Hinblick auf die Qualität ihrer otherness grundlegend unterscheiden: Während das sogenannte Freie Volk, das sich durch den Rückzug in die Kälte der kolonialen Unterwerfung durch die Andalen entzogen hat, wegen brutalen Überfällen und Plünderungen gefürchtet wird, ist die Andersheit der Weißen Wanderer von geradezu übernatürlicher Art. Einst als Schutzgeister erschaffen, trachten sie unter der Führung des Nachtkönigs nach der Vernichtung der Menschheit. Sie sind untote Grenzwesen, die eine Form absoluter Feindschaft verkörpern. Während man mit dem von den Andalen als ›Wildlingen‹ titulierten Freien Volk ggf. verhandeln kann, ist mit den zombiehaften Weißen Wanderern nur eine Konfrontation auf Leben und Tod möglich. Sind die Weißen Wanderer zumindest in den ersten Staffeln vor allem als diffuses Angstphantasma präsent, stellen die ›Wildlinge‹ eine konkrete Bedrohung der Sicherheit der Königslande dar, die militärisch bekämpft, aber symbolpolitisch auch zur Stiftung einer gemeinsamen Identität genutzt werden kann. In diesem Sinne fungiert der Norden als ein »konstitutives Außen«23, das erst in der Abgrenzung das labile politische Ego der Königslande stabilisiert und die ideelle und territoriale Einheit des Königreichs ermöglicht. Zentrales Symbol dieser Identitätspolitik ist die Mauer. Sie markiert räumlich eine Trennungslinie von Natur und Kultur, Wildheit und Zivilisation, Gemeinschaft und Gesellschaft. Innerdiegetisch als Rest aus einer mythischen Vorzeit eingeführt, ist die Mauer zugleich eine Allegorie auf die Ordnungswut der Moderne24, die unter den Vorzeichen postnationaler politischer Strukturen und Verbünde neue emotionale Attraktivität erhält: Einerseits machtvolle Demonstration der sakralen Souveränität des Königreichs, ist die Mauer andererseits eine mit sexuellen Konnotationen aufgeladene Architektur der Angst, die intertextuell auf die krisenhaften Phantasmen okzidentaler Männlichkeit in der Populärkultur nach 9/11 anspielt.25 23 Vgl. Moebius, Stephan: Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt a.M.: Campus 2003, S. 346. 24 Vgl. Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Hamburg: Hamburger Edition 1992, S. 15f. 25 So allegorisieren popkulturelle Post-9/11-Narrationen – beispielsweise Neil Jordans Spielfilm THE BRAVE ONE (USA 2007, R.: Neil Jordan) oder die Vater-Sohn-Serie TOUCH (USA 2012-2013, Fox) die Anschläge wiederholt als Versagen von Vätern und Ehemännern, die es nicht vermocht haben, ihre Frauen vor der von außen einbrechenden sexuellen Gewalt zu schützen. Vgl. hierzu Koch, Lars: »Angst im Post-9/11Cinema. Zur filmischen Bearbeitung eines Erwartungsaffekts«, in: Søren Fauth/

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Die sexuellen und sakralen Konnotationen des globalisierungssensiblen Grenzdiskurses übersetzt GOT in den Männerbund der Nachtwache. Dieser beschützt das implizit als Frauenkörper vorgestellte Reich und verhindert damit die Penetration des Zentrums durch externe Aggressoren. Als zölibatäres, homophobes und rassistisches Korps territorialer Reinheit funktioniert die Nachtwache nach einer dichotomischen Logik des soldatischen Mannes, wie er als Sozialcharakter von Klaus Theweleit beschrieben wurde: Als Verteidiger des ›gekerbten Raumes‹ gegen die Fluten des ›nomadischen Anderen‹, die aus dem ›glatten Raum‹ jenseits der Mauer hereinzubrechen drohen, hat er sich selbst eine stahlharte Affektpanzerung antrainiert, die sich den sexuellen Formverlust verbietet und stattdessen mit brutaler Gewalt auf jede Irritation des eigenen Identitätsentwurfs reagiert.26 So ist die Libido-Politik der Nachtwache, die Körper- und Reichsgrenzen miteinander verschaltet, eine der wesentlichen Quellen des Hasses auf die ›Wildlinge‹. Als institutionelles System schafft die Nachtwache über den Eid erst jene Subjektivität, die zum Dienst auf der Mauer befähigen soll. So müssen der Hauptcharakter Jon Snow (Kit Harington) und sein Begleiter, als sie der Nachtwache beitreten, zunächst den an einen Geburtskanal erinnernden Tunnel durchschreiten, der die beiden Seiten der Mauer miteinander verbindet. Dann schwören sie an einem heiligen Baum jenseits der Mauer der Nachtwache die Treue: Night gathers, and now my watch begins. It shall not end until my death. I shall take no wife, hold no lands, father no children. I shall wear no crowns and win no glory. I shall live and die at my post. I am the sword in the darkness. I am the watcher on the walls. I am the shield that guards the realms of men. I pledge my life and honor to the Night’s Watch, for this night and all the nights to come.27

Dieser Codex, der Anleihen bei einer politischen Theologie nimmt und das Begehren ganz auf den Grenzdienst ausrichtet, fungiert als elitäre Selbstbeschreibung, die den egalitären Zusammenhalt erst generieren muss, den sie beschwört. Dass der geforderte Rückzug von allen weltlichen Objekten der Begierde unter Kasper Green Krejberg/Jan Süselbeck (Hg.), War – Literature, Media, Emotion. Göttingen: Wallstein 2012, S. 73-86. 26 Vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 1. Berlin: Roter Stern 1977. Ähnlich argumentiert auch Esposito, wenn er feststellt, dass die Grenze als Linie zu denken sei, die zwischen »der Identität des Individuums und dem bedrohlichen Magma« unterscheidet, »das an seine Außengrenzen andrängt.« R. Esposito: Immunitas, S. 215. 27 Folge 1.7: You win or you die, 0.46.15-0.47.55.

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den Bedingungen des allgemeinen Sittenverfalls und der Krise des Rittertums keine leicht einzulösende Forderung ist, zeigt die eklatante Unterbesetzung des Hauptquartiers an der Mauer. Einst eine elitäre Bruderschaft, ist die Nachtwache nunmehr eine Ansammlung von Ausgeschlossenen – Ex-Sträflingen, Mördern und Vergewaltigern –, die dem Orden nur beitreten, um der Todesstrafe zu entgehen. Die schwarze Festung ist Zentrum der Schutzmacht, aber auch eine Heterotopie, die die Devianten der Gesellschaft in einen gebannten Raum versetzt. Die für GOT charakteristische Ambivalenz kommt auch hier zum Tragen: Zwar wird eine mögliche Desertion mit der Todesstrafe belegt, zugleich aber ist Black Castle ein Ort, der soziale Durchlässigkeit durch Leistung realisiert. Der Kommandant wird von seinen Brüdern in einem Akt der freien Wahl bestimmt, Privilegien und Geburtsrechte zählen im egalitären Orden nicht mehr. So ist die Mauer letztlich nicht alleine eine materielle Anordnung kolonialer Gewalt, sondern zugleich auch eine Einrichtung der zweiten Chance in einem liminalen Raum, der sich durch Alteritätserfahrungen und kulturelle Dynamik auszeichnet: Erst bei der Nachwache findet Jon Snow die kulturökologische Nische, in der er sich vom obrigkeitshörigen ›Bastard‹ zu einem kritischen Geist mit moralischen Grundsätzen entwickelt, der sich anschickt, die Menschheit in der bevorstehenden Entscheidungsschlacht gegen die Armee des Nachtkönigs anzuführen. Zuvor aber muss Snow eine lange Bildungsreise in den exterritorialisierten Raum jenseits der Mauer unternehmen, die ihn erkennen lässt, dass das von Hass und Brutalität grundierte Selbstverständnis der Nachtwache das Produkt einer kolonialen Interpellation ist. Bei einer Erkundungsexpedition fällt er in die Hände der ›Wildlinge‹, wird erst als Feind behandelt, dann aber in einer Adaption des populären Going-Native-Narrativs28 sukzessive in die Gemeinschaft aufgenommen.29 In der Zeit, die er als Gefangener der ›Wildlinge‹ verbringt, muss 28 Das Going-Native-Narrativ wie man es aus Hollywoodfilmen wie DANCES WITH WOLFES (USA 1990, R.: Kevin Costner) oder AVATAR (USA 2009, R.: James Cameron) kennt, inszeniert eine Invertierung der Perspektive zwischen kolonialer und indigener Bevölkerung, die durch den Kulturraumwechsel einer der kolonialen Gruppe entstammenden Hauptfigur entspringt. Sukzessive in die neue Kultur hineinwachsend, erlebt diese Identifikationsfigur eine kulturelle Katharsis, die eine kulturkritische Distanz zum eigenen Herkunftskontext impliziert. 29 Diese Bildungserfahrung unterscheidet den Grenzgang Snows von den Erkundungsgängen der anderen Grenzer. Während diese die Grenze taktisch überschreiten, um sie strategisch stabil zu halten, deckt Jons Zeit bei den ›Wildlingen‹ die Logik der Grenze auf und stellt sie in Frage. Jon ist damit eine Figur der Störung, die die Evidenz des Selbstverständlichen problematisiert: »Grenzgängerfiguren sind in ihrer Funktion der Transgression immer auch Figuren der Grenzmarkierung. Sie machen Grenzen erst

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Snow erkennen, dass deren Andersheit vor allem das Ergebnis einer hegemonialen Freund-Feind-Konstruktion ist, die die Bestialisierung des Fremden braucht, um die eigene koloniale Gewalt als notwendige Selbstverteidigung verkennen zu können. Die Wildlingsfrau Ygritt wird für Jon Snow im doppelten Sinne zu einem körperlich-kulturellen Fremdkontakt, der seine Sicht auf die Dinge verändert. Bevor Jon aber seinen Begehren nachgeben kann, braucht es eine Latenzphase, in der das Gefühl der sexuellen Zuneigung sich gegen die im geleisteten Eid implizierte Forderung nach Enthaltsamkeit und die damit verbundene männlich-hegemoniale »Fantasy of Impermeability« 30 durchsetzen kann. Ygritts Kommentar, »so instead of getting naked with a girl, you’d prefer to invade our lands«31, macht deutlich, wie in der Bruderschaft der Nachtwache Geo- und Biopolitik mit einander verknüpft sind: Die Triebunterdrückung realisiert eine Externalisierung von zensierten Lustgefühlen in ein implizit sexualisiertes Außen. Aus dem Begehren nach dem weiblichen Körper wird ein Legitimationsdiskurs, der vorgibt, die zur Heimat erklärten Kolonialgebiete gegen illegitime Berührung durch die eigentlichen Ureinwohner schützen zu müssen. Ygritts Anklage, »They’re not your lands! We’ve been here the whole time. You lot came along and just put up a big wall and said it was yours« 32, hallt auch nach Snows Flucht in seinen Ohren nach. Der »colonial gaze«33 von der Mauer herab, der Wissen und Macht an das schauende Subjekt distribuiert, während er den angeschauten Objekten in der Tiefe jede Form von access und agency verweigert, trübt sich sukzessive ein, bis er einem anderen Blick der Anerkennung der ›Wildlinge‹ und ihrer Geltungsansprüche weicht. Je intensiver Jons Gefühle für Ygritt werden, umso massiver gerät er in einen Loyalitätskonflikt, dessen Tragik sich zunächst nicht lösen lässt. Im Gegenteil: Nach seiner Flucht und Rückkehr auf die schwarze Festung muss er mitansehen, wie Ygritt bei einem Angriff der ›Wildlinge› auf die Mauer von einem Pfeil ge-

sichtbar: Sie perforieren und ästhetisieren die Grenze, sie produzieren ›grenzwärtige‹ Bilder, Eindrücke und Gefühle. Sie schaffen in gewisser Weise eine Sprache der Grenze.« Chakkalakal, Silvy: »Grenzgänger_innen. Von der kulturellen Maskerade bis zum ›Going native‹«, in: dies./Jaques Picard/Silke Andris (Hg.), Grenzen aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin: Kadmos 2016, S. 43-68, hier S. 64. 30 W. Brown: Walled States, S. 119. 31 Folge 2.7: A Man without honor, 0.08.00. 32 Ebd. 33 Vgl. Rieder, John: Colonialism and the Emergence of Science Fiction, Middleton: Wesleyan University Press 2008, S. 1-34.

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tötet wird.34 Dass der im Fortgang der Ereignisse zum Kommandanten der Nachtwache aufgestiegene Snow in der fünften Staffel seinen Entschluss, den von den Weißen Wanderern bedrängten ›Wildlingen‹ diesseits der Mauer Asyl zu gewähren, in einer an Cäsars Ende erinnernden Szene mit dem Tod durch die Schwerter seiner rebellierenden Untergebenen bezahlen muss, lässt sich als ambivalenter Kommentar auf die Umkämpftheit des Alteritätsdiskurses unter den Bedingungen geopolitischer Instabilität lesen. Die eigentliche politische Logik dieser Mordtat würde übersehen werden, wenn sie alleine als Reaktion der Ordensbrüder auf die in ihren Augen fatale Entscheidung Snows gelesen würde. In seinem Tod ahndet die Nachtwache eine unduldbare Ambivalenz, die das in Jon verkörperte Grenzgängertum für die auf Eindeutigkeit aufbauende Haltung der Nachtwächter bedeutet. Jon Snow muss sterben, weil seine Beziehung zu Ygritt einen massiven Angriff auf die Identitätspolitik der Nachtwache darstellte, die auch über Ygritts Tod hinaus nicht ungestraft bleiben darf. Mit dem Mord töten die Nachtwächter zugleich die Denkmöglichkeit eines anderen Umgangs mit den Menschen jenseits der Mauer.35 GOT führt so die Pathologie eines nationalistischen, essentialistischen Kulturverständnisses vor, dass im Imaginären rechter Ideologien immer über den Körper der Frau und dessen Fähigkeit zur Auflösung affektiver Grenzziehung verbunden ist.

3. D IE

BIOPOLITISCHE

D IMENSION

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Gewinnt GOT seine moralische Ambivalenz daraus, die Anderen jenseits der Mauer in der Zone des Menschlichen zu belassen, führt die Verortung des Fremden in einem biopolitischen Paradigma in Mark Fosters Kassenschlager WORLD

34 Vgl. Folge 4.9: The Watchers on the Wall, 0.41.50. Die Komplementarität des Verhältnisses Nachtwache – ›Wildlinge‹ wird noch einmal darin deutlich, dass Ygritt in dem Moment getroffen wird, in dem sie selbst mit dem Bogen auf Jon zielt, es aber nicht vermag, den Pfeil abzuschießen. Die sexuelle Konnotation dieser Penetration, die die geopolitische Penetration der Kolonisatoren wiederholt, liegt auf der Hand. 35 Dass die Haltung zum Aspekt der Kolonialisierung in der Serie auch mit der Öffnung der Grenzmauer ambivalent bleibt, verdeutlicht einen Gedanken Achille Mbembes: »Sovereignty meant occupation, and occupation meant relegating the colonized into a third zone between subjecthood and objecthood«. Mbembe, Achille: »Necropolitics«, in: Stephen Morton/Stephen Bygrave (Hg): Foucault in an Age of Terror: Essays on Biopolitics and the Defense of Society. New York: Palgrave Mcmillan 2008, S. 152182, hier S. 164.

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WAR Z (USA 2013, R.: Marc Forster) zu einer totalen Entgrenzung der Gewalt. Gilt der Zombie seit NIGHT OF THE LIVING DEAD (USA 1968, R.: George A. Romero) gemeinhin als eine Projektionsfigur, in der unterschiedliche kritische Themen eingetragen werden können, so lässt sich in den letzten Jahren eine neue diskursive Funktion des Zombie-Genres konstatieren. Dieses fungiert nunmehr als Agentur der Normalisierung genozidaler biopolitischer Gewalt im Angesicht einer nur noch als Katastrophe vorzustellenden Zukunft.36 Mag die Comic-Adaption THE WALKING DEAD (USA seit 2010, AMC) ihren eigentlichen Fokus in der krisenexperimentellen Beobachtung einer kleinen Überlebensgemeinschaft haben, so steht auch hier trotz einiger Versuche der Realisierung einer Koexistenz die prinzipielle Tötungsnotwendigkeit der Zombies im Kampf ums Dasein außer Frage. WORLD WAR Z, ein Genre-Hybrid aus Kriegsfilm, Zombiefilm und Virenthriller, entgrenzt auf spektakuläre Weise den biopolitischen Überlebenskampf der Menschheit in einen globalen Plot. So hetzt der von Brad Pitt gespielte UN-Experte Gerry Lane auf der Suche nach einem Impfstoff über den ganzen Planeten. Am Ende gelingt ihm die Rettung der Menschheit mittels eines Serums, das eine tödliche Krankheit simuliert und die Geimpften so als für den Zombie-Virus ungeeignete Wirte markiert. Dieser Demonstration menschlich-technischer survivability geht eine rund 2-stündige, bildgewaltig inszenierte Vernichtungsorgie voraus, der tausende von Zombies preisgegeben werden. Fosters Film kann so verfahren, weil er von Anfang an in einer filmischen Rhetorik des Überlebenskampfes großen Wert darauf legt, dass hier absolute Feinde bekämpft werden, die als Untote less than human sind. WORLD WAR Z kann damit innerhalb aktueller Grenzdiskurse als symbolische Vergleichgültigungsarbeit aufgefasst werden, als ein Beitrag zur Normalisierung der exkludierenden Gewalt von Mauern, die sich zum als Notwehr narrativierten Projekt der Vernichtung der Anderen steigert. Die hier mit allen Mitteln des Blockbuster-Kinos inszenierte »biopolitical aesthetic«37 konstruiert die zukünftige Welt als eine rechtsfreien, einzig von der Macht der Exekutive dominierten Handlungsraum im totalen Ausnahmezustand, in dem jedes Mittel zur Gefahrenabwehr nicht nur erlaubt, sondern gar ethisch geboten ist: Es muss getötet werden, um überleben zu können. Fosters Film, der 36 Vgl. Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a.M.: Fischer 2014, S. 7-44. 37 Evans, Brad/Reid, Julian: Resilient Life. The Art of Living Dangerously, Cambridge: Polity Press 2014, S. 178f.: »If what Fredric Jameson calls the geopolitical aesthetic describes the embodiment of cinematic representation within the capitalist ›world system‹, the biopolitical aesthetic describes the function of a cinema that fantasizes the potential destruction of that system and all that lives within it from the position of a life that cannot tolerate that destruction.«

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die beiden nach Eva Horn zentralen Katastrophennarrative – den »Krieg der Arten« und das »Rettungsboot Erde«38 – miteinander verbindet, narrativiert das Szenario einer globalen Triage: Unter prekären Zeitverhältnissen gilt es zu entscheiden, welche menschlichen Areale verteidigt werden können und welche (vorläufig) aufgegeben werden müssen. Für die Evidenz der Alternativlosigkeit der Gewalt spielt der Fall von Jerusalem genau in der Mitte des Films eine wichtige Rolle. Die israelische Regierung hatte sofort nach dem Bekanntwerden der ersten Infektionsfälle mit dem Bau einer riesigen Mauer begonnen. Die Stadt scheint damit zunächst militärisch gut vorbereitet zu sein, sie organisiert die Versorgung der Bevölkerung und hat sogar Ressourcen frei, um Menschen aus der Umgebung – israelische Staatsbürger wie auch Palästinenser39 – in die sichere Zone hineinzulassen. Als diese Flüchtlinge dann allerdings in lautes Singen und Beten verfallen, reizen sie die Zombies zu einem Frontalangriff. Trotz massiver Waffengewalt können die Truppen ihr Eindringen in die Stadt – eine Allegorie für das Eindringen biologischer Erreger in den Körper der Nation – nicht verhindern. In Weitwinkeleinstellungen aus einem Hubschrauber – dem Master-Signifier in der Szenografie der Ausnahme – zeigt die Kamera das Anbranden der computeranimierten Zombies an den Mauern der Stadt. Der Schwarm der Angreifer, der sich in der Vogelperspektive als eine die Registrierungsfähigkeit des Auges übersteigende Vielheit von Insekten darstellt, überfordert die Soldaten wie auch die Zuschauer, die keine individuellen Feinde, sondern nur noch die Masse der Feindschaft wahrnehmen können. Schlussendlich türmen sich die völlig entindividualisierten Körper der Zombies zu organischen Leitern auf, die das Schicksal Jerusalems besiegeln.40

38 Vgl. E. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 181ff. 39 Betont der Film auf der Oberflächenebene damit durchaus den Aspekt von Verständigung und Solidarität, reproduziert er gleichwohl subkutan die herrschende Ideologie der israelischen West-Bank-Mauer: Diese erscheint in der Perspektive des Films als eine reine Schutzanlage, die dazu beiträgt, das zombiefizierte Palästina draußen zu halten. Vgl. hierzu Doyle, Kelly Ann: Zombification versus Reification at the End of the World: Exploring the Limits of the Human via the Posthuman Zombie in Contemporary Horror Film, online: https://open.library.ubc.ca/cIRcle/collections/ubctheses/ 24/items/1.0166728 vom 15.1.2017], S. 119-130. 40 Vgl. WORLD WAR Z (USA 2016, R: Marc Forster). Die Jerusalemsequenz beginnt bei 0.51.00 und endet mit der Flucht in einem gekaperten Flugzeug bei 1.04.30. Der Blick aus dem Flugzeugfenster zeigt das von Zombies überflutete und durch Explosionen erschütterte Jerusalem. In der Gegenüberstellung des herabblickenden Gerry Lane und

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Dass am Schluss doch die Menschen triumphieren und die Hauptfigur Lane den Genre-Formularen entsprechend glücklich mit seiner Familie vereint wird, darf nicht über die diskursive Funktion von WORLD WAR Z hinwegtäuschen. Mit der inszenatorischen Herstellung der Evidenz biologischer Konkurrenz-Modelle trägt der Film, der knapp 540 Mio. US-Dollar an den Kinokassen eingespielt hat, massiv zu einer affektpolitischen Beglaubigung der totalen Unterscheidung von Innen und Außen bzw. Freund und Feind bei. In der Welt von WORLD WAR Z gibt es keine Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz. Lanes Worte aus dem Off, die einen Zusammenschnitt von Bildern weltweiter Säuberungs- und Vernichtungsaktionen mit solchen der in einer sicheren Zone auf die Rückkehr des Helden wartenden Familie kommentieren, sind so als Arbeitsprogramm eines auf Dauer gestellten Ausnahmezustands zu verstehen, in den die liberalen westlichen Gesellschaften sich nach 9/11 hinein zu imaginieren drohen: »This isn’t the end. Not even close. We’ve lost entire cities. We still don’t know how it started. We bought ourselves some time. [...] Be prepared for anything. Our war has just begun.«41

4. D IE M YTHOMOTORIK NEUER M AUERN Spielt GOT eher am Rande und vor allem in der Einführungssequenz der Eismauer mit deren sakraler Dimension, die sich im Rahmen der Serienhandlung nicht alleine aus ihrer machtvollen Materialität herleitet, sondern auch in ihrer ruhmreichen Geschichte und Verankerung im kulturellen Gedächtnis von Westeros begründet ist, stellt ein Kinofilm von 2017 die mythische Imprägnierung der Mauer ganz ins Zentrum der Narration. Gemeint ist THE GREAT WALL (USA und CHN 2017, R: Zhang Yimou), eine US-amerikanisch-chinesische Koproduktion unter der Regie von Zhang Yimou, die davon erzählt, wie zur Zeit der SongDynastie zwei europäische Söldner auf der Suche nach der Rezeptur für Schwarzpulver zunächst an der Chinesischen Mauer in Gefangenschaft geraten. Schließlich verteidigen die beiden dann aber gemeinsam mit der kaiserlichen

den angeblickten Zombies wird einmal mehr deutlich, dass der Film implizit USamerikanische whiteness als menschliche Norm favorisiert. 41 1.45.30-1.48.50. Sherryl Vint macht deutlich, dass sich WORLD WAR Z damit in eine genozidal-rassistische Logik einschreibt, wie sie Michel Foucault in In Verteidigung der Gesellschaft analysiert hat. Vgl. hierzu Vint, Sherryl: » Biopolitics and the War on Terror in World War Z and Monsters«, in: Sean Redmond/Leon Marvell (Hg.), Endangering Science Fiction Film. New York/London 2016, S. 66-80.

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Armee das Reich gegen die Angriffe eine schier unendliche Zahl von Monstern, die alle sechzig Jahre versuchen, die Mauer zu überwinden. Jenseits des recht einfallslosen Plots ist THE GREAT WALL vor allem aufgrund seiner mythomotorischen Funktion interessant. Die mit großem finanziellen Aufwand betriebene Inszenierung der historischen Schutzmauer, die von ihren Darstellungsgrammatiken her exakt an die Bildpolitik der Jerusalemsequenz in WORLD WAR Z anschließt, fungiert als retroaktive Neuerfindung der Mauer als Antwort auf die Konnektivitätsängste der Globalisierung. Genau genommen agiert die Mauer in THE GREAT WALL unter den medialen Bedingungen einer »breiten Gegenwart«42 als erfundene Präfiguration im Sinne Hans Blumenbergs, die alle aktuellen Mauerprojekte in eine Tradition »ikonische[r] Konstanz«43 stellt. Gerade der Schauplatz einer jahrhundertealten östlichen Zivilisation hat eine Legitimation der Mauern als nicht weiter zu problematisierende, von der Geschichte beglaubigte Machttechniken zur Folge: Zunächst einmal ist die Präfiguration nur so etwas wie eine Entscheidungshilfe: was schon einmal getan worden ist, bedarf unter der Voraussetzung der Konstanz der Bedingungen nicht erneuter Überlegung, Verwirrung, Ratlosigkeit, es ist durch das Paradigma vorentschieden. [...] Die Präfiguration verleiht einer Entscheidung, die von äußerster Kontingenz, also Unbegründbarkeit sein mag, Legitimität.44

Zhang Yimous Film setzt ein »mythisches Programm« 45 ins Werk, dessen diskursive Wirkung darin besteht, die Logik der Mauer narrativ zu bestätigen und affektiv zu normalisieren. Entscheidend ist, dass man den Film nicht isoliert betrachten darf, sondern ihn in ein Geflecht aus Bezügen und Resignifikanzen einordnen muss. Hierzu gehören Referenzen auf andere popkulturelle Imaginationen der Mauer ebenso wie die Bildensembles realer Grenzpraxen, deren Begründungssemantiken und die Referenz auf das historische Artefakt der Chinesischen Mauer, das nicht umsonst im kollektiven Vorstellungshaushalt der westlichen Welt den Status eines Weltwunders inne hat. 42 Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 132ff. Korrespondierend zu Gumbrechts Diagnose beklagt der Historiker François Hartog den »presentism«, der heute jeden Bezug auf die Vergangenheit bestimme. Hartog, François: Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time. New York: Columbia University Press 2015. 43 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 165. 44 Blumenberg, Hans: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 9f. 45 Ebd., S. 11.

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Auf diesen mythomotorischen Vorstellungskomplex, der »eine normative und formative Kraft«46 ausübt, spielt die Eröffnungssequenz von THE GREAT WALL ganz deutlich an. Im Vorspann bewegt die Kamera sich in einem langsamen zoom in auf eine rotierende Weltkugel zu, bevor sie dann in einem Vorbeiflug eine animierte Version der Mauer in ihrer majestätischen räumlichen Endlosigkeit zeigt. Unterlegt bzw. unterbrochen wird die Bildbewegung durch Textinserts, die eine narrative Rahmung der Filmhandlung vorbereiten: »The Great Wall has stood for centuries as one of mankind’s most enduring wonders. It stands for over 5500 miles and took more than 1700 years to build. [...] It protected from many dangers. Some are known. Some are legend. This is one of the legends.«47 Für die dargelegte Grundthese, dass die Imagination der Mauer eine Antwort auf die Entgrenzungstendenzen der Globalisierung darstellt, findet sich damit ein deutlicher Beleg: Die Rotation der Weltkugel, die die Dynamik des Weltverkehrs in der Globalisierung aufruft, findet ihren Kontrapunkt in der Mauer als Medium und Politik der Ausschließung. Gleichzeitig wiederholt sich in THE GREAT WALL die schon zuvor beschriebene Dehumanisierung der Anderen zu einem entindividualisierten Schwarm absoluter Feinde. Auch hier ist eliminatorische Gewalt im Krieg der Arten die ultima ratio der Politik. Die filmische Verortung dieses Gegenwartsparadigmas in einem mythischen Raum naturalisiert rezente Feindschaftsvorstellungen, trägt aber auch zur Tröstung bei. 48 Aus dem totalen Krieg ums Überleben sind die westlichen Gesellschaften bislang noch immer siegreich hervorgegangen. Dies wird auch weiter so sein: Die Geschichte sagt, daß schon einige Ungeheuer aus der Welt verschwunden sind, die noch schlimmer waren als die, die hinter dem Gegenwärtigen stehen; und sie sagt, daß es schon immer so oder fast so gewesen ist wie gegenwärtig. Das macht Zeiten mit hohen Veränderungsgeschwindigkeiten ihrer Systemzustände begierig auf neue Mythen, auf Remythisierungen, aber auch ungeeignet, ihnen zu geben, was sie begehren. Denn nichts gestattet ihnen zu glauben, was sie gern glauben möchten, die Welt sei schon immer so oder einmal so gewesen, wie sie jetzt zu werden verspricht oder droht.49 46 Assmann, Jan: »Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen«, in: ders./Dietrich Harth (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 39-61, hier S. 45. 47 THE GREAT WALL (USA und CHN 2017, R: Zhang Yimou), 0.00-0.01.10. 48 Insofern wäre den drei Funktionen des Mythos, die Assmann mit Fundierung, kontrapräsentische Vergegenwärtigung und revolutionäre Adressierung benennt, noch Blumenbergs Argument der Entlastung zur Seite zu stellen. Vgl. J. Assmann: »Mythomotorik«, S. 52f. 49 H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 41.

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5. S CHLUSS : F ÜR EINE K ULTURDIAGNOSTIK POPULÄRER M EDIEN Ziel der hier vorgestellten Überlegungen war es, populäre Kultur exemplarisch als Ressource, Medium und Akteur politischer Aushandlungs- und Artikulationsprozesse zu fassen. Wichtig ist dabei, dass die diskursive Virulenz Neuer Mauern nicht einfach nur in populärkulturelle Artefakte hinein sedimentiert, sondern dass die Populärkultur – ganz im Gegenteil – selbst wesentlich zur Evidenz, Prominenz und Kritik von Machttechniken der Ein- und Ausschließung beiträgt. Aus Platzgründen standen dabei der Kinofilm und die TV-Serie im Fokus, und es wurde zudem weitgehend auf eine Historisierung der MauerThematik verzichtet. In einer umfassenderen Analyse käme es darauf an, den Gegenstandskorpus auf andere mediale Formen – das Computerspiel etwa – und ihre je eigenen medialen Logiken zu erweitern. Es gilt, die ästhetische und narrative Inszenierung von Mauern im Detail noch genauer zu fassen und dabei auch die Praktiken einer subversiven Aneignung in den Blick zu nehmen. Man denke z.B. an Banksys Graffitis auf der Jerusalemer Mauer 50: Indem er zusammen mit anderen Street Artists dieses Paradebeispiel einer Gewaltarchitektur zu einer Leinwand umfunktioniert, stört er die Evidenz der Ein- und Ausschließungspolitik. Die farbenfrohen Bilder von Stränden und blauem Himmel, von Kindern, die Soldaten auf versteckte Gegenstände absuchen oder von Straßenkämpfern, die nicht mit Steinen, sondern mit Blumensträußen werfen, stören das Selbstverständliche und öffnen quasi den durch die Materialität des grauen Mauerbetons geschlossenen kollektiven Denkhorizont beider Konfliktparteien. Dort, wo eine Bunker- und Besatzungslogik die Politik nur von der Relation zum Feind her vorstellen kann, entsteht im Rekurs auf die bildliche Utopie ein Möglichkeitsraum, in dem die Alternativlosigkeit der Gewalt zur Disposition steht.

50 Vgl. Toenjes, Ashley: »This wall speaks: Grafitti and transnational networks in Palestine«, in: Jerusalem Quarterly 61 (2015), S. 55-68.

»How much I dream for this to be the ending« Daniel Suarez’ literarische Präventionsfiktionen Daemon und FreedomTM J OHANNES B ECKER

1. P RÄVENTION UND L ITERATUR Prävention, verstanden allgemein »als Vorbereitung auf unsichere zukünftige Schäden«1 oder im engeren Sinne als Verhinderung solcher Schäden2, ist ein Phänomen der modernen Gesellschaft. Als Methode der Kontigenzbewältigung ist Prävention Ausdruck der modernen Zeitlichkeit einer offenen Zukunft.3 Kein Nachdenken über Geschichte, Praxis und Logik von Prävention daher, das nicht auch ein Nachdenken über die Moderne wäre und einen Beitrag zu gesellschaft1 2

Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin/New York: de Gruyter, hier S. 38. Vgl. Bröckling, Ulrich: »Vorbeugen ist besser... Zur Soziologie der Prävention«, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2008), S. 38-48, hier S. 41.

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Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, v.a. S. 359-375; Luhmann, Niklas: »Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft«, in: Peter Sloterdijk (Hg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Erster Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 119-150, v.a. S. 121 sowie S. 129f. Zur Modernität der Kontingenzbewältigung durch Prävention gehört auch, worauf Stefan Willer hinweist, das »Nachleben des transzendenten, metaphysischen Vorsehungsbegriffs«, mit dem »Konzepte und Praktiken von Vorsorge [...] nicht einfach abschließen«, sondern den sie »auf komplexe Weise beerben« (Willer, Stefan: »Sicherheit als Fiktion – Zur kultur- und literaturwissenschaftlichen Analyse von Präventionsregimen«, in: Bernhardt, Markus/Brakensiek, Stefan/Scheller, Benjamin [Hg.], Ermöglichen und Verhindern. Vom Umgang mit Kontingenz [= Kontingenzgeschichten, Band 2], Frankfurt a.M./New York: Campus 2016, S. 235-255, hier S. 240).

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lichen Fragestellungen leisten würde – unabhängig davon, ob dieses Nachdenken nun soziologisch, philosophisch, begriffsgeschichtlich, anthropologisch, politik-, medien-, kultur-, oder literaturwissenschaftlich konturiert ist.4 Im Folgenden geht es jedoch nicht vorrangig um ein Panorama präventiver Praktiken in der Gesellschaft – wie etwa Terrorabwehr oder Krankheitsvorsorge, um nur zwei besonders gängige Beispiele zu nennen –, sondern um den besonderen Fall der literarischen Fiktion, von dem aus die soziale Wirklichkeit der Prävention als literarisches Thema in den Blick genommen wird. Die soziale Wirklichkeit der Prävention in einem Massenmedium wie der Literatur zum Thema zu machen heißt nicht, eine falsifizierbare Beschreibung eines gegebenen Bereichs der Gesellschaft zu geben, sondern diesen unter den Voraussetzungen, die dafür im Medium Literatur gelten, als Wirklichkeit neu zu konstruieren. »Themen«, schreibt Niklas Luhmann, »dienen der strukturellen Kopplung der Massenmedien mit anderen Gesellschaftsbereichen; und sie sind dabei so elastisch und so diversifizierbar, daß die Massenmedien über ihre The-

4

Grundlegende, erkenntnistheoretisch ausgerichtete Beiträge kommen daher vielleicht nicht zufällig von Soziologen (U. Bröckling: »Vorbeugen«; Ders.: »Dispositive der Vorbeugung. Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution«, in: Christopher Daas/Philipp Offermann/Valentin Rauer [Hg.], Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt a.M./New York: Campus 2012, S. 93-108 sowie Luhmann, N.; Soziologie des Risikos, S. 38-40). Einen Überblick zu relevanten Kontexten für ein literatur- und kulturwissenschaftliches Nachdenken über Prävention gibt Stefan Willer (S. Willer: »Sicherheit als Fiktion«, S. 236-243); Matthias Leanza zeichnet Begriff und Praxis von Prävention in soziologischer und medizinhistorischer Hinsicht nach (Leanza, Matthias: »Prävention«, in: Benjamin Bühler/Stefan Willer [Hg.], Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn: Fink 2016, S. 155167); Boris Grusin denkt im Begriff der Premediation Prävention medienwissenschaftlich als Phänomen medialer Kommunikation in den USA nach dem 11. September 2001 (Grusin, Boris: Premediation. Affect and Mediality After 9/11. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, vgl. auch Anm. 30). Zur anthropologischen Dimension von Prävention: Frankenberg, Ronald: »Risk. Anthropological and Epidemological Narratives of Prevention«, in: Lindenbaum, Shirley/Lock, Margaret: Knowledge, Power, and Practice. The Anthropology of Medicine and Everyday Life. Berkley/Los Angeles/London: University of California Press 1993, S. 219-241. Begriffsgeschichtlich relevante Überlegungen zum Mensch als »auf Prävention eingestelltes Wesen« trifft außerdem Hans Blumenberg in: Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 9-18.

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men alle Gesellschaftsbereiche erreichen können.«5 Sicherheit und Prävention sind besonders »elastische« Themen und ihre breite Verwendung in den Medien hat vielleicht gerade damit zu tun, dass sie sich sachlichen Bestimmungen und begrifflichen Eingrenzungen entziehen – wie selbst schon in wissenschaftlichen Kontexten, die dies eigentlich verlangen.6 Diese Elastizität zeigt sich auch in der aktuell breit geführten Diskussion zum Zusammenhang zwischen literarischer Fiktion und Konzepten sowie Praktiken der Prävention. 7 Dabei haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch in der Tagespresse oder großen Publikumsverlagen geäußert und teils engagiert Stellung bezogen.8 Die in dieser Diskussion gewonnenen Differenzierungen möchte ich anhand eines Vergleichs des Problems präventiven Handelns und der fiktionalen Handlung bzw. des dramatischen Plots weiterentwickeln und vertiefen.9 5

Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 13.

6

Vgl. U. Bröckling: »Vorbeugen«, S. 39.

7

Mit ›Literatur‹ und ›literarisch‹ sind hier fiktionale Erzählungen in Romanen und Spielfilmen gemeint. Um insgesamt über Zusammenhänge zwischen Konzepten und Praktiken von Prävention und Literatur nachzudenken, müssten auch andere Medien – wie interaktive Computerspiele und andere immersive Erzählformate – und nicht zwangsläufig erzählende, nicht-fiktionale literarische Gattungen – wie Lyrik und Essayistik – berücksichtigt werden.

8

Vgl. etwa Agamben, Giorgio: »Die Geburt des Sicherheitsstaates«, in: Le Monde Diplomatique vom 14.03.2014, S. 12/13; Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M.: Fischer 2008 und Ders.: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt a.M.: Fischer 2013. Interessanterweise wird die wissenschaftliche Diskussion über den Zusammenhang von Prävention und Literatur auch von den Schriftstellerinnen selbst rezipiert und literarisch verarbeitet, vgl. etwa Guse, Juan: »V50«, online: http://www.hundertvierzehn.de/sites/default/files/fields/ upload/file/Messemagazin_2015_imp_klein.pdf, S. 31, Anm. 2 (zuletzt aufgerufen am 20.02.2017). Guse – Autor des Romans »Lärm und Wälder« – bezieht sich hier auf Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M.: Fischer 2014, das auch auf für die folgenden Überlegungen wichtig ist.

9

Meine Definition eines dramatischen Plots entspricht dem von Peter Szondi beschriebenen Modell einer neuzeitlichen Dramatik, dessen Krise er zugleich beschreibt (Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, hier vor allem S.14-19; zum Begriff ›Plot‹ und dessen Geschichte: Dannenberg, Hilary P.: »Die Entwicklung von Theorien der Erzählstruktur und des Plot-Begriffs«, in: Ansgar Nünning [Hg.], Literaturwissenschaftliche Theorien, Methoden und Modelle. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1995, S. 51-68).

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Der Aspekt des verhindernden oder vorsorgenden Handelns ist konstitutiv für jeden Begriff von Prävention. Üblicherweise wird das vorbeugende ›Verhindern‹ von zukünftigen Schäden in der Zukunft als Hauptaspekt von Prävention angeführt10, etwas offener begreift Niklas Luhmann Prävention als »Vorbereitung auf unsichere zukünftige Schäden, sei es daß die Eintrittswahrscheinlichkeit, sei es daß die Höhe des Schadens verringert wird.«11 Sowohl die engere als auch die weitere Definition scheinen den Moment des Handelns – ›verhindern‹, ›vorbereiten‹, ›vorbeugen‹ – zu privilegieren und – präventiv – handelnde Subjekte vorauszusetzen. Für die begrifflich-theoretische und historisch-sozialwissenschaftliche Diskussion würde es allerdings eine Engführung bedeuten, von Prävention als einem Fall zukunftsbezogenen Handelns zu sprechen, d.h. das, was mit Prävention gemeint werden kann, aus einer Beschreibung oder Verallgemeinerung präventiver Handlungsweisen mit festumrissenen menschlichen Akteuren herzuleiten. Der Handlungsbegriff bleibt seltsam leer und methodisch folgenlos, wenn er nicht auf ein ganzes Ensemble anderer konstitutiver Aspekte hin gedacht, im Zusammenhang mit ihnen betrachtet und auch in seinen zentralen Kategorien (wie ›Ereignis‹, ›Geschehen‹, ›Akteur‹) auf sie hin relativiert wird. Hierfür eignet sich die von Foucault geprägte Kategorisierung sogenannter ›Dispositive‹, die es erlaubt, historisch differenziert spezifische »Kombination[en] von Elementen des Wissens mit solchen der Macht«12 auszumachen, »heterogen[e] Ensemble[s]«13, die auch Handlungsmomente und menschliche Akteure einschließen, sich aber nicht auf diese reduzieren oder von diesen herleiten lassen. Dass ich dennoch den Aspekt des präventiven Handelns hier besonders hervorhebe und zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen mache, hat direkt mit meiner Frage nach dem Zusammenhang von Prävention und fiktionalem Erzählen zu tun. Zwar richten sich auch präventive Handlungen auf die ganze soziale Wirklichkeit, dennoch bleibt auf die Gesellschaft als Ganzes gesehen Prävention ein »unabschließbares Projekt«14; keinesfalls kann die ganze soziale Wirklich10 U. Bröckling: »Vorbeugen«, S. 41; Fuchs, Peter: »Prävention. Zur Mythologie und Realität einer paradoxen Zuvorkommenheit«, in: Irmhild Saake/Werner Vogd (Hg.), Moderne Mythen der Medizin. Studien zur organisierten Krankenbehandlung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 363–378, hier S. 364. 11 N. Luhmann: Soziologie des Risikos, S. 38. 12 Link, Jürgen: »Dispositiv«, in: Rolf Parr/Ulrich J. Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar: Metzler 2008, S. 235. 13 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 119f. 14 U. Bröckling: »Vorbeugen«, S. 42.

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keit, zumal ihre Zukunft, einer vollständigen präventiven Kontrolle unterworfen werden. Demgegenüber hat in der literarischen Fiktion Handeln, vorgestellt als narrative Handlung, in ganz anderem Maße als in anderen Fällen der sozialen Wirklichkeit das Potential, konstitutiv zu werden für die Welt, in der es sich vollzieht; und nicht zufällig ist dies gerade dann so, wenn die entsprechenden Texte und Filme von Prävention ›handeln‹. Dies wird besonders offenkundig in den für solche Texte und Filme typischen Entscheidungssituationen, in denen das Überleben der Menschheit von konkreten, vorbeugenden Handlungen einzelner Figuren abhängt – ein Klassiker ist z.B. das Entschärfen des Zeitzünders für die Atombombe durch den Geheimagenten im allerletzten Moment (in OCTOPUSSY von 1983). Es wäre leicht, in derartigen fiktionalen Szenarien eine undifferenzierte Behandlung komplizierter sozialer und zeittheoretischer Probleme zu sehen. Doch wie ich in einer Analyse der Romane Daemon und FreedomTM von Daniel Suarez zeigen möchte, sind auch solche Fiktionen von einiger Komplexität. In ihnen ereignet sich eine Engführung zwischen individuellen Handlungsmöglichkeiten und universellen Zukunftsperspektiven, die zwar auf die moderne Gesellschaft referiert, aber immer von dieser zu unterscheiden ist. Auch die Figuren als Akteure in der fiktiven Welt sollten keinesfalls mit menschlichen Subjekten verwechselt werden, wie sehr sie auch auf eine menschliche Perspektive verweisen und für diese einstehen mögen. Nicht die Abbildung präventiver Praxis, sondern deren Transformation entlang grundlegender Differenzierungen von Figur und Person, erzählter Welt und historischer oder sozialer Wirklichkeit ermöglicht es – so meine These – in der Rezeption solcher fiktionalen Texte und Filme an sozialwissenschaftlich und diskursgeschichtlich geschärfte Überlegungen zu Prävention und ihrer sozialen Wirklichkeit anzuschließen. Auch wird über derartige fiktionstheoretische Differenzierungen die Reichweite und Komplexität der literarischen Auseinandersetzung mit Prävention überhaupt erst erkennbar.

2. P RÄVENTIVES H ANDELN Der Zusammenhang von Prävention und Handeln ergibt sich aus der besonderen Art und Weise, wie Prävention auf die Zukunft bezogen ist. »Prävention«, so Matthias Leanza, »bezeichnet eine Sorge um etwas, das noch nicht geschehen ist und auch nicht geschehen soll – aber könnte. Stets wird ein möglicher Schaden antizipiert, um ihn durch Anstrengungen im Hier und Jetzt zu verhindern oder abzuschwächen.«15Aus welchem Grund auch immer wird angenommen, dass (in 15 M. Leanza: »Prävention«, S. 155.

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der Zukunft) etwas Schlimmes passieren könnte, wenn nicht vorher (in der Gegenwart) etwas dagegen getan wird. Ein Schaden wird vorsorglich antizipiert, bevor er sich ereignet. Das Antizipieren des zukünftigen Schadens erfordert dann ein Handeln – »Anstrengungen« – in der Gegenwart, um den Schaden abzuwenden oder ihn wenigstens zu beschränken. Für einen präventiven Umgang mit der Zukunft ist Handeln nicht nur notwendig, sondern auch immer möglich. 16 Die Zukunft der Prävention zwingt zum Handeln, da sie stets Raum für Einflussnahme und Intervention lässt und da sie durch Handeln und oder Nichthandeln überhaupt erst entsteht: Sie muss – und wird zwangsläufig – hergestellt, gemacht werden. Gleichzeitig äußert sich in Prävention ein »Begehren nach Kontingenztilgung« 17: Grundsätzlicher noch als andere Sicherheitskonzepte und –praktiken, zielt Prävention darauf ab, den offenen Möglichkeitsraum einer unsicheren Zukunft, auf den Prävention bezogen ist und dem sie sich erst verdankt, zu verschließen, sich selbst also überflüssig zu machen. Dabei kann es vorab keine Gewissheit darüber geben, welches Handeln welche Zukunft hervorbringen bzw. verhindern wird. Es ist nicht einmal sicher, ob der antizipierte Schaden wirklich eintreten würde, wenn nichts getan wird – und sogar im Nachhinein kann nicht sicher gewusst werden, ob ein Schaden eingetreten wäre, wenn nichts getan worden wäre. Es ist das häufig zitierte Paradox der Prävention, das diese Figur so faszinierend macht: Prävention ist eine »self-destroying prophecy«18 oder »self-defeating prophecy«19; gerade wenn durch präventives Handeln ein Schaden abgewendet werden konnte, ist es unmöglich zu wissen, ob das denn auch wirklich so geschehen ist. »Es gibt keinen empirischen Test, der belegen könnte, dass eine Zukunft (die es nicht gibt) tatsächlich eingetroffen ist«, schreibt Peter Fuchs über die »paradox anmutende Zeitform« von Prävention.20 Um die Wirksamkeit von Prävention zu sehen, so Eva Horn, müsste ein »abgeschlossenes Narrativ« vorliegen, »das von seinem Ende her erzählt

16 »Die Zukunft der Prävention ist ein offener Möglichkeitsraum, ihr liegt das Modell der Kontingenz zugrunde. Diese meint die Abwesenheit von Notwendigkeit und Unmöglichkeit; darüber hinaus ist sie von reinem Zufall und absoluter Kontrolle unterscheidbar.« (Ebd., S. 157.) 17 S. Willer: »Sicherheit als Fiktion«, S. 240 18 U. Bröckling: »Dispositive«, S. 95. 19 Wie es Eva Horn in Anlehnung an Robert K. Merten nennt (E. Horn: Zukunft, S. 305; Merten, Robert K.: The self-fulfilling prophecy, in: Antioch Review, 8 (1948), S. 193210). 20 P. Fuchs: Prävention, S. 364.

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werden kann«21, es müsste die Möglichkeit bestehen, die Geschichte von einem retrospektiven Standpunkt aus zu überblicken – erfolgreiches präventives Handeln verhindert aber, dass ein solcher Zustand je erreicht wird.

3. D IE F IKTIONALITÄT PRÄVENTIVER Z UKUNFTSANNAHMEN Die paradoxe Zeitstruktur präventiver Zukunftsannahmen rückt sie in die Nähe der literarischen Fiktion. Eva Horn spricht von einer »strukturellen Fiktionalität« präventiven Zukunftswissens22. Das präventive Wissen von der Zukunft ist (wie jedes Zukunftswissen) unsicher. Man weiß nicht, wie sicher oder wie wahrscheinlich die Bedrohung ist, die abgewendet werden soll. Deswegen von der »Fiktionalität« präventiven Zukunftswissens zu sprechen heißt allerdings nicht, dass alle Aussagen über die Zukunft reine Erfindungen wären. Gemeint ist zunächst nur: Prävention setzt voraus, dass stets mehrere Zukünfte gleichzeitig möglich sind, selbst wenn sie einander ausschließen. Statt von Fiktion als Erfindung spricht Eva Horn daher davon, dass sie – wiederum: ›strukturell‹ – das ist, »was man in der Wissenschaft eine ›Arbeitshypothese‹, eine ›heuristische Fiktion‹ oder eben ein ›Szenario‹ nennt.«23 Nur im Nachhinein wird man wissen, welche Hypothese sich bestätigt hat und Tatsache geworden ist; erst wenn die Zukunft Vergangenheit geworden ist, können auch faktische und erfundene Zukünfte voneinander unterschieden werden. 24 Das Besondere der Prävention ist aber, dass sie auch Fälle umfasst, in denen es nicht einmal im Nachhinein möglich ist zu sagen, ob eine bestimmte Zukunft ›richtig‹ vorhergesagt worden ist. Denn dafür müsste nicht nur Gewissheit darüber bestehen, dass eine antizipierte Zukunft eintritt, sondern auch, dass gleichzeitig mindestens eine andere Zukunft nicht eintritt – das oben beschriebene Paradox: Prävention verunmöglicht eine retrospektive Bestandsaufnahme des Erfolgs von Prävention. Damit entzieht sich Prävention einer nachträglichen His21 E. Horn: Zukunft, S. 304. 22 Ebd., S. 302, vgl. auch S. 298. 23 Ebd., S. 306. 24 Zur Unmöglichkeit einer Unterscheidung von faktischen und fiktiven Zukünften schreibt der Historiker Lucian Hölscher: »Die vergangene Welt lässt sich in faktische und fiktive Ereignisse unterteilen. Die zukünftige Welt so zu ordnen, wäre dagegen sinnlos, denn in ihr können wir eben gerade nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ein Ereignis dem Bereich des Faktischen oder des Fiktiven zuzurechnen ist.« (Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 234).

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torisierung – was sie auch politisch so problematisch macht. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion darüber, ob mit mehr Videoüberwachung der Anschlag des Attentäters Anis Amri auf den Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 hätte verhindert werden können, bzw. ob dies in anderen Fällen ›tatsächlich‹ gelungen ist: Aussagen hierzu sind schwer, bis gar nicht überprüfbar, nicht nur wegen des in jeder Sicherheitspolitik stets mitgeführten Moments der Geheimhaltung, sondern eben wegen der für präventive Maßnahmen charakteristischen Unmöglichkeit, ihre vorab projizierten Folgen und Wirkungen selbst im Nachhinein mit Sicherheit zu bestimmen und zu beschreiben. Dennoch ist, gerade weil sie so schwer zu widerlegen ist, die Behauptung, Videoüberwachung könne Terroranschläge verhindern, besonders gut geeignet, um den Einsatz der Technologie im öffentlichen Raum zu rechtfertigen (»Better safe than sorry«). Der präventive Blick betrachtet Zukunft, aber auch Vergangenheit und Gegenwart nicht als etwas tatsächlich Gegebenes, sondern im Hinblick auf ihr Potential. Welt und Wirklichkeit sind ihr stets eine Vielzahl möglicher Welten und Wirklichkeiten. »Daher eignet präventiven Praktiken etwas Unwirkliches« 25 – und trotzdem verändern sie, indem sie, »massiv wirksam sind«, die Wirklichkeit.26 Prävention hält die Spannung zwischen Wirklichem und Unwirklichem, und wo präventiv gehandelt wird, wird alles dafür getan, dass das auch so bleibt.

4. P RÄVENTIVES H ANDELN UND TM IN D AEMON UND F REEDOM

FIKTIONALE

H ANDLUNG

Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Unwirklichkeit und Wirksamkeit, Wissen und Nichtwissen, bringt wiederum die Literatur ins Spiel, diesmal nicht in erster Linie als etwas, das wie Prävention (weil ›auch fiktiv‹) ist, sondern weil Literatur in besonderer Weise in der Lage ist, Fiktionalität zu reflektieren. Die paradoxe Fiktionalität präventiven Zukunftswissens erscheint neu unter den komplexen Bedingungen der Erzählung einer fiktionalen Welt, präventives Handeln wird vorgestellt als Handlung einer fiktionalen Erzählung. Die Unmöglichkeit, mit den Begriffen der Prävention eine (selbst nachträgliche) Gewissheit über die Zukunft zu erlangen, kehrt hier als Frage nach der Motivierung einer literarischen Erzählung von ihrem Ende her wieder, in anderen Worten als Problem der Finalisierung der erzählten Ereignisse. Was passiert nun aber, wenn die Logik präventiven Handelns zum Modell für eine literarische Erzählung wird – nicht nur

25 M. Leanza: »Prävention«, S. 166f. 26 E. Horn: Zukunft, S. 306.

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dem ›Thema‹ nach, sondern auch in Hinsicht auf die Erzählweise? Wie kann präventives Handeln formgebend für eine literarische Handlung werden? Eine sehr konsequente Übertragung der Voraussetzungen präventiven Handelns auf die Ebene der literarischen Handlung oder des literarischen Plots findet sich in den beiden Romanen Daemon und FreedomTM des US-amerikanischen Autors Daniel Suarez.27 In ihnen wird die Geschichte eines globalen Cyber Wars erzählt. Die entsprechenden Ereignisse werden in derselben Reihenfolge erzählt, in der sie sich ereignen, unter äußerst sparsamer Verwendung narrativer Rückwendungen. Die Erzählung der Geschichte erfolgt also nicht retrospektiv von einem Zeitpunkt aus, an dem sie bereits vergangen ist, sondern scheinbar zukunftsoffen, im dramatischen Präsens, unter Verzicht auf eine explizit markierte Erzählinstanz. Im ersten der beiden Romane, Daemon, wird erzählt, wie ein Computervirus, der titelgebende »Daemon«, zentrale Punkte der weltweiten digitalen Infrastruktur attackiert. Der Daemon dringt in die Netzwerke von Konzernen ein und bemächtigt sich so ihres Kapitals; er bewirkt in einer Kombination von automatisiertem Blackmailing und individualisierten Anreizen die Gefolgschaft von Personen in Polizei, Medien und Wirtschaft und schafft sich außerdem ein Heer fernsteuerbarer Kampfmaschinen. Die vom Daemon ›erworbenen‹ politischen und ökonomischen Ressourcen werden den Usern des sogenannten Darknet zur Verfügung gestellt, eines ursprünglich für das Spielen von Onlinespielen entwickelten sozialen Netzwerks. Treibende Kraft hinter den Aktionen des Daemon ist der Milliardär Matthew Sobol, der durch die Entwicklung von Online-Rollenspielen reich geworden ist und sich parallel zu den Attacken immer wieder mit Videobotschaften zu Wort meldet. Seine Position im erzählten Geschehen ist außerdem wichtig für das Funktionieren der Erzählweise des Romans. Die Erzählung ist durchgehend im dramatischen Präsens gehalten und kommt ohne eine markierte Erzählinstanz aus, von der aus in souveräner Rückschau der gesamte Verlauf des Geschehens erzählt werden könnte. Erzählt wird – weitgehend chronologisch – das jeweils aktuelle Ereignis in einer Handlung, die sich in eine (für Leser und Protagonisten) unbekannte Zukunft fortsetzt. In dieser Erzählanlage kommt Sobol am ehesten die Funktion eines Erzählers zu, der mit einem Wissen über kommende Ereignisse ausgestattet ist, das dem Wissen der anderen Figuren und auch der Leser überlegen ist: Denn er behauptet nicht nur, zu wissen, was geschehen wird, sondern seine Ankündigungen erfüllen sich nach und nach im Laufe des Geschehens und erweisen sich so als zuverlässig. Allerdings handelt es sich bei Matthew Sobol um einen Toten: Die Person dieses Namens ist unmittelbar vor der ersten In27 Suarez, Daniel: Daemon. London: Quercus 2009; Ders.: FreedomTM. London: Quercus 2010.

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tervention des Daemon an Krebs gestorben. Die Videobotschaften, in denen er sich äußert, müssen also von ihm vorgefertigt und der Ablauf der Ereignisse antizipiert worden sein. Es scheint einen Plan hinter den Attacken des Daemon zu geben; dieser wird jedoch erst nach und nach enthüllt. Die spannungsreich aufrechterhaltene Ungewissheit über Sobols Absichten und Pläne korrespondiert mit der Unvorhersehbarkeit der Interventionen des Daemon. Diese sind nur deshalb so effizient, weil sie überraschen. Der Polizei und der Regierung ist es unmöglich zu wissen, was der Daemon als nächstes tun wird. Im Algorithmus, der den Virus steuert, sind mögliche Gegenmaßnahmen immer schon mit einkalkuliert, weshalb er auf sie maximal effizient, d.h. auf abermals überraschende Weise reagieren kann. Den Gesetzen des Suspense entsprechend, wird dies so erzählt, dass beim Eintreten des Ereignisses die Leser der Geschichte immer etwas mehr darüber wissen, als die meisten Figuren in der erzählten Welt. 28 Im Text des Romans werden die Cyberattacken des Daemon in ihrer Wirkung mit den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 verglichen. Diese wurden im Anschluss an die Anschläge in den sicherheitspolitischen Verlautbarungen der US-Regierung als unvorhergesehenes – und strukturell unvorhersehbares – Ereignis interpretiert, als unknown unknown – so die berühmte Formulierung des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld.29 Suarez‘ Erzählung greift die nach dem 11. Septembers 2001 medial am Leben gehaltene angstvolle Erwartung eines kommenden Anschlags auf und übersetzt sie mit den Mitteln der Spannungsliteratur in ein Szenario des Cyber War.30 Die schlimmsten Ängste werden nicht nur bestätigt, sondern zuverlässig

28 Zum Unterschied zwischen Spannung und Überraschung vgl. Haas, Claude: »Suspense«, in: Bühler/Willer: Futurologien, S. 63-72, hier S. 63. Formal wird ein solches Vorabwissen über eine Vervielfältigung der Schauplätze hergestellt: So spaltet sich die Handlung zunehmend in Episoden, die an geheimen Orten spielen und an denen sich dann nach und nach das innere Funktionieren des Daemon und die Planmäßigkeit seiner Interventionen enthüllt. 29 DoD News Briefing – Secretary Rumsfeld and Gen. Myers, online: http://archive. defense.gov/Transcripts/Transcript.aspx?TranscriptID=2636 vom 12.02.2002 (Zuletzt aufgerufen am 20.02.2017). 30 Der Medienwissenschaftler Boris Grusin hat diese in den Massenmedien wirksame Erwartungshaltung und die für sie typische Mischung aus Alarmismus und Beruhigung als Premediation bezeichnet: eine Form medialer Prävention, welche die Wachsamkeit in der Bevölkerung erhöhen und so effektiv helfen soll, künftige Terroranschläge zu verhindern; die zugleich aber auch einem traumatischen Schock vorbeugen soll, wie er, so Grusin, nach dem 11. September 2001 durch die Berichterstattung und

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übertroffen. Anschlag folgt auf Anschlag, ohne dass der Daemon seinen Überraschungsvorteil verliert. Seine Interventionen sind aus Sicht der Regierungsorganisationen und der organisierten Staatlichkeit im Roman ein sich laufend verwirklichendes Bedrohungsszenario katastrophalen Ausmaßes – und zwar sowohl, was den angerichteten Schaden angeht, als auch weil jeder neue Anschlag aufs Neue unvorhergesehen kommt. Dabei ist von Anfang an klar, dass sich der Daemon konventioneller digitaler Prognoseverfahren bedient, also große Datenmengen auswertet, um die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse zu berechnen. Auf einer Website zu den beiden Büchern schreibt Daniel Suarez, dass alle dort vorkommenden Technologien nicht von ihm erfunden worden sind, sondern zu dem Zeitpunkt des Erscheinens der Bücher tatsächlich existierten. 31 Derartige Aussagen, die auch in den Büchern selbst wiederholt werden,32 laufen auf eine Engführung von fiktionaler Welt und gesellschaftlicher Wirklichkeit hinaus, sie sollen plausibilisieren, dass ein Geschehen, wie es in Suarez’ Texten erzählt wird, ›tatsächlich‹ geschehen kann. Begegnet wird damit einer üblichen Lektürehaltung gegenüber der Science-Fiction-Literatur: Gerade an ältere Texte des Genres wird oft die Frage gestellt, ob sie mit ihrem Szenario ›richtig‹ lagen, ob also die vorgestellte Zukunft mit der Gegenwart der Leser / Zuschauer übereinstimmt oder ihr nahekommt – vor allem in solchen Fällen, wo die Texte und Filme mit konkreten Datumsangaben arbeiten (1984, 2001). Gleichzeitig wird in Daemon and FreedomTM mit erzählerischen Mitteln ein politisches Potential im Umgang mit den Risiken gegenwärtiger digitaler Technologien behauptet. Die Texte werden von einer an politischen Aspekten digitaler Technologie interessierten Öffentlichkeit offenbar nicht nur als fiktionale Literatur rezipiert, sondern wie Sachbücher gelesen, und Suarez wird nicht allein als Autor literarischer Science-Fiction wahrgenommen, sondern auch als Experte zur Zukunft digitaler Netzkultur.33 Bilder des Anschlags auf das World Trade Center bei den Fernsehzuschauern bewirkt wurde (B. Grusin: Premediation, v.a. S. 1-4; 11-16; 38-41). 31 Dies belegt er mit Links zu den Webseiten von Fachzeitschriften, Herstellern usw. (Suarez, Daniel: »The technology depicted in Daemon and FreedomTM may seem like science fiction, but it actually exists…«, online: http://www.thedaemon.com/ daemontech.html [zuletzt aufgerufen am 20.02.2017]). 32 Vgl. z.B. D. Suarez: Freedom™, S. 98: »This design has existed for decades. The technology has been proven«. 33 Vgl. das Interview mit Suarez in der Online-Ausgabe der FAZ: Suarez, Daniel/Rieger, Frank: »Understanding the Daemon«, online: http://www.faz.net vom 01.05.2011 [zuletzt aufgerufen am 20.02.2017], S. 1-9). In beiden Rollen ist Suarez auch als Vortragender präsent, vgl. etwa Kalbitzer, Jan/Rieger, Frank/Suarez, Daniel: How Techno-

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Im Roman sind die Aktionen des Daemons für die Betroffenen ein unknown unknown, weil sie die zugrundeliegenden Algorithmen nicht kennen. Aus der Perspektive des Daemons hingegen wird der Bereich technologisch beherrschbarer known unknowns nicht verlassen: Systemimmanente Schwachpunkte sowie Schwachpunkte des Gegners werden identifiziert und zur Grundlage für ein zwischen Eskalation und Stabilisierung oszillierendes Risikomanagement gemacht. Ziel ist die Selbsterhaltung des Daemons und außerdem, wie durch eine von Sobols Videobotschaften schließlich enthüllt wird, die Überwindung des Status Quo der Weltgesellschaft, insbesondere der Weltwirtschaft, die durch Machtkonzentration und Ressourcenausbeutung das Überleben der Menschheit bedrohe. Zu diesem Schluss kommt Sobol durch den Vergleich zwischen historisch gescheiterten Zivilisationen und der aktuellen Lage der Menschheit. Der Unterschied sei lediglich, dass unter den Bedingungen einer globalisierten Ökonomie das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel stehe und nicht das Überleben voneinander isolierter Bevölkerungen wie etwa im Falle der Mayas und Anasazi. Von den Nutznießern des auf diese fatale Entwicklung zulaufenden Systems – den Akteuren der Finanzindustrie oder im Roman erwähnten Agrarkonzernen wie Monsanto – sei keine Hilfe zu erwarten. Gegen sie gelte es stattdessen »necessary change« zu erzwingen und eine Zivilisation ohne »central points of failure« zu errichten, die »through its very structure« Demokratie befördert.34 Oder, wie es einer der Anhänger des Daemon formuliert: »It’s a new social order. One that’s immune to bullshit.«35 Keimzelle dieser neuen Sozialordnung ist das Darknet, dessen User mit dem vom Daemon durch Firmenübernahmen gewonnenen Kapital beginnen, eine parallele Gesellschaftsstruktur aufzubauen. Vor allem entwickeln sie ein alternatives Wirtschaftssystem, das aufgrund seiner dezentralen Struktur und ressourcenschonenden Ausrichtung weniger krisenanfällig ist als die herkömmliche, auf die Interessen großer Konzerne ausgerichtete Ökonomie. Diese Entwicklung fort von den gewalttätigen Anfängen des Daemon zu einer zivilgesellschaftlichen Transformation des politischen und ökonomischen Status Quo wird im zweiten Roman Freedom™ erzählt. Allerdings geraten die Pioniere des Darknet bald selbst unter Beschuss. In Freedom™ sehen sich die von den Attacken des Daemon überforderten Autoritäten gezwungen, auf private Sicherheitskräfte zurückzugreifen: »A tough bunch

logy is Changing the Way We Think, online: https://www.youtube.com/watch?v=rTx 78aaZ6w0 vom 07.12.2016 (zuletzt aufgerufen am 20.02.2017). 34 D. Suarez: Freedom™, S. 101. 35 Ebd., S. 40.

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of career warriors. Veterans of many secret wars.« 36 Eine bürgerkriegsähnliche Situation entsteht, in der die staatlichen Sicherheitsorgane und Regierungsorganisationen an Einfluss verlieren. Stattdessen bekämpfen sich auf dem Boden der USA private Söldnerheere und die Anhänger des Daemons. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um lebendige Menschen: Es gibt Akteure wie den toten Matthew Sobol oder den Nazi-Offizier Boerner, eine Figur aus einem fiktiven Online-Rollenspiel, die nur in virtuellen Umgebungen existieren; es gibt die User des Darknet, welche sich mit Hilfe von VR-Brillen sowohl in der Umgebung des Darknet als auch durch die physische Realität bewegen sowie einzelne Menschen, die ihre Körperkräfte mit technischen Mitteln ins Übermenschliche steigern oder fast vollständig aus Prothesen und Implantaten bestehen. Die Akteursperspektive in Daemon und FreedomTM ist also transhumanistisch, bringt aber trotzdem keine Formen nicht-menschlicher oder posthumanistischer Existenz hervor. Technik bleibt bei Suarez durchaus traditionelles enhancement menschlicher Fähigkeiten, und menschliche Subjektivität bleibt der Ausgangsund Endpunkt allen Handelns. Beide Seiten des von Suarez entworfenen Bürgerkrieg-Szenarios folgen einer Logik der Prävention. Sobol will, wie beschrieben, den Untergang der menschlichen Zivilisation verhindern; und auch die gegen den Daemon gerichteten Maßnahmen haben zunächst das Ziel, ihn zu zerstören, um so weitere Anschläge zu verhindern. Angesichts der Schlagkräftigkeit des Daemons in dem von ihm selbst bewirkten Konflikt kommt es jedoch zu einem Umdenken bei seinen Gegenspielern. Forscher, die im Dienst eines Konglomerats aus Unternehmen der Finanzwirtschaft, Agrarkonzernen sowie der privaten Sicherheitsindustrie stehen, finden eine Selbstzerstörungsfunktion im Code des Daemon, mittels derer sie glauben, alle von dem Virus kontrollierten Daten löschen zu können. Zugleich wollen sie aber über eine in sein Skript eingespeiste Ausnahmeregel die Daten ihrer Auftraggeber gegen den weiteren Zugriff des Daemon schützen – um anschließend mit Hilfe des dann von ihnen kontrollierten Programms die Weltherrschaft zu übernehmen. Sobald jedoch die Forscher die Selbstzerstörungsfunktion aktiviert haben, informiert sie Matthew Sobol in einer weiteren Videobotschaft, dass sie einer List erlegen sind: »I knew it would only be a matter of time until you broke into the darknet. No system is completely secure. Of course, you would scour my code for flaws. So I gave you some good ones.« Die angebliche Selbstzerstörungsfunktion erweist sich als Köder. Alles wird genau anders herum geschehen: »As we sit here, the companies you attempted to harm are perfectly safe. However, the Daemon is deleting your personal and business wealth, and is, in fact, destroying all the data and backup tapes of the companies 36 Ebd., S. 507.

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you sought to protect.«37 Erst jetzt offenbart sich die Finalität von Matthew Sobols Plan. Dies ist der Moment, auf den die Interventionen des Daemon von Anfang an abgezielt haben: Die zerstörerischen Kräfte der Zivilisation – manifestiert in den erwähnten Einzelinteressen von Finanzwirtschaft, Agrarkonzernen, Sicherheitsindustrie – sollen hervorgelockt und aktiviert, identifiziert und dann zerstört werden. Dass sich seine Gegner in die erwähnte Falle locken lassen, ist der einzige Moment, den Matthew Sobol mit Sicherheit prognostizieren musste, damit sein Plan aufgehen konnte. Dies gelingt nicht allein durch die von Sobol antizipierte List, sondern erst durch Mitwirkung der User des Darknet, d.h. über eine Kombination von überlegener digitaler Prognostik (»Data magic, far-sight«38), flexiblem Risikomanagement und Vertrauen in die kybernetische Steuerungsintelligenz basisdemokratischer Entscheidungsverfahren: in die Fähigkeit der im Darknet organisierten User, angesichts von Risiken und Gefahren Lösungen für den Fortbestand des Netzes zu organisieren (»the crowd soon found the answer« 39). Das mangelnde Vertrauen in die soziale Komponente des Darknet ist auch der Grund, weshalb die Gegner des Daemons diesen als bloßes Kontrollinstrument missverstehen.40 In Sobols Kalkül jedoch sind demokratisches und technisches Zukunftsmanagement aufeinander angewiesen. Es bedarf also der kollektiven Intelligenz und spontanen Mitwirkung der User des Darknet, um das Ziel einer Überwindung des Status Quo und der Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung zu erreichen. Dennoch ist Sobols Plan unterlegt von einer latenten Spannung zwischen Technologie und Demokratie – für die Suarez folgende erzählerische Lösung findet: Nach dem Sieg des Daemon über seine Gegner lässt Sobol einen einzelnen Menschen entscheiden, ob das System weiterbestehen oder gelöscht werden soll. Dieser, ein ehemaliger Polizist, ein Außenstehender, dessen Leben Sobol zuvor zerstört hatte, entscheidet sich für den Erhalt des Daemons – gerade nicht aus Sympathie für Sobol, sondern aus Vertrauen in die neuentstandene digitale Demokratie: »What was society, after all, but a group of people making up rules. At least on the darknet, it was a large group of people making up the rules in-

37 D. Suarez: Freedom™, S. 534f. 38 Ebd., S. 83. 39 Ebd., S. 41. 40 Dies wird ihnen gleich zu Beginn von Freedom™ von ›Loki‹, einem besonders militanten Protagonisten des Darknet vorgeworfen: »You don’t understand the Daemon. You keep thinking it’s something we obey like automatons. But that’s not it at all. The Daemon’s darknet is just a reflection of the people in it.« Ebd., S. 40.

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stead of a small one.«41 Die vom Daemon ausgeübte Gewalt, die dadurch auf den Plan gerufene Gegengewalt, die Auflösung zentraler Staatlichkeit und der daran anschließende Bürgerkrieg, erweisen sich so am Ende als heilsam, der Zweck (»necessary change« und »creating a resilient civilization«, um das Überleben der Menschheit zu sichern) heiligt die Mittel. Dem Daemon und seinen Mitspielern im Darknet gelingt es, ihre gewalttätigen Ursprünge abzuschütteln: Nachdem zunächst in einem Akt gewaltsamer Setzung eine neue Rechts- und Gesellschaftsordnung etabliert wurde, wird bald Gewalt nur noch zur Verteidigung und zum Systemerhalt eingesetzt und schließlich, nach dem Sieg über die Söldnerheere der Finanzwirtschaft, vollends überflüssig.

5. P RÄVENTIONSFIKTIONEN

UND

P RÄVENTIONSFANTASIEN

Inwiefern handelt es sich nun bei den beiden Romanen von Daniel Suarez um Präventionsfiktionen, wie ich es im Titel dieses Aufsatzes nenne? Zunächst, weil sie, wie ich zu zeigen versucht habe, Probleme der Prävention zum Gegenstand haben – und zwar nicht auf einen einzigen Anwendungsfall bezogen, sondern insofern sie das Phänomen Prävention in einer Gesamtschau gesellschaftlicher Probleme thematisieren. Präventionsfiktionen sind diese Erzählungen aber auch, weil sie die – zeitliche – Logik des ungewissen Zukunftsbezugs mit Handlungsfolgen in der Gegenwart unter den Bedingungen des literarischen Erzählens reproduzieren. Das Wechselspiel zwischen Wissen und Nichtwissen – über die nächsten Schritte des Daemons, über Motive und Absichten hinter Matthew Sobols Plan, aber auch über den Ausgang der sich ausweitenden kriegerischen Auseinandersetzungen sind nicht nur Gegenstand – ›Thema‹ – der Geschichte, sondern bestimmen unmittelbar ihre Struktur und Erzählweise. Es ist ein Erzählen im dramatischen Präsens, das vor allem auf der Beschreibung physischer Handlungen und auf Dialogen basiert; es kommt ohne eine markierte Erzählerinstanz aus, über die rückblickend die Geschichte erzählt würde. Das Fehlen – oder richtiger: das Ausklammern – der retrospektiven Erzählerposition, die zukunftsgewiss berichten kann, bindet den Gang der Ereignisse an die Perspektive der in der erzählten Gegenwart handelnden Akteure. Was auch immer geschehen wird (so signalisiert es das dramatische Präsens), verdankt sich nicht der ordnenden Übersicht eines Erzählers, sondern dem Tun der Figuren. Zwar wird das den Interventionen des Daemon zugrundeliegende probabilistische Kalkül in der Fiktion als zuverlässig dargestellt, und der von Sobol antizipierte Punkt der versuchten Übernahme des Daemon durch die Protagonis41 D. Suarez: Freedom™, S. 555.

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ten des Status Quo wird nicht verfehlt. Erst die zukunftsungewissen Handlungen der Figuren aber bringen die Handlung der Erzählung und damit ihre zeitliche Ordnung hervor. Suarez‘ Erzählung baut auf einem szenischen, sich im dramatischen Präsens vollziehenden Geschehen einer »absoluten Gegenwartsfolge« auf, verzichtet jedoch auf eine kausale Verknüpfung und Motivierung der erzählten Ereignisse. Stattdessen wird das Geschehen als eines von mehreren möglichen ausgewiesen, als eine zukünftige Gegenwart, die im Möglichkeitsraum einer offenen, gegenwärtigen Zukunft wahrscheinlich wäre. Die am Ende dann doch hergestellte Finalität der Ereignisse – das Gelingen von Sobols Plan, das Eintreten des entscheidenden Ereignisses – verdankt sich weder einem zwangsläufigem Schicksal noch ist sie reiner Zufall. Sie musste erst durch die Akteure der Geschichte hergestellt werden: »Where prediction fails, there’s always manipulation«,42 hat Suarez es in einem Interview einmal auf den Punkt gebracht. Im Umgang mit unsicheren Zukünften räumt er damit dem eingreifenden Handeln Vorrang vor dem Anspruch zuverlässiger Vorhersagen ein, was gleichermaßen als herrschaftskritische Bestandaufnahme wie als aktivistisches Credo gelten kann. Warum dann überhaupt eine solche Finalisierung, könnte man fragen? Mit Eva Horn ließe sich sagen, dass gerade das Fehlen und die Unerreichbarkeit jeder Finalität, eines »abgeschlossenen Narrativs […], das von seinem Ende her erzählt werden kann«43, Prävention ausmacht; wie Prävention selbst dürfte auch eine diese in ihren Verfahren spiegelnde literarische Handlung niemals zum Schluss kommen. Suarez imaginiert jedoch eine Situation, in der Prävention zum Abschluss kommt und sich durch ihren Erfolg selbst überflüssig macht. In dem bereits erwähnten Interview hat Suarez die Glaubwürdigkeit eines solchen Szenarios aus technischer Sicht diskutiert: Would such a system work without all sorts of errors? No […]. I did, in fact, write scenes where the Daemon erred-out or left an individual follower marooned in a hopeless logic loop. However, these lapses (accurate though they may be) detracted from the thrust of the overall storyline, and I edited them out of the final manuscript.44

Man könnte Suarez vorwerfen, er habe in einem Zugeständnis an literarische Konventionen die Komplexität seines Themas verfehlt; man könnte ihm kommerzielle Motive oder einen konservativen Literaturbegriff unterstellen; auch die Frage wäre wohl berechtigt, welche Auffassung von Politik sich aus der literari42 D. Suarez/F. Rieger: Understanding the Daemon, S. 3. 43 E. Horn: Zukunft, S. 304. 44 D. Suarez/F. Rieger: Understanding the Daemon, S. 2.

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schen Präferenz für ein Modell dramatischer Kontinuität ergibt.45 Aufschlussrecher aber scheint mir, sein Ansinnen, die Geradlinigkeit oder Stoßrichtung der Handlung zu garantieren, als Entscheidung zu verstehen, mit literarischen Mitteln das konstruktive und emanzipative Potential von Prävention zu betonen, zu zeigen, dass Prävention nicht nur verhindert, sondern auch ermöglicht, dass durch Prävention Spielräume für weitreichende, positive Zukunftsvorstellungen und deren Verwirklichung eröffnet werden – ein Aspekt, der häufig ausgeblendet wird, wenn es um Prävention und den mit ihr zusammenhängenden »aktivistischen Negativismus« geht.46 Suarez’ Romane handeln von nichts Geringerem als einer – im Zeichen von Prävention stattfindenden – Versöhnung von Technologie und Utopie in ihren verschiedenen »Zugangsweisen zur Zukunft«.47 Suarez‘ Erzählung scheint an ihrem Ende den fiktionalen Rahmen zu sprengen. Sobols List ist zwar erzählerisch geschickt vorbereitet, aber man ahnt doch, dass es sich bei ihrem Erfolg um eine absichtsvolle Setzung ihres Autors handelt, statt dass sie zwingend aus dem Geschehen folgt. Sowohl literarisch als auch – wie Suarez selbst sagt – hinsichtlich der technischen Plausibilität wird die Erzählung hier fragwürdig. Dies gilt auch für die politische Utopie, von der erzählt wird. Statt eine Zwangsläufigkeit des erzählten Geschehens zu konstruieren und die von Sobol imaginierte digitale Demokratie als notwendig erscheinen zu lassen – was im Angesicht der von der Erzählung so zutreffend verhandelten Probleme präventiver Praxis auch gar nicht möglich wäre –, lässt der Text den Leserinnen Raum, um nach der eigenen politischen Position zu fragen. Kritisch hinterfragen ließe sich etwa der Umstand, dass die digitale Demokratie des Darknet ohne staatliche Institutionen und einen fixierten rechtlichen Code auskommt und dass stattdessen demokratische Kontrolle durch totale Transparenz zwischen den Usern des Darknet verwirklicht werden soll. Suarez gibt mit dem Ende seiner Erzählung, was diese Fragen angeht, ein Votum ab, das aber auch vor dem Hintergrund der erzählten Ereignisse und der Art, wie diese erzählt werden (als Ergebnis einer kontingenten Entwicklung mit offenem Ausgang), keineswegs zwangsläufig ist. 45 Zur Vorstellung eines postdramatisch realisierten Politikverständnisses vgl. Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 366-369. Den Zusammenhang zwischen politischem Handeln und einem dramatischen Handlungsmodell, wie es Szondi beschreibt, reflektiert außerdem Hannah Arendt in Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben [1967], München/Berlin: Piper 2015, S. 222-234. 46 Ulrich Bröckling spricht von einem »Fehlen positiver Zielvorstellungen«, das präventive Anstrengungen generell kennzeichne (U. Bröckling: »Dispositive«, S. 94f). 47 N. Luhmann: »Die Zukunft kann nicht beginnen«, S. 131-135.

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Suarez’ Romane erweisen sich so nicht nur als Präventionsfiktion, sondern mehr noch als eine zwischen Literatur und Politik schwankende Präventionsfantasie, eine Wunscherfüllung, ein Traum, der möglicherweise sogar gerade aus seiner Unwahrscheinlichkeit Kraft zieht: »You don’t know how much I dream for this to be the ending. There are so many ways for it to end«48, sagt Sobol in seiner letzten Videobotschaft und gibt damit zu erkennen, dass auch er, ungeachtet der prognostischen Kraft der von ihm eingesetzten Technologien und Utopien, die Zukunft niemals hat kennen können. Er hat, als er den Daemon konzipierte, nicht wissen können, ob sich sein Traum einer gerechteren Gesellschaft erfüllen würde – genauso wenig wie dies heute Daniel Suarez wissen kann. Beide – Suarez und sein Protogonist Sobol – gehen jedoch davon aus, dass sie diesen Traum mit anderen teilen: vor allem mit anderen Aktivistinnen der digitalen Bewegung, ob dies nun die Protagonisten des Romans sind oder seine Leser. Ihnen allen gibt Sobol den letzten Rat, sich nicht in negativen Zukunftsvorstellungen zu verfangen. Statt sich unablässig mehr und mehr zu sorgen, sollen wir lieber furchtlos sein; statt auf einen sicheren Endzustand lohnt es sich auf Glück und Veränderung zu hoffen: »If you’re really there […] [g]ood luck to you all. And don’t be afraid of change. It’s the only thing that can save us.«49

48 D. Suarez, Freedom™: S. 556. 49 Ebd.

Das denkbar Schlimmste Ökologische Sicherheit und die Frage der Demokratie B ENJAMIN B ÜHLER

Ökologische Probleme, die vom Schwund der Biodiversität über die restlose Ausbeutung natürlicher Ressourcen bis zur globalen Erwärmung reichen können, stellen für demokratische Ordnungen aufgrund ihrer globalen Natur, ihrer Komplexität sowie der Notwendigkeit einer schnellen und tiefgreifenden Umorganisation ganzer Industriezweige eine enorme Herausforderung dar. Für den Mediziner David Shearman und den Philosophen Joseph Wayne Smith ist die Demokratie dazu allerdings nicht in der Lage. So entwerfen sie in ihrem gemeinsam verfassten Buch The Climate Change Challenge and the Failure of Democracy (2007) detailreich Szenarien ökologischer Katastrophen wie Verschmutzungen durch Unfälle von Öltankern, Zerstörung der Biodiversität oder eine zunehmende Wasser- und Nahrungsknappheit, deren Gründe die beiden Autoren in der Überbevölkerung und der globalen Erwärmung ausmachen. Die zentrale These des Buches lautet, dass das demokratische System nicht in der Lage sei, gegen die sich abzeichnende ökologische Krise, die die gesamte menschliche Spezies bedrohe, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. 1 Dabei geht es ihnen nicht nur darum, dass die Demokratie diese globalen Probleme nicht lösen kann, vielmehr sehen sie den Grund der ökologischen Katastrophe in der Logik der liberalen Demokratie begründet. Denn diese politische Form verteidige die Freiheitsrechte von Individuen – in Fragen der Umwelt könne die persönliche Freiheit aber keine vorrangige Rolle mehr spielen, gehe es doch um die menschliche Spezies überhaupt. Shearman und Smith fordern daher die Einrichtung einer platonischen Form des autoritären Regimes, also eine Regierung, die von wissenschaftlichen Experten, einer sogenannten Öko-Elite, angeführt wird.

1

Vgl. Shearman, David/Smith, Joseph Wayne: The Climate Change Challenge and the Failure of Democracy. Westport, CT u.a.: Praeger 2007, S. 3.

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Dafür müssten sich auch die Universitäten ändern, ihr Ziel müsse fortan die Ausbildung einer Öko-Elite sein, die für die Zukunft der Erde kämpfe.2 Das Buch ist nur ein Beispiel aus einer langen Reihe von Abhandlungen sowie filmischen und literarischen Fiktionen, die angesichts globaler Umweltkrisen und drohender Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes die Leistungsfähigkeit der Demokratie in Frage stellen. In diesem Rahmen ist das Konzept ›ökologische Sicherheit‹ verortet, das im ersten Abschnitt dieses Beitrages erläutert wird. Der darauf folgende Abschnitt geht den demokratietheoretischen Grundlagen einer auf eine globale, die Lebensgrundlagen vernichtende Katastrophe ausgerichteten Politik nach, und der letzte Abschnitt stellt exemplarisch ausgewählte Zukunftsszenarien dar.

1. V ON DEN ›G RENZEN DES W ACHSTUMS ‹ ZUR › ÖKOLOGISCHEN S ICHERHEIT ‹ Fragt man nach dem Zusammenhang von Ökologie und Sicherheit, ist man unvermeidlich bei der drohenden Katastrophe, die die Lebensgrundlage von Menschen gefährden oder gar zerstören könnte. Bereits im Jahr 1948 erscheint Fairfield Osborns Buch Our Plundered Planet (1948), das sich dem, so Osborn, stillen, weltweit ausgetragenen und äußerst tödlichen Krieg widmet, nämlich dem Konflikt zwischen dem Menschen und der Natur. Lange vor dem Ausrufen der neuen Erdepoche ›Anthropozän‹ bestimmt Osborn den Menschen als geologische Kraft.3 Das zentrale Thema des Buches ist neben der Überbevölkerung der ›Boden‹: Bis auf wenige isolierte Regionen gebe es auf der Erde kein vom Menschen unbeeinflusstes Land. Fruchtbare Flächen seien durch Erosion, falsche landwirtschaftliche Methoden oder den Einsatz von Pestiziden zerstört worden. Im gleichen Jahr erscheint William Vogts Road to Survival, das die Folgen der Verknappung von Ressourcen wie Kohle und Wasser, die Zerstörung fruchtbaren Bodens durch Erosion oder übermäßige Nutzung thematisiert. Die Rückeroberung unserer »ökologischen Freiheit« werde uns dabei zu »strengen und harten Maßnahmen zwingen«, wobei Vogt vor allem eine Reorganisation unseres Denkens einfordert, nämlich die Anerkennung der Umweltabhängigkeit des Menschen. Viel Zeit bleibt hierfür nicht, denn wir haben nach Vogt die »Geschichte unserer Zukunft« für die nächsten Dekaden bereits geschrieben – durch

2

Vgl. Ebd., S. xvi.

3

Vgl. Osborn, Fairfield: Our Plundered Planet, Boston, MA: Little, Brown and Comp 1948, S. 35 und 69f.

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eine wachsende Weltbevölkerung, die sich auf der »schrumpfenden Oberfläche dieser Erdkugel zusammendrängt.«4 Dabei skizziert Vogt auch schon die Grundtendenz des berühmten Diagramms des Berichts Limits to Growth (1972), wenn er ausführt, die lange Zeit stabile Bevölkerungskurve habe längst schwindelerregende Höhen erreicht, während die ebenfalls lange Zeit stabile Kurve der »Mittel zum Fortbestehen« rapide abwärts schieße. Um 1970 wird das zukünftige Überleben der Menschheit endgültig zum Basisnarrativ im ökologischen Diskurs. So lautet der Titel einer 1966 erschienenen Monographie des Biologen und Umweltaktivisten Barry Commoner Science and Survival, das letzte Kapitel von Barbara Wards und René Dubos’ Only One Earth (1972) widmet sich »Strategies for Survival«, und 1972 veröffentlicht eine Gruppe von Naturwissenschaftlern aus dem Umfeld der Zeitschrift The Ecologist die Schrift A Blueprint for Survival, in dem sie einen Weg zur Ausbildung einer stabilen Gesellschaft aufzeigen möchten. Denn die Lage sei besorgniserregend, wovon auch der Philosoph Georg Picht angesichts der Studie Limits to Growth (1972) überzeugt ist: Das Überleben der Menschheit könne ohne eine »planetarische Verwaltung der lebenswichtigen Rohstoffe auf die Dauer nicht garantiert werden«5. Dabei wissen sowohl die Verfasser des Blueprint for Survival als auch Picht, dass ihre Forderungen angesichts der gegenwärtigen politischen Strukturen nicht oder nur sehr schwer umzusetzen wären. Dennoch arbeiten sie ihre Überlebensprogramme und Maßnahmenkataloge aus, denn ihre Schriften sind keine bloßen Utopien, sondern Interventionen in das politische Geschehen. ›Sicherheit‹ ist in diesen Texten immer schon implizit mitgedacht, zu einem Leitbegriff wurde der Ausdruck ›ökologische Sicherheit‹ aber erst seit den 1990er Jahren. Einer der ersten, der diesen Begriff prägt, ist der Umweltaktivist Norman Myers mit seinem Buch Ultimate Security. The Environmental Basis of Political Stability (1993). Seine Neuerung besteht darin, Umweltfaktoren in den Begriff von ›Sicherheit‹ zu integrieren, da jeder dieser Faktoren ökonomische Zusammenbrüche, soziale Spannungen oder politische Konflikte verursachen könne.6 Damit könne ›Sicherheit‹ nicht mehr auf militärische oder kriminelle Bedrohungen reduziert werden, vielmehr gelte es, natürliche Ressourcen wie Wasser und Wälder, Mineralien und Energieträger sowie die Folgen der globalen 4

Vogt, William: Die Erde rächt sich, übers. von Maria von Schweinitz. Nürnberg: Nest 1950, S. 347.

5

Picht, Georg: »Die Bedingungen des Überlebens. Die Grenzen der Meadows-Studie«, in: Heinrich von Nussbaum (Hg.), Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum Bericht des Club of Rome, Düsseldorf: Bertelsmann 1973, S. 45-58, hier S. 50.

6

Vgl. Myers, Norman: Ultimate Security. The Environmental Basis of Political Stability, New York/London: Norton & Company 1993, S. 20.

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Erwärmung in sicherheitspolitische Strategien einzubeziehen. Noch breiter fasst Dennis Pirages, Inhaber des Lehrstuhls für International Environmental Politics an der University of Maryland, den Begriff der Sicherheit, indem er einen historischen Bogen von dem Bericht Limits to Growth (1972) zur Ecological Security schlägt: »[T]hinking has moved beyond impending environmental limits to resource-intensive growth to more general concerns over future ecological security.«7 Nach Pirages ist das Konzept ›ökologische Sicherheit‹ der derzeit beste Weg, um die vielen Aspekte der schlimmen Lage, in der wir uns heute befinden, zu analysieren und reflektieren. Zu den Themenfeldern zählt er u.a. Gesundheit, demographische Entwicklung, Verfügbarkeit von Nahrung und Wasser, Energieversorgung, Waldzerstörung, Biodiversität, invasive Spezies oder globale Erwärmung. Die Zukunftsausrichtung ›ökologischer Sicherheit‹ lässt sich exemplarisch an einem der akutesten Felder, für das gewalttätige Konflikte in der nahen Zukunft vorhergesagt werden, verdeutlichen: der Verfügbarkeit von Trinkwasser. Der von der US-amerikanischen Regierung unter Barack Obama im Jahr 2012 angeforderte Bericht der Nachrichtendienstgemeinschaft (Intelligence Community) mit dem Titel Global Water Security geht folgender Frage nach: »How will water problems (shortages, poor water quality, or floods) impact US national security interests over the next 30 years?«8 Damit wird von offizieller Stelle der Zusammenhang der wohl fundamentalsten natürlichen Ressource, Trinkwasser, und der Sicherheit einer Nation hergestellt. Verschärft wird die Problematik durch den wachsenden Bedarf an Trinkwasser aufgrund der steigenden Weltbevölkerung und des wirtschaftlichen Wachstums, der schwindenden Vorräten gegenübersteht, wobei zum wachsenden Verbrauch Misswirtschaft (schlechte Planung und Verteilung, Abholzung und Erosion, schlechte Infrastruktur), mangelhafte Kenntnisse und fehlende Technologien, aufgrund der globalen Erwärmung zurückgehende Gletscher und Zerstörungen von Wasservorräten durch Vergiftung oder Überdüngung hinzukommen. Laut Bericht kommt es daher möglicherweise in nächster Zukunft in für die USA wichtigen Staaten zu sozialen Störungen, die zur Destabilisierung bis hin zum Zusammenbruch eines Staates sowie zu zwischenstaatlichen Konflikten führen können. Als Gründe werden hierfür gesehen: Wasserprobleme in Verbindung mit Armut, soziale Spannungen, schlechter werdende Umweltbedingungen und ineffektive sowie schwache politische Institutionen. 7

Pirages, Dennis: »From Limits to Growth to Ecological Security«, in: ders./Ken Cousins (Hg.), From Resource Scarcity to Ecological Security. Exploring New Limits to Growth, Cambridge, MA u.a.: MIT Press 2005, S. 1-19, hier S. 3.

8

Intelligence Community Assessment: Global Water Security vom 2. Februar 2012.

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Weitere in dem Bericht aufgestellte Prognosen beziehen sich auf die Verwendung von Wasser als Waffe in Kriegen, terroristische Angriffe, Gesundheitsrisiken, Auswirkungen auf die Nahrungs- und Energieversorgung und eine Verschlechterung existierender Probleme wie Armut sowie die Verschärfung sozialer Spannungen aufgrund von Wassermangel. Allerdings gibt es gemäß den Verfassern gegensteuernde Maßnahmen. Vielversprechend sei die Entwicklung neuer Technologien, wobei das Spektrum vom Anbau salzresistenter Pflanzen über nanotechnologische Verfahren zur Filterung bis zur Reduktion des Wasserverbrauchs durch Tropfbewässerungssysteme reicht. Unvermeidlich scheint der Handel mit Wasser, zumal es als ›virtuelles Wasser‹ bereits gegenwärtig im Wert von Handelswaren, etwa Nahrungsmitteln, erhalten sei. Allerdings warnen die Verfasser vor einer Privatisierung der Wasserversorgung, denn aufgrund von Prozessen auf den Märkten könnten die Preise derart steigen, dass sich Landwirte sowie arme Privathaushalte kein Wasser mehr leisten könnten, was wiederum zur sozialen und politischen Destabilisierung führen könne. Die empirische und futurologische Expertise führt klare Handlungsanweisungen auf politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene mit sich: Laut Bericht sollten die USA Wasser zu einer globalen Priorität machen und Entwicklungsprojekte auf diesem Feld sowie internationale Abkommen zur Wassernutzung fördern. Sie sollten aber auch betroffenen Staaten notwendige, etwa über Satelliten gewonnene Daten sowie hydrologische Modelle zur Verfügung stellen, die unentbehrliche Voraussetzungen für eine tragfähige Politik und ein vernünftiges Wasser-Management seien. Außerdem könnten die USA angesichts einer zunehmenden Wasserknappheit in verschiedenen Teilen der Welt wirtschaftlich von einem zunehmenden Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten profitieren.9 Dem Bericht geht es demnach weniger um die Rettung der Menschheit als um die Sicherung des Einflusses der USA: »Active engagement by the United States to resolve water challenges will improve US influence and may forestall other actors achieving the same influence at US expense.«10 Der Bericht generiert somit Zukunftswissen über die natürliche Ressource ›Wasser‹, um es politisch zu implementieren: Letztlich geht es um die Aufrechterhaltung der technologischen, wirtschaftlichen und politischen Hegemonie der USA.

9

Vgl. Ebd., S. vi.

10 Ebd., S. 11.

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2. Ö KOLOGISCHE S ICHERHEIT

UND

D EMOKRATIE

Den Zusammenhang zwischen ökologischen Gefährdungen und Sicherheit hat der französische Philosoph François Ewald in seinem Entwurf zu einer Philosophie der Vorbeugung aufgezeigt. Dabei unterscheidet er systematisch und historisch zwischen den Begriffen ›Prävention‹ (prévention) und ›Vorbeugung‹ (précaution).11 Das um 1900 entstehende Konzept der ›Prävention‹ setzt nach Ewald Wissenschaft und technische Beherrschung voraus. Es zehre von der Vorstellung, dass sich Risiken objektiv berechnen ließen, womit Prävention im Wesentlichen auf das Modell des Unfalls bezogen sei: Unfälle sind für Ewald in diesem Paradigma erstens unvermeidlich, zweitens statistisch kalkulierbar, womit sich drittens auch die entstehenden Kosten berechnen und über die Institution der Versicherung abwickeln lassen. Dagegen habe man nach 1945 die Katastrophe wiederentdeckt, und zwar vom Menschen verursachte und die Lebensgrundlage der Menschheit zerstörende Katastrophen wie Nuklearkriege, Unfälle von Atomkraftwerken oder den Klimawandel. Das Paradigma der ›Vorbeugung‹ sei auf solche Ereignisse bezogen, die unvorhersehbar, unberechenbar und deren Folgen weitreichend seien. Vorbeugung zeichne sich im Gegensatz zur Prävention durch wissenschaftliche Ungewissheit und die Eventualität schwerer, unbezahlbarer, nicht versicherbarer und irreversibler Schäden aus. Daher müsse man sich im Paradigma der Vorbeugung stets das vorstellen, was innerhalb des wissenschaftlichen Paradigmas als »randständig, abwegig, dissidentisch« 12 gelte: Abwegige, extrem unwahrscheinliche Ereignisse würden zu Ausgangspunkten vorbeugenden Handelns, womit sich ein Raum der »wildesten Spekulationen und verrücktesten Phantasien«13 öffne. Damit geraten gegenwärtige Gesellschaften aber in einen unvermeidlichen Widerspruch: Die politischen Entscheider müssen mit dem »denkbar Schlimmsten«14 und Unvorhersehbaren rechnen, jedoch im vorhandenen wissenschaftli-

11 Ich rekurriere hier auf die deutsche Fassung: Ewald, François: »Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der Vorbeugung«, in: Soziale Welt 49 (1998), S. 5-24. Vgl. dazu auch ders.: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 und ders.: »Philosophie Politique du Principe de Précaution«, in: ders./Christian Gollier/Nicolas de Sadeleer: Le Principe de Précaution, Paris: Presses universitaires de France 2001, S. 6-72. 12 F. Ewald: Die Rückkehr des genius malignus, S. 15. 13 Ebd., S. 17. 14 Ebd., S. 15.

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chen und technischen Rahmen zu ökonomisch vertretbaren Kosten operieren. 15 Ewalds Überlegungen zum Begriff der Vorbeugung zeigen ein Dilemma ökologischer Sicherheits-Politik auf: Auf der einen Seite müssen für reale Bedrohungen wie die Folgen einer Überbevölkerung oder der globalen Erwärmung schnell globale Lösungen gefunden werden. Auf der anderen Seite gilt es, diese Maßnahmen nicht auf Kosten demokratischer Institutionen durchzuführen. Der Ausdruck ›ökologische Sicherheit‹ ist somit eingebettet in das Narrativ des ›zukünftigen Überlebens der Menschheit‹. Spätestens seit 1945 ist die tatsächliche vollständige Auslöschung der Menschheit denkbar – und sie wird auch durchdacht, zunächst mit Blick auf die atomare Bedrohung, von Strategen wie Herman Kahn, Philosophen wie Günter Anders oder Regisseuren wie Stanley Kubrick.16 Den damit einhergehenden Zukunftsfiktionen geht es nicht nur um die Imagination einer zukünftigen Gegenwart, sondern vor allem um die gegenwärtige Zukunft, das heißt, über den Zukunftsbezug wird eine Repräsentation der gegenwärtigen Gesellschaft entworfen. Diese Zukunftsszenarien sind doppelt auf die Gegenwart bezogen: Erstens kann die Zukunft nur unter Rekurs auf gegenwärtiges Wissen formuliert werden, und zweitens geht es den Zukunftsszenarien gerade um die Intervention in gegenwärtige Konfliktlagen und Diskussionen, womit das Verfahren, das »Undenkbare zu denken«,17 zur Grundlage einer Politik der ökologischen Sicherheit wird. Eine auf diesem Narrativ gründende Politik kann nur noch, sofern sie nicht die Möglichkeit des ›denkbar Schlimmsten‹ in Kauf nehmen will, im Rahmen ›ökologischer Notwendigkeiten‹ agieren. Denn schließlich zerstört die Ausbeutung der Ressourcen, die Umweltverschmutzung oder die globale Erwärmung die Lebensgrundlagen der Menschheit – und wer diesen Prozess aufhalten oder sich für den kommenden Katastrophenfall rüsten möchte, scheint keine Wahlmöglichkeiten mehr zu haben. Einschlägige Szenarien sind in der Populärkultur Legion. Seit den 1970er Jahren ist die ›ökologische Katastrophe‹ in unterschiedlichen Ausformungen – Atomkrieg, Bevölkerungsexplosion, Ausbreitung von Krankheiten, Überschwemmungen, globale Abkühlung oder Erwärmung – Gegenstand zahlloser Blockbuster, literarischer Texte, Comics oder Computerspiele. Themen wie der Klimawandel und die Umweltverschmutzung sind somit ge15 Vgl. Ebd., S. 15. 16 Vgl. Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen (= 2 Bd.), München: Beck 1956/1980; Kahn, Herman: On Thermonuclear War, Princeton, NJ: Princeton Univ. Press, 1961; DR. STRANGELOVE OR: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB,

(GB 1964, R: Stanley Kubrick).

17 Vgl. dazu Kahn, Herman: Thinking the Unthinkable, London: Weidenfeld and Nicolson 1962.

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sellschaftlich omnipräsent. Der französische Philosoph Alain Badiou spricht unter Rekurs auf diese Szenarien von einer »Ökologie der Angst«, die zum neuen Opium für die Massen geworden sei.18 Diese Formel hat unter anderem Slavoj Žižek aufgegriffen und weitergedacht. Nach Žižek könne die ›Ökologie der Angst‹ zur bestimmenden Ideologie des Kapitalismus werden und damit die absterbenden Religionen ersetzen: Die Ökologie fungiere als »unhinterfragbare Autorität«, die in der Lage sei, Grenzen zu setzen, indem sie uns unsere Endlichkeit aufzeige, da wir in eine Biosphäre eingebettet seien, die unseren Horizont bei weitem überschreite.19 Mit der ›Ökologie‹ als hegemonialer Ideologie sei daher gar kein radikaler Wandel mehr wünschbar, könnte doch jeder Wandel zur Katastrophe führen. Das ›zukünftige Überleben‹ bildet den Kern eines Narrativs, das einen Rahmen bereitstellt, in dem Katastrophen, Technik und Wissenschaft oder politische Neuorganisationen durchdacht und durchdekliniert werden. Das ›zukünftige Überleben‹ lässt sich vor diesem Hintergrund als ›leerer Signifikant‹ im Sinne Ernesto Laclaus begreifen. Laclau versteht darunter die Herstellung einer einheitlichen politischen Bewegung durch Bezug auf etwas Gemeinsames: Obgleich die einzelnen Teile unterschiedliche Zielsetzungen aufweisen, haben alle einen gemeinsamen Gegner oder Bezugspunkt, der sie eint. 20 Im Fall der ökologischen Sicherheit ist dieser Bezugspunkt das ›zukünftige Überleben‹ der Menschheit, das unterschiedliche Ausrichtungen bündelt und zusammenfasst, damit aber auch die Differenzen zwischen partikularen Bewegungen aufhebt. 18 »Let’s start by saying that after ›the rights of man‹, the rise of ›the rights of Nature‹ is a contemporary form of the opium of the people. It is an only slightly camouflaged religion.« Badiou, Alain: »Live Badiou. Interview with Alain Badiou, Paris, December 2007«, in: ders./Oliver Feltham: Live Theory, London/New York: Continuum 2008, S. 136-139, hier S. 139. Den Begriff »Ökologie der Angst« prägte zuerst Mike Davis mit seinem Buch Ecology of Fear. Los Angeles and the Imagination of Disaster, New York: Metropolitan Books 1998. Davis geht es aber nicht um eine Kritik an Katastrophenimaginationen, vielmehr prognostiziert er selbst eine kommende Katastrophe für die Stadt Los Angeles. 19 Vgl. Žižek, Slavoj: »Das Ökologische – Neues Opium für das Volk«, in: Grazer Architektur Magazin. Schwerpunkt: Zero Landscape. Unfolding Active Agencies of Landscape 7 (2001), S. 33-51, hier: S. 42. 20 Vgl. dazu ausführlich: Laclau, Ernesto: »Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?«, in: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog 2 (1994), S. 157165; ders./Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, übers. von Michael Hintz und Gerd Vorwallner, Wien: Passagen 2000.

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Ausgelöscht wird auf diese Weise ein Element, das nach Chantal Mouffe die Grundlage der Demokratie bildet. Nach Mouffe besteht nämlich die Hauptaufgabe der Demokratie in der Umwandlung des Antagonismus – im Sinne von Carl Schmitts Theorem der Freund-Feind-Beziehung – in einen Agonismus. Zwar stehen sich auch dort unvereinbare hegemoniale Projekte gegenüber, die niemals rational versöhnt werden können, aber die reale Konfrontation wird »durch eine Reihe demokratischer von jeweiligen Gegnern akzeptierten Verfahrensweisen reguliert«.21 Eine auf der Grundlage einer absoluten Notwendigkeit agierende konsensorientierte Politik kann einen solchen Agonismus jedoch nicht zulassen, geht es doch stets um die Existenz der menschlichen Spezies überhaupt. Die auf eine zukünftige globale Katastrophe ausgerichtete Politik kennt nur den Antagonismus der Freund-Feind-Unterscheidung, wobei in dieser Logik die Feinde diejenigen sind, die diese universale Katastrophe leugnen oder ignorieren. Lässt sich mit Mouffe die Entdifferenzierung einer ökologischen Politik der Vorbeugung verdeutlichen, erlauben die demokratietheoretischen Überlegungen des französischen Philosophen Claude Lefort eine genauere Analyse der Funktion des ›zukünftigen Überlebens‹ in der symbolischen Ordnung des Politischen. Für Lefort liegt der Anfang der Demokratie in der amerikanischen und französischen Revolution. Ihm geht es aber nicht alleine um die realen Ereignisse, vielmehr bestehe der Anfang der modernen Demokratie in einer »Mutation« der symbolischen Ordnung.22 Gemeint ist damit die Beseitigung eines politischen Modells, nämlich der Repräsentation der Macht im Körper des Königs, die in der Enthauptung Ludwig XVI. zum Ausdruck kommt. Als Konsequenz wird, wie Lefort schreibt, der »Ort der Macht […] zu einer Leerstelle«, die immer nur temporär besetzt wird.23 Wahlen sind somit Reinszenierungen der Kontingenz von politischer Macht. Aus der neuen symbolischen Ordnung der Demokratie resultiere eine gesellschaftliche Spaltung, nämlich die Trennung von Gesellschaft und Staat, sowie die Entflechtung von Politik, Recht, Wissenschaft, Kultur usw., allesamt Sphären, die ihren eigenen spezifischen Regeln und Codes folgen. Wie Lefort weiter ausführt, zerfällt die demokratische Gesellschaft dennoch nicht in ihre Bestandteile und besitzt durchaus eine gesellschaftliche Identität: 21 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, übers. von Niels Neumeier. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 31. 22 Lefort, Claude: »The Image of the Body and Totalitarianism«, in: ders., The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, Cambridge u.a.: Polity Press 1986, S. 292-306, hier S. 303. 23 Lefort, Claude: »Die Frage der Demokratie«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 281-297, hier S. 293.

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Diese ergibt sich nach Lefort dadurch, dass sich die Gesellschaft auf den symbolisch leeren Ort der Macht bezieht, von dem aus sie sich als Gesellschaft konstituiert, zugleich aber offen für Veränderungen bleibt. Von diesem Modell ausgehend entwickelt Lefort seine Theorie des Totalitarismus: Diesen versteht er nicht als Rückfall in die Barbarei oder in alte Formen der Macht, sondern seinerseits als Mutation der symbolischen Ordnung der Demokratie: Der Totalitarismus besetzt demnach den ›leeren Ort der Macht‹, hebt die gesellschaftliche Spaltung auf und stellt eine Homogenität her, in der Recht, Wissenschaft, Wirtschaft oder Kultur nur noch der Logik der Macht gehorchen dürfen. In einer solchen totalitären Ideologie muss alles organisiert und bestimmt sein, Zukunftsoffenheit kann und darf es in diesem System nicht geben, denn: »The unknown, the unpredictable, the indeterminable are avatars of the enemy«. 24 Folgt man Leforts sowie Laclaus und Mouffes Überlegungen, dann zeigt sich, worin die Problematik der demokratischen Frage ökologischer Sicherheit besteht: Der ›leere Ort der Macht‹ muss angesichts der Brisanz der zahlreichen ökologischen Probleme und der Dringlichkeit, in kürzester Zeit zu reagieren und dabei stets die globale Dimension im Blick zu haben, besetzt werden, und zwar durch den leeren Signifikanten ›zukünftiges Überleben‹. Sowohl im Fall der Überbevölkerung als auch der globalen Erwärmung geht es um nichts weniger als das Fortbestehen der menschlichen Spezies, was zum Regulativ politischen Handelns wird. Dabei gibt es zwischen dem gegenwärtigen Zustand politischer Ordnungen und den Zukunftsfiktionen zusammengebrochener oder totalitärer Gesellschaften ein breites Spektrum. So spricht der Sozialwissenschaftler Ingolfur Blühdorn angesichts der ökologischen Herausforderungen ausdrücklich nicht von einem »Ende«, sehr wohl aber von einem modernisierungsbedingten »Formwandel« der Demokratie.25 Eine erste Reihe von Problemen in der »postdemokratischen Wende«26 ergeben sich nach Blühdorn aus systemischen Gründen: Demokratien sind auf menschliche Akteure fixiert, was automatisch mit einer Ausgrenzung von Pflanzen, Tieren oder auch Landschaften einhergeht. Sie sind auf Mehrheitsentscheidungen ausgerichtet – die Mehrheit entscheidet aber nicht unbedingt ökologisch sinnvoll. Demokratien leben von ihrer Kompromissbereitschaft 24 Lefort, Claude: »The Logic of Totalitarianism«, in: ders., The Political Forms of Modern Society, S. 273-291, hier S. 288. 25 Vgl. Blühdorn, Ingolfur: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 40. Blühdorn grenzt sich damit u.a. von Colin Crouch ab, der mit seinem polemisch verfassten Buch Postdemokratie (2003) den Begriff in die öffentlichen Diskussionen einbrachte. Vgl. ebd., S. 119-125. 26 I. Blühdorn: Simulative Demokratie, S. 40.

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und zeichnen sich durch langsame und ressourcenaufwendige Verfahren aus. Schließlich sind Demokratien emanzipatorisch ausgerichtet, was sie für Beschränkungen ungeeignet macht.27 Andere Problembereiche sind nach Blühdorn modernisierungsbedingt, so seien etwa demokratische Gesellschaften durch die Globalisierung und gesellschaftlichen Differenzierungen überfordert, weshalb das politisch Verhandelbare immer enger definiert werde: Zahlreiche Felder würden aus Effizienzgründen Expertenkommissionen, Gerichten oder Regulierungsbehörden überlassen, was zur Entpolitisierung politischer Bereiche führe. 28 Dennoch diagnostiziert Blühdorn kein ›Ende‹, sondern einen ›Formwandel‹ der Demokratie, worunter er die Gleichzeitigkeit von Erosion und Radikalisierung demokratischer Wertvorstellungen versteht. 29 Im Zuge der Modernisierung finde eine Neukonfiguration des Subjekts statt: Die Norm des autonomen und mit sich selbst identischen Subjekts, das Fundament der traditionell verstandenen Demokratie, werde im Modernisierungsprozess aufgelöst, zugleich würden die Freiheits-, Selbstbestimmungs-, Selbstverwirklichungs- und Zentralitätsansprüche der Individuen immer maßloser aufgebläht.30 Diese Aushöhlung der Prämissen der Demokratie werde durch die ›simulative Demokratie‹ verdeckt. Das sind nach Blühdorn Mechanismen zur Bewältigung der Spannung zwischen der Zersetzung der Demokratie und Forderung nach mehr Demokratie. Damit kommen verschiedene medialisierte Repräsentationsformen ins Spiel, nämlich die Produktion und Reproduktion von Diskursen, Narrativen und gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, in denen jenseits der postdemokratischen Wende Normen, Wertorientierungen und Zukunftsperspektiven inszeniert und kultiviert werden, die für das demokratische Projekt der zweiten Moderne konstitutiv waren, denen in der dritten Moderne aber nicht minder gewichtige inkompatible Wertorientierungen gegenüberstehen. 31

In dieser Reihe lässt sich auch das Narrativ einer in der nahen Zukunft drohenden ökologischen Katastrophe verorten, die die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit zerstört. Dabei sind es vor allem die Populärwissenschaft und Populärkultur, die das ›denkbar Schlimmste‹ in den buntesten Farben und ausgeklü-

27 Vgl. Blühdorn, Ingolfur, »Nachhaltigkeit und postdemokratische Wende: Zum Wechselspiel von Demokratiekrise und Umweltkrise«, in: Vorgänge 190 (2010), S. 44-54, hier S. 47. 28 Vgl. I. Blühdorn: Simulative Demokratie, S. 90. 29 Vgl. Ebd., S. 44. 30 Vgl. Ebd., S. 162. 31 Ebd., S. 178.

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gelten Animationen zur Darstellung bringen, wie im Folgenden anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden soll.

3. D IE S ICHERHEIT

DER M ENSCHHEIT IN GEGENWÄRTIGEN Z UKUNFTSFIKTIONEN

Äußerst erfolgreich war das 1975 erschienene Buch Ein Planet wird geplündert von Herbert Gruhl, ehemals Mitglied der CDU, später Gründer der Partei ÖDP. Nach Gruhl sind die Zukunftsaussichten des Menschen bislang falsch eingeschätzt worden. Die Einleitung hebt mit dem Satz an: »Die Bewohner dieser unserer Erde werden in den nächsten Jahrzehnten gewaltige Veränderungen erleben – nur nicht die, welche in den letzten Jahrzehnten überall vorausgesagt worden sind.«32 Gruhl wendet sich gegen die Vertreter der Doktrin vom Wirtschaftswachstum, die seiner Ansicht nach die »totalitärste Ideologie« sei, die die Menschheit bislang hervorgebracht habe. Gegen die Prognose eines wachsenden Wohlstandes setzt Gruhl die apokalyptische Katastrophe: Der Verbrauch der Rohstoffe, die Zunahme der Weltbevölkerung und die fortschreitende Umweltverschmutzung führten zur Zerstörung der Lebensgrundlagen, und bald bestehe kein »Steuerungsspielraum« mehr. Für Gruhls Ausführungen entscheidend ist das Problem der Zeit. Zum einen handle es sich um einen vergessenen Faktor, weil in kürzester Zeit Rohstoffe verbraucht würden, deren Entstehung Millionen von Jahren gedauert habe. Dieser Verbrauch sei ein »Import aus der Zukunft«, da diese Rohstoffe den zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung stünden. Angesichts des rasant steigenden Verbrauchs der Rohstoffe, der exponentiell steigenden Bevölkerung und des auf Kosten der Zukunft erfolgenden wirtschaftlichen Wachstums bestehe ein Handlungsdruck, dem die Demokratie mit ihren langwierigen Entscheidungsprozessen und verteilten Machtinstanzen nicht gewachsen sei. Es bedürfe einer Instanz, welche die Interessen kommender Generationen vertrete: »Die vorausschauende Vernunft müßte eine solche Mächtigkeit entwickeln, daß sie sich in wirksame Handlungen umsetzen ließe.«33 Diese angeblich notwendige autoritäre Instanz soll Gruhl zufolge das Überleben gewährleisten. Dabei bedürfe es einer Politik, die nicht auf die Freiheitsrechte jedes Einzelnen zielt, sondern auf den gesamten Planeten, nicht auf das Überleben des Einzelnen, sondern auf das

32 Gruhl, Herbert: Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik. Frankfurt a.M.: Fischer Alternativ, 4. Aufl. 1975, S. 11. 33 Ebd., S. 234f.

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»ganzer Völker«. Aus der Verantwortung für die zukünftigen Generationen leitet Gruhl eine Politik des Überlebens ab, welche die Grenzen zwischen Mensch und Rohstoff aufhebt. Der Mensch ist nichts anderes als ein Faktor in der Ökosphäre: Jetzt muß die Zukunft geplant werden. Und es ist weit und breit niemand sichtbar, der das tun könnte, außer dem Staat. Wenn er es aber tut, dann muß er tatsächlich jetzt viele Freiheiten entschlossen aufheben, um das Chaos zu verhüten. Infolgedessen werden weitere Freiheiten nicht deshalb verlorengehen, weil alle immer besser leben wollen, sondern weil sie überleben wollen.34

Fluchtpunkt von Gruhls Ausführungen und Ergebnis seiner apokalyptischen Prognostik ist konsequenterweise die Einrichtung einer »Weltregierung mit diktatorischen Vollmachten«, da nur eine solche die Güter unter allen Menschen gleichmäßig verteilen und ihre Anweisungen überall durchsetzen könnte – was die Voraussetzungen eines Weltfriedens seien.35 Auch Hans Jonas’ philosophisch-ethisches Werk Das Prinzip Verantwortung (1979), das nach seinem Erscheinen im Bundestag debattiert wurde, betont das Primat des zukünftigen Überlebens. Für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind dabei vor allem seine Überlegungen zum ethischen Umgang mit Prognosen. Ausgangspunkt für Jonas ist die »Kluft« zwischen der »Kraft des Vorherwissens« und der »Macht des Tuns«, denn die Anerkennung der Unwissenheit erzeuge ein neues ethisches Problem: »Keine frühere Ethik hatte die globale Bedingung menschlichen Lebens und die ferne Zukunft, ja Existenz der Gattung zu berücksichtigen.«36 Jonas begründet seine Verantwortungsethik mit dem zukünftigen Überleben der Menschheit, die Anwesenheit des Menschen in der Welt sei nichts Gegebenes mehr, sondern zu einer Verpflichtung geworden, das heißt zur »ersten Prämisse aller Verpflichtung«.37 Ein neuer Imperativ müsse daher folgendermaßen lauten: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.«38 Während sich für Lefort Demokratie dadurch auszeichnet, dass es in ihr nicht nur keine Letztbegründung geben kann, sondern jedwede Begründung demokratischer Gesellschaft kontingent und temporär ist, macht Jonas das zukünftige 34 Ebd., S. 290. 35 Vgl. Ebd., S. 301. 36 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 28. 37 Ebd., S. 34. 38 Ebd., S. 36.

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Überleben der Menschheit zur unhintergehbaren und absoluten Grundlage von Ethik und letztlich auch Politik. Was die politische Anwendung seiner Zukunftsethik betrifft, ist Jonas recht klar: In der kommenden Härte einer Politik verantwortlicher Entsagung sei die Demokratie zumindest zeitweise untauglich, denn bei ihr führten notwendigerweise die Gegenwartsinteressen das Wort. Nur eine Elite kann nach Jonas die Zukunftsverantwortung übernehmen, wofür sie aber auch mit Macht ausgestattet werden müsse, diese auszuüben. Im Gegensatz zu Gruhl jedoch, der die Zukunft apokalyptisch ausmalt, leitet Jonas seine politisch-ethischen Überlegungen aus der Ungewissheit der Zukunft ab. Für seinen Entwurf einer Zukunftsethik kommt einer »vergleichende[n] Futurologie«, wie er schreibt, eine zentrale Rolle zu, nämlich die eines Bindeglieds zwischen ethischer Prinzipienlehre und politischer Anwendung praktischen Wissens.39 Während jedoch eine »Nahprognose« nach Jonas über das Verfahren wissenschaftlicher Extrapolation ausreichend begründet werden kann, gilt das für die »Fernprognose« nicht. Als Gründe nennt er die Komplexität gesellschaftlicher und biosphärischer Wirkungsganzheit oder die »Nicht-Vorerfindbarkeit« künftiger Erfindungen.40 Die ethische Prinzipienlehre kann daher nicht auf wissenschaftlichen Prognosen aufbauen, sie muss es aber auch nicht, denn ihre Mittel sind ›Denkexperimente‹, die von hypothetischen Prämissen ausgehen und sich konjekturaler Verfahren bedienen.41 Aus dieser Denkform leitet Jonas wiederum einen ethischen Grundsatz ab, gemäß dem der Unheilsprognose größeres Gewicht zu geben sei als der Heilsprognose:42 eine »Heuristik der Furcht«.43 Es ist nur folgerichtig, dass Jonas als Beispiel für Denkexperimente Aldous Huxleys Roman Brave New World anführt, schließlich fallen Zukunftsfiktionen auch in das Betätigungsfeld der Literatur und des Films: Zum einen liefert die Populärkultur einen Beitrag zur Bildung einer ›Ökologie der Angst‹. Wie der Literaturwissenschaftler Timothy Morton schreibt, kann man in solchen Fiktionen Erfahrungen von Umweltkatastrophen apokalyptischen Ausmaßes oder von schleichend langsamen Vergiftungen durch Pestizide machen – und dabei in seinem Sessel sitzen bleiben.44 Morton erkennt eine in der Populärkultur perfektionierte ›interaktive Passivität‹, die das Kennzeichen der heutigen ökologischen Subjektivität sei, die Weltuntergangsszenarien genießt, ohne auf die Idee zu 39 Vgl. Ebd., S. 63. 40 Vgl. Ebd., S. 66. 41 Vgl. Ebd., S. 67. 42 Vgl. Ebd., S. 70 und 76. 43 Ebd., S. 65. 44 Vgl. Morton, Timothy: Ecology without Nature. Rethinking Environmental Aesthetics, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 2007, S. 127.

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kommen, eigene Gewohnheiten zu ändern. Das ökologische Subjekt sei fixiert in einer zwar kritischen, aber passiven Haltung – in der Position romantischen Konsumierens.45 Erzählungen können Zukunftsszenarien aber auch in die gesellschaftliche Diskussion einspeisen. Arno Schmidts Schwarze Spiegel (1951) oder Marlen Haushofers Die Wand (1963) führen vor, wie ein ›letzter Mann‹ bzw. eine ›letzte Frau‹ nach einer nuklearen Katastrophe ihr Überleben zu sichern versuchen. Dagegen steht in Cormack McCarthys Roman The Road (2006) die ethische Problematik eines Lebens in einer zerstörten Welt im Vordergrund. Vater und Sohn ziehen durch eine Welt, in der die Sonne nicht mehr scheint und alles verbrannt ist, so dass es keinerlei Nahrungsmittel mehr gibt, weshalb Menschen zu Kannibalen werden. In Dialogen zwischen Vater und Sohn spielt der Roman durch, wie und ob man sich in einer solchen Welt überhaupt moralisch ›gut‹ verhalten kann. Auch Filme und Texte, die postapokalyptische Gesellschaften oder doch zumindest nach einer vorangegangenen Katastrophe wiederentstehende soziale Formen behandeln, knüpfen an ökologische Diskussionen an und spitzen ihre Probleme zu. In Richard Fleischers Science-Fiction-Film SOYLENT GREEN (1973), ist aufgrund der Bevölkerungszunahme und der weitreichenden Umweltverschmutzung im Jahr 2022 die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen, allein in New York leben vierzig Millionen Menschen. Stabilisiert wird diese Gesellschaft durch regelmäßige Austeilungen von Lebensmitteln, u.a. das titelgebende ›Solyent Green‹, das angeblich Algen enthält, in Wirklichkeit aber aus menschliche Leichen hergestellt wird. Bevölkerungsexplosion, Umweltverschmutzung und Nahrungsmittelknappheit erzeugen somit einen industrialisierten Kannibalismus.46 Auch Michael Campus’ Film ZPG aus dem Jahr 1972 beschäftigt sich mit den Folgen des Bevölkerungswachstums.47 Der Titel verweist auf die Organisation ZERO POPULATION GROWTH, die 1968 u.a. von Paul R. Ehrlich, Verfasser des Bestsellers The Population Bomb (1968), gegründet wurde und noch heute unter dem Namen Population Connection existiert.48 Im Gegensatz zu dem Film Soylent Green, in dem angesichts der Menschenmassen das Chaos herrscht und es immer wieder zu Hungeraufständen kommt, findet sich in ZPG eine totalitär organisierte Überwachungsgesellschaft. Aufgrund der Überbevölkerung, der Ver45 Vgl. Ebd., S. 135: »interactive passivity«. 46 Vgl. SOYLENT GREEN (USA 1973, R: Richard Fleischer). 47 ZPG (USA 1972, R: Michael Campus). 48 Vgl. dazu die Homepage http://www.populationconnection.org (letzter Zugriff 25.01.2017).

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seuchung der Meere und der nicht ausreichend verfügbaren Flächen für die Landwirtschaft kann die Ernährung der Menschen nicht gewährleistet werden, weshalb ein Gesetz erlassen wird, nach dem in den nächsten 30 Jahren keine Geburten mehr stattfinden dürfen. Filme wie SOYLENT GREEN oder ZERO POPULATION GROWTH sind exemplarisch für die Konjunktur der Katastrophenfilme in den 1970er Jahre. Allerdings wiederholen sie nicht schlichtweg die Prognosen engagierter Umweltschützer, vielmehr analysieren sie die ethischen und sozialen Problematiken sowohl einer Überbevölkerung als auch der Präventionspraktiken gegen das Eintreten einer solchen Situation. Während die beiden Filme relativ einfache Erzählungen darstellen, entwirft Alban Nicolai Herbsts Trilogie Anderswelt ein komplexes Erzählarrangement aus unterschiedlichen, ineinander verflochtenen Handlungssträngen, einer Fülle von Figuren, Ortswechseln und Zeitsprüngen, unzähligen intertextuellen Bezügen sowie Verknüpfungen religiöser, mythologischer, technischer und naturwissenschaftlicher Metaphern und Erzählmuster. 49 Ausgangspunkt ist eine geologische und klimatische Katastrophe, in deren Folge eine östliche Region entsteht, in der die Menschen sich selbst überlassen bleiben und schutzlos den Strahlungen ausgeliefert sind, und eine westliche Region, über die man eine »Kuppel aus Hodna« spannte, ein »energetisches Kraftfeld«.50 Herbst schafft zu Beginn seiner Trilogie nicht nur das Koordinatensystem der folgenden Ereignisse und Handlungen, sondern legt darüber hinaus dar, wie durch die von Menschen mitverursachte Änderung der Erde eine völlig neue geopolitische Situation entsteht. Auch wenn hier nicht ausdrücklich der anthropogene Klimawandel genannt wird, führt der Roman doch die soziale und politische Problematik der globalen Erwärmung vor. Als Resultat dieser Prozesse macht sich Europa zu einer Festung, man errichtet eine »Europäische Mauer«, und schottet sich gegen äußere Bedrohungen durch militärisch hochgerüstete Anlagen ab. Die Kosten des europäischen Wohlstandes externalisiert man in den Osten: »Alles das im Westen, vielerlei Luxus im Zentrum, nichts außer seinem Abfall im Osten.« 51 Der Angriff der Bewohner des Ostens und die Abwehrstrategien des Westens markieren denn auch ein zentrales Thema der Romane.

49 Die Trilogie umfasst folgende Bände: Herbst, Alban Nicolai: Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998; ders.: Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin: Berlin Verlag 2001; ders.: Argo. Anderswelt. Epischer Roman, Berlin: Elfenbein 2013. 50 A.N. Herbst: Thetis, S. 43. 51 Ebd., S. 44.

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Diese filmischen und literarischen Fiktionen folgen dem Narrativ eines ›zukünftigen Überlebens‹, allerdings wird in ihnen nicht, wie Gruhl, Jonas, Shearman und Smith das tun, eine politische Umorientierung gefordert. Sie führen vielmehr die möglichen Folgen des ›denkbar Schlimmsten‹ vor – zum einen den völligen Zusammenbruch der Gesellschaft, zum anderen die Entstehung totalitärer Strukturen und die Vorherrschaft von Gewalt, Abschottung, Überwachung und Kontrolle. Ökologische Sicherheit lässt sich vor diesem Hintergrund nicht nur als bloße Abwehr möglicher Katastrophen verstehen, vielmehr steht immer auch die Demokratie als politische Form fundamental in Frage.

»Leben in den Ruinen dessen, was wir Fortschritt nannten«? 1 Isabelle Stengers’ Denken als Parteinahme für das Mögliche wider das Wahrscheinliche K ATRIN S OLHDJU

1. S CHIFFBRUCH

OHNE

Z USCHAUER 2 In any case, the time of guarantees is over – that is the first meaning to confer on the intrusion of Gaia. This does not signify that anything goes … It does signify that what is valuable must in the first place be defined as vulnerable.3

»›Eine Beeinträchtigung der Beziehung zur Welt‹: so lautet die wissenschaftliche Definition von Wahn. Die ökologischen Mutationen bleiben unverständlich,

1

Stengers, Isabelle: »Léguer autre chose que des raisons de désespérer«, erschienen in Le Monde am 27.11.2015, online: https://groupeconstructiviste.wordpress.com/2016/ 01/13/leguer-autre-chose-que-des-raisons-de-deseperer-i-stengers-le-monde/#more67 [Übersetzungen, wenn nicht eigens gekennzeichnet, von K.S].

2

Hans Blumenberg sprach bekanntermaßen noch vom Schiffbruch mit Zuschauer, siehe dazu: Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

3

Stengers, Isabelle: In Catastrophic Times. Resisting the Coming Barbarism, London: Open Humanities Press 2015, S. 103.

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wenn man nicht ermißt, in welchem Ausmaß sie uns alle wahnsinnig machen« 4, heißt es in Bruno Latours Kampf um Gaia lakonisch. Wahnsinnig, insofern das neue Klimaregime uns immer unerbittlicher mit der erschreckenden Tatsache konfrontiert, dass gewohnte Weltverhältnisse nicht länger haltbar sind. Die Funktion des Zuschauers, der die Welt aus einer gewissen Distanz anvisierte, ist an ihr Ende geraten. Die Ufer sind, dort wo es sie überhaupt noch gibt, nicht länger sicher, man kann das Geschehen nicht mehr von einer externen Position aus beobachten. Die versichernde Trennung von natura naturans und natura naturata ist gegenstandslos. Wir befinden uns alle mittendrin, schiffbrüchig. ›Die Schwelle von 400 ppm atmosphärischen Kohlendioxids (CO2) wird im Laufe des Monats Mai erreicht sein‹. Angesichts solcher Tatsachen ist für jeden und nicht länger nur für Wissenschaftshistoriker handgreiflich deutlich, dass wir in eine Geschichte eingetaucht sind, die sich nunmehr unmöglich desanimieren lässt.5

Die ›materielle‹ Welt, so Latour, ist im Aufstand! Was sich zuvor als Hintergrund menschlichen Handelns, Wünschens und Planens konzeptualisieren ließ, die Natur, die Landschaft, der Kontext, sind gegenstandslos. Unmöglich, sich radikal verändernde klimatische Bedingungen, sich häufende Stürme und Fluten, das Aussterben einer exponentiell ansteigenden Anzahl von Arten als Vorgänge ›dort drüben‹ in der ›Natur‹ zu beschreiben, von der wir uns fundamental unterscheiden.6 »We are no longer only dealing with a nature to be ›protected‹ from the damage caused by humans, but also with a nature capable of threatening our modes of thinking and of living for good. «7 Kurz, unser eigenes Aussterben, zumindest aber das Ende einer nicht vollständig barbarischen, nur mehr aufs reine Überleben – ›rette seine Haut wer kann, jeder für sich‹ – gerichteten Kultur, rückt bedrohlich nah. Zukunft ist unter den Vorzeichen dieses neuen Klimaregimes zugleich allzu sicher und mehr als unsicher geworden. Allzu sicher, insofern man gut begründet behaupten mag, es sei zu spät; nichts mehr zu machen, game over, die Zukunft ist kalkulierbar und das heißt mit Sicherheit schrecklich, Endzeitstim4

Latour, Bruno: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017, S. 27.

5 6

Ebd., S. 97. Siehe ausführlich dazu und zu der Notwendigkeit in Anbetracht dieser Unmöglichkeit neue Arten des etho- und ethnologischen Geschichten-Schreibens zu kultivieren: van Dooren, Thom: Flight-Ways. Life and Loss at the Edge of Extinction, New York: Columbia University Press 2014.

7

I. Stengers: In Catastrophic Times, S. 20.

»L EBEN IN DEN RUINEN DESSEN , WAS WIR FORTSCHRITT

NANNTEN «?

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mung!8 Mehr als unsicher, insofern eingeübte (Ver-)Sicherungs-Praktiken im Umgang mit zukünftigen Unwägbarkeiten, die auf Diagnose, Prognose und technische Kontrolle setzten, sich angesichts dieses Regimes als zusehends inadäquat erweisen oder sogar zusätzliche existentiell bedrohliche Gefahren ins Spiel bringen, etwa wenn sie die Form des (Alp-)Traums von der großen Reparatur durch Geo-Engineering annehmen. Man scheint die Wahl zu haben zwischen zwei Varianten derselben unvermeidlichen, bereits eingeläuteten großen Katastrophe – wer sollte nicht den Kopf verlieren oder aber zynisch werden angesichts einer solchen infernalen Alternative? Entgegen aller fatalen Wahrscheinlichkeit arbeitet aktuell eine beeindruckende Anzahl von Initiativen und Kollektiven daran, andere Handlungsmuster als das besagte business as usual zu entwickeln und zu kultivieren. Sie versuchen, mit anderen als den institutionalisierten Mitteln politischer Machtausübung, neue Formen konkreter Intervention zu etablieren, um so jenseits des Diktats einer sich selbst perpetuierenden neoliberalen Wachstumslogik, ›bottom-up‹, die vielstimmige Herstellung einer anderen Welt anzustoßen – seien es Kollektive des Guerilla-Gardening und der Permakultur in und um unsere Städte herum, seien es Citizen-Science-Initiativen, die sich dem ökonomischen Diktat der Wissensproduktion entgegensetzen, seien es mithilfe sozialer Medien organisierte Netzwerke und Bürgerinitiativen zur Flüchtlingshilfe oder auch Forschungs- und Kunstprojekte, die über ihre gut etablierte Rolle einer Kritik der herrschenden Verhältnisse hinaus darauf zielen, ganz real Zusammenhänge zu erschaffen, die Gelegenheiten für die Emergenz neuer, unwahrscheinlicher und weniger destruktiver Weltverhältnisse bieten. Auch wenn diese vielfältigen Anstrengungen weiterhin minoritär bleiben, führen sie doch deutlich vor Augen, dass wir uns nicht damit begnügen können und müssen, in eine fatalistische Starre zu verfallen; dass es andere Optionen gibt, als den Rückzug anzutreten, und sich den faktischen Evidenzen des kommenden Desasters zu beugen; andere Optionen auch, als diese kleinzureden oder gar zu ignorieren, um weiterhin business as usual zu betreiben.9 8

Eine Position die im Bereich der Philosophie ihren vielleicht perfidesten Ausdruck im so genannten Akzelerationismus findet. Siehe zu einer fundierten Kritik dieser Position: de Castro, Eduardo Viveiros/Danowski, Deborah: »L’arrêt de monde«, in: Émilie Hache: De l’univers clos au monde infini, Arles: Éditions dehors 2014, S. 221-339.

9

Die Strategien eines solchen business as usual um jeden Preis, vor dem der »Club of Rome« schon seit langem warnt, analysieren scharfsinnig Oreskes, Naomi/Conway, Erik G.: Die Machiavellis der Wissenschaft. Das Netzwerk des Leugnens, Weinheim: Wiley-VCH Verlag 2014.

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Weder Ignoranz noch Fatalismus können dazu beitragen, verantwortlich und das heißt wortwörtlich ›antwort-fähig‹ zu werden bezüglich der insistierenden Frage: »Wisst ihr, was ihr getan habt?« Eine Antwort, die allerdings angesichts der Tatsache unabdingbar ist, dass unsere Kinder und Kindeskinder, unabhängig davon, was weitere Instanzen entscheiden mögen, »in den Ruinen dessen zu leben haben werden, was wir Fortschritt nannten«, wie Isabelle Stengers Ende 2015 anlässlich der UN-Klimakonferenz in Paris eindrücklich schrieb. Die Antwort, die wir ihnen werden geben können, die Art und Weise, auf die wir uns dazu in die Lage versetzt haben werden, zu antworten, wird Teil dessen sein, was wir ihnen hinterlassen: das Gift der Verzweiflung und der Verantwortungslosigkeit oder aber den Mut, die Differenz zu erfinden zwischen dem bloßen Überleben, jeder für sich, und, komme was da wolle, dem Leben.10

Sich in die Lage zu versetzen, in diesem Sinne antwortfähig zu werden, bedarf konkreter kollektiver und kollektivierender Aktivitäten ebenso wie engagierter historisch-epistemologischer und konzeptueller Arbeit. Das bedeutet, wie es im Folgenden unter Rückgriff auf die Arbeiten Isabelle Stengers’ genauer auszuführen gilt, zum einen, die aktuelle Situation genealogisch zu perspektivieren, um zu verstehen, wie es möglich geworden ist, dass die Politik heute in einem erschreckenden Ausmaß auf zumindest passiver Klimawandelverleugnung basiert.11 Zum anderen geht es darum, begriffliche Vorschläge zu entwickeln, um dem Umgang mit dem neuen Klimaregime und der »kapitalistischen Hexerei«12 andere Konzeptionen entgegenzusetzen.

2. S PEKULIEREN

FÜR DIE

W ELT

Prävention hat Konjunktur. Gerade die Reichsten der Reichen in Silicon Valley und andernorts investieren Unmengen finanzieller Mittel in Maßnahmen, die es ihnen – und nur ihnen – auch im Extremfall erlauben sollen gemeinsam mit 10 I. Stengers: »Léguer autre chose que des raisons de désespérer«. 11 Diese These vertritt auf besonders eindrückliche Weise Bruno Latour in seinem jüngsten Buch (infolge dessen ihm der Vorwurf gemacht wurde, einer Verschwörungstheorie aufzusitzen bzw. dieselbe in Umlauf zu bringen): Où attérrir. Comment s’orienter en politique, Paris: La Découverte 2017. 12 Diesen Ausdruck haben Isabelle Stengers und Philippe Pignarre geprägt: Pignarre, Philippe/Stengers, Isabelle: La sorcellerie capitaliste. Pratiques de désenvoûtement, Paris: La Découverte 2004.

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ihren Kleinfamilien zu überleben. Ein solches Präventionshandeln führt den Zynismus unserer Epoche beinahe karikaturhaft vor Augen. Da werden Bunker gebaut, ganze Inseln gekauft, Hubschrauber zur prompten Rettung angeschafft, um sich dank ihrer im Ernstfall in abgeschottete und exquisit ausgestattete unterirdische Gemächer zurückziehen zu können. Kurz, man bereitet sich ohne Rücksicht auf Verluste auf das eigene Überleben im Falle des künftigen SuperGAU vor.13 Die drohende existentielle Katastrophe wird hier zum statistisch wahrscheinlichen Zukunftsszenario, dem es mit einer Variante finanzieller und logistischer Spekulation zu begegnen gilt, die den Gedanken eines möglichen kollektiven Widerstands gegen die kommende Barbarei – etwa durch Ressourcenverteilung – gar nicht erst aufkommen lässt. Denn hier wird vielmehr umstandslos eigennützig auf die ganz persönliche Überlebensversicherung und gegen den Rest der Welt spekuliert. Ohne explizit auf solche Entwicklungen Bezug zu nehmen, aber in großer Nähe zu Stengers’ Appell an die Erfindung einer Differenz zwischen reinem Überleben und Leben, widersetzt sich Donna Haraway in ihrem jüngsten Buch Staying with the Trouble dieser Art von Zukunftshandeln: In urgent times, many of us are tempted to address trouble in terms of making an imagined future safe, of stopping something from happening that looms in the future, of clearing away the present and the past in order to make futures for coming generations. Staying with the trouble does not require such a relationship to times called future. In fact, staying with the trouble requires learning to be truly present.14

Was aber hieße es in diesem Zusammenhang zu lernen, wahrhaftig gegenwärtig zu werden, der unruhigen Gegenwart verpflichtet zu bleiben? Es handelt sich um eine Absage an Utopien, die nicht-situierte, von Zwängen befreite, friedliche, allerdings radikal von der aktuellen Realität abstrahierende Zukünfte imaginieren, ebenso wie an eskapistische Unternehmungen, die der Logik eines ›Rette sich, wer kann‹ folgen. »Stay with the trouble«, imperativisch gewendet, ist demgegenüber als Aufruf zu verstehen, unserer Gegenwart – praktisch, imaginativ und konzeptuell – die Treue zu halten. Eine solche Treue verbietet es, die radikalen Verwüstungen, die unsere politische, soziale und ökologische 13 Siehe für eine detaillierte Darstellung solcher individualistischen Rettungsphantasien etwa Osnos, Even: »Doomsday Prep for the Super-Rich«, in: The New Yorker, 30.1.2017, online: http://www.newyorker.com/magazine/2017/01/30/doomsday-prep -for-the-super-rich. 14 Haraway, Donna: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham: Duke Univerisity Press 2016, S. 1 [Hervorhebung K.S.].

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Gegenwart auf allen Ebenen und in allen Bereichen durchziehen, zu kaschieren; und sie verpflichtet zugleich dazu, innerhalb eben dieser Gegenwart Anzeichen für Mögliches aufzuspüren. Forscherinnen wie Stengers und Haraway haben es sich entsprechend zur Aufgabe gemacht, minoritäre zeitgenössische ebenso wie historische Praktiken zu identifizieren, in denen die Möglichkeit einer anderen, besseren Welt aufscheint oder zumindest aufblitzt, insofern ihre Akteure, nicht gegen, sondern für die Welt spekulieren, indem sie kollektiv »Partei für das Mögliche und wider das Wahrscheinliche ergreifen.« 15 Aufgabe der Forschung ist es dann aber unter anderem, solchen engagierten Praktiken durch narrative und konzeptuelle Verdichtungen ein Mehr an Gegenwärtigkeit und Konsistenz zu verleihen.16 Eine solche spekulative Arbeit ließe sich ihrerseits als eine Praxis charakterisieren, die dem Wahrscheinlichen widersteht und Mögliches intensiviert: We have a desperate need for other stories, not fairy tales in which everything is possible for the pure of heart, courageous souls, or the reuniting of goodwills, but stories recounting how situations can be transformed when thinking they can be, achieved together by those who undergo them. Not stories about morals but ›technical‹ stories about this kind of achievement, about the kinds of traps that each had to escape, constraints the importance of which had to be recognized. In short, histories that bear on thinking together as a work to be done.17

Es lohnt sich, genauer nachzufragen, warum Stengers immer wieder die Anerkennung von Zwangslagen und Verpflichtungszusammenhängen als konstitutiven Schritt spekulativen Denkens und Möglichkeitshandelns anführt. Es sei, so schreibt sie an anderer Stelle bezüglich der Spekulation, zentral, »dasjenige zu bestimmen, das eine Verpflichtung bzw. einen Zwang (contrainte) auferlegen wird, dasjenige, das das Denken verpflichten wird (qui va engager la pensée).«18 Was führt Stengers zu einer solchen Emphase der Verpflichtung? Was bewegt sie dazu, die Spekulation ausgerechnet mit einem Akt der Begrenzung beginnen zu lassen? Und wie kommt sie von einer solchen limitierenden Bestimmung des Spekulativen zum emphatischen Appell an das Mögliche wider 15 »Il ne s’agit pas de rêver des utopies, mais de prendre le parti du possible contre les probabilités«, Stengers, Isabelle: »Un engagement pour le possible«, in: Cosmopolitiques 1 (2002), S. 27-36, hier S. 30. 16 In dieser Verpflichtung scheint Haraways wie Stengers’ Nähe zur Tradition des amerikanischen Pragmatismus von William James bis zu Alfred North Whitehead auf. 17 I. Stengers: In Catastrophic Times, S. 132 [Hervorhebung K.S.]. 18 I. Stengers : »Un engagement pour le possible », S. 30.

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das Wahrscheinliche als Kriterium, an dem sich das Gelingen oder Misslingen einer Spekulation für die Welt messen lassen muss? Indem Stengers auf Verpflichtungen insistiert, stellt sie geradezu das Gegenteil dessen ins Zentrum der Spekulation, was wir gemeinhin damit bezeichnen – sei es die finanzielle oder die ›wilde‹ Spekulation, eine realitätsfremde Fiktion oder eine unachtsam dahingesagte Idee darüber, wie die Welt funktioniert (›ich spekuliere nur so vor mich hin‹). Entgegen all diesen Varianten führt sie eine Spekulation ins Feld, die radikal von der Produktion abstrakter, nicht-situierter Ideen unterschieden ist. Ihr Festhalten am politisch engagierten spekulativen Denken/Handeln ist also in keiner Weise utopisch, es handelt es sich »weder um gute Absichten noch um Weltbilder.« 19 Wenn es bei der Spekulation aber nicht um eine Abwendung vom Wirklichen geht, worum dann? Worin bestehen die konzeptuellen Herausforderungen von Spekulationen, die der gegenwärtigen Realität verpflichtet sind? Und was steht damit für das Verhältnis von Sicherheit und Zukunft auf dem Spiel? Um sich diesen Fragen anzunähern scheint es mir sinnvoll, auf eine Definition des vielleicht wichtigsten Vertreters einer explizit spekulativen Philosophie im 20. Jahrhundert zurückzukommen: Alfred North Whitehead, der zugleich als zentraler Kronzeuge für Stengers’ Verständnis der Spekulation gelten muss. 20 In seinem bekanntesten Werk Prozess und Realität definiert Whitehead die spekulative Philosophie vor allem »als eine Methode, die relevante Erkenntnisse hervorbringt«.21 Was aber heißt hier Methode? Der Mathematiker Whitehead fasst unter Methode nicht die Anwendung dieser oder jener bereits in anderen Zusammenhängen erprobten Vorgehensweise auf einen neuen Sachbereich. Ganz im Gegenteil handelt es sich für ihn bei der Methode um einen fundamental schöpferischen Akt. Eine solche Schöpfung, so überraschend sie auch sein mag, ist allerdings niemals frei von Zwängen, ja sie wird überhaupt erst durch die Konstruktion einer sehr präzise definierten Zwangslage möglich. Oder wie wie19 Ebd. 20 Gemeinsam mit Stengers halte ich – ähnlich wie auch Donna Haraway –, an einer Variante spekulativen Denkens fest, das sich, anders als etwa der spekulative Realismus, zentral aus einer pragmatistischen Tradition speist. Siehe zur kritischen Auseinandersetzung mit dem spekulativen Realismus u.a. Debaise, Didier/Stengers, Isabelle: »L’insistance des possibles. Pour un pragmatisme spéculatif«, in: Multitude 65 (2017) sowie Vogl, Joseph: »Das Reale und das Allzumenschliche«, Vortragsmanuskript online: http://www.dienachtderphilosophie-berlin.de/_ressourcen/conferences/ Vogl_Das-Reale-und-das-Allzumenschliche_korr.pdf. 21 Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 31.

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derum Stengers in ihrer Whitehead-Lektüre vorschlägt: Der MathematikerMethodologe ist ein Schöpfer, für den es »die zu konstruierende Lösung ist, die ihn zu seiner Schöpfung verpflichtet.«22 Aber – so könnte man einwenden – die Lösung ergibt sich doch erst, nachdem eine Methode zum Einsatz gekommen ist, man Fragen verfolgt und Antworten auf diese gefunden hat. Wie kann eine Lösung, also das Ergebnis einer Prozedur der Wissensproduktion, jemanden zu der ihr vorangehenden Methodenschöpfung zwingen bzw. verpflichten? Ist hier nicht jede kausale und zeitliche Logik auf den Kopf gestellt?

3. G UT

GESTELLTE

P ROBLEME

An dieser Stelle ist es sinnvoll, noch eine Schlaufe hinzuzufügen und zwei weitere zentrale Bezugsgrößen Stengers’ zu Wort kommen zu lassen, Henri Bergson und Gilles Deleuze. Deleuze stellt im Anschluss an Bergson ein wechselseitig konstitutives Verhältnis von Lösung und Problem her, das es vielleicht erlaubt, die durcheinandergeratene Logik wieder auf die Füße zu stellen. Dort heißt es: Ein Problem existiert nicht unabhängig von seinen Lösungen. Weit davon entfernt zu verschwinden, insistiert es und dauert fort in seinen Lösungen. Ein Problem wird in eben dem Moment bestimmt, in dem es gelöst wird. Ein Problem darf nicht mit seiner Lösung verwechselt werden, die beiden Elemente unterscheiden sich ihrer Natur nach und die Bestimmung des Problems ist wie die Genese der sie begleitenden Lösung. 23

Zwischen Problem und Lösung besteht für Deleuze also eine fundamental wechselseitige Abhängigkeit, auch wenn sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Oder anders, es gibt keine Probleme ohne Lösungen. Nur ein gut – und das heißt auf eine Lösung hin – konstruiertes Problem verdient seinen Namen; Probleme, die außerhalb ihrer Lösungen existieren, sind demnach falsche Probleme. Anhand einer Reihe prominenter Beispiele aus der Philosophiegeschichte, vor allem aus der Debatte um Freiheit und Determinismus, hatte schon Bergson deutlich herausgearbeitet, wodurch sich falsche Probleme auszeichnen, und 22 Stengers, Isabelle: Penser avec Whitehead. Une libre et sauvage création de concepts. Paris: Seuil 2002, S. 27. 23 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, München: Fink 1992. Siehe für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Bergsons Problembegriff auch: Ders.: Henri Bergson, Hamburg: Junius 1989.

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darauf aufmerksam gemacht, dass sie eine kaum zu unterschätzende, konstitutiv prägende Rolle für unsere Denkgewohnheiten spielen. Solchen schlecht gestellten, falschen Problemen liegt Bergson zufolge eine unausgesprochene Illusion, ein Missverständnis zugrunde, das zu der Verwechslung oder Vermischung solcher Kategorien wie Folge und Gleichzeitigkeit, Dauer und Ausdehnung, Qualität und Quantität führe. Die enorme Wirksamkeit solcher schlecht analysierten Mixta entfalte sich gerade dadurch, dass ihre Richtigkeit niemals angezweifelt werde. So untersuchten wir etwa freies Handeln, als ob es über dieselbe Substanz und dieselben Qualitäten verfüge wie physikalische Vorgänge. Tendierte Bergson noch dazu, den Geschmack für falsche Probleme als eine der menschlichen Intelligenz naturgemäß inhärente Tendenz zu beschreiben, deutet Deleuze bereits an, dass es sich lohnen würde ihnen gegenüber eine historisierende Perspektive einzunehmen. Im Anschluss daran und an Bruno Latours Existenzweisen hat Didier Debaise die destruktiven Effekte einer bei den Modernen besonders ausgeprägten, ›maßlosen Faszination‹ für schlecht gestellte, ausweglose bzw. unbeantwortbare Probleme analysiert 24, die nicht selten die Form ›infernaler Alternativen‹ annimmt. Schon Bergson hatte aber davor gewarnt, sich tradierten Problemen so auszuliefern, wie sie »von der Sprache gestellt« würden. Der Philosoph gerate dabei in die »Rolle und Haltung des Schülers […], der die Lösung sucht und sich sagt, daß ein indiskreter Blick auf das Aufgabenbuch des Lehrers sie ihm zeigen würde.« Es handle sich aber vielmehr darum, »das Problem zu finden und es infolgedessen richtig zu stellen, als es zu lösen. Denn ein spekulatives Problem ist gelöst, sobald es richtig gestellt ist.« 25 Bei der richtigen Problemstellung handle es sich daher auch nicht schlicht um einen Prozess der Entdeckung von etwas bereits verdeckt Existierendem, sondern vielmehr um einen Akt der Schöpfung. Um dies zu verdeutlichen ruft Bergson die Mathematik in den Zeugenstand: »Schon in der Mathematik und mit vielmehr Grund in der Metaphysik besteht die Anstrengung der Erfindung meistens darin, das Problem zu finden, die Ausdrücke, in denen es gestellt wird, zu schaffen.«26 Eine Situation, wie schwierig und unerträglich sie auch sein mag, ist demzufolge noch kein Problem, ebenso wenig wie eine Frage den Status eines Problems für sich beanspruchen kann. Denn wenn wir eine Frage stellen oder uns mit einer Situation konfrontiert sehen, sind wir noch vollständig abhängig von 24 Siehe dazu Debaise, Didier: »The Celebration of False Problems«, in: Bruno Latour: Reset Modernity! Cambrige, MA/London: MIT Press 2016, S. 486-489. 25 Bergson, Henri: Denken und schöpferisches Werden, übers. von Leonore Kottje. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 66. 26 Ebd.

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der Realität, wie sie uns gegeben ist. Um von der passiven Kraft der Frage/Situation und deren Kritik zu einer aktiven Kraft überzugehen, dank derer wir verändernd auf die Realität einwirken können, genügt aber kein Blick ins Aufgabenbuch des Lehrers. Die konstruktive Problem-Arbeit kann vielmehr etwa mit dem Malen einer Landschaft, der Inszenierung eines Theaterstücks oder dem Schreiben einer Geschichte verglichen werden; Praktiken also, die neue Elemente setzen und zugleich die bereits bekannten zueinander in überraschende Beziehungen bringen, damit neue Handlungsräume komponieren und Spielräume schaffen. Zentral für die gute Konstruktion eines Problems scheint in jedem Fall das Einhalten einer Regel des Takts. Ein Problem kann nur dann als taktvoll gelten, wenn es denjenigen, die von ihm problematisiert werden, Gelegenheit bietet, aktiv an dieser Problematisierung teilzuhaben. Bergson und mit ihm Deleuze halten also dazu an, auf das Vermögen des Denkens zu vertrauen, nicht so sehr auf ihm vorgängige Probleme zu antworten, sondern vielmehr gute Probleme zu konstruieren, die dazu in die Lage versetzen, tristen Wahrscheinlichkeiten zu wiederstehen, Probleme, die das Wirkliche ins Schwanken bringen, es irritieren und zugleich revitalisieren und somit an der Schaffung neuer Möglichkeitsräume partizipieren. Dabei kann es sich je nach den Erfordernissen einer konkreten Sachlage ebenso gut um einen Begriff, ein theoretisches oder auch ein materielles Element handeln, die der jeweiligen Situation gleich eines Attraktors hinzugefügt werden und so die in ihr versammelten Elemente in neuer Weise zueinander ausrichten, es ihnen erlauben, sich gelungener zu re-artikulieren.

4. E IN B LICK

AUS DER

Z UKUNFT

Eric Conways und Naomi Oreskes’ The Collapse of Western Civilization. A View from the Future27 ist eine scharfsinnige Analyse der Funktionsmechanismen des – nicht zuletzt nach den US-Wahlen von 2016 – virulenten klimaskeptischen Diskurses. Das Buch verfährt dazu mit einer geschickt ausgeloteten 27 Ich danke Aurélia Kalisky, die mir nicht nur Naomi Oreskes‘ und Eric Conways Buch ans Herz gelegt hat, sondern mich dank vieler gemeinsamer Diskussionen und nicht zuletzt durch die Einladung zu der von ihr und Alice von Bieberstein im Dezember 2015 am ICI in Berlin organisierten Tagung Possibility Matters davon überzeugt hat, die darin angestoßenen Gedanken mit den Arbeiten Isabelle Stengers’ und allgemeiner den Überlegungen, die die Groupe d’études constructivistes (deren Mitglieder Stengers und ich sind) seit Jahren umtreiben, ins Verhältnis zu setzen. Dieser Aufsatz ist das erste Ergebnis dieser Artikulationsarbeit.

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Verschränkung aus Science-Fiction und Geschichtsschreibung, die es erlaubt einige Klarsicht bezüglich der aktuellen Lage herzustellen: »Science Fiction writers construct an imaginary future; historians attempt to reconstruct the past. Ultimately both are seeking to understand the present.«28 Konkret nimmt das folgende Form an: Ein fiktiver chinesischer Historiker berichtet aus der Perspektive des Jahres 2393 über die so genannte Penumbral Period (1988-2093), die sich im Verlauf des Textes als unsere jüngste Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft auf dieser Erde im Zeichen des neuen Klimaregimes herausstellt. Der Historiker hingegen lebt in einer ›post-penumbralen‹ Welt, in der dank der Ausbreitung einer spezifischen Pilzart die Temperaturen wieder gesunken sind und das politische System eine fundamentale Umgestaltung durchlaufen hat. Umso befremdlicher erscheint die vergangene Kultur, in der »the people of Western civilization knew what was happening but were unable to stop it«29. Offenbar konnten sie – wir – trotz all dieses Wissens verleugnen, was bereits passierte, so lange, bis es zu spät war, um maßgebliche und radikal zerstörerische Veränderungen zu verhindern. Oder wie Oreskes und Conway es in ihrer Einleitung zum Buch formulieren: »The dilemma being addressed is how we – the children of Enlightenment – failed to act on robust information about climate change and knowledge of the damaging events that were about to unfold.«30 Der imaginierte Rückblick aus der Zukunft, dank dessen unsere Denkkultur und unser Denkstil in einem verfremdeten Licht erscheinen, erlaubt es dem Autorenduo einige neuralgische Punkte herauszupräparieren. Dafür nehmen sie die bereits in ihrem vorigen Buch Die Machiavellis der Wissenschaft entwickelte kritische Analyse der neoliberal-kapitalistischen Ideale von ›freien‹ und unendlich ›wachsenden‹ Märkten sowie der Bereitschaft (von Regierungen und Konzernen) im Namen dieser Ideale aktive Klimawandelverleugnung zu betreiben wieder auf.31 Nicht ohne ein Augenzwinkern erläutert der fiktive Forscher, Historiker seiner Epoche hätten sich darauf geeinigt, die Penumbral Period im Jahr 1988 beginnen zu lassen. Mit der Gründung des IPCC in diesem Jahr habe die Welt zwar scheinbar die globale Krise erkannt und die notwendigen Schritte eingeleitet, doch schon bald sei es zu einem »backlash« gekommen: »Critics claimed that the scientific uncertainties were too great to justify the expense and inconvenience of eliminating greenhouse gas emissions, and that any attempt to 28 Oreskes, Naomi/Conway, Erik M.: The Collapse of Modern Civilization. A View from the Future, New York: Columbia University Press 2014, S. ix. 29 N. Oreskes/E. M. Conway: The Collapse of Modern Civilization, S. 1f. 30 Ebd.: S. ix. 31 Siehe dazu: N. Oreskes/E. M. Conway: Die Machiavellis der Wissenschaft.

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solve the problem would cost more than it was worth.« 32 Dieser stichhaltigen, aber wenig überraschenden kapitalismuskritischen Fassung der Geschichte fügt der Erzähler allerdings einige Seiten später den Anhaltspunkt für eine zusätzliche Version hinzu, die mich hier besonders interessiert. Denn sie schickt uns auf die Spur eines in diesem Zusammenhang selten adressierten und dennoch konstitutiven Elements, wenn es darum geht den Genealogien des klimaskeptischen Diskurses nachzugehen, der heute in fundamental reaktionären politischen Ansichten nur seinen extremen Ausdruck findet. Diese Spur führt konkret in die Geschichte der modernen Wissenschaften, ihrer Wahrheitsbegriffe und epistemologischen Legitimationsstrategien. Denn die Möglichkeitsbedingungen für die – aus der Zukunft betrachtet schwer fassbare Konstellation – so deutet der Erzähler zumindest an, seien in unseren modernen, ›aufgeklärten‹ Epistemologien selbst, oder besser in deren ideologischen Überformungen zu suchen. Der fiktive Historiker bei Oreskes und Conway bringt diesen Sachverhalt wie folgt auf den Punkt: Western scientists built an intellectual culture based on the premise that it was worse to fool oneself into believing in something that did not exist than not to believe in something that did. Scientists referred to these positions, respectively, as ›type I‹ and ›type II‹ errors, and established protocols designed to avoid type I errors at almost all costs. One scientist wrote, ›A type I error is often considered to be more serious, and therefore more important to avoid, than a type II error‹. Another claimed that type II errors were not errors at all, just ›missed opportunities‹.33

Im Bereich solcher Wissenschaften, die wie die Klimaforschung mit komplexen Modellen operieren und deren Ergebnisse ihren Ausdruck vor allen Dingen in statistischen Erhebungen finden, hat sich, daran erinnert ebenfalls der Erzähler aus der Zukunft, eine Regelung etabliert, der zufolge ein Ergebnis als Tatsache behandelt werden darf, wenn, und nur wenn es eine gewisse statistische Signifikanz für sich behaupten kann. Im Bereich der aktuellen Klimaforschung etwa galt: Twentieth-century scientists believed that a claim could be accepted only if, by standards of Fisherian statistics, the possibility that an observed event could have happened by chance was less than 1 in 20. Many phenomena whose causal mechanisms were physical-

32 N. Oreskes/E. M. Conway: The Collapse of Modern Civilization, S. 5 [Hervorhebung K.S.]. 33 Ebd., S. 18.

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ly, chemically, or biologically linked to warmer temperatures were dismissed as ›unproven‹ because they did not adhere to this standard demonstration.34

Von einer derart eng gefassten Bestimmung dessen, was als wissenschaftliches Wissen – und damit nach heutigen Maßstäben zugleich als politische Handlungsgrundlage – gelten kann und was nicht, ist der Weg hin zu klimaskeptischen Positionen in der Tat erschreckend kurz.

5. V ERLEUGNEN ,

EINE

F RAGE

DER

Ü BUNG ?

Diese ›historische‹ Diagnose bezüglich unserer Gegenwart möchte ich aufnehmen und noch einen Schritt weiterdenken und radikalisieren. Geschult an dieser Hypothese zeigt nämlich ein Blick in die Geschichte der modernen Wissenschaften, dass bereits lange vor der Etablierung einer neoliberalen Variante des Kapitalismus eben jene Verleugnungsstrategien (ausgestattet mit der Autorität wechselnder Institutionen), die heute im Kampf gegen das durchaus robuste Wissen der Klimaforschung so erschreckend präsent sind, den Modernen, wenn auch in etwas anderen Verkleidungen und mit dem zumindest scheinbar lauteren Ziel der ›Aufklärung‹ der Unwissenden, zur eingefleischten Gewohnheit geworden waren. »But a shadow of ignorace and denial had fallen over people who considered themselves children of the Enlightenment«, diagnostiziert Oreskes’ und Conways Historiker bezüglich des aktuellen Stands der Dinge. 35 Aber sind die Bewohner der Penumbral Period wirklich trotz der Aufklärung in eine Lage geraten, in der die Verleugnung von Tatsachen sowie die Unfähigkeit zu handeln auf der Tagesordnung standen?36 Haben sie sich nicht gerade als Kinder der Aufklärung und der Ansprüche, die sie mit den modernen Wissenschaften teilt, darin geübt davon auszugehen, dass sie die einzigen mit einem verlässlichen Zugriff auf die Wirklichkeit sind, den sie allen anderen Praktiken und ihren Akteuren abzusprechen sich gewöhnt haben? Das unter 34 Ebd., S. 17. 35 N. Oreskes/E. M. Conway: The Collapse of Modern Civilization, S. 18. 36 Man kann vielleicht einwenden, dass wir uns des Klimawandels doch alle sehr wohl bewusst seien und ihn keineswegs leugnen. Dennoch erscheint mir der von Oreskes und Conway explizierte Vergleich zwischen aktiver und passiver Klimawandelleugnung (die passive Variante praktizieren wir beinahe alle, täglich) und der aktiven Kollaboration mit tyrannischen politischen Systemen und passivem Mitläufertum erschreckend überzeugend. Nicht ohne Grund wurde Oreskes von der TrumpAdministration wiederholt als ›Hexe‹ diffamiert.

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dem Banner der ›Aufklärung‹ der Unwissenden verfolgte Ziel – das nicht zuletzt in der klassischen Epistemologie fortlebt und sich durch ganz unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche zog und zieht –, zeichnet sich durch einen Willen zu klaren Differenzen aus: zwischen Wahrheit und Glaube (oder Meinung), Fakten und Werten, Wissenschaft und Irrationalität, Evidenz und Illusion. Eine ganze Reihe von Prozeduren, die für die Autorität der Wissenschaften konstitutiv sind, legen die etwas provokative Hypothese nahe, dass die Moderne als ein Prozess der vielschichtigen und permanenten Einübung in die Kunst des Verleugnens charakterisiert werden könnte. Eine Kunst des Verleugnens, deren Verfahren sich als die strategische Disqualifikation bzw. Entlarvung all jener Praktiken beschreiben lässt, die anderen Beschränkungen und Verpflichtungen gehorchen als denjenigen der positivistisch-materialistischen Wissenschaften. Was nicht hundertprozentig bewiesen werden kann, ist nicht von Belang, weil es nicht von Belang sein darf. Wie sprechend die Geschichte der modernen Wissenschaften bezüglich der fiktiven historischen Diagnose aus der Zukunft ist, wird wohl am deutlichsten, wenn man den Blick auf Zusammenhänge richtet, in denen die Wissenschaftlichkeit dieser oder jener Praxis auf dem Spiel stand, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise: Ob kausal unerklärliche Heilerfolge im Bereich der Medizin, spiritistische Erfahrungen oder UFOSichtungen, wann immer die Wissenschaften sich mit Phänomenen konfrontiert sahen, denen gegenüber ihre Erkenntnisstrategien sowie ihre Konzeption der materiellen Wirklichkeit ins Wanken zu geraten drohten, haben sie dafür optiert, sich auf die Autorität der Institution zurückzuziehen und – ohne weitere Nachweise führen zu müssen – das jeweilige Phänomen für illusorisch, imaginiert, kurz, irreal erklärt. Diejenigen, die dennoch an der Wirklichkeit dieser oder jener Erfahrung festhielten, setzten sich damit ihrerseits der Gefahr aus, als unwissenschaftlich oder gar wahnsinnig disqualifiziert zu werden. Einer der Begründer des Pragmatismus, William James, der seinerseits tief in die Forschungen der Society for Psychical Research verstrickt und aus diesem Zusammenhang mit Vorwürfen von Irrationalität und Amodernität aufs Beste vertraut war, schrieb bereits 1898 in The Will to Believe und in großer Nähe zu Oreskes’ und Conways Historiker über die radikal destruktiven Effekte der modernen Angst vor Selbsttäuschung: »Science has organized this nervousness into a regular technique, the so-called method of verification, and she [science] has fallen so deeply in love with the method that we may even say she has ceased to care for the truth by itself at all.«37 37 James, William: The Will to Believe and other Essays in Popular Philosophy, NewYork: Dover Publications 1956, S. 26f.

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Es scheint nicht viel Platz zu bleiben für mögliche Zukünfte – und für sichere schon gar nicht –, wenn man sich vor Augen führt, dass wir heute infolge einer ›maßlosen Faszination‹ für falsche Probleme und der sie begleitenden Angst davor, getäuscht zu werden, auf einem »veritable cemetery for destroyed practices and collective knowledges«38 leben. Die an Stengers geschulte Lektüre von The Collapse of Modern Civilization hat hoffentlich deutlich werden lassen, dass eine Erkundung des historisch-genealogischen Resonanzraums zwischen modernen Strategien der Disqualifikation all jener Praktiken, die nicht unseren Kriterien an Rationalität gehorchen und zu denen auch KulturwissenschaftlerInnen allzu häufig neigen,39 und klimaskeptischen, negationistischen Strömungen dringend ansteht. Eine solche Erkundung müsste aber damit anheben, historisch situierte Momente zu identifizieren, in denen ganz konkrete falsche Probleme ihren Ausgang genommen haben, und sie müsste spürbar werden lassen, dass die Dinge vielleicht auch anders hätten verlaufen können. Solche Abzweigungen in der Geschichte zu identifizieren heißt natürlich nicht, dass wir die Zeit zurückdrehen können; und doch eröffnen sich dadurch vielleicht einige Fenster, die es uns erlauben mögen auf Traditionen zurückzugreifen bzw. erneut an sie anzuschließen, die an eben jenen Kreuzungen verloren gegangen, auf der Strecke geblieben sind.

38 I. Stengers: In Catastrophic Times, S. 98. 39 Siehe für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Fallstricken der szientifischen ebenso wie der geisteswissenschaftlich fundierten, kritischen Disqualifikation von Praktiken auch: Harrasser, Karin/Solhdju, Katrin: »Wirksamkeit verpflichtet. Herausforderungen einer Ökologie der Praktiken«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 14 (2016), S. 72-86.

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6. M ÖGLICHES

KULTIVIEREN A precarious world is a world without teleology. Indeterminacy, the unplanned nature of time, is frightening, but thinking through precarity makes it evident that indeterminacy also makes life possible.40

»Der Prüfstein der Spekulation ist nicht das Wahrscheinliche sondern das Mögliche.«41 Was aber ist dieses Mögliche? Wodurch zeichnet es sich aus? Der entscheidende Hinweis darauf ist wiederum in Henri Bergsons Denken und schöpferisches Werden zu finden und genauer in dem Kapitel Das Mögliche und das Wirkliche. »Das Wirkliche schafft das Mögliche, und nicht das Mögliche das Wirkliche!«42 heißt es da programmatisch. Das Mögliche ist also auf fundamentale Weise im Wirklichen verankert. Geht Bergson also davon aus, dass alles, was möglich ist, zumindest virtuell in der Realität immer schon gegeben wäre? Dass das Mögliche als etwas begriffen werden muss, das »von vorn herein dagewesen [ist] wie ein Gespenst, das auf die Stunde seines Erscheinens wartet«43? Ist das Mögliche also das, was »Wirklichkeit geworden [wäre] durch Hinzufügung von irgendetwas, durch ich weiß nicht welche Bluttransfusion« 44? Nein, es ist gerade diese Vorstellung von der virtuellen Anlage des Möglichen im Wirklichen, die Bergson in seinem Aufsatz als ein schlecht gestelltes, falsches Problem identifiziert und gegen die er streng argumentiert. Um seinen Begriff des Möglichen davon zu differenzieren, berichtet er von einer konkreten Situation, die sein Nachdenken darüber nachhaltig beeinflusst hat. Während des Weltkrieges, so Bergson, habe ihn ein Journalist darüber ausgefragt, welche künstlerischen und vor allen Dingen schriftstellerischen Tendenzen er aktuell wahrnehme und wie er sich die Zukunft der Literatur nach dem Krieg vorstelle. Bergson erklärte dem Journalisten zunächst »ein wenig verwirrt, daß ich sie mir überhaupt nicht vorstelle.«45 Als der Journalist weiterhin darauf beharrt, dass er als Philosoph doch zumindest eine vage Vorstellung davon haben müsse, »wie das dramatische Werk von morgen« aussehe, hält Bergson ihm entgegen: 40 Lowehaupt Tsing, Anna: The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capatilist Ruins, Princeton-Oxford: Princeton University Press 2015, S. 20. 41 I. Stengers: »Un engagement pour le possible«, S. 30. 42 H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, S. 124. 43 Ebd., S. 121. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 120.

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»Wenn ich wüßte, was das große dramatische Werk von morgen sein wird, so würde ich es selbst schaffen!« Er kann dieses Werk, so reflektiert er weiter, aber nicht schaffen, schlicht und ergreifend, weil dasselbe »überhaupt noch nicht möglich ist«. »Es muss aber doch möglich sein, wenn es sich einmal verwirklichen wird« entgegnet ihm wiederum der Journalist, woraufhin Bergson antwortet: Nein, das ist es nicht. Ich räume ihnen höchstens ein, dass es einmal möglich gewesen sein wird. […] Das ist ganz einfach. Es tauche ein Mann von Talent oder ein Genie auf und schaffe ein Werk: in diesem Augenblick ist es wirklich, und dadurch gerade wird es rückblickend und rückwirkend erst möglich.46

Das dramatische Werk von morgen wird also Bergson zufolge erst dann möglich gewesen sein, wenn es bereits existiert. Das heißt aber gewissermaßen, dass man die Logik des Möglichen, wie wir sie spontan annehmen und mit der besagter Journalist Bergson auf beinahe absurde Weise konfrontierte, umkehren muss: Etwas ist nicht möglich, weil alle Elemente, die zu seiner Realisierung notwendig sind, bereits im Jetzt gegeben wären oder weil ihm im Jetzt nichts Hemmendes im Wege steht. Etwas wird vielmehr möglich, sobald es realisiert ist: In demselben Maße, wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich in eine unbestimmte Vergangenheit; sie erscheint so als zu jeder Zeit möglich gewesen, aber erst in diesem Augenblick beginnt sie, es immer gewesen zu sein, und gerade darum sage ich, daß ihre Möglichkeit, die ihrer Wirklichkeit nicht vorausgeht, ihr vorausgegangen sein wird, sobald die Wirklichkeit aufgetaucht ist.47

Wenn etwa ein Werk etwas Neues realisiert hat, dann ist es im Nachhinein nur allzu leicht zu behaupten, dieser Realisierung habe nichts im Wege gestanden – sie sei also möglich gewesen; es ist aber oft richtiger und interessanter der Frage nachzugehen, welche Hindernisse eine schöpferische Tat, die Inswerksetzung selbst, überhaupt erst überwindbar gemacht hat und wie ihr dies gelungen ist! Die Schaffung etwa eines Kunstwerks lässt sich dann aber gerade nicht auf die einfache Neuordnung bereits auf die eine oder andere Weise zuvor vorhandener Elemente der Wirklichkeit zurückführen, sondern muss vielmehr als ein, wenn auch nicht völlig beliebiger, schöpferischer Akt konzeptualisiert werden,

46 Ebd. 47 Ebd., S. 120f.

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der etwas nicht Vorwegnehmbares, Nichtkalkulierbares realisiert und damit zugleich möglich macht. Wenn aber das Mögliche sich dadurch auszeichnet, nicht kalkulierbar zu sein, dann scheint hier auch seine von Stengers implizierte Gegenstellung zum Wahrscheinlichen auf. Denn unter dem Wahrscheinlichen lässt sich all das fassen, dem es, so könnte man sagen, im Verhältnis zum Wirklichen an nichts mangelt, außer an Existenz. Abgesehen davon aber lässt sich das Wahrscheinliche problemlos und vollständig mit Hilfe der Koordinaten oder innerhalb der Begrifflichkeiten des aktuellen Stands der Dinge beschreiben. All das also, was sich mithilfe des Wahrscheinlichkeitskalküls und ihm verwandter Praktiken der Prädiktion abschätzen lässt, fällt in diesen Bereich. Wenn Isabelle Stengers das Mögliche wider das Wahrscheinliche als Prüfstein des Spekulativen ausruft, dann um einem Fatalismus entgegenzutreten, dem eine Konzeption der Wirklichkeit ausgeliefert ist, der zufolge nichts kommen kann, das außerhalb der uns aktuell zur Verfügung stehenden Koordinaten läge. Denn dann bliebe wohl nichts, als zu resignieren, deuten doch alle Wahrscheinlichkeiten auf ›die kommende Barbarei‹. Wenn es aber überhaupt eine Chance gibt, innerhalb der bereits eingeläuteten Katastrophe Nischen des Lebens zu kultivieren, dann setzt dies voraus, dass wir ein gewisses Vertrauen in die Möglichkeit fassen, in ganz konkreten Situationen dem Wahrscheinlichen widerstehen zu können, Probleme so zu konstruieren, dass sie den von ihnen betroffenen bzw. affizierten Akteuren erlauben, neue, zuvor undenkbare Formen der Artikulation und damit der Existenz anzunehmen. Die Vorstellung, dass etwas erst in dem Augenblick möglich geworden sein wird, da es wirklich ist, findet der Journalist in Bergsons Rekonstruktion ihres Gespräches »etwas stark! Sie wollen doch wohl nicht behaupten«, sagt er, »daß die Gegenwart etwas in die Vergangenheit einführt, daß die Handlung dem Strom der Zeit entgegenwirkt und ihren Stempel der Vergangenheit aufdrückt?« Bergsons Antwort lautet wie folgt: »Das kommt darauf an. Ich habe niemals behauptet, daß man etwas Wirkliches in die Vergangenheit einfließen lassen und so dem Zeitverlauf entgegenarbeiten kann. Aber daß das Mögliche sich selbständig in jedem Augenblick hier einnistet, das ist nicht zweifelhaft.«48 Was aber mag die Vorstellung bedeuten, dass das Mögliche sich im Vergangenen einniste? Es scheint mir kurzschlüssig diese Idee als einen Aufruf zur kontrafaktischen Geschichtsschreibung zu verstehen. Noch weniger stichhaltig wäre es allerdings sie als Freibrief für die freie Erfindung falscher Geschichten zu begreifen, Geschichten, die die Tatsachen ignorieren und im schlimmsten Falle die extreme Gewaltsamkeit der Verleugnung rechtfertigen. Auch kann 48 Ebd., S. 120.

»L EBEN IN DEN RUINEN DESSEN , WAS WIR FORTSCHRITT

NANNTEN «?

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Bergsons Argumentation nicht als Plädoyer für die Fähigkeit von Historikern oder auch Philosophen verstanden werden, die Zukunft vorherzusagen. Näher käme man der Sache vielleicht, würde man Bergson hier in einen Dialog mit Siegfried Kracauers Ansprüchen an die Geschichtswissenschaft bringen. Kracauer vertrat die Ansicht, die Stärke der Geschichtsschreibung bestehe darin, auf das »›genuine‹ hidden in the interstices between dogmatized beliefs of the world« zu fokussieren und so das »hitherto unnamed«49 zu benennen. Solche Geschichten zu erzählen erlaube es uns für das zu sensibilieren, was er als »Utopia of the in-between – a terra incognita in the hollows between the lands we know«50 charakterisierte. Damit meinte er keine Utopien im großen Stil, sondern vielmehr die tentative, experimentelle Annäherung, das Wecken eines gewissen Appetits für Menschen, Praktiken und Gedanken, für so genannte »lost causes«51, die irgendwo aufgetaucht sind, sich zwar aus unterschiedlichen Gründen nicht nachhaltig in die Geschichte eingeschrieben haben, aber dennoch würdig erscheinen, als historisches Erbe zumindest in Betracht gezogen zu werden. Bei der Erinnerung an eine solche »tradition of lost causes« 52 geht es aber nicht um die Erfindung eskapistischer Utopien oder Uchronien, sondern um eine historisch-narrative Intensivierung, die in die Lage versetzt, neue Verbindungen mit jenen verloren geglaubten Traditionen zu knüpfen, sie also zu reaktivieren, um gute, zumindest aber bessere Probleme zu konstruieren. Geschichte würde damit zugleich eine gewisse Logik des chronologischen Fortschritts verlassen und zu einer Kunst des Navigierens im »cataract of times« 53 werden, eine Praxis, die sich im Zickzack hin und zurückbewegen müsste um andere, indeterminierte, nicht aber beliebige Traditionen zu beleben. Vielleicht könnte sie auf diesem Wege die Zukunft zwar nicht sichern, wohl aber an der Fabrikation von Milieus teilhaben, die dazu in der Lage gewesen sein werden, die sich gegenwärtig mehr als deutlich abzeichnenden politischen, sozialen und ökologischen Katastrophen zu zähmen. Zumindest aber kann eine Geschichte der »lost causes«, davon bin ich überzeugt, uns einiges soufflieren, wenn es darum geht, unseren Kindern und Kindeskindern gegenüber antwortfähig zu werden und ihnen anderes zu hinterlassen als das Gift der Verzweiflung. Hier zeichnet sich ein Weg ab, auf dem sich 49 Kracauer, Siegfried: History. The Last Things Before the Last, Princeton: Wiener 2014, S. 212. 50 Ebd., S. 217. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 S. Kracauer: History, S 213.

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damit beginnen ließe, unser Denken von schlecht gestellten Problemen zu entund an Praktiken der taktvollen Problematisierung zu gewöhnen. Könnten wir aber eine Kultur der gut gestellten Probleme hinterlassen, so wäre wohl schon viel gewonnen: »Geben wir dem Möglichen wieder seinen rechtmäßigen Platz: dann wird die Entwicklung etwas ganz anderes als die Verwirklichung eines Programms; die Pforten der Zukunft öffnen sich ganz weit, ein unbegrenztes Feld eröffnet sich.«54

54 H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, S. 124.

Autorinnen und Autoren

Michael Andreas hat Film- und Fernsehwissenschaft, Theaterwissenschaft in Bochum und Toronto studiert. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fellow am MECS, Lüneburg, sowie an der Mercator Research Group – Spaces of Anthropological Knowledge in Bochum, seither hat er Lehraufträge in Bochum, Düsseldorf, Frankfurt und Wien. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Visual Culture Studies, Digitale Kulturen, politische Theorie und Postcolonial Studies. Jüngste Publikationen: »Unterwachen und Schlafen. Antropophile Medien nach dem Interface« (Mit-Hg., 2018); im Erscheinen: »Faces/Façades. BildOberflächen in Harun Farockis ›Bilder der Welt und Inschrift des Krieges‹«, in: Gottfried Schnödl/Christof Windgätter (Hg.), Hautlichkeit – gestalterische und wissenschaftliche Praktiken zur Oberfläche (2019). Johannes Becker ist Doktorand am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige und englischsprachige Gegenwartsliteratur und –dramatik; deutschsprachiger und englischsprachiger Gegenwartsfilm; Theorien und literarische Strategien der Prävention. Zeitschriftenartikel (Auswahl): »Jetzt, ganz kurz. Rainald Goetz in Berlin« (In: EDIT, Nr. 59, 2012); »Die bösen Wiesen. Ilse Aichinger und das Problem eines Schreibens für die Gegenwart« (In: Kritische Ausgabe, Nr. 24, 2013); »27 Forderungen an das Theater« (Mit Wolfram Lotz, in: Theater Heute Jahrbuch, 2014). Benjamin Bühler ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 17. bis 21. Jahrhundert; politische Ökologie und Ecocriticism; Literatur und Prognostik; Wissensgeschichte. Publikationen (Auswahl): »Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit« (2013); »Kultur. Ein Machinarium des Wissens« (Mitverf. 2014); »Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens«

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(Mit-Hg., 2016); »Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen« (2016); »Ökologische Gouvernementalität. Zur Geschichte einer Regierungsform« (2018). Michael C. Frank ist Professor für Literaturen in englischer Sprache des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Zürich. Seine Habilitationsschrift »The Cultural Imaginary of Terrorism in Public Discourse, Literature, and Film« wurde 2017 bei Routledge veröffentlicht. Ebenfalls bei Routledge erschienen ist das Sonderheft des European Journal of English Studies zum Thema »Global Responses to the ›War on Terror‹« (Mit-Hg., 2018). Weitere aktuelle Forschungsgebiete umfassen Migrationsliteratur, Narrativierungen des Raums sowie den Komplex Angst/Kultur. Lars Koch ist Professor für Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der Technischen Universität Dresden. Er ist Vorstandsmitglied und Teilprojektleiter zum Thema »Theater der Diskriminierung« im DFGSonderforschungsbereich 1285 »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung«. Arbeitsschwerpunkte: Medienkulturwissenschaftliche Affektforschung, Medienkulturtheorie der Störung, Invektivität. Buchpublikationen (Auswahl): »Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger« (2005); »Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch« (Hg. 2013); »Der Erste Weltkrieg. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch« (Mit-Hg. 2014); »Imaginationen der Störung« (Mit-Hg., 2016); »Disruptions in the Arts. Textual, Visual and Performative Strategies for Analyzing Societal Self-Descriptions« (Mit-Hg., 2018). Andreas Langenohl ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Allgemeiner Gesellschaftsvergleich an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschafts- und Finanzsoziologie; Transnationalismus; Epistemologie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften; Sozial- und Kulturtheorie. Buchpublikationen (Auswahl): »Gabe und Tausch: Zeitlichkeit, Aisthetik, Ästhetik« (Mit-Hg., 2018); »Town Twinning, Transnational Connections, and Trans-local Citizenship Practices in Europe« (2015); »Transkulturalität« (Mit-Hg., 2015); »Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft« (2007); »Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie« (2007). Matthias Leanza ist Wissenschaftlicher Oberassistent am Department für Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie und Ideengeschichte des Fachs, Prävention, Medizin und Bio-

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politik, Staaten, Imperien und koloniale Herrschaft. Buchpublikationen (Auswahl): »Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie« (2017); »Das Andere der Ordnung. Theorien des Exzeptionellen« (Mit-Hg., 2015). Sandra Pravica ist Philosophin mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen (Auswahl): »›Materialität‹ in der Wissenschaftsforschung. Eine bibliographische Übersicht« (2007); »›Scientific Philosophies‹ in the Early 1930s and Gaston Bachelard on ›Induction‹, in: Epistemology and History. From Bachelard and Canguilhem to Today’s History of Science (2012); Bachelards tentative Wissenschaftsphilosophie (2015); »Variablen des Unberechenbaren. Eine Epistemologie der Unwägbarkeiten quantitativer Voraussageverfahren in Sicherheit und Militär«, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2017 (2016); »In(-security). Sicherheit und Nichtverfügbarkeit«, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte (2017). Ramón Reichert ist European Project Researcher an der University of Lancaster. Er ist Studienleiter des postgradualen Masterstudienganges »Data Studies« an der Donau-Uni Krems. Er lehrt am Département des sciences de la communication et des medias an der Université de Fribourg, an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen und an der Academy of Art and Design am Institute of Experimental Design and Media Cultures in Basel. Als Expert Evaluator ist er im Bereich »Digitale Medienkultur« im Auftrag der Europäischen Kommission, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) tätig. Er ist Mitherausgeber des Peer-Reviewed-Journals »Digital Culture & Society«. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Wissens- und Mediengeschichte digitaler Kulturen, Epistemologie des Digitalen, Medientheorien und Bildkulturen. Buchpublikationen (Auswahl): »Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung« (2013); »Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie« (2014); »Selfies. Eine Kulturtheorie der digitalen Bildkommunikation« (2019). Annie Ring ist Lecturer in German in der School of European Languages, Culture and Society, University College London. In ihrer Forschung befasst sie sich mit Kulturtheorie und moderner deutschsprachiger Literatur und Film. Ihre Monographie »After the Stasi« wurde von Bloomsbury 2015 und als Taschenbuch 2017 veröffentlicht. Sie hat Artikel über Literatur, Spielfilme und Dokumentarfilme sowie über Überwachung, Komplizenschaft, Archive und Affekt in einer Vielzahl von Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht. Ihre Arbeit

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umfasst auch kollaborative Forschungsaktivitäten im Forschungskollektiv Uncertain Archives und im Projekt CIRCE (Circulating Cinema, London), und sie hat mit Henriette Steiner und Kristin Veel den Sammelband »Architecture and Control« herausgegeben (2018). Sie ist Mitorganisatorin des Picturing Austrian Cinema Symposiums, Mitglied des britischen German Screen Studies Network und trägt regelmäßig in Londoner Kinos über deutschsprachige Filme vor. Katrin Solhdju ist Forschungsprofessorin des FNRS an der Université de Mons in Belgien. Arbeitsschwerpunkte: Medizingeschichte und -philosophie, Medical Humanities, Wissenschaftsforschung, Pragmatismus. Buchpublikationen: »Selbstexperimente. Die Suche nach der Innenperspektive und ihre epistemologischen Folgen« (2011); »Faire art comme on fait société: les Nouveaux commanditaires« (Mit-Hg., 2013); »L’Épreuve du savoir. Propositions pour une écologie du diagnostic« (2015); »Das Leben vom Tode her. Zur Kulturgeschichte einer Grenzziehung« (Mit-Hg., 2015); »Die Versuchung des Wissens. Vorschläge für einen gemeinschaftlichen Umgang mit prädiktiver GenDiagnostik« (2018). Malte Thießen ist Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte sowie apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Vorsorge im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Digitalisierung, Erinnerungskultur und Zeitzeugen, Geschichte des Nationalsozialismus. Buchpublikationen (Auswahl): »Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende« (2007); »Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa« (Mit-Hg., 2009); »Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort« (Mit-Hg., 2013); »Zeitgeschichte der Vorsorge« (MitHg., 2013); »Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert« (Hg., 2014); »Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien lokaler Ehrungen in der Moderne« (Mit-Hg., 2016); »Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen« (Mit-Hg., 2017); »Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« (2017); »Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken« (Mit-Hg., 2017); »krank machen« (MitHg., 2018). Stefan Willer ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der HumboldtUniversität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: deutsche Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Kulturgeschichte von Erbe und Generation, Literatur- und Wissensgeschichte der Zukunft. Buchpublikationen (Auswahl): »Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik« (2003); »Das

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Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte« (Mitverf., 2008); »Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten« (Mit-Hg., 2013); »Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne« (2014); »Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens« (Mit-Hg., 2016).

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)

Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

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