Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen: Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte [1 ed.] 9783737015110, 9783847115113

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Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen: Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte [1 ed.]
 9783737015110, 9783847115113

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 33

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

Carsten Gansel / José Fernández Pérez (Hg.)

Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte

Mit 15 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Otto Sander Tischbein (OST), Briefumschlag: pOST an … , 2022, Acrylmalerei, 11 x 21,8 cm (in Privatbesitz). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1511-0

Inhalt

Carsten Gansel / José Fernández Pérez Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

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Michael Meyen Das System der Leitmedien als Profiteur und Verlierer der Corona-Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Detlef Stapf Mediale Konstruktion als Störungsverstärkung . . . . . . . . . . . . . . .

41

Hauke Ritz Die Coronapandemie als ein Krisenphänomen der Neuzeit

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I

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Lothar Schneider Natur stört! Schwierigkeiten mit einem Gegenstand und einer Krise

. . .

71

Daniela Dahn Grundimmunisiert gegen den Mangel an Daten und an Gewissheiten – Die Ausgrenzung der Ungeimpften war ein Schock für die Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Thomas Findeiss Es gibt kein neues Normal (Ein paar sehr persönliche Eindrücke aus der Pandemie-Zeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

II Christina Gansel Angstkommunikation in der Corona-Pandemie: Zum Muster einer sprachlich-kommunikativen Praktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Robert Niemann Prognostische Propheten? Über das zukunftsbezogene Wahrsprechen im Coronadiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Dennis Kaltwasser Antidemokratische Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Hannah Broecker Die Neuvermessung der politischen Landschaft. Störungen und Folge-Störungen der Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 José Fernández Pérez Zur Stigmatisierung einer Lebensphase – Eine gestörte Adoleszenz unter Corona-Bedingungen und ihre Auswirkungen auf den jugendkulturellen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Matthias Braun AIDS-»Verschwörungstheorien« und Erzählungen und ihre Folgen in Politik und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

III Dirk Brauner Von Thebens Pest zur Pandemie – Metaphorologie einer globalen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Hans-Christian Stillmark Heiner Müllers letztes Fragment »Krieg der Viren« . . . . . . . . . . . . . 227 Carsten Gansel Denunziation in Krisenzeiten als systemische Aufstörung? Zu Inszenierungspraktiken eines gesellschaftlichen Phänomens in Literatur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Inhalt

7

Monika Hernik »Es war nur ein einziges Wort: Verbot« – kindliche Lebenswelten in der Pandemie am Beispiel von Uticha Marmons »Das stumme Haus« . . . . . 267 Caroline Rosenthal Was von der Zivilisation übrig bleibt: Postapokalyptische Narrative und die Unvorstellbarkeit der Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Denis Newiak Aus Pandemiefilmen lernen: Wie man Einsamkeit überlebt . . . . . . . . 293 Stephanie Lotzow Ludonarrative Inszenierungen von Pandemien und ihre Rezeption am Beispiel von »The Last of Us« (2013) und »Plague Inc.: Evolved« (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Carsten Gansel / José Fernández Pérez

Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

Nach zwei gerade noch durchgeführten Tagungen im Februar 2020 sahen wir uns ab März 2020 zunehmend in eine Situation versetzt, in der ein Virus das Leben zu bestimmen begann und international Gesellschaften aufzustören schien. Da wir bereits seit 2008 in kultur- und mediengeschichtlicher Perspektive zum »Prinzip Störung« arbeiteten, war absehbar, dass bisher als normal angesehene Verhältnisse sich möglicherweise nachhaltig verändern und gegebenenfalls zerstört würden. Das call for papers (cfp) entstand im März/ April 2020, als die kommenden Entwicklungen noch nicht absehbar waren. Das cfp wurde umgehend publiziert, wenngleich der Zuspruch zu der ins Auge gefassten Tagung – anders als sonst – eher zurückhaltend war. Zudem mussten wir die Tagung wegen der folgenden Lockdowns sowie der Störung des gesellschaftlichen Lebens mehrmals verschieben. Erst Anfang Juli 2021 konnte die Tagung stattfinden, mithin über 14 Monate nach den damals in die Diskussion gebrachten Überlegungen. Damit erkennbar wird, wo wir damals standen, wird das call for papers hier unkommentiert an den Anfang des Bandes gestellt. Die nachfolgenden Überlegungen sind einzig als Fragen formuliert. Eine Beantwortung steht in den meisten Fällen von Seiten der Teilsysteme Politik und Medien sowie den in den Mittelpunkt gerückten Wissenschaftlern aus. Ganz abgesehen davon hat sich an der eingetretenen Situation wenig geändert: Es hat den Anschein, dass bereits die Formulierung von Unsicherheit, die den Fragen eingeschrieben ist, von bestimmten Teilsystemen der Gesellschaft inzwischen als regressiv, ja mitunter gar als »feindlich« eingestuft wird. Auch deshalb sollte eine Position von Jürgen Habermas in Erinnerung gerufen werden. Der hatte vor über 30 Jahren in Verbindung mit Überlegungen zur Rolle von Intellektuellen nicht nur in der alten Bundesrepublik den Hinweis gegeben, dass diese Intellektuellen sich für »verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten« einsetzten und sich dabei an eine »resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit« wandten. Dabei konnten sie sich auf einen »halbwegs funktionierenden Rechtsstaat« und eine Demokratie verlassen, die nur durch das »Engagement der ebenso mißtrauischen wie

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streitbaren Bürger am Leben bleibt«.1 Die Frage, was davon heute noch gilt und was davon übrig geblieben ist, ist keineswegs rhetorisch gemeint.

Ein call for papers im März/April 2020 Im Kontext der Arbeiten an der Universität Gießen ist vor kurzem ein Band zu »Störungen des ›Selbst‹« erschienen, in dem es um die mediale und literarische Konfiguration von lebensweltlichen Störungen geht. Dabei stand die Auseinandersetzung mit Trauma-Erfahrungen im Zentrum.2 Der Band schließt an diverse Darstellungen an, die sich seit 2008 mit der ›Kategorie Störung‹ beschäftigt haben und systemtheoretische Überlegungen von Niklas Luhmann produktiv zu machen suchten. Erste Ergebnisse waren im Rahmen einer DFG-Tagung unter dem Titel »Perturbationen – Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften« diskutiert worden.3 Einen Schub erhielten die Forschungen zu Störphänomenen mit dem 11. März 2011, an dem sich die ›Dreifachkatastrophe‹ aus Erdbeben, Tsunami und Reaktorunglück am Standort Fukushima in Japan ereignete. In der Folge fanden sich weitere Projekte, die den Störfall-Begriff weiter ausarbeiteten und mit Blick auf verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme untersuchten.4 Die nunmehr ins Auge gefasste Tagung geht von der Annahme aus, dass gesellschaftliche Teilsysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kultur, Medien) wie psychische Systeme sich beständig an unterschiedlichen Formen von Störungen abarbeiten. Allerdings erlangt eine Störung erst dann Relevanz, wenn sie als solche wahrgenommen wird und eine Auseinandersetzung mit ihr erfolgt. Auch in dem Fall, da sich wieder Normalität einstellt und gegebenenfalls Entstörungsmaßnahmen erfolgreich waren, können Störungen Spuren in Form von nicht kaschierbaren Brüchen, von Rissen oder aber auch irreversiblen Folgen hinterlassen. In Abhängigkeit von ihrer wahrgenommenen, wirklichen oder inszenierten Intensität werden daher Störungen im individuellen wie im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis gespeichert. Während der Auseinan1 Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990. Leipzig 1990, S. 130–158. 2 Gansel, Carsten (Hrsg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin: de Gruyter 2019. 3 vgl. Gansel, Carsten/Ächtler, Norman (Hg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: de Gruyter 2013; Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Ders. (Hg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4/2014, Göttingen 2014, S. 315–332. 4 Vgl. insbesondere Koch, Lars/Petersen, Christer/Vogl, Joseph (Hg.): Störfälle. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011; Koch, Lars/Nanz, Tobias/Pause, Johannes (Hg.): Imaginationen der Störung. Ein Konzept. In: Behemoth. A Journal of Civilisation 9/2 2016.

Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

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dersetzung und danach können Störungen zu einer Selbstreflexion der Systeme beitragen und zur Überprüfung von gesellschaftlichen Normen oder kulturellen Mustern beitragen. Auf diese Weise geraten die Strukturen von Teilsystemen auf den Prüfstand, wobei es zu einer Neuvermessung und gegebenenfalls zu einer Umstrukturierung kommt. Anders gesagt: Eine Störung kann ein System dazu veranlassen, zu »lernen« und seine Strukturen neu zu koppeln. Grundsätzlich ist davon ausgegangen worden, dass es a) unterschiedliche Intensitätsgrade von Störung gibt, die sich b) in verschiedenen Räumen und c) in einer zeitlichen Dimension vollziehen.5 Fragen nach der Intensität von Störung sind in Verbindung mit den jeweiligen Systemen zu stellen und machen eine Unterscheidung hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität der Störung möglich (Grade, Arten und Formen der Störung). Die Künste als selbstreflexive Medien haben Störungen und ihre Folgen in diachroner Perspektive durchweg zum Gegenstand von Darstellungen gemacht. Ein Beispiel aus der Literatur zu Ende des 20. Jahrhunderts, das als eine erste und direkte Reaktion auf einen eklatanten Störfall gelten kann, ist Christa Wolfs Erzählung »Störfall«, die bereits wenige Monate nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 im Aufbau Verlag erschien. Im Sinne von Niklas Luhmann führte die Wahrnehmung des Reaktorunglücks bei Christa Wolf zu einer tiefgreifenden Selbstirritation. In einem gemeinsam mit Christa Wolf herausgegebenen Band, der fast 25 Jahre später erschien, verweist Günther Uecker auf die Entstehungsgeschichte seiner Aschebilder: »Viele meiner Aschebilder entstanden nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, als ich sprachlich nicht mehr mitteilen konnte, was mich da erschütternd berührte, ich auswich und dachte: wenn ich es versuche, mit Bildern auszudrücken, wird es mir möglich. Der ganze Zyklus der Aschemenschen ist eigentlich aus der Verzweiflung des gefährdeten Seins entstanden.«6 Die Texte von Christa Wolf und die Bilder von Günther Uecker zeigen exemplarisch: Mit dem ›System Kultur‹ existiert einerseits ein gesellschaftliches Teilsystem, in dem über Literatur, Bildende Kunst oder Musik Störungen thematisiert werden. Andererseits können etwa Literatur, Bildende Kunst oder Musik ihrerseits zum Gegenstand von Störungen werden, weil sie gesellschaftlich gesetzte Grenzen überschreiten, existierende ›Vereinbarungen‹ in Frage stellen und Tabus zum Gegenstand von Darstellung machen. Es ist mitzudenken, dass in der ›Aufstörung‹ ein wesentliches Moment des »gesellschaftlichen Auftrags« von Kunst besteht. 5 Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel/Ächtler, Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 31–56, hier: S. 35. 6 Uecker, Günther. In: Wolf, Christa/Ders.: Störfall Aschebilder. Halle/Saale Projekte-Verlag Edition 2010, S. 5.

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Es steht außer Frage, dass die skizzierten Aspekte zur Kategorie Störung wie auch die Beispiele von Christa Wolf und Günther Uecker in besonderer Weise die gegenwärtige Situation seit März 2020 betreffen. Die Corona-Pandemie stellt einen Störfall mit grenzüberschreitenden Wirkungen auf gesellschaftliche Teilbereiche dar. Zudem führt COVID-19 in globaler Perspektive in allen Gesellschaften und ihren Teilsystemen zu Störungen und es besteht gesamtgesellschaftlich die Notwendigkeit, zu reagieren. Kategorisiert man die Pandemie als eine Störung und betrachtet ihre Intensitätsgrade, Orte und die zeitliche Dimension, dann zeigt sich, dass insbesondere Fragen der Topizität eine Rolle spielen, mithin die Frage danach aufkommt, welche Räume von der Störung erfasst werden und in welcher Weise sich die Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten in diesen Räumen verändern. Anknüpfend an die Tendenz der Kartierung globaler Räume und der Untersuchung globaler (Austausch-)Prozesse und (Handlungs-)Strukturen wie sie im Zuge des spatial turn in den letzten Jahren vorgenommen worden sind,7 rücken mit der Corona-Pandemie und den derzeit greifenden Quarantänemaßnahmen verstärkt lokale Strukturen und Raumkonzeptionen in den Blick. Es geht in neuer Weise um Aspekte der Wahrnehmung, um die Ermöglichung oder Verhinderung der Überschreitung von Raumgrenzen, es geraten Wegstrukturen in und Grenzziehungen von Räumen in den Fokus. Damit sind Fragen nach topologischen Strukturen und Semantisierungen aufgeworfen. Unbestreitbar stellen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie massive Eingriffe in die gesellschaftlichen Teilsysteme und ihre systemeigenen Logiken dar. Mit Blick auf den Konnex Pandemie und Raum lässt sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive etwa fragen: – Kommt es mit COVID-19 zu einer topologischen Wende? Im Verständnis vom Raum als Ergebnis und Ausdruck sozialer Beziehungen wirkt die Pandemie als Störmoment und Auslöser für eine Neuaushandlung konventionalisierter Auffassungen von und Umgangsweisen mit Räumen. – Mit der Störung durch COVID-19 greifen neue Regelungen zur Nutzung von Räumen, denen sich der Einzelne nicht entziehen kann, wie Ausgangssperren und Quarantänezonen, die Neubestimmung von Raum-Personen-Relationen, die Ablösung physischer durch mediale, mithin virtuelle und erzählte Räume. – Es lassen sich neue Formen räumlicher Wahrnehmungen beobachten, etwa die Wohnung als Gefängnis, das Naherholungsgebiet als Tabu-Zone, die Virtualität als Bedingung des Sozialen. Damit ist eine Verschiebung von dyna-

7 Vgl. u. a. Günzel, Stephan: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. Bielefeld: transcript 2017; Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2006.

Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

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mischen zu statischen Prozessen, von Mobilität zu Immobilität und Isolation verbunden. Grundsätzlich kommt es zu Veränderungen in der phänomenologischen Wahrnehmung lebensweltlicher Erfahrungsstrukturen (Präfiguration), die wiederum Folgen für die Konfiguration literarischer Räume und ihre Rezeption haben können. Von den durch die Pandemie ausgelösten Eindämmungsmaßnahmen sind auch gesellschaftliche Kommunikationsformen in den Räumen betroffen. Es ist zu beobachten, dass mit dem sozialen Rückzug in isolated spaces8, also in Räume, in denen sich nur eine begrenzte Personenzahl aufhält, es zu einer Verschiebung der kommunikativen Funktionen kommt – tendenziell von persönlich zu unpersönlich, von referentiell zu phatisch. Ein Beispiel dafür sind Gruppen-Videochats (u. a. Zoom, Cisco Webex, Jitsi), in denen die Teilnehmenden Übertragungsstörungen thematisieren und die Diskussion von Inhalten durch Rückmeldesignale überlagert werden kann. Leidtragende der Isolationsmaßnahmen sind auf der einen Seite insbesondere ältere Menschen, da sie den Wegfall physischer sozialer Kontakte in den seltensten Fällen durch elektronische Verbindungs- bzw. Vernetzungsformen ersetzen können, sodass die Gefahr der Vereinsamung besteht. Auf der anderen Seite sind die Handlungsmöglichkeiten etwa von jungen Leuten, die gerade in der Phase der Adoleszenz ihre Spiel- und Möglichkeitsräume benötigen, radikal eingeschränkt. Grundsätzlich geraten Teile der Gesellschaft und unterschiedliche Berufsgruppen sowie ein nicht geringer Teil der Arbeitnehmer in zunehmend existenzielle Notlagen. Dies betrifft nicht zuletzt jene, die in besonderer Weise für das ›System Kultur‹ stehen, unter anderem Literaturschaffende, Bildende Künstler, Musiker, Schauspieler, Eventmanager, Tontechniker. Und was sich durchweg zeigt: Die Corona-Pandemie trifft die »ohnehin benachteiligten Menschen besonders hart«. Anders gesagt: Das Virus vertieft die Spaltung der Gesellschaft.9 Hinzu kommt: In Mikrotopoi,10 also in kleinen Orten, deren Ein- und Ausgang zeitlich begrenzt ist – vergleichbar mit den von Michel Foucault entworfenen 8 Vgl. Kirchmeier, Christian: Generation unsichtbar. SZ vom 06. Juni 2020. (letzter Zugriff: 14. 08. 2021). 9 Hütten, Felix/ Roßbach, Henrike: Ein Virus spaltet die Gesellschaft. SZ, 20./21. Juni 2020. 10 Den Begriff Mikrotopoi hat Christian Kirchmeier 2020 in einer Vortragsreihe genutzt, die von Florian Lippert an der Universität Groningen wurde. Siehe Dr. Florian Lippert has organized a lecture series on the Corona crisis for the chair group European Culture and Literature at the University of Groningen, vgl. (letzter Zugriff: 08. 06. 2022). Einige der Überlegungen in cfp gehen auf diese Diskussion zurück. Siehe auch Kirchmeier, Christian: Was sind Mikrotopoi? Mit einem Exkurs zur literarischen Anthropologie des Liftboys. Vorgetragen bei der Tagung »Mikrokosmen. Zum Verhältnis von Par-

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Heterotopoi – ist Kommunikation tendenziell von »high-risk«-Qualität: Die Kommunikation ist hier eher von Spannungen und Eskalationen geprägt als in weitläufigen, frei zugänglichen Räumen, da ein Rückzug der Sprecher kaum möglich ist. Die Kommunikationsveränderungen zeigen sich insbesondere in Ballungsräumen/Großstädten (u. a. Wohnungen, Supermärkten, ÖPNV) bei Andauern des Lockdowns. Neben den genannten Folgen wirkt die Corona-Pandemie als massiver Störfaktor auf sämtliche Interaktionssysteme, Organisationssysteme und funktionalen Teilsysteme der (deutschen) Gesellschaft ein. Insbesondere das System Wirtschaft ist von den drastischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus (u. a. Produktionsstopps, Kurzarbeit, Geschäftsschließungen) betroffen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben zahlreiche Verhaltensveränderungen der Konsumenten zur Folge: Dazu gehören die Einschränkung und Verzögerung von Konsum, der Wechsel zu/die Präferenz von Online-Käufen sowie die Anpassung der Konsumgüter. Mit Blick auf die Wirtschaft und den Konsum ist von einem Phasenverlauf die Rede: nach der zunächst einsetzenden Panikphase folgte der Übergang in die Anpassungsphase. Es steht die Frage, ob und in welcher Weise sich eine Renormalisierungsphase anschließt. In aktuellen Beschreibungen ist davon die Rede, dass eine Rückkehr zum Status des ›Davor‹ unwahrscheinlich erscheint: »Das neue ›Normal‹ wird durch ein schwieriges wirtschaftliches Umfeld und knappere Verbraucherbudgets gekennzeichnet sein. Darauf werden sich Händler und Hersteller einstellen müssen«, so Petra Süptitz.11 Mit diesen Phasen ist ein Verlauf skizziert, der die typische (sich immer wieder aufs Neue einstellende) Prozesshaftigkeit von Störungen spiegelt. Denn grundsätzlich gilt, dass Störungen stets mit dem Bemühen von Systemen einhergehen, Normalität zu erhalten oder in dem Fall, da diese aus dem Gleichgewicht gerät, sie möglichst schnell wiederherzustellen.12 Neben den angedeuteten negativen Folgen ist zu überlegen, ob es auch gesellschaftliche Teilsysteme gibt, die von der Pandemie ›profitieren‹ und in welcher Weise. Umfragen belegen, dass Teile des Systems Politik verstärkt im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, wie dies nur in offensichtlichen Krisenzeiten und Ausnahmezuständen der Fall ist und daher (zeitweise) an symbolischem Kapital gewinnen. Die Eindämmungsmaßnahmen der Pandemie sind von einer nahezu explodierenden Kommunikation über die Krise begleitet. Es sind Faktoren wie die Neuartigkeit und das Überraschungsmoment des Virus, das dramatische Ausmaß seiner Folgen (gesundheitlich, ökonomisch, gesellschaftlich) und die tikularität und Repräsentationsansprüchen in Literatur und Literaturwissenschaft«. Forschungskolleg Bad Homburg, 28.–30. 04. 2016. 11 Vgl. GfK: Ein Drittel der Deutschen will weniger ausgeben. In: (letzter Zugriff: 27. 05. 2020). 12 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013.

Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

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weltweite Betroffenheit, die die Intensität der medialen Bearbeitung – von Beginn der Krise dominiert Corona die mediale Berichterstattung – erklärt. Insofern ist das Mediensystem in gewisser Weise ›Profiteur‹ der Störung, anderseits als wirtschaftlich agierende Unternehmen aber auch von den genannten negativen Folgen betroffen. Schließlich gewinnen Teile des ›Systems Wissenschaft‹ in einer Weise Bedeutung, wie das unter ›normalen‹ Verhältnissen nur selten der Fall ist. Ausgehend von den skizzierten Aspekten und der Position, dass die CoronaPandemie als Auf- bzw. Verstörung sämtliche gesellschaftliche Teilsysteme beeinflusst, ergeben sich für das Handlungs- und Symbolsystem Literatur folgende mögliche Fragestellungen: – Folgen für die ›Handlungsrolle Produktion‹: (A) Die Corona-Pandemie als literarisches Motiv und Auslöser von Selbstinszenierungen. Essayistische und journalistische Formen der Auseinandersetzung mit der Pandemie sowie ihrem Störungspotential, dazu gehören auch Reflexionen und Kommentare zu Schreibprozessen von Autoren in Online-Blogs, Zeitungen und Zeitschriften; bereits eine Woche nachdem der Lockdown verfügt wurde, gingen in den Verlagen Manuskripte zum Thema COVID 19 ein. – Folgen für die ›Handlungsrolle Produktion‹: (B) Die Pandemie als Auslöser für die Neuaushandlung etablierter erzähltheoretischer Konzepte, insbesondere von erzählten und virtuellen Räumen: (Mikro-)Topoi; Formen und Prozesse der Isolation; Aspekte der Ermöglichung bzw. Verhinderung von Räumen; neuartige Formen von Wegestrukturen und Grenzziehungen von Räumen. – Folgen für die ›Handlungsrolle Distribution‹: Die Aspekte die Literaturvermittlung betreffen Formen der Wahrnehmung und Reaktion auf die Pandemie durch Akteure wie Verlage, Lektoren, Archive und die Literaturkritik. – Folgen für die ›Handlungsrolle Rezeption‹: Führen die Veränderungen/Modifizierungen in den Raumstrukturen und Kommunikationsformen zu Veränderungen im Rezeptionsverhalten der ›Konsumenten‹ und wenn ja, in welcher Weise. Möglich ist eine Verschiebung des medialen Rezeptionsverhaltens, insbesondere mit Blick auf den Film – das Virus bzw. die Pandemie als Motiv und Vermittlungsstrategie mit einer besonderen Affinität zum dystopischen Film. – Untersuchungen zum ›Symbolsystem Literatur‹ können literaturgeschichtlich ausgerichtet sein: Zu fragen ist in diachroner Perspektive, welche literarische Formen der Inszenierung von Störungen in literarischen Texten oder Filmen sich angesichts früherer Pandemien, Seuchen und Infektionskrankheiten finden und welche ›Bewältigungsstrategien‹ angeboten werden. Angefangen bei der Pest (›Schwarzer Tod‹) über die Spanische Grippe sodann zu H1N1 bzw. ›Schweinegrippe‹ und zu HIV.

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Zwischenergebnisse im Juni 2022 Nach mehr als zwei Jahren Corona-Krise steht die Frage, inwieweit die unterschiedlichen Teilsysteme von Gesellschaft angemessene Entstörungsmaßnahmen getroffen haben und ob aus den zahlreichen Irritationen im Sinne von Niklas Luhmann Lernprozesse angestoßen wurden. Nimmt man den aktuellen Stand, dann stellen sich – wirft man einen Blick auf die Bereiche von Politik, Wissenschaft, Medien – zahlreiche Fragen, die nachfolgend von den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen wie Medien- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Medizin, Gesundheitswirtschaft oder Kultur- und Literaturwissenschaft zu diskutieren wären. Dies betrifft nicht zuletzt den Bericht, den eine von der Bundesregierung beauftragte Expertenkommission im Juni 2022 vorgelegt hat. Der Bericht zur »Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik« hat einen Umfang von 160 Seiten.13 Bereits zu Beginn muss die Expertenkommission konstatieren: »Die Erfüllung des Auftrags und Anspruchs durch die Evaluationskommission wurde erheblich dadurch erschwert, dass sie zur Bewertung der auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützten Maßnahmen erst im Nachhinein aufgefordert wurde. Ferner fehlte eine ausreichende und stringente begleitende Datenerhebung, die notwendig gewesen wäre, um die Evaluierung einzelner Maßnahmen oder Maßnahmenpakete zu ermöglichen.«14

Die Frage, warum in Deutschland angesichts der erlassenen Maßnahmen mit Schulschließungen und Lockdowns weder eine hinreichende Datenerhebung, noch eine begleitende Evaluation erfolgt ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Bereits mehrfach war in der Vergangenheit in einigen wenigen Beiträgen davon die Rede, dass Deutschland sich im Zustand eines »Blindflugs«15 befindet. In der »Berliner Zeitung« wird der Intensivmediziner Christian Karagiannidis zitiert, der den Zustand der Erfassung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten als »Sinkflug«16 bezeichnet. In verschiedenen Medien wurde daher die Frage gestellt: »Handelt es sich um politische Absicht oder Unfähigkeit?«17 Betrachtet man den Bericht der Expertenkommission, so fällt das Urteil 13 Vgl. (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). 14 Ebd., S. 8. 15 Pennekamp, Johannes: Skandalöse Datenlücke. Im Corona-Blindflug. FAZ Ausgabe vom 10. 02. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). 16 Vgl. Schwager, Christian: Blindflug in den Corona-Herbst: Ist Deutschland nur unfähig oder unwillig? In: Berliner Zeitung, Ausgabe vom 10. 06. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). 17 Ebd.

Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

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zu sämtlichen von der Bundesregierung eingeleiteten Maßnahmen einerseits ausgesprochen vage aus. Anderseits wird durchweg betont, dass man zur Wirksamkeit der Maßnahmen wenig sagen kann, mithin nicht klar ist, ob es einen Effekt im angestrebten Sinne gibt. So heißt es zu Schulschließungen: »Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen, auch, weil im schulischen Bereich eine Reihe von Maßnahmen gleichzeitig eingesetzt wurden und damit der Effekt von Einzelmaßnahmen nicht evaluiert werden kann. Die deutlichen wissenschaftlichen Beobachtungen und Studien zu nicht-intendierten Wirkungen sind wiederum nicht von der Hand zu weisen. Da Kinder durch Schulschließungen besonders betroffen sind, sollte eine Expertenkommission die nicht-intendierten Auswirkungen dieser Maßnahmen unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls genauer evaluieren.«18

Zur Maskenpflicht kommt die Expertenkommission zu einem vergleichbaren Ergebnis. »Die Kombination von epidemiologischen Erkenntnissen und tierexperimenteller Bestätigung lässt die Schlussfolgerung zu, dass das Tragen von Masken ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein kann«19, heißt es mit dem einschränkenden Modalverb »kann«. Und ergänzend wird notiert: »Eine schlechtsitzende und nicht enganliegende Maske hat jedoch einen verminderten bis keinen Effekt.«20 Auch zu den rechtlichen Grundlagen der verfügten Einschränkungen macht der Bericht Aussagen. Es sei an dieser Stelle verzichtet, darauf einzugehen. Betrachtet man die seit zwei Jahren greifenden Maßnahmen, dann stellen sich weitere Fragen, die hier nur angedeutet werden können: – Neben diesen skizzierten Aspekten ist zu bedenken und durch Evaluation herauszustellen, welche sozialen und psychischen Schäden die nachwachsende Generation zu tragen hat?21 Welche Auswirkungen haben Maßnahmen wie Lockdowns sowie Kita- und Schulschließungen für die Entwicklung der

18 Vgl. (letzter Zugriff: 19. 07. 2022), S. 12–13. 19 Ebd., S. 13 20 Ebd. 21 Vgl. Plötner, Maria/Moldt, Katja/ In-Albon, Tina, Schmitz, Julian: Einfluss der COVID-19Pandemie auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. In: Psychotherapie. (letzter Zugriff: 11. 07. 2022). Rostalski, Frauke/Reese, Nicole: Entlasst die Kinder aus der Maßnahmen-Politik! Welt, 10.07.22 (letzter Zugriff: 11. 07. 2022); Zittlau, Jörg: »Wir sind dagegen, dass Kinder jetzt wieder Maske tragen sollen«. In: Welt, 24.06.22 (letzter Zugriff: 11.07. 2022).

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Kinder und Jugendlichen?22 Vergleichbares gilt – wie bereits im cfp formuliert – für die ältere Generation. – Wie verhältnismäßig und grundgesetzkonform sowie mit dem Gleichbehandlungsgesetz vereinbar sind – so wird in der Süddeutschen Zeitung und der FAZ gefragt23 – die mit den sogenannten 2- bzw. 3-G-Regelungen verbundenen Zugangsprivilegien und -einschränkungen in dem Fall, da die Impfung keinen relevanten Eigen- und Fremdschutz gewährleisten kann und die von der Bundesregierung und dem RKI zur Verfügung stehende Datenlage keine hinreichende Kausalität für eine erhöhte Infektionsgefahr im Einzelhandel als Begründung liefert? – Gesundheitsminister, Karl Lauterbach, hat in Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen der Impfung in zahlreichen Talkshows, Presseinformationen sowie über Twitter beständig die »nebenwirkungsfreie Impfung«24 herausgestellt. Gegenteilige Positionen sowie Anfragen wurden von ihm als »Verschwörungstheorie« aus dem Lager der »Querdenker« und »Impfgegner« eingeordnet. Inzwischen wird in der Öffentlichkeit vermehrt diese Position in Frage gestellt.25 Auch Teile der Medien sprechen von einer Untererfassung der Impfnebenwirkungen, einer noch ungenauen Datenlage über die Risiken einer nur notzugelassenen Impfung sowie die sogenannten Impfdurchbrüche.26 Angesichts dieser 22 Christine M. Freitag, Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Goethe Universität, verweist auf eine Kausalität von Angst- und Essstörungen sowie Depressionen und den staatlich beschlossenen Maßnahmen und widerspricht der Darstellung des Gesundheitsministers Karl Lauterbach vgl. Schmidt, Lucia: Lockdown-Folgen für Kinder. »Es gibt mehr Ängste«. In: FAZ, 15. 01. 2022 (letzter Zugriff: 11. 07. 2022). 23 Vgl. Heunemann, Falk: Gericht: Corona-Verordnung verstößt wohl gegen Grundgesetz. In: FAZ vom 30.09.21. (letzter Zugriff: 08. 06. 2022); Janisch, Wolfgang: Der stärkste Trumpf sticht nicht mehr. In: SZ vom 20.12.21 (letzter Zugriff: 08. 06. 2022). 24 Vgl. Twitter-Beitrag vom 13. 08. 2021 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). 25 Vgl. Debionne, P.: Karl Lauterbach: Aussagen zu Impfschäden sorgen für Aufsehen. In: Berliner Zeitung, 21.06.22 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022); Lorenz, Anna: »Sollte keine Approbation haben«: Corona-Experte geht Lauterbach nach Impf-Tweet heftig an. Merkur.de, 27. 06. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). 26 Vgl. Von Lutteroti, Nicola: Risiken und Nebenwirkungen. Was der Streit um die Daten zur Corona-Impfung verrät. In: FAZ, 02. 03. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022); Ganster, Monika: Corona-Impfung. Immunisierung mit Folgen. FAZ,

Der »Störfall Pandemie« und seine Folgen – Vorbemerkungen

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Tatsachen ist zu fragen, ob die politische Entscheidung, die Impfung als Game Changer zu deklarieren, eine angemessene Entstörungsmaßnahme darstellt. Ganz abgesehen davon, dass in Verbindung damit ganzen Berufsgruppen eine Verpflichtung zum Impfen vorgegeben wird, die im Falle der Weigerung zur Entlassung führt. Am 20. Juli 2022 räumt das Gesundheitsministerium über Twitter nunmehr mögliche schwere Nebenwirkungen durch die Impfung ein. Sollte sich diese Erkenntnis in Zukunft bestätigen, ist davon auszugehen, dass dies gegebenenfalls justiziable Folgen hat. – In einer Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 7. Juni 2022 wird von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser der Verfassungsschutzbericht 2021 vorgestellt.27 In dem Bericht findet sich ein neuer »Phänomenbereich«, der als »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« bezeichnet wird. Eingerichtet wurde der neue »Phänomenbereich«, so heißt es, im April 2021. Die Akteure, die diesem »Phänomenbereich« zugeordnet werden, würden versuchen, »wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.«28 Es steht die Frage, ob Personen, die auf die inzwischen erwiesenen Impfnebenwirkungen zu einem Zeitpunkt hingewiesen haben, da diese durch den Gesundheitsminister, staatliche Institutionen sowie die Bundesregierung beratende Wissenschaftler als nicht gegeben eingeordnet wurden, vom Verfassungsschutz diesem »Phänomenbereich« zugeordnet werden. Sollte es sein, dass die für die Entwicklung der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen maßgebliche Protestkultur auf diese Weise aufgehoben wird und es zur Delegitimierung von Kritik kommt? – Betrachtet man die Entwicklungen in der Europäischen Union, dann finden sich in Teilen der Medien wie auch der Öffentlichkeit zunehmend Fragen, die 02. 02. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022); Becker, Kim Björn: Post-VAC-Syndrom. Wenn die Corona-Impfung krank macht. In: FAZ, 14. 06. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022); Joeres, Annika: CoronaImpfschäden. »Ein körperliches und psychisches Wrack«. In: Zeit Online, 23. 06. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). 27 (letzter Zugriff: 20. 07. 2022). 28 Ebd., S. 24.

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nach der Vertrauenswürdigkeit der politischen Klasse insgesamt fragen. So wird berichtet, dass die EU-Präsidentin Ursula von der Leyen »im Vorfeld der Unterzeichnung eines milliardenschweren Kaufvertrags mit dem Pharmariesen Pfizer via SMS oder Messenger mit CEO Albert Bourla kommuniziert haben (soll)«.29 Der Beitrag notiert, dass von der Leyen »offenbar derzeit keine Auskunft über ihre Kommunikation per SMS oder Messenger mit dem Chef des Pharmakonzerns Pfizer geben (möchte)«.30 In spanischen Medien ist – dies ein anderes Exempel – davon die Rede, dass Impfzertifikate und -produkte im Zuge der »Operation Jenner« von mehr als zwei Tausend prominenten Persönlichkeiten, unter ihnen der Chef eines renommierten PharmaKonzerns, der selbst Covid-Medikamente hergestellt, falsch ausgestellt und Impfpässe gekauft worden seien.31 Die hier aufgelisteten Fragen konnten in den Beiträgen, die aus medien- und sozialwissenschaftlicher, linguistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive dem »Störfall Pandemie« nachgehen, noch keine Rolle spielen. Es sind weitere Forschungen in transdisziplinärer Perspektive notwendig. Insofern handelt es sich bei dem hier vorliegenden Band um einen ersten Versuch, den durch die Pandemie ausgelösten Störungen auf die Spur zu kommen. Weitere Forschungen werden die hier skizzierten Befunde zu ergänzen oder/und zu korrigieren haben. Wir danken Thomas Findeiss, der bei der Tagung auch aus seinem neuen Roman »Suun City« gelesen hat, für die Abdruckgenehmigung seines Beitrages. Daniela Dahn danken wir für die Möglichkeit, ihren erstmals in der »Berliner Zeitung« publizierten Essay aufzunehmen. Dem DAAD danken wir für Unterstützung. Mit Hans-Christian Stillmark hat es am 31. Juli 2021 den letzten Kontakt gegeben. Es war dies der Tag, an dem er erfuhr, dass er schwer erkrankt ist. Am 25. August 2021 verstarb er nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 67 Jahren. Wir verlieren mit Hans-Christian einen guten Kollegen und Freund. Der vorliegende Band ist ihm gewidmet. Carsten Gansel und Jose Fernandez Perez, Gießen im Juli 2022

29 EU-Impfstoffdeal: Von der Leyen schweigt zu SMS-Kommunikation mit Pfizer. In: Berliner Zeitung, 13. 12. 2021 (letzter Zugriff: 20. 07. 2022). 30 Ebd.; vgl. auch Steinvorth, Daniel: Ursula von der Leyen bekommt schon wieder Ärger wegen ihrer Handydaten. In: NZZ vom 28. 01. 2022 (letzter Zugriff: 20. 07. 2022). 31 Durán, Luis F.: El presidente de PharmaMar, entre los más de 2200 falsos vacunados de Covid. In: El Mundo, 25. 05. 2022 (letzter Zugriff: 19. 07. 2022).

I

Michael Meyen

Das System der Leitmedien als Profiteur und Verlierer der Corona-Störung

1.

Einleitung

Die Begriffe im Titel dieses Beitrags nehmen Anregungen aus dem Call for papers für die wissenschaftliche Tagung im Rahmen der 12. Hans Werner Richter Literaturtage auf. Dort ist gefragt worden, ob es neben den »negativen Folgen« der Corona-Störung (etwa: existenzielle Not, Spaltung der Gesellschaft oder »Virtualität als Bedingung des Sozialen«) »auch gesellschaftliche Teilsysteme gibt, die von der Pandemie profitieren« – und (wenn ja) »in welcher Weise«. Wie immer, wenn es um Gewinnen und Verlieren geht, hängt die Antwort vom Bewertungsmaßstab ab – hier von den Normen, die den Blick auf die Leistungen des Mediensystems leiten. Ich werde deshalb zunächst das Spannungsfeld zwischen der Funktionalität aus systemtheoretischer Perspektive, ökonomischen Imperativen und den Anforderungen skizzieren, die sich aus demokratietheoretischer Sicht für den Journalismus ableiten lassen, und dabei auch definieren, was ich unter Leitmedien verstehe. In einem zweiten Schritt beschreibe ich den Status quo ante, um anschließend die Folgen der Corona-Störung herausarbeiten zu können. Dabei zeige ich erstens, dass die Reaktionen des Systems Entwicklungen verstärkt haben, die schon vorher zu beobachten waren, und erkläre so zweitens, dass die Leitmedien seit März 2020 auch deshalb zum Gehilfen von Politik und Pharmaindustrie werden konnten, weil sie Profit aus der Krise gezogen haben. Damit ist zugleich gesagt, was dieser Beitrag nicht liefert. Ich verzichte hier auf eine Analyse der Corona-Berichterstattung und fasse dafür in einer Art Prolog in Thesenform das zusammen, was ich an anderer Stelle ausführlich und mit Belegen diskutiert habe (Stand: Februar 2021):1 – Das Thema war seit Anfang 2020 omnipräsent und hat nahezu alle anderen relevanten Fragen aus der Öffentlichkeit verdrängt. Andere Krankheiten, der 1 Meyen, Michael: Die Medien-Epidemie – Journalismus, Corona und die neue Realität. In: Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand. Hrsg. von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft. Wien: Promedia 2021, S. 99–115.

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Hunger auf der Welt, die Umwelt. Alles Dinge, die wir diskutieren müssen. Außerdem wurde und wird nicht zwischen dem Virus und den ›Maßnahmen‹ der Politik unterschieden. Das heißt: Der Journalismus entzieht staatliches Handeln und die entsprechenden Akteure jeder Kritik. – In der Realität der Leitmedien dominieren Einzelschicksale, eine überschaubare Zahl von Expertenstimmen, die den Regierungskurs unterstützen (Virologen als ›Wahrsager‹, der SPD-Politiker Karl Lauterbach als ›Einpeitscher‹), sowie Zahlen, die nicht hinterfragt und auch nicht eingeordnet werden. – Gegenstimmen und öffentliche Proteste werden in den Leitmedien entweder unterdrückt oder delegitimiert. Das Konzept der Störung erlaubt mir, durch eine andere Brille auf Befunde zu schauen, die dem deutschsprachigen Journalismus ein schlechtes Zeugnis ausstellen, und so im Wortsinn die Systemfrage zu stellen.

2.

Das System der Leitmedien

Niklas Luhmann war egal, was genau die Massenmedien berichten. Die Funktion, die er diesem sozialen Funktionssystem zugeschrieben hat, ist völlig unabhängig von konkreten Inhalten. Niklas Luhmann sagt: Die Massenmedien erzeugen das »Gedächtnis« der Gesellschaft. Man kann das sogar noch zuspitzen. Bei ihm gibt es die Massenmedien nur, weil wir so etwas wie ein ›Gedächtnis für alle‹ brauchen. Einen Schatz an Gemeinsamkeiten, auf den wir selbst dann zurückgreifen können, wenn wir unser Gegenüber noch nie gesehen haben. Luhmann sagt, dass das »System Massenmedien« Information »so breit« streue, »dass man im nächsten Moment unterstellen muss, dass sie allen bekannt ist (oder dass es mit Ansehensverlust verbunden wäre und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war)«. Auf diese Weise entstehe eine »zweite, nicht konsenspflichtige Realität« – ein »Hintergrundwissen«, von dem man bei jeder Kommunikation ausgehen könne. Der Satz, mit dem er sein Büchlein über »Die Realität der Massenmedien« eingeleitet hat, gehört heute fast schon zur Allgemeinbildung: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«.2 Das heißt: Wir können die Realität der Massenmedien auch dann nicht ignorieren, wenn wir ihr punktuell widersprechen oder die Berichterstattung generell für unglaubwürdig halten. Massenmedien wirken, weil wir unterstellen müssen, dass alle anderen das Gleiche gesehen, gelesen, gehört haben und ihre 2 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 9, 43, 120–122.

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Einstellungen und ihr Verhalten entsprechend ändern werden. Dieses Muss steht nur hier. Außerhalb sehr spezieller Kreise erwartet niemand, dass wir über YouTube-Hitlisten sprechen können oder über die Trends auf Twitter, wie heiß die Maschine dort auch immer gelaufen sein mag. Mit Luhmanns Gedächtnis-Metapher lässt sich auch sagen, was genau Massenmedien sind. Eigentlich geht es um Leitmedien – um die Plattformen, die große Gruppen erreichen und die vor allem (das ist wichtiger) dort registriert werden, wo es darauf ankommt. Im Rathaus und in der Staatskanzlei, in der Chefetage, in der Hochschulleitung, in der Vereinsspitze. Die Wucht der Leitmedien entspringt einer Projektion. Die Forschung spricht hier vom »Third Person Effect« oder von »influence of presumed influence«3. Diejenigen, die das Sagen haben, glauben, dass wir alle wissen, was da gemeldet wurde. Das wäre nicht weiter bedenklich, aber dieser Glaube hat eine zweite Komponente: Leitmedien sind mächtig. Warum sollten Ministerinnen zurücktreten, Bundesligatrainer, VW-Manager, wenn sie nicht befürchten würden, dass negative Berichte etwas machen mit ihrem Ansehen, mit ihrem Handlungsspielraum? Wir nehmen an, dass Medieninhalte in die Köpfe gehen – nicht bei uns (wir sind schließlich aufgeklärt), aber bei den anderen. Ob das stimmt, spielt keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle, was die Wissenschaft zu diesem Thema weiß. Entscheidend ist, dass wir an solche Wirkungen glauben. Das Thomas-Theorem: »If men define situations as real, they are real in their consequences«.4 Wir selbst machen aus den Leitmedien eine Realität erster Ordnung. In Luhmanns Funktionsbestimmung ist der Wunsch angelegt, in den Leitmedien präsent zu sein und dort vor allem Lob zu ernten. Nick Couldry, ein britischer Medienforscher, glaubt, dass Medienpräsenz die »versteckten Verletzungen« heilt, die entstehen, wenn das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit nicht befriedigt wird. Dass diese Medizin tatsächlich wirkt, erklärt Couldry mit einem Mythos. Genau genommen handelt es sich um zwei Mythen, die miteinander verwoben sind, weil Medienleute genauso daran stricken wie die Politik und andere Eliten. Erstens behauptet allein das Format, in dem die Leitmedien daherkommen, dass es so etwas wie eine Wahrheit gibt oder einen natürlichen Mittelpunkt des Universums. Und zweitens führt der Weg zu diesem Zentrum nur über die Leitmedien. Der Kern unseres Lebens: Das ist das, worüber angeblich berichtet wird. Medienmacht ist in dieser Lesart symbolische Macht. Wer Zugang zu den Leitmedien hat, bestimmt unser Leben. Er bestimmt, wer zum Zentrum gehört (und wer nicht) und was als Realität durchgeht (und was nicht). 3 Vgl. Davison, W. Phillips: The Third Person Effect in Communication. In: Public Opinion Quarterly 47, 1983, S. 1–15; sowie Gunther, Albert C./Storey, J. Douglas: The Influence of Presumed Influence. In: Journal of Communication 53, 2003, S. 199–215. 4 Thomas, William I./Thomas, Dorothy S.: The Child in America. Behavior Problems and Programs. New York: Alfred A. Knopf 1928, S. 572.

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Er bestimmt, wie wir die Welt ordnen und mit welchem Vokabular wir sie beschreiben können (und wie nicht). Und er bestimmt, was Alltag ist (all das, was es nicht in die Leitmedien schafft).5 Diese symbolische Macht der Leitmedien ist eine Verführung für alle, die das nötige Kleingeld haben oder über andere Daumenschrauben verfügen. Ulrich Beck hat »Herrschaftsverhältnisse« als »Definitionsverhältnisse« beschrieben. Macht: Das heißt für Beck heute, Risiken sichtbar machen oder buchstäblich verschwinden lassen zu können. Das heißt auch, Risiken gegeneinander auszuspielen. Der Finanzmarkt ist wichtiger als das Klima, der Terrorismus ist wichtiger als Transparenz im Netz, die Gesundheit aller ist wichtiger als meine ganz persönliche Freiheit, veröffentlichen zu dürfen, was ich für richtig halte. Regierungen und nationale Apparate, sagt Ulrich Beck, haben ein Interesse an Relativierung und Unsichtbarkeit, weil globale Risiken nicht nur unser Leben und unsere Selbstbestimmung bedrohen, sondern auch den Nationalstaat. »Das impliziert: Die Politik der Unsichtbarkeit ist eine erstklassige Strategie zur Stabilisierung staatlicher Autorität und zur Reproduktion der sozialen und politischen Ordnung, für die es darauf ankommt, die Existenz globaler Risiken [zu leugnen]«.6

Ich hoffe, dass Ulrich Beck heute ein Verb ergänzen würde: Staatliche Autorität kann Risiken auch erzeugen, wenn die Leitmedien mitspielen. Die Störung Corona hat Ulrich Becks Diagnose von der »Metamorphose der Welt« bestätigt, aber ganz anders als von ihm gedacht. Ja: Es gab »Fernsehbilder alltäglichen Entsetzens« und sogar so etwas wie eine »Weltkommunikation«,7 das Internet aber und die digitalen Plattformen waren in dieser Geschichte allenfalls Nebendarsteller. Die Regierenden haben über die Leitmedien ein »Killervirus« im Gedächtnis der Gesellschaft platziert, ein »Narrativ« (man könnte auch sagen: ein Märchen) mit vier »erzählerischen Grundelementen«: erstens »eine einzigartige Ausnahmesituation« (ein »tödlicher Erreger«, der mit anderen Viren nicht vergleichbar ist), zweitens »das lückenlose Kontaktverbot« als Gegenmittel, drittens die Verleumdung von allen, die nicht an eins und zwei glauben (»unsolidarisch, zynisch oder unmoralisch«), und viertens die Impfung als »einziger Ausweg aus der Krise«.8 Jetzt wissen wir (und haben es schon vorher längst geahnt), dass die »Mächtigen« (eine große Koalition »aus Experten, Industrie, Staat, Parteien und etablierten Massenmedien«) auch das steuern können, was Ulrich Beck »Neben5 Couldry, Nick: Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity Press 2012, S. 67. 6 Beck, Ulrich: Die Metamorphose der Welt. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 129, 134. 7 Ebd., S. 32, 170. 8 Arvay, Clemens G.: Wir können es besser. Wie Umweltzerstörung die Corona-Pandemie auslöste und warum ökologische Medizin unsere Rettung ist. Köln: Quadriga 2020, S. 55f.

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folgenöffentlichkeiten« nennt – die Orte, wo die Probleme angesprochen und diskutiert werden können, die der »Mainstream der national organisierten Fortschrittsöffentlichkeit produziert«.9 Was immer Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi, Bodo Schiffmann, Thomas Berthold oder weniger prominente Stimmen seit dem Frühjahr 2020 gegen das Killervirus-Narrativ einzuwenden hatten, wurde in den Leitmedien entweder ignoriert oder lächerlich gemacht. Bei Vorträgen habe ich immer wieder gemerkt, dass es gut ist, diese Selbstverständlichkeit klarzustellen: Nein, die Nachrichten sind kein Spiegel der Wirklichkeit, nicht einmal ein schlechter. Wenn wir Leitmedien nutzen, dann beobachten wir Definitionsmachtverhältnisse. Wer bringt seine Themen, seine Sicht der Dinge in die Öffentlichkeit? Wen kann ich gefahrlos zitieren, auf wen oder was kann oder muss ich mich berufen? Welche Begriffe sind angemessen und welche nicht? Wenn die Leitmedien sagen, dass es einen Virus und eine Krankheit gibt, vor denen ich Angst haben sollte, dann muss ich das ernst nehmen, weil es die ernst nehmen, die über mein Leben entscheiden. Gesetzgebung, Rechtsprechung (vor allem: das Bundesverfassungsgericht) und Demokratietheorie weisen den Leitmedien andere Funktionen oder Aufgaben zu als Niklas Luhmann (Gedächtnis der Gesellschaft), Nick Couldry (Weg zum angeblichen Zentrum des Lebens) oder Ulrich Beck (Spiegel der Definitionsmachtverhältnisse). Der Journalismusforscher Horst Pöttker hat die einschlägige Literatur auf eine Formel verdichtet und vom »gesellschaftlichen Auftrag« Öffentlichkeit gesprochen. Dieser »Auftrag« wurzelt im Pluralismusmodell: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die prinzipiell gleichberechtigt sind (die Interessen von Einzelpersonen und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder Verbänden organisiert sind). Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit: »Prinzipiell darf keine soziale Gruppe, ja nicht einmal ein Individuum, aber auch kein Gegenstand, kein Thema, kein Problem von ihr ausgeschlossen sein«.10 Ulrich Teusch, ein Politikwissenschaftler, hat aus dem gesellschaftlichen Auftrag Öffentlichkeit Kriterien abgeleitet, mit denen sich die Qualität der Leitmedien beurteilen lässt: »Will Journalismus zum äußeren und inneren Frieden beitragen, also (innerstaatlich) die demokratischen Prozesse stärken und (zwischenstaatlich) die Verständigung zwischen Nationen, Ethnien, Religionen fördern, braucht er erstens einen absoluten Re-

9 Beck, Metamorphose der Welt. 2017, S. 172f. 10 Pöttker, Horst: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Zum Verhältnis von Berufsethos und universaler Moral im Journalismus. In: Medienethik – die Frage der Verantwortung. Hrsg. von Rüdiger Funiok, Udo Schmälzle und Christoph Werth. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999, S. 215–232, hier: S. 219f.

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spekt vor Tatsachenwahrheiten, er muss zweitens diskursiv und drittens multiperspektivisch angelegt sein.«11

Dass dies hier explizit gemacht wird, hat auch mit einem Aberwitz zu tun: Wir überlassen den gesellschaftlichen Auftrag Öffentlichkeit Unternehmen, die entweder von der Politik abhängen (öffentlich-rechtlicher Rundfunk) oder zunächst einmal profitabel sein müssen, um überhaupt weitermachen zu können (Presse, kommerzieller Rundfunk). Ich werde in diesem Beitrag zeigen, dass die Leitmedien bei allen punktuellen Verlusten von der Störung Corona profitiert haben, obwohl die Qualitätskriterien von Ulrich Teusch hier nicht einmal ansatzweise erfüllt wurden, und dies auch damit begründen, wie dieses System im Moment organisiert ist.

3.

Der Status quo ante: Herausforderungen auf allen Ebenen

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit, der mit der Zulassung kommerzieller Rundfunkanbieter in der Bundesrepublik einsetzte und sich durch den Siegeszug von Internet, Smartphone und digitalen Plattformen noch einmal erheblich beschleunigte, ist für das System der Leitmedien in jeder Hinsicht eine Bedrohung. Die neuen Kommunikationskanäle binden Aufmerksamkeit und damit auch Ressourcen der Werbewirtschaft, entziehen Presseverlagen, TV- und Hörfunkveranstaltern damit nach und nach die ökonomische Basis und sind nicht zuletzt ein Konkurrent im Kampf um Deutungshoheit. Journalismus und Politik füttern den Mythos vom mediatisierten Zentrum auch deshalb um jeden Preis, weil beide wissen, dass ihre große Koalition auf der Kippe steht, seit wir alle öffentlich (theoretisch für jeden sichtbar) sagen können, was ist. Nick Couldry nennt das den »Mythos vom Wir«, gepflegt von digitalen Plattformen, die uns einreden wollen, dass virtuelle Kontakte genau das sind, was wir als Menschen brauchen, und damit die Definitionsmacht der Leitmedien herausfordern.12 Schon vor dem Auftauchen der ersten Corona-Meldungen um den Jahreswechsel 2019/2013 war die wirtschaftliche Lage der deutschen Tagespresse besorgniserregend. Die Zeitungsverlage stützen sich längst eher auf den Verkauf (Abonnements, Kiosk) als auf Anzeigen. Die Werbeeinnahmen haben sich seit 2007 im Prinzip halbiert – von 4,8 Milliarden Euro auf knapp 2,2 Milliarden 11 Teusch, Ulrich: Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet. Frankfurt/Main: Westend 2019, S. 180. 12 Couldry, Nick: The Myth of ›Us‹: Digital Networks, Political Change and the Production of Collectivity. In: Information, Communication & Society 18, 2014, S. 608–626. 13 Schreyer, Paul: Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte. Frankfurt/Main: Westend 2020, S. 113f.

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(2018).14 Dieser Absturz spiegelt die Auflagenentwicklung. Im Rekordjahr 1991 wurden an einem durchschnittlichen Werktag 27,3 Millionen Exemplare gekauft. 2019 lag dieser Wert bei 13,5 Millionen.15 Diese Einbrüche haben zu einem beispiellosen Verdrängungswettbewerb geführt und die ohnehin ablaufenden Konzentrationsprozesse weiter forciert. In den Top 10 der deutschen Zeitungsverlage stehen inzwischen Unternehmen, die vor zehn Jahren niemand auf dem Schirm hatte, wenn es um die Definitionsmacht im Land ging – NOZ Medien zum Beispiel (»Neue Osnabrücker Zeitung«), die 2016 im Norden shoppen ging (»Flensburger Tageblatt«, »Schweriner Volkszeitung«) und nun mit der Südwestdeutschen Medienholding (»Süddeutsche Zeitung«, »Stuttgarter Zeitung«, »Rheinpfalz«), Madsack (»Hannoversche Allgemeine«, »Leipziger Volkszeitung«, »Ostsee-Zeitung«) oder Funke (»Westdeutsche Allgemeine«, »Thüringer Allgemeine«, »Braunschweiger Zeitung«) darum kämpft, in einem schrumpfenden Markt zu überleben. Die Zeitungstitel in Klammern stehen dabei nur pars pro toto. Die Liste der Beteiligungen ist bei jedem der großen Verlage weit länger, reicht in andere Mediensektoren (vor allem: Privatradios, Anzeigenblätter und Webportale) und zum Teil auch darüber hinaus. Mehr noch: Der Trend geht zu Zentral- oder Gemeinschaftsredaktionen, die den Mantel für eine ganze Reihe von Zeitungen liefern – Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Reise, Mode und so weiter. Das Versprechen, so Ressourcen für die Lokalberichterstattung zu gewinnen, wird schnell hohl, wenn man um die Ost-West-Unterschiede in der Sprache weiß oder um die Kraft regionaler Traditionen. Dem Leser der »Leipziger Volkszeitung« ist nicht wirklich geholfen mit Reportagen aus Schulen in NRW oder aus Niedersachsen.16 Für die Arbeitsbedingungen haben Konzentration und Schrumpfung Folgen, die vom Stellenabbau über Ressourcenmangel für Recherchen bis zur Bezahlung reichen. Die Website der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union liefert unter der Überschrift »Verlage auf der (Tarif)Flucht« eine kaum noch überschaubare Liste. Vor allem der Nachwuchs wird selbst dann mit Taschengeldern abgespeist, wenn es ausnahmsweise zu einer Festanstellung kommen sollte. Zeilen- und Bildhonorare für freie stagnieren seit Jahren, und in den Redaktionen wird inzwischen tatsächlich hauptsächlich das gemacht, was der Name verspricht: Man redigiert Texte und schreibt wenig selbst. Schon vor Corona gab es deshalb eine veritable Debatte (intern und gesellschaftlich) über das Selbstverständnis eines Berufsstandes, der sich lange auf 14 Ferschli, Benjamin/Grabner, Daniel; Theine, Hendrik: Zur Politischen Ökonomie der Medien in Deutschland. München: isw 2019, S. 10; sowie Keller, Dieter: Zur wirtschaftlichen Lage der deutschen Zeitungen 2020. Berlin: BDZV 2020, S. 7. 15 Ebd., S. 8. 16 Vgl. Mirbach, Alexis von/Meyen, Michael: Das Elend der Medien. Schlechte Nachrichten für den Journalismus. Köln: Herbert von Halem 2021.

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Mister Tagesthemen Hanns Joachim Friedrichs und sein berühmtes Neutralitätsgebot berufen hat (»Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten«17). Die neuen Götter heißen konstruktiver, subjektiver oder transformativer Journalismus.18 Christian Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig, glaubt, dass der Aktivismus in den Redaktionen bald »Oberwasser« bekommen und dabei auch die überlieferte Berufsideologie (Neutralität, Objektivität, Ausgewogenheit) fortspülen könnte. Hoffmann begründet die »starke Verschiebung hin zu den Grünen« auch mit der »ökonomischen Krise« des Systems. »Für Konservative und Liberale sind materielle Motive bei der Berufswahl wichtiger als für Linke.«19 Im Klartext: Diese Leute gehen woanders hin, wenn sie im Journalismus nicht genug verdienen können, und überlassen das System der Leitmedien so denen, die eine bestimmte Mission verfolgen und dafür auch bereit sind, materielle Opfer zu bringen. Haltung statt Handwerk: Dieser neue »Dauerzustand« (»die Wirklichkeit um die Teile zu reduzieren, die nicht zur Haltung passen, und dafür die Teile überzubetonen, die sich mit der Haltung decken«)20 hat auch mit der Konkurrenz aus dem Netz zu tun. Im Journalismus geht es um Exklusivität – um etwas, was so noch niemand hatte.21 Das kann ein Scoop sein (in der Regel aufwendig und damit teuer), Originalität (etwas billiger, aber auch nicht umsonst zu haben) oder – eine zugespitzte Meinung. Digitale Plattformen wie Instagram, Twitter, YouTube oder Facebook buhlen genau wie der Journalismus um unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit, ohne sich dabei an Rundfunkstaatsverträge, andere Mediengesetze oder den Pressekodex halten zu müssen. Die Plattformisierung der traditionellen Leitmedien geht dabei über das einfache Kopieren von erfolgreichen Influencern hinaus. Da die Unternehmen aus dem Silicon Valley inzwischen ein wichtiger Gatekeeper für journalistische Inhalte sind, müssen sich die Redaktionen wohl oder übel an die Logiken der neuen Ausspielwege anpassen – mit Folgen für Inhalt und Form. Seit der Zulassung von kommerziellen Rundfunkanbietern in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre hat sich die Medienrealität erheblich verändert. Heute wird nicht nur deutlich weniger über Politik und Wirtschaft berichtet als vor 30 oder 40 Jahren, sondern auch anders. Dieser Wandel betrifft auch und 17 Der Spiegel 13, 1995, S. 112–119, hier: S. 113f. 18 Vgl. exemplarisch Urner, Maren: Schluss mit dem täglichen Weltuntergang. Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren. München: Droemer 2019. 19 Serrao, Marc Felix: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Kämpfe, die um die New York Times geführt werden, auch die deutschen Medien erreichen. Interview mit Christian Hoffmann. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. 02. 2021. 20 Meinhardt, Birk: Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch. Berlin: Das Neue Berlin 2020, S. 87. 21 Vgl. Meyen, Michael/Riesmeyer, Claudia: Diktatur des Publikums. Journalismus in Deutschland. Konstanz: UVK 2009.

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gerade Leitmedien wie die »Süddeutsche Zeitung« oder die »Tagesschau«. In Kurzform: Die Berichterstattung ist negativer geworden, stärker an Prominenten und Experten aufgehängt und vor allem an Konflikten; dazu emotionaler, mit einer leichteren Sprache sowie an das anschließend, was gestern und vorgestern schon in der Zeitung stand. Darauf zielt Maria Karidis Begriff »Folgeberichte«: Was sich einmal in der Medienrealität festsetzt, bleibt dort. Der ›Weiterdreh‹ hat es aus der Welt der Nachrichtenportale in die Tagespresse und in die TV-Nachrichten geschafft. In der Medienrealität dominieren heute außerdem andere Konflikte: nicht mehr zwischen Gruppen (etwa Gewerkschaft vs. Arbeitgeber oder Professoren vs. Studierende), sondern zwischen Personen, die mächtig oder prominent sind, Küchenpsychologie eingeschlossen.22 Auch wenn all das für Luhmanns Gedächtnisfunktion keine Rolle spielt (wir haben ja noch etwas, worauf wir uns immer und überall beziehen können), ist danach zu fragen, was es für die Meinungs- und Willensbildung in Deutschland bedeutet (Stichwort: ›gesellschaftlicher Auftrag Öffentlichkeit‹), wenn sich das System der Leitmedien auf Superlative und Sensationen stürzt, wenn Politik und Wirtschaft dort vor allem in Form von Hahnenkämpfen präsentiert werden sowie in einem möglichst dunklen Licht und wenn die Aufregungsmaschine offenkundig vieles von dem nicht verarbeiten kann, was wir unbedingt diskutieren müssten (etwa die Folgen unserer Lebensweise hier im Westen für den Rest der Welt23). Diese Zweifel gelten auch einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der für die Beitragszahler immer teurer wird (1990: 19 Mark, heute fast die gleiche Summe in Euro), sich aber in weiten Teilen nicht von kommerziellen Programmen unterscheidet (etwa: Sport oder Vorabendunterhaltung) und außerdem immer unter einem politischen Vorbehalt steht. Kurz vor der Corona-Störung wurde zum Beispiel aufgeregt über den WDR diskutiert, der das Kinderlied »Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad« parodiert hatte – mit einer Wortmeldung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und einer Entschuldigung von Intendant Tom Buhrow. Die Drohung, die im Raum stand, war eindeutig: Wenn ihr euch nicht benehmt, bremsen wir den Geldzufluss. Mindestens genauso problematisch wie das Prinzip der Aufmerksamkeitsmaximierung ist eine Umwelt, die die Konstruktionslogik der Medienrealität kennt und dieses Wissen für eigene Interessen nutzt. Öffentliche Aufmerksamkeit und öffentliche Legitimation sind zu knappen Ressourcen geworden – zu Ressourcen, die jeder benötigt. Ob Bauvorhaben, Karrieren, politische Ideen oder wissenschaftliche Projekte: Über Erfolg und Misserfolg wird auch im System der 22 Karidi, Maria: Medienlogik im Wandel. Die deutsche Berichterstattung 1984 und 2014 im Vergleich. Wiesbaden: Springer 2017. 23 Vgl. Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser 2016.

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Leitmedien entschieden. Entscheidungsträger haben mit den Folgen von Berichterstattung zu rechnen und können versuchen, diese zu unterbinden (was immer wieder geschieht), oder aber sie bauen das Wissen über die Medienlogik in ihre Strategien ein. Einerseits negative Schlagzeilen verhindern und andererseits Medienleute so ködern, dass sie entweder positiv berichten (und dann auch möglichst viel) oder nur über Dinge, die den eigenen Zielen nicht im Weg stehen. Ich spreche hier von Medialisierung und meine damit alles, was Menschen tun, damit sie selbst oder das, was ihnen wichtig ist (Ideen, Organisationen, Institutionen), in der Öffentlichkeit in einem guten Licht erscheinen.24 Im reichen Deutschland, wo Journalistinnen und Journalisten trotz aller Tarifdebatten ordentlich bezahlt werden, ist der Köder dabei eher selten Geld, sondern Stoff, der dem Imperativ der Aufmerksamkeit folgt. Exklusives, Unerhörtes, Spektakuläres. Menschen, die gut aussehen. Geschichten, die man so noch nicht gehört hat. Zu bekommen vor allem über einen direkten Draht. Medialisierung erschwert nicht nur die Arbeit der Journalisten, sondern verändert auch die Ordnung der Dinge. Akteure, die mehr Ressourcen in die Öffentlichkeitsarbeit stecken können, in Medientrainings, in medientaugliches Personal, in Events, schicke Räume und spektakuläre Geschichten, gewinnen den Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und öffentliche Legitimation. Reiche und mächtige Akteure, die nicht nur bestimmen, worüber Journalisten berichten und wie sie das tun, sondern auch, wie wir die Welt wahrnehmen. Der Profifußball zum Beispiel – vielleicht ein Extremfall, aber der Trend geht nicht nur dort zu journalismusfreien Medienprodukten, die sich als Journalismus tarnen und dafür Menschen mitspielen lassen, die sich Journalisten nennen. Die Bilder kommen vom Veranstalter (von der FIFA, von der UEFA, von der DFL), Spieler, Trainer und Offizielle sind darauf geeicht, selbst auf die besten Fragen nichts zu sagen, und wenn doch etwas durchrutscht, was nicht im Skript stand, springen ihnen PR-Profis zur Seite, die die Veröffentlichung entweder verhindern oder die Folgen mildern.25 Allein das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Berlin beschäftigt heute mehr als 400 Menschen, die Apparate der einzelnen Ministerien und so weiter noch gar nicht mitgezählt.26 Wie groß die Sparwelle auch sein mag, die über den deutschen Redaktionsstuben zusammenbricht: Damit kann der Journalismus gar nicht mithalten. Um nicht falsch verstanden zu werden: PR ist vollkommen legitim, für Fußballklubs genauso wie für Regierungen oder Universitäten. Jeder soll seine In24 Meyen, Michael: Theorie der Medialisierung. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 62, 2014, S. 645–655. 25 Vgl. Meyen, Michael: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. Eine Fallstudie zur Anpassung von sozialen Funktionssystemen an die Handlungslogik der Massenmedien. In: ebd., S. 377–394. 26 Schulz, Stefan: Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Zeitung. München: Hanser 2016, S. 214.

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teressen in der Öffentlichkeit artikulieren können und dort zur Not auch mit Zähnen und Klauen verteidigen. Medialisierung ist mehr. Medialisierung ist, wenn Politiker ihre Rede auf den einen Satz zuspitzen, der garantiert nicht durch das Selektionsraster der Redaktionen fällt. Wenn Bürokratien Fälle vorziehen oder sogar anders entscheiden, um in den Massenmedien gut dazustehen. Wenn Theater Leute auf die Bühne stellen, die zwar nicht sprechen können, aber so bekannt oder ungewöhnlich sind, dass die Kritiker in Scharen gelaufen kommen. Wenn Sportverbände ihre Wettbewerbe fernsehtauglich machen und dafür buchstäblich alles opfern. Andere Regeln, anderer Modus, andere Sieger. Medialisierung bedroht den Sport, die Politik, die Wissenschaft, wenn sie nicht mehr Sport, Politik und Wissenschaft sein wollen, sondern nur noch in den Leitmedien.27 Das System der Leitmedien Anfang 2020: Vielleicht lässt sich die Lage am besten als ein Rückzugsgefecht an vielen Fronten zusammenfassen. Herausforderer aus dem Internet haben die wirtschaftliche Basis und den Anspruch auf Deutungshoheit und Definitionsmacht untergraben, die Konstruktionslogik der Medienrealität vom normativen Pol (gesellschaftlicher Auftrag Öffentlichkeit) zum kommerziellen Pol verschoben (Imperativ der Aufmerksamkeit) und damit im Journalismus Zukunftsängste sowie eine Selbstverständnisdebatte ausgelöst. Ressourcenstarke Akteure aus der Umwelt greifen auf die eine oder andere Weise in die Redaktionsarbeit ein – und müssen das oft gar nicht, weil man aus ähnlichen Verhältnissen kommt, die gleichen Universitäten besucht hat, ganz ähnlich lebt und die Welt dann auch nicht sehr viel anders sieht.28 Der Medienforscher Uwe Krüger hat mit Blick auf gesellschaftliche Reizthemen wie Pegida, den Ukrainekrieg, die Klima- oder die Flüchtlingskrise von einer »Verantwortungsverschwörung« gesprochen: Der Journalist weiß, was gut ist und was schlecht (so ziemlich das gleiche, was die Herrschenden gut oder schlecht finden), und er glaubt, dass er Einfluss auf die Menschen hat. Also nichts gegen Fremde, zum Beispiel.29 Dieser Gleichklang von politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten hat zu einem Glaubwürdigkeitsproblem geführt. Die entsprechenden Umfragen behaupten zwar, dass weite Teile der Bevölkerung den Leitmedien nach wie vor vertrauen, aber erstens ist diese Forschung mehr als fragwürdig und

27 Vgl. Meyen, Michael: Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren. Frankfurt/Main: Westend 2018. 28 Klöckner, Marcus B.: Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird. Frankfurt/Main: Westend 2019. 29 Krüger, Uwe: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: C. H. Beck 2016, S. 105.

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zweitens zeigt allein der Boom, den wir hier seit 2015 erleben, dass es ein Problem gibt.30 Und dann kam die Corona-Störung.

4.

Das System der Leitmedien als Corona-Profiteur – mit erheblichen Verlusten

Neue Einbrüche auf den traditionellen Werbemärkten, Redaktionen im Homeoffice oder in Kurzarbeit (vor allem Sportreporter und Kulturleute, die nichts mehr zu berichten hatten), verbale und körperliche Angriffe auf Demonstrationen: Auf den ersten Blick hatte das System der Leitmedien genauso unter der Corona-Störung zu leiden wie viele andere Wirtschafts- und Kultursysteme. Der zweite Blick zeigt: Das System hat die strukturellen Kopplungen mit der Politik und der Wirtschaft (vor allem: mit der Pharmaindustrie) verstärkt und so zwar Autonomie verloren, aber zugleich eine Antwort auf viele der Herausforderungen gefunden, die ich gerade skizziert habe, und so mittelfristig sein Überleben gesichert – zumindest in ökonomischer Hinsicht sowie in Sachen Deutungshoheit und Definitionsmacht. Unstrittig dürfte dabei der Bedeutungsgewinn sein, der sich in den Daten zur Reichweite spiegelt. In Zeiten der Krise, der Unsicherheit und der Angst steigt das Informationsbedürfnis der Menschen.31 Das gilt erst recht, wenn sich die Regeln für das Zusammenleben im Wochentakt ändern und es erhebliche Unterschiede von Region zu Region und von Land zu Land gibt. Die Corona-Störung hat Nick Couldrys »Mythos vom mediatisierten Zentrum« Realität werden lassen: Die Politik hat plötzlich tatsächlich buchstäblich über unser Leben entschieden und uns so die Option Medienvermeidung genommen. Der Journalismus war dabei nicht nur Sprachrohr, sondern Akteur. In der Schweiz hatten rund um den ersten Lockdown 70 Prozent aller Beiträge einen Bezug zu Corona. Zum Vergleich: Klima (vorher das Thema Nummer eins) kam selbst in Spitzenzeiten lediglich auf einen Maximalwert von zehn Prozent. Das Forscherteam verteidigt diesen Zustand zwar als »Ausdruck von Relevanz«,32 gegen dieses Argument spricht aber, dass die Berichterstattung bereits zu einem Zeitpunkt einsetzte, als es noch nicht 30 Vgl. Meyen, Michael: Die Erfindung der Glaubwürdigkeit. Umfragen zur Medienbewertung in Deutschland seit 1945. In: Medienvertrauen. Historische und aktuelle Perspektiven. Hrsg. von Astrid Blome, Tobias Eberwein und Stefanie Averbeck-Lietz. Berlin: de Gruyter 2020, S. 59–75. 31 Wilke, Jürgen: Geschichte als Kommunikationsereignis. In: Massenkommunikation. Hrsg. von Max Kaase und Winfried Schulz. Köln: Westdeutscher Verlag 1989, S. 57–71, hier: S. 57. 32 Eisenegger, Mark/Oehmer, Franziska/Udris, Linards/Vogler, Daniel: Die Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie. Universität Zürich: Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft 2020, S. 22.

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einmal in China eine nennenswerte Zahl an Toten mit der Diagnose COVID-19 gab.33 Corona war und ist kommerzielle Medienlogik (Maximierung der Aufmerksamkeit) in Reinkultur. Jeden Tag neue Zahlen, jeden Tag ein neuer Aufreger. Drei Infizierte, 15, 200. Tom Hanks. Der erste Bundestagsabgeordnete. Der erste Zweitligaspieler. Der erste Trainer. Mutanten. Bettenkollaps. Triage. Die nächste Welle. Das Publikum hat mitgespielt. Die »Tagesschau« zum Beispiel, in den letzten Vor-Corona-Jahren jeden Abend im Durchschnitt bei zehn Millionen Zuschauern, erreichte 2020 einen Rekordwert von knapp zwölf Millionen. Die Menschen fanden dort das, wonach sie suchten. ARD und ZDF haben ab der zweiten Märzhälfte bis zum Juni 2020 nach den Hauptnachrichten nahezu täglich eine Sondersendung gebracht. »ZDF Spezial« zum Beispiel kam 2019 insgesamt auf zwölf Ausgaben. In den zwei Monaten von Mitte März bis Mitte Mai 2020 waren es 42. Die Literaturwissenschaftler Martin Hennig und Dennis Gräf haben folgerichtig von einer »Verengung der Welt« gesprochen und diesen Befund auch damit begründet, dass es in den Sondersendungen von ARD und ZDF so gut wie keine Kritik an der Politik gab. Präsentiert wurden stattdessen eine »Gesellschaft in der Krise« (und zwar ohne jedes Licht am Ende des Tunnels) sowie ein Journalismus, der im Gleichschritt mit den Entscheidern marschiert.34 Die Politik hat sich dafür bedankt. 2020 ist in Deutschland (fast) das Tabu Pressesubvention gefallen. 220 Millionen Euro, die »von heute auf morgen« und ohne große Debatte im Nachtragshaushalt des Bundes auftauchten und größtenteils noch 2021 ausgezahlt werden sollten, gekoppelt an die Auflage.35 Je größer die Zeitung, desto mehr Geld. Dieser Plan ist zwar im April 2021 »wegen verfassungsrechtlicher Bedenken« gestorben, das wichtigste Gegenargument war aber nicht Staatsferne, sondern Wettbewerbsverzerrung. Die Online-Plattform »Krautreporter« hatte mit dem Gericht gedroht, wenn nur Printverlage gefördert werden (unter dem Deckmantel »digitale Transformation«), und sich auch nicht damit abfinden wollen, die 220 Millionen Euro zu »Corona-Soforthilfen« umzuwidmen.36 Die Verlegerverbände reagierten »geschockt« und sprachen von

33 Vgl. Schreyer, Chronik einer angekündigten Krise. 2020, S. 113f. 34 Gräf, Dennis; Hennig, Martin: Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra – Die Coronalage und ZDF Spezial. Universität Passau, August 2020. 35 Eine vertane Chance. In: taz vom 02. 11. 2020. Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Doris Achelwilm, Dr. Petra Sitte, Simone Barrientos, weiterer Abgeordneter und der Die Linke-Fraktion. Bundestagsdrucksache 19/22821 vom 06. 10. 2020. 36 Fryszer, Leon/Esser, Sebastian: Ein guter Tag für die Pressefreiheit. In: Krautreporter vom 27. 04. 2021.

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einer »mittleren Katastrophe«.37 Ganz unabhängig vom Ausgang erscheint die wohlwollende Begleitung von Angela Merkels Corona-Politik so in einem anderen Licht – erst recht, wenn man die Krise der Verlage mitdenkt, die zwei Mio. Euro, die im Sommer 2020 allein in Mecklenburg-Vorpommern aus einem »Corona-Schutzfonds« an die drei Tageszeitungsverlage im Land gingen,38 und die vielen großen Anzeigen und Werbebanner, die vor allem das Gesundheitsministerium von Jens Spahn geschaltet hat, zunächst unter dem Motto »Wir bleiben zu Hause« und dann mit dem Hashtag #ärmelhoch. Der Staat hat dem System der Leitmedien zugleich geholfen, die Konkurrenz aus dem Internet in die Schranken zu weisen und Ulrich Becks »Nebenfolgenöffentlichkeiten« auszutrocknen. Der Raum des Sagbaren ist zwar einerseits tatsächlich größer geworden (im Internet findet man im wahrsten Sinne des Wortes alles), andererseits aber schrumpft das »Hintergrundwissen« (Luhmann), auf das wir immer und überall zurückgreifen können, ohne dabei unsere Reputation aufs Spiel zu setzen, weil Politik und Journalismus die Corona-Störung genutzt haben, um den Mythos vom mediatisierten Zentrum zu stärken. Twitter hat Donald Trump im Januar 2021 von einem Tag auf den anderen von 88 Millionen Followern abgeschnitten, und im Internet (wo sonst) findet man längst Planspiele für ein »Cyber 9/11«, die das Netz mit einem »feindlichen Waffensystem« gleichsetzen.39 Angela Merkel hat den Ton schon bei der Einweihung der BND-Zentrale im Februar 2019 gesetzt: »Wir müssen lernen, mit Fake News als Teil der hybriden Kriegführung umzugehen«. In ihrer Regierungserklärung vom 29. Oktober 2020 hat sie das Land dann entsprechend eingeschworen: Öffentliche Kritik an den Corona-Maßnahmen sei zwar unverzichtbar, »aber Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus.«40 Dieser »Desinformations-Frame«, der an ein Narrativ aus dem kalten Krieg anknüpft (damals wohnte »der Feind« nicht im Netz, sondern im Osten),41 erlaubt seitdem einen ganz neuen Waffengang mit unerwarteten Allianzen. In Deutschland kündigen Banken Internetplattformen die Konten. FundraisingDienstleister wie Steady beenden die Zusammenarbeit, wenn ihnen die Inhalte 37 Herbstreuth, Mike/Sterz, Christoph: Scheitern der Presseförderung. In: Deutschlandfunk vom 27. 04. 2021. 38 Haeming, Anne: Verlagsförderung in MV. Schlecht angelegt: Was aus zwei Millionen Euro Corona-Hilfe für die Presse wurde. In: Übermedien vom 01. 06. 2021. 39 Corbett, James: Wenn False Flags virtuell werden. In: 2020News vom 10. 01. 2021. 40 Mirbach, Alexis: Jenseits von Gut und Böse. Warum das Elend der Medien viele Gesichter hat. In: Das Elend der Medien. Schlechte Nachrichten für den Journalismus. Köln: Herbert von Halem 2021, S. 12–50, hier: S. 18. 41 Ebd.

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nicht mehr passen.42 YouTube blockiert und löscht Kanäle oder einzelne Videos. Andere digitale Plattformen markieren Inhalte, die dem Regierungsnarrativ widersprechen, als Fake News und verhindern über ihre Algorithmen, dass entsprechende Beiträge eine relevante Menschenmenge erreichen können. Und die Landesmedienanstalten werfen Onlineanbietern wie »KenFM« oder »Rubikon« vor, »gegen journalistische Regeln verstoßen zu haben«, und drohen mit Sanktionen.43 Die Leitmedien klatschen Beifall oder schweigen – genau wie bei Julian Assange, obwohl es hier wie dort um Meinungsfreiheit geht und um die demokratietheoretischen Grundfesten des Journalismus.44 Der Staat nutzt dabei für seinen Kampf gegen die Nebenfolgenöffentlichkeiten sowohl direkte als auch indirekte Hebel. Firmen wie Steady, »Fakten-Checker« (etwa: »Correctiv«) oder das Portal »Volksverpetzer« werden auf die eine oder andere Weise vom Steuerzahler mitfinanziert. Der neue Medienstaatsvertrag, in Kraft seit November 2020, rückt auch »journalistisch-redaktionelle Telemedien« in den Zuständigkeitsbereich von Aufsichtsbehörden, die bis dahin nur für den kommerziellen Rundfunk zuständig waren und personell eng mit dem StaatsPartei-Komplex verbunden sind. Marc Jan Eumann (SPD) zum Beispiel, seit 2018 Direktor der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz, war vorher sieben Jahre lang Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen und dort vorher anderthalb Jahrzehnte Landtagsabgeordneter. Die Konzerne im Silicon Valley liegen zwar außerhalb des Zugriffs deutscher Medienpolitik, je größer solche Unternehmen allerdings werden, umso gefährlicher wirkt das Damoklesschwert staatlicher Eingriff (Regulierung, Besteuerung, Zerschlagung). Der Dokumentarfirm »The Cleaners«, veröffentlicht 2018, zeigt eindrucksvoll, wie Regierungen ihr Drohpotenzial einsetzen, um auch im Internet die Definitionsmacht zu behalten. Der Gleichklang mit der Politik hat die Prominenz des Berufsstandes dazu verführt, offen für ein journalistisches Selbstverständnis zu werben, das die Ideale eines Hanns Joachim Friedrichs endgültig beerdigt. »Tagesspiegel«Autor Malte Lehming zum Beispiel hat sich im Januar 2021 vehement gegen alle Kritik am Corona-Journalismus gewehrt. Von wegen »finstere Strippenzieher«, von wegen »Medien-Marionetten«. Und: Was soll dieser Ruf nach »Kritik um der Kritik willen«? Die »banale« Wahrheit dieses Spitzenmannes, der Referent von Helmut Schmidt war, bevor er zum »Tagesspiegel« kam: »Wenn in einer derart existenziellen gesellschaftlichen Situation das Gros der deutschen Journalisten 42 Vgl. Reitschuster, Boris: Mit Staatsgeld gegen die Meinungsfreiheit. In: reitschuster.de vom 08. 01. 2021. 43 Gräser, Tilo: Neue Zensurbehörde? Medienaufseher gehen gegen unabhängige Online-Medien vor. In: Multipolar vom 22. 02. 2021. 44 Vgl. Bröckers, Mathias: Freiheit für Julian Assange. Don’t kill the messenger! Frankfurt/Main: Westend 2019.

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moralisch ähnlich empfindet wie das Gros der Parlamentarier, dann hat das nichts mit freiwillig vollzogener Gleichschaltung zu tun, sondern ist Ausdruck einer Wertegemeinschaft.«45 Gewonnen haben in den Redaktionen im Moment diejenigen, die sich für eine offene Parteinahme entschieden haben und für einen Wahrheitsbegriff, der über »Richtigkeit« hinausgeht. »Wahrheit« wird in der Medienrealität auch das, was diese Mehrheit für »gut« hält und für »erstrebenswert«. Zugespitzt: Die Leitmedien verbreiten eine »Wahrheit«, die die Welt ein wenig besser machen soll.46 Dahinter steckt eine pragmatische Erfolgsethik, die alles für wahr hält, was ihr nützt.47 Die Verschiebung in Richtung Regierungs- und Pharma-PR und der Verzicht auf eigenständiges Recherchieren und Urteilen werden allerdings langfristig mit Verlusten verbunden sein, die über das hinausgehen, was ich am Anfang dieses Abschnitts angetippt habe. Die Umfragen zum »Medienvertrauen« messen in der Krise zwar einen deutlichen Gewinn,48 davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Diese Studien spiegeln eher eine allgemeine Bewertung der Regierungspolitik als eine Reaktion auf die Leistungen des Systems Leitmedien49 und damit den Wunsch nach Kontinuität und Sicherheit im Angesicht einer Krise, die vom Journalismus mitproduziert wurde. Wer zum Beispiel auf einer der Berliner Großdemonstrationen vom August 2020 war und seine Eindrücke mit der Medienrealität dieser Ereignisse verglichen hat, dürfte das Misstrauen so schnell nicht wieder ablegen. Für die Gesellschaft ist der Preis hoch: Wenn Teile der Bevölkerung ihre Positionen nicht mehr auf der Bühne der Leitmedien finden, ist das in Gefahr, was Ulrich Teusch »inneren Frieden« nennt.50

5.

Epilog

Das System der Leitmedien als Profiteur und Verlierer der Corona-Störung: Die Reihenfolge der beiden Schlüsselbegriffe im Titel dieses Beitrags hat zum einen mit der biologischen Analogie von Niklas Luhmann zu tun, die auch für soziale Systeme Selbsterhalt und Überleben über alles andere stellt. Ich habe gezeigt, wie der Strukturwandel der Öffentlichkeit die traditionellen Leitmedien in eine 45 Lehming, Malte: Wider die Mär von einer Kumpanei in der Corona-Bekämpfung. In: Der Tagesspiegel vom 17. 01. 2021. 46 Pöttker, Horst: Kontroverse Auffassungen vom Journalismus. In: r:k:m vom 14. 01. 2021. 47 Vgl. Gess, Nicola: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin: Matthes & Seitz 2021. 48 Jakobs, Ilka u. a.: Medienvertrauen in Krisenzeiten. Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen 2020. In: Media Perspektiven 2021, S. 152–162. 49 Vgl. Meyen, Erfindung der Glaubwürdigkeit. 2020. 50 Teusch, Krieg vor dem Krieg. 2019, S. 180.

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existenzielle Krise geführt und wie das System die Störung genutzt hat, um auf viele der Herausforderungen eine Antwort zu finden. Dies war allerdings zum anderen, das ist mein Fazit, nur möglich, weil wir die öffentliche Kommunikation und damit den gesellschaftlichen Frieden in die Hand von Großunternehmen geben, die bei Strafe ihres Untergangs darauf angewiesen sind, Gewinn zu machen. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Journalismus den gesellschaftlichen Auftrag Öffentlichkeit auch unter diesen Bedingungen erfüllen kann. Eine Garantie aber gibt es dafür nicht. Die Störung Corona hat erneut gezeigt, was die akademische Medienforschung schon seit mehr als hundert Jahren weiß. Karl Bücher, Gründervater der universitären Journalistenausbildung, hat der bayerischen Räteregierung Anfang 1919 in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen, den Wettbewerb in der Presse zu beenden und den Redaktionen so endlich zu erlauben, »die höchsten Interessen der Menschheit« zu verfolgen. Die Räteregierung war wenig später Geschichte und Büchers Ideen für eine »freie Tagespresse«51 sind selbst in der Disziplin weitgehend vergessen, die sich bis heute auf ihn beruft. Luhmanns Systemtheorie und das Konzept der Störung schließen normative Perspektiven aus. Corona hat die Leitmedien gestärkt und damit das Gedächtnis der Gesellschaft, Punkt. Die Demokratietheorie erlaubt einen solchen Rückzug auf die Beobachterposition nicht. Die Störung Corona sollte und wird, davon bin ich überzeugt, die gesellschaftliche Debatte um den Journalismus befeuern. In dieser Debatte muss es nicht nur um Eigentumsverhältnisse und Finanzierung gehen, sondern auch um den Berufszugang (offen für alle Klassen, Milieus, Erfahrungen), um die Ausbildung (unabhängig von Medienkonzernen), um die Arbeitsbedingungen (Ressourcen, Bezahlung, Kündigungsschutz), um Qualitätskriterien und um die Beziehungen zu einem Publikum, das seine Freiheit verliert, wenn es Entscheidungen auf unvollständige oder falsche Informationen stützt.52

51 Bücher, Karl: Zur Frage der Pressreform. In: Gesammelte Schriften. Tübingen: H. Laupp’sche Buchhandlung 1926, S. 391–429, hier: S. 396f., 426. 52 Für Walter Lippmann ist Freiheit »der Name, den wir denjenigen Maßnahmen geben, mithilfe derer wir den Wahrheitsgehalt der Informationen, die unser Handeln bestimmen, schützen und steigern« (Lippmann, Walter: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News. Frankfurt/Main: Edition Buchkomplizen 2021, S. 55).

Detlef Stapf

Mediale Konstruktion als Störungsverstärkung

Vom Charakter und ihrer Entstehung her ist die Covid-19-Pandemie eine ökologische Gefährdung des Gemeinwesens, bedingt durch die Zerstörung faunischer Lebensräume. Allerdings besitzt die pandemische Einwirkung auf das menschliche Zusammenleben nicht die größte Relevanz für die ablaufenden Störungsprozesse. Aus systemischer Sicht ist letztlich entscheidend, wie sich die epidemiologischen Diagnosen auf die gesellschaftliche Kommunikation auswirken. Ob es zur Störung oder einer relevanten Störungsverstärkung kommt, hängt von der Art der Reaktion in den gesellschaftlichen Teilsystemen ab. Gleichwohl bedeutet Störung nicht zwangsläufig Gefährdung. Diese Ausgangsüberlegung stellte Niklas Luhmann bereits in seinem 1986 erschienenen Vortragsband »Ökologische Kommunikation« an. Im Kern formuliert er die Frage, ob sich die modernen Gesellschaften auf ökologische Gefährdungen einstellen können?1 Denn hochentwickelte Zivilisationen mit ihren komplexen Strukturen sind in ihrer Existenz von einer schier unüberschaubaren Anzahl ausdifferenzierter Bedingungen abhängig. Der Analyse zu medialen Konstruktionen als Störungsverstärkung seien einige systemtheoretische Überlegungen über die Rolle von Massenmedien in diesem Prozess der vermittelnden Kommunikation vorangestellt. Luhmann ließ noch offen, ob die Massenmedien ein eigenständiges Funktionssystem wie Religion, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Moral oder Recht bilden. Eine Primärfunktion in der gesellschaftlichen Kommunikation schrieb er ihnen indes zu.2 Entscheidend scheint jedoch, dass Massenmedien längst nicht mehr nur als Vermittler von gesellschaftlichen Realitäten gelten. Sie nutzen zunehmend ihre Fähigkeit, Informationen zu erarbeiten3 und sind damit für die Gesellschaft 1 Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 24. 2 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2. erw. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 149. 3 Ebd., S. 150, 174.

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Detlef Stapf

Quelle von Irritationen. Nach Luhmann üben sie in der Gesellschaft den Modus einer Beobachtung zweiter Ordnung aus. Ihre spezielle Funktion liege im »Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems«.4 Daraus ergeben sich Zuschreibungen von Funktionen wie die Repräsentation von Öffentlichkeit, Nährboden für die öffentliche Meinung oder Gedächtnis der Gesellschaft. In der Bundesrepublik wird den Massenmedien als vierte Gewalt im Sinne eines kontrollierenden Korrektivs neben Exekutive, Legislative und Judikative eine Stabilisierungsfunktion der Demokratie zugeschrieben. Voraussetzung dafür ist, dass man sich auf die medial hervorgebrachten Wirklichkeitskonstruktionen durch jedes Subjekt der Gesellschaft als »Wirklichkeit« beziehen kann, in dem eine Orientierung erfolgt, was als Information oder Nichtinformation gelten kann.5 Diese Stabilisierungsfunktion wird dann gefährdet oder kippt gar in den Zustand der Destabilisierung, wenn diese Wirklichkeitskonstruktionen extreme Differenzen zu lebensweltlichen Erfahrungen großer Gruppen von Individuen aufweisen. Dann fehlt es an allgemein verbindlichen »Wirklichkeiten«, die durch den eigenen und naturgemäß begrenzten Ausschnitt in der Weltsicht ersetzt werden und dieser in den sozialen Medien in irgendeiner Weise Bestätigung findet. In solchen fehlerhaften Vermittlungsoperationen sind Massenmedien nicht nur an Störungsverstärkungen beteiligt, sondern können auch eigenes Störpotenzial entwickeln. Sie scheitern zunehmend an ihrer Doppelfunktion von Systemapologetik und Kontrolle der Politik.6 Einerseits ist die Kontrolle nicht mehr als Korrektiv erkennbar, sondern verschwimmt durch den radikalisierten Wettbewerb um Aufmerksamkeit in Skandalisierung und Dramatisierung. Kontrolle wird so zum zerstörenden Element, indem sie die Dekonstruktion der Steuerungsleistung des Staates betreibt. Andererseits steht der sehr anschaulich betriebenen Destruktion eine ziemlich abstrakte und beliebige Apologetik der formulierten Regierungspolitik in Propagandaqualität gegenüber. Die Covid-19-Pandemie ist das erste Ereignis dieser Art, in dem die Massenmedien mit ihrer Fähigkeit, Informationen zu erarbeiten, weit über ihre Funktion als Vermittler von gesellschaftlichen Realitäten hinaus gehen und so zur Quelle gesellschaftlicher Irritationen werden. Mediale Konstruktionen als Störungsverstärkung bekommen mehr Einfluss auf den Verlauf des pandemischen Geschehens als infektiologische Befunde oder darauf basierende politische Entscheidungen. Dabei offenbaren die Medienakteure ein apologetisches korporatives Bewusstsein, so dass sie die Repräsentation von Öffentlichkeit nur unzureichend wahrnehmen. 4 Ebd., S. 150. 5 Luhmann, Niklas: Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien. In: Die elektronische Revolution. Wie gefährlich sind die Massenmedien? Hrsg. von Oskar Schatz. Graz/Basel/Köln: Styria 1975, S. 28f. 6 Stapf, Detlef: Der Schmerz des Westens. Berlin: Okapi 2019, S. 188.

Mediale Konstruktion als Störungsverstärkung

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Der wohl bedeutendste Aspekt der Covid-19-Pandemie ist das Auseinanderfallen von amtlich detektierter Bedrohungslage für die Gesellschaft und der lebensweltlichen Erfahrung oder der statistischen bzw. stochastischen Deutungsvarianten der Pandemieentwicklung. Dazu kommen die aus der historischen Perspektive, wenn auch begrenzten, Vergleichsmöglichkeiten vorangegangener Pandemieereignisse. Dieser Befund für Deutschland ergibt sich aus der vergleichsweise geringen Personenzahl, die einen schweren Krankheitsverlauf durchgemacht hat, an den Pandemiefolgen leidet bzw. verstirbt oder im persönlichen Umfeld mittelbar davon betroffen sein kann. Geht man bei den Fallzahlen von den Statistiken des Robert Koch Institutes7 aus, die ca. vier Millionen Betroffene beziffern, und rechnet man ein durchschnittliches familiäres Umfeld hinzu, beläuft sich die Anzahl der Menschen mit einem unmittelbaren Erleben eines Krankheitsverlaufes auf etwa 16 Millionen, das sind etwa 20 % der Gesamtbevölkerung. Daraus folgt, dass 80 % der deutschen Bevölkerung die Pandemie weitgehend als eine mediale oder medial transportierte Konstruktion erleben, die je nach intellektuellen, sozialen, regionalen und auch emotionalen Voraussetzungen interpretiert wird. Mit diesem Vortrag sollen die Qualitäten des medialen Transports von Ereignismeldungen, Erkenntnissen sowie Bewertungen beleuchtet und danach gefragt werden, wie diese durch Störungsverstärkung in Teilsystemen der Gesellschaft zur Auslösung von Konflikten beitragen oder diese befeuern. Als Referenz zur aktuellen Pandemie kann man die öffentliche Reflexion der Pandemien in der jüngeren Vergangenheit heranziehen. Der Medizinhistoriker Wilfried Witte hat in systematischen Darstellungen dieser Ereignisse auch den vergleichsweise geringen Reaktionen der Presse Beachtung geschenkt. So heißt es zur asiatischen Grippe 1957/58: »In der DDR wurde um die Asiatische Grippe kein großes Aufsehen gemacht. […] Als Skandal wurde es [in der Bundesrepublik] gewertet, dass viele Beschäftigte infolge der Grippe krankgeschrieben waren und den Wirtschaftsprozess behinderten.«8

Über die Hongkong-Grippe im Winter 1969/70 wird u. a. ausgeführt: »Trotz der Skandalisierung der örtlichen Verhältnisse beispielsweise in Westberlin war die Situation weniger von Bedrohungsszenarien geprägt. Es ging mehr um Fragen zu den Strukturen im Gesundheitswesen: sind Ambulatorien wie in der DDR sinnvoll oder des Teufels? Wie kann man der Überfüllung in den Krankenhäusern Herr werden? […]

7 Stand vom 25. 05. 2021. 8 Witte, Wilfried: Pandemie ohne Drama. Die Grippeschutzimpfung zur Zeit der Asiatischen Grippe in Deutschland. In: Medizinisches Journal 48, 2013, S. 34.

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Detlef Stapf

In der Zeit standen andere Themen im Vordergrund, zum Beispiel die Studentenbewegung, der ›Prager Frühling‹ oder politische Attentate.«9

Inwiefern diese Pandemien mit der Corona-Pandemie zu vergleichen sind, ist auf Grund der Datenlage umstritten. Klar scheint jedoch zu sein, dass sich der mediale Raum, in dem die Themenrelevanz bestimmt wird, grundlegend verändert hat. Es geht nicht mehr darum, einem Ereignis in der an den Realitäten orientierten Hierarchie der Berichterstattung eine Bedeutung zuzuweisen. Heute steht die maximale Ausbeutbarkeit der Themen nach der Eigengesetzlichkeit im Wettbewerb um die mediale Aufmerksamkeit im Mittelpunkt. Das heißt, dass die Medienakteure es als ihre ureigenste Aufgabe betrachten, die zweifelsohne gegebene Bedrohung als Störung gesellschaftlicher Subsysteme in der Wahrnehmung zu verstärken. Bei der Honkong-Grippe wurde die Bedrohung erst öffentlich wahrgenommen, als viele Krankenhäuser in der Bundesrepublik schnell überfüllt waren. Man wusste nicht »wohin die Erkrankten sollten. Teilweise lagen Menschen auf den Fluren der Krankenhäuser.«10 Während der Corona-Pandemie wurden – allerdings weit entfernt von einem solchen Zustand – in einer Art Endlosschleife derart angstmachende Bedrohungsszenarien produziert, meist verbunden mit der Begründung staatlich verordneter Maßnahmen. In diesem Kontext sind die medialen Konstruktionen keine neuen Phänomene. Sie stammen sämtlich aus dem Baukasten medien-redaktioneller Arbeit. Dabei sind folgende Aspekte deutlich sichtbar geworden: – Das Arrangieren von Fakten und Sachverhalten mit dem Ziel, eine Bedrohungslage deutlich zu machen. Im einfachsten Fall wird das mit der Wahl von absoluten Zahlen oder Relationen bewerkstelligt, je nach Richtung der beabsichtigen Beeinflussung der öffentlichen Meinung; – die Herstellung einer zweckdienlichen Ikonographie der Pandemie oder von ikonographischen Bezügen; – die Inszenierung von öffentlichen Diskursen unter wenigen ausgewählten Diskursteilnehmern; – die Diskreditierung von Multiperspektivität als antidemokratische Gegnerschaft; – das Erzeugen von nachrichtlicher Relevanz, die so nicht gegeben ist; – das Forcieren einer ›wir‹-Perspektive. Zwei dieser Aspekte sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Zunächst zur Ikonographie der Pandemie: Die medial konstruierten Bilder, die Informationen über diese Pandemie transportieren, dienen in aller Regel 9 Tenberg, Lucas: Hongkong-Grippe: Die vergessene Pandemie. Interview mit Wilfried Witte. In: Wirtschaftswoche vom 27. 04. 2021. 10 Ebd.

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nicht der rationalisierten Aufklärung, sondern der emotional grundierten Darstellung einer Gefahr und sollen die Bevölkerung im Vollzug staatlich angeordneter Maßnahmen disziplinieren. Gleichzeitig offenbart diese Bildlichkeit die Symbolik des mit Covid-19 praktizierten symbolischen Denkens. Der Kunsthistoriker Jörg Probst gliedert die dazugehörige Ikonographie »in drei Klassen oder Bilderkreise«. Erstens seien die Visualisierungen »ein Versuch, die medizinische Gefahr der Erkrankung direkt als Naturkatastrophe zu symbolisieren.« Zweitens würden die Gefahren in den Blick genommen, »die von den notwendigen Maßnahmen im Kampf gegen Corona und daher […] indirekt von dieser Naturkatastrophe ausgehen (also etwa die Einschränkungen des sozialen Lebens […])«. Drittens geht es um die Wahrnehmung der Corona-Krise »als politische Bedrohung […] also eine Übersteigerung der Seuche als mythischer politischer Angriff, d. h. der ›Krise als Krieg‹«.11 Alles, was es an medialer Konstruktion und auch Manipulation von Bildern in dieser Krise geben konnte, manifestiert sich in den legendär gewordenen »Bildern von Bergamo«. Deutsche Politiker haben mit diesem ikonischen Verweis hantiert wie mit einer einschüchternden Brandfackel. Aus der Vielzahl der getätigten Äußerungen sei hier als prägnantes Beispiel ein Satz aus einem Interview der »Welt« mit dem CDU-Politiker Carsten Linnemann von 2020 angeführt: »Wir haben die Bilder in Bergamo gesehen, und wir hätten es als deutsche Bevölkerung ethisch kaum ausgehalten, wenn es bei uns solche Szenen gegeben hätte.«12 Obwohl dieses verbildlichte Symbol für die Epidemie als weltweite Katastrophe hinreichend in seiner unzutreffenden Kausalität dekonstruiert wurde, steht diese in seiner Wirkmächtigkeit weiterhin wie kein anderes Bilddokument für den Beginn der Corona-Krise, ähnlich der einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York von 2001. Gerade deshalb scheint es sinnvoll, sich der für die mediale Konstruktion symptomatischen Einzelheiten genau bewusst zu werden. Zunächst gab es Fotos von aneinandergereihten Särgen, die angeblich in einer Kirche der Stadt Bergamo aufgestellt waren. Dabei stellte sich schnell heraus, dass diese Bilder in Wirklichkeit 2013 auf der Insel Lampedusa aufgenommen worden waren.13 Das Motiv der überfüllten Intensivstation im Krankenhaus von Bergamo 11 Probst, Jörg: Zwischen Invasor und unsichtbarem Gegner. Corona als politische Ikonographie. In: Sozialfiguren der Corona-Pandemie. Blog-Reihe des Instituts für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. (letzter Zugriff: 26. 05.2021). 12 Vitzthum, Thomas: Aus Kurzarbeitern können viele Arbeitslose werden, Interview mit dem CDU-Wirtschaftspolitiker Carsten Linnemann. In: Die Welt vom 29. 05. 2020. 13 Nachrichtenagentur Reuters: False Claim: Photo shows coffins of coronavirus victims in Italy vom 28. 03. 2020. (letzter Zugriff: 26. 05. 2021).

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ist kaum noch erinnerbar, weil sich diese Szenen unzählige Male in anderen Teilen der Welt wiederholten. In Erinnerung geblieben ist eigentlich nur ein einziges Bild, das sich in das mediale Gedächtnis eingebrannt hat: ein nächtlicher Konvoi von Militärlastern, der Leichen aus der Stadt transportiert. Mit welcher Bedeutungsverschiebung dieses Foto im Netz kursierte, rekonstruierte im Mai vergangenen Jahres die »Neue Zürcher Zeitung«.14 Eigentlich handelt es sich dabei um einen Schnappschuss des 28-jährigen Emanuele di Terlizzi am Abend des 18. März 2020 mit seinem Mobiltelefon von einem Balkon aus. Der Ryanair-Flugbegleiter ging davon aus, dass die LKWs Material für den Aufbau eines Notkrankenhauses transportieren. Bei der Verbreitung im Netz wurde schnell klar, welche Fracht hier geladen war. Am nächsten Morgen schrieb die italienische Zeitung »Il Messaggero« vom »Symbolbild des Todes«.15 Dass diese symbolische Aufladung in einem weltweiten Kontext funktionieren konnte, hängt mit der Möglichkeit zusammen, auf das bildkulturelle Gedächtnis einer breiten Öffentlichkeit zurückzugreifen. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass möglichst viele dieser Fahrzeuge gezeigt werden und der Eindruck einer ewig langen Kolonne entsteht – mit der Aussage, dass man, um die Leichenberge abtransportieren zu können, das Militär benötige. Tatsächlich bestand der Konvoi aus 13 LKWs, und ein solcher Einsatz von Soldaten wurde nicht wegen der hohen Anzahl der Toten angeordnet, sondern damit sich die Angehörigen der Verstorbenen nicht infizierten. Die visuelle Kraft der Bilder von Bergamo beruht vor allem darauf, dass scheinbar die Fiktion durch die Realität eingeholt wurde. Denn zu dieser Zeit zählte Wolfgang Petersens Pandemie-Drama »Outbreak« von 1995 zu den auf der Streaming-Plattform Netflix meist aufgerufenen Spielfilmen, in dem eben genau eine solche Militärkolonne in der von einem tödlichen Virus heimgesuchten Kleinstadt »Cedar Creek« die Leichen abtransportiert. Diese wirkmächtige mediale Konstruktion beruht zweifelsohne auf einer Reihe von Zufälligkeiten und auf der Dynamik der sozialen Netzwerke. Doch die die Realität verzerrende Übersteigerung konnte letztendlich nur durch das Versagen eines quellenkritischen Journalismus zustande kommen. Zum Forcieren einer ›wir‹-Perspektive: Ein grundsätzliches Problem der medialen Kommunikation im Pressesegment stellt die zunehmende Ausdifferenzierung der Interessen des Publikums besonders in Bezug auf politische Anschauungen und Lebensweisen dar. Dieser Veränderung wird in erster Linie durch eine breiter aufgestellte Programmgestaltung, Diversifizierung von Themen, Interviewpartnern und Gruppenpräsentation sowie durch identitätspoli14 Scherrer, Lucien: Diese schrecklichen Bilder – wie ein junger Italiener unsere Sicht auf das Coronavirus verändert hat. In: Neue Zürcher Zeitung vom 30. 05. 2020. 15 Giansoldati, Franca: L’immagine simbolo della morte a Bergamo, i forni crematori non riescono più a smaltire i cadaveri. In: Il Messaggero vom 19. 03. 2020.

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tischen Proporz begegnet. Im Bereich der Sprache stoßen die Möglichkeiten, die unterschiedlichen Nutzermilieus adäquat zu erreichen, schnell an die Grenzen kommunikativer Strukturen. Auch ein gendergerechter Modus lässt sich aus sprachlogischen Gründen nur bedingt zur plausiblen Anwendung bringen. Eher intuitiv versuchen die medialen Akteure das Spektrum solcher subtextoralen Einflussnahme zu erweitern. Dies geschieht nicht über eine redaktionelle Agenda, sondern per Aneignung in einer Art korporativem Bewusstsein über alle Journalistengenerationen hinweg. In dieser Hinsicht sei auf ein Phänomen eingegangen, das zwar bereits länger zu beobachten ist, in der Pandemie jedoch eine Konjunktur erlebt hat: die Verwendung eines virtuell konstruierten ›wir‹, das einerseits eine mediale Kumpanei mit den Adressaten zu konstruieren versucht. Andererseits wird dieses ›wir‹ zu einem pluralen Kampfpronomen, das vereinnahmt und ausgrenzt, umfunktioniert. Nachrichten- oder Magazinmoderationen im Rundfunk oder Fernsehen greifen immer öfter auf dieses vereinnahmende grammatische Instrumentarium zurück, um im Subtext eine politische oder moralische Position zu formulieren und damit im Namen einer vermeintlich übergroßen Mehrheit für oder gegen eine Anschauung oder Gruppierung Stellung zu nehmen, wenngleich die Rezeptionsgemeinschaft des Programms in der Tendenz immer kleiner und heterogener wird. Jene Medienkonsumenten, für die der Sender in seiner politischen Ausrichtung eine Echokammer darstellt, können mit dieser Ansprache leben. Der größere Teil fühlt sich, weil nicht dazugehörend, in aller Regel durch die über die Grammatik vermittelte Textstimmung gekränkt, verärgert oder abgestoßen. Mittlerweile gehört die Frage »Wer ist mit wir gemeint?« zu den häufigen Kommentaren unter Beiträgen in den OnlineAuftritten klassischer Massenmedien in den sozialen Netzwerken. So scheint sich die Absicht, mit einer simulierten medialen Vereinnahmung den Verlust von Zuschauern, Zuhörern oder Lesern zu kompensieren, in das Gegenteil zu verkehren. Wenn man sich unter diesem Aspekt die Wiederholungen der »Tagesschau« vor 30 oder 40 Jahren anschaut, verströmen diese in ihrer pronominalen Neutralität eine geradezu wohltuend anmutende Nachrichtensemantik. Das vereinnahmende ›wir‹ steht mittlerweile für die umfangreichste tägliche mediale Verzerrung abgebildeter Medienakzeptanz, die die in kontrovers diskutierten Themenfeldern detektierten Störungen verstärkt. In der Pandemie ist dem Phänomen der pronominalen Vereinnahmung geradezu eine Schlüsselrolle in der medialen und politischen Kommunikation zugewachsen. Zum einen wird hierüber versucht, eine Gemeinschaft als eine in den Anschauungen fragmentierte und auseinanderstrebende zu simulieren. Im Einzelfall kann man sehen, dass es sich bei den Solidaritätsbeziehungen um reine Stimmungen handelt, die sich am Ende in der sozialen Realität nicht abbilden. Für die beklatschten Pflegekräfte ändert sich z. B. bei allen politischen Bekundungen, soweit es absehbar ist, kaum etwas grundsätzlich in deren Arbeitsbe-

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dingungen. Solche medialen Seifenblasen sind schnell geplatzt und verstärken den Frust der Betroffenen. Der Sozialphilosoph Robin Celikates bewertet in Bezug auf die Pandemie dieses Ideal der Solidarität aus grundsätzlichen Erwägungen als schlicht nicht erfüllbar, denn, so unterstreicht er, wir leben »in einer Gesellschaft, in der wir sozial gesehen auf komplett ungleiche Weise zusammenleben«.16 Zum anderen wird ein ›wir‹ gegen eine Gruppe in der Gesellschaft positioniert, die sich nicht konform zur staatlichen Corona-Politik verhält. Die Medienakteure, die durch journalistische Standards in einer klaren polarisierten Ausgangslage zur politischen Neutralität verpflichtet sind, schaffen ein korporatives ›wir‹, das für eine Ausgrenzung instrumentalisiert wird. Als ein typisches Beispiel sei hier die Fernsehsendung ARD-»Presseklub« genannt, deren Folge vom 6. September 2020 unter der Überschrift »Die gereizte Republik – Wie gehen wir mit den Protesten um?« ausgestrahlt wurde. Anlass waren die Straßenproteste am 15. August 2020 in Berlin, jedoch stellte sich im Laufe der Sendung schnell heraus, dass es um das grundsätzliche Nicht-Einverständnis mit der Corona-Politik der Regierung geht, das es aufzulösen gelte. Die Moderatorin Ellen Ehni formulierte in diesem Sinn die Frage: »Wie können wir das denn […] jetzt wieder positiv münzen? Wir müssen da ja wieder rauskommen aus dieser Grundgereiztheit.«17 Das zu definierende ›wir‹ wurde in dieser Sendung nicht benannt, jedoch klargemacht, dass dieses es Staat, Medien und Befürworter der Corona-Politik umfasst. Wenn hier also als gesellschaftliches Ziel ausgegeben wird, die »Grundgereiztheit«, d. h. jedweden Protest zu beenden, muss man das dieserart verwendete ›wir‹ als das sprachliche Abbild einer totalitären Haltung interpretieren, das bei den Rezipienten Widerspruch geradezu herausfordert. Meist bleibt die Verwendung des vereinnahmenden ›wir‹ den Beleg einer Pluralität schuldig und deckt stattdessen gerade mal eine einzelne journalistische Ansicht ab. Dabei geht es den Produzenten von Nachrichten in erster Linie um die Legitimierung der verbreiteten Informationen mittels einer vorgetäuschten Betroffenheit. Ein Beispiel aus der »Neuen Zürcher Zeitung« soll für dieses zu beobachtende Spezifikum stehen: Ein Artikel der Online-Ausgabe vom 2. Mai 2020 wurde mit der Überschrift versehen: »Der Segen des Irrsinns: Warum wir Verschwörungstheorien für glaubhaft halten«.18 Diese Schlagzeile behauptet also, 16 Führer, Susanne: Interview mit Robin Celikates im Deutschlandradio Kultur vom 06. 02. 2021. (letzter Zugriff: 18. 06. 2021). 17 Presseclub der ARD vom 06. 09. 2020. (letzter Zugriff: 19. 06. 2021). 18 Bracher, Katharina: Der Segen des Irrsinns: Warum wir Verschwörungstheorien für glaubhaft halten. In: Neue Zürcher Zeitung vom 02. 05. 2020. (letzter Zugriff: 19. 06. 2021).

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dass, wenn nicht die ganze Gesellschaft, zumindest die Leserschaft der »NZZ« solche Verschwörungstheorien für realistisch erachten. Liest man nun den Text, so wird das in der Titelzeile angekündigte ›wir‹ aber nicht nur nicht gestützt, sondern auf eine Einzelperson reduziert. So heißt es dort zum Beweis: »Die Bekannte vom Yoga-Studio etwa ist aus einem westlichen Industrieland eingewandert, sie hat mindestens einen Hochschulabschluss, spricht vier Sprachen und arbeitet in leitender Position in einem international tätigen Unternehmen. Für Leute wie sie und eine wachsende Anzahl von Personen scheinen Verschwörungstheorien plausibler als die Informationen zur Pandemie von Wissenschaft und Behörden.«19

Es handelt sich also um einen Artikel, in dem Verschwörungstheorien u. a. über die mangelnde Nachprüfbarkeit von Fakten definiert und von der Ansicht einer einzigen Person auf eine nicht nachprüfbare Anzahl von Personen, die diesen Theorien verfallen sein sollen, geschlossen wird. Solche pronominalen Täuschungen scheinen gegenwärtig zum Standardrepertoire journalistischer Arbeit bei der Konstruktion von Realitäten zu gehören, meistens um Trends aufzuspüren oder nachzugehen, die eigentlich keine sind. Als verhängnisvoll erweist sich dabei, dass Entwicklungen in der Gesellschaft eine Relevanz zugesprochen bekommen, die ihnen von sich aus überhaupt nicht zuwächst. Um es zu pointieren: Einige tausend protestierende Leute auf der Straße bedeuten scheinbar eine massive Bedrohung der Demokratie und Spaltung der Gesellschaft. Der Grund für eine solche Störungsverstärkung liegt in diesen Fällen der Realitätsverzerrung nicht einmal im Abwehrmoment irrationaler Theorien. Es ist der Gebrauch einer willkommenen Störung, um damit politische Ansichten oder gar eine Systemapologetik besser kontrastieren zu können. Die übermäßige mediale Behandlung von Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie setzt nach dem Ausschlussprinzip alle anderen Erklärungen, so fragwürdig diese auch sein mögen, erst ins Recht oder zumindest in ein besseres Licht. Die als Verschwörungstheorien deklarierten Anschauungen werden als Störung der Akzeptanz von getroffenen Vereinbarungen über die Ursachen oder die Bekämpfung einer infektiologischen Lage wahrgenommen. Die Störungsverstärkung für dieses zahlenmäßig sehr kleine Phänomen besorgen jedoch nicht allein die sozialen Netzwerke, sondern in einer geradezu überbordenden Berichterstattung die klassischen Massenmedien mit ihrer vorgeblichen Aufklärungsabsicht. So stimmen 13 % aller Befragten der Aussage zu, dass das Corona-Virus eine »chinesische Bio-Waffe«20 sei. Dass dies zu dieser Zeit überhaupt unter Verschwörungstheorien subsummiert wurde, hat mit der Verbreitung der Labor19 Ebd. 20 Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung vom Juli 2020. (letzter Zugriff: 23. 06. 2021).

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these der Trump-Regierung zu tun, die in den deutschen Medien überwiegend dem Ablenkungsmanöver eines in der Pandemiebekämpfung gescheiterten Präsidenten zugerechnet wurde.21 Als anschließend die Biden-Administration den Nachweis einer solchen Laborthese im Mai dieses Jahres forcierte, begründeten die meisten Berichte in den deutschen Medien dies mit einem rationalen Kalkül, mit dem der Anmutung einer Verschwörungstheorie der Boden entzogen wäre.22 Dieses Beispiel soll deutlich machen, wie klassische Massenmedien je nach politischen Präferenzen mediale Konstruktionen entstehen lassen, die vermeintliche Verschwörungstheorien hervorbringen, also einen Störungsprozess organisieren und bei einer veränderten politischen Lage ihre Agenda relativ zügig wieder verändern. Die Störung in der medialen Kommunikation bleibt auf einer generalisierten Ebene in einer Umwertung bestehen, nämlich in Gestalt der Entplausibilisierung des politischen Journalismus, der von den Medienakteuren kaum reflektiert wird, aber im Mediengedächtnis der Rezipienten gegenüber Medienangeboten Skepsis bis Ablehnung erzeugt und in den sozialen Medien ein offenes, spekulatives Feld entstehen lässt. Die hier beleuchteten Beispiele medialer Konstruktionen mit ihrer störungsverstärkenden Wirkung stehen für eine grundsätzlich verzerrte Wahrnehmung der pandemischen Lage, die vor allem durch eine fortschreitende Entplausibilisierung des kommunikativen Inhalts entsteht. Dabei wirken diese fehlerhaften Vermittlungsoperationen der Massenmedien auch in die Politik zurück, beeinflussen politische Entscheidungen und setzen politische Akteure unter Druck. So sei zum Abschluss die These in den Raum gestellt, dass in der sog. ersten Welle im Frühjahr 2020 in Deutschland noch das Virus der Antreiber der Pandemie gewesen ist, doch spätestens zu Beginn des Herbstes im selben Jahr die widersprüchliche und zum Teil chaotische Kommunikation über die infektiologischen Prozesse einen großen Teil der ansteigenden Fallzahlen bedingt hat. Denn verlässliche Informationen über die zu erreichenden Ziele staatlichen Handelns gab es kaum noch. Jeder Rezipient musste sich seine subjektive Perspektive auf das Infektionsgeschehen zurechtlegen und in bestimmten Grenzen beliebig handeln. Darauf baute sich ein nicht mehr überschaubares Störungsfeld auf, weil es an den allgemein verbindlichen »Wirklichkeiten« fehlte.

21 Entstehung des Coronavirus. Der Präsident weiß mehr. In: Tagesschau vom 01. 05. 2020. (letzter Zugriff: 29. 06. 2021). 22 Corona-Pandemie: Neue Debatte über die Labortheorie. In: Tagesschau vom 31. 05. 2021. (letzter Zugriff: 29. 06. 2021).

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Die Coronapandemie als ein Krisenphänomen der Neuzeit

Selten wird im Zusammenhang der Coronakrise von dem spezifischen Zeitpunkt gesprochen, zu dem sie sich ereignet. Dabei ist der Moment, in dem gerade diese Krise in Erscheinung getreten ist, sehr vielsagend und verdient eine genauere Betrachtung. Um die Besonderheit des Zeitpunkts zu erfassen, müssen wir uns zunächst unseren aktuellen Ort im historischen Prozess vergegenwärtigen. Die gegenwärtige Epoche bezeichnet man als Moderne. Doch die Moderne, die mit der Industrialisierung und der Französischen Revolution begonnen hat, ist nur das Endresultat einer noch viel größeren Epoche, die sie einschließt und umfasst, nämlich der Neuzeit. Die Neuzeit setzt mit dem Fall von Byzanz, der Entdeckung des amerikanischen Doppelkontinents, der Reformation und dem Beginn der italienischen Renaissance ein, womit ein Zeitraum umrissen ist, der ungefähr um das Jahr 1500 angesiedelt ist.1 Die Frühe Neuzeit wird oft als Inkubationszeit der Moderne beschrieben, da sie bereits »alle jene Problemlagen enthält, die die Neuzeit bestimmen sollten.«2 Die Neuzeit insgesamt ist eine Großepoche, die das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter in seiner Gesamtheit beschreibt, nämlich von seiner Begründung bis zur hoch entwickelten technisch-naturwissenschaftlichen Welt unserer Gegenwart. Ähnlich wie bei den vorangegangenen Großepochen Antike und Mittelalter handelt es sich bei der Neuzeit um eine »Jahrhunderte überspannende Sinnstruktur«3, die trotz ihrer Binnendifferenzierung wiederkehrende Merkmale aufweist. Bereits zu Beginn der Neuzeit sind viele der Faktoren versammelt, die ihren weiteren Verlauf prägen sollten. Man denke etwa an die neue Kosmologie als Resultat der Kopernikanischen Wende, durch die der Mensch aus dem Zentrum einer heilsgeschichtlich interpretierten Welt unversehens an einen zufälligen, 1 Vgl. Jaeger, Friedrich: Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung und die Kategorie der Neuzeit. In: Rüsen, Jörn (Hg.): Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen. Biele feld: transcript 2003, S. 337. 2 Schulze, Winfried: Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters. In: Geschichte in Wissen schaft und Unterricht 44/1993. Stuttgart: Friedrich 1993. 3 Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 138.

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randständigen und bedeutungslosen Ort versetzt worden ist. Oder an die Folgen der Entdeckungsreisen des Kolumbus und seiner Nachfolger, durch die es ebenfalls zu einer plötzlichen Entgrenzung unseres Weltbildes gekommen ist. Beide Faktoren haben die Welt in einem bis dahin nicht gekannten Maße ihrer Mitte beraubt und sie damit auch profaniert. Der auf den Menschen hin ausgerichtete Sinn, welcher von der mittelalterlichen Religiosität noch zugrunde gelegt worden war, wird zusehends begründungsbedürftig und schließlich fragwürdig. In der nun angebrochenen Leere und Weite des entzauberten und seiner Qualitäten beraubten Raumes verändert sich die Rolle des Individuums. Dieses wird auf sich selbst zurückgeworfen und soll fortan alleine die Last tragen, die zuvor der Kirche und dem christlichen Erlösungsversprechen zugesprochen wurde – eine Entwicklung, in der sich bereits die Reformation und die Entstehung des Protestantismus mit seinem starken Bezug auf den Einzelnen ankündigt. Ebenso ist hier das moderne Verständnis des Individuums als Urteils- und Gewissensinstanz angelegt, dessen Selbstverständigungsprozesse wiederum die Entstehung einer autonomen, nämlich selbstgesetzlichen Kunst ermöglicht haben.4 Die Konsequenzen gehen sogar noch weiter: Waren im Mittelalter Gott und die Offenbarung der Heiligen Schrift Sinnbilder der Wahrheit, so hebt die Neuzeit mit der Erfahrung an, dass Wahrheit nur dann als Wahrheit gelten kann, wenn es dem menschlichen Verstand prinzipiell möglich ist, sie zu erkennen. Fortan ist nur noch das wahr, was unter Absehung von Erfahrung, nämlich a priori von einem menschlichen Verstand als widerspruchsfrei erkannt werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Engöttlichung der Wahrheit und ihres Abhängigwerdens vom transzendentalen Erkenntnisvermögen des Menschen wird verständlich, was die erkenntnistheoretische Revolution der aufkommenden Naturwissenschaften am Beginn der Neuzeit eigentlich gewesen ist. Hinter ihr steht nämlich die Erfahrung, die später Friedrich Nietzsche in seinem Aphorismus vom »tollen Menschen« zusammenfassen sollte5, dass nämlich die Grenzen, die eine von der Gottesidee geprägte Welt einst mit Sinn umschlossen hatten, unwiederbringlich gefallen sind und fortan der Mensch selbst in die Position gerät, die Welt neu zu vermessen und zu bewerten. Die Neuzeit ist eine Epoche, in der vorgegebene Grenzen schnell fraglich werden und in der schließlich sogar die Welt selbst zum Gegenstand der Interpretation und Vorstellung wird. Von einem rein politischen Standpunkt aus betrachtet, unterscheidet sich das nun angebrochene Zeitalter vom vorherigen durch »die ungehemmte Entfesse-

4 Vgl. Heinrich, Klaus: Floß der Medusa. Drei Studien zur Faszinationsgeschichte. Basel/Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995. 5 Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft. In: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 3, Colli, Giorgio/Montinari, Mezzino (Hg.). München/Berlin/ New York: dtv/de Gruyter 1988, S. 480.

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lung der Produktiv- und Einbildungskräfte.«6 Konkret manifestiert sich dies in der kontinuierlichen Entwicklung von Technik, Kapital und imperialer Macht. Am Beginn der Neuzeit kommt es zur Entstehung der portugiesischen und spanischen Seemacht und damit zur Etablierung der ersten beiden europäischen Kolonialreiche. Die ungebundene Entfaltung aller Produktiv- und Einbildungskräfte, die schon den Plünderungen der spanischen und portugiesischen Kolonialisten etwa in Süd- und Mittelamerika zugrunde lag, wird fortan die Neuzeit insgesamt auszeichnen. Zugleich wird durch die sich entfaltende Technik und Wissenschaft der bereits zum Tragen gekommene Prozess der Entzauberung weiter vorangetrieben: Je mehr der Abstand zur Welt wächst, desto mehr Handlungsmöglichkeiten zeigen sich, welche wiederum die Entwicklungsdynamik der neuzeitlichen Welt beschleunigen. Auch wenn die Neuzeit in ihrem Verlauf hier und da ruhige Epochen und Plateaus kennt, ja auch vereinzelt goldene Zeitalter der Kulturentwicklung hervorgebracht hat, so ist sie insgesamt doch eine Epoche ohne Maß und Gleichgewicht. Alle Versuche, bleibende Wertmaßstäbe aufzurichten und Orientierungspunkte zu schaffen – etwa die in Revolutionen proklamierten Menschenrechtserklärungen, Verfassungen, Regeln der Gewaltenteilung und der Kapitalkontrolle –, gelingen stets nur für ein paar Generationen, ehe sie von der geschichtlichen Dynamik der Neuzeit wieder unterspült und aufgelöst werden. So markiert die Neuzeit insgesamt eine Phase der Menschheitsentwicklung, in der der Mensch unruhig und hektisch das Vakuum zu füllen versucht, welches einerseits der entgrenzte Kosmos und andererseits der zunehmend als gottlos wahrgenommene Himmel in einer immer materialistischer interpretierten Welt hinterlassen haben. In schneller Abfolge wachsen und zerfallen in der Neuzeit die Imperien. Jedes von ihnen stellt in gewisser Weise ein Projekt der menschlichen Hybris dar, einen Turmbau zu Babel, einen Versuch des Menschen, den vakanten Platz Gottes einzunehmen. So löst der Aufstieg und Fall des spanischen Weltreichs eine lange Kette imperialer Auf- und Abstiege aus, oft begleitet von Kriegen und Bürgerkriegen, an deren Endpunkt die von den USA verwaltete globalisierte Welt steht. Doch auch deren Friede ist trügerisch, denn auch die amerikanische Macht erweist sich als brüchig, auch in ihr ist die beispiellose Entfesselung der Produktiv- und Einbildungskräfte nicht zur Ruhe gekommen. Und so treibt auch sie mit schicksalhafter Notwendigkeit auf den nächsten Kataklysmus zu. Die Coronakrise tritt zu einem Zeitpunkt auf, zu dem diese vor einem halben Jahrtausend eingeleitete Dynamik erstmals an eine Grenze stößt, weil die für den Imperialismus notwendige Voraussetzung einer militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Überlegenheit gegenüber China nicht mehr gegeben ist, 6 Taubes, Jacob: Die Welt als Fiktion und Vorstellung. In: Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hg.): Funktionen des Fiktiven. Poetik und Hermeneutik Bd. 10, München: Fink 1983, S. 421.

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ja sich sogar umzukehren droht: Die von den Europäern über mehrere Jahrhunderte hinweg geschaffene Weltordnung hat ihren Zenit überschritten. Die Zukunft liegt in Asien, und die meisten Europäer wissen oder erahnen dies auch. Die alte und komplexe Zivilisation aus dem Osten, die in den letzten Jahrhunderten kaum geschichtsmächtig gewesen ist, steht im Begriff, erneut die Weltbühne zu betreten und auf dieser ihr spezifisches Weltverhältnis zur Geltung zu bringen. Damit kommt eine Epoche zum Abschluss, die vor einem halben Jahrtausend mit den Entdeckungsreisen des Kolumbus begonnen hat. Doch weder Europa, noch die USA sind auf diese Veränderung vorbereitet. Allerdings ist die Coronakrise auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Die Krise tritt nämlich in einem geschichtlichen Moment auf, in dem ganz neue Technologien bereitstehen, Gesellschaften radikal umzugestalten. Viele dieser Technologien begleiten uns zwar schon seit Längerem, etwa die Computertechnologie, das Internet, soziale Medien oder das Data-Mining und die daraus resultierende fortschreitende Überwachung. Auch die Gentechnik, die künstliche Intelligenz, 5 G, das Internet der Dinge und die Smart City werden schon seit Längerem entwickelt und diskutiert. Doch erst jetzt, mit dem Eintritt in die 20erJahre des 21. Jahrhunderts erreichen diese Entwicklungen eine Reife, durch die erstmals die vollständige Reorganisation der Gesellschaft möglich geworden ist. Das zentrale Merkmal all dieser Technologien besteht darin, dass sie dem Konzept der menschlichen Freiheit zu widersprechen scheinen. Die Gentechnik löst die Freiheit am fundamentalsten auf, da sie die Unverfügbarkeit des eigenen Seins bestreitet, den einzelnen Menschen dem göttlichen Schöpfer entreißt und ihn stattdessen einem anderen Menschen, der sich die Rolle des Schöpfers anmaßt, unterordnet.7 Die künstliche Intelligenz, 5 G, das Internet der Dinge und die Smart City weisen wiederum auf die Dystopie einer totalen Überwachungsgesellschaft voraus. Damit verwirklicht sich ein negatives Bild unserer Zukunft, das bereits in vielen Science-Fiction-Romanen wie etwa »1984« von Georg Orwell oder »Brave New World« von Aldous Huxley hellsichtig vorausgeahnt worden ist. Diese und viele andere Romane des Genres haben bereits das Schreckensbild einer Zukunft entworfen, in der eine neofeudale, mittelalterliche Ordnung mit der Vision eines auf Hochtechnologie basierenden Überwachungsstaates aufs Engste verschränkt ist. Der Coronakrise kommt somit die Rolle eines großen Katalysators zu: Sie beschleunigt die sich ohnehin vollziehende technologische Umgestaltung unserer Gesellschaft. Sie fegt die letzten Bedenken in Sachen Datenschutz beiseite; sie lässt die Erfassung aller Bewegungen innerhalb der Gesellschaft durch eine 7 Vgl. Schreyer, Paul: Faktencheck: Sind die mRNA-Injektionen Impfungen oder Gentherapie? (Multipolar, 03. 12. 2021) (letzter Zugriff: 14. 01. 2022).

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Tracking-App legitim erscheinen. Sie zerreißt die etablierten Beziehungen der Gesellschaft und vereinzelt den Menschen, indem sie den Schul- und Universitätsunterricht ins Internet verlagert. Schließlich hat sie die Einführung gentherapeutischer Impfstoffe mit großer Eile vorangetrieben und erhebt das Impfen zu einer obligatorischen gesellschaftlichen Praxis. Sie schafft insgesamt einen therapeutischen Staat, der den Bürgern die Verantwortung für die eigene Gesundheit abspricht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Auskunft über Impfstatus, Antikörper und Sozialkontakte verlangt und am Ende sogar das fundamentalste aller Freiheitsrechte infrage stellt: das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Doch die Coronakrise wirkt auch noch in einer weiteren Hinsicht als Katalysator, hat sie doch ein international geltendes Regelwerk für den Umgang mit dem Virus hervorgebracht, das zu einer fundamentalen Vereinheitlichung der Maßnahmen geführt hat. Hunderte Staaten haben in enger Übereinstimmung dieselben Regeln zum Testen, zur Quarantäne, zur Schließung der Gesellschaft, zur öffentlichen Kommunikation über die Krise und schlussendlich zum Impfen eingeführt. Die Gleichförmigkeit der Maßnahmen ist historisch beispiellos und nur erklärbar durch die Errichtung einer Machtvertikale in großen Teilen der Welt.8 Die Coronakrise ist somit nicht nur ein Wegbereiter des digitalen Umbaus der Gesellschaft, sondern sie unterstützt auch die Entwicklung hin zur Entstehung großer Verbünde von Staaten, die ihre Souveränität an eine übergeordnete Instanz abgeben. Wir stehen damit am Beginn einer doppelten Reorganisation: Einerseits wird das Verhältnis des Individuums zum Staat, zur Gesellschaft, zur Wirtschaft und schlussendlich zur Technik und zum eigenen Körper fundamental neu konfiguriert. Andererseits werden zugleich auch die internationalen Beziehungen im Zuge der Coronakrise reorganisiert, und zwar insofern, als anhand der Gesundheitspolitik innenpolitische Prozesse erstmals global vereinheitlicht werden. In beiden Fällen wird eine Machtvertikale geschaffen, einmal innenpolitisch und einmal außenpolitisch, wobei die Außenpolitik, wie die deutsche Außenministerin Baerbock kürzlich wissen ließ, zur »Weltinnenpolitik«9 umdefiniert wird. Die drei Imperative der Neuzeit, nämlich Technik, Kapital und imperiale Macht, nehmen in der Coronakrise eine neue Gestalt an. Die leitenden Akteure dieser Umgestaltung sind vor allem die großen Internetmonopole, allen voran Apple, Amazon, Alphabet (Google), Microsoft und Meta (früher Facebook). Ihre Marktkapitalisierung, also der summierte Wert 8 Schreyer, Paul: Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte. Frankfurt a. M.: Westend 2020. 9 Außenpolitik ist Weltinnenpolitik. In: taz, 02. 12. 2021, (letzter Zugriff: 17. 01. 2022).

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aller herausgegebenen Aktien, lag bereits im März 2021 bei 7,6 Billionen bzw. 7600 Milliarden Dollar10 und hat sich bis zum 4. Januar 2022 auf einen Wert von 9,9 Billionen bzw. 9900 Milliarden Dollar erhöht.11 Hinzu kommen die beiden größten Vermögensverwalter der Welt, BlackRock12 und Vanguard13, die zusam men mehr als 16 Billionen bzw. 16 000 Milliarden Dollar verwalten. Dritter im Bunde sind die großen Pharmakonzerne, die enorm von der globalen Impfkampagne profitiert haben. Diese Akteure machen kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie alles, was technologisch machbar ist, langfristig auch durchführen möchten. Nicht nur ist bereits die Abschaffung des Bargelds geplant, auch der Staat selbst soll allmählich zur digitalen Plattform mutieren, wobei den oben erwähnten Monopolstrukturen eine tragende, will sagen: verwaltende Rolle zukäme. Eine vitale Kultur und Tradition, die Einspruch erheben könnte, ist im Westen derzeit kaum auszumachen. Und dennoch wirkt die Umgestaltung künstlich und verfehlt, denn die Zeit, da Europa und die USA die Weltpolitik und die herrschenden Trends noch im Alleingang bestimmen konnten, ist eigentlich an ihr Ende gelangt. Angesichts des Aufstiegs Asiens müsste eine grundsätzliche Diskussion über die Fundamente der modernen Zivilisation geführt werden. Die imperiale Vergangenheit Westeuropas müsste dabei ebenso zur Sprache kommen, wie auch die Ausrichtung der bestehenden Naturwissenschaft und Technik einer Kritik und Neubewertung zu unterziehen wäre. Doch anstatt dass eine solche Diskussion begänne, wird die Coronakrise als Vorwand genutzt, um den seit 500 Jahren etablierten Ausgriff Europas auf die übrige Welt mit den Möglichkeiten neuer Technologien noch einmal auf die Spitze zu treiben. Versucht hier eine sterbende Epoche, ihren Bestand zu wahren? Ist die Coronakrise womöglich die Entsprechung zur Inquisition, durch welche die vergehende mittelalterliche Ordnung ihre Macht und Geltung noch einmal zu verlängern suchte? Käme die Vormachtstellung Europas und der USA an ihr Ende, so würde dies wohl auch das Ende der Neuzeit einläuten, in deren Zeichen sie begann. Doch was war die Neuzeit? Die Neuzeit hat so widersprüchliche Phänomene wie den kolonialen Ausgriff Europas auf die übrige Welt, den Kapitalismus, die Naturwissenschaft sowie eine nicht abreißende technologische Umwälzung eingeleitet. Aber auch politische Revolutionen, Freiheitsideale, die Reformation, eine große 10 Global Top 100 companies by market capitalisation. In: PricewaterhouseCoopers, May 2021, S. 22, (letzter Zugriff: 17. 01. 2022). 11 Apple stock will continue to grow faster than the economy, investor says. (letzter Zugriff: 17. 01. 2022). 12 Alleine das Vermögen von Blackrock ist so groß wie das Vermögen der Hälfte Europas. 13 Facts about Vanguard. In: www.vanguard.com (letzter Zugriff: 17. 01. 2022).

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philosophische Tradition und nicht zuletzt die Autonomie der Kunst wurden von ihr hervorgebracht. Den eigentlichen Kern der Neuzeit bildet allerdings die aus dem Weltverhältnis der Naturwissenschaften hervorgegangene technologische Aneignung der Welt, die bereits am Beginn des Zeitalters präsent gewesen ist und nun am Ende nahezu alle übrigen Charakteristika der Neuzeit verdrängt hat. So reich die Neuzeit über weite Strecken ihres Verlaufs auch an Kunst, Philosophie und Religiosität gewesen ist, am Ende dominierte doch die technologisch-naturwissenschaftliche Aneignung der Welt. Im Folgenden soll daher die Frage aufgeworfen werden, ob der in der Coronakrise zutage getretene Trend zur Technokratie nicht vielleicht seinen Ursprung in der Begründung der Neuzeit selbst hat, nämlich in der bereits in der Frühen Neuzeit festgelegten Konzeption des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Könnte es sein, dass eine Naturwissenschaft, die strukturell Freiheit und Geist leugnet – und das ist bei der heutigen Naturwissenschaft, wie gezeigt werden soll, der Fall –, am Ende auch mit Notwendigkeit eine unfreie und geistlose Technik hervorbringen muss?

Die Prämissen des naturwissenschaftlichen Weltbildes Die naturwissenschaftliche Methode wird allgemein als sachlich und neutral angesehen. Dabei wird leicht vergessen, dass die Naturwissenschaft – wie alle geistigen Systeme – letztlich auch auf spezifischen Grundannahmen fußt, die notwendigerweise eine bestimmte Wirklicheit voraussetzen und eine andere ausschließen. Die Prämissen, auf denen die naturwissenschaftliche Methode beruht, lassen sich identifizieren. Dabei spielt es keine Rolle, welche Überzeugungen der einzelne Wissenschaftler selbst hat. Ob er in seinem privaten Leben religiös ist oder nicht, ob er humanistisch erzogen wurde oder nicht, ob er an die Freiheit des Menschen glaubt oder diese abstreitet – entscheidend sind nur die grundlegenden Prinzipien der naturwissenschaftlichen Methode selbst, der jeder einzelne Wissenschaftler folgen muss, sofern er mit seinen Forschungen wissenschaftliche Anerkennung finden möchte. Im Folgenden soll diesen Grundannahmen naturwissenschaftlichen Denkens nachgegangen werden. Dies geschieht in der Hoffnung, dass es möglich ist, hierdurch die Richtung, die der technologische Fortschritt in der Neuzeit angenommen hat, besser zu verstehen: Auf welchen Voraussetzungen beruht Naturwissenschaft im Allgemeinen? Was sind die Hintergrundannahmen naturwissenschaftlichen Denkens? Welche Rolle spielen die Naturwissenschaften innerhalb der Neuzeit und in welchem Grade ist die Neuzeit durch den Siegeszug der Naturwissenschaften definiert? Lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen den Widersprüchen der aktuellen Coronakrise und der vor ca. 400 bis 500 Jahren erfolgten Entstehung der Naturwissenschaften?

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In den zwei Jahrtausenden, welche zwischen der Blüte der griechischen Philosophie und dem Aufkommen der Naturwissenschaft in der Renaissance lagen, war es die Regel, dass jede Form von Gelehrsamkeit auf Ideen bezogen war und vor dem Hintergrund der etablierten Wissenstraditionen auch auf diese bezogen sein musste. Das Nachdenken über die Wirklichkeit war immer mit dem Versuch verbunden, ihr einen Sinngehalt zu unterstellen und diesen zu dechiffrieren. Die Wirklichkeit stand also unter dem Vorbehalt einer Sinnannahme. Die Genialität eines Wissenschaftlers wie Galileo Galilei bestand darin, mit dieser Konvention zu brechen und die Realität zu untersuchen, ohne sich auf Ideen zu beziehen. Stattdessen betrachtete Galilei die Phänomene der Realität einfach nur so, wie sie sich ihm darboten, und versuchte lediglich, ihre Funktionalität zu begreifen. Die bis dahin übliche Frage nach dem tieferen Grund und dem spezifischen Sein der Naturgesetze wurde fallen gelassen und die gesamte Autorität den empirischen Erscheinungen zugesprochen.14 Der Verzicht auf die Erkenntnis von Ideen bewirkte, dass die Schöpfung in gewisser Weise entheiligt wurde. In der so profanierten Welt, in der die Phänomene nicht mehr auf Ideen zurückgeführt werden mussten, konnten die Naturwissenschaften unumschränkt operativ werden. Durch das Ausklammern der Sinnfrage und den Rückzug auf eine beschreibende und nachvollziehende Position wurden die Naturwissenschaften in die Lage versetzt, vergleichbare, aufeinander aufbauende und vor allem praktisch anwendbare Resultate zu liefern. Ein weiteres wichtiges Element der naturwissenschaftlichen Methodik besteht darin, dass die Naturwissenschaften die einfache Erklärung vor der komplexen bevorzugen, ein Prinzip, welches bereits René Descartes in seiner Schrift »Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen« von 1637 als die dritte Grundregel wissenschaftlichen Denkens definiert hat: »Die dritte [Grundregel] war, in meinem Gedankengang die Ordnung festzuhalten, dass ich mit dem einfachsten und leichtesten Gegenständen begann und nur nach und nach zur Untersuchung der verwickelten aufstieg, und eine gleiche Ordnung in den Dingen selbst anzunehmen, selbst wenn auch das Eine nicht von Natur dem Anderen vorausgeht.«15 Die Vorteile dieser Methode liegen auf der Hand: Hochgeschraubten, aber nicht beweisbaren Spekulationen wird der Boden entzogen. Die Forschung muss zunächst das Naheliegende und Einfache berücksichtigen, bevor sie zum Komplexen fortschreitet; komplexe Phänomene sollen auf relativ einfache Zusammenhänge zurückgeführt werden. Doch der Übergang vom sinnvollen Grundsatz 14 Niederer, Ueli: Galileo Galilei und die Entwicklung der Physik. In: Vierteljahrsschrift der Na turforschenden Gesellschaft in Zürich, 127/3 (1982), S. 205–229. 15 Descartes, René: Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen (übers. v. Julius Heinrich von Kirchmann). Berlin: Contumax-Ho fenberg 2016, S. 13.

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zum Dogma ist fließend. Dogmatisch gewendet bedeutet dieselbe Forderung, dass eine Forschungsarbeit, um als wissenschaftlich zu gelten, das Komplexe auf das Einfache zurückführen muss. Indem man aber das Komplexe stets auf etwas Einfaches zurückführt, erscheint es am Ende selbst als etwas Einfaches. So wird zum Beispiel in der Evolutionstheorie die Komplexität des Lebens durch den Konkurrenzkampf der Arten erklärt und somit auf den Mechanismus einer natürlichen Zuchtwahl zurückgeführt. Sigmund Freud wiederum versuchte, komplexe Probleme der menschlichen Psyche, die ja letztlich auch geistiger Natur sind, aus Trieben, insbesondere dem Sexualtrieb abzuleiten. Nun ist Freuds Theorie, trotz der reduktionistischen Ansätze, die sie bereits enthält, äußerst originell und noch zwischen Natur- und Geisteswissenschaft angesiedelt. Die zeitgenössische Psychologie hat sich als Naturwissenschaft neu definiert, wodurch sich die Tendenz, das Komplexe auf Einfaches zurückzuführen, noch verstärkt hat. Selbst auf dem Gebiet der Ästhetik, das traditionell den Geisteswissenschaften zugehört, wurden Versuche unternommen, den Reduktionismus der Naturwissenschaften zu kopieren: So haben einzelne Theorien der Ästhetik den Versuch unternommen, das Phänomen der Kunst als Form des Zeichengebrauchs mit den Mitteln der Semiotik16 zu erklären; andere legen nahe, dass das Kunstwerk letztlich durch die im Laufe der Kunstgeschichte entstandenen Konventionen ermöglicht worden sei und folglich auch auf diese zurückgeführt werden könne.17 Reduktionistische Theorieansätze dieser Art dünken sich überlegen gegenüber solchen, die noch einen Sinngehalt im Kunstwerk aufsuchen. Zwar gibt es viele Beispiele, in denen die Herleitung des Komplexen aus dem Einfachen gelungen erscheint, allerdings muss man dennoch fragen, ob der Reduktionismus der naturwissenschaftlichen Methode und seine Übertragung auf bestimmte Bereiche der Geisteswissenschaften nicht dazu tendiert, die Welt insgesamt zu vereinfachen und so dazu beiträgt, die Existenz von etwas Hohem und Komplexem an sich zu leugnen. Wenn der Mensch, wie die Evolutionstheorie nahelegt, lediglich vom Affen abstammt, bedeutet dies indirekt zugleich, dass der Mensch auch nur ein etwas klügerer Affe ist, wodurch wiederum dem Mysterium der menschlichen Existenz, welches sowohl Theologie als auch Philosophie über so viele Jahrhunderte hinweg beschäftigt hat, der Boden entzogen wird. Diese Problematik wird noch durch einen weiteren methodischen Aspekt der Naturwissenschaften verstärkt, nämlich durch deren Tendenz, die Realität zu erkennen, indem die Phänomene zergliedert und in ihre Einzelelemente zerteilt 16 Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (übers. v. Bernd Philippi). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. 17 Vgl. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (übers. v. Max Looser). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.

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werden. In der bereits erwähnten Abhandlung des Descartes »Über die Methode, richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen« wird dieses Vorgehen als zweiter Grundsatz benannt.18 Die naturwissenschaftliche Methodik versucht, die Phänomene zu erklären, indem sie diese in ihre einzelnen Komponenten zerlegt, um dann rückwirkend ihr Zusammenwirken zu verstehen. Die Gegenposition zu diesem Vorgehen behauptet, dass das Ganze mehr ist als seine Einzelkomponenten. Dass also jede Gestalt eine eigene Wirklichkeit besitzt, die durch die Zergliederung in Einzelelemente gerade nicht erkannt, sondern nur zerstört werden kann. So lässt sich ein Musikstück schwerlich anhand der einzelnen Noten erkennen, ein Roman nicht anhand seiner einzelnen Kapitel, wohl aber anhand des Formverlaufs, in dem sowohl die Noten als auch die Kapitel stehen. Erst durch das Gefüge, in dem die Phänomene sich befinden, tritt die Gestalt hervor, welche in den Einzelelementen selbst nicht enthalten ist. Doch die Vorstellung, dass das Ganze mehr ist als seine Teile, wird von den Naturwissenschaften in der Regel nicht geteilt. Man geht stattdessen davon aus, dass das Ganze nur die Summe der Einzelkomponenten sein könne und darin vollständig aufgehe. Der Mensch ist im naturwissenschaftlichen Weltbild die Summe der Funktionen seiner Organe, weshalb auch der Austausch einzelner Organe im Zuge einer Organtransplantation durchaus vertretbar erscheint. Im wirklichen Leben ist die Organtransplantation jedoch ein hochgradig ambivalenter Vorgang, dessen Problematik bestehen bleibt, auch wenn diese im Horizont der Naturwissenschaften gar nicht mehr gedacht werden kann. Die Methode der Zergliederung dient den Naturwissenschaften letztlich dazu, die zugrunde liegende Kausalstruktur der Phänomene freizulegen. Durch das Zerlegen in Einzelkomponenten wird am Ende eine Art Funktionsskelett freigelegt. Dieses Funktionsskelett ist jedoch wieder nicht das ganze ungeteilte Phänomen, sondern lediglich eine reduktionistische Struktur, die gerade durch das Abschneiden des Komplexen und Lebendigen isoliert werden konnte. Die rein funktionale Orientierung der Naturwissenschaften ermöglicht es ihnen, bereits die bloße Kausalbeziehung zwischen einzelnen Elementen als Erkenntnis anzusehen. Sobald lebendige und vielschichtige Phänomene in eine abstrakte und funktionale Kausalkette übersetzt worden sind, gelten sie den Naturwissenschaften bereits als erkannt. Im Extremfall gilt ein Phänomen sogar bereits als verstanden, wenn eine mathematische Formel gefunden ist, die seine Funktion modellieren kann. Dass das eigentliche Sein und Wesen einer Sache durch eine solche Reduktion mitnichten erkannt ist, wird dabei meist vergessen. Diese Entwicklung setzt bereits mit Galileo Galilei ein, nimmt im Verlauf der Neuzeit beständig zu und hat in unserer Gegenwart ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. So beruhen in der modernen Physik viele Einsichten fast gänzlich auf 18 Descartes, René: Abhandlung über die Methode. S. 13.

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mathematischen Modellen. Man denke etwa an die Urknallforschung, die sich auf ein in unvorstellbarer zeitlicher Tiefe liegendes Ereignis bezieht, welches nicht mehr beobachtet und nur noch errechnet werden kann – und doch als etwas behandelt wird, dessen Existenz bereits bewiesen sei. Das mathematische Modell wird hierbei ontologisiert, also wie etwas Seiendes behandelt. Dabei ist immer noch ungeklärt, inwiefern mathematische Formeln tatsächlich eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben beziehungsweise ob es in der Wirklichkeit nicht auch etwas gibt, das prinzipiell nicht mathematisch erfasst werden kann. Etwas, von dem wir annehmen können, dass es sich der Mathematisierung entzieht, ist zum Beispiel das Leben selbst. Damit wird eine weitere, äußerst folgenreiche Prämisse des naturwissenschaftlichen Denkens berührt: der Atomismus der Wirklichkeit. Die Lehre vom Atom als kleinster Einheit der Wirklichkeit geht auf den griechischen Philosophen Epikur zurück. Bei ihm stand »das Individuum im Zentrum der Ethik und das Atom im Zentrum der Naturphilosophie«.19 Die Lehre vom kleinsten Teilchen wurde in dieser Parallelität – einmal als Naturphilosophie und einmal als politische Philosophie – in der Frühen Neuzeit wieder aufgegriffen und hat vor allem die angelsächsische Welt beeinflusst. Dort hat sie zweierlei bewirkt: Zum einen hat sie zur Entstehung politischer Theorien beigetragen, die die Gesellschaft ebenfalls auf ihre kleinste Einheit – nämlich das Individuum – zurückführten, was bewirkte, dass die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft nur noch im Kontext liberaler Vertragstheorie gedacht werden konnte. Und zum anderen hat sie die Hegemonie des naturwissenschaftlichen Denkens über die Geisteswissenschaften mit begünstigt, da vor dem Hintergrund einer Übertragung des Atomismus auf Gesellschaftszusammenhänge kollektive Prozesse wie zum Beispiel die Kulturentwicklung nur noch schwer benannt, geschweige denn gedeutet werden konnten. Alternativen zum Atomismus, mit anderen Anknüpfungen an die antike Überlieferung und der Fähigkeit, Kulturzusammenhänge besser zu verstehen und zu beschreiben, haben sich in der deutschen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts ausgebildet.20 Sie waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert äußerst einflussreich, konnten sich aber angesichts der geopolitisch und historisch stark veränderten Lage nach dem Zweiten Weltkrieg und während des beginnenden Kalten Krieges nicht mehr durchsetzen. Dem Atomismus zufolge bestehen alle Gegenstände aus Atomen, die wiederum als tote und unbelebte Materie angesehen werden. Das Leben wird von den Naturwissenschaften als etwas Sekundäres betrachtet, nämlich als etwas, das erst entsteht, wenn Atome sich zu Molekülen, schließlich zu Aminosäuren und 19 Richter, Edelbert: Deutsche Vernunft Angelsächsischer Verstand. Intime Beziehungen zwischen Geistes- und Politikgeschichte. Berlin: Logos Verlag 2015, S. 43. 20 Ebd.: S. 37f.

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anschließend zu komplexeren Zellen und Organismen verbunden haben. Indem aber bereits die Basis der Wirklichkeit – also das Atom – als etwas Totes angesehen wird, erscheint auch das Lebendige als ein lediglich Quasi-Lebendiges. Sein Lebendigsein verdankt sich höchstens der zunehmenden Komplexität, ist aber ansonsten vom Toten abgeleitet. Die tote Materie wird als das Primärphänomen angesehen, dem das Leben lediglich als Sekundärphänomen folgt. Den Naturwissenschaften liegt also die unausgesprochene These zugrunde, dass das Lebendige nur deshalb als lebendig erscheine, weil es aufgrund seiner Kompliziertheit noch nicht gänzlich verstanden sei. Sobald die Wissenschaft aber in der Lage wäre, diese Komplexität des Lebendigen vollständig zu erfassen, würde sich auch das Lebendige als eigentlich Totes zu erkennen geben. Bereits René Descartes hatte vor diesem Hintergrund angenommen, dass Tiere nur komplexe Automaten wären. Dass er diesen Verdacht auch auf den menschlichen Körper ausdehnte, geht aus seiner – aus Furcht vor der Inquisition unveröffentlichten – Schrift »Traité de l’homme« hervor, die nach seinem Tod unter dem Titel »De homine« erschien. Die menschliche Seele grenzte Descartes von dieser mechanistischen Sichtweise immerhin scharf ab und sprach ihr eine eigene Existenzform zu, die er res cogitans nannte, im Gegensatz zur res extensa. Die moderne Naturwissenschaft ist Descartes’ Lehre von den zwei Reichen allerdings nicht gefolgt und hat stattdessen seine mechanistische Sicht auf den bloßen Organismus universalisiert. Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht überraschend, dass die Naturwissenschaften insgesamt Totes sehr gut erklären können, wohingegen sie bis heute Schwierigkeiten damit haben, das Lebendige als solches zu verstehen. Nirgendwo wird dieses Defizit naturwissenschaftlichen Denkens so deutlich wie bei den Versuchen insbesondere der Medizin und Physik, das menschliche Bewusstsein zu erklären. Weil sich dem herrschenden Paradigma zufolge das Lebendige aus etwas Totem, nämlich aus Atomen, zusammensetzt, muss nach dem naturwissenschaftlichen Weltbild auch das Bewusstsein das Ergebnis des Zusammenspiels toter Materie sein. Dies hat zu einer Haltung geführt, die man heute bei vielen Neurowissenschaftlern beobachten kann, welche tendenziell das Bewusstsein leugnen und dieses lediglich als eine Art »Film« in unserem Gehirn definieren, der durch biochemische Reaktionen erzeugt wird. Dieser »Bewusstseinsfilm« habe zwar für den einzelnen Menschen eine subjektive Realität, wäre aber tatsächlich nur eine biochemisch bedingte Illusion, die notwendig für höhere Verstandesfunktionen sei und der somit ein evolutionärer Sinn im Naturprozess zukomme. Die Naturwissenschaften sehen das Bewusstsein somit lediglich als ein Sekundärphänomen an, das auf ein Primärphänomen, nämlich auf biochemische Reaktionen im Gehirn, zurückgeführt werden könne. Das Bewusstsein wird nicht als eigenständige Realität gewürdigt, sondern als ein von der toten Materie abgeleitetes Phänomen eingestuft.

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Dass die Naturwissenschaften das Bewusstsein nicht als eigenständige Größe anerkennen können, sondern der toten Materie unterordnen, hat seine tiefere Ursache darin, dass sie prinzipiell von einem monistischen Universum ausgehen. Der Kosmos kann allerdings nur dann monistisch aufgebaut sein, wenn der Gegensatz zwischen Innen- und Außenwelt aufhört zu existieren. Dies erfordert jedoch, dass entweder die Außen- der Innenwelt oder aber die Innen- der Außenwelt untergeordnet werden muss. Da die Naturwissenschaft an die Empirie gebunden ist, ist für sie nur ein monistischer Kosmos denkbar, in dem die Innenwelt als Unterfunktion der Außenwelt angesehen wird. Dies bedingt, dass auch das menschliche Bewusstsein in irgendeiner Art und Weise auf einen Bestandteil der Außenwelt zurückgeführt werden muss. Die heute allgemein angenommene Gleichsetzung von Bewusstsein und Gehirnaktivitäten ermöglicht diese Unterordnung der Innenwelt unter die gegenständliche Welt. Zwar ist es bislang kaum möglich, die Komplexität seelischer Vorgänge durch die Beobachtung von Gehirnaktivitäten zu erklären; die bisher entdeckten Zusammenhänge sind hauptsächlich funktionaler Natur und können geistig-seelische Vorgänge nur in äußerst bescheidenem Maße auf Gehirnaktivitäten zurückführen. Auch existieren zahlreiche geistige Phänomene, die einer direkten Gleichsetzung von Gehirn- und Bewusstseinsaktivität zu widersprechen scheinen (Nahtoderfahrungen, plötzliche Bewusstseinsklarheit in Todesnähe bei Menschen mit schwer geschädigten Gehirnen etc.21). Dennoch ist für das allgemeine Bewusstsein durch die üblicherweise zugrunde gelegte Gleichstellung von Gehirn und Bewusstsein die monistische Struktur der Realität erst einmal sichergestellt worden. Die Rückführung des Bewusstseins auf Vorgänge in der Außenwelt hat jedoch dramatische Konsequenzen für die Rolle, welche die Subjektivität selbst im Erkenntnisprozess einnehmen darf. Traditionell wurde Erkenntnis immer in eine Beziehung zum Erkennenden gesetzt und mit einer speziellen Befähigung des Erkennenden in Verbindung gebracht: Ein Erkennender war zu derjenigen EinSicht befähigt, die auch seiner Innenwelt entsprach. Die naturwissenschaftliche Methode beschreitet den exakt gegenteiligen Weg, insofern sie die Subjektivität des Forschers sogar als Hindernis der Erkenntnis betrachtet und nach Möglichkeiten sucht, diese auszuschalten. Ihr Ideal ist ein Forscher, der – wie ein Messinstrument – neutral und in gewisser Weise »unbeteiligt« an den Gegenstand herantritt, um ihn möglichst so zu erkennen, wie er »tatsächlich« sei: als ein rein äußeres Phänomen, das von keinen Regungen der menschlichen Innenwelt gestört oder getrübt wird. An die 21 MacIsaac, Tara: Do Alzheimer’s, Dementia Prove the Soul Doesn’t Exist? In: The Epoch Times, 02. 09. 2014. (letzter Zugriff: 17. 01. 2022).

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Stelle der einstigen Subjektivität tritt eine innerlich unbeteiligte, sachliche Verfahrensweise, die die Phänomene lediglich registriert. Der weiße Kittel des im Labor tätigen Naturwissenschaftlers bringt die Ausklammerung der menschlichen Subjektivität symbolisch zum Ausdruck. Das Problem hierbei besteht allerdings darin, dass die Ausklammerung der Subjektivität nicht wirklich gelingt, sondern sich immer wieder in Gestalt von Ideologien, Tabus und Rationalisierungen in die verschiedenen Bereiche und Stadien des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses einschleicht. Und selbst dort, wo sie tatsächlich zu gelingen scheint, muss ein sehr hoher Preis für die Ausklammerung der Subjektivität gezahlt werden. Um zumindest den Anschein subjektfreier Einsicht zu erreichen, sieht sich eine solche Wissenschaft nämlich beständig dazu gezwungen, das primäre Wissen, welches Menschen in ihrer Innenwelt von sich selbst haben, zu bestreiten. Die Naturwissenschaft kann nicht auf dem primären Wissen, das jeder Mensch von sich selbst hat, aufbauen, kann auch nicht mit diesem harmonieren oder produktiv zusammenwirken, sondern muss das Telos ihres eigenen Erkenntnisprozesses tendenziell gegen dieses primäre Selbstwissen des menschlichen Bewusstseins richten, seine Gültigkeit bestreiten, seine Existenz in Zweifel ziehen.22 Denn nur auf diese Weise kann sie sich selbst den Anschein einer von Subjektivität freien Einsicht geben. Ein primäres Wissen, das jeder Mensch von sich selbst hat, ist zum Beispiel das Wissen um sein eigenes Bewusstsein: Jeder Mensch weiß, dass er Bewusstsein hat. Er weiß zudem, dass dieses Bewusstsein eine Art Innenraum darstellt, welcher der Außenwelt gegenübersteht. Doch dieses primäre Wissen muss vom naturwissenschaftlichen Weltbild geleugnet werden, weil es in einem monistischen Universum keine Innenwelt im Sinne eines Primärphänomens geben darf. Die Leugnung der Innenwelt und ihre Rückführung auf die Außenwelt hat wiederum dramatische Konsequenzen für unser Freiheitsbewusstsein. Das Freiheitsbewusstsein ist ebenfalls ein primäres Wissen, das den monistischen Kosmos der Naturwissenschaften gefährdet und deshalb von den Naturwissenschaften prinzipiell – also bereits vor aller wissenschaftlichen Forschung und vor jedem Experiment – zurückgewiesen werden muss. Weil die Naturwissenschaften sehr erfolgreich innerhalb der Außenwelt und der unbelebten Materie Kausalzusammenhänge aufzudecken vermögen, bietet sich für sie ein scheinbarer Ausweg aus dem Dilemma an, mit dem sie konfrontiert sind. Die Lösung besteht darin, die Erfahrung existierender Kausalzusammenhänge einfach zu 22 Dass es sich beispielsweise bei der Krise der Kunst tatsächlich um eine Krise der Subjektivität handelt, welche sich heutzutage in immer geringerem Maße auf ihr primäres Wissen von sich selbst zu beziehen vermag, ist von dem Philosophen Dieter Henrich eingehend analysiert worden. Vgl. Henrich, Dieter: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst. München/Wien: Hanser 2001.

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universalisieren und auf die gesamte Wirklichkeit zu übertragen. Die entsprechende Behauptung lautet, dass die gesamte Außenwelt letztlich einen Zusammenhang von Ursache und Folge darstelle. Während ein Kausalzusammenhang in einem einzelnen untersuchten Phänomen endlich und somit noch erkennbar ist, stellt er sich, sobald er der Welt als Ganzes zugrunde gelegt wird, jedoch als unendlicher Zusammenhang von Ursache und Folge dar, der nur angenommen, aber niemals bewiesen werden kann. In einer solchen unendlichen Abfolge von Ursache und Wirkung kann es im Grunde genommen auch kein Leben im eigentlichen Sinne geben und erst recht kein Bewusstsein. Denn wenn die Abfolge von Ursache und Wirkung unendlich ist und prinzipiell alles mit einschließt – die gesamte Außenwelt wie auch die auf die Außenwelt zurückgeführte Innenwelt –, so schließt sie eben auch das Leben mit ein, mit all seinen Regungen und Äußerungen inklusive des Bewusstseins. Jede Bewegung eines Lebewesens und auch jeder Gedanke und jede Entscheidung eines menschlichen Bewusstseins wären dann ebenfalls einbegriffen in die unendliche Abfolge von Ursache und Folge und als solche bereits festgelegt, bevor sie überhaupt geschähen. Bewusstsein und Freiheit sowie ein Wissen um die Freiheit des Bewusstseins könnten in einer solchen Welt bestenfalls als Illusionen existieren, nicht aber als Elemente der Wirklichkeit. Gibt es Bewusstsein als eine eigenständige Größe, als ein mit Freiheit begabtes Bewusstsein, das von sich selbst weiß und sich infolgedessen auf sich selbst bezieht und in seiner Freiheitsmöglichkeit selbst bejaht und ergreift, so wird dieses Bewusstsein mit jeder freien Handlung die Außenwelt und ihre unendliche Kausalkette durchstoßen und unterbrechen. Diesen Gedanken können die Naturwissenschaften in der Regel aber nicht zulassen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass auch die Innenwelt des menschlichen Bewusstseins letztlich der Außenwelt zugerechnet werden muss und sich somit auch das Bewusstsein in die als unendlich angenommene Kausalkette der Natur einfügt. Da die Naturwissenschaften die Existenz einer unendlichen Kausalkette allerdings nicht beweisen können, ist diese Annahme letztendlich metaphysischer Natur.23 Der Unterschied zur philosophischen Metaphysik besteht darin, dass die Naturwissenschaft in der Regel kein Bewusstsein davon hat, dass sie selbst auf metaphysischen Grundannahmen beruht. Die Naturwissenschaft reduziert den Menschen kraft der ihr inhärenten und unbewussten Metaphysik auf sein Außen. Indem sie sogar die Innenwelterfahrung des Menschen der Außenwelt zurechnet und ihr unterordnet, sieht sie diese letztlich auch nur als einen Bestandteil der unendlichen Kausalkette der Natur an, was einer erheblichen Entwertung menschlicher Erfahrung gleichkommt. 23 Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus – Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Berlin /Heidelberg: Springer 2012, S. 45ff.

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Zu dieser negativen Haltung, die die Naturwissenschaften gegenüber der Selbsterfahrung des Menschen einnehmen, die diesem als Träger von Bewusstsein nun einmal zukommt, gehört auch die Leugnung der Gottesfrage. Die Naturwissenschaften waren nicht von Anfang an atheistisch orientiert: Berühmte Wissenschaftler wie Nikolaus Kopernikus und Isaac Newton bekannten sich zu ihrem Glauben an Gott. Kopernikus glaubte, durch seine heliozentrische Kosmologie die Harmonie von Gottes Schöpfung aufzeigen zu können, während Newton in seiner Theorie sogar Raum für göttliches Eingreifen ließ. Doch in dem Maße, in dem die Naturwissenschaften die Welt als eine monistische Ordnung interpretierten, mussten sowohl die Bewusstseinserfahrung und die Freiheitserfahrung als auch die Relevanz der Gottesfrage bestritten werden. Hinzu kam, dass insbesondere während der Aufklärung des 18. Jahrhunderts viele Wissenschaftler die geistige Macht der Kirche herausgefordert hatten und fortan mit ihr konkurrierten. All dies trug dazu bei, dass sich die Naturwissenschaften auf eine atheistische Position festlegten. Nimmt man den Objektivitätsanspruch der Wissenschaften ernst, so könnten diese eigentlich kaum etwas gegen eine agnostische Position einwenden: Der Agnostizismus, der die Frage nach der Existenz Gottes offen und also unbeantwortet lässt, sollte eigentlich mit der naturwissenschaftlichen Methodik grundsätzlich vereinbar sein. Tatsächlich erleben wir jedoch anderes: Die heutigen Naturwissenschaften können nicht einmal mehr die agnostische Position anerkennen. Sie haben sich auf die atheistische Position festgelegt, ungeachtet der Tatsache, dass die Nichtexistenz Gottes genauso wenig belegbar ist wie seine Existenz. In der heutigen naturwissenschaftlichen Forschung darf Gott nicht einmal mehr als unbewiesene Möglichkeit vorkommen. Bereits die Erwähnung der Gottesfrage kann heute an wissenschaftlichen Institutionen dazu führen, dass die wissenschaftliche Eignung des so Sprechenden infrage gestellt wird. An dieser materialistischen und monistischen Ausrichtung der Naturwissenschaften haben auch die wichtigen physikalischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts nicht wirklich etwas geändert. Die Relativitätstheorie ist im Grunde genommen mit dem Bild eines determinierten, toten und bewusstseinslosen Kosmos recht gut vereinbar. Die Quantenmechanik scheint allerdings einigen der hier aufgezählten Grundannahmen naturwissenschaftlichen Denkens zu widersprechen: Während die herkömmliche Naturwissenschaft prinzipiell glaubt, jedem Geschehnis einen festen Wert zuordnen zu können, sofern nur die Messinstrumente fein genug eingestellt sind, geht die Quantenmechanik davon aus, dass sich im Bereich der Atome prinzipiell nur noch Wahrscheinlichkeiten statt feste Zahlen messen lassen. Damit wird die naturwissenschaftliche Annahme einer die gesamte Welt umfassenden Kausalkette infrage gestellt. Die Quantenmechanik erkennt zudem an, dass der Vorgang des Beobachtens selbst bereits einen Effekt auf das beobachtete Objekt ausüben kann, womit sie die

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Möglichkeit einer subjektfreien Erkenntnis bestreitet. Dennoch hat die Quantenmechanik keinen wirklichen Einfluss auf unser kollektives Weltbild genommen: Kaum ein Naturwissenschaftler hat seine Skepsis gegenüber der Existenz einer Seele revidiert, nur weil die Unschärferelation existiert. Und auch die Anwendung der Quantenmechanik in vielen technischen Geräten hat unser Bild von der Welt nicht verändert. Dies könnte auch daran liegen, dass die auf Mathematik beruhende Quantenmechanik hinsichtlich ihrer Abstraktheit die herkömmliche Naturwissenschaft sogar noch übertrifft und schon allein deshalb kaum eine Alternative darstellt. Hinzu kommt noch, dass die Quantenmechanik nur im Bereich der kleinsten Teilchen gültig ist. Um wirklich ein neues Weltbild stiften zu können, wäre es – wie der Philosoph Jochen Kirchhoff überzeugend dargelegt hat24 – nötig, dass sich nachvollziehbare Verbindungen und Stufen zwischen den Vorgängen auf der Mikroebene und denen auf der Makroebene nachweisen lassen. Als ein rein mathematisches Modell von prinzipiell nicht beobachtbaren Vorgängen auf der atomaren Ebene ist die Quantenmechanik eine bloße Abstraktion, die aufgrund ihres geringen Realitätsbezuges keine wirkliche kulturelle Wirkung entfalten kann. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch die heutige Naturwissenschaft letztlich immer noch im wissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts verharrt und die Welt als ein gigantisches Ableitungssystem begreift, in dem alles auf etwas Vorheriges zurückgeführt werden könne.

Resümee Die bisherigen Ausführungen zeigen deutlich, dass den Naturwissenschaften, trotz ihrer unterschiedlichen Forschungsfelder, ein einheitliches und spezifisches Weltbild zugrunde liegt. Darin unterscheidet sich die Naturwissenschaft im Singular nicht grundsätzlich von anderen geistigen Systemen, seien dies Religionen oder Philosophien, von denen ebenfalls ganze Zeitalter geformt und geprägt worden sind. Diese Analogie ist nur deshalb überraschend, weil die Naturwissenschaften in der Vergangenheit viele metaphysische Grundannahmen der Religion und Philosophie entzaubert haben. Die Wissenschaften begannen als vorurteilsfreie Denkprozesse, die religiöse Dogmen hinterfragten. Doch je mehr sich die Naturwissenschaften darauf festlegten, die Welt als ein prinzipiell totes, determiniertes, subjektloses, unfreies und bewusstseinsloses Ableitungssystem zu begreifen, desto mehr begannen sie selbst, eine eigene Metaphysik hervorzubringen. Der Weg dahin verlief nicht 24 Kirchhoff, Jochen: Räume, Dimensionen, Weltmodelle. Impulse für eine andere Naturwissen schaft. Klein Jasedow: Drachenverlag 2007.

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geradlinig, sondern war von zahlreichen Abzweigungen, Widersprüchen und Weggabelungen bestimmt. Die Entwicklung hin zu einer dogmatischen Naturwissenschaft konnte so lange ausgeglichen werden, wie die Neuzeit neben der Naturwissenschaft auch vitale Philosophie, Kunst, Musik und Literatur hervorbrachte, welche immer wieder andere einflussreiche Weltdeutungen zu entwerfen vermochten. Doch bereits Goethe, dessen Epoche eine Blütezeit der Philosophie darstellte, erahnte die heraufziehende Dominanz eines an Newton orientierten Wissenschaftsbegriffs und versuchte dagegen, seine Farbenlehre als Alternative zu etablieren. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerät der philosophische Idealismus in Verruf und beginnt sich die Dominanz des naturwissenschaftlichen Weltzugangs abzuzeichnen, weshalb auch zunehmend geisteswissenschaftliche Theorien auf Elemente der naturwissenschaftlichen Methodik zurückgriffen. Sowohl nach dem ersten als auch nach dem zweiten Weltkrieg gab es ernsthafte Versuche, durch eine konsequente Erkenntnis des Geschehenen die Geltung der Geisteswissenschaften zu behaupten. Allerdings war die Beschleunigung des technischen Fortschritts in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts vereint mit der verführerischen Macht der Konsumkultur so gewaltig, dass der Einspruch der Geisteswissenschaft ohnmächtig verhallte. Und als schließlich mit dem Fall der Mauer der Versuch eine Gesellschaft auf einer Philosophie zu begründen vielleicht voreilig für gescheitert erklärt wurde, bricht eine Zeit unabsehbarer kapitalistischer wie auch naturwissenschaftlicher Hegemonie an. Heute, drei Jahrzehnte später, ist diese Dominanz derart groß, dass das humanistische Menschenbild nicht nur theoretisch, sondern auch in den gesellschaftlichen Strukturen offen herausgefordert wird: Der Mensch als ein mit Bewusstsein und Freiheit begabtes Geschöpf, der Mensch als ein Innenraumwesen, der Mensch in seiner Einzigartigkeit und Würde steht zur Disposition. Statt dass die Technik in den Dienst des Menschen träte, wird heute um den Menschen herum eine digitale Welt errichtet, die ihm ab einem bestimmten Punkt den direkten Zugang zur Welt verstellen wird. Wir haben uns eingangs die Frage gestellt, ob das Freiheitsdementi der Naturwissenschaften zu einer spezifischen Ausrichtung des technischen Fortschritts geführt hat; ob ein Zusammenhang zwischen den Grundannahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes und der in unserer Gegenwart sich vollziehenden technischen Herausbildung eines modernen Überwachungsstaates25 existiert. Lässt sich die aktuelle Tendenz des technischen Fortschritts, alle gesellschaftlichen Handlungen zu erfassen und in Zahlen zu übersetzen, letztlich auf die Begründung der Naturwissenschaften in der Renaissance zurückführen? 25 Vgl. Snowden, Edward: Permanent Record. Meine Geschichte (übers. v. Kay Greiners). Frank furt a. M.: S. Fischer 2019.

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Während der Coronakrise erleben wir eine radikale Einschränkung von Bürgerrechten, wobei sogar die letzte Grenze anvisiert wird: Das Verfügungsrecht über den eigenen Körper. Der Mensch, der das Recht verloren hat, krank oder auch nur ungesund leben zu dürfen, wird faktisch auf seinen Körper reduziert, er wird wie eine Maschine betrachtet, die ganz im Außen verankert ist und deren Funktion – ohne Rücksicht auf die geistige Existenz des Menschen – vor potenziell störenden Außeneinwirkungen geschützt werden muss. Doch ebenso, wie erst die Inquisition die Fragwürdigkeit der mittelalterlichen Weltdeutung allgemein sichtbar gemacht hat, könnte auch die Radikalisierung des naturwissenschaftlichen Weltbildes in der Coronakrise am Ende dessen Unzulänglichkeit offen zutage treten lassen. Denn die Naturwissenschaften beschreiben nur die eine Hälfte der Wirklichkeit, nämlich ihre materielle Manifestation, und auch diese nur unzulänglich. Die gesamte geistige Dimension der Welt wie auch der menschlichen Existenz geht verloren. Dass diese geistige Dimension gleichwohl existiert, weiß nicht nur jeder Mensch, der sich für frei hält, aus eigener Erfahrung. Es geht aber auch daraus hervor, dass alle Errungenschaften unserer Zivilisation in ihr gründen: Eine Zivilisation, die den Menschen lediglich als biologische Funktionseinheit betrachtet, der demnächst eine künstliche Intelligenz an die Seite gestellt wird, muss notwendigerweise in Barbarei übergehen. Die Anstrengungen, die in der Frühen Neuzeit von unzähligen Philosophen, Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen geleistet wurden, um die defizitäre und erstarrte Weltdeutung des Mittelalters zu überwinden, sind nun ein halbes Jahrtausend später erneut vonnöten. Eine bloße Gesellschaftskritik wird nicht genügen, um die Freiheit und Würde des Menschen zu verteidigen. Was stattdessen nottut, ist ein gänzlich neues Verständnis der Wirklichkeit. Die Frage nach dem Sein und der Rolle des Menschen in der Welt ist erneut in einer ungeahnten Radikalität an uns herangetreten. Die verschiedenen Deutungen des Menschen sind derzeit bereits in einem Wettstreit eingetreten, bei dessen Ausgang es um alles gehen wird. Es ist absehbar, dass eine Naturwissenschaft, die die Freiheit des Menschen prinzipiell leugnet, am Ende mit Notwendigkeit eine Technologie der unfreien Welt hervorbringen wird. Damit aber steht die Frage im Raum, ob eine veränderte Naturwissenschaft auch einen anderen Fortschritt hervorbringen könnte. Ob ein technischer Fortschritt möglich wäre, der der Würde des Menschen entspräche und infolgedessen auf die Abschaffung der Privatsphäre und die statistische Eroberung der menschlichen Innenwelt verzichten könnte? Sollte ein solcher technischer Fortschritt möglich sein, so ist er doch nicht leicht zu haben, sondern verlangt, dass die Verhandlung dessen, was die Realität eigentlich ist, erneut so entschieden, so bewusst und aufopferungsvoll geführt wird, wie zu Beginn der neuzeitlichen Welt.

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Hope our little world will last. Doors: Ship of Fools

1. Beginnen wir bei der ›Urszene‹ der Philosophie, im 7. Jahrhundert v. Chr., bei dem Philosophen Thales von Milet und der Geschichte der thrakischen Magd. Im Dialog Theaetet schreibt Platon: »So erzählt man sich von Thales, er sei, während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe.«1

Hans Blumenberg hat dieser Episode – von der es im Übrigen auch in den Äsopschen Fabeln eine freilich namenlose Variante gibt2 – ein ganzes Buch gewidmet, in dem er sie als ›Urgeschichte‹ der Philosophie in der unauflösbaren Spannung von »Himmelskenntnis und Erdentüchtigkeit« beschreibt.3 Als Philosoph ist Thales an den Gesetzmäßigkeiten der Welt interessiert – hier an der konstanten Regelhaftigkeit der Vorgänge am Himmel, über die er sich ›wunderte‹ und die er ›bewunderte‹. Solches ›Staunen‹ - ›thaumazein‹ - gilt seit Platon als Uraffekt der Philosophie. Ob das ›Loch‹ von Menschenhand angelegt worden war, spielt hier keine Rolle: Wer den Kopf in den Sternen hat, sieht die Erde vor 1 Platon, Theaetet, 174 a in der Übersetzung Martin Heideggers zitiert nach Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 13f.; vgl. Platon: Theaitetos. In: Ders.: Sämtliche Werke 4. Hamburg: Rowohlt 1958, S. 103– 181, hier S. 140. 2 Vgl. Blumenberg, Lachen. 1987, S. 13. 3 Aristoteles hat das Thales’sche Ungeschick durch eine kompensatorische Erfolgsgeschichte zu reparieren versucht – was jedoch wenig erfolgreich blieb.

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seinen Füßen nicht. Und weil das Loch nicht verschwindet, wenn Thales es ignoriert, fällt er: ›Natur‹ stört. Sokrates, der die Geschichte erzählt, wird im direkten Anschluss den Gesichtskreis enger ziehen, wird seinen Blick von der äußeren Natur abwenden und nach Innen richten: »Mit diesem nämlichen Spotte nun reicht man noch immer aus gegen alle, welche in der Philosophie leben. Denn in der Tat, ein solcher weiß nichts von seinem Nächsten und Nachbarn, nicht nur, was er betreibt, sondern kaum, ob er ein Mensch ist oder etwa irgend ein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch ist und was einer solchen Natur ziemt anderes als alle anderen zu tun und zu leiden, das untersucht er [der Philosoph] und läßt es sich Mühe kosten, es zu erforschen.«4

Damit endet die erste philosophische Epoche, die ionische Naturphilosophie. Das Verfahren, sich zunächst auf das Erkennen menschlichen Denkens und Seins zu konzentrieren, um dann um so sicherer auf das Äußere, auf Natur, schließen zu können, erweist sich über zwei Jahrtausende als erfolgreich und ermöglicht, das Reich des sicher Erkannten zu erweitern und das Reich des Äußeren, des unkalkulierbar Fremden, Wilden und Wüsten immer weiter zurückzudrängen; aber gelöst wird das Problem widerständiger Natur damit nicht. Die Konsequenz ist Verzicht: Ende des 19. Jahrhundert, so common sense der Forschung, löst sich die konzeptionelle Geschlossenheit des Naturbegriffs unter dem Druck der Wissenschaften auf.5 Lorrain Daston bemerkt: »Es ist sozusagen die Natur des Wortes ›Natur‹ vieldeutig zu sein. [….] Daher ist es mehr als wahrscheinlich, dass Normen, die sich aus einer Bedeutung von Natur herleiten, in Konkurrenz, wenn nicht gar im Widerspruch zu anderen ebenfalls aus der Natur abgeleiteten Normen stehen. [….] Die Natur ist ein herrliches Paradox, die unordentliche Wunderkammer aller möglichen Ordnungen.«6

Natur, ergänzt Niklas Luhmann, ist kein konstitutives Element autopoietischer Wissenssysteme, sondern deren ›Umwelt‹. Ein Störimpuls, der bestenfalls dazu geeignet ist, die Arbeit des Wissenschaftssystems anzutreiben: »Die Geräusche kommen von draußen, aber was an ihnen clare et distincte begriffen werden kann, […], das ist Eigenleistung des Systems.«7 Damit ist der Begriff ›Natur‹ – 4 Platon: Theaitetos. 1958, S. 140 f, 174a+b. 5 Vgl. Natur als Gegenstand der Wissenschaften. Hrsg. von Ludger Honnefelder. Freiburg und München: Verlag Karl Alber 1992. 6 Daston, Lorrain: Gegen die Natur. Berlin: Matthes & Seitz 2018, S. 86. 7 Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 288, vgl. S. 236: »So kam man[….] von der alten Unterscheidung Natur und Gnade zu Natur und Zivilisation und im 19. Jahrhundert zu Natur und Geist – ein Austausch, der im übrigen signalisiert, daß sich das Naturverständnis verändert, wenn nicht auflöst, ganz unabhängig von der Kontinuität theoriegeleiteter Forschungen in den Naturwissenschaften.« Vgl. auch: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 633. Zu ähnlichen Schlüssen aus anderer Perspektive vgl. Habermas, Jürgen: Das

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Adorno hätte wohl gesagt: ›eskamotiert‹, d. h. zum Verschwinden gebracht -; was übrig bleibt, ist eine Irritation, eine ›Störung‹ des Denkens und Theorie-Bildens. Doch war das nicht schon immer so?

2. Wenn man eine Zeit und eine Kultur sucht, in der Natur (systemisch) nicht gestört haben könnte, muss man weit zurück gehen. Zwar nicht bis zu einem goldenen Zeitalter oder dem Paradies oder anderen vergleichbaren ›Narrativen des Anfangs‹, aber doch bis zum Paläolithikum, also an den Anfang der Kultur. Auch wenn dies den üblichen Fortschrittsmodellen von Zivilisation und Kultur mit ihren from-rags-to-riches-Erzählungen widerspricht, soll keiner romantischrousseauistischen Naturschwärmerei das Wort geredet werden. Ich berufe mich vielmehr auf den us-amerikanischen Anthropologen Marshall Sahlins, der in seinem Buch ›Steinzeitökonomie‹ (Stone Age Economics) die Original Affluent Society, d. h. die ›Überflussgesellschaft‹ der Jäger-und-Sammler-Kulturen beschrieb.8 Gestützt auf anthropologische Feldforschungen kam Sahlins zu dem Schluss, dass ihre Mitglieder pro Woche im Schnitt nur etwa 15–20 Arbeitsstunden für Nahrungserwerb und sonstige Subsistenz aufbringen, ansonsten aber über reichlich Freizeit verfügen. Dabei leben sie – von Katastrophenfällen abgesehen - keineswegs am Rande des Hungers, sondern ernten die ›Gaben der Natur‹ im Umfeld ihrer Lagerplätze und ziehen weiter, wenn der Aufwand, an erfolgversprechende Reviere zum Jagen und Sammeln zu gelangen, zu groß geworden ist - was meist ohne Transportprobleme geschieht, denn in nomadischen Kulturen ist es rational, über möglichst wenig Besitztümer zu verfügen. Besitz beschwert, man muss ihn mitschleppen. Mangel, so Sahlins weiter, kommt erst auf, wenn eine Gruppe ortsfest wird; dann werden höhere Aufwände erforderlich, um genügend Subsistenzmittel vor Ort generieren zu können.9 Mangel, so der Schluss, ist ein Produkt der neolithischen Revolution – also eben jener Kulturform, die wir gemeinhin an den Ursprung unserer Zivilisationsentwicklung Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit. Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen? In: Ders.: Kritik der Vernunft (Philosophische Texte. Bd. 5) Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 271–341, hier bes. 313ff. Zum Naturbegriff in ethischer Hinsicht: Honnefelder, Ludger: Welche Natur sollen wir schützen? Über die Natur des Menschen und die ihn umgebende Natur: Berlin. Berlin University Press 2011. 8 Sahlins, Marshall: The Original Affluent Society. In: Ders.: Stone Age Economics. London and New York: Routledge 1988, S. 1–39; auch in: Ders.: Culture in Practice. Selected Essays. New York: Zone Books 2000, S. 95–137. 9 Eine alternative Möglichkeit ist, dass die Natur in Form von Seuchen oder Katastrophen in die lokalen Strukturen einbricht.

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stellen. D. h. aus Sicht der Naturökonomie ist die neolithische Revolution eine Entwicklung ›from-richess-to-rags‹, weil sich die Natur zunehmend verweigert – und der Zivilisationsprozess wäre lediglich der Versuch, diese Verweigerung zu kompensieren.10 Sahlins’ These hat zunächst Kritik erfahren, neuerdings aber auch Zustimmung.11 Den gewichtigsten Einwand gegen romantisierende Interpretationen hat Sahlins jedoch selbst formuliert: Um das Gleichgewicht zwischen Naturangebot und Nahrungsnachfrage und die notwendige Beweglichkeit der Horde zu sichern, tendieren nomadisierende Gesellschaften zu Senizid und Infantizid, also zu Alten- und Kindstötungen.12 So gesehen wäre die neolithische Revolution zugleich die Erfindung kontinuierlicher Arbeit und das Projekt einer Humanität, bei der, außer in Un-Fällen, Natur nur noch am Ende stören sollte.

3. Das Neolithikum steht damit am Beginn einer Entwicklung, die Karl Marx 11.000 Jahre später so charakterisieren wird: »Er [der Mensch] tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form zu assimilieren. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur«13

Damit sind drei Aspekte angesprochen: Zunächst, dass der Mensch selbst Natur ist, zum andern, dass er die Natur unter seine Gewalt bringen muss, damit sie seine Bedürfnisse befriedigt, und schließlich, dass dieser Prozess wiederum Rückwirkungen auf ihn selbst, auf ›seine‹ Natur hat. Obwohl, wie Marx unterstreicht, im Laufe der Entwicklung der Produktivkraft »ungeheure Naturkräfte in den Dienst der Produktion gepreßt und die Verwandlung des Produktionsprozesses in technologische Anwendungen der Wissenschaft vollzogen werden [konnten]«14, war und blieb die Natur nicht rückstands- und rückhaltlos verstehbar und domestizierbar.

10 Vielleicht geht die simplify-your-life-Bewegung ein Stück weg zurück. 11 Vgl. z. B. Suzman, James: Work. A History of How We Spend Our Time. London e.a.: Bloomsbury Circus 2020, S. 142f.; Scott, James C.: Against the Grain. A Deep History of he Earliest States. New Haven and London: Yale University Press 2017, S. 152. 12 Vgl. Sahlins, Society. 1988, S. 34. 13 Marx, Karl. Das Kapital. (Karl Marx, Friedrich Engels: Werke Band 23) Berlin: Dietz Verlag 1983, S. 192. 14 Ebd., S. 652.

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Die konzeptionelle Lösung des Problems lag, wie schon die Thales-Anekdote zu Beginn des begrifflich-systematischen Nachdenkens zeigte, in einer Bifurkation der Natur, in ihrer Teilung und Dopplung in eine freundliche und eine feindliche Natur, eine hilfreiche und eine widerständige, kalkulierbare und chaotische, konstante und kontingente, in die bekannte Differenz zwischen ›dem bestirnten Himmel über mir‹ und dem Loch vor meinen Füßen.15 Dieser Konflikt zweier Dimensionen, zu denen der Mensch zugleich gehört und nicht gehört,16 der Gegensatz zwischen physis und nomos bzw. zwischen mythos und logos, wenn man die Immanenz humanen Ordnungsstrebens betont, treibt auch die griechische Tragödie, am prominentesten diskutiert am Beispiel ersten Stasimons der Sophokleischen Antigone.17 Auf der einen Seite der dramatischen Handlung – so ein gängiger Interpretationsstrang – vertritt Kreon die (männliche) Rationalität der Herrschaft, auf der anderen behauptet Antigone die älteren Gebote (matriarchalischer) Familiarität; aber der Agon beider wird nicht zugunsten einer Position entschieden, sondern beide Charaktere werden zwischen diesen beiden Polen zerrieben.18 Derartige Ortlosigkeit charakterisiert nicht nur

15 Die Hoffnung nach Versöhnung beider Naturen, die dem christlichen Verständnis einer restitutio ad integrum innewohnt, fehlt dem tragischen Existenzbegriff der Antike jedoch. 16 Die Tatsache, dass das ›Loch‹ der Thales-Anekdote ein Produkt menschlicher Praxis ist, fasst diesen Aspekt. 17 Vgl. Segal, Charles: Tragedy and Civilisation. An Interpretation of Sophocles. Cambridge/ Mass. und London: Havard University Press 1981; Nussbaum Martha C.: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Revised Edition Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 51–82. 18 Zur Tradition des Antigone-Stoffes und seiner Interpretationen vgl. Steiner, George: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2014; zum zweiten Chorlied bes. S. 314–316, vgl. auch S. 230 sowie Segal, Tragedy. 1987, S. 152–206. Vgl. auch: Pöggeler, Otto: Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin. München: Wilhelm Fink Verlag 2004. Seit Hegels philosophischer Interpretation und Hölderlins kontroverser »Antigonae«-Übertragung (Hölderlin, Friedrich: Antigonae. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 2, Frankfurt/Main: Insel 1969, S. 737–792) zählt die Interpretation der Tragödie und besonders des ersten Stasimons zum Traditionsbestand deutscher Philosophie: Hegel bezeichnet wegen der tragischen Grundkonstellation die »Antigone« als von »eine[s] der allererhabensten, in jeder Rücksicht vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, 2. Teil, In: Ders.: Werke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, Bd. 14, S. 60) und legt sie den Ausführungen über Sittlichkeit in der Phänomenologie des Geistes zugrunde. (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. [= Werkausgabe Bd. 3] Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1970, S. 348f.). Gegen Hegels Interpretation, die die treibende Polarität der Antigone »ganz in das menschliche Empfinden und Handeln hineinverlegt« (Hegel, Ästhetik. 1970, S. 60), wendet sich unter Rückbezug auf Hölderlin die ›existenziell-tragische‹ Auslegung Heideggers, die dieser zunächst 1935 in der »Einführung in die Metaphysik« (Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. (= Gesamtausgabe, Band 40 Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann 1983, S. 153–173) und schließlich umfangreicher und radikaler 1942 im Rahmen einer Hölderlin-Vorlesung unternahm (Heidegger, Martin: Hölderlins Hymne ›Der Ister‹.

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die politische Sphäre, sondern auch das Naturverhältnis ihrer Bewohner: »Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheurer als der Mensch.«19 deklamiert der Chor der Thebanischen Alten und beschreibt dann unter den gewagten Unternehmungen des Menschen selbst den Ackerbau als gewaltsamen Eingriff: »Und der Himmlischen erhabene Erde, / Die unverderbliche, unermüdete, / Reibet er auf, mit dem strebenden Pfluge / von Jahr zu Jahr / Umtreibend das Gäulegeschlecht.«20 Zweieinhalbtausend Jahre später haben die Götter die Natur längst verlassen. Vielleicht schon seit der späteren Antike, seit der große Pan tot war, wie Plutarch im 17. Kapitel der Eingegangenen Orakel berichten wusste,21 auf jeden Fall aber seit der christliche Gott die Wahrheit in die Transzendenz entführte und die (= Gesamtausgabe, Bd. 53) Frankfurt/Main 1984, S. 63–152; vgl. dazu Vukic´evic´, Vladimir: Sophokles und Heidegger. Stuttgart und Weimar: Metzler 2003. 19 Hölderlin, Antigonae. 1969, S. 748. Eine neuere Übersetzung liest: »Zahlreich ist das Ungeheure, doch nichts / ungeheurer als der Mensch« Sophokles: Antigone. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Kurt Steinmann. Stuttgart: Reclam 2013, S. 19, V. 332f. Im Übergang von deren früher zu ihrer späten Form seiner Existenzphilosophie bestimmt Heidegger das ›Ungeheure‹ (deinon) des Menschen als ›Unheimliches‹ und ›Unheimisches‹, als singuläre Existenzform, die zugleich in dem universellen Zusammenhang beheimatetet ist und sich als Subjekt gegen diesen wendet (wörtlich bedeutet ›Katastrophe‹ ›Umwendung‹): »Denken wir uns die gewaltigsten ›Katastrophen‹ in der Natur und im Kosmos, sie sind ein Nichts von Unheimlichkeit gegenüber der, die das Menschenwesen in sich selbst ist, [….] Der Mensch ist innerhalb des Seienden die einzige Katastrophe.« (Heidegger, Hölderlins Hymne. 1984, S. 94) Die wichtigsten Übersetzungsvarianten des ersten Stasimons siehe Vukic´evic´, Sophokles. 2003, S. 361–376; vgl. Segal, Tragedy. 1981, S. 153: »The ode praises man as the most deinon of all creatures (332–333). The epithet means ›fearful‹ as well as ›wonderful‹. The apartness of man as the most wonderful/terrible of all creatures is also the source of his tragic status.« Angelsächsische wie philologisch orientierte Interpretationen tendieren meist zur Betonung der ›wunderbaren‹ zivilisatorischen Leistung des Menschen. 20 Hölderlin, Antigonae.1969, S. 748, vgl. Sophokles, Antigone (Steinmann). 2013, S 19, V., 338– 341: »[U]nd der Götter Höchste, die Erde / die unerschöpfliche, unermüdliche beutet er aus, / wenn seine Pflüge sich drehen Jahr um Jahr / und er sie durchfurcht mit dem Rossegeschlecht.« Zu den Konnotationen des Pflügens vgl., Segal, Tragedy. 1981, S 170f. u. 183 (zu Vers 569); Nussbaum, Fragility. 2001, S. 74. 21 »Der Vater des Redners Aemilianus, den auch einige von euch gehört haben, war Epitherses, mein Landsmann und Lehrer der Grammatik. Dieser erzählte, er habe einmal auf der Reise nach Italien ein Schiff bestiegen, das Handelswaren und viele Fahrgäste an Bord hatte. Eines Abends, als sie schon auf der Höhe der Echinaden-Inseln waren, sei der Wind eingeschlafen und das Schiff sei treibend in die Nähe der Paxos-Inseln gelangt. Die meisten seien noch wach, einige nach beendigtem Mahl beim Trinken gewesen. Plötzlich habe man von der Paxosinsel her eine Stimme gehört, die laut ›Thamus!‹ rief, so daß man sich verwunderte. Thamus war aber ein Ägypter und Steuermann des Schiffes, doch nicht vielen der Fahrgäste mit Namen bekannt. Beim ersten und zweiten Anruf habe er geschwiegen, beim dritten Mal aber dem Rufer geantwortet. Dieser habe nun seine Stimme noch mehr erhoben und gerufen: ›Wenn du auf die Höhe von Palodes kommst, dann melde, daß der große Pan tot ist!‹« Plutarch, Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung. Religionsphilosophische Schriften, herausgegeben von Konrat Ziegler. Zürich/Stuttgart: Artemis Verlag 1952, S. 126f.

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beschädigte Erde (status lapsus) seinem ›second maker‹ als Bewährungsaufgabe zurückgelassen hatte. Zwar spricht Shaftesbury hier über den Dichter,22 doch macht sich der neuzeitliche Mensch auch praktisch an die Arbeit, in die gefallene Schöpfung Ordnung zu bringen – und d. h. sie sich untertan zu machen. In den Aphorismen über die Interpretation der Natur und die Herrschaft des Menschen schreibt Francis Bacon: »1. Der Mensch, Diener und Erklärer der Natur, schafft und begreift nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder den Geist beobachten kann; mehr weiß oder vermag er nicht. 2. Weder die bloße Hand noch der sich selbst überlassene Verstand vermögen Nennenswertes: durch unterstützende Werkzeuge wird die Sache vollendet; man bedarf ihrer nicht weniger für den Verstand als für die Hand. Und so, wie die Werkzeuge die Bewegung der Hand wecken und oder lenken, so stützen und schätzen in gleicher Weise die Werkzeuge des Geistes die Einsicht. 3. Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Beobachtung als Ursache erfasst ist, dient bei der Ausübung als Regel.«23

Dies war gerade der berühmte Kernsatz des neuzeitlichen Empirismus: ›Natura enim non nisi parendo vincitur‹; es ist die Absage an das zweitausendjährige Ideal einer vita contemplativa als Lebensform des philosophischen Wahrheitssuchers.24 Bacon stört ihn auf – doch sein Optimismus, in gehorsamem Nachvollzug Natur dominieren zu können, zerschellt schon 130 Jahre später an der größten ›Störung‹, die das optimistische Selbstbild der Aufklärung erfahren musste, am Erdbeben von Lissabon. Voltaire protestiert wütend: »Zittern muss man gewiß, wie auch immer man wählt. Es gibt nichts, was man weiß. Furcht uns überall quält. Man befragt die Natur, doch sie antwortet nicht. Nötig wäre ein Gott, der zu Menschen auch spricht. Ihm nur steht es doch zu, recht sein Werk zu erklären,

22 Über den idealen Dichter: »Such a poet is indeed a second maker, a just a Prometheus under Jove« Cooper, Anthony Ashley, Earl of Shaftesbury: Soliloquy Or Advice to an Author. In: Ders.: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Treatise III: Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 70–162, hier S. 133. 23 Bacon, Francis: Neues Organon. Teilband 1. Lateinisch-Deutsch Hrsg. von Wolfgang Krohn. 2. Auflage. Hamburg: Felix Meiner 1999, S. 80f. 24 Zum komplexen Transformationsprozess vgl. Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. 1. Band. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2019, S. 765–804.

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Schwachen Trost zu verleih’n und die Weisen zu lehren. Ohne ihn ist der Mensch, zweifelnd, irrend, verlassen, sucht zur Stütze vergebens ein Schilfrohr zu fassen.«25

Und eine Strophe weiter über die Natur des Menschen: »Leidend schleicht er und stirbt, was entstand, das vergeht, denn Natur ist das Reich, wo Zerstörung besteht, Schwach, zusammengesetzt nur aus Nerv’ und Gebein, kann ein stofflicher Stoß ihm nicht gleichgültig sein. Was aus Säften, aus Blut, Staub zustande gebracht und gemischt, ist doch nur zur Zersetzung gemacht Und das flücht’ge Gefühl – Nerven fein es umkleiden ist den Dienern des Tods unterworfen, den Leiden Solches hat mich gelehrt die Stimme der Natur. Ich verzichte auf Platon, ich verwerf Epikur.«26

Dies scheint Kant zu kommentieren, wenn er schreibt: »Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demüthigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht, oder zum wenigsten, er habe es verloren, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: daß dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte.«27

Doch Kant wendet – wie schon Rousseau vor ihm28 – auch ein, dass die Katastrophe als solche nicht Gott in die Schuhe zu schieben sei, sondern in ihren

25 Voltaire: Gedicht über die Katastrophe zu Lissabon. In: Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen. Hrsg. von Wolfgang Breidert Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 58–76, hier S. 69f. 26 Ebd., S.70f. 27 Kant, Immanuel: Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches am Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt., 1. Band: Vorkritische Schriften 1: 1747–1756. Berlin: Georg Reimer 1910. S. 429–461, hier S. 431, vgl. 460: »Der Mensch ist nicht geboren, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen.« 28 »Bleiben wir bei Ihrem Thema Lissabon, so sollten Sie sich z. B. eingestehen, dass nicht die Natur 20.000 Häuser zu je sechs bis sieben Etagen erbaut hat, und dass der Schaden, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger verteilt und in leichteren Bauwerken gewohnt hätten, viel geringer und vielleicht keiner eingetreten wäre. Jeder wäre bei der ersten Erschütterung geflohen und man hätte die Einwohner am nächsten Tag zwanzig Meilen entfernt davon gesehen, ebenso heiter, als wäre nicht passiert.« Rousseau, Jean Jacques Brief über die Vorsehung. An Herrn de Voltaire. 18. August 1756. In: Die Erschütterung der vollkommenen Welt (1994), S. 77–96, hier S. 81.

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Folgen ein Produkt menschlicher Hybris darstelle.29 Die Natur kann also stören, doch die Katastrophe ist menschengemacht. Mit einer geradezu altväterlich-milden Ermahnung warnt Hegel dann wiederum 65 Jahre später (1817) noch einmal davor, sich in den bloßen Phänomenen der Natur zu verlieren, anstatt dem Kurs der Vernunft zu folgen: »Man hat den unendlichen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Formen und vollends ganz unvernünftigerweise die Zufälligkeit, die in die äußerliche Anordnung der Naturgebilde sich einmischt, als die hohe Freiheit der Natur, auch als die Göttlichkeit derselben oder wenigstens die Göttlichkeit in derselben gerühmt. Es ist der sinnlichen Vorstellungsweise zuzurechnen, Zufälligkeit, Willkür, Ordnungslosigkeit für Freiheit und Vernünftigkeit zu halten. – Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen, und das Ungehörigste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen – und, wie es genannt worden, konstruieren, deduzieren; sogar scheint man die Aufgabe um so leichter zu machen, je geringfügiger und vereinzelter das Gebilde sei. Spuren der Begriffsbestimmung werden sich allerdings bis in das Partikulärste hinein verfolgen, aber dieses sich nicht durch sie erschöpfen lassen.«30

Hatte Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« die Vorstellung absoluter Freiheit als ›Furie des Verschwindens‹ bezeichnet;31 so wird hier eine zweite ›Furie des Verschwindens‹ verabschiedet: die Vorstellung der Natur als eines Reiches absoluter, dem begrifflichen Denken sich darbietender Notwendigkeit. Ehedem Ort göttlicher Manifestation und Offenbarung, der dem schuldhaften Menschen verschlossen geblieben war, ist ›Natur‹ zum Residuum des Unvernünftigen und Irregulären geworden; ihre Macht, menschlichen Ordnungsversuchen zu widerstehen, interpretiert Hegel als ontologisches Unvermögen zu vernünftiger Organisation, d. h. als Unvermögen zu ›Geist‹. Immer mehr tritt in der Folge die Natur hinter das Selbstgespräch einer Wissenschaft zurück, die sie nur gelegentlich in Experimenten auffordert, Stellung zu beziehen, wie dies freilich schon Kant empfohlen hatte.32 Was jetzt noch kommt – Atombomben, Reaktorunfälle, Giftkatastrophen, Plastikmüll und Ähnliches - ist, folgt man den Ingenieuren, weniger der Natur geschuldet, als ein spezifisches Epiphänomen schlechter Technik und menschlicher ›Unachtsamkeit‹. Deshalb, so die eingangs 29 »Die Einwohner in Peru zum Beispiel wohnen in Häusern, die nur in geringer Höhe gemauert sind, und das übrige besteht aus Rohr. Der Mensch muss sich in die Natur schicken lernen – aber er will, dass sie sich in ihn schicken soll!« Kant, Geschichte und Naturbeschreibung. 1910, S. 456. 30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil. In. Ders.: Werke Band 9 Frankfurt/ Main 1970, § 250, hier S. 35. 31 »Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist die Furie des Verschwindens.« Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 435f. 32 Vgl. die Vorrede zur 2. Auflage in: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1976, S. 23f.

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erwähnte These, sei es am besten, auf den Begriff ›Natur‹– falls er überhaupt ›Begriff‹ sein sollte und nicht nur ein ›Wort‹ – zu verzichten.

4. Aber, könnte man einwenden, hat die Natur nicht längst ein neues Wirkungsfeld gefunden? Hat sie sich nicht – um dies scheinbar paradox zu formulieren – gerade in ihre Oberfläche zurückgezogen und ist ins Ästhetische ausgewandert, um uns für die Leiden an der technischen Zivilisation zu entschädigen? Zumindest ist dies die kompensationstheoretische These, die Joachim Ritter 1963 in dem schlicht Landschaft betitelten Aufsatz entworfen hat.33 Martin Seel differenziert anschließend drei Formen ästhetischen Naturbezugs, kontemplatives, korresponsives und imaginatives Naturverhältnis: »Das erste versteht die schöne Natur als Ort der beglückenden Distanz zum tätigen Handeln. Das zweite begreift die schöne Natur als Ort eines anschaulichen Gelingens menschlicher Praxis. Dem dritten erscheint die Natur als bilderreicher Spiegel der menschlichen Welt.«34

Dass dies an Landlust, Gartenbau und Aquarellieren denken lässt, liegt daran, dass Seel primär eine Ethik guten Lebens im Blick hat, in der das ästhetische Interesse an Natur letztlich als Mittel dient.35 Kann es das gewesen sein? ›Na33 Ritter, Joachim: Landschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1964, S. 141– 164. Versteht man Ästhetik emotiv, so suggeriert Luhmann im Gegenzug eine Quasi-Ästhetisierung der Politik, wenn er 1991 schreibt: »Im ganzen [!] zeichnen die heutigen Naturwissenschaften denn auch ein emotional wenig ansprechendes Bild von Natur, was den ökologischen Bewegungen die Chance gibt, das damit geräumte semantische Terrain zu besetzen.« Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin/New York: De Gruyter 1991, S. 138, Anm. 4. Systematisch ergänzt er an anderer Stelle: »Der Sinn von Natur ändert sich, wenn man sie nicht mehr von Technik, sondern von Gnade und dann nicht mehr von Gnade, sondern von Zivilisation unterscheidet. Mit solchen Sachverhalten rechnet auch die Kunst – und insofern kann man dann doch wieder von Imitation der Natur sprechen.« Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 122, vgl. 140 u. 154. Für den (sentimentalischen) ›Beobachter zweiter Ordnung‹ fungiert sie als tröstendes Remedium, wo methodisch infiniter Regress droht: »Für ihn [den Beobachter zweiter Ordnung] ist das Sein ein ›Ontologie‹ produzierendes Beobachtungsschema, und Natur wird dann nur noch ein Begriff sein, der ein beruhigendes Ende verheißt und damit weitere Fragen stoppt.« (Ebd., S. 157) Ein vergleichbares Verständnis von Natur als Spiegelfläche und Stabilitätsanker von Subjektivität hatte auch Paul de Man schon dem romantischen Bewusstsein attestiert. Vgl. de Man, Paul: Die Rhetorik der Zeitlichkeit. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 83–130, bes. S. 89–94. 34 Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 18. 35 In seiner Zusammenfassung ordnet Seel die Erfahrung des Naturschönen systematisch ein: »Naturschönes ist eine mögliche und in ihrer Eigenart unersetzbare Komponente gelingenden Lebens sowie ein mögliches und in seiner Eigenart unersetzbares Modell seiner philo-

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türlich‹ nicht, denn, so Adorno, was die Kunst in schöne, oder, im weiteren Sinn, gelingende Form bannt, ist kein Produkt tröstender Beschaulichkeit, sondern letztlich das Resultat einer grausamen Operation, einer Sektion, die die Totalität lebendiger Erfahrung formal zurichtet: »In den Formen wird Grausamkeit zur Imagination: aus einem Lebendigen, dem Leib der Sprache, den Tönen, der sichtbaren Erfahrung etwas herausschneiden. Je reiner die Form, je höher die Autonomie der Werke, desto grausamer sind sie. Appelle zur humaneren Haltung der Kunstwerke, zur Anpassung an Menschen als ihrem virtuellen Publikum, verwässern regelmäßig die Qualität, erweichen das Formgesetz. Was Kunst in einem weiteren Sinn bearbeitet, unterdrückt sie, der im Spiel nachlebende Ritus von Naturbeherrschung.«36

Und, etwas weiter: »Das Bild des Schönen als des Einen und Unterschiedenen entsteht mit der Emanzipation von der Angst vorm überwältigend Ganzen und Ungeschiedenen der Natur. Den Schauer davor rettet das Schöne in sich hinüber vermöge seiner Abdichtung gegen das unmittelbar Seiende, durch Stiftung eines Bereichs des Unanrührbaren; schön werden Gebilde kraft ihrer Bewegung gegen das bloße Dasein.«37

Dies erinnert an das Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung.38 Allerdings kennt Adorno neben dem Kunstschönen auch ein Naturschönes – und dies ist im gegenwärtigen Kontext interessanter: »Das Naturschöne ist die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität. Solange er waltet, ist kein Nichtidentisches positiv da. Daher bleibt das Naturschöne so versprengt und ungewiß wie das, was von ihm versprochen wird, alles Innermenschliche überflügelt. Der Schmerz im Angesicht des Schönen, nirgends leibhafter als in der Erfahrung von Natur, ist ebenso Sehnsucht nach dem, was es verheißt,

sophischen Explikation, jedoch weder die einzige Realität noch das einzige Modell, vielmehr lediglich ein Modell und eine Realität jener allgemeinen Struktur [ von Teilhabe – Abstand – Aussicht/L.S.], die im Ausgang von der ästhetischen Naturerfahrung hervorgehoben wurde.« (Ebd., S. 348). Gleichzeitig unterstreicht er aber auch, dass Naturschönes soziale Interaktion nicht ersetzen kann (vgl. Ebd., S. 349) und betont das »Nicht-Menschliche« an der Natur (Ebd., S. 366). 36 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 80; vgl. S. 428f. u. 99. Da Seel die Natur-Passagen der Adornoschen »Ästhetischen Theorie« im Modell einer gelingenden Repräsentation im Kunstwerk denkt, verfehlt er deren Pointe. Vgl. Seel, Ästhetik. 1996, S. 178–181. 37 Adorno, Ästhetische Theorie. 1970, S. 82; vgl. S. 435, offensichtlich gegen Ritter gewendet: »Was als Naturgegebenheit und Naturgesetz in der Kunst gilt, ist kein Primäres, sondern innerästhetisch geworden, vermittelt. Solche Natur in der Kunst ist nicht die, der Sie nachhängt. Sie ist von den Naturwissenschaften auf sie projiziert, um für den Verlust vorgegebener Strukturen zu entschädigen.« 38 Vgl. Adorno Theodor W./ Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/Main: Fischer 1971, S. 42–73, bes. S. 53.

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ohne daß es darin sich entschleierte, wie das Leiden an der Unzulänglichkeit der Erscheinung, die es versagt, indem sie ihm gleichen möchte.«39

Eine dritte ›Furie des Verschwindens‹: Die Erfahrung der Schönheit als Spur einer Versöhnung, die sich in ihrer Präsenz zugleich entzieht. Diese ›Natur‹ stört aus der Selbstgewissheit menschlicher Überzeugung auf; sie transzendiert alle Routinen, verweist dabei auf sich, ohne sich begrifflich fassen und sistieren zu lassen. Es geht Adorno nicht um kompensatorische Erfahrung im Ritterschen oder Seelschen Sinn, nicht um ästhetische Eingemeindung, sondern um die Markierung eines unhintergehbaren Verlustes. Die Erfahrung des Schönen sublimiert, kompensiert und tröstet nicht; das Schöne, zuvörderst das Naturschöne, verunsichert, schmerzt, stört – und verweist gerade dadurch auf das Jenseits der unglücklich arbeitsamen Existenz.

5. Solche Erfahrung nimmt Nature Writing auf, löst sie aber vom Begriff einer Ästhetik des Schönen, die sich aus dem 19. Jahrhundert noch in die Formulierungen Adornos hinübergerettet hatte. Bisher waren damit – grosso modo - zwei Prozesse zu beobachten: 1. Die Verdrängung der Natur aus der Reflexion menschlichen ›Besorgens‹, aus dem Bereich systematisch-wissenschaftlichen Denkens und methodischer Praxis. Dabei zerfällt die Einheit des Naturbegriffs im Prozess wissenschaftlicher Differenzierung und technischer Naturbeherrschung; Natur ist nur noch als spezifische ›Störung‹ disziplinärer Praxis präsent. 2. Gegenläufig erfolgt eine ästhetische Reintegration von Natur in die menschliche Lebenswelt. Die romantisch-kompensatorische Spielart dieses Naturverständnisses antizipiert (unter sentimentalischem Vorzeichen) eine ästhetische Versöhnung von Mensch und Natur – was seit der Romantik allerdings auch die Auflösung des Subjekts implizieren kann. Die philosophisch anspruchsvollste Variante dieses Denkens war freilich nicht schöne Natur, sondern erhabene im Kantischen Sinn. In der Balance zwischen dem ›bestirnten Himmel über mir‹ und dem ›moralischen Gesetz in mir‹ wurde der Mensch quasi schwerelos in jene astrale Sphäre transponiert, die das Körperwesen Thales nicht hatte erlangen können.40 39 Adorno, Ästhetische Theorie. 1970, S. 114; vgl. S. 114f. 40 »Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein und bewußt werden können.« (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. (= Werkausgabe Band 10). Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 189) Die kano-

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Wenn aber die Versöhnung im Bild versagt ist und die Aufhebung im Begriff für das Sinnenwesen, um das es in der ›Aisthetik‹ doch geht, unbefriedigend bleibt? Dann bleibt, die Natur als Fremdes, Anderes, als Störung zu akzeptieren, dieser Störung nachzugehen und die Spur dieser Suche aufzuzeichnen. Was so entsteht, ist keine Abbildung, keine Repräsentation von ›Natur‹, sondern ein Hinweisen auf sie, ein Zeigen auf etwas ›Reales‹,41 das im Fokus des Erlebens steht, das aber nicht abgebildet, sondern nur bedeutet werden kann. Adornos Naturschönes hatte Aspekte dieser Erfahrung gefasst – aber sie gilt nicht nur für Schönes, sondern für alles Erleben, das außerhalb begrifflich kodifizierbaren Verstehens liegt. Und darum bemüht sich Nature Writing: Edward Abbey tötet mit einem Steinwurf ein Kaninchen – und lässt es liegen. Es geht um Töten, nicht um die Nahrung. Annie Dillard betrachtet fasziniert den brechenden Blick eines Frosches, der von einer Schwimmkäferlarve ausgesaugt wird. Charles Foster bemerkt, dass Jäger viel mehr von Natur verstehen als ihre Betrachter, weil sie die Eigenlogik der tierischen Welt nachvollziehen müssen. Richard Mabey untersucht offengelassene Flächen am Stadtrand und in der Stadt selbst. Helen Macdonald beschreibt den (notwendig) gescheiterten Versuch, einen Habicht zu domestizieren. Und Lydia Davies zeichnet das bedeutungslose Ballett dreier Kühe auf einer Wiese nach.42 Einig sind sich alle diese Texte darin, dass sie bereit sind, nicht zu werten, was sie sehen, dass sie erfahren wollen und Erfahrung beschreiben, aber die Dinge nicht erklären. Abbey fasst es so: »The shock of the real. For a little while we are again able to see, as the child sees, a world of marvels. For a few moments we discover that nothing can be taken for granted, ….«43

nische Stelle ist Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. (Werkausgabe, Band 7) Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 300: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung […]: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder in Überschwänglichkeit, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sein vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.« 41 »Das Reale begegnet, es manifestiert sich, es konstruiert sich, aber es repräsentiert sich nicht. Das ist der Stein des Anstoßes. Wenn jede Legitimität repräsentativ ist, dann ist die Legitimität im Hinblick auf das Reale, auf das sie sich beruft, bloß eine Fiktion.« Badiou, Alain: Das Jahrhundert. Zürich: diaphanes 2006/10, S. 135; vgl. Zizek, Slavoj: Welcome to the Desert of The Real. London/New York: Verso 2002. 42 Vgl. in Reihenfolge: Abbey, Edward: Desert Solitaire (1968). New York: Ballantine Books 1968, hier S. 41f.; Dillard, Annie: Pilgrim at Tinker Creek (1974). Norwich: Canterbury Press 2011, hier S. 7; 229; 268; Foster, Charles: Being a Beast. London: Profile Books 2016, hier vgl. S. 13; Mabey, Richard: The Unofficial Countryside (1973) Beaminster: Little Toller Books 2010; Macdonald, Helen: H for Hawk. London: Random House 2014; Davis, Lydia: Cows. Louisville, Kentucky: Sarabande Books 2011. 43 Abbey, Desert Solitaire. 1968, S. 45. Im Kontext des Zitierten formuliert Abbey einen Optimismus, der so nur noch von wenigen geteilt würde.

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Was diese Autoren beschreiben, ist – paradox formuliert – eine andere ›zweite Natur‹ (altera natura): eine enthierarchisierte und desanthropomorphisierte Wahrnehmung ›fremdgebliebener Dinge‹. Der Experimentalfilmer Stan Brakhage charakterisiert die gleiche Aufgabe folgendermaßen: »Imagine an eye unruled by man-made laws of perspective, an eye unprejudiced by compositional logic, an eye which does not respond to the name of everything but which must know each object encountered in life through an adventure of perception. How many colors are there in a field of grass to the crawling baby unaware of ›Green‹?«44

6. Noch anders, wenn die Natur nicht auf uns wartet, sondern uns besuchen kommt.45 Insbesondere, wenn dieser Besuch unangenehm und für einige sogar lebensbedrohlich ist, wie bei Corona. Dann werden verzweifelte Versuche unternommen, das Geschehene zu deuten und in den Horizont menschlichen Verstehens zu ziehen. Damit meine ich nicht die Arten und Weisen, der Bedrohung medizinisch und organisatorisch entgegen zu treten, sondern die im besten Falle irrelevanten Erklärungen und im Übrigen magischen Denkversuche, dem Geschehen interpretativ zu begegnen, indem man ihm einen bedeutungskonstitutiven Ursprung, eine origin story, zuweist. Am beliebtesten ist das Sündenbock-Spiel: Wer hat’s verbockt, hat’s in die Welt gebracht? Fledermäuse, also kleine Vampire, oder das mythische Gürteltier? Sind etwa die Menschen schuld, die eine Grenze überschritten haben, indem sie Wildtiere essen? Aber wer oder was legt fest, welche Tiere gegessen werden dürfen und welche nicht? Oder ist die Hybris der Wissenschaften schuld, die glauben, Natur beherrschen zu können? Haben sie eine Grenze überschritten? Und wenn ja, welche? Oder war es die Nachlässigkeiten der Wissenschaftler in ihrem demiurgischen Tun? Oder die Schlampigkeit der Chinesen, die sich doch noch nicht auf dem Stand westlicher Labortechnik befinden? Also kein eigentlich wissenschaftlicher Fehler, sondern ein technischer der angewandten Wissenschaft. Oder war es ein totalitärer Staat, der verhinderte, dass die Katastrophe rechtzeitig kommuniziert und deshalb eingedämmt werden konnte? Ist es eigentlich eine politische Katastrophe? Oder sind wir mit unserer Feier- und Reisewut und unseren unhygienisch engen Körperkontakten – besonders unter Bevölkerungsgruppen mit ausgeprägter familiärer Herzlichkeit oder intensiver Eventkultur - schuldig? Und geht es uns 44 Brakhage, Stan: Metaphors on Vision (1963) In: Metaphors on Vision by Brakhage. New York: Anthology Film Archives 2017. Das Zitat steht am Beginn des unpaginierten Textes. 45 Wie Gerhard Fitzthum angesichts der Bergstürze durch Klimaerwärmung formuliert: »Der Berg ruft nicht mehr, er kommt jetzt selbst.« (mündliche Mitteilung).

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überhaupt alle an, müssen wir das Virus aus der Welt schaffen wollen, wo doch Wissenschaftler sagen, dass es längst endemisch geworden ist? Sollten wir nicht akzeptieren, was geschieht, weil es doch geschieht? Und um welche Variante geht es überhaupt, welches Virus wird überleben, vielleicht uns überleben. Wie wird die Übersterblichkeit in der Endabrechnung aussehen? Ist es moralisch erlaubt, die Auswirkungen der Katastrophe sub aeternitatis und sine ira et studio zu kalkulieren? Was können und müssen wir aus welchen Gründen tun? Können wir überhaupt etwas tun? Werden wir Helden sein? Ich weiß es nicht. Doch zieht Corona, wie alle Seuchen und Pandemien, eine Spur der Wüstung durch die heim(e)liche Gemütlichkeit unserer Erzählungen.46 Bleiben wird eine Narbe, eine Spur Natur auf unserem schön tätowierten Selbstbild. Sie wird stören: Natur stört.

46 Vgl. Zizek, Slavoj: Pandemie! Wien: Passagen Verlag 2020; Zizek, Slavoj: Pandemie! II. Chronik einer verlorenen Zeit. Wien: Passagen Verlag 2021; Badiou Alain: On the Epidemic Situation, Verso Blog, 23 March 2020. URL: (letzter Zugriff: 31. 07. 2021); Toscano, Alberto: The State of the Pandemic. In: Historical Materialism, 20. 11. 2020, (letzter Zugriff: 31. 07. 2021) Einen literaturwissenschaftlichen Zugriff formulieren die Beiträge in: In Krisen erzählen – von Krisen erzählen. Sprachliche, literarische und mediale Dimensionen. Hrsg. von Jan Standke und Elvira Topalovic´. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes, 68. Jg, Heft 2 (2021); eine Übersicht über erste literarische Bewältigungsstrategien findet sich auch in: Billig, Susanne: Über das Virus und was es mit der Gesellschaft macht. (letzter Zugriff: 30. 07. 2021); vgl. auch Bernard, Andreas: Coronavirus: Wie eine Pandemie zu einer guten Story wird. In: DIE ZEIT Nr. 50/2020 (3. Dezember 2020). (letzter Zugriff: 30. 07. 2021).

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Grundimmunisiert gegen den Mangel an Daten und an Gewissheiten – Die Ausgrenzung der Ungeimpften war ein Schock für die Betroffenen1

1. Auch die weltweite Pandemie war eine Zeitenwende. Statt aber solidarisch zusammen zu rücken und zu akzeptieren, dass die Ungewissheiten verschiedene Reaktionen rechtfertigen, die auch die Chance bieten, ihre Wirksamkeit zu vergleichen, überspielten die Verantwortlichen ihren Wissensmangel und verordneten Gewissheiten. Der Umgang mit dieser neuen Gefahr reihte sich in ein Muster ein, das in Krisen üblich geworden ist – ob es die der Banken, der Flüchtlinge, der Umwelt war, oder die zunehmende Kriegsbereitschaft politischer Eliten. Immer lief es auf eine die Verantwortung verschleiernde Aufteilung in Gut und Böse hinaus, auf Angst oder gar Panik als Instrument der Disziplinierung, auf den Dualismus von Freund und Feind, auf einen inneren Kriegszustand. In dem vom Bundestag beauftragten Bericht des Corona-Sachverständigenrates vom Juli 2022 heißt es lapidar: Datenmangel seit Langem bekannt. Und bilanzierend: »Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmestärke nicht erkennbar.« Im Klartext: Die Wirksamkeit aller nichtmedikamentösen Corona-Maßnahmen ist bis heute unbekannt. Unbekannt ist noch kein Beweis für unwirksam, aber ein Grund, weniger durchzuregieren und mehr die Ärzte und die Bürger selbst entscheiden zu lassen. »Die Kritik ist vollumfänglich rehabilitiert«, titelte Cicero.

1 Es handelt sich hier um eine aktualisierte Fassung des Beitrages, der unter dem Titel »Was ich bei Ungeimpften in meinem Umfeld beobachte« in der Berliner Zeitung am 25. 10. 2021 erschienen ist. Siehe (letzter Zugriff: 19. 07. 2022). Der Titel für den Abdruck in der Berliner Zeitung stammte nicht von der Autorin. Daniela Dahn hat für die Veröffentlichung in diesem Band einen ersten Abschnitt ergänzt, der auf die aktuellen Entwicklungen Bezug nimmt. Mit 2. beginnt der Text aus der Berliner Zeitung. Die Herausgeber danken Daniela Dahn ausdrücklich.

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Selbstbewusster tritt gleichzeitig das RKI-Monitoring zur Wirksamkeit der Impfungen auf. Zwar weise kein Impfstoff eine Effektivität von 100 Prozent auf. (Schließlich wird immer noch das Vaccine gespritzt, das gegen das ursprüngliche Wuhan-Virus entwickelt wurde.) Aber gegenwärtig seien 85,2 Prozent der erwachsenen Bevölkerung grundimmunisiert, klingt es stolz. Was für ein Schindluder mit der absoluten Bedeutung von »immun«. Das erinnert mich an die Wortschöpfung »Realsozialismus«. Das hehre Versprechen stufen die Macher auf den blassen Abglanz herunter, aber bewegen sich sprachlich noch im Gehege des Trugbildes. Ein bisschen immun geht nicht. Man ist es oder ist es nicht. Wer immun ist, ist unantastbar resistent, vollkommen gefeit. Das ist kein CoronaGeimpfter zu irgendeinem Zeitpunkt. Immerhin gibt es in dem Bericht beeindruckende Kurven und Diagramme, die nachweisen, dass für Ungeimpfte das Risiko an Covid 19 zu erkranken und ins Krankenhaus zu müssen oder gar zu sterben um ein Mehrfaches erhöht ist. Bei Älteren im Vergleich zu Geboosterten um das 9-fache. Bei der Berechnung der Impfeffektivität könne es allerdings auch zu negativen Werten kommen. (Wie derzeit im Osten Deutschlands, wo gerade alle rätseln, weshalb es bei deutlich geringer Impfquote weniger Infektionen gibt.) Dies bedeute keineswegs, dass Geimpfte leichter erkranken, sondern muss als »Ausdruck statistischer Unsicherheit oder Verzerrung der Daten interpretiert werden«. Verzerrte Interpretationen zugunsten der eigenen Thesen? Die Presse beanstandete viele Ungereimtheiten im Bericht, wie selektive Nutzung von Studien und erhebliche Lücken in der Datenerfassung. Die Tageszeitung »Die Welt« fragte: »Versucht das RKI zu verschleiern, dass die Impfung nicht mehr in dem Maße schützt, wie von der Politik behauptet?« Im Mai 2022 berichtete der Tagesschau-Faktencheck von einer Charité-Studie an 40 000 Geimpften, die ergab, dass 40 mal mehr schwere Nebenwirkungen vorkommen, als vom Paul-Ehrlich-Institut ausgewiesen. Die Hochrechnung ergäbe für die Bundesrepublik eine halbe Million Geimpfte mit schweren Nebenwirkungen. »Der Kausalzusammenhang kann nicht überprüft werden«, hieß es im Check, zumal internationale Befunde anders wären. Und Placebo-Probanden hätten im Übrigen genauso viele Nebenwirkungen. Kaum glaubt man etwas verstanden zu haben, kommt jemand, der das Gegenteil behauptet. Eins ist aber inzwischen selbst beim RKI unbestritten: »Bislang kann nicht bemessen werden, inwieweit eine Impfung das Übertragen von SARS.CoV-2 reduziert.« Ärzte sollten »Geimpfte als nicht weniger ansteckend betrachten als ungeimpfte Personen«. Wie sehr sind diese »Personen« bis vor Kurzem wegen der vermeintlich nur von ihnen ausgehenden Gefahr von der Gesellschaft als Aussätzige behandelt worden. Sie waren die Unsolidarischen, die schuldhaft in Kauf nahmen, alle zu gefährden. Die Sündenböcke für den Frust und die Angst, die Infektionen nicht besser stoppen zu können. Während Geimpfte und Ge-

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nesene (2G) ungetestet zu Klubs und Kultur Zugang hatten und sich vergnügen konnten, durften völlig gesunde Ungeimpfte die meisten Geschäfte nicht betreten, keine Gaststätten, kein Konzert, Kino oder Fitness-Studio. Da half kein Test, sie waren ausgeschlossen von Trauerfeiern und Weihnachtsmärkten. Ihnen wurde strafbewährter Impfzwang in Aussicht gestellt und Kündigung, das Diskriminierungsbedürfnis ging so weit zu erwägen, ob diese »Covid-Idioten« in Krankenhäusern überhaupt noch behandelt werden sollten. Der jetzige Gesundheitsminister prophezeite, die meisten Ungeimpften würden sich anstecken und falls nicht genesen, »leider gestorben sein«. (Leider hat sich der doppelt Geboosterte gerade infiziert, man wünscht ihm nur das Beste.) So manche Freunde und Familienangehörige, die doch alle selbst an der Situation litten, stellten das Gespräch mit den »Corona-Leugnern« ein. Ungeimpfte Kinder wurden auf dem Schulhof gemoppt. All das war für viele eine nie erlebte, diktatorische Willkür, die einsam, wütend und krank machte. Eine solche totalitäre Versuchung sollte sich nicht wiederholen.

2. Es gibt eine neue, diskriminierte und ausgegrenzte Minderheit im Lande. Gerade die öffentlich-rechtlichen Medien erzählen gern das Märchen von den Guten und den Bösen. Das geht in Ordnung, denn es dient der staatlichen Ordnung. In der die Atmosphäre offenbar noch nicht gereizt und unsolidarisch genug war. Nur einige couragierte Schauspieler, Wissenschaftler und wenige Autoren ergreifen dagegen Partei. Denn wer jetzt noch widerspricht, wird immer öfter gelöscht – in den Orkus der unsozialen Medien. Die inquisitorische Stigmatisierung des Zweifels muss als Form struktureller Gewalt empfunden werden. Die Pandemie geht nicht so herdenmäßig zurück wie erhofft. Die Gründe sind unklar, aber klar ist, wer Schuld hat: die Ungeimpften. Dass auch Geimpfte infektiös sein können, ist tabu. Der Deutschlandfunk, ein der Dissidenz sonst unverdächtiger Sender, fragte am 31. August 2021: »Können Geimpfte andere Menschen anstecken?« Und antwortete: »Gerade bei der Delta-Variante wirken die Impfstoffe nicht so gut. Man kann sich infizieren und das heißt, man kann auch wieder andere anstecken.« Dummerweise haben wir es in Deutschland fast ausschließlich mit der Delta-Mutation zu tun. Was nicht zu unterschätzen ist und für die Impfung spricht: Offensichtlich schützt sie eine Zeitlang vor schweren Verläufen. Allerdings werden die »Einzelfälle«, bei denen diese Zeit kurz ist, von Tag zu Tag mehr. Die 2G-Experimente im Szeneclub Berghain oder in Clubs in Kreuzberg und anderen Städten haben allesamt zu beachtlichen Infektionszahlen geführt. Auch

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die sich untereinander infiziert habenden Spieler vom Eishockey-Klub München waren alle doppelt geimpft.

Ein doppelt Geimpfter steckt seine doppelt geimpfte Frau an Obwohl die Wirksamkeit der restriktiven 2G-Methode als widerlegt angesehen werden kann, gehen viele Einrichtungen, darunter gern auch linke mit ihrem Zero-Covid-Trugbild, jetzt zu dieser demonstrativen Ausgrenzung über. Schließlich seien die Ungeimpften selbst schuld, wenn sie sich nicht immunisieren lassen, macht der DLF in der Presseschau vom 24. Oktober seine Schlappe wieder gut. Dabei ist die Illusion von einem zuverlässigen Schutz vor Ansteckung längst widerlegt. Und regelmäßige Booster-Auffrischungen könnten bei Veranlagung auch zu »Immunerschöpfung« führen. Zunehmende »Impfdurchbrüche« beobachte ich auch in meinem Umfeld. Ein ganzer, durchgeimpfter Verlag ist zur Zeit in Quarantäne und konnte nicht an der Messe teilnehmen. Ein jüngerer, prominenter Kollege von mir, doppelt Astrazeneca-geimpft, hat sich auf einer Lesereise infiziert, diese wegen eindeutiger Symptome abgebrochen und dann seine mit Biontech doppelt geimpfte Frau angesteckt. Er sagt, er würde den Verlauf weder mit »mild« noch mit »kurz« beschreiben. Ratlos macht selbst das weltweite Musterbeispiel für schnelles Impfen. Nochmal die nachdenkliche Sendung des DLF: »Aktuell beunruhigen in dem Zusammenhang Meldungen aus Israel. Mehr als die Hälfte der Covid-Patienten in Israels Kliniken waren vollständig geimpft.« Falls ich noch bis drei zählen kann, heißt das, in dem Land mit der etwa gleichen Impfquote wie bei uns, aber dem größeren Erfahrungsvorsprung, liegen derzeit mehr geimpfte als ungeimpfte Pandemie-Fälle in den Krankenhäusern. Müsste man nicht zugespitzt fragen, ob von den Geimpften derzeit sogar die größere Gefahr ausgeht, weil ihnen eingeredet wurde, dass sie geschützt und für andere unbedenklich sind, also zu ihrem »normalen Leben« zurückkehren können? Während die meisten Ungeimpften von sich aus vorsichtig sind.

Es ist verletzend, sich für eine Nicht-Impfung rechtfertigen zu müssen Für Großbritannien hieß es in besagter Sendung, dass Geimpfte andere Personen »nur halb so häufig« anstecken. Bedenklich genug, immerhin sind dort 80 Prozent doppelt geimpft. Bei uns geht angeblich nur jede zehnte Ansteckung auf einen Geimpften zurück. Es ist, als ob das Virus mit seiner Unlogik uns spottend vor sich hertreibt. Denn unsere Impfquote ist vermutlich genauso hoch wie die

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britische. Aber wer weiß das schon so genau, allein das Zählen hat uns überfordert. Die häufigsten Redewendungen der DLF-Sendung waren dann auch: Es besteht die Hoffnung …, deuten alle bisherigen Erkenntnisse in Richtung …, ist aktuell noch nicht klar …, fehlen dazu ausreichend belastbare Daten. Immerhin reichen die Daten, um an der Gefährlichkeit des Virus keinen Zweifel zu haben, um diese Krankheit durchaus nicht haben zu wollen. Um wahrzunehmen, dass derzeit vor allem jüngere Ungeimpfte auf den Intensivstationen liegen. Wie mir von einer Pflegekraft auf einer Intensivstation, die aber nicht genannt werden möchte, berichtet wird, sind vor allem Personen aus sozial benachteiligten Umfeldern betroffen, Patienten mit angeschlagenem Immunsystem, wie starke Raucher oder Übergewichtige. Warum sollte auch das Kriterium der Vorerkrankung nur auf Ältere zutreffen? Warum bin ich nicht geimpft? Es ist verletzend genug, sich für eine so persönliche Entscheidung rechtfertigen zu müssen, weil man sonst gleich in die »radikale Querdenker-Szene« entsorgt wird. Ja, ich war vor drei Jahren unmittelbar nach einer Grippeschutz-Impfung ein halbes Jahr lang mit einer schweren Bronchitis und chronisch erhöhtem Fieber sehr belastend erkrankt. Ja, das ist vielleicht kein hinreichender Grund, Analogien zu anderen Impfungen zu vermuten. Vielleicht aber doch. Erst jetzt las ich in der Nature vom 14. Oktober 2021, dass es die Veranlagung geben kann, auf Influenza-Viren »verzerrt« zu reagieren, insbesondere, wenn man einer Impfung ausgesetzt ist. Die Fachwelt nennt das »antigene Erbsünde« und erforscht jetzt (!), ob dieses Phänomen auch bei Sars-CoV-2 auftritt. Die verschiedenartigen Reaktionen des Immunsystems sind offenbar »eines der großen Rätsel der Pandemie«. Kein Grund für Hellhörigkeit?

Wann entfällt die Legitimation für »bedingte Zulassung« der Impfstoffe? So gibt es für verschiedene Menschen viele verschiedene Gründe für Hellhörigkeit. Etwa den, dass alle in der EU zugelassenen Impfstoffe derzeit nur eine »bedingte Zulassung« haben. Das heißt, sie haben ein beschleunigtes Verfahren durchlaufen, in dem fehlende Daten ausnahmsweise nachgereicht werden können und nicht, wie normalerweise, alle vor der Zulassung vorliegen müssen. Das betrifft etwa das komplette Fehlen von Studien zu Langzeitfolgen, was bisher immerhin eingeräumt wurde. Plötzlich heißt es, Langzeitfolgen von Impfungen seien generell inexistent, was einigen Erklärungsbedarf hinterlässt. Die EU hat damals eine Experten-Taskforce gebildet, die für die Marktzulassung letztlich abwägen sollte, ob der Nutzen die Risiken überwiegt. Aber das ist schwierig, wenn man nicht recht weiß, wie lange der Impfstoff wirkt und auch Antikörper bald nach der Krankheit zugunsten von Gedächtniszellen verschwinden. Die

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schwer nachweisbar sind, von denen aber zu hoffen ist, dass sie bei einer Neuinfektion Botenstoffe aussenden, die die benötigten Antikörper produzieren. Besonders problematisch scheint mir, dass Widersprüchliches darüber bekannt ist, ob die Aktivierung der Immunabwehr gegen Sars-Cov-2 die Abwehr anderer Viren und Bakterien bremst. Der Virologe Alexander Kerkulé geht davon aus, dass man gegen anderes »dann weniger gut immun« ist. Wie steht es also um das Nutzen-Risiko-Verhältnis für die 95 Prozent aller Krankheiten, an denen sonst noch so gestorben wird? Die totale Fokussierung auf eine, wenn auch ansteckende Krankheit, hat etwas Irrationales. Ist es noch erlaubt zu fragen, ob es unter diesen Bedingungen wirklich eine gute Idee war, möglichst die gesamte Weltbevölkerung möglichst jedes Jahr durchimpfen zu wollen? Wäre die Pharmaindustrie nicht besser beauftragt gewesen, sie hätte den weitaus größten Teil der staatlichen und privaten Investitionen auf die Erforschung eines therapeutischen Medikaments konzentriert? Also besser gezielt Erleichterung und Heilung bringen – so wie es ja auch mit Antibiotika gegen bakterielle Erkrankungen gelungen ist? Das ist komplizierter, aber wirksame Substanzen waren bekannt und sollen vielversprechend in der Erprobungsphase sein. Von Schnellverfahren war da allerdings keine Rede. »Alle menschlichen Verhältnisse stellen sich in den Interessen dar«, habe ich einst bei Friedrich Engels gelernt. Warum sollte das gerade in diesem Fall anders sein? Die professionellen Wachhunde des Kapitals haben es verstanden, jegliches Nachdenken über Interessen als »Verschwörungstheorie« wegzubeißen. Genial.

Ist der Kampf gegen die Pandemie wirklich ein Kampf um Leben und Tod? Ich will abschließend nicht das inflationäre Plädoyer für Andersdenkende bemühen. Selbst der Verweis auf Marxens Lieblingsmotto: An allem ist zu zweifeln, könnte hier unterkomplex ausfallen. Zu schwierig sind die ethischen Fragen, vor denen wir stehen. Die Behauptung der Politik, es gehe beim Kampf gegen diese Pandemie um Leben oder Tod, war von Anfang an eine irreführende Anmaßung. Die Herrschaft über den Tod ist uns nun mal nicht gegeben. Wir bleiben der Natur unterworfene Wesen. Aber je mehr künstliche Intelligenz wir kreieren, je mehr natürliche scheinen wir zu opfern. Die Hoffnung auf Erlösung ist divers, das weiß man doch seit 2000 Jahren. Zwar hat die Zivilisation die Lebenserwartung weit über die biblische Vorhersage hinausgestreckt, aber sie hat sie mit Kriegen, Klimabelastungen, Hunger und Zivilisationskrankheiten auch wieder eingeschränkt. Wir arbeiten bestenfalls daran, einen unwürdigen, vorzeitigen Tod zu vermeiden. Aber ist nicht jeder Tod, der etwas anderes war als das friedliche Einschlafen aus Altersschwäche, ein

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vorzeitiger Tod? Weil er von einer Krankheit ausgelöst wurde, die zu behandeln nicht erfolgreich oder noch nicht möglich war? Sich fortschrittlich gebende Mitstreiter wären gut beraten, Krankheit nicht in einen Zusammenhang mit Schuld zu bringen. Impfen als Akt der gesellschaftlichen Solidarität? Von da ist es nicht weit bis zur patriotischen Pflicht. Impfen fürs Vaterland. Demokratie trägt die Versuchung zu Totalitarismus immer in sich. Die biologistische Ausgrenzung aus dem »gesunden Volkskörper« ist noch nicht so lange her. Ich empfinde die neuerdings ausgestellte Rechnung vom Testzentrum wie einen Strafzettel vom Ordnungsamt. Zu Veranstaltungen, bei denen die Zweifler, Fragesteller und Andersdenkenden zuvor ausgesondert wurden, gehe ich allerdings sowieso nicht.

Thomas Findeiss

Es gibt kein neues Normal (Ein paar sehr persönliche Eindrücke aus der Pandemie-Zeit)

Es gibt kein neues Normal — und zwar deswegen, weil es kein altes Normal gegeben hat. Allerdings erscheinen mir jetzt viele Dinge, die noch vor anderthalb Jahren mehr oder weniger selbstverständlich waren, jetzt wie ein seitens des Staats gewährter Luxus….

So könnte ein feuilletonistischer Text anfangen, – eine dieser selbstgefälligen Meinungsbekundungen, auf irgendwelchen Blogs, oder Facebook Accounts, die zwischen beißendem Spott und gefühligem Beleidigtsein hin und her oszillieren. In diesem schwer zu beschreibenden Tonfall, der von der neuen Rechten, wie der neuen Linken so oft zu hören ist. Eingeschnappt, besserwisserisch und aggressiv. Aber ich glaube, das Problem liegt woanders, nicht tiefer sondern höher, eher an der Oberfläche. Denn gesellschaftliche Bewegungen, inklusive der meisten Versuche, sie zu analysieren, spielen sich zunehmend auf der Oberfläche ab, da wo das schnelle Reiz– Reaktionsgewitter abläuft: Das gesellschaftliche Spektakel, in der Gesellschaft des Spektakels. Die andauernden Umfragen, Statistiken, Inzidenzen und Zahlen-Pyramiden, prägen das Meinungsbild der Öffentlichkeit mehr denn je. Die öffentliche Meinung ist ein Chamäleon, das seine Farbe wechselt, je nachdem welche Zahlen es vorgesetzt bekommt. Die Entscheidung, welche Partei man wählt, rückt immer näher an den Wahltag heran. Immer mehr Menschen in Deutschland wissen bis zum letzten Moment nicht genau, welche Partei sie eigentlich wählen wollen. Und im letzten Moment schlagen dann Meinungsumfragen zu. Ich persönlich glaubte noch bis vor kurzem, dass Demokratie die bislang beste Organisationsform des Kapitals sei. Das denke ich jetzt nicht mehr. Der demokratische Prozess setzt ein hohes Maß an Bewusstseinsbildung voraus. Und die findet immer weniger angesichts der Realitäten, sondern in – oder gegen die mediale Widerspiegelung der Realitäten statt. Auf diese Weise entsteht eine Art kollektive Meta-Realität, eine Bewusstseins-Fata Morgana, in der Schemen und Schatten deutlicher erkennbar scheinen als Fakten und Realitäten, wie im balinesischen Schatten-Theater.

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Thomas Findeiss

Neulich habe ich gelesen, dass das ultrabrutale indische Kastensystem in der Arbeitshierarchie der TechGiganten in Silicon Valley eine makabre Renaissance erlebt. Viele indisch stämmigen Menschen, die dort arbeiten, gerade weil sie dem Kastensystem entkommen wollten, identifizieren sich zwanghaft gegenseitig als bestimmten Kasten zugehörig – und diskriminieren sich einfach weiter. Ein hinduistischer Brahmane z. B. schlägt einer Mitarbeiterin anerkennend auf die Schulter, um festzustellen, ob sie den für seine Kaste signifikanten Schulterriemen trägt. Dabei ist sie eine Unberührbare, wird dementsprechend klassifiziert. Menschen suchen Halt in Ordnungssystemen, deren Unsinnigkeit ihnen nicht bewusst ist, bzw. gezielt vorenthalten wird. Das ist die Keimzelle des ganz normalen Totalitarismus. Hier in Deutschland hat man im Lauf des vergangenen Jahres beobachten können, wie schnell sich scheinbar zuverlässige demokratische Strukturen auflösen. Angst, hybride Wissenschaftsgläubigkeit und schlichte Inkompetenz der sog. politischen Entscheider haben einen massiven kollektiven Selbst-Bestrafungsreflex ausgelöst. Eine Art ritueller Selbstgeißelung. Ich unterstelle nicht, dass das ein gezieltes strategisches Manöver war. Aber ich frage mich schon, woher kommt die Bereitschaft, sich ein derart enges Regulierungs- und Maßnahmenkorsett anlegen zu lassen, das bei den derart Gequälten nur grelle Beißwut gegenüber jeder Kritik an ihrer Unterwerfungsbereitschaft auslöst? Wofür also meint man bestraft werden zu müssen? bzw. sich selbst bestrafen zu müssen: Für den Klimawandel, den Konsumismus, den allgemeinen Hedonismus? Vielleicht für das Privilegiertsein im globalen Kontext? das Outsourcing militärischer Konflikte, für »Die Festung Europa« und die Toten im Mittelmeer? die allgemeine Verantwortungslosigkeit?

Es wäre durchaus eine neue »Meta-Verschwörungstheorie« denkbar, deren Kern in der Annahme bestünde, dass jegliche Art von außerparlamentarischer Kritik, die Querdenker-Bewegung, Corona-Leugner, ReichsBürger, die neue Rechte weltweit, aber auch islamisch-fundamentalistischer Antisemitismus – allesamt konstitutive Bestandteile einer neuen, allem übergeordneten, organisierten Strategie globaler Eliten sind, die vom wirklichen Gegner abzulenken wünscht, um die jeweiligen Systeme zu ihren Gunsten zu modellieren. Ein Beleg für den einsetzenden Erfolg dieser hybriden Conspiration-Theory könnte ja durchaus sein, dass zunehmend nationalistische Bestrebungen dem

Es gibt kein neues Normal

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von allen nationalstaatlichen Beschränkungen befreiten international fluktuierenden Kapital noch hilfloser gegenüber stehen, als ihnen selbst bewusst wird. Mai 2021, Schlosspark Charlottenburg: Das T-Shirt: »soziale Kontakte meiden, asoziale Kontakte pflegen« – Mittwoch, 25. März 2020 22:48 Ich sehe nur, wie leicht die Herde zusammenzutreiben ist. Und wie leicht es fällt, zu denunzieren. Aber das ist eben der Herdeninstinkt. Die Selbstherrlichkeit ist vorübergehend untergebrochen. Die Hybris wird umso schlimmer werden. – Dienstag, 24. März 2020 12:47 Ist es nicht enttäuschend, dass so viele ehemalige Freunde sich jetzt als dermaßen ängstlich, egoistisch und dominant-moralisch zeigen? Und das Schlimmste ist, dass sie sich im Kern dafür schämen. Und später werden sie sich exakt dafür an uns rächen…. – Montag, 23. März 2020 10:31 Also, was sich hier abspielt, ist die totale Bereitschaft zu einem planetarischen Selbstmord. Man akzeptiert den Tod nicht mehr. Und der lässt sich das natürlich nicht gefallen.

Schau nicht heimwärts, Engel! Die Pandemie, beziehungsweise die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, haben gezeigt, wie schnell und unwidersprochen die Behörden in gesellschaftliche u. kulturelle Prozesse eingreifen können. Und, was erschreckend ist, wie bereitwillig große Teile der Bevölkerung, ohne nähere Kenntnisse des Hintergrundes der Entscheidungen, und durch Schreckensszenarien eingeschüchtert, diese Maßnahmen akzeptieren. Ein EXIT-Szenario dagegen existiert nicht. Ein Interesse daran scheint es nicht zu geben. Im Gegenteil: es ist eine gewisse Häme in der Androhung und Ankündigung weiterer Einschränkungen seitens der Politik zu spüren. Was in Nicht-Pandemie-Zeiten verfassungsrechtlich nicht machbar wäre, wird jetzt unangefochten durchgesetzt und akzeptiert. »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.« Walter Benjamin.

Der Wissenschaftsbetrieb, der gesamte Kultursektor, und insbesondere »Kulturschaffende« sind schlagartig heruntergefahren, marginalisiert und zum Teil existenziell bedroht. Protest dagegen wird als Verweigerung und Verrat wahrgenommen, beziehungsweise gleich pauschal kriminalisiert. Es findet eine Spaltung der Gesellschaft in Gehorsame und Verweigerer statt, in Loyalisten und Illoyalisten, in Denunzianten und Denunzierte.

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Thomas Findeiss

Einmal eingeübte Disziplinarmaßnahmen werden nur sehr schwer wieder zurückzunehmen sein, wenn Reglement und Gehorsam, Angst und Verbot, Zucht und Bestrafung so verinnerlicht werden, dass sie für Normalität und Common-Sense gelten. Den Weg zurück gibt es nicht. Die Chance besteht darin, den Wissenschafts- Kunst- und Kulturbetrieb verstärkt zu politisieren und das Bewusstsein für die Fragilität liberaler Strukturen zu schärfen. Es darf weder die alte, noch eine neue Normalität geben. Deswegen: Schau niemals heimwärts, Engel! Es gilt die Brecht’sche Maxime: nicht an das gute Alte, sondern an das schlechte Neue anzuknüpfen.

Auszug aus meinem neuen Roman »Suun-City« »Die Linken haben sich schon immer den Anschein gegeben, im Besitz eines mystischen Geheimwissens zu sein«, sagte Suun zu Beginn einer seiner selbstgenüsslich schnalzenden Reden, »wenn sie das urmarxistische Argument in Anschlag brachten, dass jede Wirtschaftsform ihre eigene Ideologie hervorbringt, mit der sie Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschleiert. Insbesondere dem globalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist es gelungen, die Staaten der Welt im Glauben an seine Alternativlosigkeit zu wiegen. Wenn man das Prinzip von Angebot und Nachfrage gewissermaßen zur biologischen Tatsache verklärt, als Naturgesetz, als unumstößliches Axiom, wenn jede Kritik daran als naiv und zurückgeblieben denunziert wird, – und das ist Ihnen und uns schon öfters passiert – dann nenne ich das totalitär! Wenn der sich angeblich selbst regulierende Weltmarkt, und die dazugehörige Ideologie von Freiheit, Chancengleichheit und freiem Unternehmertum, das Gehirn der Menschen derart vernebelt, dass sie die Selbstzerstörungskräfte dieses Systems nicht mehr wahrnehmen, dann hat dieses System bereits gewonnen. Diese Zersetzungskräfte sind vielleicht weniger innerhalb der mächtigen und tonangebenden Staaten spürbar, dafür aber umso mehr in den ärmeren Ländern, denen Zugang und Chancen auf dem so genannten Weltmarkt verwehrt werden. Der physische Zugang, also die Migration, wird ja inzwischen bekanntlich mit militärischen Mitteln bekämpft. Das Bewusstsein der Menschen verschwindet hinter der ideologischen Maske.«

II

Christina Gansel

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie: Zum Muster einer sprachlich-kommunikativen Praktik

1.

Systemtheoretischer Medienbegriff und angstbezogene Kommunikation

Die öffentliche hegemoniale politische und massenmediale Kommunikation im Rahmen der Corona-Pandemie wird in verstärktem Maße als Risiko- und Angstkommunikation, die zur Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte, Impfbefürworter und Impfskeptiker oder Impfgegner führe, wahrgenommen. Bei Angst nun handelt es sich um einen Begriff aus der Psychologie, der eine emotionale Verfasstheit beschreibt: Angst ist »ein in der Regel mit physiologischen Erscheinungen wie schnelle Atmung, Schwitzen, Zittern, Herzklopfen einhergehender unangenehmer emotionaler Zustand, der vor allem dann auftritt, wenn Meidungsmotivationen frustriert werden, d. h. wenn das Individuum bei Vorhandensein eines Zieles mit negativer Valenz keine Möglichkeit hat, sich der Situation zu entziehen. Unter diesen Bedingungen kann Angst gelernt und generalisiert werden.«1

Nun geht es in diesem Beitrag nicht um Angst als ein individuelles psychischphysiologisches Phänomen, sondern um Angst als ein kommunikatives Problem. Mit Bezug auf moderne Gesellschaften stellt Bergmann fest: »Angst ist veraltet und zugleich aktuell, sie ist in vielerlei Hinsicht mit dem Aufkommen moderner Gesellschaften überholt – und wird doch gerade immer wieder erzeugt«2, um zu stören oder zu verstören. Zu fragen ist in diesem Beitrag, worauf die Beobachtung von angstbezogener Kommunikation während der Corona-Pandemie in Deutschland beruht.

1 Wörterbuch der Psychologie. Köln: Pahl-Ruginstein 1983, S. 32. 2 Bergmann, Jörg: Paradoxien der Angstkommunikation – über Verhalten und Modernität der Angst. In: Jahrbuch für Gruppenanalyse und ihre Anwendungen, Band 8. »Der Andere in der Gruppe – Angst und Neugier«. Hrsg. von Mohammad E. Ardjomandi, Angelika Berghaus und Werner Krauss. Heidelberg: Mattes 2002, S. 1–13, hier: S. 2.

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Das Bundesinnenministerium erarbeitete im März 2020 ein Szenarienpapier mit dem Titel »Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen« zunächst als Verschlusssache. Am 01. April 2020 wurde es auf der Webseite »FragDenStaat« der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.3 Im Punkt vier des Papiers werden »Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation« dargelegt: »Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden«. Als mögliche Vorgaben zur Erreichung dieses kommunikativen Ziels, werden bildlich gesprochene Szenarien für eine Argumentation entwickelt, die an die »Urangst« anschließen sollen oder die Folgen einer Covid-Erkrankung ins Bewusstsein rücken. Ein zweiter Punkt geht auf die Kommunikation in Hinsicht auf Kinder in der Pandemie ein: »›Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden‹: Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z. B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.«4

Zu schlussfolgern ist aus diesem Papier, dass ein Erfordernis allem Anschein nach darin bestand und besteht, die Bevölkerung argumentativ in einen Angstzustand zu versetzen, um entsprechende Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie durchzusetzen. Die Anforderungen an diese Art der Kommunikation sind an Institutionen gerichtet, die das Pandemiemanagement betreiben, an die Politik sowie die hegemonialen journalistischen Massenmedien in Print, Hörfunk oder digital. Ein solcher Ansatz impliziert im Sinne Niklas Luhmanns, dass Kommunikation etwas Unwahrscheinliches ist. Luhmann geht davon aus, dass Kommunikation aufgrund ihrer Komplexität eher unwahrscheinlich ist, denn sie kann nur kontextgebunden (1) verstanden werden. Unwahrscheinlich ist es, in der Kommunikation mehr Adressaten zu erreichen, als sie in der konkreten kommunikativen Situation zugegen sind (2); unwahrscheinlich ist auch der Erfolg, ob Kommunikation, wenn sie verstanden wurde, auch angenommen oder befolgt wird (3) beispielsweise im Handeln nach bestimmten Direktiven, wie sie in der Pandemie als Hygieneverordnungen herausgegeben wurden.5 Im Laufe kommunikativer und gesellschaftlicher Evolution, so Luhmann, sind Unwahr3 FragdenStaat. Szenarienpapier. »Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen«. (letzter Zugriff: 20. 01. 2022) (Am 10. Juni 2022 ist die Seite nicht mehr verfügbar.) 4 Ebd. 5 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 216–218.

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

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scheinlichkeiten der Kommunikation überwunden und in »Wahrscheinlichkeiten transformiert« worden.6 Aussichtsreiche Kommunikationen konsolidieren sich in spezifischen und typischen Kommunikationen von sozialen Systemen. Beobachtbar ist dieser Prozess seit dem 18. Jahrhundert, in dem Wissenschaft, Recht, Erziehung, Wirtschaft, Politik oder Kunst ihre Eigenlogiken für Kommunikationen ausprägen. Wirtschaft kommuniziert im symbolisch generalisierten Medium »Geld«, Wissenschaft im Medium »Wahrheit«, Politik im Medium »Macht«. Die Wahl von Angstthemen in der Kommunikation bezeichnet Luhmann als einen »Resonanzverstärker«, der quer zu den funktionalen Systemen der Gesellschaft seine Wirksamkeit entfaltet und so Kommunikation wahrscheinlicher macht, jedoch »von den Funktionssystemen aus nicht zu kontrollieren« sei.7 Denn Angst ist psychischen Systemen als ein emotionaler Zustand eigen, und diesen kann Politik nicht beherrschen. Er hebt jedoch gleichfalls hervor, dass »gerade bessere Funktionsleistung […] mit mehr Angst korrelieren (kann), ohne sie beheben zu können«.8 Ausgehend von den benannten Szenarien ist es also die Emotion der Angst, auf die sich die Politik in der Kommunikation in der Pandemiesituation stützt, um ihre Ziele zu erreichen. Das oben zitierte Szenarienpapier wählt mit Bezug auf Kommunikation bewusst Angstthemen, die die Besorgtheit der Regierung zum Ausdruck bringen sollen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass diese Sorge der Politik in sprachlichen Äußerungen vehement mit dem Verb sich sorgen benannt wird (formelhaft: X sorgt sich, X macht sich (große) Sorgen, X sagt, die Sorge ist berechtigt). Angst als psychische Realität ist dabei nicht von Belang, wichtig ist ihre »kommunikative Aktualität«.9 So drückt die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vielfach in ihren Reden ihre Sorge über die pandemischen Entwicklungen und die Gefahren für die Bevölkerung und das überlastete Gesundheitswesen aus und wird in der Presse – wie auch weiterhin der Gesundheitsminister – mit ihrer Sorge entsprechend zitiert. Diese Sorge bleibt zumeist unwidersprochen, denn die Gefahren, die von dem Virus ausgehen, sind bekannt. Luhmann dazu: »Wenn Angst kommuniziert wird und im Kommunikationsprozeß nicht bestritten werden kann, gewinnt sie eine moralische Existenz. Sie macht es zur Pflicht, sich Sorgen zu machen, und zum Recht, Anteilnahme an Befürchtungen zu erwarten

6 Ebd., S. 219. 7 Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einlassen? 5. Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 157. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 161.

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Christina Gansel

und Maßnahmen zur Abwehr der Gefahren zu fordern.«10 Auf diese Weise kann die Pandemiekommunikation über Angst mit Moral aufgeladen werden. Mit Bezug auf die ökologische Kommunikation formuliert Luhmann: »In der öffentlichen Rhetorik wird Angst zum Prinzip der Selbstbehauptung hochstilisiert. Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat und seine Angst einem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden kann. Trotz dieser deutlichen semantischen Konturen läßt sich kein System für Angstbewältigung ausdifferenzieren.«11

Damit ist gemeint, dass Angst nur im Bewusstsein eines Individuums selbst bewältigt werden kann. Nun ist es nicht von der Hand zu weisen, dass in der Pandemiesituation jedes Individuum von Angstrhetorik umgeben ist und diese in unterschiedlicher Weise wahrnimmt und verarbeitet. Eine wesentliche Rolle spielen dabei journalistische Medien. Wie für andere Medien – Film oder Videospiele – gilt für Beiträge in der Tages- oder Online-Presse, dass in der Pandemiekommunikation in Bild und Text evozierte Emotionen wie Furcht, Scham, Hass oder Schuld angesprochen werden können. Geht man wie Eckoldt davon aus, dass journalistische Medien im symbolisch generalisierten Medium Aufmerksamkeit operieren, so könnte die Angstkommunikation im Sinne der Nachrichtenwerttheorie als attrahierende negative Größe mit Aufmerksamkeit steigerndem Wert interpretiert werden.12 Der Gewinn von Aufmerksamkeit bzw. die Rezipientenbindung an das Medium selbst kann dabei nicht allein in Betracht gezogen werden. Vielmehr ist die Leistung der Massenmedien für die Gesellschaft zu beleuchten. Luhmann sieht diese in der »Formung öffentlicher Meinung«.13 Wenn nun angstbezogene Kommunikation ein Resonanzprinzip ist, »das Bestimmtes vergrößert und anderes abdunkelt«,14 so Luhmann, ist sie mit einer persuasiven Funktion verbunden – bezogen auf das Pandemiegeschehen ist es die Funktion, Entscheidungen in der Vorgabe durch Gesetze oder Verordnungen zu legitimieren. Die Angst vor Erkrankung und Tod soll Akzeptanz für das Infektionsschutzgesetz, Hygieneverordnungen oder Kontaktbeschränkungen fördern.

10 11 12 13 14

Ebd. Ebd., S. 160. Vgl. Eckoldt, Matthias: Medien der Macht. Macht der Medien. Berlin: Kadmos 2007, S. 202. Krause Detlef: Luhmann-Lexikon. 4. Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 50. Luhmann, Ökologische Kommunikation 2008, S. 160.

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

2.

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Linguistischer Modalitätsbegriff: Text-Bild-Interaktion

In linguistischer Perspektive kann nun nicht die Angst, die sich in Personen als Gefühl ausbreitet, untersucht werden. Dazu wären Rezipientenbefragungen erforderlich. Geprüft werden soll anhand von Kommunikaten in der Tages- und Onlinepresse, welcher Typ von Rhetorik angstbezogene Kommunikation befördert und für Wahrnehmung zur Verfügung steht. Dass Multimedialität dabei gerade in der massenmedialen Kommunikation eine zentrale Rolle spielt, erscheint offensichtlich. Sie wird hier im Sinne von Stöckl und Zebrowska gefasst als »eine Strukturierung von Texten mit unterschiedlichen semiotischen Ressourcen«.15 Die häufigste Kombination von unterschiedlichen Zeichensystemen findet sich in der Verbindung von »statische(m) Bild und Text«,16 wie Zebrowska herausstellt, und ist in der Berichterstattung zur Pandemie in den journalistischen Massenmedien unübersehbar präsent. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Angst in Hinsicht auf die mangelnde Wahrnehmbarkeit des Klimawandels stellen Lickhardt/Werber fest, »dass gerade der sinnliche Entzug des Phänomens besonders unheimlich und bedrohlich wirkt«.17 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sowohl der Klimawandel als auch die Corona-Pandemie massenmediale Darstellungen hervorrufen, die sehr wohl bedrohlich wirken können, indem das entsprechende Phänomen in einer »medialisierten Übergröße« präsentiert wird.18 Bildliche, fotographische Darstellungen heraufziehender dunkler und bedrohlicher Wolken über abgeernteten Feldern symbolisieren prototypisch die ökologischen Gefährdungen.19 Die übergroße sowie teilweise recht ästhetische Modellierung des Corona-Virus als Kugel mit seinen Spikes im Hintergrund von TV-Nachrichtensendungen oder hundertfach wiederholte Abbildungen einer Spritze samt Impfstoff, der Blick in eine Intensivstation oder ein Foto der Verabreichung einer Injektion erscheinen als Strategien der Verbildlichung von Gefahren für die Gesundheit oder ihres Schutzes und stehen im Dienst einer persuasiven Funktion, nämlich, die Notwendigkeit einer Injektion als vornehmlich einzigen Schutz 15 Vgl. Stöckl, Hartmut: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte. Theorien. Analysemethoden. Berlin/ New York: de Gruyter; Zebrowska, Ewa: Text – Bild – Hypertext. Frankfurt/Main: Peter Lang 2013, S. 92. 16 Ebd., S. 91. 17 Lickhardt, Maren/Werber, Nils: Zur Unwiderlegbarkeit der Angst. In: Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Lars Koch. Stuttgart/Weimar: Springer 2013, S. 366–374, hier: S. 370. 18 Ebd., S. 372. 19 Vgl. Gansel, Christina: Nachhaltigkeit und der gesellschaftliche Resonanzraum. In: Nachhaltigkeit – Konzept, Kommunikation – Textsorten. Hrsg. von Christina Gansel und Karin Luttermann. Münster: LIT 2020, S. 45–79, hier: S. 71.

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gegen das Virus plausibel zu machen und die Impfbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen. Derartige Fotos erscheinen äußerst gängig und begegnen einem bei jedem Blick in Google-Nachrichten in den vergangenen 20 Monaten. Um ein Beispiel zu geben: in den Google-Nachrichten erscheint am 15. Januar 2022 ein Focus-Online Artikel vom 14. Januar 2022 / 16:23 mit den Überschriften »Erst FrankreichVariante, dann ›Deltracron‹. Kommt jetzt noch die Super-Mutation? Das sagen die Corona-Experten«.20 Darunter die übliche übergroße Virusabbildung mit weiterhin umherschwirrenden Viren in einer gelb-orange-roten ringförmigen Umgebung. Unterhalb des Bildes die dazugehörige Unterschrift: »Virologen schätzen das Risiko einer komplett veränderten Mutation als gering ein«.21 Damit ist eigentlich alles gesagt und im Text kommen mehrere Virologen zu Wort, die eine eher zuversichtliche Zukunft in Hinblick auf eine endemische Situation auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse zeichnen. Aber schon im folgend aufgeführten Artikel warnt ein Oberarzt vor gefährlichem Omikron-Trugschluss: »Der Booster ist unverzichtbar«.22 Das dazugehörige Video wird mit einem personalisierten Foto sowie einer prototypischen Covid-19-Virus-Abbildung illustriert. Auch die Tageszeitung Nordkurier für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern nutz diese prototypischen Fotos in Verbindung mit ihren redaktionellen Beiträgen. Die Ausgabe vom 20. Dezember 2021 überschreibt ihren Beitrag mit der Überschrift »Impfpflicht: Körperverletzung oder eine notwendige Maßnahme?«23 Dazu wird das prototypisch konventionalisierte Foto einer Spritze gesetzt, die sich in einen Oberarm bohrt, ein Mensch, der die Spritze verabreicht mit Handschuhen und in Schutzbekleidung. In der Ausgabe vom 11. Januar 2022 ist eine sehr große Überschrift mit dem verharmlosenden Ausdruck »Piks« zu lesen: »Mit dem Piks gegen Omikron: Wie gut schützt die (Booster-)Impfung?«24 Ergänzt wird der Text durch ein Foto mit dem bereits beschriebenen Sujet. Beide Fotos erscheinen in der Größe von 12 mal 13 Zentimetern. Der Text wird um das Foto herum angeordnet. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, welche Benennungen die Injektion mit einem bisher unbekannten und neuen Medikament in den benannten Ausgaben erfährt: Körperverletzung – Maßnahme – Piks. Während das Lexem Körperverletzung negativ konnotiert ist, 20 Focus: Kommt jetzt noch die Super-Mutation? Das sagen die Corona-Experten. (letzter Zugriff: 22. 01. 2022). 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Nordkurier: Leserbriefe. Impfpflicht: Körperverletzung oder eine notwendige Maßnahme? Vom 20. 12. 2021, S. 4. 24 Kaukemüller, Josefine: Mit dem Piks gegen Omikron: Wie gut schützt die (Booster-)Impfung? In: Nordkurier vom 11. 01. 2022, S. 18.

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

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wirkt das Lexem Maßnahme im Sinne einer Obligation und Verpflichtung. Das Lexem Piks, das im deutschen Sprachgebrauch langläufig gebraucht wird, wirkt verharmlosend und steht im Kontrast zum Foto, denn Schutzkleidung und Handschuhe sprechen für Gefährlichkeit. In der Ausgabe des Nordkurier vom 18. Januar 2022 wird der Beitrag »Ein impfender Minister auf Werbetour« mit einem Foto verbunden, das die folgende Bildunterschrift trägt: »Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach griff gestern im Impfzentrum in Schwerin selbst zur Spritze und setzte fachgerecht einen Piks in den Oberarm«.25 DUDENonline notiert zur Bedeutung des Substantivs »Piks« = »(kleiner, wenig schmerzhafter) Einstich in oder durch die Haut«. In der lexikalischen Bedeutung erscheint also lediglich das Stechen salient. Die Vermutung, dass das »Coronawörterbuch« des Instituts für Deutsche Sprache das Lexem auflistet, da sich möglicherweise in der Corona-Pandemie eine Abwandlungsvariante herausgebildet hat, wird enttäuscht. Eine Recherche in COSMAS II ergab, dass das Lexem Piks im Zusammenhang mit Blutspenden oder Diabetes bereits in den Jahrzehnten vor den 1990er Jahren Verwendung fand. Im Zusammenhang mit Impfungen taucht es in der Mitte der 1990er Jahre auf. Der erste Beleg im Zusammenhang mit einer Impfung findet sich in der Süddeutschen Zeitung: »Bei Säuglingen sollte der Arzt die Impfnadel besser am Bein als am Arm ansetzen. Denn wird ein Impfstoff in den Oberschenkel gespritzt, hat er dort weniger lokale Nebenwirkungen. Dies ist das Ergebnis einer Studie an der Universität Mainz unter Leitung von Heinz-Josef Schmitt. 110 Säuglinge wurden dort dreimal im Abstand von jeweils vier Wochen gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten sowie gegen Erkrankungen durch den Erreger Haemophilus influenzae geimpft. 71 Prozent der kleinen Patienten hatten nach dem dritten Piks in den Arm eine leicht gerötete Haut an der Einstichstelle; bei Kindern, die die Injektionen in den Oberschenkel bekamen, waren es nur 30 Prozent. Minimale Schwellungen am Arm gab es viermal häufiger als am Bein. Bei allen Kindern hatte die Impfung die gewünschte Wirkung.« (Süddeutsche Zeitung, 16. 11. 1995, S. 29, Ressort: UMWELT; Impfung bei Säuglingen besser ins Bein)26

Hier findet sich der Beleg der Frankfurter Rundschau vom 17. 03. 1997, S. 17, Ressort: FRANKFURTER STADT-RUNDSCHAU mit dem Beitrag »Spritze auf dem Spielplatz / Noch drei Monate Ungewißheit / Gesundheitsamt. Ein Piks macht Eltern Angst: Wurde ihr Sohn mit HIV-Virus infiziert?« Die Verwendung von Piks geht also auf den Kontext zurück, dass »kleine Patienten« geimpft werden und hier die Impfung gegenüber diesen verharmlost wird, um Angst zu vermeiden. Im zweiten Beleg ist der Piks dann jedoch mit Gefahr verbunden. 25 Becker, Andreas: Ein impfender Minister auf Werbetour. In: Nordkurier vom 18. 01. 2022, S. 3. 26 IDS Mannheim: COSMASII (letzter Zugriff: 15. 01. 2022).

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Inzwischen werden Kleinkinder mit einer Vier- oder Sechsfachimpfung gegen etliche Kinderkrankheiten und Infektionsmöglichkeiten versehen. Auch in diesem Zusammenhang sind in den Texten der Korpora zur Schriftsprache in COSMAS II Verwendungen des Lexems »Piks« üblich. Das Jahr 2020 zeigt in der Cosmas-Recherche, die sich auf Massenmedien bezieht, die meisten Belege – 144 Treffer in 128 Texten. Allerdings sagt Piks, das nun metonymisch generell für Impfung steht, in seiner Bedeutung nichts über den Inhalt des Impfstoffes aus und blendet zudem aus, dass man an einem Piks nicht stirbt, eine Impfung gelegentlich doch zum Tode führen kann. So wird in der Sprache der CoronaPandemie Piks auch weiterhin verharmlosend mit Bezug auf Kinder und Erwachsene verwendet. Dies steht in Verbindung damit, dass eine offene und kritische Diskussion über die neue Impfstofftechnologie mit mRNA-Impfstoffen bzw. Vektor-Impfstoffen und über Impfnebenwirkungen kaum oder gar nicht stattfindet. Die Verharmlosung wird nunmehr also zur Besänftigung, zum Angstabbau genutzt. Im Nordkurier vom 22. Dezember 2021 wird der Beitrag »Deutlich mehr Corona-Patienten auf den Intensivstationen als geplant« durch den Blick in eine Intensivstation (medizinisches Personal in Schutzkleidung, gebeugt über eine nicht sichtbare Person umgeben von Apparaten) illustriert. Die Unterschrift zum Bild lautet: »Eigentlich sind viel weniger Intensivbetten für Corona-Patienten vorgesehen, als gegenwärtig in den hiesigen Krankenhäusern belegt sind.«27 Das präsupponierte Weltwissen, dass nämlich während der Pandemie etwa 4.800 Krankenhausbetten in Deutschland abgebaut wurden, führt zu der Implikatur, dass es durchaus mehr Betten hätte geben können. Es entsteht jedoch der Eindruck einer Überbelegung und Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen durch die Pandemie, was einem gängigen Narrativ folgt.

3.

Selektivität und Strategien in der Rhetorik der Angst

3.1

Zur Eigenlogik der journalistischen Massenmedien

Im folgenden Abschnitt dieses Beitrags geht es um Aspekte der Selektivität einer Rhetorik der Angst, wie Luhmann sie beschreibt und wie sie in Hinblick auf massenmediale journalistische Kommunikation erläutert werden soll. So formuliert er: »Selektiv ist die Rhetorik der Angst auch insofern, als sie die Entwicklung zum Schlimmeren betont und die vielen bemerkenswerten Fortschritte

27 Peters, Robin: Deutlich mehr Corona-Patienten auf den Intensivstationen als geplant. In: Nordkurier vom 22. 12. 2021, S. 12.

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

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[…] verschweigt«.28 Dass Selektivität nicht nur für angstbezogene Kommunikation, sondern generell in der Kommunikation der Massenmedien ein zentraler Aspekt ist, soll nachfolgend gezeigt werden. Für die Massenmedien der Gesellschaft als ein funktionales System sind vor diesem Hintergrund zunächst das symbolisch generalisierte Medium und die darauf bezogene binäre Codierung zu bestimmen. Zu diesem Zweck werden Luhmanns Erkenntnisse zur Wirklichkeitskonstruktion in den Massenmedien herangezogen. Der folgende erste Satz aus Luhmanns Werk »Die Realität der Massenmedien« wird oft zitiert: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«.29 In diskurslinguistischen Arbeiten wird dieser Satz durchaus ernst genommen. Allerdings heißt es ein paar Sätze weiter bei Luhmann: »Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt.«30.

Dieses Paradox erklärt Luhmann in seinen Überlegungen eben nicht mit dem Konzept der Manipulation, sondern mit einem Effekt der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft und beschreibt das »Eigenverhalten« des Systems. In der Suche nach einem »geneigten Publikum« konstruieren die Massenmedien eine Realität in dem Sinne, »was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint« [Hervorhebung im Original].31 Dabei ist von Vorteil, dass in massenmedialer Kommunikation die Interaktion unter Anwesenden durch die »Zwischenschaltung von Technik« ausgeschlossen ist. Eine spontane Reaktion auf Äußerungen, wie es in der Face-to-Face-Situation erfolgen kann, ist nicht möglich.32 Dies, so Luhmann, sichert »hohe Freiheitsgrade der Kommunikation. Dadurch entsteht ein Überschuß an Kommunikationsmöglichkeiten, der nur noch systemintern durch Selbstorganisation und durch eigene Realitätskonstruktionen kontrolliert werden kann. Andererseits sind zwei Selektoren am Werk: die Sendebereitschaft und das Einschaltinteresse, die zentral nicht koordiniert werden können. Die Organisationen, die die Kommunikation der Mas-

28 Luhmann, Ökologische Kommunikation 2008, S. 160. 29 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 4. Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 9. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 12. 32 Ebd., S. 10. Die in der journalistischen Kommunikation gegenwärtig übliche Form, Artikel bewusst für die Kommentierung durch und zur Anregung der Diskussion der Leserschaft zur Verfügung zu stellen, um ein Meinungsspektrum zu erfassen, ist eine Form, die mit Interaktionssituationen der Face-to-Face-Kommunikation nichts gemein hat.

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senmedien produzieren, sind auf Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz angewiesen.«33

Von seinem Ansatz her, massenmediale Beobachter zu beobachten, »wie sie Realität konstruieren« beschreibt Luhmann die Selbst- und Fremdreferenz der Massenmedien.34 Die Fremdreferenz zeige sich in der Wahl von Themen, die die Gesamtgesellschaft betreffen und Grundlage für die Kommunikation sind. Anders formuliert: In Ermangelung eigener selbstbezüglicher Inhalte wählen die Massenmedien Gegenstände der Beobachtung in der Gesellschaft aus und thematisieren diese in ihren Ressorts wie Politik, Wirtschaft oder Sport. Das Verhältnis von Fremd- und Selbstreferenz erfordert einen beständigen Abgleich, wie Luhmann notiert: »Auf thematischer Ebene kommt es deshalb zu einer laufenden Abstimmung von Fremdreferenz und Selbstreferenz innerhalb der systemeigenen Kommunikation.«35 Die aktuelle Situation in der Corona-Pandemie zeigt, wie die Themenwahl erfolgt. Ein Ereignis in seinem Verlauf über zwei Jahre bestimmt die Themenwahl der Medien in hohem Maße und ist zudem dazu angetan, ein immerwährendes Gefahrenpotential zu zeichnen und aufrechtzuhalten, indem diese insbesondere als darstellungswürdige Themen gesehen werden. Da man nicht alles umfassend beobachten kann, was in der Gesellschaft passiert, ist das Weglassen von Informationen gängige Praxis. Auch für einen Bericht zu einer Bundespressekonferenz muss selektiert werden, was an Informationen aufgenommen werden kann, und dies sind solche, die im Narrativ der Gefahren für die Gesundheit und die Überlastung des Gesundheitssystems zu verharren vermögen. So zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Pressekonferenz von Drosten, Wieler und Lauterbach vom 14. Januar 2022: »Durch die Anti-Corona-Maßnahmen sind die Kontakte in Deutschland auf etwa 50 Prozent des ›vorpandemischen Zeitalters‹ reduziert. ›Trotzdem gibt es keinen Grund zur Entwarnung‹, sagte Lauterbach.« Mit Bezug auf Wieler wird festgehalten: »Durch die Masse an Infektionen müsse man sich darauf einstellen, dass die Zahlen der Krankenhauseinweisungen und der Todesfälle wieder stiegen. Bisher hätten die Todesfälle noch nicht wieder zugenommen: ›Das wird sich aber ändern.‹«36 Alles in allem sind es die negativen Aussagen, die direkt zitiert werden und mögliche in eine positive Richtung gehende Ansätze konterkarieren. Das symbolisch generalisierte Erfolgsmedium der Massenmedien für Kommunikation ist für Luhmann klar »Information«. Diese Einordnung findet in der 33 34 35 36

Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Ebd., S. 21–22 [Hervorhebung im Original]. Schmoll, Heike: Drosten: Irgendwann muss man das Virus »laufen lassen«. (letzter Zugriff: 18. 01. 2022).

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wissenschaftlichen Rezeption von Luhmanns Werk zur Realität der Massenmedien hinreichend Kritik, wenn dagegengehalten wird, dass in jedem funktionalen System in der Gesellschaft Informationen verarbeitet und kommuniziert werden müssen. Dies erfolgt jedoch auf der Grundlage jeweils anderer generalisierter Medien wie Macht in der Politik oder Glaube in der Religion.37 Verbindet man jedoch, wie Luhmann es auch beschreibt, Information mit dem Aspekt der Selektion und nur mit Selektion macht es Sinn.38 Auf das symbolisch generalisierte Medium Information bezieht Luhmann die binäre Codierung: »Der Code des Systems der Massenmedien ist die Unterscheidung von Information und Nichtinformation.«39 Es muss etwas als nichtinformativ reflektieren, weil es sonst »keine eigene Reduktion von Komplexität, keine eigene Selektion organisieren könnte«.40 Dies bedeutet weiterhin, dass das System mit Zeitbezug operiert und in der Zeit entscheiden muss, was als informativ oder nichtinformativ gilt. Auf diese Weise werden Nachrichten als aktuell wahrgenommen. Im Folgenden geht es darum, Strategien für Informationsselektionen mit Bezug auf angstbezogene Kommunikation zu ermitteln und zu reflektieren. Der aktuelle massenmediale journalistische Gebrauch von Sprache in den vergangenen zwei Jahren gibt Aufschluss über Möglichkeiten des Wahrnehmens und Unterscheidens in den gewählten sprachlichen Formen sowie über die Veränderung von Bedeutungen.41 Das Lexem Querdenker ist ein Beispiel für die Strategie der Abwandlung von Bedeutung. Es werden weiterhin Strategien in den Blick genommen, die in besonderem Maße dazu geeignet erscheinen, ein Gefühl der Furcht, der gesteigerten Angst zu evozieren. Dazu gehören neben Umdeutungen oder Bedeutungsverschlechterungen der Ausdruck von Wahrscheinlichkeiten, Zahlen und Vagheit, Kontraste oder hyperbolisch gebrauchte bildliche Ausdrücke. Ein erster Abschnitt dazu wird dem Lexem Querdenker gewidmet.

37 Vgl. Eckoldt, Macht der Medien 2007. 38 Unter Kommunikation versteht Luhmann (vgl. Soziale Systeme 1988: 196–201) die dreifache Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen, die bestimmte Anschlusskommunikationen nach sich zieht. Da die Selektion grundsätzlich für den Kommunikationsbegriff verwendet wird, mag es irritieren, dass Luhmann für die Massenmedien auf Selektion zurückgreift. Eine Themenwahl mit Bezug auf eine bestimmte Leserschaft kann jedoch nur auf Selektion unter Rücksicht auf die Nachrichtenwerte beruhen. 39 Luhmann, Realität der Massenmedien 2009, S. 28. 40 Ebd. 41 Interessante Aufschlüsse zur Entstehung neuer Lexik gibt das Pandemiewörterbuch der Abteilung Lexikographie des Instituts für Deutsche Sprache.

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Querdenker

Zunächst sei die aktuelle Bedeutung des Lexems Querdenker festgehalten, die das Lexikon der Neologismen in der Coronapandemie des Instituts für Deutsche Sprache notiert: »Person, die die allgemein gültigen Verhaltensregeln zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sowie weitere staatliche Regelungen im Zusammenhang mit der Pandemie (politisch und weltanschaulich unterschiedlich motiviert) ablehnt«.42 Als Belegstelle wird eine Aussage des Ministerpräsidenten Hessens Volker Bouffier vom November 2020 aufgeführt, der warnte, die Proteste pauschal zu verurteilen. Kritisch beurteilt er jedoch Menschen, die mit Gewalt operieren und deshalb präventiv vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollten. Nun hat das Lexem Querdenker eine längere Geschichte und hat das Lexem Wutbürger abgelöst. Das Etikett »Wutbürger« wurde 2010 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt und ist im DEREKO (Referenzkorpus für deutsche Sprache) erst seit 2007 präsent. Die Verwendung vor allem in der Presse im Rahmen der Berichterstattung zu den Protesten gegen das Projekt »Stuttgart 21« erreichte 2011 mit 1.223 Treffern in 889 Texten ihren Höhepunkt.43 Ab dem Frühjahr 2020 setzte sich zur Abwertung von Protestbewegungen das Etikett »Querdenker« durch. Im DEREKO ist das Lexem Querdenker seit 1972 belegt und hier noch mit einer positiven Konnotation versehen, wie die Belege offenbaren: »ein menschenfreundlicher Querdenker, ein rastloser In-Frage-Steller, ein bunter Störenfried – eine hilfreiche Erscheinung« (Die Zeit vom 27. Juli 1972, S. 42). In einem Beitrag der Nürnberger Zeitung vom 26. Februar 1990 wird Ralph Giordano, seinerzeit gerade mit dem Preis der HeinzGalinski-Stiftung geehrt, als »Querdenker und unbequemer Geist« gewürdigt. Im August 2020 zeigt sich in Spiegel Online (25. August 2020, Für die Traurigen und die Müden) ein anderes Bild, das mit Würdigung nichts mehr zu tun hat: »Am 42 Neologismenwörterbuch zur Sprache in der Coronapandemie. Stichwort Querdenker (letzter Zugriff: 15. 01. 2022). Vor dem Hintergrund dieser Definition verwundern stereotyp vorkommende Sätze in der Berichterstattung über Protestdemonstrationen z. B. gegen eine Impfpflicht nicht. »Die meisten Demonstranten trugen keine Schutzmaske, auch Abstände wurden nicht eingehalten.« Oder »Die Polizei forderte Teilnehmer auf, eine Maske zu tragen.« Jegliche Demonstration, so die nun schon konventionelle Implikatur, kann als Querdenker-Demo bezeichnet werden, wenn Demonstrierende keine Masken tragen, und die Beziehung zur rechten Szene ist ausgemacht. Im Nordkurier vom 18. 01. 2022 heißt es im Beitrag »Mehr Demos als vor der Pandemie« von Robin Peters mit Bezug auf Mecklenburg-Vorpommern: »Eine Unterwanderung der Aktionen von Rechts- oder Linksextremen konnte der Staatsschutz zuletzt nicht ausmachen. Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund oder politischer Einstellung hätten sich nach ihrer Einschätzung an den Demonstrationen beteiligt.« (S. 12) 43 Die Daten und die in der Fußnote notierten Belegstellen sind verfügbar unter (letzter Zugriff: 24. 10. 2021).

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Wochenende werden in Berlin wieder Nazis gegen Schutzmaßnahmen demonstrieren und Verschwörungstheorien verbreiten. (Natürlich nicht nur Nazis, sondern auch Leute, die kein Problem damit haben, neben Nazis zu demonstrieren.)« Der unbequeme Geist spielt in der Bedeutung des Lexems keine Rolle mehr und ebenso nicht ein positiv bedachter Störenfried, es hat im Sinne des Bedeutungswandels eine Bedeutungsverschlechterung durchgemacht. Diese wird dadurch verstärkt, dass es durchaus üblich ist, eine Nähe der Demonstranten zur AfD zu konstatieren. Der Kommentar des Autors in Klammern bringt das salient gesetzte Sem in einem nächsten Schritt der Bedeutungskonstituierung auf den Punkt: ›wer neben Nazis demonstriert = Nazi‹ und damit wird eine Protestbewegung einseitig stigmatisiert. Diese einseitige Bewertung impliziert, dass keine weiteren Erklärungen erforderlich sind: Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Politik sind negativ zu bewerten, weil sie von Querdenkern ausgerichtet werden, die sich mit Nazis gemein machen und Verschwörungsideologien anhängen. Statistische Erhebungen zur Zusammensetzung der Demonstrierenden existieren nicht. Dennoch wird die Deutungshoheit beansprucht. Eine solche durch die Massenmedien konventionalisierte Sichtweise verstellt zum einen den Blick auf Demonstrationsteilnehmer aus der Ärzteschaft, der Pflege, die besonders von einer bereits geltenden Impfpflicht betroffen sind, oder der Elternschaft, die sich um ihre Kinder sorgt. Zum anderen werden Inhalte des Protests wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit mit Benennungen wie Impfgegner oder Impfskeptiker abgewehrt, denn eine Nichtinanspruchnahme einer Injektion von Corona-Impfstoffen muss nicht bedeuten, dass grundsätzlich Impfungen abgelehnt werden. Das Impfen wird durchgängig in den Medien als Ausweg aus der Pandemie propagiert. Befürchtungen, durch eine Impfpflicht den Arbeitsplatz zu verlieren oder als ungeimpfte Person aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt zu werden, scheinen berechtigt, werden jedoch in geringem Maße thematisiert. Vielmehr wird nach obskuren Begründungen für eine Impfskepsis gesucht, wie beispielsweise in dem Artikel »Ursprünge der Impfskepsis. Eine deutsche Besonderheit« von Christian Jakob, der am 20. 12. 2021 auf taz-online erschien. Im Vorspann heißt es: »In den deutschsprachigen Ländern herrscht Misstrauen gegenüber der Impfung. Das ist auf die Romantik zurückzuführen.« Stefan Matuschek hält mit seinem Beitrag dagegen mit einer Form der Beobachtung dritter Ordnung, indem er beobachtet, wie der Journalist Jakob die Welt beobachtet: »Impfgegner: Der Romantik-Popanz«: »Nun hat dieselbe Impfkampagne ein anderes Klischee wiederbelebt: die Romantik als deutsches Verhängnis, als kollektiver Erbschaden des irrationalen Antimodernismus. Diese nationalcharakterliche Eigenheit, heißt es jetzt in journalistischen Reflexionen, sei für die relativ geringe Impfquote in den deutschsprachigen Ländern verantwortlich. Aus der Romantik stamme die wissenschafts- und technikfeindliche Naturschwärme-

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rei, die mehr an die Selbstheilung eines ganzheitlichen Bewusstseins glaube als an Laborprodukte der spezialisierten Spitzenforschung und Pharmaindustrie. In der Popularität von Naturheilverfahren und Homöopathie lebe der Irrationalismus der deutschen Romantik fort, der nun eine effiziente Corona-Politik untergrabe.«44

Letztlich entbehrt eine derartige Herleitung der Ablehnung von Injektionen, deren Wirksamkeit in der Politik kritisch reflektiert werden müsste, jeglicher Plausibilität. Sie scheint aber Aufmerksamkeit zu erregen und die selbstbeobachtende Reflexion durch Akteure des Systems selbst anzuregen.

3.3

Vagheiten, Zahlen, Vermutungen, Drohungen

Besonders auffällig erscheinen in der Kommunikation der CORONA-Pandemie Unklarheiten, aktuell je nach Lage der Dinge wechselnde Verordnungen über 2G, 2G+, 3G (geimpft und genesen; geimpft, genesen und getestet; geimpft, genesen und ungeimpft getestet), die über den Zugang zum gesellschaftlichen Leben und zu Institutionen entscheiden. Was einmal gilt, kann überholt sein, so wie die Entscheidung des Robert-Koch-Instituts in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium vom 14. 01. 2022, den Genesenenstatus nach einer durchlebten Infektion nach drei Monaten aufzuheben, vorher galten sechs Monate. Der Nordkurier berichtet erst am 18. Januar 2022 darüber unter dem Titel »Achtung Genesene: Status gilt nur noch drei Monate«. Im Vorspann heißt es: »Omikron verbreitet sich in Windeseile – und Politik und Behörden versuchen, die Regeln an die Corona-Variante anzupassen. Nun wurden die Vorgaben für Genesene geändert.« Diese Veränderung wird zwar mit wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet, jedoch nicht erklärt, was der Autor des Artikels auch in indirekter Rede wiedergibt: »Hintergrund sei, dass wegen Omikron ein sehr viel größeres Risiko bestehe, dann bereits erneut zu erkranken oder Überträger zu sein«.45 In einer Zwischenüberschrift des Artikels heißt es »Neue ›Spielregeln‹ für die Impfpflicht durch Omikron?« und es schließt an: »Das RKI erläutert zugleich: ›Diese Vorgaben werden regelmäßig überprüft und können sich gemäß Stand der Wissenschaft ändern.‹« Und in der Tat – zwei Tage später gilt eine vollständige Impfung nur mit Booster, Erst- und Zweitimpfungen gelten als Grundimmunisierung. Derartige Veränderungen können nun zu Irritation, Verstörung und Beunruhigung führen. Beunruhigend ist allerdings auch, dass der Redakteur des Artikels den Begriff Spielregeln nutzt. Spielregeln gelten in der Regel für eine 44 Matuschek, Stefan: Der Romantik-Popanz. (letzter Zugriff: 22. 01. 2022). 45 Meyer, S.: Achtung Genesene: Status gilt nur noch drei Monate. In: Nordkurier vom 18. 01. 2022, S. 17.

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gewisse Zeit und deren Änderung muss den Spielpartnern angezeigt werden, ansonsten wird ja unter falschen Voraussetzungen gespielt respective gehandelt. In dieser Hinsicht findet sich nicht die leiseste Anmerkung des Redakteurs, dessen Aufgabe eigentlich darin besteht zu informieren, was er mit dem Achtungszeichen getan hat. Dennoch erscheint der Begriff Spielregeln im Zusammenhang mit einer Berichterstattung in der Pandemie unangemessen, es geht nicht um ein Spiel, sondern um eine ernste Angelegenheit, die Millionen Menschen betrifft. Weiterhin wird in dem Artikel Christian Drosten zitiert, der auf einen breit in der Bevölkerung verankerten Impfschutz verweist. Dem Autor ist es wichtig zu ergänzen und Drosten in einem indirekten Zitat wiederzugeben »– sonst würden zu viele Menschen sterben« und der Artikel schließt im Zusammenhang mit Coronazahlen des Tages mit dem Satz ab: »Binnen 24 Stunden wurden 30 Todesfälle verzeichnet.«46 Das Ziel derartiger Kommunikation ist letztlich die Impfung und die Bereitschaft dazu zu erhöhen auch nach einer Genesung von einer SARS-CoV-2-VirusInfektion und Erkrankung sowie eine Impfpflicht zu legitimieren.47 Der letzte Satz des Artikels führt zu einem weiteren Genauigkeits- bzw. Vagheitsproblem, das mit der Aufführung von Zahlen in Verbindung steht. Der Neologismus Coronasterblichkeit beschreibt Neologismenlexikon zur Coronapandemie des IDS den »Anteil der Todesfälle unter allen Personen, die mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert sind«.48 Was bedeutet diese Definition? Bedeutet Infektion gleich Erkrankung oder Schwererkrankung oder ist gemeint, dass Menschen an anderen Grunderkrankungen sterben und zufällig bei ihnen eine Infektion mit dem Virus festgestellt wurde? In der massenmedialen Kommunikation während der Pandemie hatte sich in der täglichen Dokumentation der Todesfälle diesbezüglich die Formel »an oder im Zusammenhang mit« dem Virus etabliert. Zu beobachten ist aktuell im Januar 2022, dass diese Formel seltener, variiert unter Weglassung von »an« oder nicht mehr gebraucht wird,49 sondern es wird formuliert »Die Zahl der Todesfälle stieg um x auf y«. Dabei wird die umstrittene Formel nicht mehr gewählt und nun auch nicht mehr hinterfragt, denn sie ließ gleichfalls im Unklaren, was an oder mit dem Virus bedeutet und wie eine differenzierte Zahlenbilanz aussieht. Bereits im September 2021 hieß es in einem Beitrag von Nils Metzger auf ZDFheute: »RKI-Statistik. Zu viele Menschen als Corona-Tote gezählt? ›Corona bei 80 Prozent der offiziellen Covid-Toten wohl nicht Todesursache‹, titelt die ›Welt‹. Die Beweislage ist

46 Ebd. 47 Am 23.01. vermelden die Nachrichten einen Vorschlag, der drei Impfungen vorsieht und bei dem der Nichtnachweis dieser mit einer Geldstrafe geahndet wird. 48 Neologismenwörterbuch zur Sprache in der Coronapandemie. 49 S. Matuschek, Romantik-Popanz.

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dünn. Trotzdem könnten die Corona-Statistiken verbessert werden. […] AfD-Politiker und Querdenker sahen sich daraufhin in ihrer Meinung von einer angeblich vom Robert-Koch-Institut (RKI) herbeigerechneten Pandemie bestätigt. Auch FDP-Politiker Wolfgang Kubicki schrieb auf Facebook von einem ›weiteren Schlag für die Glaubwürdigkeit‹ des RKI.«50

In dem vom 30. 08. 2021 stammenden Beitrag in Welt-online, auf den verwiesen wird, heißt es mit Bezug auf einen Mediziner: »Bei einem Großteil der vom RKI gemeldeten Corona-Toten sei offen, woran sie gestorben sind – die Sterbestatistik werde zunehmend verzerrt.« Es wird vom ZDF-Redakteur ein eher kritisches Blatt zitiert in der Selbstbeobachtung des Systems. Zugleich wird in beiden Medien abgeschwächt durch die Modalpartikel wohl. Gegen zunehmend verzerrt in der Welt setzt das ZDF die Merkmalszuweisung ist dünn. Das konzessive Adverb kündigt die Meinung an, dass Verbesserung gut wäre. Mit Bezug auf die AfD und Kubicki wird notiert, wem derartige kritische Beiträge, wie der in der Welt, nützen könnten.51 Die dänische Boulevardzeitung »Extra Bladet« titelte am 14. Januar 2022 in einer selbstbezüglichen Selbstbeobachtung »Wir haben versagt« und meinte damit, dass nicht hinterfragt wurde, »was es eigentlich bedeutet, dass Menschen mit Corona und nicht wegen Corona ins Krankenhaus kommen«. Es mache dies einen »Unterschied«, einen »großen Unterschied«. Festgestellt wurde nämlich, »dass die offiziellen Einweisungszahlen um 27 Prozent höher liegen als die tatsächliche Zahl der Menschen, die nur wegen Corona im Krankenhaus sind.«52 Mit einer ähnlichen Prozentzahl wird in den Folgetagen in BildTV operiert. Nun wird in den vorangegangenen Belegen der komplizierte – weil von Behörden übernommene – und undurchsichtige Umgang in den Medien mit Zahlen – weil in einer Beobachtung zweiter Ordnung – in der Pandemieberichterstattung einsichtig. Zahlen erwecken in den selektiven journalistischen Operationen einen faktischen und wissenschaftlichen Eindruck. Sie sind für die Leserschaft nicht mehr durchschaubar und auch die Vorstellung, die Leserschaft könne sich auf der Grundlage benannter Studien selbst ein Bild machen, erscheint als Zumutung, also muss das genommen werden, was erscheint.

50 Metzger, Nils: RKI-Statistik. Zu viele Menschen als Corona-Tote gezählt? (letzter Zugriff: 19. 01. 2022) [Hervorhebung Ch. G.]. 51 Vgl. ebd. 52 Dänische Zeitung entschuldigt sich bei Lesern für fehlende Kritik an Corona-Politik. In: DWN vom 14.01.22. (letzter Zugriff: 23. 09. 2022).

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Auf Zeit-Online vom 05. Januar 2022 wird Christian Drosten mit dem Satz zitiert: »Was richtig schützt gegen Omikron ist die Dreifach-Impfung«53, deshalb sei sie besonders wichtig. Und weiter heißt es mit Bezug auf das Corona-Update des Drosten-Podcast bei NDR-Info: »›Boostern mache den Unterschied‹«, sagt Christian Drosten. Erst dann gebe es ein signifikant niedrigeres Infektionsrisiko. Omikron werde auch hier ›das Geschäft übernehmen‹.« Und weiter heißt es: »Eine Studie aus Dänemark aus dem Dezember zeige, wie wichtig Booster-Impfungen seien. Erst die dritte Impfdosis senke demnach das Risiko, sich mit Omikron anzustecken, signifikant, sagte Drosten. ›Die doppelte Impfung wird für die Verbreitungskontrolle wahrscheinlich weniger beitragen bei Omikron. Da sind wir ziemlich ungeschützt‹, sagte der Leitende Virologe der Berliner Charité. ›Die Dreifach-Impfung macht den Unterschied.‹ Drosten verwies hier auf eine Studie des Imperial College London mit Stand kurz vor Weihnachten. Derzufolge ist das Hospitalisierungs-Risiko bei einer Infektion mit der Omikron-Virusvariante um bis zu 30 Prozent geringer als bei der Delta-Virusvariante. Bei Menschen mit zwei Impfungen sinke das Risiko um 34 Prozent, bei denen, die eine Auffrischung erhalten haben um 63 Prozent. ›Der Gewinn nicht geimpft zu zweifach geimpft ist nur zehn Prozent mehr, aber der Gewinn von zweifach geimpft zu dreifach geimpft ist dann fast eine Verdopplung.‹ Infizieren sich Ungeimpfte mit der Omikron-Virusvariante, sinkt der Studie aus London zufolge das Risiko einer Hospitalisierung um 24 Prozent. Drosten zufolge sei dies, angesichts der ›vielen Ungeimpften, die wir leider in Deutschland haben‹, zwar eine gute Nachricht. Jedoch sei zwangsläufig mit ganz unterschiedlich schweren Verläufen zu rechnen und keine Entwarnung angebracht. Drosten warnte eindringlich davor, zu dem Schluss zu kommen, es sei besser, eine Infektion durchzumachen als sich impfen lassen.«54

Die aus einer Studie entnommenen Zahlen erweisen sich als durchaus stimmig für das Verständnis des Textes. Aber was bedeuten die Zahlen letztlich für ein Individuum, das eine Impfentscheidung treffen soll. Schon wenige Wochen später wird über unterschiedliche Nachrichtenkanäle und Informationen des RKI klar, dass auch mit einer dritten Injektion versehene Personen nicht von einem Impfdurchbruch verschont bleiben, vielleicht von schweren Erkrankungen.55 Die Zahlen und Vergleiche könnten für eine Leserschaft beruhigend wir53 Drosten, Christian: »Was richtig schützt gegen Omikron, ist die Dreifachimpfung. (letzter Zugriff: 21. 01. 2022). 54 Ebd. 55 Das Lexikon der Neologismen zur Sprache in der Corona-Pandemie definiert das Lexem Impfdurchbruch wie folgt: »a) durch die Verabreichung eines (mangelhaften) Vakzins ausgelöste Erkrankung b) Infektion einer Person mit einem bestimmten Erreger trotz vorheriger Vakzination« und gibt dazu den aktuellen Beleg: »Eine vollständige Corona-Impfung bedeutet nicht, dass die geimpfte Person sich nicht mehr mit dem Virus infizieren kann. Auch Geimpfte können erkranken – dann spricht man von sogenannten Impfdurchbrüchen. (www.merkur.de; 10. 09. 2021)«. Passend zum Vagheitszustand in den Bedeutungsbeschrei-

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ken. Sie werden indes in dem Text als eine Größe notiert, die mit einem folgenden adversativen jedoch in Relation gesetzt werden, das zu einer Warnung führt, die Drosten ausgesprochen habe. Ein weiteres Beispiel sei notiert, das in der Talkshow Markus Lanz am 19. 01. 2022 eine Rolle spielte und nicht nur bei Lanz für Verwirrung sorgte, sondern auch bei der WELT. Die WELT berichtet auf ihrer Online-Ausgabe am 20. 01. 2022 über die Talkshow unter dem Titel »Markus Lanz sichtlich irritiert – Lauterbachs verwirrende Aussagen zum Schnelltest«.56 Es ging in der Talkshow um die Frage, ob positive Schnelltests genauso wie positive PCR-Tests in die Statistik als Covid-19-Fall eingehen. Der Gesundheitsminister antwortet: »›Wenn ein Schnelltest an das Gesundheitsamt gemeldet wird, ist er gültig und zählt‹« und bestätigt damit die sächsische Sozialministerin Köpping. Die WELT dazu in dem Beitrag: »Auf Anfrage von WELT stellte eine Pressesprecherin des RKI fest, dass positive Schnelltests weiterhin keine Rolle spielen. Demnach fließen nur positive PCR-Tests in die Statistik ein.«57 Wie ist diese Diskrepanz nun aufzulösen, fragt sich die Leserin und Autorin dieses Beitrags. Festgelegt hatte der Gesundheitsminister bereits, dass eine Zweifachimpfung nur noch als Grundimmunisierung gilt, mit der Booster-Impfung sei man »gegen alle Corona-Varianten – zumindest vor schwerer Krankheit und Tod – geschützt« und diese sei unabdingbar, woran sich die Impfpflicht orientieren müsse. An der Impfung führe kein Weg vorbei. Und der Minister droht: »Das Varianten-Alphabet wird nicht mit Omikron enden.«58 Weiterhin spricht er von einem möglichen mutierten Delta-Typ, von der Wahrscheinlichkeit, dass Ungeimpfte, die an Omikron erkranken, gegen Delta nur einen 50prozentigen Schutz hätten. In diesem Sinne wird zur Corona-Entwicklung Christian Drosten am 23. Januar 2022 in einem Interview im Deutschlandfunk befragt und auch hier nehmen die Wahrscheinlichkeiten kein Ende: »Es ist keinesfalls sicher, dass Omikron im abgemilderten Zustand bleiben wird«, es gäbe verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung zu einer stärkeren Variante; man müsse derzeit befürchten, dass es bungen ist auch die Definition von Coronavakzine: »Impfstoff, der die Produktion von Antikörpern gegen das SARS-CoV-2-Virus anstößt«. Wenn Vakzine die Antikörperproduktion anstoßen, warum sind dann Tests zur Ermittlung der Höhe der Antikörper im Blut eines Menschen nicht aussagekräftig, fragen sich Patienten, die in dieser Hinsicht belehrt worden sind. Die Definition widerspricht den Gegebenheiten in den Aussagen von Hausärzten und Medizinern. 56 Lübberding, Frank/Vorbrüggen, Carlotta: Markus Lanz sichtlich irritiert – Lauterbachs verwirrende Aussagen zu Schnelltests. (letzter Zugriff: 22. 01. 2022). 57 Ebd. 58 Lauterbach zur Impfpflicht – »Eine vollständige Impfung besteht aus drei Dosen« In: Welt vom 16.01.22. (letzter Zugriff: 22. 01. 2022).

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eine Rekombination von Delta und Omikron gäbe; dass Omikron den Immunschutz der Bevölkerung umgehe; leider die stärksten Eigenschaften von Omikron und Delta vereinen; es könnte sein, Ungeimpfte hätten keinen Immunschutz, Immunsystem könne durch Serotyp ausgetrickst werden; alles spreche für zusätzliche Impfungen usw.59 Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht spricht von »Panikmache«, der Virologe Klaus Stöhr formuliert, dass Lauterbach »irrlichtert«. Es ist zu konstatieren, dass gerade Wahrscheinlichkeiten von den Medien gern aufgenommen werden und sprachliche Mittel der Modalisierung und dabei insbesondere solche, die Modalität der Möglichkeit signalisieren wie Modalverben, Modalpartikel, vage Temporaladverbien oder adversative Adverbien. Dabei werden häufig Kontraste aufgebaut, die auf der einen Seite beruhigen, sodann jedoch negative Möglichkeiten zur Beunruhigung anschließen. Die folgenden Belege sind aus Online-Ausgaben von Focus, BR24 oder Tagesspiegel oder dem Nordkurier als Printausgabe entnommen: gehen momentan/derzeit (noch) zurück, dürfte sich jedoch bald ändern; ein Todesfall von über 60 Jahren – zwei Zeilen weiter dann – ein Patient oder eine Patientin im Alter zwischen 60 und 79 Jahren, bei dem oder der eine Ansteckung nachgewiesen oder vermutet wurde; sicher nachgewiesene und wahrscheinliche Omikron-Fälle; Daten nicht valide, schreibt das RKI einschränkend; milder Verlauf (aber mild ist nicht das, was man allgemeinsprachlich darunter versteht, wie später irgendwann erklärt wird, mild = mit Fieber im Bett liegen); Omikron gegenüber Delta etwas abgeschwächt. (»Etwas. Unterschied bei schweren Verläufen unklar.« Drosten); ein Wermutstropfen ist […] Ansteckungsrate, so dass Gesundheitssystem doch überlastet werden könnte; jetzt mögen […], »aber jetzt schreibt Omikron die Regeln« (Drosten); die Dunkelziffer dürfte höher liegen, da über die Feiertage nicht getestet wurde; dritte BoosterDosis erhöht die Schutzwirkung deutlich – auch wenn sie im Vergleich zu Delta geringer ausfällt; die nächsten Wochen könnten für Ungeimpfte sehr gefährlich werden; kein Anlass zur Entwarnung; zu frühe Lockerungen gefährden; vor schwerer Erkrankung schütze wohl schon. Die aufgeführten Belege erscheinen stereotyp und bilden das »Rauschen« derartiger Kommunikation in den Medien ab. Einen letzten möglichen Aspekt in Hinsicht auf die Selektion von Äußerungen aus dem politischen Bereich durch journalistische Darstellungen sollen Sprachbilder darstellen. Sie dienen dazu, das Virus zu personifizieren: Omikron legt die »Spielregeln« fest, »übernimmt das Geschäft« (Drosten), nur die Impfung 59 Corona-Entwicklung. Christian Drosten im Gespräch mit Christiane Knoll. (letzter Zugriff: 22. 01. 2022). Es sei angemerkt, dass die hier angedeuteten Verlautbarungen Drostens Tage vor dem Interview im Deutschlandfunk mit Bezug auf seinen aktuellen Podcast bei NDR-Info für Darstellungen für unterschiedliche Medien selektiert wurden.

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kann »Omikron seinen Schrecken nehmen« (Drosten), Omikron umgeht die Schutzwirkung der Impfstoffe. Das Virus wird als Feind dargestellt, der bekämpft werden muss. Das Infektionsgeschehen wird mit Wellen, Hügeln, Mauern, steiler Wand mit Bezug auf die grafischen statistischen Infektionskurven verbildlicht. Im Gegensatz zu den dargestellten Befunden steht ein in ZEIT-ONLINE am 19. Januar 2022 veröffentlichter Gastbeitrag von Hendrik Streeck, der Mitglied des neu gegründeten Corona-Expertenrats der Bundesregierung ist. Bezeichnend ist die Anmerkung der Redaktion am Schluss des Beitrags, der die in diesem Beitrag angesprochene Problematik der Selektivität nochmals unterstreicht: »Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels war eine Textstelle leider missverständlich verkürzt worden. Wir haben den Fehler korrigiert.«60 Was in Streecks Gastbeitrag beeindruckt, ist der Vorspann, der zudem nicht nur auf die Inhalte, sondern auf die folgende Sprache und den Sprachduktus verweist: »Das Virus wird endemisch. Um zu einem normalen Leben zurückzufinden, brauchen wir klare politische Entscheidungen – und innere Ruhe.« Und damit hat Streeck absolut Recht. Die angesprochene Ruhe spiegelt sich in dem in voller Sachlichkeit gestalteten Text wider, in einer Klarheit des Ausdrucks, dem Verzicht auf Parteilichkeit und Angst- sowie Panikmache und Empathie. Er wirkt überzeugend in der Argumentation des Virologen, von der zu hoffen ist, dass sie in der Expertenkommunikation ernst genommen wird und nicht von den journalistischen Medien in ihrer Selbstbezüglichkeit und in der Stützung mancher nicht mehr nachvollziehbarer Entscheidungen der Regierung zerpflückt wird. Es sei abschließend eine Passage zitiert, in der die kommunikative Misere, die sich in den deutschen Medien in der Kommunikation um die Coronapandemie zeigt, auf den Punkt gebracht wird: »Die Debatten wurden aggressiver. Manche Kritiker und Verteidiger der Maßnahmen überschlugen sich mit Schuldzuweisungen und Diffamierungen. Unsere Gesellschaft war nicht daran gewöhnt, über eine potenziell tödliche Gefahr rational zu diskutieren – und pragmatisch Lösungen zu erarbeiten. Zu viel Ideologie, zu wenig Expertise. Ein Missverhältnis zwischen Mut und Maß.«61

60 Streeck, Hendrik: Leben mit Corona. Und hier wäre ein Ausweg. Gastbeitrag. In: ZEIT-Online vom 19. 01. 2022, 16.45 Uhr. (letzter Zugriff: 22. 01. 2022) [Hervorhebung im Original – Ch. G.]. 61 Ebd.

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

4.

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Rhetorik der Angstkommunikation als kommunikative Praktik

Zusammenfassend kann nun vor dem systemtheoretischen Hintergrund festgehalten werden, dass Kommunikation etwas Unwahrscheinliches darstellt, das in Wahrscheinliches gewandelt werden muss. Panik und Angstszenarien werden zur Aufmerksamkeitsgenerierung sowie zur Meinungs- und »soziale(n) Erwartungsbildung«62 genutzt, damit Kommunikation, Kommunikationsbereitschaft, Lesbarkeit, Anschlusskommunikation sowie Anschlusshandlungen wahrscheinlicher und legitimiert werden. Dies erfolgt im Rahmen einer vorgeformten kommunikativen Praktik. Fiehler definiert kommunikative Praktiken als »präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen«.63 Die in diesem Beitrag bis Januar 2022 zusammengetragenen Befunde können auf der Makroebene eines gesellschaftlichen Teilsystems zu einer kommunikativen ( journalistischen) Praktik zusammengefasst und systematisiert werden. Sie hat sich im Rahmen der Covidpandemie zu einem konventionalisierten Verfahren herausgebildet. Damit ist die hier zu beschreibende Praktik aus bestimmten sozialen Handlungszusammenhängen journalistischen Schreibens entstanden, aus denen sie ihre Funktionalität gewinnt.64 Depermann/Feilke/ Linke sprechen in diesem Zusammenhang auch von »kontextgebundenen Gepflogenheiten«.65 Die mit moralischem Impetus aufgeladene Rhetorik der Angstkommunikation in hegemonialen journalistischen Medien (ihren Informations- und Meinungstextsorten) hat ein Muster ausgeprägt, das sich in einem Schema journalistischen Schreibens auf der Mikroebene sprachlicher Mittel zusammenfassen lässt: a) Die Themensetzung erfolgt auf lexikalischer Ebene als Zusammenbindung von Klimawandel und Pandemie. b) Das Narrativ von Gefahr ist dominant. Bedrohung sowie Angst zu erkranken oder gar zu sterben werden in der kommunikativen Aktualität gehalten.

62 Köstler, Sandra: »Sicher ist nur die Angst«: Angstkommunikation als Form sozialer Erwartungsbildung in Medienberichterstattung über Terrorismus. Bielefeld: Universität Bielefeld; 2011. 63 Fiehler, Reinhard: Eigenschaften gesprochener Sprachen. Tübingen: Narr 2004, S. 99. 64 Vgl. Deppermann, Arnulf/Feilke, Helmut/Linke, Angelika: Sprachliche und kommunikative Praktiken: Eine Annäherung aus linguistischer Sicht. In: Sprachliche und kommunikative Praktiken. Hrsg. von Arnulf Deppermann, Helmut Feilke und Angelika Linke. Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S. 7. 65 Ebd., S. 8.

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c) Die Aufladung der Angstkommunikation mit Moral ergreift die Gesamtgesellschaft und sichert das Recht des Besorgten, sich zu (politischen) Handlungen verpflichtet zu fühlen. d) Angstkommunikation attrahiert Aufmerksamkeit, indem sie Ungewissheiten oder ein Noch-nicht-Wissen proklamiert, das für die Leserschaft erwartbar in sicheres Wissen gewandelt werden muss. Ein Erwartungspegel wird gehalten. e) Auffällige sprachliche Mittel zur Konstruktion des Noch-nicht-Wissens sind Mittel der Modalität, Zahlen, lexikalische Vagheitsmarkierer, die Betonung der Entwicklung zu Schlimmerem oder die Aufrechterhaltung der Beunruhigung durch lexikalische Mittel. f) Das Muster mündet letztlich in eine sprachlich-kommunikative Praktik des Warnens vor Gefahr und Nichteinhaltung von Regeln und des Aufforderns, Maßnahmen wie insbesondere Impfempfehlungen zu folgen. Die Aufrechterhaltung der Beunruhigung zeigt sich über den vorangegangenen Untersuchungszeitraum hinaus in aktuellen Berichterstattungen hegemonialer Medien zu den Omikron-Varianten BA.4 und BA.5. So berichtet zdf.de am 31. Mai 2022 von der Sorge Frank Ulrich Montgomerys: »Die Variante werde sich auch in Deutschland ausbreiten«. Er warnt vor einem Ausbruch: »Corona ist noch nicht vorbei – das belegt der heftige Ausbruch von Omikron in Portugal«. Und weiter heißt es: »Viele Menschen – auch Geimpfte – würden erkranken. Geimpfte hätten aber deutlich mildere Symptome.« Es folgt fett gedruckt und in größerem Schriftbild die Impfempfehlung: »Impfen, jetzt erst recht! Und nicht Freiheit gegen Sicherheit ausspielen.«66 Das Auftauchen des Subtyps der Omikron-Variante BA.5 wird weiterhin in einem Panorama-Beitrag auf zdf.de vom 01. Juni 2022 mit der Frage verbunden »Droht eine neue Corona-Welle?« Hintergrund ist die Verbreitung der Variante in Portugal: »In Portugal verbreitet sich der Omikron-Subtyp BA.5 rasant. Gesundheitsminister Lauterbach warnt deshalb auch für Deutschland vor einem Corona-Herbst. Wie wahrscheinlich ist das?« Lauterbach wird weiterhin warnend zitiert: »›In Portugal zeigt sich leider, dass mit der BA.5-Omikron-Variante auch die Sterblichkeit wieder steigt. Im Herbst müssen wir darauf vorbereitet sein‹.« Weitere Experten (Drosten, Immunologe Watzl) bestätigen die Wahrscheinlichkeit. Watzl wird abschließend zur Impfung zitiert: »›Bei vielen Menschen dort (in Portugal – Ch.G.) liegt zudem der Booster inzwischen mehr als ein halbes Jahr zurück. Ich gehe daher auch von

66 Zdf.de: Weltärzte-Präsident: Montgomery warnt vor Omikron-Variante BA.5. (letzter Zugriff: 01. 06. 2022).

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

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einer Stiko-Empfehlung für eine vierte Impfung für Menschen 60 plus im Herbst aus.‹«67 Die Redaktion von BR24 nimmt in einem Beitrag vom 28. Mai 2022 die Aussagen aus einem Interview des Bayerischen Rundfunks mit dem RKI-Chef Wieler auf: »Wieler drängt zu neuem Infektionsschutzgesetz. Das Risiko für neue gefährliche Viren steige kontinuierlich.« Die Wiederholung des Satzes aus der Überschrift in dem Beitrag steigert noch einmal die Gefahrenaussage. Und auch im Herbst würden die Corona-Zahlen wieder steigen, so dass es schwierig sei, »Prognosen für (das) Oktoberfest« zu geben.68 Dass die Aufrechterhaltung des Themas über den Sommer erfolgen wird, muss nicht eigens erwähnt werden.

5.

Verfestigung und Reproduktion des Musters

Im Vorfeld der WHO-Versammlung in Genf vom 22. bis 28. Mai 2022 erscheinen Berichte zu Infektionen mit Affenpocken in Ländern Europas, in denen diese Krankheit bisher nicht aufgetaucht ist. Die G7-Minister um Karl Lauterbach simulieren gemeinsam mit der WHO und der Europäischen Union zu diesem Zeitpunkt ein Pockenpandemie-Szenario mit dem Ziel, das Krisenmanagement für Krisen und mögliche Pandemien zu üben und zu verbessern. Anhand der medialen deutschen Online-Berichterstattung zu Affenpocken lässt sich nun das Muster der Rhetorik der Angstkommunikation nochmals nachzeichnen. Dies soll beispielhaft an zwei Beiträgen vom 22. Mai 2022 zur 67 Hamann, Larissa/Metzger, Nils: Neuer Omikron-Subtyp:BA.5-Variante: Droht eine neue Corona-Welle? Auf: ZDF/Panorama vom 01. 06. 2022. (letzter Zugriff: 10. 06. 2022). 68 Ein Podcast des Bayerischen Rundfunks vom 26. Mai 2022 mit dem Titel »Mensch versus Virus – Sind wir gerüstet für die nächste Pandemie?« umreißt das Thema: »Corona wird nicht der letzte Erreger sein, der die Welt heimsucht. Doch was haben wir aus der Pandemie gelernt? Was, wenn das nächste Virus nicht nur gefährlich und höchst ansteckend ist – sondern auch lebensbedrohlich für Kinder? Sind wir ausreichend vorbereitet? Wer wird schneller sein: der Mensch oder das Virus?« Der Podcast zeichnet ein apokalyptisches fiktives Szenario für das Jahr 2025 zum Ausbruch eines Erregers in einer Palmölplantage, erörtert die Ausbreitungswege, kennzeichnet die Bedrohlichkeit des Erregers aufgrund der Unbeschwertheit von Reisenden und Feiernden, beschreibt exponentielles Wachstum, das Erfordernis digitaler Informationsdienste, den Idealfall ausreichender Impfstoffe. Lauterbach ist in diesem Szenario immer noch Gesundheitsminister, wird wie andere aktuelle Akteure im Original zitiert. Wieler setzt auf Breitbandimpfstoffe. Das Szenario wird in seiner Bedrohlichkeit durch entsprechende düstere Musik in Moll sowie das Tönen einer Herz-Lungen-Maschine im Hintergrund untermalt. Bayerischer Rundfunk: Mensch versus Virus – Sind wir gerüstet für die nächste Pandemie. (letzter Zugriff: 10. 06. 2022).

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Sendung BRISANT der ARD (16.15 Uhr und 19.06 Uhr) erfolgen. Die beispielhafte Darlegung resultiert daraus, dass die Sendung wie auch andere journalistische Online-Beiträge zu dem Thema die Quellen dpa/AFP/REUTERS oder auch RND und sich selbst BRISANT angeben. Schon der Titel des Beitrags (19.06 Uhr) arbeitet mit dem Narrativ der Gefahr (b), obwohl im Beitrag gerade nicht von einer großen Gefahr, sondern Vorsicht gesprochen wird: »Neue Virus-Welle. Immer mehr Fälle von Affenpocken – Droht jetzt die nächste Pandemie?« Zu diesem Zeitpunkt liegen die Infektionen in Deutschland im unteren einstelligen Bereich. Die nicht genauer bezeichnete Gefahr »alarmiert Regierungen und Experten«, »US-Präsident Joe Biden warnte am Sonntag vor ›schwerwiegenden Folgen‹, sollte sich die Krankheit weiter ausbreiten«; die WHO »befürchtet, dass die Zahl der Fälle in den Sommermonaten weiter ansteigen könnte«, »Expertinnen und Experten befürchten aktuell noch keine neue Pandemie, fordern jedoch ein konsequentes Handeln« (c). Zu diesem konsequenten Handeln zählt »das Bereitstellen von ausreichend Pocken-Impfstoff« oder, dass die WHO »Leitlinien zur Eindämmung der Ausbreitung der Affenpocken erarbeitet«. Die Suggestion von Knappheit wird mittels eines verstärkenden Adverbs begründet: »Denn für Menschen mit Vorerkrankungen oder einem geschwächten Immunsystem kann das Virus durchaus gefährlich werden« (b, d). Das Narrativ der Gefahr und Bedrohung wird weiterhin durch konzessive, einschränkende temporale Adverbiale gestärkt, so durch Adverbien wie derzeit, bislang, die ein »noch nicht, aber« implizieren und Verschlimmerung andeuten (d). In diesem Sinne wird prototypisch die zusammengesetzte Konjunktion zwar, aber verwendet wie in dem folgenden Satz: »Die Organisation wies zwar darauf hin, dass es bei Massenveranstaltungen zu Ansteckungen kommen kann, betonte aber auch, dass Vorsichtsmaßnahmen gegen Covid-19 auch gegen Affenpocken wirken«.69 Gleich im ersten Absatz wird auf eine mögliche Impfung verwiesen, indem nach zwei Fragesätzen ein Bindestrich eine aufmerksamkeitsfördernde Funktion erfüllt (f): »Wie werden die Pocken-Viren übertragen, wie kann man sich davor schützen – und wer sollte sich dagegen impfen lassen?« In dem Beitrag »Erster Fall: Affenpocken jetzt auch in Deutschland« (16.15 Uhr) wird notiert, dass das Robert-Koch-Institut Ärzte in Deutschland für die Virusinfektion sensibilisiere: »Zu Recht: Jetzt ist der erste Fall auch bei uns bekannt geworden.« Der Beitrag unterstreicht und unterstützt die Sorge der Akteure mit dem Kausaloperator zu Recht, um zu signalisieren, dass der folgende Satz als Begründung zu verstehen ist. Damit positioniert sich die Redaktion in diesem Diskurs um die Affenpocken. 69 ARD. BRISANT: N E U E V I R U S - W E L L E IMMER MEHR FÄLLE VON AFFENPOCKEN – DROHT JETZT DIE NÄCHSTE PANDEMIE? VOM 22. MAI 2022, 19:06 UHR: (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

Angstkommunikation in der Corona-Pandemie

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Auch in diesem Beitrag kommen ein Noch-nicht-Wissen und Ungewissheiten zum Tragen: So werden stereotyp »nur milde Symptome« adversativ »Aber auch schwere Verläufe sind in Einzelfällen möglich« gegenübergestellt. Im weiteren Verlauf der Berichterstattung wird die Frage nach der möglichen Ursache für den Ausbruch der Infektion und die Ansteckungsfälle gestellt: So wird vermutet: Die Infektion »soll auf eine Ansteckung in Nigeria zurückgehen. Daraufhin hatten britische Experten betont, dass die Affenpocken nicht leicht von Mensch zu Mensch übertragen würden und dass das Risiko für die Allgemeinbevölkerung sehr gering sei. Die jüngsten Fälle scheinen das zumindest teilweise zu widerlegen: Das Virus kann sehr wohl von Mensch zu Mensch übertragen werden. Dass in einigen Fällen die Infektionskette nicht nachvollzogen werden kann, legt nahe, dass noch nicht alle Infektionen in der Bevölkerung entdeckt worden sind.«70

Mit Modalverben (sollen und können), den Modaladverbialen sehr wohl oder zumindest teilweise, dem Verb scheinen mit modalem Charakter, einschränkenden Partikeln und Indefinitpronomen noch nicht alle sowie der Vermutung legt nahe erfolgt eine vermutende Positionierung zur Dynamik eines Geschehens (e). Die zitierten Akteure halten Todesfälle für »sehr unwahrscheinlich«, dennoch wird darauf verwiesen, dass »die zentralafrikanische Variante des Erregers […] etwa zehn Prozent der Erkrankten« sterben lässt. »In Afrika führt die in Europa und den USA auftretende westafrikanische Variante des Virus bei etwa einem Prozent der Erkrankten zum Tod.« (b) In Hinsicht auf die Entstehung der Infektionsketten wird »eine veränderte Mensch-zu-Mensch-Übertragbarkeit« vermutet oder »Die Erreger können von verschiedenen Tierarten übertragen werden. Die Viren wurden laut WHO vereinzelt durch Reisende exportiert« und dies bereits 2018. Ende Mai befasst man sich verstärkter mit dem Ursprung und der Ausbreitung der Affenpocken. So schreibt die Berliner Zeitung am 27. Mai 2022, 22:13 Uhr mit Bezug auf AFP und kme: »Die derzeitige Ausbreitung des Affenpocken-Virus sei ›ungewöhnlich‹ sagte Briand.« Denn die Fälle werden aus Ländern gemeldet, in denen das Virus »üblicherweise nicht verbreitet« ist. Und weiter heißt es: »Experten versuchen demnach weiter herauszufinden, was die derzeitige ungewöhnliche Verbreitung verursacht hat.«71 In diesem Sinne titelt n-tv am 30. Mai 2022 »Vieles am Affenpocken-Ausbruch bleibt rätselhaft« und es wird notiert: »Viele Fragen sind weiter noch offen – auch, ob der Erreger jemals wieder eingedämmt werden 70 ARD. BRISANT: ERSTER FALL: AFFENPOCKEN JETZT AUCH IN DEUTSCHLAND vom 22. Mai 2022, 16:15 Uhr. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 71 WHO: Affenpocken-Fälle könnten nur »Spitze des Eisbergs« sein. In: Berliner Zeitung vom 27. 05. 2022, 22:13 Uhr. (letzter Zugriff: 10. 06. 2022).

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kann.«72 Bei n-tv Wissen werden die Affenpocken als Zoonose, also vom Tier auf den Menschen übergesprungen charakterisiert. Die dpa titelt am 01. Juni 2022 »WHO vermutet Umweltfaktoren hinter Affenpocken. Ist der Klimawandel verantwortlich für die Verbreitung der Affenpocken-Infektionen? Fakt ist, dass sich die Bewegungsradien von Tieren verändern. Das begünstigt das Überspringen des Virus auf Menschen.« Der »Druck auf Ökosysteme«, »bedrohte Lebensräume und der Klimawandel« werden ins Feld geführt, jedoch nicht genauer erörtert.73 (a) Damit ist die Verbindung zum Klimawandel thematisch gesetzt und wird in diesem Sinne weiterhin bearbeitet. Der abschließende morgendliche Blick am 11. Juni 2022 in die Selektion der von Google bereitgestellten Nachrichten bestätigt die in diesem Beitrag erhobenen Befunde und deren Musterhaftigkeit. Das Ärzteblatt sticht mit einigen Beiträgen hervor, denn es berichtet über die Beratungen des Corona-Expertenrates zu einem Strategiewechsel bei den Corona-Maßnahmen für den Herbst. Die bildlichen Darstellungen des Virus erscheinen noch farbenprächtiger. Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten der Überlastung des Gesundheitssystems werden angeführt, es geht einmal mehr um Unvorhersehbares. Eine Verlässlichkeit der Evolution des Virus liegt nicht vor, und dennoch werden die vagen Aussagen zur Grundlage der neuen Selektionen für die Beiträge. Eine Abschwächung des Virus wäre vorstellbar, heißt es, aber sie könne nicht vorausgesetzt werden, daher müssen die Impflücke sowie die Immunitätslücken geschlossen werden, Szenarien von basal bis ungünstig werden einmal mehr durchgespielt. Ein circulus vitiosus?

72 Stoppel, Kai: Bereits 21 Fälle in Deutschland. Vieles am Affenpocken-Ausbruch bleibt rätselhaft. In: ntv vom 30. 05. 2022, 17:41 Uhr. (letzter Zugriff: 01. 06. 2022). 73 Dpa: WHO vermutet Umweltfaktoren hinter Affenpocken. 01. 06. 2022, 05:59 Uhr. Auf tonline: (letzter Zugriff: 10. 06. 2022).

Robert Niemann

Prognostische Propheten? Über das zukunftsbezogene Wahrsprechen im Coronadiskurs1

1.

Wissenschaftliches Wahrsprechen über die Zukunft

In Zeiten von Viruspandemien schlägt in der Regel die Stunde der wissenschaftlichen Modellierer und Prognostiker. Auf der Grundlage von Daten zu einem Virus werden Prognosen erstellt, die Aufschluss darüber geben, wie sich die Pandemie zukünftig entwickeln könnte bzw. wo und ob mögliche Gefahren für die Bevölkerung bestehen. Beim Prognostizieren wird wissenschaftliche Wahrheit im Grunde über die Gegenwart hinaus in die Zukunft projiziert und dabei nutzbar gemacht für politisches Handeln. Wir erleben dies aktuell in der Coronapandemie, die im Kern davon gekennzeichnet ist, dass Prognosen von »Experten«2 politische Entscheidungen und damit das gesellschaftliche Leben beeinflussen. In medialer Dauerschleife werden wir mit normalistisch-prognostischen Kurvenlandschaften konfrontiert:3 Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht auf sämtlichen Kanälen etwa ein Anstieg, eine Entwicklung, ein (»exponentielles«) Wachstum auf der Grundlage unterschiedlicher Datenlagen visualisiert wird, welche dann – je nachdem – als normal oder a-normal und somit ggf. als bedrohlich oder gefährlich interpretiert werden. Dabei werden Wissenschaftler als autorisierte Sprecher über die Zukunft in Szene gesetzt, deren Worte für das Hier und Jetzt des Handelns entscheidenden Einfluss haben:4 Droht uns

1 Ich danke Sebastian Lübcke für wichtige Hinweise und Anmerkungen zu diesem Beitrag. 2 Knobloch, Clemens: Über die Rolle von Experten im Corona-Notstand. In: kultuRRevolution 79, 2020, S. 39–45. 3 Vgl. Link, Jürgen: Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018; auch Link, Jürgen: Für welche Krise ist »Corona« der Name? »Neue Normalität« zwischen dem Traum vom hyperflexiblen Normalismus und massiv protonormalistischen Tendenzen. In: kultuRRevolution 79, 2020, S. 7–16. 4 Die »Konnotation all dieser Kurven« lässt sich demnach mit Jürgen Link wie folgt auf den Punkt bringen: »statistische Kurve = wissenschaftlich, da mathematisch – Produzenten der Kurven = Wissenschaftler, ›Experten‹, Garanten von sicherem Wissen, Besitzer von Wahrheit«, vgl. Link, Jürgen: Für welche Krise ist »Corona« der Name?, S. 7.

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die prognostizierte nächste »Welle«, müssen wir uns in der Gegenwart alle einschränken (oder impfen lassen usw.). Die Art und Weise der medialen Präsentation der Coronapandemie ist folglich ein Kennzeichen für eine Art religiöse Verehrung der statistischen Naturwissenschaften. Denn das Beispiel Corona zeigt einmal mehr und insbesondere: Die statistische Naturwissenschaft besitzt ein zunehmend hohes gesellschaftliches Prestige (gerade in den Mittelschichten der westlichen Gesellschaften).5 Sie gilt als vielleicht höchste Legitimationsinstanz unserer Zeit, sie gibt Antworten auf nahezu alles, ist Führung und Orientierung. Mit Clemens Knobloch gesprochen ist die statistische Naturwissenschaft die maßgebliche Religion unserer Zeit:6 Wissenschaftsreligion liegt vor, wenn »die Berufung auf Wissenschaft und Expertise gängige, überall akzeptierte Münze für die Begründung von Handlungen, Einstellungen, Motiven in allen relevanten Lebensbereichen ist, in der es keine höhere Berufungsinstanz für akzeptable Rechtfertigungen gibt.«7 In wissenschaftsreligiösen Kulturen herrscht demnach ein unumstößlicher Glaube an naturwissenschaftlich-statistische Expertise vor, der sich etwa in der häufig gebrauchten Floskel widerspiegelt, doch endlich auf die Wissenschaft zu hören.8 In diesem Zusammenhang kommt schließlich der wissenschaftlichen Vorhersage über die Zukunft eine zentrale und machtvolle Rolle zu.9 Der Glaube an das Vorhergesagte ist groß: Es wird – obwohl in der Zukunft liegend und dementsprechend faktisch nicht verifizierbar – letztlich wie eine Tatsache behandelt, es erscheint als wissenschaftliche Wahrheit. 5 Vgl. Gramelsberger, Gabriele: Intertextualität und Projektionspotential von Klimamodellen. In: Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten. Hrsg. von Daniel Weidner/Stefan Willer. München: Fink 2013, S. 209–225, hier S. 209. 6 Mit Bezug auf Corona vgl. auch Agamben, Giorgio: Die Medizin als Religion. In: Ders.: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Wien/Berlin: Turia+Kant 2021, S. 77–86. 7 Knobloch, Clemens: Wissenschaftsreligion. In: kultuRRevolution 77/78, 2019, S. 62–70, hier S. 63. 8 Bei dieser Forderung erscheint Wissenschaft als homogenes Feld, dem man sich aufgrund seiner Autorität bzw. Allwissenheit zu unterwerfen hat. Wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung findet nach dieser Vorstellung nicht im Rahmen kritischer Erkenntnispraxis statt. Wissenschaftliche Tatsachen sind also nicht Gegenstand von argumentativen und kritischüberprüfenden Aushandlungsprozessen, sondern sie sind einfach irgendwie da. Mir scheint, dass dieses naive Verständnis von wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung gerade in den westlich spätmodernen akademischen Mittelschichten stark vertreten ist, vgl. auch Knobloch, Wissenschaftsreligion. 2019, S. 60. Deren Akteure wurden im Rahmen ihrer akademischen Universitätslaufbahnen zu »postkritischen Wissenschaftssubjekten« geformt, vgl. hierzu Niemann, Robert: Zum Wandel des wissenschaftlichen Subjekts. Von kritischer Wissensschöpfung zum postkritischen Selbstmanagement? Bielefeld: transcript 2020. 9 Vgl. hierzu Gramelsberger, Intertextualität und Projektionspotential. 2013, S. 209: »Insofern seit dem 19. Jahrhundert das naturwissenschaftliche Weltverständnis zum paradigmatischen Verständnis der modernen, technologischen Gesellschaft geworden ist, beanspruchen wissenschaftliche Prognosen zunehmend einen universellen Geltungsanspruch.«

Prognostische Propheten?

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Vor dem Hintergrund dieser religiösen Aura von prognostizierender Wissenschaft möchte ich im Folgenden den Fokus auf die prognostizierenden Akteure richten. Mit subjekttheoretischer und -analytischer Ausrichtung gehe ich der These nach, dass wissenschaftliche Prognostiker in unserer wissenschaftsreligiösen Kultur gewisse Eigenschaften eines Propheten aufweisen können:10 Anhand des in der Coronapandemie äußerst populären »Drosten-Podcast«11 möchte ich exemplarisch aufzeigen, dass das wissenschaftliche Sprechen über die pandemische Zukunft mit quasi-religiösen prophetischen Zügen auf Seiten des Sprechers einhergeht. Das prognostizierende Subjekt wäre demnach eine Art prophetischer Wahrsprecher im Sinne Foucaults.12 Zugleich soll aber auch gezeigt werden, dass das prophetische Wahrsprechen nicht allein ein Sprechen und Kommunizieren über die Pandemie ist, sondern dass der Sprecher dabei auch sich selbst ins Spiel bringt: Das prognostizierende Subjekt setzt sich also nicht nur als auratisch aufgeladener Sprecher im Namen der Wissenschaft in Szene, sondern etwa auch als wertsetzende Moralinstanz oder als authentischer Privatmensch. Auf diese Weise zeichnet sich ein Subjekt ab, das man auch als prognostischen Propheten bezeichnen kann. Dieses sagt nicht allein die Zukunft datenbasiert voraus, sondern lenkt zugleich die ›Köpfe der Menschen‹ (im Sinne von Gouvernementalität):13 In sprachlich appellativer und persuasiver Weise erscheint es dabei einerseits autoritär-disziplinierend durch (angstbesetzte)

10 Ich schließe hiermit an meine bisherigen subjekttheoretischen Beschäftigungen in kulturlinguistischer Hinsicht an, vgl. etwa Niemann, Wandel. 2020; Niemann, Robert: Das ›unternehmerische Wissenschaftssubjekt‹? Widerspruch und Subjektivierung in der Wissenschaft betrachtet anhand von Ratgeberliteratur. In: Kontradiktorische Diskurse und Macht im Widerspruch. Contradiction Studies. Hrsg. von Ingo H. Warnke/Susanne Schattenberg/ Anna-Katharina Hornidge. Wiesbaden: Springer 2020. S. 147–172, nur dass mein Fokus im Folgenden stärker auf dem kommunikativ-strategischen Charakter der In-Szene-Setzung bei der Selbst-Bildung liegt. Die Frage lautet hier also eher, welche sprachlich-kommunikativen Strategien werden verwendet, um ein bestimmtes Subjektverständnis von sich zu entwerfen. 11 Mit »Drosten-Podcast« (im Folgenden auch »DP«) meine ich den Podcast »CoronavirusUpdate« vom NDR, bei dem Christian Drosten (mittlerweile unterstützt von Sandra Ciesek) die Bevölkerung über die Entwicklung der Coronapandemie auf dem Laufenden hält. (letzter Zugriff: 13. 04. 2021) Weiter unten folgen die Einzelheiten zu den methodischen Entscheidungen. 12 Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 31f. Den Bezug meines Ansatzes zum Foucault’schen Zusammenhang von »Subjekt und Wahrheit«, Foucault, Mut. 2010, S. 15ff., kann ich in diesem Beitrag nur andeuten. 13 Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004; Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004.

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Warnungen und Mahnungen und andererseits aber auch flachhierarchisch und ›sanft‹14, indem der Sprecher menschlich-persönliche Eigenschaften erhält.15

2.

Nicht nur Prognostik, nicht nur Prophetie: prognostisch-prophetische Führungstechnik

Der prognostische Prophet ist weder nur Prognostiker noch nur Prophet. Es handelt sich hier vielmehr um eine Subjektform, die von beiden Seiten wichtige Eigenschaften integriert und spezifisch akzentuiert. Was also zeichnet das prognostisch-prophetische Subjekt aus?16 Zunächst einmal ist sowohl für den Prognostiker als auch für den Propheten ein Sprechen über die Zukunft charakteristisch.17 Für beide dürfte gelten, dass sie durch ihr Sprechen eine zeitliche Kontinuität von der Gegenwart in Zukunft herstellen und insofern als eine Art Brückenbauer18 und Vermittler19 agieren. Diese Eigenschaft ist auch für den prognostischen Propheten zentral. Eine Abweichung vom reinen Prognostiker liegt in der Popularisierung. Der prognostische Prophet ist kein reiner Prognostiker, der etwa im Rahmen einer Fachpublikation eine Prognose präsentiert (etwa zum Klimawandel oder zu Corona). Das alleinige Veröffentlichen einer wissenschaftlichen Prognose bzw. wissenschaftsinterne Kommunizieren macht folglich noch keinen prognostischen Propheten. Ein wichtiges Charakteristikum ist vielmehr die Popularisierung von (Zukunfts-)Wissen: Der prognostische Prophet spricht zu einem breiten Publikum, zu den Menschen, zur Öffentlichkeit. In diesem popularisierenden Sprechen steckt insofern ein prophetischer Akzent, als der prognostische Prophet ebenso wie ein klassischer Prophet eine Botschaft übersetzt und diese auf diese Weise für die Menschen verfügbar macht. Diese Übersetzung kann mit Foucault auch als Sichtbarmachung bzw. Enthüllung der Wahrheit verstanden 14 Siehe hierzu die Arbeiten von Ulrich Bröckling über den ›späten Foucault‹, vgl. etwa Bröckling, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp 2017. 15 Die Beschäftigung erfolgt hier aus Platzgründen nur skizzenhaft. Ich werde diesen Überlegungen in einer zukünftigen größeren Studie in ausführlicherer und systematischerer Form nachgehen. 16 Die folgende Charakterisierung wird zukünftig sicherlich noch präziser und differenzierter ausfallen müssen. Ich konzentriere mich hier auf das für diesen Beitrag Nötigste. 17 Vgl. etwa Gramelsberger, Intertextualität und Projektionspotential. 2013; Weidner, Daniel/ Willer, Stefan: Fürsprechen und Vorwissen. Zum Zusammenhang von Prophetie und Prognostik. In: Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten. Hrsg. von Daniel Weidner/Stefan Willer. München: Fink 2013, S. 9–19. 18 Vgl. Link, Normalismus und Antagonismus. 2018, S. 215. 19 Vgl. Foucault, Mut. 2010, S. 32.

Prognostische Propheten?

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werden: »Das prophetische Wahrsprechen vermittelt […] insofern, als der Prophet auf eine bestimmte Weise das enthüllt, zeigt und erhellt, was für die Menschen verborgen ist.«20 Dieser prophetische Akzent des enthüllenden Wahrsprechens für die Menschen ist für den prognostischen Propheten zentral: Er übersetzt und enthüllt somit sein fachbezogenes Wissen für die breite Masse. Zugleich nimmt er dabei, wie der klassische Prophet, die Funktion eines Vermittlers in dem Sinne ein, dass er für jemanden bzw. »für eine andere Stimme«21 spricht. Anders als der klassische (etwa biblische) Prophet spricht der prognostische Prophet aber nicht für Gott bzw. im Namen Gottes, sondern im Namen der Wissenschaft.22 Und in diesem Sinne des Für-Sprechens ist seine Translation ein räumliches Über-Setzen von der Seite der prognostischen Wissenschaft auf die Seite der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Und genau in diesem Punkt weicht schließlich der prognostische Prophet vom klassischen Propheten ab: Der prognostische Prophet spricht für die Wissenschaft als Wissenschaftler bzw. als wissenschaftlicher Experte, d. h. er ist ein mit der Praxis der Prognostik vertrauter Fachmann. Die vielleicht wichtigste Eigenschaft des prognostischen Propheten ist schließlich das appellative und persuasive Sprechen: Das reine Erstellen von Prognosen und die deskriptive wissenschaftsinterne Präsentation von möglichen Zukunftsszenarien hat an sich noch keinen persuasiven Charakter: Der reine Prognostiker spricht demnach nicht persuasiv. Der klassische Prophet hingegen ist als Warner und Mahner eine Art normativer Führer:23 Er orientiert und leitet die Menschen, indem er ihnen die ihnen verborgene, ggf. schreckliche Wahrheit enthüllt, und auf diese Weise ihr gegenwärtiges Handeln beeinflusst.24 Auch der prognostische Prophet ›führt‹ die Menschen, zu denen er spricht: Mit der Übersetzung von (wissenschaftlich-prognostischem) Zukunftswissen für die Öffentlichkeit lenkt er diese im Namen der Wissenschaft. Das prognostischprophetische Zukunftssprechen darf in diesem Sinne wohl als eine elementare Führungstechnik unserer normalistisch organisierten Gesellschaft und wissenschaftsreligiösen Kultur betrachtet werden: Wo die (Natur-)Wissenschaft die 20 Vgl. Foucault, Mut. 2010, S. 32. 21 Vgl. Foucault, Mut. 2010, S. 32. 22 Denkbar ist dessen ungeachtet auch beim prognostischen Propheten ein quasi-göttlicher Alleinstellungsanspruch, vgl. dazu Lübcke, Sebastian: »Herr der Wende«? – Ästhetische Sprachwerdung des fleischgewordenen Gottes. Verkündigung als Selbstauratisierung in Stefan Georges »Das Erste«. In: Weimarer Beiträge 58, 2012, S. 524–539. 23 Im Sinne des Regierungs- und Führungsbegriffs bei Foucault, vgl. etwa auch Lemke, Thomas/ Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. 6. Aufl. Hrsg. von Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 7–40. 24 Vgl. etwa Weidner/Willer, Fürsprechen und Vorwissen. 2013, S. 14.

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höchste Legitimationsinstanz ist, braucht es autorisierte und auratische Für-Sprecher, die das zukunftsbezogene Wissen der breiten Masse vermitteln und diese lenken. Die genaue Art und Weise dieser ›Führung‹, die im Kern sprachlich vollzogen wird, soll im Folgenden ausschnitthaft und explorativ betrachtet werden.

3.

Prognostische Propheten in der Coronapandemie – analytische Schlaglichter

In diesem Abschnitt werden einige Folgen aus dem »Drosten-Podcast« (s. oben) analysiert, die in der »ersten Welle« der Pandemie veröffentlicht wurden (also im Frühjahr 2020).25 Mir geht es bei der Analyse nicht um eine Beurteilung des Inhalts, sondern um die Art und Weise, wie über bestimmte Inhalte gesprochen wird. Ich betrachte den Podcast dabei als eine Art Bühne: Auf dieser informiert der Experte Christian Drosten (im Zusammenspiel mit den Moderatorinnen) nicht nur über das (zukünftige) Pandemiegeschehen, sondern er setzt sich zugleich auch als ein Experte in Szene, der sich auf der Grundlage seiner Expertise und vor dem Hintergrund einer akuten gesellschaftlichen Krise mit Appellen an die Öffentlichkeit wendet. Dabei stechen zwei Schwerpunkte heraus, die im Folgenden nacheinander behandelt werden: Bei der Frage nach der ›Führungstechnik‹ des prognostischen Propheten scheinen sich zwei Akzente abzuzeichnen, die beide gemeinsam zum prognostischen Prophetentypus beitragen. Da wäre zum einen der prognostische Akzent: Ihn findet man in Textstellen, in denen es thematisch um pandemiebezogene Zukunftsszenarien geht. Ein solch prognostisches Sprechen über die Zukunft erfolgt in dem untersuchten Podcast erwartungsgemäß häufig. Die Art und Weise des Vorgehens ist dabei recht unterschiedlich. Der zweite Akzent liegt eher auf der Person des Sprechers: Es finden sich recht häufig Textstellen, in denen es weniger um die pandemische Zukunft im engeren Sinne geht, sondern mehr um die Konstruktion eines Bildes der Sprecherperson. Da werden etwa Fragen der Moral aufgeworfen oder es wird über persönliche Erfahrungen, Empfindungen oder Eigenschaften gesprochen. Die so erfolgende Konturierung des Sprechers in personaler Hinsicht dürfte letztlich nicht geringen Einfluss darauf haben, wie sein prophetisches Wahrsprechen insgesamt von seinem Publikum aufgenommen wird. Ein bestimmtes Sprecherbild kann etwa zu mehr 25 Die Analysen beziehen sich auf die Skripte, die auf der Homepage des NDR (s. o.) zu finden sind. Diese Skripte weichen zum Teil ein wenig vom gesprochenen Wort ab. In den folgenden Zitaten werden manche (nicht alle) Abweichungen in eckigen Klammern ergänzt. In der Regel sind die Abweichungen nicht wesentlich für die Bedeutung der getätigten Aussagen.

Prognostische Propheten?

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Glaubwürdigkeit, Authentizität oder Integrität beitragen. Es handelt sich hier also um einen zwar indirekten, aber durchaus einflussreichen Akzent für den prognostischen Propheten als solchen, auch wenn es nicht direkt um prognostisches Sprechen geht. Im Folgenden kann zu beiden Akzenten jeweils nur ein kleiner Ausschnitt vorgestellt und diskutiert werden. In einer weiteren, größeren Studie werde ich diese zwei Akzente breiter und differenzierter herauszustellen versuchen. 1) Zunächst zum prognostischen Akzent: Im Folgenden sollen zunächst einmal Textauszüge besprochen werden, in denen es im Kern um bestimmte pandemiebezogene Zukunftsszenarien geht. Der behandelte Gegenstand ist dabei in der Regel die Corona-Situation ›in Italien‹ (genauer müsste man wohl sagen: in der Region um Bergamo), die als Folie für das zukunftsbezogene Sprechen über die Pandemie in Deutschland verwendet wird. Exemplarisch für viele Ausführungen in der ersten Welle ist das folgende Beispiel, das aus der Folge 11 vom 11. 03. 2020 mit dem Titel »Wir müssen jetzt gezielt handeln«26 stammt: »Aber wollen wir wirklich so lange warten? Wollen wir in einem Monat wirklich sagen: Hätten wir [doch] damals auf die Daten und auf Experten aus dem Ausland gehört. Auf Intensivmediziner, die verzweifelt Botschaften an deutsche Zeitungen richten und sagen: ›Sagt bitte euren Ärzten, was hier passiert.‹ […] Diese Chance wird uns [ jetzt] gegeben von der Natur. Wir haben hier eine Naturkatastrophe, die in Zeitlupe abläuft. Wenn wir diese Zeichen nicht erkennen wollen und wenn wir weiter Kompromisse schließen wollen. Wenn wir sagen: Wir überlassen es einem diensthabenden Arzt auf der Intensivstation und einem kleinen Amtsarzt in einem Gesundheitsamt, gravierende Entscheidungen zu treffen. Dann laufen wir vielleicht in die gleiche Situation [rein] wie in Italien? Wir müssen jetzt mit Nüchternheit und mit einer Wertschätzung für Daten und für Wissenschaft sagen: So wird das kommen. Die Wissenschaft irrt sich hier nicht. […] Deswegen müssen wir unsere Zeit, die wir [ jetzt] glücklicherweise haben, so nutzen, dass wir nicht in Kurzschlusshandlungen verfallen, sondern in gezielte und gute Maßnahmen investieren.«27

In diesem Abschnitt wird zentral der thematische Gegensatz ›Chance‹ vs. ›Naturkatastrophe‹ etabliert. Christian Drosten plädiert hier dafür, die ›Chance‹, also den zeitlichen Vorsprung gegenüber ›Italien‹, zu nutzen, um so in Deutschland auf die bevorstehende ›Naturkatastrophe‹ vorbereitet zu sein. Dafür wählt er das Personalpronomen wir und meint damit offenbar die deutsche Gesellschaft. Zu Beginn des Textauszugs richtet Drosten also zunächst Fragen an die deutsche Gesellschaft, indem er sich mit wir einschließt. Er tritt hier folglich als Sprecher

26 Diese Titel finden sich auf der oben bereits genannten Internetseite des NDR. 27 Vgl. DP 11, 1–2. Die einzelnen Folgen des Podcasts werden wie folgt zitiert: »DP X, Y« steht für Drostenpodcast (= DP) plus Nummer der Folge (= X) plus Seitenzahl (= Y). Alle Hervorhebungen in den Zitaten stammen von mir. Andernfalls wird das gesondert erwähnt.

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vor einer und für eine Gruppe auf und befindet sich dabei zugleich innerhalb dieser Gruppe. Er erscheint hier als so etwas wie ein Wortführer für diese Gruppe. Die eingangs formulierten Fragen lassen sich dabei als einerseits suggestiv und andererseits emphatisch interpretieren: Zum einen scheint die Formulierung ›Wollen wir wirklich X?‹ nicht auf Informationsgewinn abzuzielen, sondern vielmehr die Antwort auf die vermeintliche Frage bereits zu enthalten. Der suggestive Charakter wird in erster Linie durch das sprecherseitig-kommentierende ›wirklich‹ erzeugt, das aus der formalen Frage hier im Grunde den Appell macht, den antizipierten Zustand X zu vermeiden. Zum anderen wird in diesem ersten Abschnitt durch die formal identische Wiederholung der Frageformulierung eine gewisse sprecherseitige Emphase zum Ausdruck gebracht. Solche emphatischen Wiederholungen von Konstruktionen finden sich auch später in diesem Textauszug (und auch insgesamt häufiger in diesem Podcast): Die Formulierung ›wenn wir X‹ wird dreimal wiederholt, ehe im Anschluss mit ›dann‹ das Bild eines beängstigenden Szenarios entworfen wird (abgeschwächt durch das Modalwort ›vielleicht‹): ›Dann laufen wir vielleicht in die gleiche Situation wie in Italien‹.28 Es wird hier also ein konditionales Wenn-Dann-Gefüge verwendet: Dabei werden drei unterschiedliche Bedingungen in derselben, wiederholten Form zum Ausdruck gebracht und anschließend wird eine – bedrohliche, beängstigende – Folge dieser Bedingungen vorausgesagt.29 Es folgt im Anschluss daran die explizite Aufforderung Drostens zum Handeln: Er fordert mit der Wir-Form dazu auf, die Situation zu erkennen und anzuerkennen und schließlich – mit ›Maßnahmen‹ – darauf zu reagieren. Dabei wird zweimal das Modalverb müssen verwendet: ›wir müssen‹ und ›deswegen müssen wir‹. Die mahnende Prophezeiung in diesem Beispiel sowie die darauf aufbauende Aufforderung zum Handeln werden untermauert durch Autoritätsindizien: Zum einen wird die Sprecherposition entscheidend ergänzt, indem aus dem Wortführer für die Gruppe zusätzlich noch eine Art Seher wird, der ›die Zeichen erkennt‹ und diese seiner Gruppe übersetzt bzw. ›enthüllt‹. Drosten sagt in etwa: ›Wenn wir diese Zeichen nicht erkennen, dann droht Unheil für uns alle‹. Auf diese Weise wird zugleich impliziert, dass er selbst diese Zeichen sehr wohl erkenne (sonst könnte er nicht über sie sprechen), und dass er deshalb diesen eindringlichen, emphatisch vorgetragenen Appell an seine Gruppe richtet, weil sie selbst das Unheil nicht kommen sehen kann (oder will). Drosten macht auf diese Weise seine Autorität als prophetischen Seher unter sonst Blinden deutlich. Zum anderen wird die sprecherseitige Autorität noch dadurch verstärkt, dass 28 Eine Frageintonation, wie vom Skript suggeriert, ist hier für mich nicht erkennbar. 29 Vgl. dazu Polenz, Peter von: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 3. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 283.

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Drosten, der in diesem Podcast ja als Sprecher im Namen der Wissenschaft auftritt, sich hier explizit auf die Autorität des wissenschaftlichen Feldes stützt: mit den Hinweisen auf die ›Daten und Experten aus dem Ausland‹ oder dem Einfordern von ›Nüchternheit und Wertschätzung für Daten und für Wissenschaft‹ oder sogar der Behauptung, dass ›die Wissenschaft sich hier nicht irre‹. Sein Vermögen als Seher der Zeichen basiert demnach auf der Wissenschaft, was dem Publikum an dieser Stelle des Podcasts noch einmal explizit vor Augen geführt wird. Zugleich dürfte die undifferenzierte Rede von der Wissenschaft (im Singular, s. o.) eine beträchtliche auratische Wirkung auf sein Publikum erzeugen und dabei Assoziationen wie Wahrheit, Tatsachen oder Fakten wecken. Die anhand dieses Beispiels aufgezeigten Facetten des prognostischen Akzents findet man auch an anderen Stellen im Podcast. Im Folgenden seien ein paar Beispiele dafür kurz skizziert, ehe anschließend auf den personalen Akzent der prognostisch-prophetischen Subjektform eingegangen wird. Zunächst einmal zu den beängstigenden Zukunftsszenarien: In Folge 34 vom 22. 04. 2020 mit dem Titel »Verspielen wir unseren Vorsprung?« heißt es an einer Stelle: »Ich würde mich [eben] bei diesen vielen Einzelauslegungen dieser Maßnahme nicht wundern, wenn [dass] wir [eben] über den Mai und Ende Juni hinein plötzlich in eine Situation kommen, die wir nicht mehr kontrollieren können, wenn wir nicht aufpassen.«30 Drosten spricht hier zunächst in der Ich-Form und stellt mit der Formulierung ›ich würde mich nicht wundern, wenn in der Zukunft X passieren würde‹ eine Art Hypothese bzw. Vermutung über die Zukunft auf. Bei dieser zukunftsbezogenen Vermutung stellt das X eine Situation dar, die in einer Pandemiesituation nicht erstrebenswert zu sein scheint, nämlich den Kontrollverlust. Der Hinweis auf den Kontrollverlust wird in der Wir-Form realisiert (in Form des mahnenden Wortführers): Drosten würde sich demnach nicht wundern, ›wenn wir in eine Situation kommen, die wir nicht kontrollieren können‹. Der Kontrollverlust drohe jedoch nur, ›wenn wir nicht aufpassen‹. Es wird – wie beim obigen Beispiel – dem beängstigenden Zukunftsszenario eine Bedingung zugrunde gelegt, die auf das (präventive) Handeln der Gruppe zielt (›aufpassen‹). Schließlich sei noch auf das ›plötzlich‹ verwiesen, das in literarischen Texten eingesetzt wird, um eine spannungsgeladene Wende in einer Geschichte zu markieren – auch wenn dies hier sicher nicht intendiert war, dürfte ein gewisser spannungsgeladener Effekt auf das Publikum nicht auszuschließen sein. Im nächsten Beispiel aus Folge 11 wird für den möglichen Kontrollverlust in Deutschland die Folie einer Überwältigung der Intensivstationen in ›Italien‹ genommen: »Eine Auffassung, die in der deutschen Öffentlichkeit wichtig ist, dass sie verstanden wird. Die Auffassung, die sich kurz zusammenfassen lässt: Die Todesfälle im nächsten Monat sind die Infizierten von heute. Es ist [einfach 30 Vgl. DP 34, 6.

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ganz] wichtig zu wissen, dass [ jetzt] die Situation in Italien so weit ist, dass die Intensivstation dort überwältigt werden.«31 Die zweimalige Formulierung ›Es ist wichtig, dass X‹ lässt sich als ein direktiver Sprechakt verstehen, bei dem das normative Potential strategisch kaschiert bzw. indirekt zum Ausdruck gebracht wird, wie man das auch häufig in psychotherapeutisch vorgehenden Ratgebertexten findet.32 Übertragen wäre dies dann wie folgt zu lesen: Die ›deutsche Öffentlichkeit‹ muss verstehen und muss wissen, dass es in Deutschland so sein wird, wie in ›Italien‹, und ›dort‹ werden die Intensivstationen ›überwältigt‹. 2) Neben dem prognostischen Akzent scheint für die Subjektform des prognostischen Propheten auch noch ein personaler Akzent wichtig zu sein. Es geht dabei – wie oben angedeutet – um einen Akzent, bei dem Meinungen, subjektive moralische Vorstellungen, persönliche Empfindungen, Erfahrungen oder Eigenschaften eine Rolle spielen. Beim ersten Beispiel geht es um das Thema Tragen von Masken in der Öffentlichkeit. Es stammt aus Folge 25 vom 31. 03. 2020 mit dem Titel »Persönliche Sicherheit durch Mobilfunk-Daten«: »Deswegen ist das natürlich eine gute Geste. Aber ich sage auch gleich einschränkend dazu: Das ist vielleicht auch nichts für jeden, denn so eine Maske zu tragen, ist anstrengend. […] das Atmen wird auch für jemanden wie mich – und ich gehe regelmäßig laufen, ich bin [glaube ich] ganz gut im Training – auch für mich merke ich, das Atmen wird anstrengender. […] Deswegen muss man das als eine höfliche Geste sehen, die auch mit einer eigenen Anstrengung verbunden [ist], wo ein Mitgefühl oder ein Geben an die Umgebung mitschwingt. Ich trage meine Maske, wenn ich in den Supermarkt gehe, um andere zu schützen. Das ist mein Beitrag, auch wenn das für mich anstrengend ist. Ich glaube, so ist es ein gutes Gefühl, wenn man in der Öffentlichkeit eine Maske trägt.«33

Das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit wird hier – wie auch an anderen Stellen im Podcast – als eine ›höfliche und gute Geste‹ eingeordnet und bewertet. Diese Bewertung wird noch in der Hinsicht untermauert, dass das Maskentragen als Ausdruck von ›Mitgefühl‹, als ein ›Geben‹ und eine ›Anstrengung‹ (für andere) betrachtet werden könne. Es sei schlicht ein ›Beitrag‹ zum Schutze anderer und somit schließlich auch zur Pandemiebekämpfung. Indem das Maskentragen auf diese Weise mit positiven gemeinschaftlichen Werten besetzt wird, wird es moralisch aufgeladen.34 Drosten selbst tritt hier insofern als wertsetzende Moralinstanz auf. 31 Vgl. DP 11, 1. 32 Vgl. dazu Schütte, Christian: Kommunikative Strategien in Ratgeberbücher zum Thema ›Trauer‹. In: Rat geben. Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns. Hrsg. von Michael Niehaus/Wim Peeters. Bielefeld: transcript 2014, S. 133–158. 33 Vgl. DP 25, 7. 34 Vgl. Knobloch, Clemens: Moralisierung und Sachzwang. Politische Kommunikation in der Massendemokratie. Duisburg: DISS 1998.

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Aus der moralischen Aufladung folgt letztlich ein gewisser normativer Handlungsdruck auf den einzelnen, wie auch aus der thematischen Entfaltung der zitierten Textstelle hervorgeht: Wird zunächst noch konzediert, dass das Maskentragen ›nichts für jeden‹ sei, da es ›anstrengend‹ sein könne, folgt später durch die Aufwertung des Maskentragens als ›Beitrag‹ zum Schutze anderer im Grunde der (implizite) moralische Zwang für jeden einzelnen, trotz der konzedierten ›Anstrengung‹ in der Öffentlichkeit Maske zu tragen: ›Das ist mein Beitrag, auch wenn das für mich anstrengend ist‹. Wichtig scheint mir dabei auch die Art und Weise der sprachlichen Realisierung zu sein: Die vorausgehende persönliche Formulierung ebenso wie die Formulierung ›Ich trage meine Maske, um andere zu schützen‹ erwecken den Eindruck, als würde es sich hier um eine Art hyperpädagogische Take-Home-Floskel in Ich-Form handeln, die – leicht einprägsam und griffig wie in persuasiven Werbetexten – dem Publikum exemplarisch und für die eigene Wiederverwendung vorgelegt wird. Drosten agiert hier demnach als eine Art Vor-Sprecher. Ein weiteres Beispiel für solche moralischen Wertsetzungen findet man etwa auch beim Thema der absichtlichen Ansteckung mit dem Coronavirus durch jüngere, von der Krankheit COVID-19 nur selten ernsthaft betroffene Menschen. Drosten vergleicht dieses Phänomen in Folge 7 mit den sogenannten »Masern-Partys« und urteilt in diesem Zusammenhang über eine »verfehlte Gesellschaft von Egoisten«35 oder von einer – gegenüber der chinesischen Bevölkerung – »viel egoistischer[en]«36 deutschen Bevölkerung. Doch Drosten erscheint nicht allein als gesellschaftliche Moralinstanz, die das Wohl der Gemeinschaft im Blick hat, sondern zugleich auch als ein ganz einfacher, normaler Mensch: Der prophetische Sprecher im Namen der Wissenschaft ist demnach letztlich auch nur ein ganz einfacher Mensch wie alle anderen auch, ein Mensch, der ›regelmäßig laufen geht‹ und ›ganz gut im Training ist‹, oder aber – in anderen Folgen – ein Mensch, der »am Wochenende in Berlin« einkaufen geht, »in mehreren Drogerien und Biomärkten und normalen Supermärkten«37, oder aber »mit dem Fahrrad«38 durch Berlin eilt. Durch solche regelmäßigen, dezent gestreuten Andeutungen aus dem einfachen Privatleben erhält der prophetische Sprecher ein menschliches, normales Antlitz, was letztlich vom Publikum als authentisch und sympathisch wahrgenommen werden dürfte. Dieser ganz normale Mensch wird in dem Podcast immer mal wieder zu seiner persönlichen Situation befragt, das heißt vor allem zu seiner wachsenden Po35 36 37 38

Vgl. DP 7, 4. Vgl. DP 7, 5. Vgl. DP 24, 6. Vgl. DP 13, 4.

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pularität in der deutschen Öffentlichkeit.39 Im (wunderbar geschmeidigen) Zusammenspiel mit der Interviewerin Korinna Hennig stellt sich das in Folge 19 vom 23. 03. 2020 mit dem Titel »Masken können andere schützen« wie folgt dar: Auf die Frage: »Können Sie sich [denn] trotzdem noch freuen, wenn Sie jemand auf der Straße erkennt, wenn Sie zur Arbeit radeln und einfach nur sagt: Daumen hoch. Danke, dass Sie Ihr Wissen mit uns teilen« antwortet Drosten: »Ja, das kommt schon vor. Das finde ich auch natürlich dann schon gut. Heute zum Beispiel bin ich über die Straße gefahren und da hat mir eine Frau aus dem Auto zugewinkt. Das ist natürlich nett, aber ich bin so irgendwie nicht strukturiert. Ich ziehe daraus keinen Gewinn für mich selbst. Für mich ist das eher alles ein bisschen befremdlich. Ich bin ja nur deswegen in der Öffentlichkeit, weil ich speziell an diesem Virus oder an seinen Verwandten seit langer Zeit arbeite. Und nicht, weil ich irgendwie [keine Ahnung] Künstler bin, der irgendwas Besonderes kann oder ein Instrument spielt oder irgendwas, wo es um diesen Dialog geht und wo man sich auf so etwas vorbereitet.«40

Auf die Vorlage der Interviewerin reagiert Drosten zunächst zustimmend und schildert auch direkt ein Beispiel. Im weiteren Verlauf bringt er dann jedoch eine gewisse Verunsicherung und Überforderung zum Ausdruck: ›Ich bin so irgendwie nicht strukturiert‹ oder ›für mich ist das eher alles ein bisschen befremdlich‹. Zu den menschlichen Eigenschaften gesellen sich in dieser Form also Genieanspielungen: Dieses (vorgebliche) Sich-Zieren und Überfordert-Sein erinnert stark an das geniehafte Fremdeln (des Albatros) mit der wirklichen, normalen Welt:41 Der Albatros, dieser König der Lüfte, fühlt sich nur in seinem Element wirklich wohl, während er auf dem Boden der normalen Wirklichkeit überfordert und unbeholfen wirkt. Neben diesen Genieanspielungen wird in dem zitierten Beispiel schließlich auch Bescheidenheit zum Ausdruck gebracht: Mit Äußerungen wie ›Ich ziehe daraus keinen Gewinn für mich selbst‹ und Formulierungen wie ›ich bin ja nur‹ oder ›und nicht, weil ich irgendwie Künstler bin, der irgendwas Besonderes kann‹ macht Drosten zurückhaltend und bescheiden deutlich, dass er ja eigentlich nichts Besonderes sei (und auch nicht sein möchte). Er sei ja nur in der ›Öf39 Es stellt sich natürlich schon die Frage, was derartige Ausführungen in einem pandemiebezogenen Podcast überhaupt zu suchen haben, wo in der Welt doch eine »Naturkatastrophe« vor sich geht, mit der in Deutschland kaum gekannte Grundrechtseinschränkungen (seit mittlerweile über einem Jahr) begründet werden. Aus meiner Sicht ist das nicht nur ein populärwissenschaftlicher Gesichtspunkt, vgl. Colin, Nicole/Umlauf, Joachim: »Sündendocs« oder »Hoffnungsträger«? Öffentliche Angriffe auf Wissenschaftler in Corona-Zeiten in Deutschland und Frankreich. In: kultuRRevolution 79, 2020, S. 70–78. Sondern es gehört dies zur Subjektkonstitution des prognostischen Propheten dazu. Es ist demnach aus meiner Sicht ein notwendiges und strategisches Element seines zukunftsbezogenen Wahrsprechens. 40 Vgl. DP 19, 7. 41 Vgl. dazu Niemann, Wandel. 2020, S. 29f.

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fentlichkeit, weil er speziell an diesem Virus oder an seinen Verwandten seit langer Zeit arbeitet‹.42 Mit dieser Bescheidenheitsgeste und der geniehaften Unsicherheit werden wiederum sehr persönliche Noten in die Subjektkonstitution eingebracht, die – wie oben die Menschlichkeitskonnotationen – beim Publikum eine gewisse sympathische Wirkung erzeugen dürften. Alles in allem konnte in dieser kurzen Skizze die Subjektform eines prognostischen Propheten herausgearbeitet werden, der sich als Sprecher im Namen der Wissenschaft (in einer akuten Krise) an die Öffentlichkeit richtet und für diese zukunftsbezogenes Wissen übersetzt. Dabei zeigt der prognostische Prophet eine Form von ›Führungstechnik‹, bei der sich autoritär-disziplinierende und ›sanfte‹ Komponenten ergänzen: Auf der einen Seite gibt es also eine klare Müssens- oder Sollensdeontik mit Blick auf das gegenwärtige Handeln, die auch sprachlich häufig eindeutig zum Ausdruck gebracht wird. Zum anderen zeigt sich aber auch eine Art zwangloser Zwang. Indem der prognostische Prophet nicht nur als Autoritätsperson, als wissenschaftlicher Experte, auftritt, sondern zudem auch authentische und sympathische Züge offenbart, bringt er die Geführten möglicherweise dazu, nicht nur zu machen, was sie sollen, sondern möglicherweise auch zu wollen, was sie sollen.

42 Ob er sich hiermit nicht eigentlich innerhalb weniger Sätze selbst widerspricht, sei einmal dahingestellt.

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Antidemokratische Sprache

Die Demokratie als Form der gesellschaftlichen Organisation wird wesentlich durch ihren kommunikativen Haushalt bestimmt und setzt bestimmte Praktiken und Prinzipien zur Lösung von Konflikten voraus. Daher kann eine demokratisch verfasste Gesellschaft auch immer nur so lebendig, gerecht und menschenfreundlich sein, wie die kommunikative Praxis, die sie konstituiert. So verschieden die Analyse demokratischer Prozesse in den widerstreitenden demokratietheoretischen Ansätzen auch ausfallen mag, von der rationalistischen deliberativen Demokratie bis zum hegemonietheoretischen agonistischen Pluralismus: Alle bauen sie auf den Grundprinzipien demokratischer Kommunikation auf. Zentrales Element ist dabei die öffentliche Sphäre als Marktplatz der Ideen und Austragungsort argumentativer Auseinandersetzung und der Koalitionenbildung. Dabei müssen sich die Akteure bei ihrem kommunikativen Handeln an demokratiekonstituierenden Prinzipien orientieren. Hierzu gehört, (i) dass in der Debatte Vernunft ihren festen Platz hat, (ii) dass alle Seiten gehört werden müssen und keine Zensur stattfinden darf, (iii) dass klar nachvollziehbare Argumente gegeben und verteidigt und ihre Prämissen gegebenenfalls offengelegt werden, dass man sein Gegenüber (iv) als legitimes politisches Gesellschaftsmitglied begreift, (v) wohlwollend interpretiert und (v) nicht abwertet, um nur die wichtigsten zu nennen. Für die journalistische Berichterstattung kommt noch hinzu, dass über Ereignisse unparteilich, wahrhaftig und vollständig berichtet und die Vielfalt von Perspektiven in der Gesellschaft abgebildet wird.1 1 In §11 des »Staatsvertrags für Rundfunk und Telemedien« in der Fassung von 2019 heißt es: »[Auftrag ist, als] Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. […] Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.« §25 regelt: »Im privaten Rundfunk ist inhaltlich die Vielfalt der Meinungen im Wesentlichen zum Ausdruck zu bringen. Die bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen

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Die Kernprinzipien demokratischer Kommunikationskultur haben universellen Charakter und sind keine neuere Entwicklung, die etwa auf plötzliche Einsichten in der Epoche der Aufklärung zurückgehen oder gar genuine Elemente der Nachkriegsordnung darstellen. Insbesondere das Verbot der Ausgrenzung einzelner Debattenbeiträge ist bereits in der antiken athenischen Demokratie fest verankert. So charakterisiert beispielsweise Perikles die antike griechische Demokratieauffassung in seiner »Rede auf die Gefallenen« bei Thukydides: »Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus [und zugleich unsere] Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.«2

Es handelt sich hier keineswegs um eine vereinzelte Meinung, wir finden diesen Gedanken auch in anderen Grundlagentexten der athenischen Demokratie, etwa bei Demosthenes.3 Zudem zeigt die politische Praxis Athens, dass die Teilnahme aller Bürger am Entscheidungsprozess ein hohes Gut darstellte. In der Volksversammlung hatte jeder Bürger4 zu jeder Zeit das Recht, einen Vorschlag zu unterbreiten und vor der Versammlung zu sprechen, die Diskussion war immer möglich und auch erwünscht. Auch setzten politische Führungspositionen nicht die Bekleidung einer Magistratur notwendig voraus, wichtiger waren die Initiative und die Überzeugungskraft eines Bürgers. Die aus den hier umrissenen Prinzipien der demokratischen Kommunikationskultur resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Bedeutung für unser heutiges Demokratieverständnis hat Karl Popper in »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« folgendermaßen beschrieben: »[D]er Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft [kann] eine der größten Revolutionen genannt werden […], die die Menschheit durchgemacht hat. […] Wenn wir daher sagen, daß unsere abendländische Zivilisation von den Griechen

Kräfte und Gruppen müssen in den Vollprogrammen angemessen zu Wort kommen; Auffassungen von Minderheiten sind zu berücksichtigen.« 2 Thukydides II 40, 2 (Landmann). 3 Demosthenes beispielsweise kritisiert die Bürger, die von ihrem Recht, Vorschläge zu machen und in der Versammlung zu reden, keinen Gebrauch machen (vgl. Demosthenes XXII, 30 u. 36). 4 Bei der Anführung dieser Bürgerrechte darf nicht verschwiegen werden, dass die antike griechische Gesellschaft im Hinblick auf Gleichberechtigung und universelle Menschenrechte aus heutiger Sicht noch unterentwickelt war, wie ein Blick auf das Wahlrecht oder die Praxis der Sklavenhaltung zeigt.

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herkommt, so sollten wir uns vergegenwärtigen, was das bedeutet. Es bedeutet, daß die Griechen für uns jene große Revolution begonnen haben, die sich, wie es scheint, noch immer im Anfangsstadium befindet, den Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaftsordnung.«5

Bestimmende Elemente der geschlossenen Gemeinschaft sind in Poppers Perspektive Inklusionsriten, Exklusionspraktiken, Dogmatismus, Gefolgschaft anstelle von Kritik und elitärer Zugang zu Wissen. Im Kontrast dazu sind für die offene demokratische Gesellschaft die Universalität des Rechts und der sozialen Teilhabe, die konstruktive diskursive Auseinandersetzung und die Infragestellung von Gewissheiten und Autoritäten kennzeichnend. Mit Blick auf diese Tradition sollte öffentliche Kommunikation in einer Demokratie also geprägt sein von freiem Zugang, gegenseitiger Achtung, Konzentration auf die Sache, Besonnenheit und argumentativer Klarheit. Strategien der emotionalen Manipulation, Abwertung und Ausgrenzung sowie Formen kommunikativer Gewalt sind mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. In Grundzügen scheint auch die ehemalige Bundeskanzlerin mit diesen Prinzipien vertraut zu sein. Sie sagt am 18. März 2020 in ihrer historischen Fernsehansprache: »Das gehört zu einer offenen Demokratie: dass wir die politischen Entscheidungen auch transparent machen und erläutern. Dass wir unser Handeln möglichst gut begründen und kommunizieren, damit es nachvollziehbar wird.«6 In der Corona-Krise ist in der öffentlichen Kommunikation seither dennoch eine radikale Abkehr von demokratischen Prinzipien, eine zunehmende Verengung des Diskursraums und eine Verrohung der Diskurskultur zu beobachten. Um einen Überblick über diesen kommunikationsethischen Verfallsprozess und seinen antidemokratischen Charakter zu bekommen, sollen im Folgenden einige seiner Kernbereiche illustriert werden.

Emotionalisierung und Abkehr von Sachbezogenheit Das Innenministerium hat im März 2020 ein Papier beauftragt, in dem eine Erzählung für die öffentliche Kommunikation entworfen wird. Nachdem das Portal »FragDenStaat« das als Verschlusssache eingestufte Papier veröffentlicht hatte, machte das Ministerium es auf seiner Webseite zugänglich.7 Man muss 5 Vgl. Popper, Karl (1975): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 4. Aufl., Bern, S. 351ff. 6 Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. 3. 2020 (letzter Zugriff für alle Online-Quellen des Beitrags: 25. 3. 2022). 7 Das interne Strategiepapier des Innenministeriums zur Corona-Pandemie (Die nachfolgenden Zitate sind dem Papier des Bundesinnenministeriums entnommen). 8 Rayner, Gordon: Use of fear to control behavior in Covid crisis was ›totalitarian‹, admit scientists. In: The Telegraph, 14. 5. 2021. .

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tenagentur »Reuters« vom 10. April 20209 heißt die Bildunterschrift, die in Variationen zur suggestiven und emotionsgeladenen Überschrift zahlloser Medienbeiträge wurde: »Arbeiter begraben die Toten in einem Massengrab auf Hart Island in New York City, wo das Coronavirus wütet.« Mit minimalem Rechercheaufwand hätten Journalisten den Hintergrund dieser Szene und damit ihre Trivialität ermitteln können. Bereits am 6. Oktober 2013 erschien etwa im »Smithsonian Magazine« ein Artikel über die Bestattungspraxis der Stadt New York. Der Autor schreibt dort: »In New York City leben rund sieben Millionen Menschen, und wie überall auf der Welt sterben auch hier einige von ihnen. Manchmal sterben sie ohne Familie und/oder ohne Geld. [Es] sterben jedes Jahr einige tausend solcher Menschen allein in den Krankenhäusern der Stadt. Aber das Schicksal dieser Menschen endet nicht mit ihrem Tod. Was macht die Stadt mit den Leichen? Sie werden auf Hart Island begraben. […] Seit 1869 nutzt die Stadt New York die Insel als eine Begräbnisstätte für diejenigen, die sich eine Beerdigung anderswo nicht leisten konnten. Die Begräbnisstätte nimmt heute etwa 101 der 131 Hektar der Insel ein und ist der größte steuerfinanzierte Friedhof der Welt. […] Wegen der Kosten für die Beerdigung von etwa 2.000 Leichen (oder Teilen davon) pro Jahr setzt die Stadt Gefängnisarbeiter für diese Arbeit ein. Insassen von Rikers Island, dem Gefängnis von New York City, werden mit der Fähre nach Hart Island gebracht und erhalten 50 Cent pro Stunde, um Särge für die Beerdigung zu stapeln. Seit den 1950er Jahren finden die Beerdigungen ohne jegliche Zeremonie statt; die Grabstätten sind nicht einmal mit Inschriften versehen, die auf die Verstorbenen hinweisen.«10

Ähnliches gilt für das ikonische Bild der Särge auf Militärlastern in Bergamo, welches die »Welt« am 19. 3. 2020 zu der kontrafaktischen Überschrift11 inspiriert: »Zu viele Tote – Armee muss Särge abtransportieren«. Da hilft es wenig, wenn Journalisten, wie etwa jene der »KulturBühne« des Bayerischen Rundfunks ganze 18 Monate später in ihrer Recherche offenbaren: »Kaum jemand, der nicht weiß was gemeint ist, wenn »die Bilder aus Bergamo« erwähnt werden – gern im Plural, dabei war es von Anfang an nur ein Bild […] Das Foto ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Paradebeispiel dafür, dass Bilder Angst erzeugen können ohne irgendetwas Konkretes zu zeigen. Mehrere deutsche Politiker verwiesen seinerzeit auf ›die Bilder aus Bergamo‹, ohne dabei konkret zu werden. Auch sie wussten, wie stark die Bilder wirkten. [Professor für Kunstgeschichte und Bildwissenschaft an der Uni-

9 Workers bury the dead in mass grave on New York City’s Hart Island amid coronavirus outbreak. Nachrichtenagentur Reuters, 10. 4. 2020. . 10 Lewis, Dan: What Happens When a Homeless New Yorker Dies? In: Smithsonian Magazine, 6. 10. 2013. . 11 Zu viele Tote: Armee muss Särge abtransportieren. In: Welt, 19. 3. 2020. .

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versität Passau] Jörg Trempler: ›Die Bilder bringen eine Art von Emotionalisierung mit zu dem Ereignis, was stärker wirkt und auf einer anderen Ebene liegt als zum Beispiel die textliche oder die zahlenmäßige Interpretation oder Darstellung von Ereignissen.‹ […] In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien. Es war die Angst vor dem ›Killervirus‹ genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise werden in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.«12

Zu Beginn der Krise hält darüber hinaus Kriegsmetaphorik Einzug in die öffentliche Kommunikation. In seiner Fernsehansprache am 17. März 2020 – einen Tag vor jener der Kanzlerin – teilt Präsident Macron der französischen Bevölkerung mit, die Nation stehe »im Krieg mit einem unsichtbaren Feind«, das Wort »Krieg« wiederholt er sechsmal.13 Überall kämpft medizinisches Personal an der »Front«,14 in den Laboren wird nach Impfstoffen zur Abwehr der viralen »Invasion«15 geforscht. In der öffentlichen Argumentationskultur tritt an die Stelle des zwanglosen Zwangs des bessern Arguments (Habermas) die Autorität. Kanzlerin Merkel ruft dazu auf, »nur offiziellen Quellen« zu vertrauen, der Glaube an »die Wissenschaft« wird zum positiven Identitätsattribut. Dass rigorose Skepsis die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis,16 blindes Vertrauen ihr andererseits völlig wesensfremd ist, scheint vergessen. Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld, Mitglied der Akademie »Leopoldina«, warnt vor dem Hintergrund des aufziehenden Szientismus17 folgerichtig vor dem politischen Missbrauch der Wissenschaft und einem Rückfall in voraufklärerische Zeiten. Immer häufiger wird der neue Glaube an die Wissenschaft beschworen, etwa wenn Christian Drosten in seinem NDR-Podcast die nicht ausreichende Zahl von 12 Metzdorf, Julie: Der Militärkonvoi aus Bergamo – Wie eine Foto-Legende entsteht. In: KulturBühne, 26. 10. 2021. < https://www.br.de/kultur/wieso-das-foto-des-militaerkonvois-in-be rgamo-fuer-corona-steht-100.html>. 13 Wiegel, Michaela: Macron und der sechsfache Krieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 3. 2020. . 14 Beeindruckende Bilder nach dem Dienst an der Allgemeinheit. In: RTL News, 25. 3. 2020. . 15 Kaulen, Hildegard/von Lutterotti, Nicola: Die Covid-19-Invasion. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 4. 2020. . 16 Vgl. Popper (1975, 375). 17 Esfeld, Michael: Pandemischer Szientismus. In: Novo Argumente, 9. 2. 2022. .

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»Wissenschaftsgläubigen« bedauert.18 In einer Grafik der »taz«, welche Eltern Orientierung in der Frage geben soll, ob man sein Kind zwischen 5 und 11 Jahren impfen lassen soll, ist im Entscheidungsbaum der Ast »Ich will mein Kind niemals impfen lassen« beschriftet mit der offenbar einzig denkbaren Erklärung für eine so abseitige Haltung: »Ich glaube nicht an die Wissenschaft«.19 Und bereits im Mai 2020 äußert der Protagonist eines Beitrags des Content-Netzwerks von »ARD« und »ZDF« »funk« ohne einen Hauch von Ironie: »Eines Tages werden die Menschen das Licht der Vernunft erblicken. Dann wird die Wissenschaft obsiegen und die Menschen werden der Wahrheit Glauben schenken.«20 Das ultimative Autoritätsargument kommt jedoch im Mai 2021 von der Pfarrerin Ilka Sobottke in ihrem »Wort zum Sonntag« in der »ARD«: »Es macht mich schier rasend zu wissen, wie viel Leid vermeidbar wäre. […] Jesu Gebot wird auf einmal unangenehm, unbequem: Und das heißt für mich nach all dem Leiden und Sterben: ›Schütze deine Mitmenschen wie dich selbst! Lass dich impfen, auch wenn du Angst hast, tue es für dich und tue es für deine Nächsten!‹ […] Lassen Sie sich impfen, um der Liebe Gottes willen!«21

Neuordnung im Wortschatz Zu den Voraussetzungen der oben skizzierten argumentativen Auseinandersetzung auf dem Marktplatz der Ideen gehört auch ein stabiles Reservoir an geteilten Konzepten und Konventionen für den Gebrauch sprachlicher Mittel. Divergierende oder sich plötzlich ändernde Auffassungen in diesem Bereich erfordern daher eine besonders offene und kooperative Kommunikationspraxis. Und in der Tat zeigt sich im Kontext der Corona-Krise in der Domäne des politischen und medizinischen Wortschatzes eine ganze Reihe bemerkenswerter Veränderungen. Neben den zahlreichen Neudefinitionen zentraler medizinischer und epidemiologischer Begriffe wie »Infektion«, »Fall«, »Impfung«, »Impfgegner«,22 18 Coronavirus-Update: Wir müssen uns aus der Pandemie rausimpfen. NDR Podcast, 3. 9. 2021. . 19 Corona-Impfung für 5- bis 11-Jährige: Soll ich mein Kind impfen lassen? In: taz, 14. 12. 2021. . 20 Impfgegner im Mittelalter. funk YouTube-Kanal, 25. 6. 2020. . 21 Sobotke, Ilka: Impfen ist Nächstenliebe. ARD Wort zum Sonntag, 1. 5. 2021. . 22 Vgl. Fung, Katherine: Merriam-Webster Dictionary’s Definition of Anti-Vaxxer Includes Opposing Vaccine Mandates. In: Newsweek, 7. 10. 2021. .

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Dennis Kaltwasser

»Pandemie«, »Herdenimmunität« und anderen mehr gehört im politischen Bereich zu den erstaunlichsten sicherlich die Neubesetzung des Solidaritätsbegriffs. Während sich die frühe Wertschätzung für das Pflegepersonal in Form von abendlichem Klatschen (auch in Großbritannien: »Clap for the NHS!«23) gerade noch mit dem traditionellen Solidaritätstopos des Zusammenhalts der Arbeiterklasse vereinbaren lässt, ist bei den Themen Lockdown, Schulschließung und Maskenpflicht für Kinder der Bruch unübersehbar. Schwere Kollateralschäden dieser Maßnahmen, die vorrangig sozial Schwache, Kinder, alte und kranke Menschen betreffen, spielen bei den neuhegemonialen Solidaritätsvorstellungen keine Rolle mehr. Hinzu kommen je nach Anlass ein kostenpflichtiges Testregime und die institutionsbezogene Impfpflicht mit dem angedrohten Jobverlust im zuvor gefeierten Pflegesektor. Noch drastischer jedoch hat sich der Solidaritätsbegriff mit Blick auf den globalen Süden verschoben. Im Mai 2020 sind fast 1,3 Milliarden Kinder aufgrund von Corona-Maßnahmen nicht in der Schule, für viele Millionen von ihnen ist das lebensgefährlich, da die Schulmahlzeit meist die einzige ist, die sie am Tag bekommen. Im Interview mit der »Zeit« warnt Carmen Burbano, zuständig für das Programm ›Schulspeisungen‹ im UN-Welternährungsprogramm: »Man kann Kinder online unterrichten. Aber man kann sie nicht online ernähren«.24 Die UN-Welternährungsorganisation geht bereits im Oktober 2020 davon aus, dass zwischen 80 und 130 Millionen Menschen weltweit durch die CoronaMaßnahmen in den Hunger getrieben werden, die Weltbank rechnet mit einem Plus von 150 Millionen Menschen, die in extreme Armut geraten – sie alle erscheinen nicht auf dem neujustierten Solidaritätsradar. Selbst der enge Zusammenhang zwischen den Corona-Maßnahmen und den katastrophalen Folgen in ärmeren Regionen der Welt für die Prävention und Behandlung anderer respiratorischer Erkrankungen wie der Tuberkulose scheint als Kriterium für die Inanspruchnahme »solidarischen« Handelns vollkommen irrelevant zu sein, obwohl bereits im Juli 2020 eine Studie des »Imperial College London« warnt: »Indeed, poverty is the key driver of the tuberculosis pandemic, with several studies demonstrating how tuberculosis incidence rates rise and fall in association with measures of socioeconomic development and social protection. […] If the estimates of

23 Clap for our Carers: the very unBritish ritual that united the nation. In: The Guardian, 28. 5. 2020. . 24 Böhm, Andrea/Frehse, Lea/Grefe, Christiane: Hungersnot – Tödlicher als das Virus. In: Zeit, 19. 5. 2020. .

Antidemokratische Sprache

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impoverishment described above are tragically borne out, history warns us to soon expect a dramatic rise in tuberculosis incidence.«25

Im Oktober 2021 berichtet die Weltgesundheitsorganisation dann über die traurige aber vollkommen vorhersagbare Entwicklung: »Deaths from tuberculosis (TB) have risen again for the first time in more than a decade as the COVID-19 pandemic disrupts access to health services, the World Health Organization (WHO) said […] In the 2021 Global TB report, the WHO estimated that about 4.1 million people have TB but are undiagnosed or not officially declared to health authorities, a sharp increase from 2.9 million in 2019 […] According to the report, many countries have redirected their resources from tackling TB to the COVID-19 response, limiting access to essential services. This suggests that people struggled to seek care during coronavirus pandemic lockdowns.«26

Das neue myopische Verständnis von Solidarität und ihren assoziierten Praktiken, das unterdessen zum festen Bestand des »gesunden Menschenverstandes« avanciert ist, bringt im März 2022 exemplarisch die 23-jährige Emilia Fester bei ihrer emotionalen Bundestagsrede im Rahmen der Impfpflichtdebatte zum Ausdruck: »Wenn Sie und ihre Freund:innen der Freiheit sich einfach hätten impfen lassen, als die meisten von uns so vernünftig waren und diesen einfachen Schritt gegangen sind, dann – dann wäre ich jetzt wieder frei!27 [… Wir sind bereit,] unsere Freiheit für das Leben anderer Menschen zu geben. Vulnerable Gruppen zu schützen – das war und das ist unsere Solidarität.«28

Rhetorik der gesellschaftlichen Spaltung Die größte Gefahr für die Demokratie geht jedoch zweifelsfrei von der immer weiter eskalierenden Spaltung der Gesellschaft aus, die von Akteuren in Politik und Leitmedien völlig ungehemmt vorangetrieben wird. Die rhetorischen Mittel reichen von der Abwertung und Delegitimation politischer Abweichler über die Pathologisierung, Kriminalisierung bis hin zur Entmenschlichung. Eine wichtige 25 Saunders, Matthew/Evans, Carlton: COVID-19, tuberculosis and poverty: preventing a perfect storm. In: European Respiratory Journal, 9. 7. 2020. . 26 Gaubert, Julie: Tuberculosis deaths on the rise again for first time in more than a decade due to COVID, says WHO. In: EuroNews, 15. 10. 2021. . 27 Bemerkenswert an diesem Auftritt ist neben anderem, dass der Transkriptionsdienst des Deutschen Bundestages in den Untertiteln fälschlicherweise schreibt: »dann wären wir jetzt wieder frei«. 28 Bundestagsdebatte zur Corona-Impfpflicht, 17. 3. 2022. .

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Rolle spielen dabei wiederkehrende Kampfbegriffe. Hierzu gehört neben Ausrücken wie »krude«, »wirr«, »Raunen«, »Schwurbler« und »Verschwörungstheoretiker« auch »Leugner«. Die Funktionsweise dieses Kampfbegriffs verweist dabei auf eine besonders demokratiefeindliche Strategie: Ein »Leugner« bestreitet ganz unabhängig vom (angeblich) geleugneten Sachverhalt einen kollektiv geteilten Wissensbestand – das ist dem Begriff immanent. Geteilte Wissensbestände stellen jedoch eine wichtige Ressource im Zusammenhang mit der kollektiven Problembewältigung und Realitätskonstruktion dar. Sie demarkieren die Grenzen der hegemonialen Diskursgemeinschaft und entscheiden darüber, was zum »gesunden Menschenverstand« gehört und was nicht. Deshalb muss ein Leugner qua Definition außerhalb der Gemeinschaft stehen, denn was immer er auch sagen mag, es ist bereits als irrational, indiskutabel und potenziell gemeinschaftsgefährdend gekennzeichnet. Selbst die mit Definitionsmacht ausgestattete »Tagesschau« spricht beispielsweise im Zusammenhang mit den Protesten vom 18. 11. 2020 gegen das »Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung« (auch zu dieser Sprache ließe sich mit Bezug zu den erwähnten Kollateralschäden einiges sagen) von »Coronaleugnern«.29 Beim neuerdings ebenfalls allgegenwärtigen »Schwurbler« funktioniert die Delegitimierung im Kern ähnlich, hier geht es jedoch um unterstellte intellektuelle oder rhetorische Defizite sowie um eine insinuierte Inkohärenz der Argumentation. Ein schier endloser Strom der aggressiven Ausgrenzungsrhetorik ergießt sich seit zwei Jahren in Titelblätter, Webseiten, Fernsehberichte: Angela Merkel sieht in Protesten gegen ihre Politik einen »Angriff auf unsere ganze Lebensweise«,30 in einem Beitrag des bereits erwähnten Content-Netzwerks von »ARD« und »ZDF« wird über »Impfgegner« geurteilt: »Die Menschen sind besser als das hier«,31 Nikolaus Blohme, Ressortleiter für Politik und Gesellschaft bei »RTL«, fordert: »Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen«,32 der Ministerpräsident des Saarlandes, Tobias Hans, sendet im »ZDF« zur besten Sendezeit »den Ungeimpften die klare Botschaft: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben!«,33 für den Juristen und Regierungsberater Rolf Schwartmann sind 29 Köhr, Oliver: Corona-Pandemie: Debatte im Bundestag und Proteste (Kommentar). Tagesschau, 18. 11. 2020. . 30 Merkel spricht mit Studierenden: Ein Angriff auf unsere Lebensweise. Tagesschau, 15. 12. 2020. . 31 Impfgegner im Mittelalter. funk YouTube-Kanal, 25. 6. 2020. . 32 Blohme, Nikolaus: Impfpflicht! Was denn sonst? In: Spiegel Online, 7. 12. 2020. . 33 Omikron und Impfpflicht – neuer Minister, neue Sorgen? maybrit illner, 09. 12. 2021 .

Antidemokratische Sprache

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nicht-geimpfte Menschen »Volksfeinde«,34 Markus Feldenkirchen vom »Spiegel« sieht in Kritikern einen »Fall für die Psychiatrie«,35 Weltärztepräsident Montgomery leidet unter der »Tyrannei der Ungeimpften«36 und der FDP-Politiker Rainer Stinner weiß: »Gegner der Corona-Impfung sind gefährliche Sozialschädlinge!«37 Am vorläufigen Ende der Raserei steht der offene Aufruf zur Abspaltung verhasster Bevölkerungsteile. Michael Stempfle stempelt in der »Tagesschau« Impfgegner zu »Verfassungsfeinden«38 und urteilt: »Ähnlich wie Terroristen verbreiten sie Angst und Schrecken«, die »Süddeutsche« sekundiert: »Diese Leute rauben den Vernünftigen die Freiheit – und die Regierungen haben auch noch gekuscht vor ihnen«,39 die »Zeit« weiß nur einen Ausweg: »Die Gesellschaft muss sich spalten!«40 In unheilvoller Tradition41 greift »ZDF«-Frau Sarah Bosetti schließlich zur entmenschlichenden Blinddarm-Metapher und fragt: »Wäre die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes? Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.«42

34 Schwartmann, Rolf: Soll man Privilegien in der Pandemie auf sozialen Netzwerken posten? Pro und Contra. In: web.de News, 9. 4. 2021 . 35 Feldenkirchen, Markus: Manche Demonstranten sind kein Fall für die Politik, sondern für die Psychiatrie. In: Spiegel Online, 19. 5. 2020. . 36 Menke, Frank: »Tyrannei der Ungeimpften«: Der Umgangston eskaliert. In: WDR Nachrichten, 8. 11. 2021. . 37 »Sozialschädlinge«, »Asoziale«, »Covidioten« – Ist die Würde der Menschen, die sich nicht gegen Corona impfen lassen möchten, noch unantastbar? Anfrage der Abgeordneten Dana Guth, Landtag Niedersachen, 13.08.202 . 38 Stempfle, Michael: Die Stärke der Mehrheit. Tagesschau 21. 12. 2021. . 39 Klute, Hilmar: November des Zorns. 21. 11. 2021. . 40 Vooren, Christian: Die Gesellschaft muss sich spalten. In: Zeit, 19. 11. 2021. . 41 Fritz Klein, im KZ Bergen-Belsen tätiger Truppenarzt der Waffen-SS, schrieb seinerzeit: »Aus Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben würde ich einen eiternden Blinddarm aus einem kranken Körper entfernen. Der Jude ist der eiternde Blinddarm im Körper der Menschheit.« 42 Programmbeschwerde gegen das ZDF im Fall Sarah Bosetti. In: Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien, 2. 1. 2022. .

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Dennis Kaltwasser

Diese Sprache offenbart, wie weit die Regression der offenen demokratischen Gesellschaft und der Übergang in eine totalitäre geschlossene Gemeinschaft im Sinne Poppers bereits vorangeschritten ist.

Hannah Broecker

Die Neuvermessung der politischen Landschaft. Störungen und Folge-Störungen der Pandemie

1.

Einleitung

Die Covid-19 Pandemie und ihre medizinischen sowie politischen Folgen haben weitreichende Konsequenzen für bestehende gesellschaftliche Systeme mit sich gebracht. Während viele gesellschaftliche Teilsysteme einer (teilweisen) Neuordnung unterzogen wurden, haben sich bestimmte Konzepte wie das der ›Solidarität‹ und der ›Wissenschaftlichkeit‹ als besonders wirkmächtig in der Begründung dieser Neustrukturierung erwiesen. In diesem Artikel werde ich diese insbesondere mit Bezug auf drei miteinander verbundene Aspekte von gesellschaftlicher Störung und durch diese ausgelöste Folgestörungen beleuchten. Zunächst werde ich hierzu untersuchen, inwiefern die Fokussierung auf ›Solidarität‹ als Leitmotiv politischen Handelns und seiner Legitimation als Reaktion auf die Störung Covid-19 dominant wurde. Ich werde dann darauf eingehen, inwiefern eben diese Muster der politischen Reaktion ihrerseits zu Folgestörungen bzw. zu weiteren Brüchen in politischen Diskursen geführt haben. Dies lässt sich besonders gut nachvollziehen anhand unterschiedlicher Verständnisformen dessen, was ›Solidarität‹ bedeutet, welche Verhaltensweisen sie umschließen sollte und inwiefern hier Brüche innerhalb des Verständnisses von ›Solidarität‹ produziert und wahrgenommen werden. Die Analyse solcher Brüche zeigt letztlich auf, wie unterschiedlich Ursprung und Natur der grundlegenden Störung selbst gesellschaftlich verhandelt und begriffen werden. So haben sich gesellschaftliche Konfliktlinien entlang eben dieser Demarkationslinie entwickelt, auf deren Grundlage einerseits die Störung sowie die Notwendigkeit ihrer Behebung durch neue gesellschaftliche Strukturen und Kernkonzepte wie der ›Solidarität‹ als unmittelbarer Effekt der physischen Pandemie verstanden wurden. Auf der anderen Seite wurde dieses Verständnis von Störung oder Bruch selbst in Frage gestellt und erst die aus der Pandemie abgeleiteten politischen Reaktionen als die eigentliche Störung konstruiert. Im Kontext dieser Konflikte über die Natur der gesellschaftlichen Störungen haben sich weiterführende Konflikte der politischen Selbst- und Fremdidentifikation, insbesondere dessen,

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Hannah Broecker

was als politisch ›links‹ oder ›rechts‹ gilt, eingestellt. Auch dieses Feld der Aushandlung politischer Positionen und Definitionen kann in sich als eine Folgestörung verstanden werden. Ob und inwiefern hier auch eine Neujustierung von langfristigen politischen Allianzen stattfinden wird und in welcher Form sich eine neue Ordnung von politischen Identitäten einstellen wird, bleibt zu beobachten.

2.

Theoretischer Hintergrund – Störung und Bruch im Diskurs »Dislocations are made visible by processes or events that cannot be domesticated, symbolised or integrated within a particular institutional order«.1

Die Konzepte der Störung und des Bruchs oder der Dislokation in Diskursen weisen substantielle Überschneidungen auf. Während der Störfall als Unterbrechung der normalen Funktionsweise eines gesellschaftlichen Systems verstanden wird, bezieht sich das Konzept des diskursiven Bruches ebenfalls auf den Moment, an dem Diskurse nicht weiter in der bisher gewohnten Art und Weise Sinn generieren können bzw. die Logik, die sie herstellen, unterbrochen wird, weil deren handlungsleitende Funktion nicht mehr (vollständig) aufrechtzuerhalten ist. Ein Beispiel hierfür stellt die Finanzkrise 2007/8 dar. Diskurse, hier verstanden als Bedeutungssysteme, sprachliche und nicht-sprachliche Praktiken sowie Materialitäten (bzw. deren Bedeutungszuschreibung) können systemspezifisch sein oder aber auch über einzelne gesellschaftliche Teilsysteme hinausreichen. Die beiden theoretischen Herangehensweisen können von einer gegenseitigen Beleuchtung durchaus profitieren. So erlaubt uns die Analyse von Diskursen eine strukturierte Untersuchung der Grundmuster von Logiken und Bedeutungszuschreibungen, welche den kommunikativen Praktiken zugrunde liegen. Wir können sowohl den ›Störfaktor‹ als auch die Reaktionen und Versuche, zu einem (neuen) gesellschaftlichen Equilibrium zurückzukehren, so auf der Ebene der Sinngenerierung (und ihrer Brüche) untersuchen. Gleichzeitig verweist die Forschung zu Störfällen auf Luhmann’sche Systemtheorie und eröffnet so die Möglichkeit, Konflikte und Störungen nicht nur innerhalb sondern auch zwischen unterschiedlichen Teilsystemen zu untersuchen. Beide Ebenen sind von hoher Relevanz mit Bezug auf die Brüche und Folgebrüche, wie sie im Kontext der Covid-19 Pandemie entstanden sind. Ganz ähnlich, wie es im theoretischen Rahmen der Annahme des Störfalls geschieht, geht ein Teil der poststrukturalistischen Forschung davon aus, dass 1 Torfing zitiert in Panizza, Francisco/ Miorelli, Romina: Taking Discourse Seriously: Discursive Institutionalism and Post-Structuralist Discourse Theory. Political Studies 61, 2013 H. 2: S. 309.

Die Neuvermessung der politischen Landschaft

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sich genau an dieser Stelle des wahrgenommenen diskursiven Bruches die Möglichkeit der Entscheidung und damit des Hervortretens des Subjektes ergibt, welches bislang in diskursiven Strukturen gefangen war. »A dislocatory experience – such as for example an economic depression – may thus reveal the contingency of taken-for-granted social practices, highlighting the fact that the existing system represents only one way of organising social relations amongst others«.2

Selbstverständlich muss eine solche Annahme nicht nur für größere politische Zusammenhänge begriffen werden. Auch im Alltag sind Individuen eingebettet in unterschiedliche Diskurse, d. h. in unterschiedliche Sinnzusammenhänge, die bisweilen miteinander in Konkurrenz treten können. Auch hier ergeben sich Möglichkeiten für die Wahrnehmung von Strukturen und die Notwendigkeit ihrer Hinterfragung oder Eingrenzung – Möglichkeiten zu ›Entscheidungen‹ also – die nicht einzig über die Einbettung in soziale Systeme und ihre diskursiven Regeln gebunden sind. Diskurse strukturieren in dieser Lesart zwar innerhalb ihres Geltungsbereiches Zusammenhänge und Praktiken, sie können aber nie den gesamten diskursiven Raum, also den gesamten Raum der Deutungszuschreibung, beherrschen. So ergibt sich, schon in normalen Zeiten ein basales Konfliktpotential zwischen ihnen. Dieses Konfliktpotential, an der Schnittstelle zwischen diskursiver Struktur und subjektgebundener Handlungsfähigkeit, birgt gleichzeitig auch die Möglichkeit zu gesellschaftlichen Veränderungen und Lernprozessen. Brüche in Bezug auf die Situation, mit der umzugehen ist, destabilisieren die politische Ordnung und es wäre anzunehmen, dass dies vermehrt Konflikte der Aushandlung und Neujustierung nach sich zieht. Die Störungen, die im Kontext der Covid-19 Krise wahrgenommen werden, aber auch darauf aufbauende Folgestörungen sind eng an das Konzept der Sicherheit gebunden – es bestehen unterschiedliche, teils gegenläufige Sicherheitsbedenken, ja Ängste, die sich einem antagonistischen Ausgrenzen besonders andienen und ein agonistisches Aushandeln erschweren. Die Essex School der Diskursforschung zeigt, dass antagonistisch organisierte Diskurse häufig ein oder mehrere Kernkonzepte (leere Signifikanten) beinhalten, welche es vermögen, unterschiedliche Subjektpositionen in Äquivalenzketten zusammenzuführen und unter sich zu vereinen. Äquivalenzketten konstruieren unterschiedliche diskursive Objekte und Subjektpositionen als gleich mit

2 Glynos, Jason/ Howarth, David: Logics of Critical Explanation in Social and Political Theory. NY: Routledge 2007. S. 104, 129; Laclau, Ernesto: The Rhetorical Foundations of Society. London/New York: Verso 2014. S. 115; Laclau, Ernesto: Dislocation and capitalism, social imaginary and democratic revolution. In: Howarth, David (ed.): Ernesto Laclau – PostMarxism, populism and critique. Oxon/ NY: Routledge 1990, S. 30–66.

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Hannah Broecker

Bezug auf eine Qualität, welche sie eint und konstruieren diese so.3 So können bspw. ganz unterschiedliche Aspekte und Praktiken im Bereich der Wirtschaft, des politischen Systems, der privaten Interaktionen und weitere Aspekte als repräsentativ für die nationale Selbstbestimmung postkolonialer Staaten eintreten. Während es sich durchaus um unterschiedliche Wünsche, Hoffnungen und Ängste – also unterschiedliche politische Projekte – sowie um diverse konkrete Handlungsbereiche und Praktiken handelt, vermag es ein zentraler Begriff, etwa der ›nationalen Selbstbestimmung‹ oder der ›Entkolonialisierung‹, all diese Teilaspekte unter sich zu subsummieren, indem er deren Gleichheit in Bezug auf den zentralen Begriff konstruiert und gleichzeitig die Unterschiede zwischen den einzelnen Artikulationen des Begriffs verdeckt. Äquivalenzketten konstruieren also zentrale Kategorien der Analyse und des Zusammenhaltes von einzelnen Diskursen, wie bspw. Klasse, Gender, Ethnie, Demokratie aber auch Gesellschaft, Rationalität oder Entwicklung.4 Durch diesen Mechanismus können leere Signifikanten auch widersprüchliche oder sogar gegensätzliche diskursive Artikulationen enthalten. Laclau und Mouffe argumentieren, dass es diese Fähigkeit, eine wachsende Breite an Subjektpositionen in sich aufnehmen zu können, ist, welche ausschlaggebend für das Erstarken und die Entwicklung von hegemonialen Diskursen ist. Auch hegemoniale Diskurse sind jedoch begrenzt in ihrer Fähigkeit, Subjektpositionen zu beherbergen. Diskursen sind dort Grenzen gesetzt, wo Perspektiven, Wünsche oder Praktiken ihrer Kernlogik widersprechen. Ein postkolonialer Diskurs kann nicht Positionen aufnehmen, welche Kolonialverhältnisse verherrlicht. In ähnlicher Weise kann ein Diskurs, dessen ordnendes Element das Konzept der Gerechtigkeit ist, nicht die Aufhebung aller legalen Richtlinien beinhalten.5 Es sind diese Demarkationslinien, die einerseits die Trennung von anderen, inkompatiblen Diskursen und deren Logik bestimmen und andererseits die einem Diskurs innewohnende Logik beschreibbar machen und damit explizieren, nach welchen Regeln sich der Diskurs formiert und sich von anderen Diskursen abgrenzt.6 Im Falle der Covid-19 Krisendiskurse hat der Begriff ›Solidarität‹ eine zentrale Rolle sowohl im hegemonialen als auch in gegenhegemonialen Lagern einge3 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London/New York: Verso (2014 [1985]), S. 127; Herschinger, Eva. Constructing Global Enemies: Hegemony and Identity in International Discourses on Terrorism and Drug Prohibition. London: Routledge 2010, S. 22. 4 Siehe auch Laclau, Ernesto: The Rhetorical Foundations of Society. London/New York: Verso 2014, S. 20. 5 Ebd., S. 35. 6 Hierin schließt das Konzept der Äquivalenzen an Foucaults Konzept der »regularity in dispersion« an. Siehe Foucault, Michel. Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994 [1973], S. 41, 35–47; Laclau/ Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy (2014 [1985]), S. 91f.

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nommen. Insbesondere im hegemonialen Diskurs werden unterschiedliche Praktiken unter dieses Konzept subsummiert, wodurch es selbst seine spezifische Bedeutung erlangt. Es ist zu beobachten, dass das Konzept der Solidarität für bestimmte diskursive Wege steht, der jeweiligen Krisensituation einen Sinn zu geben und sich auf sie zu beziehen bzw. mit ihr umzugehen. Es beinhaltet die Konstruktion einer Einheit zwischen denjenigen diskursiven Positionen, Identitäten und Praktiken, die sich um ihn scharen und die in Bezug auf ihre Perspektive auf die Krise als gleich konstruiert werden. Mit dem Ausbruch der Covid-19-Krise ist der Begriff der Solidarität aus seinem Nischendasein herausgetreten und hat einen neuen Stellenwert gewonnen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf seine Repräsentation in den westlichen Demokratien, insbesondere in Deutschland, in dessen öffentlichem Diskurs der Begriff inzwischen eine wichtige Rolle spielt. Ich argumentiere, dass der Begriff der Solidarität tatsächlich den Status einer Trennlinie zwischen hegemonialen und gegenhegemonialen Diskursen rund um die aktuelle Covid-19-Krisensituation erlangt hat. Dazu werde ich die mit dem Begriff verbundenen Bedeutungspraktiken aus der Perspektive des hegemonialen Diskurses analysieren, der Solidarität weitgehend mit der Einhaltung von Gesundheitsmaßnahmen im Zusammenhang mit Covid-19 gleichsetzt, und diese Lesart mit Interpretationen kontrastieren, die von gegenhegemonialen Diskursen angeboten werden, welche sich auf das konzentrieren, was sie als Verwerfungen innerhalb dieses hegemonialen Diskurses darstellen. Über diesen Zugang lassen sich verschiedene Diskurse der gegenwärtigen Krise unterscheiden, und es wird sichtbar, entlang welcher Trennlinien diese besonders deutlich geworden sind. Der Fokus liegt dabei auf den Gruppenzugehörigkeiten, diskursiven Grenzziehungen und politischen Kämpfen, die sich zwischen den verschiedenen Diskursen abzeichnen. Die Analyse beider Seiten einer antagonistischen Grenze weist uns auf diskursive Brüche und Verwerfungen innerhalb der Logik hin, die sich in bestimmten Diskursen herausbildet, und ermöglicht dadurch kritische Reflexionen des jeweiligen Diskurses. Dieser Text ist auch mit der Hoffnung verbunden, dass die theoretische und empirische Auseinandersetzung mit diesen Konflikten dazu beitragen kann, das antagonistische Potential in ein agonistisches zu überführen7 und so die grundsätzliche Rückbesinnung auf gemeinsame demokratische Verfahren der Konfliktaushandlung und -bewältigung zu befördern – als politische Gegner, nicht als Feinde.

7 Mouffe, Chantal: Agonistics – Thinking the World Politically. London: Verso 2013, S. xii.

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3.

Hannah Broecker

›Solidarität‹ als Reaktion auf gesellschaftliche Störung

Um sowohl die Erstarkung als auch die veränderte Nutzung des Begriffs Solidarität einordnen zu können, sind zunächst einige Hintergründe zu Bedeutung und bisheriger Relevanz des Begriffs nötig. Bei einer solchen Analyse des Konzeptgebrauchs wird deutlich, dass sich nicht nur das Bedeutungsspektrum und die politische Wirkmächtigkeit des Begriffes als Reaktion auf die Pandemie verändert haben, sondern dass dieser Wandel gleichzeitig auch zu werten ist als ein Eingeständnis der Unzulänglichkeit bisheriger gesellschaftlicher Normen angesichts der aktuellen Herausforderungen. Hier werden zentrale Normen und Werte der bisher hegemonialen Organisation des politischen und ökonomischen Miteinander in Frage gestellt und als nicht mehr angemessen und fähig begriffen, die Störung zu bewältigen. Es kommt also – zumindest auf der Ebene explizierter Normen – zu einer Neuvermessung des Sozialen. Der Begriff der Solidarität geht auf das römische Zivilrecht zurück. Solidus bedeutet dicht oder fest. Daraus abgeleitet bezeichnete der römische Rechtsbegriff obligation in solidum »eine Verpflichtung für das Ganze, genossenschaftliche Haftung, gemeinsame Schuld und Solidaritätspflicht … Einer für alle, alle für einen« –

eine Bedeutung, die auch von der französischen Rechtswissenschaft übernommen wurde.8 Diese Wurzeln verweisen weiter auf eine Verwendung des Begriffs in verschiedenen sozialen Kontexten. Butler und Snaith argumentieren, dass »die klassische Definition von Solidarität eine Bindung in irgendeiner Form an andere Lebewesen innerhalb einer Gruppe – oft solche mit ähnlichen Merkmalen – ist«, welche durchaus verschiedene Formen annehmen kann: »Sie umfasst Pflichten gegenüber anderen innerhalb einer ähnlichen Gruppe, Vorstellungen davon, dass die Gruppe gemeinsame Ziele anstrebt, sowie ein Mittel zur Förderung des Zusammenhalts und zur Ermöglichung von Vertrauen«.9

8 Brunkhorst, Hauke: Democratic Solidarity between Global Crisis and Cosmopolitan Hope. In: Transnational Solidarity – Concept, Challenges and Opportunities. Hrsg. von Helle Krunke, Hanne Petersen, Ian Manners. Cambridge, UK. Cambridge University Press 2020, S. 43; Liedman, Sven-Eric: Solidarity. A Short History from the Concept’s Beginnings to the Present Situation. In: Transnational Solidarity – Concept, Challenges and Opportunities. Hrsg. von Helle Krunke, Hanne Petersen, Ian Manners. Cambridge, UK. Cambridge University Press 2020, S. 11. 9 Butler, Graham/ Snaith, Holly: Negative Solidarity: The European Union and the Financial Crisis. In: Transnational Solidarity – Concept, Challenges and Opportunities. Hrsg. von Helle Krunke, Hanne Petersen, Ian Manners. Cambridge, UK. Cambridge University Press 2020, S. 130.

Die Neuvermessung der politischen Landschaft

3.1.

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Zur Begriffsbedeutung von ›Solidarität‹

Dominant wurde der Begriff der Solidarität vor allem in klassenbasierten Kämpfen von marxistischen Kräften übernommen, darunter während der europäischen Revolutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch während der ersten Arbeiterinternationale (1864), die sich in ihren Regeln auf die »Solidarität unter den Arbeitern verschiedener Berufe in allen Ländern« berief, und später die polnische Arbeiterbewegung, die sich mit direktem Bezug auf dieses Konzept, Solidarnos´c´ nannte.10 Folglich wurde die Solidarität im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Konzept der Gegenseitigkeit und des Zusammenstehens gegen kapitalistische Ausbeutung und zu einem Wert linker Bestrebungen zur Errichtung von Gesellschaften, die sich an den Grundsätzen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gleichheit orientieren – hier als emanzipatorische Ansätze verstanden. Damit symbolisiert sie den Zusammenhalt und die gemeinsame Verantwortung all derer, die sich als Leidtragende eines ähnlichen Schicksals verstehen. Das Konzept wird weiter regelmäßig mit Inklusion assoziiert: Inklusion derjenigen, die unsere Solidarität brauchen – mit den Unterlegenen, den sozial Ausgegrenzten und den Schwachen. In diesem Sinne ist der Begriff der Solidarität als Ausdruck der Bestrebung zu Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder eng mit der Entwicklung und dem Verständnis der modernen Demokratie und insbesondere mit dem Begriff des Wohlfahrtsstaates verknüpft.11 Jeder Begriff ist aber auch definitorisch exklusiv, d. h. er muss ein Außen haben, Aspekte, die ihn nicht kennzeichnen, die von ihm ausgeschlossen werden. In dieser Hinsicht haben wir es mit einem besonders interessanten Konzept zu tun, das in sich potentielle Widersprüche aufweist, die jeder tatsächlichen Anwendung vorausgehen. So trägt der Begriff ebenfalls eine latente Geschichte von Ausschlüssen aus bestimmten Gruppen mit sich, bezogen auf Situationen, Praktiken oder Subjektpositionen, gegen die Solidarität als notwendig erachtet wurde. Im Kontext marxistischer und weiter gefasster »linker« Traditionen ist beispielsweise sofort ersichtlich, dass sich das Konzept der Solidarität nicht auf alle Personen und Gruppen und auch nicht auf alle Fragen erstrecken kann. Das Konzept selbst bildet Inklusionen und Exklusionen und mit dem thematischen Fokus auch Diskurse und Praxisformen, die einerseits vom Erhalt der Solidarität ausgeschlossen sind und andererseits schlicht nicht als solidarisch gelten.

10 Liedman, Sven-Eric: Solidarity. A Short History from the Concept’s Beginnings to the Present Situation. 2020, S 13, 14. 11 Brunkhorst, Hauke: Democratic Solidarity between Global Crisis and Cosmopolitan Hope. 2020, S. 45.

160 3.2.

Hannah Broecker

Der Niedergang des Konzepts der (umverteilenden) Solidarität im Kontext des Neoliberalismus

Solidarität – sowohl in Bezug auf die Verwendung des Konzepts selbst als auch auf die mit dem Mitgefühl für politisch, wirtschaftlich oder sozial schwächere Mitglieder der Gesellschaft verbundenen Praktiken – war in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht als zentraler Bestandteil der öffentlichen Politik oder des öffentlichen Diskurses westlicher Demokratien zu verzeichnen. Beide Formen der Nutzung sind seit den 1980er Jahren deutlich und explizit im Niedergang begriffen. Neoliberale Maßstäbe, wie sie von Reagan, Thatcher und Kohl ausgerufen wurden, traten in den Vordergrund des politischen und wirtschaftlichen Lebens. Konzeptuelle Neuschöpfungen wie die »marktkonforme Demokratie« beschreiben nicht nur eine Begrenzung des akzeptablen Spektrum von Debatten über demokratische Grundsätze, sondern wurden auch zu Leitlinien und Kernelementen der Entwicklungen in der politischen Praxis.12 Das so charakterisierte neoliberale Denken hat zu einer deutlichen Verschiebung in der Konzeptualisierung der öffentlichen Umverteilungssolidarität in westlichen Wohlfahrtsstaaten geführt. Francis Fukuyamas Proklamation des »Endes der Geschichte«, die mit dem Fall der Sowjetunion und dem für ihn damit verbundenen endgültigen Sieg des Kapitalismus einherging, repräsentiert ebendiese Entwicklung.13 Konkret bedeuteten die neoliberalen Reformen der westlichen Gesellschaften eine Verschiebung der Mentalität hin zu einer Orientierung am Eigeninteresse und der Verherrlichung des Wettbewerbs zwischen Individuen auf einem ostentativ »freien« Markt. Kämpfe um Solidarität wurden dagegen zunehmend an den politischen Rand gedrängt. Während zentrale Praktiken der Solidarität durch die Idee des Wohlfahrtsstaates aufrechterhalten wurden, wurde auch dieser in den letzten Jahrzehnten durch die Privatisierung ehemals öffentlicher Güter und Dienstleistungen demontiert – sowohl in Deutschland als auch in anderen westlichen demokratischen Staaten. Beispiele für diesen Abbau sind die Reformen im Bereich der Arbeitslosenversicherung sowie die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen in den Bereichen der Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung und einer Entsolidarisierung des Krankenversicherungssystems sowie ehemals öffentlicher Pensionsfonds in Westeuropa, Großbritannien und den USA (mit unterschiedlichen Schwerpunkten). In ähnlicher Weise war der Begriff der Solidarität im herrschenden öffentlichen Diskurs in Bereichen wie Armut von Kindern und pensionierten Menschen oder der Vertretung von Ar12 Eisenmann, Barbara: Ein Feature über den Neoliberalismus und die Krise. In: Bayerischer Rundfunk vom 20. 6. 2018. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 13 Fukuyama, Francis: The End of History? In: The National Interest, 16, 1989, S. 3–18.

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beitnehmerinteressen weder in den USA noch im europäischen Raum dominant vertreten. Nicht zuletzt hat die Privatisierung und der Abbau des Solidaritätsprinzips in europäischen Gesundheitssystemen Einzug gehalten, wobei die Unterfinanzierung und Privatisierung zahlreicher Krankenhäuser den Schwerpunkt dieser Einrichtungen von der solidarischen öffentlichen Gesundheit auf den Gewinn privater Einrichtungen verlagert hat. In diesem Prozess werden die Beschäftigten im Gesundheitswesen dem gleichen Druck des Marktes ausgesetzt wie dies in anderen Berufen der Fall ist.14 Ähnliche Muster konnten ebenfalls nach der Finanzkrise 2007/08 beobachtet werden. Obwohl diese in erster Linie auf die Deregulierung der Finanzmärkte und die daraus resultierende Immobilienblase sowie – in geringerem Maße und ausgelöst durch Kapitalflucht nach Ausbruch der Krise – auf eine Staatsschuldenkrise zurückzuführen war, verhandelte sowohl der hegemoniale öffentliche Diskurs als auch die institutionalisierte europäische Politik in erster Linie die Stabilisierung des bestehenden Finanzsystems und der Währungen.15 Da die meisten Banken als »systemrelevant« und »too big to fail« eingestuft wurden, retteten die Staaten die große Mehrheit der Banken, indem sie die Verantwortung für die »Bad Banks« – die notleidenden Kreditanteile von Banken – übernahmen. Einige kritische Kommentatoren sprachen in diesem Kontext von einer Sozialisierung der Kosten bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne.16 Insbesondere in den Ländern des europäischen Südens mit einer höheren Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP, wie z. B. in Griechenland, hat die daraus resultierende Austeritätspolitik zu weiteren Verlusten an solidarischen öffentlichen Dienstleistungen sowie zu einem erheblichen Anstieg des Armutsniveaus und einem Rückgang des Gesundheitsniveaus und der Lebenserwartung geführt.17 Der vorherrschende Diskurs und die EU-Politik waren jedoch nicht auf 14 Gatermann, Reiner: Privatisierung im Gesundheitswesen. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2000. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Hontschik, Bernd: Privatisierung des Gesundheitswesens. Das Märchen von den teuren Alten. In: taz vom 04. 11.2018. (letzter Zugriff: 23.05. 2022). 15 Neergard, Ulla: Solidarity and the Economic and Monetary Union in Times of Economic Crisis. In: Transnational Solidarity – Concept, Challenges and Opportunities. Hrsg. von Helle Krunke, Hanne Petersen, Ian Manners. Cambridge, UK. Cambridge University Press 2020, S. 116ff.; Butler, Graham/ Snaith, Holly: Negative Solidarity, 2020 S. 129ff. 16 Hank, Reiner/Von Petersdorff, Winand: Gewinne privatisieren, Verluste Sozialisieren. Wie wir lernten, die Banken zu hassen. In: Frankfurter Allgemeine vom 22. 12. 2013. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 17 Politaki, Alex: Greece is facing a humanitarian crisis. In: The Guardian vom 11. 02. 2013 (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Rowling, Megan. Is a humanitarian crisis emerging in Sou-

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eine substanzielle Form der Solidarität mit den Opfern ausgerichtet, die sich daraus ergab.18 Grundlegende Regulierungen und Reformen innerhalb des Finanzmarktes blieben jedoch aus. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Konzept der Solidarität in der hier beschriebenen Phase weitgehend aus dem vorherrschenden öffentlichen Diskurs verbannt wurde.

3.3.

Aufwertung und Transformation des Solidaritätsbegriffs während der Covid-19-Krise

Der Begriff der Solidarität hat sich zu einem Kernbestandteil nicht nur des hegemonialen Diskurses, sondern auch der gegenhegemonialen Diskurse um die politischen Entscheidungen im Rahmen der Covid-19-Krise entwickelt. Innerhalb der Besonderheiten des Covid-19-Krisendiskurses wurde der Begriff der Solidarität in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, zunächst auf die Unterstützung von medizinischem Personal bezogen. Praktiken wie das abendliche Applaudieren für das Pflegepersonal etablierten sich zu Beginn der Pandemie für kurze Zeit. Angelehnte Praktiken beinhalteten etwa das gemeinsame Singen im gleichen Kontext – als Versuch der Kontaktaufnahme und als Ausdruck einer geeinten Haltung während des ersten Lockdowns. Mit dem Fortschreiten der Krise wurden Praktiken der sozialen Distanzierung, des Maskentragens und mehr oder weniger umfassende sozioökonomische Abriegelungen in das Konzept der Solidarität aufgenommen. In diesem Zusammenhang lässt sich eine erste Verschiebung innerhalb des Konzepts entdecken, da Solidarität bis zum Ausbruch der Krise traditionell mit Nähe, Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit assoziiert wurde. Es ist also festzustellen, dass sich die Bedeutung des Begriffs hier stark gewandelt hat und mit einer Reihe neuartiger Praktiken verbunden ist.19 Mit der Verfügbarkeit von Impfstoffen wurde es auch auf deren kritiklose Akzeptanz und die Bereitschaft zum Empfang der Impfung ausgedehnt. Auf diese Weise sollten Infektionen und eine Überlastung des Krankenhaussystems, thern Europe? Reuters vom 23. 05. 2012. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 18 Stiglitz, Joseph: The Euro and its Threat to the Future of Europe – How a Common Currency Threatens the Future of Europe. W.W. Norton & Company 2016, S. 22–31; Liedman, A Short History from the Concept’s Beginning to the Present Situation. In: Krunke/Petersen/Manners, Transnational Solidarity 2020, S. 18. 19 Siehe auch Bonacker, Thorsten: Solidarität als Sicherheitsformel. In: Soziopolis 2020, Reihe: Sicherheit in der Krise. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

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insbesondere der zur Verfügung stehenden Intensivbetten, vermieden werden. Die Logik und das Verständnis von Solidarität, welches über diese Praktiken zum Ausdruck gebracht werden, beziehen sich also auf den Schutz gesundheitlich schwacher Personen innerhalb der Gemeinschaft sowie auf die gesamtgesellschaftliche Funktionsfähigkeit.20 Der Begriff der Solidarität umfasst nun also ein Konglomerat unterschiedlicher Praktiken, die ihrerseits spezifische Formen des Krisenverständnisses, darauf abgestimmte Lösungsvorschläge und die Konstruktion bestimmter Diskurskoalitionen voraussetzen. Grundlegende Konzepte wie Wettbewerb und Individualisierung von Risiken und Verantwortung werden in diesem Zuge also zumindest indirekt in Frage gestellt und als unzureichend für die Bewältigung des gesellschaftlichen Störfalls konstruiert. In diesem Zusammenhang hat der Begriff der Solidarität die Funktion erhalten, die diskursive Logik des hegemonialen Diskurses zu definieren und zu repräsentieren und die Grenzen zu seinem konstitutiven Außen abzustecken. Diese Abgrenzungsleistung erstreckt sich neben der Gefahreneinschätzung der Pandemie und den Formen des Umgangs mit ihr auch auf Identitätszuschreibungen – die Definition von Selbst und Anderem. Ein frühes Beispiel für diesen Prozess der Ein- und Ausgrenzung bietet eine öffentliche Plakatkampagne der Berliner Verwaltung, die uns eine ältere Frau zeigt, die den Mittelfinger zu den Menschen erhebt, die keine Gesichtsmasken tragen.21 Darüber hinaus fand eine Fülle von Darstellungen, darunter (soziale) Medien-Memes und Theaterstücke, aber auch filmische Darstellungen in öffentlich-rechtlichen Medien statt,22 die teilweise ironisch, bisweilen aber auch explizit und unter Darstellung von aggressivem Verhalten, abzulehnende Identitäten konstruieren und auf eine diskursive Kluft hindeuten. In enger konzeptioneller Verbindung zur Solidarität bildete sich auch die Vorstellung vom verantwortungsvollen Subjekt, welches im Einklang mit den vorgeschriebenen Maßnahmen handelt, heraus. Dies unterstreicht die Demarkationslinie von Einschluss und Ausschluss in den Bereich der gesellschaftlichen 20 Dieses Solidaritätsverständnis bringt beispielsweise Emilia Fester in ihrem Beitrag zur Impfpflichtdebatte am 17.03. 2022 im Deutschen Bundestag zum Ausdruck. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 21 Matthies, Bernd: Berliner Senat stoppt umstrittene Mittelfingerkampagne. In: Der Tagesspiegel online vom 14. 10. 2020. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 22 Impfgegner im Mittelalter – Zum Glück leben wir nicht mehr im Mittelalter. In: ZDF Produktion, Funk vom 25. 06. 2020. (letzter Zugriff 23–05.2022); Coronaworld. Das Game zur Krise. In: ZDF-Produktion, Funk vom 11. 05. 2020. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

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Akzeptanz. Diese soziale Konstruktion findet ihre Entsprechung in der physischen Ein- und Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben entlang der Trennlinie der Einhaltung von Maßnahmen. Während Personen, die nicht gegen Covid-19 geimpft sind, in mehreren demokratischen westlichen Gesellschaften über längere Phasen von Aspekten des sozialen und kulturellen Lebens ausgeschlossen wurden, gilt dies in unterschiedlichem Maße auch für das Wirtschaftsleben.23 In der Tat hat sich die Frage der Impfung im Kontrast zur Impfverweigerung zu einem Kernaspekt der Solidarität im Krisendiskurs sowohl in Deutschland als auch international entwickelt. Die Praktiken, die als Ausdruck von Solidarität konstruiert werden, insbesondere die Covid-19-Impfung, werden bei ihrem Ausbleiben auch gleichzeitig als Bedrohung der kollektiven Gesundheit konstruiert.24 Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärztebundes, hat darüber hinaus den Begriff der »Tyrannei der Ungeimpften« in den öffentlichen Diskurs eingeführt und die Metaphern von Krieg und Terrorismus weiter ausgedehnt, indem er sie nicht nur auf das Virus selbst, wie bereits in früheren Phasen der Krise, sondern darüber hinaus auch auf Personen und Praktiken richtete.25 Praktiken, die im Sinne des Schutzes von gesundheitlich schwachen Gesellschaftsmitgliedern sowie des Schutzes der Gemeinschaft insgesamt konstruiert wurden, wurden teilweise durch das ausdrückliche Außerkraftsetzen verfassungsmäßig garantierter Rechte durchgeführt.26 In ähnlicher Weise haben etliche private Medienunternehmen und öffentliche Einrichtungen die Verbreitung von »Fehlinformationen«, die sich im Wesentlichen durch ihre kritische Haltung gegenüber dem hegemonialen Krisendiskurs auszeichnet, als gefährlich eingestuft. Mehrere Online-Nachrichtenplattformen wurden von den Aufsichtsbehörden verschiedener Bundesländer aus ähnlichen Gründen tatsächlich mit der

23 Für einen internationalen Überblick siehe Szymanski, Adam: The Scapegoating of the unvaccinated. In: Institut für kritische Gesellschaftsforschung 1, 2022, H. 1. 24 Frühauf, Sarah: Serie: Die Meinung von Sarah Frühauf. Tagesthemen, ARD/MDR vom 19. 11. 2021. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Charlton-Dailey, Rachel (2021) Unvaccinated People are not oppressed, they are dangerous. In: Very Well Health vom 30. 11. 2021. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 25 Menke, Frank: Tyrannei der Ungeimpften – Der Umgangston eskaliert. In: WDR online vom 08. 11. 2021. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 26 Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. (letzter Zugriff: 23.05. 2022); Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Grundgesetz und Grundrechte in Zeiten der Corona- Pandemie. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

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Schließung bedroht.27 An diesem Punkt werden sowohl Verhaltensweisen als auch Informationen oder Meinungen, die nicht mit dem neuen Solidaritätsverständnis übereinstimmen, als gefährlich – also der Gemeinschaft entgegengesetzt – eingestuft und somit von dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Während Solidarität einerseits mit der Einhaltung verschiedener Praktiken verbunden wurde, wurden die als Ausdruck von Solidarität angesehenen Praktiken gleichzeitig als Repräsentanten der Vernunft und der Wissenschaftlichkeit selbst definiert, wie es in der oft wiederholten Aufforderung »trust science« zum Ausdruck kommt. Personen und Subjektpositionen, die die Maßnahmen nicht einhalten oder kritisieren, wurden dagegen regelmäßig als irrationale »Wissenschaftsleugner«, »Anti-Vaxxer«, »Verschwörungstheoretiker« und in Folge der Äußerungen von SPD-Vorsitzenden, Sakia Esken als »Covidioten« bezeichnet.28 Der hegemoniale Diskurs bringt in dieser Form den eigenen Anspruch zum Ausdruck, eine Position der ultimativen Rationalität zu repräsentieren – eine diskursiver Zug, der im Wesentlichen die eigene Position als dem demokratischen Verfahren der Debatte übergeordnet einfordert.29 Der normative Wandel hin zur Solidarität stellt also zunächst eine Reaktion auf eine Störung innerhalb des bisherigen politisch-gesellschaftlichen Geflechtes dar, welches in seiner bisherigen Form der neuen Situation nicht mehr gerecht werden zu können scheint. Bisher dominante politische Organisationsprinzipien werden hier indirekt in Frage gestellt.

27 Youtube: Covid-19 medical disinformation policy, 2022. (letzter Zugriff: 15. 03. 2022); twitter. Covid-19 misleading information policy, 2021. (letzter Zugriff: 15. 03. 2022); see also: Trusted News Initiative. Facing the Information Apocalypse. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Gräser, Tilo: Neue Zensurbehörde? Medienaufseher gehen gegen unabhängige Online-Medien vor. In: Multipolar vom 22. Februar 2021. (letzter Zugriff: 25. 04. 2022); Schreyer, Paul. Oppositionsmedien unter Feuer. In: Multipolar vom 29. 05.2021. (letzter Zugriff: 15. 04. 2022); Meyen, Michael: Vielfalt in Gefahr. In: Der Freitag vom 15. 07. 2021. (letzter Zugriff: 15. 04. 2022). 28 Nicoletta, Gerardo Costabile: A reversal image of the responsible subject. Chronicles from the Italian mainstream media outlets representations of the ›No Vax‹. In Crisis Discourse 2022 (Im Entstehen); AFP/Reuters. Esken darf Demonstranten »Covidioten« nennen. In: Spiegel online vom 02. 09. 2020 (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 29 Mouffe, Chantal: The Democratic Paradox, London, Verso, 2005, S. 5.

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Folgestörungen – Gegenhegemoniale Diskurse – Darstellung von Verwerfungen im hegemonialen Diskurs

Während das Konzept der Solidarität im hegemonialen Diskurs stark an Bedeutung zugenommen hat, stehen eben dieses Konzept und die darauf gestützten politischen Maßnahmen im Fokus der Kritik verschiedener gegenhegemonialer Diskursströmungen. Im Zusammenhang mit seinem gestiegenen diskursiven Stellenwert lassen sich grundlegende diskursive Kämpfe und Konflikte um das Konzept der Solidarität selbst beobachten. In der Analyse dieser Auseinandersetzungen wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um diskursive Kämpfe über ein einzelnes, losgelöstes Konzept im Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Störung handelt, sondern dass das Konzept vielmehr einen zentralen Platz in der Konstruktion der Art, Ursache und Handhabung der als existenziell bedrohlich eingestuften Störung innehat. Auch auf der gegenhegemonialen Seite des Spektrums sind bestimmte dominante Bedrohungswahrnehmungen zu beobachten. Diese sind vornehmlich mit Praktiken verbunden, die im hegemonialen Diskurs als solidarisch und notwendig gekennzeichnet werden. So beziehen sie sich dominant auf die technologische Beschaffenheit und Sicherheit der neuartigen Covid-19 Impfstoffe, sowie auf die Wahrnehmung der Aushöhlung demokratischer Verfahren von als zunehmend autoritär empfundenen Staaten sowie den erwarteten wirtschaftlichen Effekten der Maßnahmen.30 Die politischen Kämpfe um die Definition des Solidaritätsbegriffs waren in den Anfängen der gesellschaftlichen Krise recht ausgeprägt, während sich der Fokus im weiteren Verlauf stärker auf die im hegemonialen Diskurs mit der Solidarität verbundenen Einzelmaßnahmen verlagert hat. Das Solidaritätskonzept nimmt also bei der Konstruktion der eigentlichen Störung sowie den damit verbundenen Bedrohungswahrnehmungen den Platz eines diskursiven Zentrums ein, welches zum einen maßgeblich den Ein- und Ausschluss in den hegemonialen Diskursraum demarkiert und zum anderen sowohl auf der hegemonialen als auch im Spektrum der gegenhegemonialen Diskurse zu neuen Koalitionenbildungen führt. Im gegenhegemonialen Bereich lassen sich zwei grundsätzliche Lager feststellen. Ein erstes gegenhegemoniales Lager bringt den Bedeutungszuwachs des Solidaritätsbegriffs in Kombination mit der Einschränkung von Persönlichkeitsund Freiheitsrechten als Neuauflage von real gelebtem Kommunismus in Ver30 Reitschuster, Boris: Demokratie oder weitere DDRisierung: 2022 wird ein Jahr der Weichenstellung, vom 01. 01. 2022. (letzter Zugriff. 15. 04. 2022); Ehret, Mathew: Ottawa freedom Convoy tears down illusion of democracy in North America. In: OffGuardian vom 18. 02. 2022 (letzter Zugriff: 15. 04. 2022).

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bindung und lehnt beides grundlegend ab. Der Begriff der Solidarität wird hier dem Streben nach individueller Freiheit gegenübergestellt, das durch den kollektivistischen Begriff der ›Solidarität‹ als bedroht angesehen wird. Dieses Lager definiert sich selbst regelmäßig als politisch konservativ oder liberal. So thematisieren Christoph Lütge und Michael Esfeld eben dieses Spannungsverhältnis in ihrem Buch »Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen«. Zu prominenten Vertretern dieser Perspektive gehören beispielsweise Max Otte und Florian Homm im deutschsprachigen Raum sowie Tucker Carlson, Host einer politischen Nachrichtensendung auf dem U.S. amerikanischen Sender Fox News. Darüber hinaus lässt sich ein zweites, gegenhegemonial ausgerichtetes, politisches Lager identifizieren, welches insbesondere auf logische Brüche innerhalb der Normen und Praktiken des neuen Solidaritätsdiskurses hinweist. Viele der grundlegend kritischen Aspekte dieses Lagers beziehen sich zum einen auf logische Diskontinuitäten innerhalb des neuen Solidaritätskonzeptes und weisen zum anderen regelmäßig Aspekte klassisch-linker ökonomischer und gesellschaftlicher Kritik auf. Im Folgenden werde ich die Konfliktlinien zwischen dem hegemonialen und diesem zweiten Diskurslager skizzieren, welches seinerseits Brüche oder Verwerfungen innerhalb des hegemonialen Diskurses aufzeigt, indem auf Inkonsistenzen und/oder ausgeschlossene Elemente innerhalb des hegemonial verwendeten Solidaritätskonzepts hingewiesen wird. In Bezug auf die Covid-19-Impfungen wird in den gegenhegemonialen Diskursen vor allem darauf hingewiesen, dass die bestehenden Impfstoffe in ihrer bisherigen Funktionsweise – und nachdem bekannt wurde, dass sowohl die Ansteckung als auch die Übertragung des Virus dadurch nicht verhindert werden konnten – bestenfalls dem Selbstschutz und nicht dem Gemeinschaftsschutz dienten.31 Darüber hinaus hat sich der Fokus vor allem auf die dokumentierten und potenziellen Nebenwirkungen der Covid-19 Impfstoffe verlagert, die als Gefahren für die individuelle und kollektive Gesundheit konstruiert werden, im Gegensatz zu der Vorstellung, dass sie diesen Werten dienen und daher den Anspruch erheben, Praktiken der Solidarität zu repräsentieren.32 Was im hege31 Subramanian S.V./ Kumar, Akhil: Increases in Covid-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States. In: European Journal of Epidemiology, September, 2021. (letzter Zugriff: 15. 04. 2022); Singanayagam, A. et al.: Community transmission and viral load kinetics of the SARS-CoV2 delta (B.1.617.2) variant in vaccinated and unvaccinated individuals in the U.K. – a prospective, longitudinal cohort study. In: The Lancet vom 28. 10. 2021. (letzter Zugriff: 15. 04. 2022). 32 Bonath, Susan: Impfschäden: Wie die Tagesschau, eine Krankenkasse und die Bundesregierung gemeinsam ein Alarmsignal abwehren. In: Multipolar vom 15. 03. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

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monialen Diskurs als notwendige Solidarität verstanden wird, wird im Kontext gegenhegemonialer Diskurse überwiegend als Bedrohung dargestellt. Ein zweiter wichtiger Aspekt des gegenhegemonialen Diskurses ist das Argument zu beobachten, dass Maßnahmen wie Lockdowns extrem ungleiche wirtschaftliche Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen mit sich brachten. Gegenhegemoniale Diskurse haben sich auf die wirtschaftlich zerstörerischen Auswirkungen konzentriert, die Lockdowns und Öffnungseinschränkungen auf kleine und mittlere Unternehmen hatten, während sie gleichzeitig die Reichtumsungleichheit ausweiteten, indem sie die Gewinne etwa der Plattformökonomien, globaler Technologieunternehmen sowie der Pharmaindustrie und deren Großinvestoren zu Gute kam.33 Ähnliche Effekte werden auch im internationalen Vergleich immer wieder hervorgehoben. So wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass die Unterbrechung von Lieferketten als Folge von Lockdowns, Konsumverringerung und der Umsetzung restriktiverer Ein- und Ausfuhrbestimmungen des globalen Nordens wesentlich zur Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme in Teilen des globalen Südens beigetragen habe – einschließlich der Unterbrechung von Versorgungsketten für Lebensmittel und Medikamente, was zu etwa 400.000 zusätzlichen Todesfällen auf dem afrikanischen Kontinent geführt, etwa 100 Millionen Menschen weltweit zusätzlichen »in extreme Armut gedrängt«34 und 150 Millionen Kinder zusätzlich in die Armut gestürzt habe.35 Es wird weiter argumentiert, dass Hilfe für solche Zustände (die meist nicht als Effekte der Pandemiepolitik verstanden werden) zwar politisch debattiert, aber nicht mit dem gleichen Solidaritätsbegriff verbunden oder im Rahmen von Sicherheits- und Notfallmaßnahmen mit der gleichen Dringlichkeit 33 So kritisiert Strong neben dem politischen und medialen Einfluss der Pharmabranche auch einen Gewinn von US$37,5 Milliarden durch Covid Impfstoffe im Jahr 2021 alleine: Strong, Rebecca: Die Pharma-Allmacht. Der Einfluss der Pharmaindustrie auf Politik und Medien bewegt sich in nahezu unvollstellbaren Dimensionen. In: Rubikon vom 26. 04. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Albrecht, Wima Ruth. Biotechnologie, Staat und Kapital. Neuer, ungeheurer Weltmarkt. In: Telepolis 2021. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Kollewe, Julia: Pfizer accused of pandemic profiteering as profits double. In: The Guardian vom 08. 02. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 34 Waschinski, Gregor: Hunger, Armut, vernachlässigte Gesundheitsvorsorge. Die Kollateralschäden der Coronabekämpfung. In: Handelsblatt 17. 09. 2020. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); World Bank. Annual Report. From Crisis to Green, resilient and inclusive recovery. 2021, S. 3 (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 35 Riegel, Tobias: Globale Corona-Politik: Das Gegenteil von »Schutz« und »Solidarität«. In: Nachdenkseiten vom 20. 11. 2020. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

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gehandelt werde. Als dritter Kritikpunkt im Bereich der wirtschaftlichen Umverteilung wird das Argument benannt, dass das Bestreben, die Zahl der Krankenhausaufenthalte auf ein Minimum zu beschränken, nur als Folge der Privatisierung und des Kapazitätsabbaus im öffentlichen Gesundheitswesens und des Abbaus einer auf dem Solidaritätsprinzip basierenden öffentlichen Politik notwendig geworden sei. Das Kapazitätsdefizit solle durch den Aufbau von Krankenhauskapazitäten gemildert werden, anstatt Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, bestehende Krankenhauskapazitäten nicht zu überlasten. Schließlich haben gegenhegemoniale Diskurse mit Bezug auf Einschränkungen für Kinder und Jugendliche die extrem ungleich verteilten negativen Auswirkungen jener Praktiken kritisiert, die im hegemonialen Diskurs als solidarisch angesehen werden. In diesem Kontext wird darauf hingewiesen, dass diese in Bezug auf ihre psychische Entwicklung sowie ihre psychische und physische Gesundheit und Sicherheit in erheblichem Maße unter den Maßnahmen gelitten haben – das gilt insbesondere, aber nicht ausschließlich, für Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien.36 Solche Aspekte, so wird argumentiert, werden aus dem hegemonialen Diskurs über Solidarität ausgeklammert. In diesem zweiten Lager werden also insbesondere Brüche, die sich durch das limitierte Anwendungsspektrum des hegemonialen Solidaritätsdiskurses ergeben, kritisiert. Dies gilt sowohl für die Themenbereiche und politischen Folgen, die in das Solidaritätsverständnis einbezogen werden, als auch für die fehlende Berücksichtigung von Praktiken der Solidarität, die mit privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung einhergehen. Diese Art der Kritik bezieht sich interessanterweise nicht ausschließlich auf neue Praktiken, sondern schließt die vorbestehende ökonomische Kritik am Fortbestehen und Erstarken neoliberaler Praktiken mit ein. Dieser kurze Einblick in den politischen Diskurs demonstriert, dass die Trennlinien zwischen hegemonialem und gegenhegemonialen Diskurslagern – ausgedrückt im Konzept der Solidarität – ein antagonistisches Verhältnis entwickelt haben, in dem das jeweils andere Diskurslager eine diskursive Logik repräsentiert, die der eigenen grundsätzlich entgegensteht. Im deutschen Kontext haben mehrere große Nachrichtenagenturen in einzelnen Fällen sogar für eine explizite und aktive Spaltung der Gesellschaft in diese Lager plädiert.37 36 Hutter, Ralph: Maskenpflicht. Gesundheitsschäden für Kinder werden weiter ignoriert. In: Multipolar vom 15. 03. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Schubert, Christian: Die Maßnahmen töten mehr Menschen als Covid-19. In: Multipolar vom 06.03. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 37 Klute, Hilmar: November des Zorns. Ein Kommentar von Hilmar Klute. In: Süddeutsche Zeitung online vom 21. 11. 2021. (letzter Zugriff: 15. 04. 2022); Stöcker, Christian: Vergesst den ›Zusammenhalt‹. In: Spiegel online vom 21. 11. 2021. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Vooren, Christian: Die Gesellschaft muss sich spalten. Zeit online. 19. 11. 2021. (letzter Zugriff: 23.05. 2022). 38 Exemplarisch: Bundeszentrale für Politische Bildung. Die Corona-Krise und ihre Folgen. 11. 05. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022); Heim, Manuela: Folgen der Pandemie – unsichtbar im Homeoffice. In: taz vom 17. 05. 2022. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022). 39 Neuber, Harald: Folgen der Pandemie-Politik für Kinder im Visier. In: Telepolis vom 16. 09. 2021. (letzter Zugriff: 23. 05. 2022).

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heitswerten, welche er bislang eher mit liberalen als mit linken politischen Ausrichtungen assoziiert hatte.

4.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Konzept der »Solidarität« von einem marginalen Konzept in der politischen Debatte vor dem Covid-19-Krisendiskurs zu einem zentralen und strukturierenden Element sowohl des hegemonialen als auch von gegenhegemonialen Diskursen geworden ist. Letztere kritisieren die Praktiken, die in diesem Kontext unter dem Konzept subsummiert und durch dieses legitimiert wurden. Über die grundlegende Zustimmung bzw. Ablehnung der mit ihm verbundenen politischen Maßnahmen und der Definition der eigentlichen gesellschaftlichen Störung, demarkiert das Verständnis von »Solidarität« auch Zugehörigkeit zu und Exklusion aus dem hegemonialen Diskurs.

José Fernández Pérez

Zur Stigmatisierung einer Lebensphase – Eine gestörte Adoleszenz unter Corona-Bedingungen und ihre Auswirkungen auf den jugendkulturellen Raum

1.

Einleitung

Corona ist mittlerweile aus dem Alltag nicht wegzudenken. Michael Volkmer und Karin Werner sprechen von »De-Normalisierungen der Gesellschaftsordnung«.1 Politiker bedienen sich einer gewissen kriegerischen Rhetorik, um ihren Appellen Nachdruck zu verleihen. Von Krisenverlierern ist häufig die Rede, auch vor der Gefahr der Spaltung der Gesellschaft wird gewarnt.2 Über eine Gruppe wurde lange Zeit jedoch vergleichsweise wenig gesprochen, und wenn über sie gesprochen wurde, dann häufig mit heftigen Vorwürfen und ohne hinreichendes Verständnis für ihr Verhalten. Es geht um Jugendliche oder junge Erwachsene. Man hat ihnen Sorglosigkeit vorgehalten, wenn sie trotz Corona feiern wollten. Von Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Unsolidarität und asoziales Verhalten war die Rede.3

1 Volkmer, Michael/Werner, Karin (Hg.): Vorwort. Über Corona schreiben? – Das »Making-of« dieses Buches. In: Dies.: Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: transcript Verlag 2020, S. 11–141, hier: S. 13. 2 Vgl. Schnetzer, Simon/ Hurrelmann, Klaus: Jugend und Corona in Deutschland – die junge Generation am Ende ihrer Geduld (Sommer 2021). Eine Sonderveröffentlichung der Studie junge Deutsche. Datajockey Verlag, Kempten 2021, S. 7. 3 Jugendliche haben den Eindruck, dass in den Medien ein negatives Bild von jungen Menschen gezeichnet wird und dass ihnen von Politikern keine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird (vgl. JuCo II 2021, S. 18). Die Ergebnisse der Studie »Junge Deutsche 2021« offenbaren ein verantwortungsvolles, solidarisches und rücksichtsvolles Verhalten der Jugendlichen und widerlegen diesen negativen Eindruck, den die Leitmedien verbreiten. Für eine pauschale Beschuldigung der Heranwachsenden gibt es nach der Studie keine Berechtigung, denn es besteht von Beginn der Krise bis zum Sommer 2021 »nach wie vor [eine] hohe Bereitschaft der überwiegenden Mehrheit der befragten 14- bis 29-Jährigen sich an die AHARegeln zu halten« und aus Solidarität auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. (Schnetzer/ Hurrelmann, Jugend und Corona in Deutschland. 2021, S. 24). Michael Meyen verweist zutreffend in diesem Kontext auf die Funktion der Massenmedien, um das »Gedächtnis« der Gesellschaft zu erzeugen, und ihr Diskreditierungspotential (vgl. in diesem Band Meyen, Michael: Das System der Leitmedien als Profiteur und Verlierer der Corona-Störung).

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Im Folgenden geht es darum, das Verhalten und die Situation der Jugendlichen während der Corona-Krise genauer zu betrachten. Um das Verhalten der Adoleszenten einordnen zu können, bedarf es einer soziologischen und psychologischen Sichtung, die die Voraussetzungen für die Gestaltung von normalen Individuationsprozessen berücksichtigt und nicht moralisierende Urteile fällt. In erster Linie ist zu fragen, inwiefern es den Jugendlichen unter den aktuellen Bedingungen gelingen kann, die zentralen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz zu bewältigen. Was bedeutet es für die Jugendlichen, wenn in der Gesellschaft die Grenzen der Sicherheitszone so klar abgesteckt werden, dass das allgemeine Verhalten keine anderen Verhaltensformen toleriert? In einem weiteren Schritt soll der Frage nachgegangen werden, wie sich der jugendkulturelle Raum in Folge der Corona-Einschränkungen verändert hat. Diesbezüglich werden anhand von ausgewählten Beispielen verschiedene Mutationen des jugendkulturellen Raums herausgearbeitet.

2.

Zu den Voraussetzungen von Adoleszenz

Neben der Entwicklungsaufgabe der Identitätsfindung und mit ihr eng verknüpft, sind die Ablösung vom Elternhaus und das Sich-Einfinden in neue soziale Rollen kennzeichnend für die Adoleszenz. In der Sozialisationsforschung gilt als Konsens, dass die Peergroups als sogenannte tertiäre Sozialisationsinstanz eine entscheidende individuationsfördernde Kraft innehaben.4 Vera King betont die Bedeutung der »adoleszenten Triade Familie-Adoleszente-Peerbeziehungen«5 für die Entstehung des Neuen. Demnach seien die Wechselbeziehungen zwischen Familie, Peers und anderen außerfamilialen Institutionen entscheidend für die Entstehung des individuellen sozialen Kapitals.6 Der jugendkulturelle Raum, der nach Vera King als sozialer »Raum des adoleszenten Experiments par excellence«7 gilt, ist der Ort, wo sich Heranwachsende entwerfen, in Szene setzen und neue soziale Rollen(bilder) mit Gleichaltrigen und/oder Gleichgesinnten aushandeln. Dort agieren Adoleszente relativ frei von Verantwortung, ohne der ständigen Beobachtung der Erwachsenen ausgesetzt zu sein. 4 Helmut Fend weist auf die Grenzen der familialen Sozialisationsinstanz und auf die Notwendigkeit der Beziehungen mit Gleichaltrigen hin, um eine erfolgreiche Individuation unter modernen Lebensbedingungen erzielen zu können. Vgl. Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Nachdruck der 3. durchgesehenen Auflage, S. 304. 5 King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz: Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 122. 6 Vgl. ebd., S. 128. 7 Ebd., S. 229.

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Soziologisch gesehen bietet der jugendkulturelle Raum als ein Selbstbestimmungs- und Individuationsort eine Plattform für unabkömmliche Prozesse der Ko-Konstruktion und der Ko-Regulation an und übernimmt essenzielle Funktionen im Individuationsprozess. Folglich dienen die Peer-Groups als »Pufferzone«, um die während der Integration in die Bildungs- und Berufssysteme entstandenen Dissonanzmomente sowie die durch die Modifizierung der ElternKind-Bindung aufkommenden Spannungen ausgleichen zu können.8 Helmut Fend verweist auf die Bedeutung des jugendkulturellen Raums für den in Interaktion mit Gleichaltrigen vollzogenen Erwerb einer Beziehungskompetenz, die ihnen die Aufnahme selbstständiger Beziehungen und die Erprobung unterschiedlicher Grade von Intimität ermöglicht.9 Im jugendkulturellen Raum werden den Adoleszenten kreative Wege eröffnet, um sich von der ErwachsenenGeneration und anderen gleichaltrigen Gruppen abzugrenzen. Diese Abgrenzungsprozesse gehen häufig mit einem spielerischen und riskanten Austesten von Grenzen einher. Das Erleben und die Verarbeitung dieser Grenzerfahrungen sind jedoch wichtige Voraussetzungen für die adoleszente Entstehung des Neuen, d. h. für die Förderung normativer Abweichungen.10 Die Neurowissenschaften haben Erklärungsmodelle für das Verhalten der Heranwachsenden erarbeitet. Neue Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften bestätigen, dass während der Adoleszenz eine grundlegende Reorganisation des Gehirns stattfindet, die einen direkten Einfluss auf die adoleszenztypischen Verhaltensweisen nimmt wie z. B. auf das Risikoverhalten.11 Aufgrund des existierenden Ungleichgewichts zwischen der Entwicklung limbischer Hirnregionen und der Regionen des präfrontalen Kortex neigen Heranwachsende zu einem riskanten Verhalten, das den Emanzipationsprozess von ihrer Primärfamilie fördert, damit die »Jugendliche[n] sich aus der familiären Sicherheitsnische lösen können«12. Die sogenannten riskanten Mutproben nehmen eine exponierte Stellung im adoleszenten Alltagshandeln ein – und das wohlgemerkt nicht nur zu »Corona-Zeiten«. Für die Heranwachsenden sind die möglichen Gefahren ersichtlich, sie sind jedoch von ihrer erfolgreichen Überwindung überzeugt. Die Ursache für diese Haltung ist nach Jürgen Raithel das besonders ausgeprägte »subjektive Invulnerabilitätskonzept« der Heranwach-

8 9 10 11

Vgl. ebd., S. 231. Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters. 2005. S. 309. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 30. Vgl. Konrad, Kerstin/Firk, Christine/Uhlhaas, Peter: Hirnentwicklung in der Adoleszenz. Neurowissenschaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase. In: Gansel, Carsten/Ächtler, Norman/Kümmerling-Meibauer (Hg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Berlin: Okapi (Edition Wissenschaft 3), S. 49–68. 12 Ebd., S. 59.

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senden.13 Dieses Invulnerabilitätsgefühl hängt mit adoleszenztypischen Phänomenen der Allmächtigkeit zusammen. Der Psychoanalytiker und Ethnologe Mario Erdheim bezeichnete die Adoleszenz als »Avantgarde des Individuums«14. In sogenannten »heißen Kulturen«, die sich durch ein starkes Bedürfnis nach Veränderung auszeichnen, sind die dynamischen Prozesse im Zuge der Adoleszenz unabdingbar, um gesellschaftspolitische Innovationsprozesse in Gang zu setzen.15 Mit dem für die Adoleszenz kennzeichnenden Übergang von der Familie zur Kultur ist nach Erdheim immer ein innovatives Moment verbunden, denn die Neupositionierung des Heranwachsenden setzt eine Relativierung der Wertvorstellungen und Einstellung der älteren Generationen voraus.16 Die Austragung dieser Differenzen zwischen den Generationen ist immer mit einem krisenhaften Moment verbunden, aber für die Entwicklung des Individuums und der Gesellschaft unverzichtbar. In Anlehnung an Mario Erdheim verweist Carsten Gansel auf die Bedeutung von Größen- und Allmachtsphantasien – einschließlich der damit einhergehenden »Störungen« –, die der Förderung des kulturellen Wandels sowie der Infragestellung tradierter Werte und Lebenseinstellungen dienen, und damit auch der adoleszenten Identitätsfindung.17 In diesem Kontext stellt Gansel in Anlehnung an Ludwig Jägers Transkriptionstheorie und an Niklas Luhmanns Systemtheorie die bisher existierende Tendenz, Störungen als etwas Destruktives und Disfunktionales zu erfassen, infrage und plädiert für die Wahrnehmung von Störungen in ihrer Produktivität, d. h. die Störung als etwas Konstruktives zu begreifen, das für den Fortbestand eines Systems bzw. einer Gesellschaft unabdingbar ist. Gansel verweist zutreffend auf die Reziprozität von Störungen und auf die Bedeutung von Störungen als »Medium gesellschaftlicher (Selbst)Verständigung«18. 13 Vgl. Raithel, Jürgen: Jugendliches Risikoverhalten. Eine Einführung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 31. 14 Erdheim, Mario: Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. In: Bohleber, Werner (Hg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 83– 102, hier: S. 86. Vgl. dazu bereits Gansel, Carsten: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung (Forschungsbericht). In: Zeitschrift für Germanistik. Heft 1/2004, Neue Folge, XIV. Jg., S. 130–149. 15 Vgl. Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 289. 16 Vgl. Erdheim, Mario: Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. Kulturtheoretische Überlegungen. In: Ethnopsychoanalyse. Band 5: Jugend und Kulturwandel. Hrsg. von Roland Apsel/Wolf-Detlef Rost. Frankfurt a. M.: Brandes/Apsel 1998, S. 9–30, hier: S. 17. 17 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne. In: Taschenbuch der Kinder und Jugendliteratur. Grundlagen. Gattungen. Hrsg. von Günter Lange. Baltmannsweiler: Hohengehren 2000, S. 359–399, hier: S. 363; Gansel, Carsten: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 15–48, hier: S. 42. 18 Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 43.

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Je eingeschränkter die adoleszenten Entwicklungsbedingungen sind, um ihre Größenphantasien zu entfalten, bzw. die Autonomisierungsstrebungen der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Sexualität und Körperlichkeit zu verwirklichen, z. B. durch die strengen familialen Vorgaben oder seit Beginn der Corona-Krise durch die Corona-(Kontakt)beschränkungen, desto intensiver fallen die Grenzüberschreitungen aus und desto mehr wird das Risikoverhalten der Heranwachsenden verstärkt.19 Die kognitive Offenheit anderer Systeme wird durch die Entfaltung adoleszenter Größen- und Allmachtsphantasien einer besonderen Prüfung unterzogen, da von den jeweiligen Systemen eine enorme Anpassungsleistung abverlangt wird. Reize der Umwelt, wie zum Beispiel Größen- und Allmachtsphantasien der Heranwachsenden, können als Auslöser von Interaktionsprozessen wirken, zu Zustandsveränderungen von Systemen führen und folglich zu essentiellen Veränderungen des Systemverhaltens, allerdings ohne den Prozess der Autopoiese, d. h. die eigene Selbstherstellung und die eigene Selbsterhaltung zu gefährden. Mit Blick auf die aktuelle Entwicklung gewinnen solche Reize, die von Jugendlichen ausgehen, eine besondere Relevanz und werden zu einer dauernden Herausforderung für den Staat und seine Institutionen. Entscheidend hierbei ist, in welcher Weise der Staat in Reaktion auf Störungen veranlasst wird, seine Strukturen bzw. die Verhältnismäßigkeit seiner Entscheidungen zu überprüfen oder aber darauf verzichtet und weiterhin an seiner »Corona-Strategie« festhält. Der Staat kann nämlich einerseits durch die Irritation der Heranwachsenden angeregt werden, zu lernen und seine Strukturen neu zu koppeln oder mit sanktionierenden Maßnahmen, z. B. moralischer Verurteilung, Strafmaßnahmen, Diskreditierung des jugendlichen Verhaltens, u. ä. reagieren und die »Hilfeschreie« der Heranwachsenden weiterhin ignorieren. Damit ist auf den Zusammenhang von Irritation und die durch sie eingeleiteten Lernprozesse verwiesen. Ignoriert ein System durchgehend die Lernmöglichkeiten und verzichtet auf eine Neustrukturierung, gerät die Evolution des Systems in Gefahr.

3.

Zur aktuellen Situation einer vergessenen Generation

Paradoxerweise gelten die Jugendlichen als die Bevölkerungsgruppe, die durch das Coronavirus am wenigsten gefährdet ist, dennoch leiden sie mit am meisten unter den Folgen der Pandemie. Die Kontaktverbote und -einschränkungen während und nach dem Lockdown hatten – und haben – für junge Menschen deshalb besonders gravierende Folgen. Experten mahnen an, dass die Bedürfnisse der Jugendlichen und Kinder mehr berücksichtigt werden müssen, betonen 19 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 207.

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die Notwendigkeit der sozialen Kontakte und warnen vor den möglichen Folgen der sozialen Isolierung und der Erosion sozialer Strukturen. In diesem Sinne äußert sich die Jugendarbeitsforscherin Gunda Voigts: »Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche sich entwickeln und soziale Wesen werden, dass sie eine Position in der Gesellschaft finden. Dazu brauchen sie einfach Gleichaltrige: um sich austauschen, messen und spiegeln zu können«, schreibt sie.20 In diesem Sinne äußert sich auch die Entwicklungspsychologin Anja Karlmeier und warnt insbesondere vor den Folgen für die Heranwachsenden in der Frühpubertät, da den Jugendlichen aufgrund des reduzierten sozialen Austausches »wichtige Grundlagen für ihre psychische Stabilität und für ihre Entwicklung zu einem selbstständigen Leben«21 fehlen würden. Als Folge der Corona-Einschränkungen wird das soziale Leben der Jugendlichen phasenweise stark eingeschränkt und dies in einer Lebensphase des Erwachsenwerdens, in der sich junge Menschen von den Eltern abgrenzen, erste sexuelle Erfahrungen machen, eigene Interessen und Routinen entwickeln und eine zunehmende Orientierung an außerfamiliären Sozialisationsinstanzen erfolgt.22 Diese Erfahrungen werden normalerweise unter räumlicher Distanz zu den Eltern, d. h. in der Regel »außer Haus« realisiert. Unter Corona-Einschränkungen sind diese Prozesse abrupt gestoppt. Karlmeier konstatiert eine regressive Bindung an die Eltern und dementsprechend einen größeren elterlichen Einfluss in einer Lebensphase, die sich im normalen Verlauf gerade durch die Ablösung von den Eltern auszeichnet. Klaus Hurrelmann verweist auf die Folgen dieser Entwicklungen: »[Den Jugendlichen fehlt es] an Raum und den Möglichkeiten, sich zu erproben, zu experimentieren, auch um mal Grenzen zu überschreiten. All das, was für das Jugendalter, also die Zeit ungefähr zwischen 14 und 24 Jahren, einfach notwendig ist, wurde den jungen Leuten in der Corona-Zeit praktisch verwehrt.«23

20 Gunda Voigts zitiert nach Bunk, Adele: Herausforderung Pandemie. Die vergessene Generation von der Corona-Krise. In: (letzter Zugriff: 22.10.20). 21 Sadigh, Parvin: Kinder in der Corona-Krise. »Wir sorgen uns um Jugendliche in der frühen Pubertät«. In: Zeit Online Ausgabe vom 05. 07. 2020. In: (letzter Zugriff: 14. 10. 2020). 22 Sowohl die organisierte Freizeit von Heranwachsenden als auch Angebote der Jugendarbeit und -beratung sind während der Corona-Krise entweder verboten gewesen oder fanden nur in einer sehr eingeschränkten Form statt. Das hat vor allem Entwicklungsstörungen in der sozialen und personalen Kompetenz der Jugendlichen und eine Verminderung ihres gesellschaftlichen Engagements zur Folge (vgl. JuCo II-Studie 2021, S. 28). 23 Früchtenicht, Jördis: Jugendforscher Hurrelmann über Corona-Exzesse: Den jungen Menschen fehlt etwas. In: (letzter Zugriff: 14. 10. 2020).

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Hurrelmann betont daher die Notwendigkeit von Freiräumen, um sich selbst in unterschiedlichen Rollen auszuprobieren und die eigenen Kräfte einzuschätzen und warnt vor der Entstehung ernster Entwicklungsstörungen. Das aggressive Verhalten der Heranwachsenden, z. B. sichtbar in den nächtlichen Unruhen und Krawallen in Städten wie Stuttgart und Frankfurt, wertet Hurrelmann als eine Aufstörung der Öffentlichkeit, mit der eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen darauf aufmerksam macht, dass ihnen Entfaltungsmöglichkeiten fehlen. Er sieht dieses Verhalten als eine logische Entwicklung: »Viele der Jugendlichen nehmen sich jetzt dieses Recht, […] öffentliche Zonen zu erobern, dabei nicht immer den Abstands- und Hygieneregeln zu folgen […]. Sie nehmen sich ihr Freiheitsrecht.«24

Für Hurrelmann haben Politiker die Pflicht, angemessene »Angebote [zu] machen und den jungen Leuten auch Möglichkeiten an[zu]bieten, sich mit Freunden zu treffen und sich zu beweisen.«25 Die Sozialpädagogin Severine Thomas befürchtet, »dass die Politik unterschätzt, zu welchen psychosozialen Folgen all das führen kann«26. Es steht nunmehr die Frage, wie die die Politik auf die Störungen durch die Jugendliche reagiert. Grundsätzlich hat es den Anschein, dass Politiker »Angst« vor dem Kontrollverlust haben. Dementsprechend sind ihre Reaktionen: Winfried Kretschmann ruft die Jugendlichen zum solidarischen Verhalten und zum Partyverzicht auf: »Partys muss man nicht feiern, arbeiten und lernen schon«, so Kretschmann.27 Angela Merkel mahnt vor den »Öffnungsdiskussionsorgien«, sendet permanent moralische Appelle und bekräftigt beständig ein zur Formel geronnenes Narrativ, das der jungen Generation unterstellt, für eine gute Party die Gesundheit ihrer Großeltern aufs Spiel zu setzen. Unisono werden klare Schuldzuweisungen an die sogenannten »Feierwütigen« ausgesprochen.28 Die Steigung der Infektionszahlen wird mit den »zügellosen Partys«, mit einem unsolidarischen Verhalten der Jugendlichen und mit dem Fehlen von konse24 Ebd. 25 Ebd. 26 Severine Thomas im Interview: Jugend in der Corona-Krise. »Nie habe ich mich so ohnmächtig gefühlt«. In: Die Zeit. Ausgabe vom 14. 05. 2020, Die Zeit Nr. 21/2020, S. 30. 27 Kretschmann: »Man muss gerade keine Party feiern«. In: Zeit Online, Ausgabe vom 11. 10. 2020. (letzter Zugriff: 22.10.20). 28 Claus Leggewie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Appell, Corona-Parties zum Schutz der gefährdeten Alten sein zu lassen, und den Forderungen der Fridays for future Bewegung her. Seiner Meinung nach »können die Älteren jetzt auch die ihnen erwiesene Solidarität zurückgeben, indem sie nunmehr auf liebgewonnene Dinge verzichten, um die Lebenschancen ihrer Enkel zu garantieren«. Vgl. Leggewie, Claus: Generation-Corona? In: (letzter Zugriff: 14. 10. 2020).

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quenten restriktiven Maßnahmen begründet. Offensichtlich wird, dass Politiker die Bedeutung des öffentlichen Lebens für die Prozesse der Verselbstständigung und Selbstpositionierung verkennen. Auf die von Jugendlichen gesendeten Signale reagiert der Staat mit einer Verschärfung von Kontaktbeschränkungen. Deutschlandweit wird das Nachtleben über eine längere Zeit ausgeschaltet und Sperrstunden werden eingeführt, um das Verhalten der Jugendlichen einzugrenzen und die Pandemieentwicklung unter Kontrolle zu halten.29 Teile der jungen Generation beklagen, dass ihre Sorgen und Bedürfnisse keine Berücksichtigung in der Gesellschaft finden und sie von den Entscheidungsträgern vernachlässigt werden. Die Ergebnisse der bundesweiten JuCo-Studie zeigen, wie unzufrieden Jugendliche mit der Situation sind und bestätigen, hinsichtlich der Zufriedenheit deutliche Veränderungen im Vergleich zu der Zeit vor Corona.30 Insbesondere empfinden Jugendliche die »Kontaktbeschränkungen als sehr belastend, weil sie nicht, wie viele Erwachsene, die noch ihren Berufen nachgehen, Außenkontakte in gewohnter Form pflegen können«31 und dadurch die Möglichkeiten der Bewältigung von stressigen Dissonanzmomenten deutlich reduziert werden. Studierende etwa beklagen die Zerstörung des sozialen Gefüges, Motivationsschwierigkeiten und die zunehmende Vereinsamung. Durch die Digitalisierung des Studiums und das Ausschalten der Präsenzlehre kommt es, zugespitzt formuliert, zu einer »Entsozialisierung« der Universität.32 Die Beratungsstellen der Universitäten machen auf die starken negativen Auswirkungen der sozialen Vereinsamung aufmerksam und stellen einen direkten kausalen Zusammenhang mit den höheren Abbruchquoten her.33 Jugendliche leiden nicht nur unter der sozialen Isolation und den massiven psychischen Belastungen, sondern auch unter den wirtschaftlichen Sorgen und sind unsicher hinsichtlich 29 Exemplarisch dafür stehen die Forderungen von Dilek Kalayci, Berlins Gesundheitssenatorin, die für eine Ausschaltung des Nachtlebens, die Einführung von Sperrstunden und eine Verschärfung der Kontaktbeschränkungen plädiert. In: Corona-Maßnahmen in Berlin. »Wir müssen das Nachtleben ausschalten.« In: (letzter Zugriff: 14. 10. 2020). 30 Vgl. Andresen, Sabine/Heyer, Lea [u. a.]: Das Leben von jungen Menschen in der CoronaPandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe. Bertelsmann Stiftung 2021, S. 10. In: (letzter Zugriff: 19. 08. 2021). 31 Andresen, Sabine [u. a.]: Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim, 14. 05. 2020, S. 12. In: (letzter Zugriff: 14. 10. 2020). 32 Sinnbildlich für diese Entwicklung stehen die leerstehenden Gebäude und Seminarräume, in denen sonst Jugendliche und Erwachsene sozial interagieren. 33 Vgl. Obertreis, Sarah: Kann man Freundschaften nachholen? In: FAZ, Ausgabe vom 15. 11. 2021. (letzter Zugriff: 20. 11. 2021).

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ihrer schulischen oder beruflichen Zukunft.34 Die Wirtschaftswissenschaftlerin Regina Riphahn verweist auf das Erscheinen von sogenannten »Vernarbungseffekten«, die den Berufseinstieg und möglicherweise das gesamte Erwerbsleben der aktuellen Generation von Heranwachsenden konditionieren wird.35 Simon Schnetzer, Klaus Hurrelmann und Martina Leibovici-Mühlberger sprechen diesbezüglich von einem alarmierenden Ergebnis, da ein Drittel der Heranwachsenden »eine empfindliche Beeinträchtigung ihrer Chancenstruktur beim Übergang in das Erwachsenenalter«36 erleiden. Sie verweisen auf längerfristige Beeinträchtigungen der Adoleszenten, die sich nicht nur in finanzieller Form zeigen, sondern sich vor allen negativ auf das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen der betroffenen Jugendlichen auswirken. Folglich sprechen sie zurecht von »lebenslangen ›sozialen Narben‹«37. Wenn Heranwachsende die Übergangsphase der Adoleszenz durch den politisch gewollten Entzug von Privilegien nicht als Erprobungsraum zur Verfügung haben, kann es dazu führen, dass die Bewältigung dieser wichtigen Lebensphase misslingt, da die Möglichkeiten der Selbstverortung für Heranwachsende deutlich begrenzt werden. Die geforderte solidarische Haltung beschränkt sich nicht 34 Der Gesundheitsreport der DAK bestätigt eine starke Zunahme psychischer Probleme unter Heranwachsenden, eindeutig erkennbar an der Erhöhung um 42 % der stationären Behandlungen aufgrund emotionaler Störungen (vgl. DAK-Kinder- und Jugendreports 2022 mit Fokus auf Psychische Erkrankung, hrsg. von Witte, Julian/Zeitler, Alena [u. a.]). Die Befunde der JuCo-II-Studie verweisen darauf, dass ein hoher Anteil junger Menschen für sich wenig Gestaltungsspielraum sieht und skeptisch in ihre Zukunft blickt (vgl. Ergebnisse der JuCo-IIStudie In: Andresen/Heyer, Das Leben von jungen Menschen. 2021, S. 18, 28, 32). Andere Studien wie die COPSY-Studie und die Studie Junge Deutsche zeigen, dass sich Heranwachsende seit der Corona-Pandemie immer mehr psychisch belastet fühlen, häufiger psychosomatische Störungen, wie z. B. Gereiztheit, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit erleiden und sich ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität deutlich vermindert hat. Sie müssen hauptsächlich durch den Rückhalt der Familie die gravierenden Einschränkungen kompensieren. Besonders problematisch ist die Situation von Heranwachsenden aus sozial benachteiligten Verhältnissen, weil sie über weniger Ressourcen verfügen und nicht ausreichende soziale Unterstützung innerhalb der Familie erhalten (vgl. Schnetzer/Hurrelmann, Jugend und Corona in Deutschland. 2021, S. 12; Journal of Health Monitoring 2020 5 (4) Robert Koch Institut, Berlin, S. 25f.; Ravens-Sieberer [u. a]: Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der Covid-19-Pandemie. In: Dohmen, Dieter/Hurrelmann, Klaus (Hg.): Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021, S. 248–260, hier: S. 254ff.). 35 Girschick, Kirsten: Jugend und die Pandemie. Frust bei der »Generation Corona«. In: (letzter Zugriff: 19. 10. 2020). 36 Schnetzer, Simon/Hurrelmann, Klaus/Leibovici-Mühlberger: Jugend und Corona in Deutschland und Österreich: Junge Menschen im Lockdown. In: Dohmen, Dieter/Hurrelmann, Klaus (Hg.): Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021, S. 261–273, hier: S. 267. 37 Ebd.

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nur auf den Verzicht von kollektiver Freizeitgestaltung, sondern umfasst zunehmend auch Forderungen nach einem »solidarischen Impfen«, obwohl die Jugendlichen in den meisten Fällen keine schweren Verläufe bei einer CoronaErkrankung erleiden und die Effektivität der Impfstoffe inzwischen stark hinterfragt wird. Stattdessen wird die Teilnahme an kulturellen Freizeitangeboten und an der beruflichen Qualifizierung mit sogenannten 2G-Regelungen oder Impfpflicht-Gesetzen reguliert, um die Jugendlichen zur Impfung zu bewegen.38 Nach zwei Jahren mit Corona-Einschränkungen gibt es anscheinend noch keine Einsicht in die prekäre Lage der Heranwachsenden. Im Zuge der Pandemie ist eine zunehmende »Erschöpfung der Jugend«39 und vor allem unter den männlichen Heranwachsenden eine immer größer werdende Distanz zu den restriktiven Regelungen zu beobachten. Besonders belastend für die Jugendlichen ist der Verlust von Alltagsstrukturen, Ritualen und Freizeitmöglichkeiten, der sich auf das von Erik H. Erikson für die Persönlichkeitsentwicklung postulierte »soziale Spiel«40 gravierend auswirkt.

4.

Zu Mutationen des jugendkulturellen Raums – Von der Solidarität zum egozentrischen Hedonismus

Zu den wichtigen Ausprägungen der Adoleszenz gehört die Körperinszenierung, mit der Jugendliche einen Status in der Peergroup erwerben und ihren eigenen Identitätsfindungsprozess vorantreiben. Gabriele Klein und Katharina Liebsch stellen im Zuge der Corona-Krise eine Neuausrichtung der Körpersprache und der kulturellen Körpercodes fest. Um den Körper zu schützen, wird »Körperkontakt im öffentlichen Raum qua Verordnung auf Aktivitäten reduziert, die nicht nur Distanz schaffen, sondern die Sichtbarkeit des Körpers einschränken«41. Folglich ergeben sich angesichts der neuen »Körper-Praktiken im öffentlichen Raum«42 für die Heranwachsenden deutliche Begrenzungen. Hingegen bietet das Internet spätestens seit der Einführung der sozialen Netzwerke den 38 Einige Hochschulen führen die 2G-Regelung für den Präsenzlehrbetrieb ein, unter der nicht geimpfte Studierende deutliche Nachteile erleiden. Für Auszubildende im Pflegebereich ist ihre Ausbildung gefährdet, wenn sie nicht bereit sind, sich impfen zu lassen. Es handelt sich hier lediglich um zwei Beispiele, die die kurz- und längerfristigen Beeinträchtigungen der Heranwachsenden veranschaulichen. 39 Vgl. Schnetzer/Hurrelmann, Jugend und Corona in Deutschland. 2021, S. 25. 40 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1973, S. 145. 41 Klein, Gabriela/Liebsch, Katharina: Herden unter Kontrolle. Körper in Corona-Zeiten. In: Volkmer, Michael/Werner, Karin (Hg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: Transcript Verlag 2020, S. 57–65, hier: S. 61. 42 Ebd.

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Heranwachsenden neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung, die seit Corona vermehrt in Anspruch genommen werden. Die Verlagerung der sozialen Begegnungen in den digitalen Raum führt dazu, dass bestimmte Initiations- und Interaktionserfahrungen unter anderen Bedingungen stattfinden. Das eröffnet den Heranwachsenden gewisse Chancen, bringt allerdings auch gewisse Risiken mit sich. Das Internet wird zum Übungsraum und Heranwachsende experimentieren damit, wie sie auf andere – auch sexuell – wirken, um ihre Identitätsfindung zu gestalten. Das Versenden von eigenen erotischen Fotos und von sexualisierten Botschaften gehört zur sexuellen Praxis unter Heranwachsenden, um von Gleichaltrigen oder Älteren die erwünschte positive Rückmeldung zu erhalten. Die Möglichkeit des Sexting, das Versenden anzüglicher Nachrichten, existierte natürlich bereits vor Corona, hat aber im Zuge der Corona-Krise eine größere Popularität erlangt, um sich einerseits einen alternativen Lustgewinn in der Krise zu verschaffen und andererseits das Potential des adoleszenten Körpers zu erkunden und sich in unterschiedlichen Rollen zu erproben. Zur üblichen Praxis der Jugendkulturen gehört das Erleben von besonderen Unterhaltungsmomenten wie der gemeinsame Besuch eines Musikkonzerts, einer Diskothek oder eines Clubs sowie die gemeinsame Teilnahme an einem Musikfestival mit Gleichaltrigen oder Gleichgesinnten. Für die Heranwachsenden eröffnet sich dadurch ein erweiterter Raum außerhalb der üblichen (Raum)ordnung, in dem sie sich zunehmend in einer autonomen Rolle in einem erweiterten Erfahrungsraum erleben, der ihnen unter anderem größere Möglichkeiten für die Aushandlung von Geschlechterrollen sowie für die Etablierung von Freundschaftsbeziehungen eröffnet. Mit der wachsenden Erlebnisorientierung der modernen Menschen haben solche Veranstaltungen oder Events an Bedeutung gewonnen. In Folge der Corona-Einschränkungen wurden aber Clubs geschlossen, Musikfestivals fielen aus und jegliche Tanzveranstaltungen wurden verboten. Klein und Liebsch verweisen zutreffend darauf, dass »der Körper des Genießens, der Lust, des Verlangens, der Freude, der Muße, der Freiheit, der Nähe zu Anderen«43 vernachlässigt wird. Ohne spezifisch auf den jugendkulturellen Raum einzugehen, machen Klein und Liebsch auf das Verschwinden des Massenkörpers aufmerksam. In Zeiten epidemischer Bedrohung verschwinden große Menschenversammlungen vollständig.44 Was bedeutet es für die Jugendlichen, wenn das Nachtleben ausgeschaltet oder stark reguliert wird? Auf die Schließung der Clubs reagiert die Clubszene bereits am 18. März 2020 mit der Übertragung von Partys und Konzerten auf digitalen Plattformen wie z. B. United We Stream. Dadurch können Jugendliche an Events teilnehmen sowie einen solidarischen Beitrag leisten für 43 Ebd., S. 61. 44 Ebd., S. 62.

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den Erhalt der Club-Kultur, ohne dabei das sichere Zuhause verlassen zu müssen. Das Ziel ist, Musik und ein wenig Clubatmosphäre in die Wohnungen und Häuser zu bringen. Mit Live-Stream ist ein deutlicher Appell zur Praxis der sozialen Distanz verbunden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Das Konzept des Live-Streamings, bei dem der DJ mit seiner Musik im Zentrum der Wahrnehmung steht und sich selbst inszenieren kann, hat jedoch deutliche Grenzen, denn wie Clubbetreiber Uli Wombacher feststellt, »Schon nach dem dritten, vierten Stream, hat man gesehen, dass sich die Sache ein bisschen erschöpft hat. […] [Es] fehlt das soziokulturelle Element des Clubbesuchs«.45 Die weitere Entwicklung des Live-Streamings zu Konzepten wie das »We’re open« des Clubs Watergate in Berlin weist den Zuschauern ungefähr die gleiche Wertigkeit wie dem DJ zu. Alle haben die Möglichkeit der Selbstinszenierung. Sogenannte Gemeinschaftskörper werden dementsprechend medial und virtuell konstruiert. Durch eine computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung kann ein virtuelles Gemeinschaftserlebnis generiert werden. Man hat die Möglichkeit, sich auf unterschiedlichen Floors zu bewegen und andere Besucher kennenzulernen. Durch eine Zufallsfunktion wird man mit fünf Personen zugeschaltet. Die Personen, die jemand sympathisch findet, können zu einer Liste hinzugefügt werden, um sich später mit ihnen digital zu treffen. Die Besucher können miteinander chatten und reden, nach Wunsch die Videofunktion ein- oder ausschalten oder die sogenannte »Watch-Alone«-Funktion aktivieren. Jeder hat die Möglichkeit, andere Personen auszuschalten. Es gibt virtuelle Reservoirs, in denen man ungestört mit ausgesuchten Personen kommunizieren kann.46 Es geht also darum, einen ansprechenden Ersatz für den Club-Abend zu entwickeln. Neben den zahlreichen Streaming-Angeboten entwickelt sich ein neues Discoraumkonzept, die sogenannten Autodiscos. Die Tanzveranstaltung wird von einem Indoor-Raum auf einem großen Parkplatz verlagert, wo die Menschen zu zweit in ihren Autos zu der Musik tanzen. Statt Getränke und eine Tanzfläche werden den Besuchern Konfetti, pyrotechnische Shows und Musik über WLAN angeboten. Ein kollektives Konzert aus Auto-Hupen und Musikbeats, kombiniert mit Lichtshows und den Lichtern der geparkten Autos erzeugen eine einmalige Stimmung, die die Besucher in Zeiten von Corona begeistert. Die Veranstalter sprechen von einem Konzept, das eine Befreiung aus der Isolation und ein Gemeinschaftsgefühl unter den »ausgehungerten« Gästen ermöglicht. Orientiert an Musikaktionen aus Italien entwickeln sich die sogenannten Balkon-Innenhof-Partys. Es handelt sich hierbei sowohl um angemeldete als 45 Vgl. (letzter Zugriff: 18. 10. 2020). 46 Vgl. Hellberg, Jonas: Watergate Club veranstaltet virtuelle Party »Yes We’re open«. In:

(letzter Zugriff: 18. 10. 2020).

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auch spontane Veranstaltungen, die häufig mit einem Benefizcharakter verbunden sind und bei denen ein DJ oder ein Musiker von einem Balkon aus die Nachbarschaft mit Musikbeats oder Live-Musik unterhält. Durch weitere Aktionen wie »mit DisTANZ in den Mai«, wo am 30. April 2020 in einer deutschlandweiten Simultan-Party von 20 Uhr bis 22 Uhr Musik gespielt wurde, können die Menschen auf ihren Balkonen ausgelassen in den Mai tanzen. Besonders betroffen von den Corona-Maßnahmen sind die Musikfestivals. Mit dem Ausfall fast aller großen Musikfestivals geht im Sommer 2020 ein wichtiger Bereich der Jugendkultur verloren. Musikfestivals besitzen eine ganz besondere Aura. Sie stellen ein emotionales kollektives Erlebnis mit einem Live-Charakter dar, das nicht wiederholbar ist. Sie werden mit einem bestimmten Lebensgefühl, mit Freiheit, mit Autonomie oder aber auch einem gewünschten Ausnahmezustand verknüpft. Sie ermöglichen Begegnungen mit Freunden und Gleichgesinnten aus aller Welt. Aus soziologischer Sicht sind sie für Heranwachsende ein Übungsraum der Superlative, der Ekstase, der Gemeinschaft und des Austausches, unersetzbar in der heutigen Jugendkultur. Dadurch erhalten die Heranwachsenden die Möglichkeit, für mehrere Tage den Ausbruch aus dem Alltag zu erproben, sich zu Szenen, bzw. Lebensstil- oder auch Lifestyle-Gruppierungen zu bekennen und von anderen abzugrenzen.47 Das Tomorrowland-Festival, deren Eintrittskarten in der Regel nach einer Stunde ausverkauft sind und wo die Größten der elektronischen Tanzmusik auftreten und regelmäßig ca. 400.000 Fans aus aller Welt nach Belgien kommen und an zwei Tagen ausgelassen feiern, musste sowohl im Sommer 2020 als auch 2021 wegen der Pandemie abgesagt werden. Stattdessen wurde ein digitales Live Event mit mehreren Bühnen produziert, an dem über eine Million Zuschauer teilnahmen.48 Man kann von einer neuen Kunstrichtung sprechen, die in Form einer Hollywood-Präsentation eine »Alternative« für Festivalgänger darstellen soll. Durch einen Klick kann der »Festival-Besucher« zu Hause von einer Bühne zur nächsten wechseln und eine Märchenlandschaft mit atemberaubenden Bergen und zauberhaften Wäldern digital erleben. Fraglich bleibt, inwieweit das Gefühl der Gemeinschaft und des Austausches in einem solchen Format realisiert werden kann. Kurt Kister spricht von einem »Ersatzleben vor dem Schirm« und be-

47 Die Bedeutung der Festivals zeigt sich in den letzten Jahrzehnten an dem anhaltenden Festival-Boom, das in Deutschland und in der ganzen Welt zu einem sehr dichten Netz von Veranstaltungen geführt hat. 48 Im Jahr 2021 wurde das digitale Festival »Tomorrowland Around the World 2021« weltweit an die unterschiedlichen Zeitzonen angepasst und dementsprechend zu unterschiedlichen Zeiten übertragen.

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schreibt zutreffend das Potential der digitalen Musikdarbietungen wie folgt: »Ein Live-Konzert unterscheidet sich vom Stream wie die Liebe vom Liebesfilm«49. Nach der Lockerung der ersten Corona-Einschränkungen im Sommer 2020 und nach Monaten der sozialen Distanz lassen sich aber neue Entwicklungen beobachten. Bedingt durch die Corona-Auflagen findet eine Verlagerung der Massenversammlungen von geschlossenen Räumen in den Outdoor-Bereich statt. Überwiegend Jugendliche erobern öffentliche Zonen in den Städten, Parkanlagen, Seegebieten, Wäldern und an Flüssen, um (Massen)partys zu veranstalten. Klassische Begegnungs- und Erholungsorte wie die Parkanlagen verlieren ihren ursprünglichen Charakter und entwickeln sich zu einem regelmäßigen Treffpunkt illegaler Raves. Es kommt zu einem »Gewöhnungseffekt«, der für immer höhere Zahlen von Besuchern sorgt. Dementsprechend verwandelt sich ein klassischer Erholungsort wie der Schlossgarten in Stuttgart in eine riesige Partywiese, die Hasenheide in Berlin wird zu einem Parkfest mit bis zu 2000 Menschen oder der Opernplatz in Frankfurt am Main entwickelt sich zum beliebtesten Party-Treffpunkt der Stadt für bis zu 3000 Personen aus Frankfurt und dem Umland. Der Opernplatz offenbart am besten die Mutation des Raums. Ein Platz vor der Alten Oper, wo sich normalerweise eher Opernbesucher aufhalten, wird überwiegend von jungen Menschen, zum Teil auch von gewaltbereiten Personen, eingenommen. Nach Wochen der angestauten Aggression kommt es in einzelnen Städten zu Eskalationen, zu wiederholten Krawallen und zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Abschließend soll eine besondere Form der Partykultur vorgestellt werden, die das jugendliche Verhalten in Zeiten von Social Media nachvollziehbar macht. Es handelt sich um die sogenannten U-Bahn-Partys. Die Partys des Instagramers @crazyandwildboy haben eine besondere Resonanz erhalten, weil sie scheinbar das Lebensgefühl einer jungen Generation erfassen, die unter den Corona-Einschränkungen kreativ nach neuen Formen der Unterhaltung sucht. Allgemein bekannt ist, dass die Interaktion der User im Netz bestimmten wiederkehrenden Handlungsmustern folgt. Eins dieser Handlungsmuster besteht darin, dass man absichtlich Videos dreht, die für Aufregung sorgen. Für die Heranwachsenden ermöglichen die hochgeladenen Inhalte im Instagram-Account oder auf der Video-Plattform TikTok eine digitale Selbstinszenierungsmöglichkeit, die wichtig für die Erarbeitung eines Status in der Community ist, mithin für die Verbesserung des eigenen sozialen Kapitals. Die Anzahl der Kommentare und der Abonnenten bestätigt das soziale Kapital eines Individuums und bestimmt demzufolge seinen Identitätsfindungsprozess. Jugendliche erhoffen sich durch 49 Kister, Kurt: Ersatzleben vor dem Schirm. SZ, Ausgabe vom 25. 04. 2020. In: (letzter Zugriff: 18. 10. 2020).

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die mediale Selbstinszenierung sogenannte Resonanzerfahrungen, die sich auf ihren Selbstfindungsprozess positiv auswirken. Am Beispiel des Instagramers @crazyandwildboy lässt sich das gut verdeutlichen: Auf der Video-Plattform TikTok hat eines seiner Videos knapp 15 Millionen Aufrufe. Darunter finden sich Tausende Kommentare von ausländischen Usern, die den maskierten Künstler dazu aufrufen, auch in ihren Heimatländern aufzulegen. Neben der Reaktion der Instagram-User trägt zusätzlich die irritierte Medien-Landschaft mit der Dämonisierung des jugendlichen Verhaltens zur Popularität solcher Aktionen bei.50 In einem Interview in Zeit Online erklärt @crazyandwildboy, wie es zu einer solchen Veranstaltung gekommen ist. Wie üblich bei Adoleszenten ist das Verhalten des Instagramers emotional geleitet, ohne die Folgen seines Handelns zu reflektieren. Ausschlaggebend für die Entscheidung ist die Bitte eines Freundes, etwas Verbotenes in der Gruppe zu realisieren, um gleichzeitig den InstagramAccount aktualisieren zu können. @crazyandwildboy greift auf bewährte Selbstinszenierungspraktiken zurück, wie die durch den Sänger Cro bereits popularisierte Panda-Maske und die Durchführung einer grenzüberschreitenden Praxis, um seinen Inhalten die gewünschte Viralität zu verleihen.51 »ze.tt: Nach dem letzten U-Bahn-Rave im August sagtest du dem Tagesspiegel, du würdest das nicht noch mal machen, der Rave sei ein Fehler gewesen. Jetzt hast du doch wieder einen organisiert. Also doch kein schlechtes Gewissen? Crazyandwildboy: Doch. Ich bereue auch die zweite Party und das Video dazu. Noch mal: Das war ein Fehler. Ich habe nicht nachgedacht, mich zu sehr von meinen Emotionen leiten lassen. Aber anders als bei der ersten Party war es nicht meine Idee. Eine befreundete Person hat mich auf Instagram angeschrieben, einer von ihnen hatte Geburtstag und sie baten mich, etwas Musik von meiner Box zu spielen. Fünf Stationen, dachte ich, möglichst spät, damit die U-Bahn leer ist. Alle müssen Masken tragen, schrieb ich der Person. Ich habe sowieso ein neues Video für meinen Account ge-

50 Die Bild-Zeitung berichtet in den Ausgaben vom 10. 08. 2020 und 29. 09. 2020 von den Eskapaden der Jugendlichen und dämonisiert den Anführer der Gruppe als den »InstagramMaskenmann«, als »den König der illegalen Corona-Partys«. Vgl. (letzter Zugriff: 19. 08. 2021). Christina Denk spricht in ihrem Beitrag vom 29. 09. 2020 in Merkur von »Exzessen« und verurteilt die Haltung der »Feierwütigen«, die sich trotz der Corona-Fallzahlen von nichts aufhalten ließen (vgl. (letzter Zugriff: 19. 08. 2021)). 51 Das Verbergen der wahren Identität hinter einer Maske bildet ein Moment der Inszenierung, auf das unterschiedliche Künstler zurückgreifen. Die Maske stellt u. a. ein optisches Erkennungsmerkmal dar wie z. B. die goldene Maske bei DJ Claptone, die Joker Maske bei DJ Held sowie die Roboter-Helmen bei dem französischen House Duo Daft Punk oder die gelbe Smiley-Maske beim Schweizer House-DJ Mike Candys.

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braucht, also bin ich mit meiner Musikbox losgezogen. […] Aber natürlich hatte ich die Situation nicht unter Kontrolle.«52

Neben der für die Adoleszenz kennzeichnenden Handlungsmotivation der Jugendlichen offenbart sich vor allem die moralisierende Funktion der Leitmedien, die das Verhalten der Heranwachsenden verurteilen, ihnen unverantwortliches Handeln, eine unsolidarische Haltung gegenüber der älteren Generation vorwerfen und auf die Kausalität mit den steigenden Infektionszahlen verweisen.53 Medien und Politiker ignorieren aber, dass die Emanzipation der neuen Generation eine Rebellion gegen die vorgelebten Werte und Gebote voraussetzt.

5.

Fazit

Angelehnt an Carsten Gansels Störungstheorie54 lässt sich aktuell von einer gestörten Adoleszenzentwicklung sprechen. Die zahlreichen Verordnungen schränken die Möglichkeiten des »psychosozialen Moratoriums«55 auf unterschiedlichen Ebenen stark ein und führen zu tiefgehenden Irritationen bei den Jugendlichen, die auf diese teilweise spielerisch mit entsprechenden Entstörungsmaßnahmen reagieren. Die Reaktionen der Jugendlichen variieren im Verlauf der Krise. Zu Beginn der Krise ist überwiegend ein Rückzug in den digitalen Raum und in den familiären Raum zu beobachten, der als solidarischer Beitrag für die ältere Generation von den führenden Instanzen begrüßt wird. Nach Monaten der sozialen Isolation stellt ein Teil der Jugendlichen die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen in Frage und sorgt subversiv für die Entstehung und Verbreitung neuer Formen jugendkultureller Unterhaltung. Neben der dominierenden Betrachtung des jugendlichen Verhaltens als eine dysfunktionale Erscheinung, die die Gesundheit der gesamten Bevölkerung gefährdet und mit restriktiven Maßnahmen kontrolliert werden sollte, lässt sich das Verhalten der sogenannten »Feierwütigen« auch als eine Alternative zum von den etablierten Instanzen geforderten disziplinierten Verhalten einordnen. Ihr von 52 Instagramer @crazyandwildboy im Gespräch mit Sophia Hubel: Illegale Partys in Berlin: »Es fällt so schwer zu verzichten«. In: (letzter Zugriff: 19. 10. 2020). 53 Vgl. ebd. Michael Meyen verweist in seinem Beitrag »Das System der Leitmedien als Profiteur und Verlierer der Corona-Störung« auf die moralisierende Funktion der Leitmedien in der Corona-Krise und ihr Diskreditierungspotential. 54 Siehe u. a. Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Ders. (Hg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4/2014, Göttingen 2014, S. 315–332. 55 Erikson, Identität und Lebenszyklus. 1973, S. 137.

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Allmachtsphantasien und Euphorie gelenktes Verhalten steht in diametralem Gegensatz zu einer Angstkommunikation, die täglich von den aktuell dominierenden Instanzen vermittelt wird.56 In diesem Sinne erfüllen die Jugendlichen mit ihrem abweichenden Verhalten sehr wohl die an die Jugend in einer »heißen Kultur« gestellten Erwartungen, d. h. »Überliefertes anzuzweifeln, sich mit etablierten Instanzen und gesellschaftlichen Strukturen anzulegen [und] Utopien wie neue gesellschaftliche Ideale verwirklichen zu wollen.«57 Die Verlagerung der Party aus den Clubs und den Diskotheken führt zwangsläufig zu Mutationen des jugendkulturellen Raums, zur Wandlung von Parkanlagen in Disco-Landschaften mit den daraus folgenden Konflikten und Irritationen sowie zur Entstehung und Verbreitung neuer Unterhaltungskonzepte wie die Auto-Disco, das digitale Musikfestival, die U-Bahn-Raves u. ä. In seinem Nachruf auf die Party stellt Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung klar: »[Die Party] verabschiedet sich pandemiebedingt vom Terrain der Sinne und des Soziallebens in die total asoziale Illegalität der Raves.«58 Die Partys stellen entsprechend eine Grenzüberschreitung dar, um sich von den Normen und Moralvorstellungen der Erwachsenen abzugrenzen und sich einen eigenen Status in ihren Peergroups zu erarbeiten. Die entscheidenden Fragen sind: Wie ist der Zustand einer Gesellschaft bzw. ihrer Teilsysteme, wenn diese nicht in der Lage sind, die Irritationen einer kleinen Bevölkerungsgruppe produktiv zu integrieren und deren Lösungen überwiegend einen sanktionierenden Charakter haben? Was bedeutet es für die Entwicklung einer Gesellschaft, wenn der größte Teil einer Adoleszenten-Generation eine »eingefrorene Adoleszenz«59 erlebt und gezwungen ist, vorzeitig und ohne hinreichende Erprobungen eine Erwachsenenrolle zu übernehmen? Eines dürfte klar sein: Ein vorzeitiger Abbruch des psychosozialen Moratoriums bedeutet für die Jugendlichen den Verlust essentieller Entwicklungsmöglichkeiten. Diese versäumten Chancen werden sie möglicherweise nicht mit einem »heldenhaften« Verbleiben auf dem Sofa kompensieren können.

56 Zur Angstkommunikation siehe den Beitrag von Christina Gansel in diesem Band. 57 Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 363. 58 Gerhard Matzig: Die Party ist vorbei. SZ, Ausgabe vom 15. 10. 2020. In: (letzter Zugriff: 17.10.20). 59 Mario Erdheim verweist auf mögliche Pathologien der adoleszenten Entwicklung und auf ihre denkbaren Auswirkungen für die soziale, politische und kulturelle Evolution einer Gesellschaft, wenn die Heranwachsenden ihre avantgardistische Aufgabe nicht erfolgreich erfüllen können. Vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 301ff.

Matthias Braun

AIDS-»Verschwörungstheorien« und Erzählungen und ihre Folgen in Politik und Kultur1

1.

Einleitung

Das sich seit Anfang der 1980er Jahre weltweit ausbreitende HI-Virus hat eine AIDS-Pandemie ausgelöst. Offiziell sind weit über 70 Millionen Menschen auf der ganzen Welt an AIDS erkrankt und bis 2020 davon rund 33 Millionen Menschen an dieser Infektionskrankheit Krankheit gestorben.2 Als Pandemie wird laut Wikipedia eine »neu, aber zeitlich begrenzt in Erscheinung tretende, weltweite starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen und in der Regel auch mit schweren Krankheitsverläufen«3 bezeichnet. Im Unterschied zur Epidemie ist eine Pandemie nicht örtlich beschränkt. Bedeutende Pandemien in der Menschheitsgeschichte waren z. B. die Antoninische Pest von 165–180 n. Chr., die sich auf dem Gebiet des Römischen Reiches ausbreitete und ca. fünf Millionen Tote forderte, der aus Zentralasien stammende sog. »Schwarze Tod« (Yersinia pestis) von 1347–1352, der sich über ganz Europa ausbreitete und etwa ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung das Leben kostete, und die von 1918–1920 grassierende Spanische Grippe, mit der sich schätzungsweise 500 Millionen Menschen weltweit infizierten, von denen mindestens 20 oder sogar 50 Millionen starben. Als Verschwörungstheorie wird Wikipedia zufolge im weitesten Sinne der Versuch bezeichnet, Ereignisse, Zustände, Zusammenhänge und Entwicklungen unter dem Aspekt einer Verschwörung zu deuten. Es handelt sich dabei meist um

1 Der Beitrag beruht auf der grundlegenden Studie von Douglas Selvage und Christopher Nehring, die 2014 unter dem Titel »Die AIDS-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB« in der vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen herausgegebenen Reihe »BF informiert« (33, 2014) erschienen ist. Im vorliegenden Beitrag werden teilweise größere Passagen daraus zitiert. 2 Vgl. (letzter Zugriff: 20. 06. 2021). 3 Ebd.

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ein zielgerichtetes konspiratives Wirken von bestimmten Personen bzw. Personengruppen.4 Nach Helmut Reinalter konstruieren Verschwörungstheorien »ein vereinfachtes Muster der Wirklichkeit, um komplexe Zusammenhänge besser verstehen zu können. Sie reduzieren Komplexität. Verschwörungstheorien stützen sich nicht auf eine Diagnose, sondern enthalten immer eine weltanschauliche Beurteilung der Ereignisse und Zusammenhänge.«5

Folgt man den wissenschaftlich verbindlichen Standards, sind Verschwörungstheorien jedoch keinesfalls als Theorien in einem wissenschaftlichen Sinne aufzufassen. Sie stellen vielmehr das Gegenteil eines größer entwickelten, rational begründeten Modells über einen bestimmten Sachverhalt dar. In diesem Sinne wird im weiteren Verlauf der Begriff »Verschwörungstheorie« immer mit Anführungszeichen verwendet. In der Forschungsliteratur wird zwischen Verschwörungshypothesen, die auch als Zentralsteuerungshypothesen bezeichnet werden, sowie Verschwörungsideologien und Verschwörungsmythen unterschieden.6 Im Folgenden werden Orte und zeitliche Dimensionen der AIDSPandemie und der mit ihr einhergehenden »Verschwörungstheorien« in den USA bzw. die Zentralsteuerungshypothese des KGB skizziert. Im Zentrum des Beitrags steht erstens die politische bzw. geheimdienstliche Instrumentalisierung verschiedener »Verschwörungstheorien«, Verschwörungshypothesen und Verschwörungsideologien, zweitens die AIDS-Forschungshypothesen des in OstBerlin tätigen Biologen Jakob Segal und deren Instrumentalisierung für eine AIDS-Desinformationskampagne östlicher Geheimdienste in den Zeiten des Kalten Krieges, und schließlich drittens die AIDS-Verschwörungserzählungen in Literatur und Film nach 1989.

2.

Zu den Fakten

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts infizierten sich erstmals Menschen mit dem SI-Virus, das in der Folge zum AIDS, d. h. zu einem Immundefizienssyndrom verursachenden HI-Virus mutierte. Zum ersten Mal wurde es bei einem Menschen im ehemaligen Belgisch-Kongo nachgewiesen. Vermutlich durch Trägerkolonnen weiter verbreitet, gelangte es 1967 von Afrika nach Haiti und von dort 4 (letzter Zugriff: 20. 06. 2021). Siehe dazu auch Pfahl-Traughber, Armin: »Bausteine« zu einer Theorie über »Verschwörungstheorien«. Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen. In: Reinalter, Helmut (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung. Innsbruck/Wien/Bozen: Studien-Verlag 2002. 5 Siehe Reinalter, Helmut: Die Weltverschwörer. Was sie eigentlich alles nie erfahren sollten. Salzburg 2010, S. 7f. 6 Ebd.

AIDS-»Verschwörungstheorien« und Erzählungen

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um 1971 in die USA. Erst 1983 konnte eine Gruppe von französischen Wissenschaftlern ein neues Retrovirus aus Lymphoid-Ganglien isolieren, das sie als den AIDS-Erreger identifizierten.7 Unabhängig von dieser Entdeckung galt jedoch bis in die Mitte der 1980er Jahre das HI-Virus immer noch als »ein unheimlicher Virus unbekannter Herkunft«, wie der französische AIDS-Forscher Jacques Leibowitch 1984 in seinem Buch unter demselben Titel schrieb.8

3.

Verschwörungshypothesen und Verschwörungsideologien in den USA und die Desinformationskampagnen des KGB und seiner Verbündeten in den 1980er Jahren

Die Enthüllungen über die »imperiale Präsidentschaft«9 in den USA in den 1960er und -70er Jahren und der plötzliche Ausbruch der AIDS-Epidemie unter verschiedenen Randgruppen in der amerikanischen Gesellschaft – Homosexuelle, Drogenabhängige, Emigranten aus Haiti und Afroamerikaner – wirkten in den USA als Nährboden für Verschwörungshypothesen. Die genannten Bevölkerungsgruppen, die in den USA ohnehin einer permanenten staatlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung und echten Verschwörungen zum Opfer gefallen waren, brachten bei der sich rasant entwickelnden AIDS-Pandemie erneut ihre Verzweiflung und ihr Misstrauen gegenüber den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten und fremden Mächten in diversen »Verschwörungstheorien« bis hin zu Verschwörungsideologien zum Ausdruck. Während Afroamerikaner etliche historische Ansatzpunkte für Verdachtsmomente gegen die US-amerikanische Regierung erheben konnten, befanden die meisten Homosexuellen in den USA die Reaktionen der Reagan-Administration auf die AIDS-Pandemie, bei der sie sich als die Hauptbetroffenen sahen, als vollkommen unzureichend. Auch hier gab es Anzeichen für Verdachtsmomente, sahen doch viele religiös-konservative Regierungsmitglieder die Ausbreitung von AIDS als eine gerechte Strafe Gottes an. Darüber hinaus kritisierte diese religiös geprägte Fraktion die vermeintliche Fokussierung der medizinischen Forschung auf AIDS als eine Krankheit, die sie als Ergebnis persönlicher Unmoral bewertete. Darüber hinaus, so die gängige Meinung konservativer Kreise in den USA, ginge die Konzentration auf die AIDS-Forschung zulasten der Erforschung anderer tödlicher Krankheiten. Vor allem US-amerikanische Journale für Homosexuelle 7 Als Entdecker gelten die beiden Franzosen Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi vom Institut Pasteur in Paris und zugleich in den USA Robert Gallo. 8 Leibowitch, Jacques: AIDS: Ein unheimlicher Virus unbekannter Herkunft. München 1986. 9 Schlesinger, Arthur M. Jr.: The Imperial Presidency. Boston 1973.

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verbreiteten »Verschwörungstheorien«, in denen die Regierung für das Entstehen der AIDS-Pandemie verantwortlich gemacht wurde. In der »Gay Community News« wurde beispielsweise die Theorie propagiert, wonach der AIDS-Erreger aus dem afrikanischen Schweinefieber-Virus entstanden sei, den die CIA angeblich für eine biologische Kriegsführung gegen Kuba in die westliche Welt eingeschleppt hätte.10 Eine andere »Verschwörungstheorie« behauptete, die US-amerikanische Regierung habe im Rahmen eines Programms für chemisch-biologische Kriegsführung den AIDS-Erreger künstlich hergestellt, um alle Queers, Haitianer und intravenösen Drogenkonsumenten zu töten.11 Bereits 1983 erschien in der indischen Zeitung »Patriot« ein vom KGB inspirierter anonymer Brief von einem angeblich »wohlbekannten amerikanischen Wissenschaftler und Anthropologen«, in dem behauptet wurde, dass der AIDS-Erreger das Resultat »der Experimente des Pentagons zur Entwicklung neuer und gefährlicher biologischer Waffen« im United States Army Medical Research Institute of Infectious Diseases in Fort Detrick in Maryland sei.12 Dieser Artikel mit der sog. »Fort-Detrick-These« stieß 1983 jedoch auf kein großes internationales Interesse. Zwei Jahre später war nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit für die AIDS-Pandemie weltweit gewachsen, für die sowjetische Parteiführung und ihre politische Geheimpolizei gab es darüber hinaus mindestens zwei gewichtige Gründe, mit ihrer Zentralsteuerungsthese in Sachen AIDS erneut in die Offensive zu gehen. Zum einen hatte in den USA der rechtsorientierte Dauerpräsidentschaftskandidat Lyndon LaRouche in seiner »Executive Intelligence Review« einen Beitrag abgedruckt, in dem der Sowjetunion vorgeworfen wurde, den AIDS-Erreger selbst als eine biologische Kriegswaffe entwickelt zu haben.13 Außerdem beschuldigte im Februar 1985 ein Bericht der US-amerikanischen die Sowjetunion, durch die Herstellung von Biowaffen gegen die Genfer Konvention zu verstoßen. Bei seinen neuerlichen Desinformationsmaßnahmen zu AIDS nahm der sowjetische Geheimdienst KGB teilweise Bezug auf reale Fakten, machte aber vor allem Gebrauch von den verschiedenen, oben bereits erwähnten »Verschwörungstheorien« über den HIV/AIDS-Ursprung in den USA. In diesem Kontext erschien im Oktober 1985 in der »Literaturnaja Gaseta« ein Artikel von Walentin Zapewalow unter dem Titel »Panika na zapade, ili shto skrivaetsya vokrug AIDS

10 Shively, Charley: Speaking Out: The CDC-CIA-AIDS Political Alliance. In: Gay Community News vom 09. 07. 1983, S. 5. 11 Browne, J. Zamgba: Link AIDS to CIA Warfare. In: New York Amsterdam News vom 30. 11. 1985, S. 12. 12 KGB: Information Nr. 2955 (russ.) vom 07. 09. 1985, COMDOS-Arch-R, F.9.op.4, Bl. 209. 13 Hamerman, Warren J.: AIDS Epidemic Explodes: What is the Russian Angle? In: Executive Intelligence Review vom 18. 10. 1985.

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(Panik im Westen: was steckt hinter der Sensation um AIDS?)«.14 Der amerikanische Historiker Douglas Selvage, einer der besten Experten auf dem Gebiet der internationalen Geheimdienstforschung, notiert dazu in der bereits erwähnten Untersuchung: »In der Folge entwickelte sich eine Dynamik, in der sich Falschinformationen in Form von Verschwörungstheorien in den USA und die Desinformationsthesen des KGB, einschließlich ihrer Verbündeten, wechselseitig näherten.«15 Zusammenfassend heißt es bei Selvage: »Verschwörungstheorien über AIDS in den USA und die Desinformation des KGB nahmen nicht nur Bezug auf die gleichen oder ähnlichen Informationsquellen und Beispiele. Die unter Anleitung des KGB im Verbund mit der bulgarischen und ostdeutschen Staatssicherheit inszenierten Desinformationskampagne machten Gebrauch von Verschwörungstheorien in den USA, und Verschwörungstheoretiker in den USA nahmen immer öfter Bezug auf Desinformationen der östlichen Geheimdienste.«16

Die für die Bekämpfung östlicher Desinformation zuständigen amerikanischen Regierungsstellen verfügten über Hinweise, dass der KGB viele seiner Desinformationsthesen zu »ethnischen Waffen« wie auch zur AIDS-Thematik aus amerikanischen Homosexuellen-Zeitungen bezog.17 Darüber hinaus begannen afroamerikanische Blätter und Homosexuellen-Journale in den USA, die ihrerseits diverse »Verschwörungstheorien« und Mythen zu AIDS verbreiteten, die Desinformationsthesen der sowjetischen Staatssicherheit zu zitieren. Ein Beispiel dafür ist die publizistische Tätigkeit des amerikanischen Psychiaters Nathaniel S. Lehrman, der unbewusst als Multiplikator der Desinformationskampagne des KGB zu AIDS in den USA agierte, indem er in verschiedenen Beiträgen für die afroamerikanische Zeitung »Amsterdam News« behauptet, dass die Verbreitung der AIDS-Epidemie in Teilen von Afrika eine Auswirkung von bakteriologischen und chemischen Experimenten der CIA gewesen wären; das ähnliche Experimente ganz offen an westlichen Homosexuellen, Drogenabhängigen und Afroamerikanern durchgeführt würden und dass die Centers for Disease Control an Experimenten der CIA teilgenommen hätten.18 Diese Behauptungen Lehrmans tauchen in dem bereits erwähnten Artikel von Zapawalow in der »Literaturnaja Gaseta« wieder auf. In einem weiteren ihrer Beiträge von 1986, »Voprosov bol’she, chem otvetov AIDS (Mehr Fragen als Antworten)«, bedient sich die Zeitung zur Untermauerung ihrer Desinformationsthese erneut diverser Hypothesen des amerikanischen AIDS-Experten. So habe Lehrman behauptet, dass die

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Siehe Zapewalow, Walentin. In: Literaturnaja Gaseta vom 30. 10. 1985, S. 14. Vgl. Selvage/Nehring, S. 25. Ebd., S. 29. Snyder, Alvin A.: Warriors of Disinformation. How Charles Wick, the USIA, and Videotape Won the Cold War. New York 1995, S. 113f. 18 Zit. nach Selvage/Nehring, S. 29.

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Opfer von AIDS »in einigen Fällen Ziele vorsätzlichen Mordes sein könnten«, und »als möglichen Täter die CIA genannt.«19 Die »Literaturnaja Gaseta« hatte diese Behauptungen einer seiner Presseerklärungen entnommen.20

4.

Die SED, die HV A und der Biologe Jakob Segal21

Die Auslandsspionage der DDR, die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A des MfS), erhielt 1985 vom sowjetischen Bruderorgan den Auftrag, einen eigenen wissenschaftlichen Beitrag zu der bereits laufenden Desinformationskampagne des KGB in Sachen AIDS zu erstellen.22 Dem Objekt-Vorgang »Denver« der HV A ist zu entnehmen: »[Z]ur Verstärkung antiamerikanischer Vorbehalte in der Welt sowie zur Initiierung innenpolitischer Auseinandersetzungen in den USA übergibt die DDR-Seite eine wissenschaftliche Studie und andere Materialien, die belegen, dass AIDS aus den USA und nicht aus Afrika stammt und AIDS ein Produkt der B-Waffenforschung der USA ist.«23

Bei der erwähnten Studie handelte es sich um eine Forschungsarbeit des Biologieprofessors Jakob Segal von der Berliner Humboldt-Universität, die er zusammen mit seiner Ehefrau Lilli Segal betrieb. Professor Segal hatte sich offenbar aus eigenem Interesse, in Abstimmung mit dem ZK-Sekretär für Internationale Verbindungen Hermann Axen, mit der Frage nach dem Ursprung des HI-Virus beschäftigt und von vornherein beabsichtigt, seine Ergebnisse für propagandistische Zwecke zur Verfügung zu stellen.24 In seinem Manuskript25 stellte Segal 1985 die These auf, dass das HI-Virus das Ergebnis von 1977 stattgefundenen militärischen Experimenten in Fort Detrick, dem United States Army Medical Re search Institute of Infectious Diseases (USAMRIID) in Maryland sei. Das

19 Mehr Fragen als Antworten. In: Literaturnaja Gaseta vom 17. 05. 1986, S. 15. 20 Zit. nach BStU, MfS, HA II, Nr. 22082, Bl. 41–45. 21 Zu Jakob Segal siehe (letzter Zugriff: 15. 03. 2021). 22 Boghardt, Thomas: Operation INFEKTION. Soviet Bloc Intelligence and Its AIDS Disinformation Campaign. In: Studies in Intelligence 53, 2009, H. 4, S. 1–24. KGB: Information Nr. 2955 vom 07. 09. 1985. COMDOS-Arch-R, F. 9 op. 4, a.e 663. 23 Plan der gemeinsamen und abgestimmten aktiven Maßnahmen und der Aufklärungsorgane des MdI der VR Bulgarien und des MfS der DDR für 1987 und 1988, Berlin, 03. 09. 1986; COMDOS-Arch-R, F. 9 op. 4, a.e. 670, Bl. 112. 24 Vgl. Geißler, Erhard: »Lieber AIDS als gar nichts aus dem Westen!« Wie Partei- und Staatsführung der DDR mit dem AIDS-Problem umgingen. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 22, 2007, S. 97. 25 Sie wurde unter dem Titel AIDS – Ist Nature and Origin während des Gipfeltreffens der Blockfreien Staaten 1986 in Harare als Teil einer Broschüre »AIDS – USA –Home Made Evil, Not Imported from AFRICA« verteilt.

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künstlich erzeugte Virus sei aus dem dortigen Labor entwichen, in deren Folge seine Ausbreitung in den USA erfolgt sei. Ferner stellte Segal eine ganze Reihe von weiteren Hypothesen auf. Dazu gehörte beispielsweise die Behauptung, dass das künstlich entstandene Virus in der Nähe von Fort Detrick an Gefangenen, verbunden mit dem Versprechen einer vorzeitigen Haftentlassung, getestet wurde.26 Außerdem sei wegen der langen Inkubationszeit des künstlichen Virus der Krankheitserreger frühzeitig von den Verantwortlichen in Fort Detrick als »ungenügend wirksam« abgetan und die Testhäftlinge deshalb nach 12 bis 18 Monaten als gesund entlassen worden.27 Segal knüpfte mit seinen Hypothesen an Behauptungen der KGB-Desinformationskampagne »Operation Infektion« an. Im Unterschied zu den vom KGB gestreuten Darstellungen, HIV sei als neuartiges Virus von amerikanischen Forschern in Afrika entdeckt und in die USA gebracht worden, beruhte Segals Theorie jedoch auf der Annahme, HIV sei durch den US-Forscher Charles Gallo künstlich aus zwei natürlichen Viren, und zwar aus Visna und HTLV-1 kreiert worden.28 Der von Jakob und Lilli Segal erarbeitete Forschungsbericht und die daraus hervorgegangenen Veröffentlichungen enthielten zahlreiche sachliche Fehler. So war z. B. die Gentechnologie, die erforderlich war, um aus zwei Viren ein drittes künstliches Virus herzustellen, 1977 noch nicht erfunden. Die Segalsche These war im Ganzen unwissenschaftlich. Ihre »lückenlose Indizienkette« bestand aus »Möglichkeiten«, nicht aus »Fakten«. Die Naturwissenschaft verlangt aber nach nachprüfbaren Fakten, schreibt der westdeutsche Molekulargenetiker Benn Müller Hill 1987 und fügt hinzu: »Es gibt harte Evidenz dafür, dass das Virus 1979 in Afrika von Affen auf Menschen übertragen wurde und von dort seinen Weg nahm. Für die Behauptung, dass AIDS ein Produkt von DNA Manipulationen sei, gibt es keinerlei Evidenz.«29

Ungeachtet vieler logischer und sachlicher Fehler, passten Segals Behauptungen zur Konzeption des KGB, die »Fort-Detrick-These« vorgeblich »wissenschaftlich« zu belegen oder zumindest auszuschmücken, um auf breiter Front gegen die USA als Ursprungsquelle zu arbeiten. Die vermeintliche wissenschaftliche Abstützung durch die Behauptungen von Segal war für den KGB von eminenter Bedeutung,30 hatten doch selbst zahlreiche führende Wissenschaftler aus der UdSSR einen künstlichen Ursprung des HI-Virus zurückgewiesen und statt26 27 28 29

Vgl. Segal/Segal; sowie Dehmlow: AIDS – Ist Nature and Origin. O.O, o.D., S. 12. Weitere Hypothesen von Segal siehe Selvage/Nehringer, S. 37. (letzter Zugriff: 23. 06. 2021). Müller-Hill, Benn: Möglichkeiten werden durch Fakten bewiesen. In: Kruse, Kuno (Hrsg.): AIDS – Erreger Aus dem Genlabor? Berlin 1987, S. 44. 30 Wegen Segals früherer Verbindungen zum KGB ist eine direkte Einflussnahme der sowjetischen Auslandsspionage auf Segals Forschung nicht auszuschließen, doch gibt es keinen Beleg für diese Annahme.

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dessen einen afrikanischen Ursprung für wahrscheinlich gehalten bzw. entgegen der Segalschen These das Entstehen des Virus auf die Zeit vor 1977 datiert.31 In Kooperation mit den Auslandsgeheimdiensten der »Bruderstaaten« hat der sowjetische Auslandsgeheimdienst in einer jahrelangen Desinformationskampagne unter dem Decknamen »Operation Infektion« Falschbehauptungen zu den Ursprüngen von AIDS in 25 Sprachen in 80 Ländern erfolgreich verbreitet.32 In der zweiten Hälfte des Jahres 1987 musste der sowjetische Geheimdienst seine AIDS-Desinformationskampagne jedoch abrupt beenden bzw. auf Maßnahmen gegen die Präsenz von US-amerikanischen Militärstützpunkten im Ausland begrenzen. Trotz des Widerstandes von Valentin Falin, zu diesem Zeitpunkt Leiter der Nachrichtenagentur Nowosti, mussten auch die dem ZK der KPdSU unterstellten Organe der sog. »weißen«, also offiziellen Propaganda, 1988 ihre Desinformationskampagne einstellen. Anlass dafür waren die Bemühungen der sowjetischen Führung unter dem neuen Generalsekretär Michail S. Gorbatschow, Abkommen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung mit den USA zu schließen, um u. a. die den sowjetischen Staatshaushalt enormen belastenden Rüstungsausgaben verringern zu können. Die US-amerikanische Regierung hatte als Vorbedingung für entsprechende Gipfeltreffen zwischen Gorbatschow und Ronald Reagan die Einstellung der sowjetischen AIDS-Desinformationskampagne verlangt. Trotz ähnlicher Proteste des State Departments beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR33 und gegen den Rat des KGB führte die HV A ihre aktiven Maßnahmen weiter. Da SED-Generalsekretär Erich Honecker jedoch grundsätzlich eine restriktive Informationspolitik über AIDS vorgegeben hatte,34 beendete ZK-Sekretär Hermann Axen seine Unterstützung für eine Segalsche Publikation in der DDR. Damit konnte die HV A Segal bei der Veröffentlichung seiner Ergebnisse in der DDR nicht mehr behilflich sein. Sie konnte ihn jetzt nur noch davor schützen, dass die Forderungen führender DDR-Wissenschaftler, »Segal zu disziplinieren«, weil er mit seiner These die »DDR-Wissenschaft international lächerlich machte«,35 nicht wirksam werden zu lassen.36 In der Konsequenz der Anweisung des SED-Generalsekretärs konnten sowohl Segal als auch seine Kontrahenten ihre Forschungsergebnisse zu AIDS in der DDR und die DDR-Wissenschaftler die ihrigen auch nicht im Ausland veröf31 US DOS: Soviet Influence Activities: A Report on Active Measures and Propaganda, 1986– 1987. Washington 1987, S. 36f. 32 (letzter Zugriff: 23. 06. 2021). 33 Prof. Dr. Segal, Jakob. In: BStU, AR 2, MfS, HA II/AKG-DOK. 34 Hager, Kurt: Hausmitteilung an Genossen Seidel vom 25. 09. 1986; BA, DY 30/26444, n. p. 35 BV Berlin, Abt. XX/3: Bericht Prof. Segal vom 17. 03. 1987. BStU, MfS, HA XX Nr. 7101, Bl. 306f. 36 Einer MfS-Information »Zur Person Prof. Dr. Segal, Jakob« vom 31. 7. 1986 ist zu entnehmen, dass Jakob Segal von der HV A/SWT/13 positiv erfasst war und damit aktiv für das MfS tätig gewesen war. BStU, MfS, AIM 4835/88, Bd. I, Bl. 114.

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fentlichen. Da Segal zwar in der DDR, aber mit sowjetischem Pass lebte, konnte er jedoch versuchen, weiterhin im Westen seine Hypothesen zu publizieren. Diesen Umstand nutze die HV A aus, um im Rahmen einer sog. operativen Operation dafür zu sorgen, dass der vom MfS überwachte Schriftsteller Stefan Heym für ein westliches Journal ein Interview mit Jakob Segal führen konnte.37 Der von seiner kritischen Einstellung zur USA Getriebene bot dieses Interview vergeblich dem »Spiegel«, der Wochenzeitung »Die Zeit« und der Zeitschrift »Quick« an. Erst durch die massive Hilfe der HV A gelang es im Februar 1987, doch noch Segals »Verschwörungstheorie« in der West-Berliner »taz« zu veröffentlichen. Die letzte aktive Maßnahme der HV A bestand in der Mitfinanzierung des Films »AIDS – die Afrikalegende«38 des westdeutschen Filmemachers Malte Rauch.39 Mit Unterstützung der »Bruderorgane« wollte die HV A den Film in Indien und anderen Entwicklungsländern vertreiben. Der vom WDR mitfinanzierte Film wurde 1989 mindestens drei Mal im westdeutschen Fernsehen und die englische Fassung »Monkey Business: AIDS, the Africa Story« im britischen Channel 4 gesendet. 1992 gab der Leiter der russischen Aufklärung Yewgenii Primakow zu, dass der KGB hinter der internationalen Desinformationskampagne stand, die den Ursprung des HI-Virus in einem US-amerikanischen Militärforschungslabor in Fort Detrick verortete.40 Im gleichen Jahr behaupteten zwei ehemalige HV AOffiziere, hinter der Abfassung und Verbreitung der Segalschen Studie gestanden zu haben. Das Ganze sei eine ihrer »aktiven Maßnahmen« gewesen, die sie auf Aufforderung des KGB durchgeführt hätten.41

37 HA XX: Information zur beabsichtigten Veröffentlichung eines Interviews des Schriftstellers Stefan Heym mit Prof. Dr. Segal über die Herkunft des AIDS-Virus vom 25. 11. 1986. BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 6443, S. 112–114. 38 Die HV A unterstützte dieses Projekt mit 40.000 DM. Siehe Berichtsaufzeichnung mit den deutschen Genossen vom 26. bis 29. 09. 1989, 10. 10. 1989. COMDOS-Arch-R, F 9, op. 4., a.e.691, Bl. 184–189. 39 Dabei handelte es sich um einen Dokumentarfilm, der nach dem Vorbild englischer investigativ- kriminalistischer Filme produziert wurde. Im Film wird gezeigt, dass die Amerikaner Desinformationen zum Thema AIDS verbreiten und technologische Eingriffe missbrauchen. Der Höhepunkt des Films ist ein Interview mit Prof. Segal. Weitere Angaben siehe Selvage/ Nehring, S. 111–113. 40 KGB planted story tying US to AIDS, Russian says. In: The Boston Globe vom 19. 03. 1992, S. 1. 41 Bohnsack, Günter/Brehmer, Herbert: Auftrag: Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte. Hamburg 1992, S. 219f.

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AIDS-Verschwörungserzählungen in Literatur und Film nach 1989

Ungeachtet der großen Fortschritte in der Erkundung des Ursprungs, der Epidemiologie und der Bekämpfung von HIV-Infektionen und AIDS seit den 1980er Jahren, leben sowohl die unterschiedlichsten Verschwörungsmythen in den USA als auch die Desinformationsthese des KGB und deren Erweiterung durch Jakob Segal im Internet und im Bewusstsein vieler Menschen auf der ganzen Welt weiter. Die »Fort-Detrick-These« bzw. deren Segalsche Variante wurde zu Zeiten des Kalten Kriegs und wird noch heute in andere »Verschwörungstheorien« über AIDS und seine Bekämpfung integriert. Die Auslegung der »Fort-Detrick-These« des 1995 verstorbenen Jakob Segal, dessen These laut des Ost-Berliner Molekularforschers Erhard Geißler ein »unappetitlicher Politthriller« und »totaler Unsinn sei«42, treibt aber nicht nur unter alternativen AIDS-Aktivisten, sondern auch in der Literatur, im Film und in der Musik weiter ihr Unwesen. Nach Selvage »spielten Multiplikatoren aus den 1980er Jahren eine Rolle. Entscheidender dafür waren aber die Aktivitäten der Segals und ihrer Anhänger«43 im Verlauf des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Ungeachtet der Tatsache, dass Segal keine empirischen Beweise vorlegen konnte, um seine berühmte »Indizienkette« zu belegen, rückten weder er selbst noch seine Anhänger von der »Fort-Detrick-These« ab. So konnte beispielsweise keiner der US-amerikanischen Gefangenen, die angeblich als Versuchspersonen für das Virus aus Fort Detrick agierten, jemals identifiziert werden. Auch ohne die Unterstützung des KGB und der HV A tauchten nach 1989 Filme und auch Bücher auf, in denen gewissermaßen der Versuch unternommen wurde, diese Beweislücke »künstlerisch« zu schließen. Hierfür steht beispielsweise ein 1996 unter dem Titel »Die Impfung« erschienener Roman. In ihm wird die Geschichte von dem angeblichen Experiment in Fort Detrick und vom Schicksal der gefangenen Versuchspersonen nach ihrer Entlassung erzählt. In einem Vorwort zu dem unter Pseudonym verfassten Roman44 heißt es: »Der Roman sei ein willkommener und anregender nächster Schritt zum Verstehen, Weiterdenken, und hoffentlich irgendwann sogar zum Handeln.«45 Diesen Roman nahm der WDR 1997 zum Anlass, Ausschnitte des bereits oben erwähnten Films »AIDS – die Afrikalegende« zusammen mit Interviews der Filmemacher erneut im deutschen Fernsehen auszustrahlen. Mit »No One Sleeps« des Filmemachers Jochen Hick kam dann 2000 ein weiterer Film ins Kino, dessen 42 43 44 45

Zit. nach einer dpa-Meldung vom 17. 01. 1989. Selvage/Nehring, S. 125. Schulz, Johann/Sherry, Juan: Die Impfung. Stuttgart 1996. Rauch, Maltwe/Claassen, Heimo: Vorwort. In: ebd.

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Story auf der Segalschen »Indizienkette« beruht. Die Heldin des Films findet eine Liste der Gefangenen, die an den angeblichen Versuchen in Fort Detrick teilgenommen haben sollen. Im Verlauf der Handlung werden diese Versuchspersonen eine nach der anderen vom FBI zur Vertuschung des Experiments ermordet.46 Dieser vom WDR mit Arte gemeinsam produzierte Film von Hick wurde im selben Jahr bei der Berlinale gezeigt und positiv rezensiert.47 Als letztes Beispiel sei hier der schwedische Kurzfilm »Nothing happens« erwähnt, der bis heute zur Popularisierung der Segalschen Hypothesen in Schweden beiträgt. Ursprünglich als Aufklärungsfilm zur AIDS-Prävention vom schwedischen Gesundheitsamt in Auftrag gegeben, handelt der Film jedoch mehr von dem angeblich künstlichen Ursprung des Virus als von der AIDS-Prävention. Der Film kritisiert die Theorie des afrikanischen Ursprungs des Virus und tut sie als rassistisch ab. Angebliche Experimente in den USA mit HI-Viren an geistig Behinderten und Gefangenen werden in dem Film mit den kriminellen Experimenten an Häftlingen in Auschwitz gleichgesetzt. Wegen seines Inhalts zunächst vom schwedischen Gesundheitsamt abgelehnt und bis 1993 unter Verschluss gehalten, wurde er im gleichen Jahr unter dem Label einer Enthüllung geheimer Regierungsakten im schwedischen Fernsehen gesendet. Zwischenzeitlich erhielt der Film verschiedene Auszeichnungen auf internationalen Filmfestivals und wird im Internet vom Regisseur noch immer für die Nutzung an Schulen angeboten.48 Gibt man schließlich im Internet das Stichwort Romane über AIDS ein, so nennt beispielsweise die Plattform »Perlentaucher« dazu gleich 46 Bücher. Dass man sich bereits Mitte der 1980er Jahre in den USA auch ganz anders mit dem Thema AIDS künstlerisch auseinandergesetzt hat, dafür steht etwa Susan Sontags bereits 1986 erschienene Erzählung »The Way We Live Now. Wie wir jetzt leben«.49 Erzählt wird hier von der Reaktion einer Gruppe von Freunden auf die AIDS-Infektion eines der ihren, ohne dass ein einziges Mal das Wort »AIDS« oder »HIV« auftaucht. In Sontags Erzählung, so Verena Lueken, »versammeln sich die Freunde um den Kranken, der in ihren Gesprächen, auch wenn sie von ihm handeln, keinen Namen hat. Kaum erkrankt, ist er nur mehr Objekt. Freundlich besucht und beschenkt. Bedacht, beredt und umsorgt. Aber stumm. Ob unter engen und weniger engen Freunden, die Trennung zwischen ›ihm‹ und ›uns‹, zwischen dem Kranken und den anderen, hat sich vollzogen«50.

46 Political Film Society: Film Reviews. »No One Sleeps«. (letzter Zugriff: 23. 06. 2021). 47 Diehl, Alexander: Schwuler Film? In: taz vom 09. 10. 2000. 48 Siehe Andersson, Christoph: Operation Nordlicht: Über die Stasi und Schweden während des Kalten Krieges. Stockholm 2013. 49 Sontag, Susan: Wie wir jetzt leben. München 2020. 50 Lueken, Verena: Nachwort. In: ebd., S. 119.

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Ein Beispiel für eine fiktionalisierte Erkundung, wie die AIDS-Pandemie im engsten Umkreis eines Infizierten kommunikations- und diskursverändernd wirken kann.

III

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Von Thebens Pest zur Pandemie – Metaphorologie einer globalen Tragödie

Atlas en ipse laborat, vixque suis umeris candentem sustinet axem.1 Ovid

Als am 3. Februar 2020 der Literaturwissenschaftler George Steiner im englischen Cambridge verstarb, nahm am Vortag der Pandemie ausgerechnet jener Denker einen Abgang von der Bühne der Welt, der zu Beginn seiner akademischen Laufbahn den Tod der Tragödie konstatiert hatte.2 Als ob es diesen Tod zu wiederlegen gelte, erscheint am 3. Oktober, genau acht Monate nach Steiners Sterbetag, die Enzyklika Fratelli tutti in Vatikanstadt, in der Papst Franziskus die Pandemie als eine »tragedia globale« in Rechnung stellt, die unsere Verwundbarkeiten wie im Sturm bloßgelegt habe, sodass falsche Gewissheiten und stereotype Masken sich aufdeckten.3 Ohne hier eine theologische Summe der apostolischen Stellungnahme ziehen zu wollen, liegt der Befund einer Tragödie doch insofern auf der Hand, als die Ursprungsszene einer tragischen Aufdeckung falscher Gewissheiten schon in Sophokles’ König Ödipus ihren Ausgang in einer Seuche findet: Ödipus handelt bekanntlich erst, nachdem er das Orakel von Delphi aufgrund einer in Theben grassierenden Pest (λοιμός) um Rat gefragt hat, zumindest setzt damit die Handlung der Tragödie ein: »Feuer bringt von innen / der Gott der Pest«4, wie Hölderlin die Strafe Apollons übersetzt, der mit seinen Fieberpfeilen Theben geißelt. Als Geißel der Menschheit ist die Pest eine Göt-

1 »Siehe, selbst Atlas leidet und kann kaum noch die glühende Achse auf seinen Schultern halten!«, Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, S. 81. 2 Steiner, George: Death of Tragedy, New York: Oxford University Press 1980. 3 Vgl. Franziskus: Enzyklika. Fratelli tutti. Sulla fraternità e l’amicizia sociale, Vatikanstadt: Libreria Editrice 2020, § 32. 4 Sophokles: Ödipus der Tyrann. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. München: Hanser 1984, Bd. II, S. 325–388, hier S. 330 (Vers 27–28).

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terstrafe5 und als Götterstrafe setzt sie genau das in Szene, was Steiner als ein entscheidendes Kriterium der Tragödie herausstellte: die unerträgliche Last der Präsenz Gottes6. Für Franziskus ist die Pandemie gleichwohl keine göttliche Strafe, sondern als seufzende und sich auflehnende Wirklichkeit eine Geißel der Geschichte.7 Während Steiner die Unerträglichkeit göttlicher Präsenz in dem inhumanen Schrecken einer kosmisch getragenen Epidemie ausmacht8, stellt Franziskus die Pandemie als globale Tragödie in einen Zusammenhang mit Ciceros historia magistra vitae9. Was Cicero auf den Topos einer historia magistra vitae bringt, ist gleichwohl eine Wendung, die weniger im Bereich der Geschichtsschreibung als vielmehr der Rhetorik steht10, weshalb die Pandemie als Geißel der Geschichte einmal mehr auf die Aktualität der Persuasion verweist: Die Enzyklika Fratelli tutti setzt schließlich dort einen Consensus in Szene, wo die Pandemie als seufzende und sich auflehnende Wirklichkeit für das einsteht, was bei Aristoteles darin gipfelt, »wovon alle überzeugt sind«, denn »das nennen wir wirklich«.11 Gerade jene Verwundbarkeiten, die laut Franziskus unsere falschen Gewissheiten und stereotypen Masken aufgedeckt haben, bringen die Wirklichkeiten, in denen wir in der Pandemie leben, zur Sprache. Eine Sprache, die Hans Blumenberg zufolge die Verlegenheit des Menschen aufzeigt, immer erst eine Übereinstimmung herstellen zu müssen.12 Daher läuft die apostolische Rede von der globalen Tragödie nicht ohne Verlegenheit auf eine Anagnorisis hinaus: Wie Ödipus im Ausgang von Thebens Pest erkennen muss, dass er seinen eigenen Vater unwissentlich tötete und seine Mutter zur Frau hat, müssten eigentlich auch wir im Ausgang der Pandemie unsere Verwandtschaft wiedererkennen – die globale Verwandtschaft unserer Verwundbarkeiten. Man muss nicht erst auf die unsäglichen Realitätsverleugnungen verweisen, die irrigerweise als »Verschwörungstheorien« bezeichnet werden13, um zu sehen, dass dies genau nicht der Fall ist, wir also weder eine globale Verwandtschaft unserer Verwundbarkeiten wiedererkennen noch in einer einzigen konsensualen 5 Vgl. Winkle, Stefan: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen. Düsseldorf/ Zürich: Artemis & Winkler 1997: S. 429ff. 6 Vgl. Steiner, Death of Tragedy. 1980, S. 353 (»the intolerable burden of God’s Presence«). 7 Vgl. Franziskus, Enzyklika. 2020, § 34 (il »flagelli della storia«). 8 Vgl. Steiner, Death of Tragedy. 1980, S. 218f. 9 Vgl. Franziskus, Enzyklika. 2020, § 35. 10 Vgl. Koselleck, Reinhard: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017, S. 38–66, hier S. 40f. 11 Aristoteles, zit. n. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annährung an die Aktualität der Rhetorik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 406–431, hier S. 410. 12 Vgl. ebd., S. 409f. 13 Es sind keine Theorien, sondern Mythen, schlechte noch dazu.

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Wirklichkeit leben. Es reicht sich vor Augen zu führen, dass Franziskus die Wirksamkeit des Topos der historia magistra vitae anzweifelt, indem er auf die Gefahr abstellt, dass wir aus den Lektionen der Geschichte nicht lernen könnten.14 Dieser Zweifel zeigt nachgerade die Verlegenheit an, dass wir von einer Lehrmeisterin des Lebens, die uns mit ihren Geschichten geißelt, nicht ruhigen Gewissens zu überzeugen sind. Vielleicht muss man daher fragen, warum überhaupt von einer globalen Tragödie die Rede ist, wenn es doch eigentlich darum gehen soll, die Pandemie durch die Geißel der Geschichte zu begreifen. Naheliegend ist der Verdacht, dass es sich bei der tragedia globale um eine Metapher handelt, genau genommen, um die poetologische Metapher einer globalen Anagnorisis. Sie springt für die logische Verlegenheit ein15, die sich auf jene sokratische Formel bringen lässt, die zu Beginn der Pandemie Jürgen Habermas in Erinnerung rief, als er in einem Zeitungsgespräch konstatierte, dass es noch nie so viel Wissen über Nichtwissen gegeben habe.16 Zwar war der Anlass dieses Zeitungsgesprächs weder der Charmides noch die Apologie des Sokrates, sondern die Novität Auch eine Geschichte der Philosophie, also jene Arbeit, die Habermas unlängst publiziert hatte, um die metatheoretische Frage nach der gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie historisch zu plausibilisieren, und zwar entlang der Differenz von Glauben und Wissen.17 Der Befund allerdings, dass es zu Beginn der Pandemie noch nie so viel Wissen über Nichtwissen gegeben habe, behauptet gegenüber der sokratischen Ironie eine Quantität, insofern das vergleichende Zahlwort so viel die terminologische Bringschuld des neuzeitlichen Anspruches anzeigt, das Wissen hin zu ihrer endgültigen Vollständigkeit zu definieren18. Noch das additive auch im Titel der Habermaschen Novität gibt letztlich eine Geschichtsschreibung zu erkennen, die sich gerade im Wissen um ihre potenziell vorläufige Unvollständigkeit im Schatten des terminologischen Fluchtpunktes behauptet. Was zu Beginn der Pandemie jedoch zu denken gibt, ist das gewaltige Ausmaß von Nichtwissen – ein Ausmaß, von dessen Quantität sich ein Bild machen kann, wer sich die Qualität der Metapher einer globalen Tragödie vor Augen führt: ihre Globalität. Das Bild einer Globalität der Tragödie springt für die logische Verlegenheit eines pandemischen Nichtwissens ein, insofern sie im Vorfeld der Begriffsbildung provisorisch zur Vollständigkeit bringt, was anders sich nicht begreifen ließe. 14 Vgl. Franziskus, Enzyklika. 2020, § 35. 15 Vgl. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 14. 16 Vgl. Jürgen Habermas: So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie. (letzter Zugriff: 17. 01. 2022). 17 Vgl. Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Berlin 2019: Suhrkamp, S. 9. 18 Vgl. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. 2013, S. 11ff.

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Stellen wir daher den Metapherngehalt der tragedia globale einmal in Rechnung, lässt sich zweierlei festhalten: Erstens, dass die globale Tragödie keine absolute Metapher ist, weil Übertragungen wie die Anagnorisis keinen Grundbestand bilden, sondern in die Eigentlichkeit ihrer Poetologizität sich zurückholen lassen. Als »das Letzte was noch ausgehalten werden kann, wenn man Zuschauer bleiben will«19, markiert die Tragödie vielmehr einen Restbestand, das heißt ein Rudiment »auf dem Wege vom Mythos zum Logos«20 – oder, um hier das, was Steiner die unerträgliche Last der Präsenz Gottes nennt, wieder aufzugreifen: ein Rudiment auf dem Weg von Thebens Pest zur Pandemie. Und zweitens, dass dieser Restbestand anstelle einer Endgültigkeit ödipalen Patrizids und Inzests auftritt, das heißt die Endgültigkeit substituiert, von der Steiner behauptete, dass sie irreparabel ist, weil sie zu keiner gerechten und materiellen Kompensation des erlittenen Leids führen könne.21 In der Metapher wird das Letzte nicht als irreparable Endgültigkeit vorstellbar, sondern als das Ende des Globus, auf dem wir leben, das heißt ein Ende, dessen Gültigkeit in dem Maße verliert, wie sich hinter der Exosphäre das Weltall ausdehnt. Das Letzte, die Tragödie, ist auf einen Absolutismus der Wirklichkeit (Blumenberg) verwiesen, das heißt auf eine Präsenz, die sich in der Pandemie als Störung bemerkbar macht – als eine logische Verlegenheit, die durch Metaphern abgegolten wird.22 Ein Beispiel davon gibt der Pandemiebericht des polnischen Regisseurs Krystian Lupa, der im März 2020 seine Aufführung von Kafkas Der Process in New York abbrechen, anschließend in Marienbad und Theresienstadt die Vorbereitungen seiner in Vilnius geplanten Inszenierung von Sebalds Austerlitz unterbrechen muss, um gerade noch der Grenzschließung entgehend nach Krakau zu gelangen. Dort aber, in der Quarantäne, wird der knapp Entronnene bei der Lektüre alter, vertrauter Bücher von »innerer Unruhe« gepackt: »Und plötzlich ändert sich die geistige Perspektive, du willst nicht zu neuen Büchern, hast sogar Angst vor ihnen.«23 Wer hier nicht zu neuen Büchern will, spielt auf den Passus jener Nacht an, in der Faust in seinem gotischen Zimmer zur Phiole greifen will, um sich das Leben zu nehmen: »Ins hohe Meer wird’ ich hinausgewiesen, / Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen, / Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag«24. Ob diese Reminiszenz an Goethe beabsichtigt ist, sei einmal da19 Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S 38. 20 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. 2013, S. 14. 21 Vgl. Steiner, Death of Tragedy. 1980, S. 8. (»Tragedy is irreparable. It cannot lead to just and material compensation for past suffering«). 22 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S 9–39. 23 Lupa, Krystian; Asyl und Quarantäne. Permanenter Katastrophenzustand – Innere Unruhen eines Regisseurs. In: Lettre International, 2020, H. 3, S 110–113, hier S. 110. 24 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Werkausgabe. Frankfurt a. M.: Insel 1979, S. 26.

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hingestellt, doch hilft sie hier zu berücksichtigen, was hinter der zur Schau gestellten Neophobie auf dem Spiel steht: Was an Büchern innere Unruhe freisetzt und Kafka in der leider zur Phrase abgestumpften Axt, für das gefrorener Meer in uns, aufs Schärfste ins Bild fasste, ist nicht allein das Neue, sondern umfasst als hohes Meer den Absolutismus der Wirklichkeit. Bei Lupa nimmt das eine klaustrophobische Form an: »In Krakau stürmte alles auf uns ein«, so schildert der Regisseur seine Erfahrung am Anfang der Quarantänezeit: »Alles schien aus den Fugen zu geraten, als würde plötzlich ein schizophrener Regen niedergehen, der sich in einer großen, stehenden Pfütze sammelte und unser Wirklichkeitsempfinden veränderte.« An die Stelle des Absolutismus tritt hier das Bild einer einzigen Pfütze, die zwar groß ist, in der gleichwohl ein ganzer Regenschauer seinen Platz finden soll – eine Klaustrophobie, in der die Wirklichkeit als Pfütze zum Stehen kommt. In dieser Beklemmung des Wirklichkeitsempfindens ist für Lupa die Welt alles, was der Fall schizophrenen Regens ist. Der Absolutismus der Wirklichkeit schlägt sich auch in der Metapher einer tragedia globale klaustrophobisch nieder. Eine Klaustrophobie, deren Tragweite vor dem Hintergrund deutlich werden mag, dass mit der Metapher jene Kulturtechnik für obsolet erklärt wird, die von alters her gegen Seuchen prophylaktisch zum Einsatz kam: die Flucht. Schon die im 14. Jahrhundert durch ein Pestgutachten der Sorbonne sprichwörtlich gewordene Losung Cito longe fugas et tarde redeas geht weiter auf Galenos zurück, der Rom im Jahr 166 fluchtartig verließ, um in Pergamon der ausbrechenden Antoninischen Pest zu entgehen, die über 15 Jahre lang nahezu im gesamten römischen Reich grassierte.25 Indes ist die tragedia globale eine Metapher, die ihrer Globalität wegen die absolute Unmöglichkeit einer Flucht imaginiert, denn sie schließt alle, wirklich alle Orte der Welt ein. Dass man dem Virus nicht zu entrinnen vermag, kann deshalb als das Letzte gelten, das aushalten muss, wer Zuschauer der globalen Tragödie bleiben will. Lupa hingegen behält sich noch einen »unwillentlichen prophetischen Akt« vor: Dieser sei ihm bereits 2017 gelungen, als Capri – Insel der Flüchtlinge entstand, sein »Stück über das Phänomen ›Asyl‹«26. Darin stehe die Insel für eine »merkwürdige metaphysische Sicherheit«27 ein, weil dort Menschen verschiedenster Epochen eine Zuflucht vor dem sicheren Tod gefunden hätten. Aufgrund dieser Sicherheit sei das Stück, ohne dass er es geplant hätte, zu einem »Vorzeichen«28 der Pandemie geworden. Elena Esposito hat darauf hingewiesen, dass der Glaube an Omina nicht mit einem Verzicht auf Rationalität einhergeht, sondern einen kontrollierten und 25 Vgl. Biraben, Jean-Noel: Les Hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens. Paris: Mouton 1976, Bd. 2, S. 160f. 26 Beide Zitate: Lupa, Asyl und Quarantäne. 2020, S. 113. 27 Ebd., S. 111. 28 Ebd., S. 113.

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nicht willkürlichen Zugang zu einer höheren Ordnung funktionalisiert. Wird einmal die divinatorische Logik vorausgesetzt, erscheine jede Asymmetrie, das heißt jede aus den Fugen geratene Ordnung, als Kurzsichtigkeit jener, die unfähig seien, die dahinterliegende, höhere Ordnung zu verstehen. Das schließe ein technisches Wissen darüber ein, den Zufall als begrenzte menschliche Perspektive zu deuten. Die Divination funktioniere dann wie ein »in sich lernfähiger Zufallsmechanismus«29, durch den jedweder Zufall im Vorhinein ausgeschlossen sei. Entscheidender Faktor sei dabei, dass die höhere Ordnung als Schrift vorgestellt werde, welche die Technik des Entzifferns der Zeichen erfordere.30 So versucht sich auch Lupa in der divinatorischen Auslegungstechnik des Zufalls, indem er der Insel Capri als Vorzeichen der Pandemie jedweden Zufall abspricht. Allerdings kann er diese Omendeutung nur nachträglich als eine Vorsehung herausstellen, das heißt, er kann seine providentielle Fähigkeit nur durch Nachlese, durch Lektüre einer Schrift, als divinatorische Rationalität behaupten. »Es sind Bilder einer neuen Welt, in der jede Kassenschlange beim Einkauf in einem Supermarkt wirkt wie aus einem unbekannten Roman.«31 Lupa ist in seinem Pandemiebericht das, was Luhmann als Leser bestimmt: ein Beobachter zweiter Ordnung, der »Menschen als Beobachter zu beobachten [gelernt hat – D.B.], unabhängig davon, wie es um den Realitätswert der erzählten Geschichte steht.«32 So beobachtet Lupa mittels zeitlicher Distanz sich selbst und beschreibt, wie sein Alter Ego den Pandemiebeginn erlebte. Aus dieser Beobachtung zweiter Ordnung heraus liest er sein Stück Capri – Insel der Flüchtlinge als eine Beobachtung erster Ordnung, und beobachtet an seiner Kunst, wie sie die Symbolisierungsfunktion übernimmt, das Unsichtbare einer merkwürdigen metaphysischen Sicherheit im Sichtbaren zu repräsentieren.33 Dadurch aber, dass Lupa diese Merkwürdigkeit als Leser unabhängig von ihrem Realitätswert beobachtet, wirkt es so als ob die Welt ein unbekannter Roman und als ob er tatsächlich der Beobachter einer Logik der Divination wäre. Was sich mit einem solchen Übergang ändert, ist das, was als Welt vorausgesetzt wird. Der Beobachter erster Ordnung beobachtet nach Luhmann eine Welt, in der das, was er beobachtet, so mit anderen Dingen und Ereignissen zusammenhängt, dass er sich die Existenz von Dingen vorstellen könne, die unsichtbar sind.34 Betrifft diese Beobachtung 29 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 237. 30 Vgl. Esposito, Elena: Zeit der Divination – Zeit des Risikos. Gesellschaftliche Voraussetzungen der Prophetie und der Prognose. (letzter Zugriff: 16. 10. 2020), S. 4ff. 31 Lupa, Asyl und Quarantäne. 2020, S. 111. 32 Luhmann, Niklas: Literatur als Kommunikation, In: Schriften zu Kunst und Literatur. Hrsg. Von Niels Werber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 373–388, hier S. 383. 33 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017, S. 149. 34 Ebd., S. 149.

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erster Ordnung einmal die Logik selbst, wird man laut Esposito von derselben Logik berührt, die man beobachtet, weshalb Zeichen zu lesen, zu selbstreferentiellen Zirkeln führe, etwa wenn ein Beobachter wie König Ödipus versuche, seinem Schicksal zu entkommen und gerade dadurch zu dessen Verwirklichung beiträgt.35 So stellt das Theater Lupas darauf ab, eine Verwirklichung dessen herbeizuführen, was es zu verhindern gilt: den Zufall. Während die Metapher der tragedia globale im Vorfeld der Begriffsbildung provisorisch zur Vollständigkeit und das heißt zu einem vorläufigen Ende bringt, was anders sich nicht begreifen ließe, wird mit der Insel Capri ein zufälliger Anfang behauptet, der im Nachhinein als Vorzeichen zur Geltung kommt. Während die rhetorische Situation, in der sich die tragedia globale behauptet, zwischen Mythos und Logos auf die Substitutionsfunktion der Metapher setzt und für die Verlegenheit der Vernunft einspringt, hebelt die Divination die logische Verlegenheit einfach dadurch aus, dass sie keinen Consensus herstellen muss. Die Divination sucht sich vielmehr trotz oder gerade aufgrund der Rede von einer schizophrenen Spaltung der Wirklichkeit über eine gemeinsame Erfahrung von pandemischer Unwirklichkeit zu verständigen. Es ist so gesehen eine rhetorische Situation, die wie die Handlung Ödipus scheitern muss: Wer lässt sich schon davon überzeugen, dass die Insel Capri wirklich ein Vorzeichen der Pandemie gewesen ist? Lupa beansprucht daher auch nicht, ein Prophet zu sein, vielmehr zeichne ihn als Künstler aus, dass er »unwillentlich« prophetisch sein könne. Obwohl er nicht wie ein Prophet zu einer Vorhersage fähig sei, behauptet Lupa sein Stück noch dadurch einem concursus divinus zu schulden, dass er auf C. G. Jung rekurriert und seine prophetische Fähigkeit als künstlerisches Wirklichkeitsgefühl anrechnet, gesellschaftliche Katastrophen durch unbewusste Eruptionen gewahr werden zu können.36 Die Pointe dieses Arguments: dem Unbewussten wird ein Religiöses injiziert37, weshalb noch die nachträgliche Vorsehung auf eine höhere Ordnung verweisen kann. Mithin eine divinatorische Auslegungstechnik, weil dem Zufall ein Lernmechanismus durch das Unbewusste zukommt. Ein unwillentlicher Akt Lupas, der gerade als Regisseur kein Zuschauer seiner eigenen Logik bleiben will, sondern Künstler. Anders gesagt: Er entzieht sich der globalen Tragödie der Pandemie, indem er nicht zuschaut, sondern eine höhere Ordnung schaut. Dass es ohnehin »schwer […] geworden ist, Zuschauer zu bleiben«, hat Blumenberg bereits für den Besuch Goethes auf dem Schlachtfeld von Jena im Mai 1806 konstatiert: Nach der Schlacht hatte sich dieser nämlich im Gespräch mit 35 Vgl. Esposito, Zeit der Divination. 2020, S. 13. 36 Vgl. Lupa, Asyl und Quarantäne. 2020, S. 111. 37 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: L’Anti-Œdipe. Capitalisme et Schizophrénie. Paris: Minuit 1973, S. 68.

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dem Jenaer Historiker Heinrich Luden mehr ungewollt als bewusst auf eine Metapher Lukrez’ berufen und sich damit als einen furchtlosen und distanzierten Zuschauer der Schlacht in Szene gesetzt. Es war das Bild eines Zuschauers, der von einem Felsen aus in das tobende Meer zu einem Schiffbrüchigen hinabschaut, und dabei zwar nicht zur Hilfe eilen vermag, doch dort oben, von der Brandung geschützt, ein behagliches Gefühl empfindet.38 Ein Bild, mit dem Goethe zu suggerieren schien, dass ihm die Niederlage bei Jena wie das tobende Meer vor dem Zuschauer mit Behaglichkeit erfüllte, zumindest empörte Luden sich genau darüber, bis ihm »einige Kälte über die Brust hinweg gelaufen sei«39, weil der Dichter auch auf die ungläubige Nachfrage des Historikers hin einfach geschwiegen habe. Das Schweigen Goethes sei laut Blumenberg allerdings vielmehr das Anzeichen einer logischen Verlegenheit gewesen, für die schon die Metapher des Schiffbruchs eingesprungen war, ohne dabei jedoch jene Behaglichkeit abzubilden, die Luden so empörte. Was Goethe nämlich gerade nicht vor Augen gehabt habe, sei das Bild gewesen, mit dem Lukrez das zweite Buch seines Lehrgedichts De rerum natura beginnt und das die Ataraxie, das heißt eine Gemütsruhe imaginieren soll, die auf keiner kosmischen Ordnung ruht, sondern auf den epikureischen Atomismus abstellt. Der lukretische »Zuschauer genießt«, so Blumenberg, »nicht die Erhabenheit der Gegenstände, die ihm seine Theorie erschließt, sondern das Selbstbewußtsein gegenüber dem Atomwirbel, aus dem alles besteht, was er betrachtet – sogar er selbst.«40 Doch genau dieses Selbstbewusstsein habe Goethe verfehlt, weil er auf dem Schlachtfeld »nicht die Distanz der Reflexion«, sondern nur die Distanz eines »selbst Entronnenen«41 habe aufbieten können. Dass Goethe dennoch Zuschauer geblieben ist, kann grundsätzlich einer »Vernunft« angerechnet werden, einer Vernunft, die »den Menschen zum Zuschauer dessen machen kann, was er selbst erleidet.«42 Schließlich habe der Dichter mit der Metapher eines Schiffbruchs mit Zuschauer noch dort etwas begreifen wollen, wo er aufgrund seiner logischen Verlegenheit habe Schweigen müssen. Es sei daher eine absolute Metapher, nicht zuletzt, weil sie einen jener »Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit« markiert, die nicht allein zwischen »definitorischer Bestimmtheit und imaginärer Vorzeichnung« sich spannen, sondern auch die »Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen«43, bewusst machen kann. Was Goethe im Gespräch mit Ludens nämlich nicht habe sagen können und was der ihm unterstellten Behaglichkeit 38 Vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigmen einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014, S. 48. 39 Heinrich Luden zit. n. ebd. 40 Ebd., S. 28. 41 Ebd., S. 54. 42 Ebd., S. 58. 43 Ebd., S. 84.

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entgegenlief, war die Anstrengung sein Entrinnen zu begreifen, das heißt eine Wirklichkeit des Schlachtfeldes zu begreifen, die sich im Gespräch schließlich noch als jene Kälte auswirkte, die Ludens Brust erschauerte, und die also im Nachhinein eine Wirklichkeit hergestellt hatte, über die Goethe im Augenblick des Zuschauens schweigen musste: die Furcht. Während Lukrez im ersten Leitsatz seines De rerum natura davon spricht, dass die Furcht all jene Sterblichen beherrscht, die das Unergründliche den Göttern zuschreiben44, erfasst Goethe das Unergründliche seiner Furcht durch die Metapher eines Schiffbruchs mit Zuschauer. Laut Blumenberg setzt eine solche absolute Metapher eine »katalysatorische Sphäre«45 frei, durch die man nicht »aus dem Bereich der Übertragung«46 herauskommt. Demnach wird die Metapher zwischen Goethe und Luden zum Katalysator einer Übertragung von Furcht. Das Unergründliche, das in Sophokles’ König Ödipus den Rat des delphischen Orakels erfordert und als Pest für eben jene Götterstrafe einsteht, die der furchterregenden Präsenz Apollons zugeschrieben wird –, dieses Unergründliche ist bei Goethe schon deshalb auf die Metapher des Schiffbruchs umgestellt, als er Zuschauer eines Schlachtfeldes gewesen war, der ihn auch ohne Götter das Fürchten lehrte. Gegenüber der grassierenden Furcht in Theben, die für Steiner »that inhuman, nearly cosmic hideousness«47 darstellt, nimmt sich das Leid zwischen den Gesprächspartnern allzu menschlich aus: Goethe ergriff die Metapher, weil »er sich und seine Welt gerade dem Untergang entgangen wußte«48, das heißt sich vielmehr selbst als Überlebenden denn als Zuschauer eines Schiffbruchs gesehen hatte. Deshalb gehört die Metapher in den Bereich der Rhetorik, immerhin ermöglicht sie die Herstellung einer Wirklichkeit noch dadurch, dass im Gespräch anstelle einer reflexiven Ordnung eine Übereinstimmung in der Furcht wirksam wurde.49 Was Luden aus patriotischer Enttäuschung nur missverstanden habe, sei laut Blumenberg der Stellenwert der Ataraxie gewesen, denn angesichts des Schlachtfelds bei Jena markierte diese für Goethe gerade keine Erhabenheit des Selbstbewusstseins, sondern eine Grenze, die er als Zuschauer nicht zu überschreiten wollte, weil er andernfalls eine »Gleichgültigkeit«50 verzeichnet hätte, die sich über das Elend der Zeitgenossen erhebe. Daher kann die Gleichgültigkeit als dasjenige gelten, was Goethe nicht auszuhalten bereit war, weil er als Zuschauer weder ins Geschehen eingreifen noch sich abwenden, sondern an Ort 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. Lukrez: Von der Natur. Berlin: Akademie 2013, S. 19. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. 2013, S. 15. Ebd. S. 187. Steiner, Death of Tragedy. 1980, S. 218. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. 2014, S. 54. Vgl. Blumenberg, Annährung an die Aktualität der Rhetorik. 2013, S. 409. Vgl. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. 2014, S. 53.

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und Stelle bleiben wollte. Seine Teichoskopie markiert eine tragische Grenze, insofern er nicht nur die Behaglichkeit lukretischer Ataraxie verfehlte, sondern auch am »Grenzwert« dessen rührte, was »trotz Furcht und Mitleid oder gerade weil diese die Beteiligung des Zuschauers zugleich ausmachen und zurücknehmen«51, noch auszuhalten ist: an der Tragödie. Was sich dann aber im Gespräch an Furcht übertragen sollte, verweist auf die katalysatorische Sphäre logischer Übertragung, weil sich keine Tragödie absoluter bzw. göttlicher Furcht, sondern eine absolute Metapher relativer Furcht artikuliert: Der Schiffbruch mit Zuschauer bringt bei Goethe das Unergründliche der Schlachtszenerie zur Sprache, weil es im Vorfeld der Begriffsbildung zwar zur logischen Distanz, aber zu keiner Distanz der Reflexion kommt. Die Gesprächspartner reflektieren die Rhetorizität ihrer Situation nicht, sondern katalysieren das Unbegriffliche, das heißt die absolute Metapher ist auf keine rhetorische Situation verwiesen, die eine konsensuale Wirklichkeit herstellt, vielmehr konnte Luden sich an einer vermeintlichen Gleichgültigkeit des Dichters überhaupt nur stoßen, weil er von einer anderen, einer patriotischen Wirklichkeit ausging, die Goethe, der als Zuschauer der Schlacht um sein leibliches nicht aber um ein nationales Überleben fürchtete, nur enttäuschen konnte. So bildet die Metapher eines Schiffbruchs mit Zuschauer einen Grundbestand, der von einer konsensualen Wirklichkeit losgelöst ist und ohne Persuasionslast zur Wirkung kommt. Ganz anders nimmt sich dagegen die apostolische Metapher der tragedia globale aus, weil Franziskus sie rhetorisch funktionalisiert: Im Gegensatz zur katalysatorischen Sphäre einer absoluten Metapher, rührt die Persuasionsleistung der tragedia globale von dem Bild eines Zuschauers her, der sich wie ein Schiffbrüchiger dem tosenden Meer ausgesetzt sieht, dabei jedoch nicht wie Goethe der Schlacht bereits entronnen ist, sondern jederzeit infiziert werden kann. Allein es geht nicht um ein Entrinnen: Gegenüber einem humanen Versagen, wie dem der sogenannten »Festung Europa«, das sich nicht zuletzt aus dem Wegschauen jener speist, die moralisch jedwede Gleichgültigkeit vor den ertrinkenden Hilfesuchenden im Mittelmeerraum von sich weisen, scheint Franziskus zu Beginn der Pandemie auf den historischen Augenblick eines globalen Zuschauens, auf das erzwungene Hinschauen zu setzen, um an die Verwandtschaft unserer Verwundbarkeiten zu appellieren. Zumindest wird in der Enzyklika, das deutet schon der Titel Fratelli tutti an, auf eine globale Solidarität abgestellt, welche gegen die »kalte, und weit verbreitete Gleichgültigkeit« eines »egozentrischen Individualismus« in Stellung kommt.52 In der Sache wendet sich Franziskus damit gegen Ideologeme wie den liberalen Individua-

51 Blumenberg, Lesbarkeit der Welt. 1993, S. 38. 52 Franziskus, Enzyklika. 2020, § 30. Vgl. auch § 68; 69; 72; 73; 113; 199; 209; 224.

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lismus oder das neoliberale Credo, der Markt allein würde alle Probleme lösen53; in der Sprache hingegen rückt mit der Metapher einer tragedia globale eine rhetorische Situation in den Blick, in der Franziskus im Namen der Solidarität für das Hinschauen und Mitleiden wirbt. Im Vergleich: Anstelle der Ataraxie eines lukretischen Zuschauers, der von einem Felsen aus Gleichgültigkeit empfindet, wenn er einen Schiffbrüchigen beobachtet, sucht Franziskus die Pandemie vom Petersdom aus zu beobachten, um die Gleichheit aller zur Geltung zu bringen. Anstelle der Furcht, die Goethe im Angesicht des Schlachtfeldes bei Jena empfindet, weil er um das Überleben seiner selbst bangt, adressiert Franziskus das Mitleid, indem er zum Beispiel auf den barmherzigen Samariter verweist54, vor allem aber die Furcht problematisiert: »Bücken wir uns, um die Wunden der anderen zu berühren und zu heilen? Bücken wir uns, um uns gegenseitig auf den Schultern zu tragen? Dies ist die aktuelle Herausforderung, vor der wir uns nicht fürchten dürfen.«55 Was hier als Furcht problematisiert ist, mag einerseits auf das »Fürchtet euch nicht!« (Mt 28,5) verweisen, mit dem Franziskus seine Andacht zu Beginn der Pandemie am 27. März 2020 auf dem menschenleeren Petersplatz beschloss56; andererseits kommt mit der Metapher einer tragedia globale die karitative Losung eines Mitleids in den Blick, die sich gegenüber der Furcht behauptet. Warum dabei ausgerechnet mit der Metapher ein karikatives Mitleid zur Sprache kommt, mag sich demjenigen plausibilisieren, der einmal die Implikatur der Übersetzung von έλεος und φόβος bedenkt, die hier bisher als Mitleid und Furcht mehr selbstredend denn reflektierend von Lessing übernommen wurde, nämlich dessen Diktum, die Furcht meine eigentlich ein »auf uns selbst bezogenes Mitleid«57: Besonders die Karitas behauptet sich gegenüber solcher Selbstbezüglichkeit des Mitleids, das heißt angesichts einer Furcht innerhalb des egozentrischen Individualismus. Jedenfalls steht mit der Metapher eine Distinktion von Mitleid und Furcht zur Disposition, die den bürgerlich-aufgeklärt verfassten Gesellschaften gilt, vulgo die Leviten liest. Viel grundlegender kommt die Distinktion jedoch zum Vorschein, wenn einmal der bereits erwähnte erste Leitsatz von Lukrez vorausgesetzt wird, wonach von der Furcht beherrscht wird, wer das Unergründliche den Göttern zuschreibt und folglich – wie im Hinblick auf Franziskus wohl zu ergänzen wäre –, ohne Logos, ohne Gottes Wort, in den reinen Mythos zurückfällt. So immerhin mag 53 54 55 56

Vgl. ebd., etwa § 45; 163; 168; 170. Vgl. ebd. § 56. Ebd. § 70. Vgl. (letzter Zugriff: 06. 01. 2022). 57 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Frankfurt a. M.: Insel, 1986, S. 354. (»In einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.«).

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sich erhellen, warum Franziskus den Irrglauben an eine fürchterliche Strafe Gottes problematisiert, droht die Furcht doch anstelle der Glaubenswahrheit zu herrschen. Insofern die Negation der Götterstrafe nämlich eine Positivität anzeigt, die weder durch die katalysatorische Sphäre absoluter Metapher freigesetzt noch durch das apostolische Traditionsprinzip restlos ausgelegt werden kann, verweist die Distinktion auf einen missionarischen Kern: Gerade weil es Franziskus um die Richtigstellung einer vermeintlichen Götterstrafe geht, wird die Metapher einer tragedia globale aufgegriffen. Auf dem Weg vom Mythos zum Logos aktualisiert sich ein mythischer Restbestand genau dort, wo eine göttliche Furcht durch fehlende Logifizierung, mithin durch unterlassenes Mitleid manifest zu werden scheint. Was in der tragedia globale als Wirklichkeit vorgestellt wird, bildet zwar unter rhetorischem Vorzeichen den Ansatz eines logischen Grundbestands von Mitleid, bleibt zugleich aber einem mythischen Restbestand verhaftet. Es ist mitunter ein Rest, der in der Pandemie an Virulenz gewonnen hat und seinen Ausgang in Sophokles’ König Ödipus findet: Der Mythos, dass am Anfang nicht das Wort, sondern die Pest ist. Dabei bleibt die missionarische Pointe dieses Dogmas des Anfangs nur scheinbar hinter der Metapher einer tragedia globale verborgen, denn das apostolische »Bücken wir uns« verweist eigentlich recht explizit, das meint in karitative Praxis umgesetzt, auf jenen »buckligen Zwerg« der Theologie, die Walter Benjamin seinerzeit als so »klein und hässlich« charakterisierte, dass sie »heute« vor Blicken verborgen werden müsse.58 In der Gegenwart der Pandemie hingegen quittiert Franziskus jede Verborgenheit wie folgt: »In der Tat fallen unsere vielfältigen Masken, unsere Etikette, unsere Verkleidungen: Es ist die Stunde der Wahrheit.«59 Was sich zuvor aber in der Pandemie den Blicken offenbart hatte, wurde bezeichnenderweise für klein und hässlich befunden, als Giorgio Agamben, für den sich in der Pandemie die Wissenschaft ausnahmslos dogmatisch, ja als neue Religion darzustellen schien, der Kirche vorwarf, sich zur Magd der Wissenschaft zu machen.60 Allerdings mag diese kleine und hässliche Wirklichkeit der Kirche weniger mit einem Ducken vor wissenschaftlicher Deutungshoheit als vielmehr mit der Bühne zu schaffen haben, die Franziskus den »buckligen Zwergen« der Karitas zu geben beansprucht: Mit dem »Bücken wir uns« soll eben nicht mehr versteckt werden, was den ganzen patriarchalen Bombast am Leben hält. Zumindest verweist die Distinktion, die in der Metapher einer tragedia globale zur Sprache kommt, auf eine Glaubensfrage, die sich dort 58 Vgl. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, Bd. I.2., S. 691–704, hier S. 693. 59 Vgl. Franziskus, Enzyklika. 2020, § 70. 60 Vgl. Giorgio Agamben: Gastkommentar. Ich hätte da eine Frage. (letzter Zugriff: 24. 5. 2020).

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entscheidet, wo nicht mehr Furcht, sondern Mitleid herrscht, wobei es ein Mitleiden ist, das sich weniger im Zuschauen als vielmehr durch karitatives »Bücken« zum Glauben bekennt. Wie dem auch sei, entscheidend ist ohnehin die Frage, warum die Metapher einer tragedia globale in der Gegenwart der Pandemie sinnfällig werden konnte, was also überhaupt den Nährboden für ihren rhetorischen Einsatz bereitete. Wie bisher gezeigt, motiviert sich die apostolische Rede vom Fallen unserer Masken oder vom Aufdecken falscher Gewissheiten durch die Anagnorisis unserer Verwundbarkeiten. Es ist dies eine rhetorische Bloßlegung von Verblendungen, um im Kern den Glauben christlicher Nächstenliebe zu behaupten, das heißt im Namen des Mitleids die Furcht vor der Pest als Irrglauben, als Mythos einer Strafe Gottes anzukreiden. Damit wird in der Metapher selbst zwischen einem eigentlichen Gehalt der Anagnorisis und einem uneigentlichen Gehalt der Pest unterschieden. Mithin ist die Pest eine Metapher in der Metapher, das heißt jener mythische Rest, der nicht in der Logizität aufgeht. Durch die Pest wird die spezifische Verlegenheit der Metapher einer tragedia globale zur Sprache gebracht. Diese logische Verlegenheit ist dabei umso eindrücklicher, wenn man sich vor Augen führt, dass man Steiners These vom Tod der Tragödie gerade dort zu widerlegen suchte, wo die Gegenwart der Tragödie eine Metapher der Pest vorrausetzt: So hat Christoph Menke gegenüber Steiner eingewendet, dass die Tragödie in der Moderne ästhetisch gewendet und ohne tragische Lebensanschauung weitergebildet werden konnte, weil der Tod an Spielcharakter gewonnen habe.61 Das mag für die Moderne gelten, bei König Ödipus jedoch – das Stück also, an dem Menke seine Argumentation entwickelt – kommt die logische Verlegenheit genau dort auf, wo es um die Pest geht: Sie sei nämlich eine Metapher für das thebanische Volk, das sich anders als Ödipus der Urteilspassivität schuldig gemacht hätte, weil sie den Tod Laos nicht aufzuklären suchten. Daher würde die eigentliche Tragödie nicht mit der Pest, sondern damit anfangen, dass Ödipus dort zu urteilen und richten beginnt62, wo er den Orakelspruch als Legitimation für seine Rechtsprechung auffasse: »Ödipus begründet das Recht in dem Orakel, und zugleich bricht er durch die rechtliche Form, die er dem Urteilen gibt, mit dem Orakel.«63 Menke beschreibt diesen Bruch als eine Verrechtlichung des Orakels, man könnte auch von einer Logifizierung sprechen, auf jeden Fall verlieren Orakel wie Pest für das weitere Geschehen an Bedeutung »Das Problem, um das es am Anfang geht, verschwindet.«64 Das ist in der Tat eine moderne 61 Vgl. Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 135. 62 Ebd., S. 19f. 63 Ebd., S. 28. Vgl. ebd. auch Endnote 29. 64 Ebd., S. 231.

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Lesart von König Ödipus, da sie die klassische Dramenform aufbricht, um – kritisch im Sinne eines kantischen Tribunals65 – einen eigentlichen Anfang zu bestimmen, die Pest hingegen als uneigentlichen Anfang auszusondern. Es ist – nicht ohne Ironie – eine begriffliche Arbeit am Spielcharakter der Tragödie, die ausgerechnet mit der Metapher der Pest nichts anzufangen weiß. Von der Gegenwart der ödipalen Tragödie vermag Menke also nur zu überzeugen, weil er die logische Verlegenheit der Pest als irrationalen Ballast des Anfangs über Bord wirft, wodurch aber ausgerechnet der Mythos – und das meint nicht zuletzt auch den Plot der Tragödie, mit Anfang, Mitte und Ende – ins Aus gespielt wird. Noch die Bestimmung eines eigentlichen Anfangs kann den mythischen Anfang nicht ersetzen, weil er hier nun einmal begrifflich erarbeitet ist. Vielleicht ist es daher überzeugender, wenn Franziskus die Tragödie im Ganzen als Metapher begreift, um auf dem Weg vom Mythos zum Logos auf den Glauben zu kommen, die Pest qua Wort, die Furcht qua Mitleid zu überwinden. Nicht von Ungefähr gibt schon die tragedia globale die Metapher als Metapher zu verstehen, und damit also, dass am Anfang das Wort und nichts als das Wort ist. Am Ende wird daher erneut deutlich, warum sich das Christentum im Überwältigen der antiken Vorgaben dort »als rhetorisch überlegen [zeigt – D.B.], wo es in der Wahrheit überlegen zu sein nur behauptet – kurz: es verrät die christliche Theologie als wahre Erbin der römischen Rhetorik«66 – was Agamben in der Pandemie gemerkt hat. Allerdings scheint er daraus den falschen Schluss gezogen und genau das, was konstituierend ist, als Preisgabe an die Wissenschaft missverstanden zu haben: »Ohne den Verrat«, wie Manès Sperber es einmal pointiert, »könnte die absolute Herrschaft den Betrug ihrer Vollkommenheit nicht aufrechterhalten«, weshalb noch die »Überzeugung, verraten worden zu sein […] eine Art negativen Trost«67 darstellt. Unterdies ist der springende Punkt keine Preisgabe, sondern eine rhetorische Situation, in der ein Dogma verraten wird, um ex negativo von der absoluten Herrschaft Gottes zu überzeugen: Da die Behauptung einer einzigen wahren Wirklichkeit nicht als globaler Consensus hergestellt werden kann, muss ihre Gültigkeit verraten werden, um von einem Mitleid zu überzeugen, dass für alle wirklich sein könnte, wenn es nicht durch Egoismus verraten werden würde. Das Mitleid ist der negative Trost, den Franziskus noch in der Hoffnung zur Sprache bringt, dass wir aus der pandemischen Wirklichkeit eines »Wir« in keine »neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung […] verfallen«68. Ergo steht der Egoismus hier als Triebfeder der Pluralität von Wirklichkeiten ein, während das Mitleid, das markiert schon das Präfix, auf eine Gemeinsamkeit aller Wirklich65 Vgl. Deleuze, Gilles: Différence et répétition. Paris: Presses Universitaires, S. 179. 66 Haverkamp, Anselm: Säkularisation als Metapher. In: Metapher – Mythos – Halbzeug: Metaphorologie nach Blumenberg. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 165–178, hier S. 177. 67 Sperber, Manès: Die Achillesferse. Frankfurt a. M.: Fischer 1969, S. 75f. 68 Franziskus, Enzyklika. 2020, § 35.

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keiten abstellt. Jedenfalls zeigt sich solcherart die rhetorische Volte, mit der die Überlegenheitsgeste dogmatischer Behauptung von ihrer einzigen Wirklichkeit zu überzeugen sucht. Gott sei wahr, weil die Nächstenliebe in der Karitas wirklich wird. Diese Behauptung funktioniert jedoch nur durch eine Theodizee, in der das Leid keinen Widerspruch göttlicher Allmacht, die Pandemie gleichermaßen keine Strafe Gottes bedeutet. Es ist eine Rechtfertigung, mit der die absolute Herrschaft qua Leid um ihre Vollkommenheit betrogen wird, damit das karitative Mitleid zu überzeugen vermag. Nicht das Leid verrät dann die absolute Herrschaft Gottes, sondern der Egoismus verrät das Mitleid. In gewisser Weise hat Agamben daher recht, wenn er der Kirche vorwirft, sich hinter der Wissenschaft zu verstecken, denn der Verrat an der Vollkommenheit findet seine rhetorische Rechtfertigung des Leides in der Wissenschaft, weil sie es ist, die mit der Erforschung des Infektionsgeschehen eine Wirklichkeit garantiert, die Franziskus in der Pandemie zum Ausgang der Glaubensfrage nimmt: die Verwandtschaft unserer Verwundbarkeiten. Jedoch erschöpft sich dieser Verrat nicht darin, dass anstelle des Glaubens wissenschaftliche Garantien die Wirklichkeit versichern, da das Infektionsgeschehen ebenfalls eine Wirklichkeit ist, die trotz seiner realen Gegebenheit auf Rhetorik angewiesen ist. Selbst ein faktisch garantiertes Wissen kann nicht ohne Persuasion beanspruchen, konsensfähig zu sein. Ein Allgemeinplatz, der im Laufe der Pandemie zur Wirklichkeit unzähliger Realitätsverleugnungen sogenannter »Verschwörungstheorien« wurde, deren Persuasionen allenfalls erfolgreich sind, wenn durch einen postfaktischen Konsens allzu übereinstimmende Wirklichkeiten herstellbar werden. Dass damit ein breiter und lang geltender Konsens über die Faktizität und ihre immer nur vorläufige Befundbarkeit in Frage gestellt wurde, forderte die Wissenschaft umso mehr heraus, als dass das von Habermas konstatierte Nichtwissen am Pandemiebeginn ein Vertrauen in die Wissenschaft nachgerade einforderte. Wenn überhaupt kann darum gesagt werden, dass es eher die Wissenschaft denn die Kirche war, die aus logischer Verlegenheit heraus einen Verrat an ihr selbst thematisierte – und sich vielleicht sogar zu dogmatischen Selbstbehauptungen verleiten lassen haben mag. Das wäre zu prüfen. Auf jeden Fall mag Agamben sich irren, wenn er der Kirche vorwirft, sich kurzerhand hinter einer Wissenschaft, die zur neuen Religion avanciert sei, zu verstecken, denn das Dogma verrät sich an keine Wissenschaft, sondern ausschließlich an sich selbst. Es ist die Behauptung einer Wahrheit, die der Rhetorik überlegen zu sein, eben nur behauptet. Anders gesagt: Kirche wie christliche Theologie verbergen sich hinter der Historizität ihrer eigenen Rhetorik. Zumindest liest Franziskus die Pandemie mittels des rhetorischen Topos einer historia magistra vitae, um sich nicht nur der antiken Vorgabe als Überlegen zu zeigen, sondern ebenso, ja vorrangig der Gegenwart. Ein Kalkül, mit dem der ciceronianische Topos als provisorische

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Bestimmung eines erlebten, dennoch »unbegriffenen Verlaufmoments« der Gegenwart fungiert. Zugleich aber auch eine antiquierte Wendung, mit der es die geschichtliche Prozessualität zu kompensieren gilt: »Am Anfang […] war der Prozeß«69, wie Odo Marquardt den Beginn moderner Geschichtsauffassung zur Darstellung bringt. Diesem Prozess gegenüber behauptet sich das Dogma eines Anfangs im Wort nunmehr mittels der historia magistra vitae. Was mit dem Topos nämlich zur Disposition steht, ist weniger die Bedeutung, die ihm zuerst Cicero beimaß, als er darunter eine Beispielsammlung verstand, die es für das Leben zu erlernen und als Erfahrungsschatz vergangener Geschichten zu perennieren gilt70, als vielmehr die Behauptung, dass alle Geschichte am Ende nur Rhetorik sei. Das heißt, dass es sogar den Verlaufsmoment einer Gegenwart, das heißt also ihre Prozessualität, als bloße Rhetorizität zu entlarven gilt, um die Überlegenheit des Logos behaupten zu können. Ein verräterisches Kalkül, das mit Blumenberg als sprachliche Säkularisierung identifiziert werden kann, in der es »durch betontes Vorweisen der Herkunftsmerkmale Effekte auf dem Spektrum zwischen Provokation und Vertrautheit hervorzurufen »71 gilt. Mithin ein »Stilwille«72, der nicht nur am antiquierten Topos, sondern ebenfalls an der Metapher einer tragedia globale deutlich wird, insofern die Behauptung, dass die Pandemie keine Strafe Gottes sei, die Frage ihrer Herkunft provoziert, nur um dann gegenüber der Pest die Vertrautheit des Logos vorzuweisen. Es ist eine sprachliche Säkularisierung, mit der im Namen seiner Vollkommenheit die absolute Herrschaft Gottes verraten wird, um die Effekte von Herkunftsmerkmalen, ergo um die Wirksamkeit des Logos, nicht aber um eine Substanz des Anfangs herzustellen – die auch schwerlich begründet, vielmehr nur behaupten werden kann. Ob dieses »Stilwillens« jedenfalls kommt Franziskus auf die historia magistra vitae zu sprechen, weil dieser Topos, wie es Koselleck einmal gegenüber dem »prosaischen Stil« Thukydides’ hervorhebt, den Vorzug der Wirksamkeit habe.73 Thukydides nämlich beanspruchte in seiner Historiographie des Peloponnesischen Krieges noch »ein truglos-klares Bild vor Augen zu führen von dem, was gewesen ist und was – nach Menschenart – wieder einmal so und ähnlich sein

69 Marquardt, Odo: Kompensation – Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse: In: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. München: Fink 2003, S. 64–81, hier S. 64. Vgl. auch Koselleck, Reinhard: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013. 70 Vgl. Koselleck, Historia Magistra Vitae. 2017, S. 40. 71 Blumenberg, Hans: Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2016, S. 115. 72 Ebd. 73 Vgl. Koselleck, Historia Magistra Vitae. 2017, S. 40f.

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wird«74. Ein Anspruch, dem man zuletzt als den Versuch charakterisierte, »die historische Realität eines Ereignisses festzuhalten und deren Wiederholung zu beeinflussen.«75 Mit anderen Worten ist es eine Historiographie, die genau dort einsetzte, wo eine auf Wirksamkeit angelegten Rede nicht weiterführend war. So berichtet Thukydides von der attischen Pest um 430 v. Chr., in der weder das Befragen von Orakeln noch die Ärzte vor der Seuche schützen konnten. Alsbald hätte vielmehr »jeder, Arzt wie Laie, seine Meinung«76 dazu geäußert, was ob der Krankheit zu tun sei. Statt dieser Meinungsmache suchte der attische Historiker daher Krankheitsverlauf und Symptome zu beschreiben, um für den Fall einer Wiederholung ein truglos-klares Bild zu zeichnen: Von Kranken, die innerlich ein derart starkes Brennen verspürten, dass sie »nicht einmal die ganz dünnen Kleidungsstücke und feinsten Gewebe anziehen wollten und es überhaupt nur nackt aushielten, ja, am liebsten in kaltes Wasser gesprungen wären«; mitunter sogar von Kranken, »um dich sich niemand kümmerte«, und die einfach »in die Zisternen« sprangen, weil ein Durst sie plagte, »der nicht aufhörte«77; und schließlich auch von den Davongekommenen (οἱ διαπεφευγότες), die wie Thukydides selbst die Krankheit überlebten, »denn zweimal (δὶς γὰρ) u¨ ber denselben fiel die Krankheit nicht her, jedenfalls nicht mit to¨ dlichem Ausgang.«78 Die Partikel γὰρ (denn) hat dabei methodischen Stellenwert, weil sie als kausale Konjunktion die Begründung des zuvor Behaupteten einleitet und damit das herstellt, was Koselleck als »reflektierte Spannung […] zwischen Sprache und geschichtlicher Wirklichkeit«79 bezeichnet hat. Wenn Thukydides sagt, dass es Überlebende gegeben habe, dann leitet er die Begründung dieser Aussage durch das γὰρ ein und verweist dadurch auf eine Wirklichkeit, die »keine Sprache […] mehr einholen«80 kann. Es ist damit eine Wirklichkeit, die keinen Consensus voraussetzt, sondern einen Widerspruch, »der zwischen der tatsächlichen Geschichte und dem, was davor, dabei und danach darüber gesprochen wird, immer wieder aufbricht.«81 Weitaus effektiver nimmt sich dagegen der Topos einer historia magistra vitae aus, weil hier die Wirklichkeit durch Übereinstimmung hergestellt, nicht aber durch Widersprüche reflektiert werden soll. Für Franziskus zählt diese Wirk74 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Berlin: De Gruyter 2017, S. 375 (II, 51, 6). Außerdem hinzugezogen: Reiner Tack: Thukydides. Textauswahl und Kommentar. Hamburg: Diplomica 2012, S. 129. 75 Türk, Johannes: Die Immunität der Literatur. München: Ch. Beck 2011, S. 28. 76 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. 2017, S. 369 (II, 48, 3). 77 Ebd., S. 371. (II, 49,5). ´ στε καὶ κτείνειν, οὐκ ἐπελάμβανεν«). 78 Ebd., S. 375 (II, 51,6) (»δὶς γὰρ τὸν αὐτόν, ὡ 79 Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 40. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 39.

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samkeit gleichwohl nur als Kompensation eines unbegriffenen Verlaufmoments, stellt er doch den Erfolg eines darüber hergestellten Konsenses nachgerade in Frage. Wenigstens bringt er die Gefahr ins Spiel, dass wir die Lektionen der Geschichte nicht lernten82 –, kurzum, er bezweifelt die Wirksamkeit des Topos, obgleich oder gerade weil er auf sie baut. Stattdessen wird mit der historia magistra vitae der unbegriffene Verlaufsmoment als Unbegriffenes abgegolten, das heißt die Wirklichkeit einer logischen Verlegenheit hergestellt, für die schließlich die Metapher einer tragedia globale einspringen kann: Obwohl wir aus der Vergangenheit genug hätten lernen können, haben wird die Pandemie wie Ödipus sein Schicksal nicht kommen sehen. Dadurch erhält selbst diese Metapher noch eine gewisse »begriffliche Funktion«, denn ihr kommt zwischen Mythos und Logos noch die Aufgabe zu, einen »akuten Ausdrucksmangel für einen neu aufgetretenen Sachverhalt zu beheben«83 – wenn auch unter dem Vorzeichen sprachlicher Säkularisierung, weil es nicht wie noch bei Thukydides um eine Wirklichkeit geht, die sprachlich nicht einzuholen wäre, sondern geradezu entgegengesetzt um eine Rückkehr auf den rein sprachlich bleibenden Ausdruck, das heißt auf den Restbestand einer Tragödie. Zwar funktioniert die Metapher begrifflich, wenn sie etwa jenes Nichtwissen erfasst, das Habermas zu Pandemiebeginn konstatierte, das heißt eine falsche Gewissheit wird begreifbar, die uns wie König Ödipus genommen wurde; zugleich jedoch kommt die Metapher nur aufgrund der Richtigstellung zur Geltung, dass die Pandemie keine Strafe Gottes, kein Mythos, sondern eine karitative Aufgabe darstelle. Hierin zeigt sich daher ein Stilwille, der auf die Letztbegründung eines Mitleids, eines »Fürchtet euch nicht!« im Logos hinausläuft, wobei es sich immer schon um die Leerformel einer Behauptung handelt, die der Rhetorik überlegen zu sein, eben nur behauptet. Somit mag hier ausschließlich für die rhetorische Situation, das heißt ohne positivistische Hypothek gelten, was Hans Albert einmal »Immunisierungsstrategie«84 genannt hat. Immerhin zeigt die Behauptung einer Behauptung, durch die sich Franziskus nicht nur der antiken Vorgabe überlegen, sondern auch der Gegenwart unangreifbar zeigt, die allzu menschliche Kalkulation an, dass die Vertrautheit säkularisierten Sprachgebrauchs immer auch beschützend, ja immunisierend wirken kann. Die Wirksamkeit dieser Immunisierung resultiert dabei aus keiner Gegebenheit, sondern stellt sich dort ein, wo ein unbegriffener Verlaufsmoment kompensiert, das heißt der Lauf der Dinge aufgewogen wird durch eine sprachliche Säkularisierung, in der jedwede Prozessualität immer

82 Vgl. Franziskus, Enzyklika. 2020, § 35. 83 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit. 2016, S. 115. 84 Albert, Hans: Der Mythos der totalen Vernunft. Dialektische Ansprüche im Lichte undialektischer Kritik. In: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie: Neuwied/Berlin: Luchterhand 1972, S. 193–234, hier S. 199.

Von Thebens Pest zur Pandemie – Metaphorologie einer globalen Tragödie

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schon auf das bleibende, unveränderbare Wort Gottes verweist. Ohne das Dogma ahistorischer Substanz gibt es keine Säkularisierung.85 Überdies mag die Immunisierungsstrategie des säkularisierten Sprachgebrauchs an Kontur gewinnen, wenn man sich einmal vergegenwärtigt, dass Thukydides seine Historiographie ob einer tatsächlichen Immunisierung in Angriff nahm. Jedenfalls gilt seine Aussage, wonach ihm selbst wie auch den anderen Davongekommenen kein zweites Mal die Pest befiel als historisch erster Beleg für das biologische Phänomen der Immunisierung, mitunter auch als Auslöser einer Geschichtsschreibung, die prophylaktisch auf einen Wiederholungsfall ausgelegt ist.86 Wobei festzuhalten ist, dass es Thukydides gerade nicht um eine Wirksamkeit der Immunisierung zu tun war, geschweige denn um die Biologizität des Phänomens, »that […] was not then a matter of common knowledge«87, sondern um die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozess (Hans-Peter Stahl) – insofern der Mensch »nicht fähig [sei – D.B.], sich selbst in den Bedingungen seiner eigenen Gegenwart zu erfassen.«88 So berichtet Thukydides von einer »Hochstimmung« mancher Davongekommenen, die »für die Zukunft ein Stück eitler Hoffnung [hatten – D.B.], wohl nie und nimmer mehr an irgendeiner anderen Krankheit zu sterben.«89 Eine Hoffnung derer also, die sich unfähig zeigten, die Bedingungen der eigenen Gegenwart richtig zu erfassen, sodass aus einer unbegriffenen Immunisierung heraus eine Hochstimmung zur Wirkung – aus einer gegenwärtigen Gesundheit heraus eine allzu gefällige Wirklichkeit der Zukunft zur Herstellung kam. Dahingegen kann die thukydideische Historiographie als der »Verzicht« charakterisiert werden, »für jede Gegenwart alles an Erkenntnis zu beanspruchen«90, weil Thukydides gar nicht erst probiert, das Phänomen der Immunisierung zu deuten, sondern mit seiner Beschreibung der Symptome und des Krankheitsverlaufs versucht, ein Vorwissen für den Wiederholungsfall zu liefern.91 Nicht zuletzt verzichtet er damit auf die Hochstimmung, das heißt auf das, was die Immunisierung bei einigen Davongekommenen bewirkte: die Herstellung eines Consensus, der den Mythos einer Unsterblichkeit nährt. Wenn Mythen allenfalls erzählt werden, »um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und

85 Vgl. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit. 2016. 86 Vgl. Türk, Immunität der Literatur. 2011, S. 19–28. 87 Vgl. Holladay, A. J. / Poole, J.C.F.: Thukydides and the Plague of Athens. The Classical Quarterly, Vol. 29, 1979, H. 2, 282–300: S. 298. 88 Stahl, Hans-Peter: Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozess. München: Ch. Beck 1966, S. 171. 89 Vgl. Thukydides, Peloponnesische Krieg. 2017, S. 375 (II, 51, 6). 90 Vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 112. 91 Vgl. Rechenauer, Georg: Thukydides und die hippokratische Medizin. Naturwissenschaftliche Methodik als Modell für Geschichtsdeutung. Hildesheim: Olms 1991, S. 231–238.

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schwererwiegend: die Furcht«92 – dann reflektiert die thukydideische Historiographie sowohl das unbegriffene Verlaufsmoment der Zeit als auch die Furcht vor der attischen Pest, um eben die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozess, nicht aber in einer mythischen Geschichte zu bestimmen. Wobei, wie sich mit Blumenberg präzisieren lässt, die Historiographie auf den Anspruch, »alles Menschliche für erinnerungswürdig« zu erachten, verzichtet, um stattdessen eine Kultivierung der memoria vorzunehmen. Seit Herodot und Thukydides sei die Literatur der Historiker die einzige Literaturform, die es mit Rang und Geltung der Poeten aufnehmen könne, weil sie die Erinnerungen nicht repräsentiere, sondern produziere.93 Mit anderen Worten: Thukydides produziert die Erinnerung an die Immunisierung, ohne ihre mythische Bedeutung zu repräsentieren. In seiner Historiographie wird nicht bestimmt, was das Phänomen ist, sondern beschrieben, wofür es im Laufe der attischen Pest gehalten wurde. Im Unterschied dazu behauptet Franziskus allein dort schon apostolische Repräsentanz, wo er in der Enzyklika richtigstellt, dass die Pandemie keine Strafe Gottes ist. Dessen ungeachtet geht seine Immunisierungsstrategie sprachlicher Säkularisierung jedoch nicht im Mythos auf, weil die Furcht nicht vertrieben, sondern als unbegriffener Verlaufsmoment der Zeit durch den Logos kompensiert werden soll. So kann die Immunisierungsstrategie einen rhetorischen Vorteil für sich geltend machen, insofern sie nicht von einer gegebenen, sondern von einer nicht gegebenen Immunisierung ausgeht. Während nämlich die unbegriffene Substanz biologischer Immunität (Antikörper etc.) zur Hochstimmung einiger Davongekommener und ihrer Hoffnung wurde, die Immunisierung werde ihnen in Zukunft erhalten bleiben, sucht die apostolische Immunisierungsstrategie dort eine Zustimmung zu bewirken, wo sich das karikative Mitleid im Namen christlicher Nächstenliebe gegen die Furcht wendet, um die Verwandtschaft unserer Verwundbarkeit – sprich: die ausbleibende Immunität –, aufzufangen. Dieser rhetorische Vorteil wurde gerade zu Beginn der Pandemie eklatant, als der mythische Restbestand ausgerechnet dort persistierte, wo die politische Hoffnung genährt wurde, dass die Wissenschaft den Impfstoff schon entdecken werde – mithin, dass trotz eines bis dato unbegriffenen Virus in Zukunft bleiben werde, was wir an Immunität zu besitzen, mit Gewissheit nur glaubten. So wahrscheinlich und berechenbar diese Hoffnung auch gewesen sein mag, sie bleibt mythisch, wo sie die Furcht durch eine Bringschuld auf die Zukunft vertreibt. Demgegenüber ist die apostolische Immunisierungsstrategie im Zeitvorteil, weil sie – und das bringt die Metapher einer tragedia globale zur Prägnanz –, nicht von der Zukunft, sondern mit der 92 Blumenberg, Arbeit am Mythos. 2006, S. 40. 93 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt a. M: Suhrkamp 2011, S. 371ff.

Von Thebens Pest zur Pandemie – Metaphorologie einer globalen Tragödie

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Globalität von einer einzigen Wirklichkeit überzeugen will, die immer gegeben sei. In der Summe bleibt festzuhalten, dass selbst dieser Zeitvorteil noch Indiz der sprachlichen Säkularisierung ist. Zumindest definierte Steiner die Tragödie gerade als diejenige Form der Kunst, in der sich Lasten und Schmerzen durch keine Zeit heilen lässt: »In tragedy, there are no temporal remedies. The point cannot be stressed too often. Tragedy speaks not of secular dilemmas which may be resolved by rational innovation, but of the unfaltering bias toward inhumanity and destruction in the drift of the world.«94 Damit hatte Steiner durchaus ein, obgleich implizit bleibendes, Kriterium jener Kritik antizipiert, die Blumenberg ein Jahr später in der deutschen Debatte zur Säkularisierung formulieren sollte.95 Wenn Steiner nämlich der Tragödie kein Heilmittel der Zeit verschreiben mochte, dann bestritt er eben, dass es für diese Form der Kunst noch eine metaphysische Substanz gibt, die nach dem Tod der Tragödie in und mit der Zeit umzuwandeln wäre. Anstelle einer Säkularisierung hatte Steiner seiner titelgebenden Generalthese eines Tods vielmehr die Hypothese einer wiederauflebenden Tragödie entgegengestellt und auf den letzten Seiten seines Essays von einem Dokumentarfilm über eine chinesischen Agrarkommune berichtet: Nach der Feldarbeit versammeln sich die Arbeiter auf einem Kasernenhof zu einem Chor und singen ein Lied des Hasses gegen die Feinde Chinas. Dann springt ein Gruppenführer aus den Reihen und formt eine Art heftigen, verschlungenen Tanz. Er stellt pantomimisch den Kampf gegen die Imperialisten und deren Niederlage durch die Bauernarmee dar. Die Zeremonie endet mit der Schilderung des Heldentodes eines der Gründer der örtlichen kommunistischen Partei. Und es war diese Szenerie, die Steiner zu der Frage führte, ob nicht vor dreitausend Jahren die Tragödie aus einem vergleichbaren Ritus des Trotzes und der Ehre der Toten entstanden sei.96

94 Steiner, Death of Tragedy. 1980, S. 291. 95 Blumenberg beginnt diese Auseinandersetzung mit dem 1962 gehaltenen Vortrag: Säkularisation. Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität. 96 Steiner, Death of Tragedy. 1980, S. 351–355.

Hans-Christian Stillmark

Heiner Müllers letztes Fragment »Krieg der Viren«

Das Nachdenken über Viren muss bei Heiner Müller schon einige Zeit angehalten haben, denn nicht nur ein Stückfragment, das zur Schlussszene seines letzten Stückes konzipiert worden war, sondern auch gesprächsweise beschäftigte ihn das Thema ernsthaft. Ich betone hier die Ernsthaftigkeit, weil es sich vor Corona fast wie ein Witz anhörte, wenn ein Dramatiker vom Rang eines Heiner Müller öffentlich über den Krieg der Viren sinnierte. Immerhin: Der Störfall Corona hat in unseren Tagen immerhin einen Autor wie Kurt Drawert dazu veranlasst, bei Müller nachzuschlagen: »Von Heiner Müller stammt das Bonmot, dass es die Viren sind, die uns beherrschen, und wir deren Kneipe sind, oder, wer es vornehmer mag, ihr Restaurant.«1 Es liegt nahe, diesem Mischmasch von Zeiten, Machtverhältnissen und Gelegenheiten zu folgen und so eine Collage von passenden Zitierungen zu entwerfen, die zu einer neuen Bedenklichkeit als Welthaltung führen – aber das muss nicht so sein. Ein Blick auf die jeweiligen Entstehungskontexte verdeutlicht hier wahrscheinlich mehr, und das will ich hier versuchen. Zu Müllers »Krieg der Viren«2 gehört zunächst ein anderer pandemischer Anlass und Befund. Müllers Nachdenken galt einem Virus, der die Welt bereits in den 1970er, vielleicht sogar schon in den 1960er Jahren aufschreckte und beschäftigte: Aids. Die neue Lustseuche, die sich mit dem HIV-Virus verband, passte sehr gut in die lang schon bestehende Metaphorik um Sodom und Gomorrha, so dass Aids sehr schnell in die Szene der damals als ausgefallen verstandenen Sexpraktiken perspektiviert wurde. Die schrillen Töne der Aufgeregtheit wichen moderateren Klängen, als herausgefunden wurde, dass die Seuche vor allem in der Homosexuellen- und Drogenszene grassierte. Das än1 Drawert, Kurt: Ich suche etwas, von dem ich nicht weiß, dass es mir fehlt. Die Ohnmacht des Schriftstellers in der pandemischen Welt: Zum Zusammenhang von Zeit und Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 08. 2020, S. 18. 2 Müller, Heiner: Krieg der Viren. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Bd. 3: Die Stücke 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 307–310 [im Folgenden unter der Sigle »KdV« mit Seitenzahl im Text].

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Hans-Christian Stillmark

derte sich jedoch wieder, seit bekannt wurde, dass der Virus über Blutkonserven und über bisexuelle Kontakte sich in die heterosexuellen und damit mehrheitlichen Kreise ausbreitete. 75 Millionen Virusinfizierte, weltweit ca. 32 Millionen Todesopfer, 1,7 Millionen Neuinfektionen und etwa 700.000 Tote seien, den Statistiken3 zufolge, allein bis zum letzten Jahr zu verzeichnen gewesen. Erstaunlich viel, und ebenso erstaunlich ist, dass diese große Anzahl in unseren Breiten zunehmend ein gesteigertes mediales Desinteresse fand. Vielleicht liegt es daran, dass die Behandlungsmöglichkeiten, die anfangs völlig aussichtslos waren, inzwischen im weißen Europa einigermaßen erfolgreich sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Übergang in den heterosexuellen Bereich nicht so wirkungsvoll gelang bzw. die Seuche, um es mit Hella von Sinnen in der TVWerbung aus den 1990er Jahren zu sagen: »Tina, wat kosten die Kondome?«4 doch eingedämmt werden konnte. Für Afrika sieht die Aids-Bilanz aufgrund der eingeschränkten medizinischen Möglichkeiten freilich anders aus. Immerhin: Die ängstigende Beunruhigung ist einem noch unsicheren »Wir schaffen das!« gewichen. Betreffend der medialen Deutungsversuche ist am Rande zu vermerken, dass sowohl HIV als auch Covid-19 mit unkontrollierbaren Manipulationen aus dem Tierreich verknüpft wurden. Dass die Herkunft beider Virenstämme streng betrachtet noch einigermaßen unklar ist, soll hier nur dem entgegengesetzt werden. Was für Covid und HIV gleichermaßen gilt, ist die globale Ausbreitung, die den Schrecken um sich greifen lässt. So wie es um Aids in Mitteleuropa mediale Gewöhnungen und gähnende Ermüdung gab, so sind die abenteuerlichen Abwiegelungen um Covid-19 bei den ›querdenkenden‹ Leugnern der Seuche in aktuellen Kontexten zu beobachten. In der Literatur haben die Versuche, mit Aids umzugehen, vor allem darin Ausdruck gefunden, dass Menschen, die mit dem Virus infiziert wurden, in ihren Krankheitsgeschichten geschildert wurden. Das ist im Hinblick auf das Covid-19-Geschehen sicherlich, liest man bspw. Fang Fangs »Wuhan Diary«, ähnlich. Bei Heiner Müller sind derartige Erlebnisse oder authentisch wirkende Erfahrungen nicht in die Gestaltung von »Krieg der Viren« eingegangen. Es lohnt sich jedoch zunächst auf die Umgebung des Textes und seine Produktionsbedingungen einzugehen, und da ist festzustellen, dass Müllers letzter Dramentext im Zusammenhang mit seinem unvollendet gebliebenen Theaterversuch »Germania 3 – Gespenster am toten Mann« im Laufe des Jahres 1995 geschrieben wurde. Im Nachwort seiner Werkausgabe bei Suhrkamp wird vermutet, dass »Krieg der Viren« den letzten Versuch in der proletarischen Tragödie mögli3 Zit. nach Döring, Tobias: Wer hat sich nur dieses Virus ausgedacht? Eine andere Pandemie: Rebecca Makkai erzählt vom Leben und Lieben in Zeiten von Aids. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 10. 2020, S. 12. 4 (letzter Zugriff: 08. 06. 2021).

Heiner Müllers letztes Fragment »Krieg der Viren«

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cherweise als Farce5 abschließen sollte. Zu einem einheitlichen Text ist es aber nicht mehr gekommen.6 Zu Müllers Lebzeiten wurde lediglich die Szene »Die Zweite Epiphanie« in der »Zeit« vom 2. Juni 1995 veröffentlicht. Es war bekannt, dass Müller, der schwer an seiner Krebserkrankung litt, kaum die Kraft zur Beendigung seines Stückes fand. Vieles, was Müller als vorläufig, noch nicht endgültig und provisorisch empfand, wurde auf die Arbeit im Theater verschoben. Der Probenprozess an der Uraufführung war durch Unterbrechungen und Diskontinuitäten gestört. Weder das Stück noch die Inszenierung konnte von Müller zu einem gültigen Abschluss gebracht werden. Sein Tod am 30. Dezember 1995 riss ihn schließlich aus diesem Projekt heraus. Eine entsprechende Dokumentation des Arbeitsstandes ist in Stephan Suschkes Band »Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog« nachzuvollziehen.7 Suschke nannte die Arbeit Müllers an »Germania 3« ausdrücklich einen »Epilog«, obwohl die Autorschaft mitten im Arbeitsprozess aufgegeben wurde. Das Skizzenhafte, das teilweise nicht über einen Einfall hinausgekommen ist, sieht man der Szene auch an. Inhaltlich geht es in »Krieg der Viren« um den Dialog zwischen dem Autor und Regisseur, die sich betrunken im leeren Theater unterhalten. Der Autor – man kann im dazugehörigen Stück fast nicht anders, als dabei an den Verfasser des Textes, Heiner Müller, denken – gibt den Auftakt, indem er das Thema »Der Krieg der Viren« (KdV, 308) anschlägt und die dazugehörige Frage »Wie beschreibt man das?« formuliert. Der Regisseur – auch hier wird man im Kontext der Aufführung und zumal der Uraufführung zuerst an den Regisseur Heiner Müller denken – weist die Frage von sich, weil das Schreiben nun einmal nicht sein Fach ist, und gibt sie damit an den Autor zurück. Dieser wirft sich mit einer bekannten Sentenz in Pose: »Tretet vor Unbekannte verdeckten Gesichts / Ihr Kämpfer an der unsichtbaren Front […]« (ebd.). Dieser Auftakt könnte eingelesenen Müller-Zuschauern bekannt sein, denn es handelt sich dabei um einen nicht ganz wortgetreuen Auszug aus Bertolt Brechts Lehrstück »Die Maßnahme« in der Fassung von 1931. Der Auszug bezieht sich auf das »Lob der Illegalen Arbeit«, das durch den Kontrollchor vorgetragen wird. Dessen Aufgabe ist es bei Brecht, im Stück das revolutionäre Handeln und die Arbeit für die Revolution zu 5 Vgl. Müller, Heiner: Das Jahrhundert der Konterrevolution. Gespräch mit Gabriele Dietze und Otto Kallscheuer am 18. Januar 1990. In: Ders.: Werke. Bd. 11: Gespräche 2. 1987–1991. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 548f. 6 In der Geschichte der Veröffentlichung wurde das Stückfragment allerdings ohne den »Krieg der Viren« erstmals bei Kiepenheuer & Witsch durch Stephan Suschke, einen engen Begleiter Müllers, herausgegeben. Siehe Müller, Heiner: Germania 3 – Gespenster am toten Mann. Mit einem lexikalischen Anhang, zusammengestellt von Stephan Suschke. Köln: Kiepenheuer &Witsch 1996. 7 Suschke, Stephan: Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog. Berlin: Verlag Theater der Zeit 2003.

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Hans-Christian Stillmark

organisieren, d. h. diese zu lehren und gleichzeitig selbst zu lernen. Es betrifft somit die zentrale Frage der Entwicklung im Kommunismus, mit der Müller seine Frage nach dem Virus in Anschlag bringt. Die »selbstlernenden Systeme« waren in der karg gehaltenen Systemtheorie von Georg Klaus8 eine Hoffnung für die Gesellschaftsentwicklung einer Gesellschaft, deren Zukunft man nicht prognostizieren konnte, und von eminenter Bedeutung am Ende des Ulbricht-Sozialismus. Müllers Stück »Horizonte«9, das er einmal als sein in der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Benno Besson wichtigstes Aufführungsprojekt bezeichnete,10 ist von Kybernetikern bevölkert, die sich selbst zu optimieren versuchen. Aufschlussreich ist jedoch, dass die Viren, wie wir alle in diesen Tagen lernen, durch Mutationen sich als lernende Lebewesen herausstellen. Noch ist in unseren Tagen nicht klar, ob die Impfstoffe diesen Mutationen des Virus gewachsen sind. Als Zwischenergebnis der vorliegenden Betrachtung mag aber die Parallele von sozialen Versuchsanordnungen, die der Autor für die Zukunft voraussetzt, sich mit der Natur des Virus treffen, und zwar als selbstorganisierende und selbstlernende Systeme. Nicht jeder Zuschauer wird sich der Tragweite dessen bewusst sein, insofern ist der Rekurs auf die Revolutionsdramatik mehr als Pose denn als inhaltliche Perspektive gedacht. Es ist interessant, dass sich diese historischen Überlegungen Müllers mit neuer Energie durch seine Lektüre von Jean Baudrillard aufgeladen haben. Wie Norbert Otto Eke in seinem Aufsatz »Utopie als/der Störung. Heiner Müller und die ›Lücke im Ablauf‹«11 nachweist, spricht Müller, die Überlegungen Baudrillards aufnehmend,12 vermehrt von der Welt der Viren als eine den Systemen immanente »Gegenüberwelt«: »Überintegrierte Systeme«, so Baudrillard, erzeugen »ihren eigenen Untergang und Viren sind ein 8 Georg Klaus kann als Vorgänger von Niklas Luhmann bezeichnet werden. Er hatte lediglich das Pech, in der DDR zu lehren und nicht in Bielefeld. Seine Werke hatten auf die Systemtheorie in der DDR einen prägenden Einfluss. Vgl. u. a. Klaus, Georg: Kybernetik und Erkenntnistheorie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1966; sowie Ders.: Spieltheorie in philosophischer Sicht. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1968. Dazu auch Stillmark, Hans-Christian: Zu strukturalistischen und systemtheoretischen Perspektiven in der germanistischen Literaturwissenschaft der DDR: In: Eke, Norbert Otto (Hrsg.): »Nach der Mauer der Abgrund«? – (Wieder-)Annäherungen an die DDR-Literatur. Amsterdam/New York: Rodopi 2013, S. 29–42. 9 Vgl. Müller, Heiner: Horizonte. In: Ders.: Werke. Bd. 2: Die Prosa. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 47–74; sowie Ders.: Waldstück. In: ebd., S. 87–176. 10 Vgl. Müller, Heiner: Ein Diskussionsbeitrag. In: Ders.: Werke. Bd. 8: Schriften. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2005, S. 166–168. 11 Eke, Norbert Otto: Utopie als/der Störung. Heiner Müller und die »Lücke im Ablauf«. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch Hrsg. von Markus Mülke, Wolfgang Neuber, Gert Ueding und Francesca Vidal. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 71–85. (Rhetorik und Utopie; Bd. 39). 12 Baudrillard, Jean: Virustheorie. Ein freier Redefluss. In: Kunstforum International 97, 1988, S. 248–252.

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Mittel dazu.«13 Viren erhalten auf diese Weise eine funktionelle Nützlichkeit auch für die Erhaltung der Systeme. Der Exkurs zu den systemtheoretischen Fragen wird weder mit dem Bezug auf Brechts »Maßnahme« noch mit den Verzweigungen zu Baudrillard vom Autor im Stück ausgeführt. Schon mit dem Beliebigkeit ausdrückenden Ironical »oder so« unterwandert der Autor die eigenen Überlegungen und lässt den Gedankengang abbrechen. Ein weiterer Anlauf lässt den Autor von den »grossen Kriegern der Menschheit« fabulieren. Er hebt damit wieder zu einer anderen Höhe des Pathetischen an, die er auch wieder zugleich untergräbt: »Die grossen Krieger der Menschheit Tropfen Tropfen / Auf den heissen Stein […]« (KdV, 308). Die erhabene Größe wird ins Geringfügige gedreht. Eine metaphorische Wendung, die er auch schon in einem seiner frühesten (und auch wohl bedeutendsten) Gedichte vollzog. Im Gedicht »Bilder« aus den frühen 1950er Jahren heißt es: »Bilder sind alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig. […] Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte / Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag / Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von Schweiß blind […]«.14

Die Analogie ist frappant, Müller geht sozusagen als Autor in seine Vorbilder und Anfänge zurück, um diese gleichsam abzutun, denn die Kämpfe seiner Lebenszeit haben sich noch nicht einmal als Pyrrhussiege erwiesen. Die neuen Gefahren, die nicht zu meistern sind, werden sofort angesprochen: »Die Schrecken des Wachstums«. Hieß es im Bericht des Clube of Rome aber noch milde »Die Grenzen des Wachstums«15, so sind aus der Perspektive des Autors nur noch die Schrecken in Gegenwart und Zukunft sichtbar. Noch einmal sei dazu die abschließende Formulierung aus dem Gedicht »Bilder« mit einer bemerkenswerten Rilke-Kontrafaktur16 angeführt: »Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.«17 Der Schrecken ist in der Gegenwart des Autors unabweisbar geworden. Die Liebe, »die uns zu Paaren treibt« (KdV, 308), hat sich ins »Verbrechen« gewandelt, das »den Planeten zur Wüste macht durch Bevölkerung« (ebd.). »Bevölkerung« ist übrigens ein Unwort aus Müllers Sicht, weil es die Individualität eines jeden Menschen in die Masse einebnet und so den Einzelnen in eine statistisch berechenbare Datei verwandelt. Diese Degradierung gilt es 13 Ebd. Zit. nach Eke, Utopie als/der Störung. 2020, S. 73. 14 Müller, Heiner: Bilder. In: Ders.: Werke. Bd. 1: Die Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 14. 15 Meadows, Donella u. a.: The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind. New York: Universe Books 1972. 16 Bei Rilke heißt es: »Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang« (vgl. Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien. Die erste Elegie. In: Ders.: Gedichte. Hrsg. von Silvia Schlenstedt. Leipzig: Reclam 1981, S. 123). 17 Müller, Bilder. 1998, S. 14.

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Hans-Christian Stillmark

gerade durch den Einspruch der Kunst zu verhindern. Indem, nun kurz angedeutet, der künstlerische Prozess aus der Einheit von Produktion und Rezeption sich einem rationalen Verstehen (das auf eindimensionale Klarheit abzielt) entzieht, wird die Störung der Kontinuität möglich und damit die Chance, durch Unterbrechung die Abläufe (die auf den Untergang der menschlichen Gattung gerichtet sind) zu verhindern. Angesprochen ist damit auch im »Krieg der Viren«, sofern man in den Müllerschen Denkhimmel eingelesen ist, eine Reprise seiner beliebten Gemeinplätze, die er bereits vielfach gestaltet hatte. Betrachtet man den Auftakt dieses Dialogs, sind die Grundthemen Müllers, seine Fortschrittsskepsis, seine Dystopien und geschichtsphilosophischen Vorbehalte, in einem verdichteten Verbund fixiert. Dem Einwand des Regisseurs, wie er dies alles auf die Bühne bringen solle, weicht der Autor aus – das sei nicht sein Metier. Müller formulierte bereits früher, dass die Aufgabe des Dramatikers darin bestehe, Theater an die Grenze zu bringen. Insofern habe der Autor im »Krieg der Viren« seine Aufgabe erfüllt. Dennoch stellt er die eher rhetorische Frage, »Was bedeutet mir die / deine Bühne« (KdV, 308). Schlagfertig gibt der Regisseur einen Gemeinplatz von sich, der aus dem Barockzeitalter stammt: »Gott und die Welt«, woraus wiederum dem Autor eine neue Idee in Abwandlung der alten Metapher passiert: »Gott ist vielleicht ein Virus / Der uns bewohnt«. Hochinteressant, wie sich in diesem kurzen Text die Größenverhältnisse verkehren und dabei eine neue Situation begrifflich ins Bild gebracht wird. Mit Brecht könnte man aus »Schweyk im zweiten Weltkrieg« (1944) das Lied von der Moldau rezitieren: »Am Grunde der Moldau wandern die Steine. / Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. / Das Große bleibt nicht groß und klein nicht das Kleine. / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.«18

Ungeachtet der Relativität von Größen, Zahlen und Verhältnissen, trägt der Autor dem Regisseur, der sich die Ohren zuhält, ein Gedicht vor. In diesem verkehrt sich die Relation von Geburt und Tod, wobei, kurz zusammengefasst, die Katastrophen und Massaker als »Investition in die Zukunft« (KdV, 309) gewürdigt werden, da sie die Alternative zu der »zu raschen Vermehrung« bilden: »Nicht Jesus Herodes kannte die Wege der Welt […] Gott ist kein Mann keine Frau ist ein Virus« (ebd.). Mit anderen Worten: Angesichts des unkontrollierten Bevölkerungswachstums sind die für den Menschen tödlichen Ereignisse (und dazu gehören auch die Pandemien) ein Moment der Hoffnung, das als Gegengewicht zum Verschwinden der Menschheit aufgefasst werden kann. Die Paradoxie, dass der pandemische Tod ein Widerstandspotenzial bildet, entzieht sich 18 Brecht, Bertolt: Das Lied von der Moldau. In: Ders.: Schweyk im Zweiten Weltkrieg. In: Ders.: Sämtliche Stücke in einem Band. Komet 1989–1997 als Lizenz des Suhrkamp-Verlages, S. 782.

Heiner Müllers letztes Fragment »Krieg der Viren«

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allerdings der sprachlichen wie auch den theatralischen Darstellungsmöglichkeiten. Als Phantasiegestalt oder als Gespenst stammt diese Denkfigur am toten Mann aus einer anderen Dimension, die die Aufhebung des Theaters hinter sich hat – dies sicherlich als absurdes Zeichen der undenkbaren Hoffnung.

Carsten Gansel

Denunziation in Krisenzeiten als systemische Aufstörung? Zu Inszenierungspraktiken eines gesellschaftlichen Phänomens in Literatur und Kunst

Der Beitrag sei unkommentiert mit einem Text von Gottfried Meinhold eingeleitet, der bereits 1972 entstand und den Titel »Die Seuche« trägt.

1.

Die Seuche »Als sich herumsprach, in den zehn oder zwölf größten Städten des Landes seien etliche Fälle einer bisher unbekannten Seuche mit erschreckenden Symptomen aufgetreten, nahm die Furcht landesweit überhand, denn der Verlauf der Krankheit war tödlich. Da über Verbreitung und Vorbeugung nur sehr allgemeine Feststellungen verlauteten, blühten die Gerüchte, auch jene, die meinten, die volle Wahrheit werde verschwiegen, um einer allgemeinen Panik vorzubeugen. Merkwürdig war, dass man nur aus zweiter und dritter Hand von Erkrankten hörte; doch die Berichte über den Ernst der Krankheitsverläufe beeindruckten, so dass außergewöhnliche Maßnahmen wie Quarantäne und Reiseverbot erst mit bemühtem Verständnis, schließlich sogar mit Erleichterung aufgenommen wurden, zeugten sie doch von Entschlossenheit und Mut zur Strenge. Denn die Eindämmung der Epidemie war nun einmal die erste Pflicht der Regierenden, und der Staat, der sich jahrzehntelang mit seinem geringen Ansehen und mit der Gleichgültigkeit der Bürger hatte begnügen müssen, erkannte seine Chance, sich als Retter der Nation in Szene zu setzen. Die Regierung erweckte diesen Anschein mit Erfolg: sie tat es wohlüberlegt, indem sie die Quarantäne durch immer neue Einzelbestimmungen und Sonderregelungen ausbaute und einen weitverzweigten Gesetzeskodex von Verboten und Geboten erließ, als hätte sie nur auf die Gelegenheit gewartet, um zu zeigen, was es hieß, vorsorglich zu denken und auf den Schutz der Menschen bedacht zu sein. Die Furcht hinderte die Bewohner des Landes daran zu bemerken, daß bei der angeblichen Virulenz der Erreger eigentlich schon der größte Teil der Bevölkerung hätte angesteckt sein müssen. Man gewöhnte sich unterdessen an das bewachte, ängstliche Dasein, man achtete auch aufeinander, ob jeder dem Seuchengesetz Genüge tue – es war eine Zeit der gutgemeinten Denunziationen, doch lebte man trotzdem halbwegs erträglich mit der ständigen Gefahr, froh darüber, daß höherenorts, wie es hieß, die Seuche im Griff sei. Der Zustand dauerte an, und es vergingen Jahre. Von der Seuche war immer weniger die Rede, doch die Vorsichtsmaßnahmen blieben, niemand wußte,

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warum. Die Frage wurde auch kaum gestellt. Gelegentlich hieß es aber: Die Seuche würde ausufern, sobald man es wagte, die Bestimmungen außer Kraft zu setzen. Es waren nur wenige, die behaupteten, die Seuche sei längst besiegt, aber vielleicht brauche man die Fortdauer der Quarantäne, um den unbändigen Bewegungsdrang und die Reiselust der Menschen zu zügeln. Noch andere wollten wissen, die Seuche selber sei eine Erfindung gewesen, um gesetzliche Einschränkungen rechtfertigen zu können. Aber sie fanden kaum Gehör bei der Mehrzahl der Menschen. Sehr viele meinten, es sei besser mit dem Seuchengesetz zu leben, als damit rechnen zu müssen, es könnte, einmal aufgehoben, nicht rechtzeitig wieder in Kraft gesetzt werden, und so unterwarf man sich aus Angst vor der Ansteckung einem Zustand, der zwar besser war als die gefürchtete Krankheit selbst, doch letztlich nur eine Krankheit anderer Art.«1

Es ist anzunehmen, dass dieser Text, aktuell publiziert, nicht nur im Mediensystem Störungen und in Folge eine Abwehr hervorrufen würde. Wer steckt hinter diesem Text, wäre eine Frage, und in dem Fall, da es gelänge, die Person zu ermitteln, wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer Person die Rede, die »Verschwörungstheorien« nahesteht. Gegebenenfalls würde medial argumentiert, hier würde jemand – durch fiktionale Darstellung legitimiert –, das Engagement der Teilsysteme von Gesellschaft zur Eindämmung der Pandemie bzw. Seuche in Misskredit bringen. Eben dies war ein Vorwurf, der – bis auf wenige Ausnahmen – nahezu flächendeckend in den Medien gegen die Aktion #allesdichtmachen erhoben wurde.2 Dass es sich hier um eine Parabel handelt, geriete vermutlich nicht in den Blick, und die einsetzenden Abwehrreaktionen zielten auf eine – sagen wir – Entstörung. Nun hat allerdings Niklas Luhmann darauf verwiesen, dass zu den »wichtigsten Leistungen der Kommunikation (…) die Sensibilisierung des Systems für Zufälle, für Störungen, für ›noise‹ aller Art (gehört). Mit Hilfe von Kommunikation ist es möglich«, so Luhmann, »Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes verständlich zu machen. (›Verständlich‹ heißt dabei nicht, daß man auch die Gründe zutreffend begreifen und den Sachverhalt ändern könnte. Das leistet die Kommunikation nicht ohne weiteres.) Entscheidend ist, daß Störungen überhaupt in die Form von Sinn gezwungen werden und damit weiterbehandelt werden können.«3 Aber was sind Störungen bzw. Irritationen. Es sei an dieser Stelle darauf verzichtet, umfassend auf die Kategorie Störung einzugehen, zu der wir seit 2008 arbeiten.4 Daher nur so 1 Meinhold, Gottfried: Die Seuche. In: Ders.: Lachverbot. Kleine Prosa und Gedichte, Jena: Universitätsverlag Jena o. J., S. 14–15. 2 Siehe dazu Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria (Hrsg.): #allesdichtmachen. 53 Video und eine gestörte Gesellschaft. Berlin: OVAL Media 2022. 3 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 237. 4 Siehe dazu Gansel, Carsten: Das ›Trauma Stalingrad‹ verarbeiten und neu erinnern – Heinrich Gerlachs Dokumentarroman »Durchbruch bei Stalingrad« (1945/2016) und erinnerungstheoretische Aspekte. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des

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viel: Niklas Luhmann hat herausgestellt, dass autopoietische Systeme über strukturelle Kopplungen nicht nur sporadisch von Einwirkungen betroffen sind, sondern dass das »Bewusstsein, das soziale Kommunikationssystem oder das Gehirn ständig mit Irritation versorgt« werden.5 Als irritierend oder »aufstörend« begreift er Phänomene, die einen »Informationsverarbeitungsprozess in Gang setzen, der im System operativ gehandhabt werden kann«. Psychische Systeme bzw. das Bewusstsein reagieren auf Störungen, indem sie die Wahrnehmung auf die entsprechende Störstelle lenken und sie zum Gegenstand von Kommunikation machen: »Man fragt zurück, man thematisiert eine Störung.«6 Ganz entscheidend ist zudem der Umstand, dass Störungen immer an bestimmten Erwartungshaltungen gemessen werden, die im System gültig sind und die sich bislang für die Existenz des Systems bewährt haben. In diesem Sinne gibt eine »Störung […] aus einem Bereich von Möglichkeiten das eine oder das andere, was aktuell ist, in das System«7. Wenn auf diese Weise »Such- oder Identifikationsvorgänge« eingeleitet werden, dann sind dies ausgesprochen produktive Vorgänge. Irritationen bzw. Störungen garantieren insofern die »Fortsetzung der autopoietischen Operationen« eines Systems.8 Die Frage dabei ist, in welcher Weise das System in Reaktion auf Störungen veranlasst wird, seine Strukturen zu ändern oder aber darauf verzichtet. Damit ist auf den Zusammenhang von Irritation und die durch sie eingeleiteten Lernprozesse verwiesen. Das System kann nämlich einerseits durch die Irritation angeregt werden, zu lernen und seine Strukturen neu zu koppeln. Es kann aber auch andererseits die Irritation igno-

5 6 7 8

›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin: de Gruyter 2020, S. 171–196; Ders.: Störungen des ›Selbst‹ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen. In: ebd., S. 17–25; Ders.: Zur ›Kategorie Störung‹ – Theorie und Praxis. In: ebd., S. 45–66; Ders.: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Ders./Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 31–56; Ders.: Zwischen Stabilisierung und Aufstörung – das ›Prinzip Erinnerung‹ in der deutschen Literatur nach 1945 und 1989. In: Ders./Maldonado-Alemán, Manuel (Hrsg.): Literarische Inszenierungen von Geschichte. Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989. Stuttgart: J. B. Metzler 2018, S. 11–34; Ders.: Störungen in (Kinder- und Jugend-) Literatur und Medien. In: kjl& medien. Sonderheft 2015, S. 15–28; Ders.: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Ders. (Hrsg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 2014, H. 4, S. 315–332; Ders.: Erinnerung, Aufstörung und »blinde Flecken« im Werk von Christa Wolf. In: Ders. (Hrsg.): Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Göttingen: V&R 2014, S. 15–42. Auf nachfolgende Beiträge wird in dem Fall, da es um eine Theorie der Störung geht, zurückgegriffen. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2006, S. 124 (3. Auflage). Ebd., S. 127. Ebd., S. 126/127. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 790.

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rieren, sie als einmaliges Ereignis einordnen und darauf setzen, dass sie sich nicht wiederholt. In der Chance, die Entscheidung offen zu halten und eine der beiden Möglichkeiten zu wählen, liegt nach Luhmann eine »Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich die Garantie seiner Evolutionsfähigkeit«.9 Diese theoretischen Implikationen von Niklas Luhmann könnten nun an den aktuellen Entwicklungen seit März 2020 überprüft werden. Wie reagieren, so die Frage, die einzelnen Teilsysteme von Gesellschaft auf den »Störfall Pandemie«. In welcher Weise werden die Teilsysteme durch die Seuche in Schwingung versetzt und – so ein anderer Terminus von Luhmann – Resonanz erzeugt.10 Das ist allerdings nicht das Thema des Beitrags, denn nachfolgend soll es um einen Aspekt gehen, der in Gesellschaften unterschiedlicher Couleur gerade im Zusammenhang mit Ausnahmezuständen eine Rolle spielt, nämlich das, was man »Denunziation« nennt. Die Vermutung besteht nun darin, dass denunziatorische Handlungen, eine systemische Aufstörung erzeugen und in literarischen Texten in besonderer Weise erfasst werden.

2.

Corona Politik – künstlerische Aufstörungen – mediale Reaktionen

Doch bevor Aspekten der literarischen Darstellung von Formen der Denunziation nachgegangen wird, sei kurz auf die eingangs zitierte Parabel zurückgekommen. Es ist hinreichend bekannt, dass es sich bei der Parabel um eine »kurze Erzählung« handelt, »die in uneigentlicher Rede Lebenseinsichten vermittelt«. Die Hinweise auf die »uneigentliche« Rede können im Text explizit oder implizit vermittelt werden. Letztlich soll die »übertragene Bedeutung« den Leser zum Nachdenken anregen.11 Bei der vorliegenden Parabel handelt es sich, darauf war schon verwiesen worden, um keinen Text, der in der Gegenwart entstanden ist und auf die aktuellen Verhältnisse Bezug nimmt. Die Parabel Gottfried Mein9 Ebd. Betont werden muss freilich, dass die Autopoiesis nicht von der Lernfähigkeit eines Systems abhängt. Allerdings hängt die Steigerung der Intensität von Störungen bzw. Irritationen mit der »Steigerung der Lernfähigkeit« zusammen. Darunter versteht Luhmann die Fähigkeit, eine »Ausgangssituation im System zu vermehren und im Abgleich mit vorhandenen Strukturen solange weitere Irritationen zu erzeugen, bis die Irritation durch angepaßte Strukturen konsumiert ist« (ebd.). 10 Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 27. 11 Heydebrand, Renate von: Parabel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung. Hrsg. von Jan-Dirk Müller gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar. Band III. Berlin, New York: Walter der Gruyter 2007, S. 11–15, hier: S. 11.

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holds entstand 1972 und wurde in der DDR geschrieben. Der Umstand, dass die Bezüge zur gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft in den Jahren seit Frühjahr 2020 so offensichtlich sind, lässt einmal mehr den Rückschluss zu, dass die DDR ebenfalls insofern als eine moderne Gesellschaft zu klassifizieren ist, als den verschiedenen Teilsystemen prinzipiell die Eigenschaft zukam, sich selbstreferentiell, autopoietisch zu organisieren. Die Annahme von Jürgen Habermas, bei der DDR handle es sich um eine Variante moderner Industriegesellschaften, gewissermaßen um ihre postkapitalistische, staatssozialistische Variante, galt – das sollte heute nicht vergessen werden – bis 1989 und war auch für die Bewertung ihrer Literatur von Bedeutung.12 Das Anliegen der Autoren, mit ihren Texten »›teil[zu]haben an der Veränderung der Welt‹«,13 war nämlich gebunden an die Anerkennung der »gesellschaftlichen Funktion« von Literatur und drückte sich in dem Bestreben aus, durch die Darstellung von Widersprüchen in die Gesellschaft »einzugreifen«.14 Dem stand eine (Kultur)Politik entgegen, für die jede Entscheidung für oder gegen einen Text zunächst eine Entscheidung über die antizipierte Wirkung war. Eine der Folgen bestand darin, dass versucht wurde, Irritationen bzw. systemische Störungen auszuschließen. Gottfried Meinholds Parabel hätte von daher mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Chance auf Veröffentlichung gehabt. Denn: Die Parabel zeigt, in welcher Weise in der von einer Grenze abgeschlossenen Gesellschaft die »Fortdauer der Quarantäne« genutzt wird, »um den unbändigen Bewegungsdrang und die Reiselust der Menschen zu zügeln«. Nun wird in dem Fall, da angesichts der aktuellen Verhältnisse Vergleiche mit Erfahrungen in und aus der DDR angestellt werden, recht forsch eingeschritten. Das muss erstaunen, denn das Vergleichen gehört zu einer grundsätzlichen menschlichen Tätigkeit und in diversen Wissenschaftsdisziplinen wird es über die Methode des Vergleichens möglich, Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch von politischen Systemen herauszustellen. Der Systemvergleich etwa zwischen – sagen wir – westlichen und östlichen Gesellschaften – war bis 1989 ein durchaus gewichtiges Forschungsthema hier wie da.15 Mit Blick auf die Ostdeutschen wird man sagen können: Durch das Leben in der DDR, in dem 12 Siehe zu diesen Aspekten bereits Carsten Gansel: Affirmation und Aufstörung? Zu Aspekten des Modernediskurses im ›geschlossenen System‹ der DDR. In: Pabst, Stephan/ Arlaud, Sylvie / Bandoun, Bernard/ Terrisse, Bénedicte (Hg.): Wolfgang Hilbig und die (ganze) Moderne. Berlin: Verbrecher Verlag 2021, S. 17–48. 13 Wolf, Christa: Vorwort. In: Werner Bräunig: Rummelplatz. Berlin: Aufbau Verlag 2007, S. 5–6. 14 Zur »gesellschaftlichen Funktion« von Literatur siehe aktuell Gansel, Carsten: Zur Systemlogik der Ost-Moderne – Reportagen und ihre »gesellschaftliche Funktion«: In: Jäger, Andrea/ Pabst, Stephan (Hg.): Heteronomie als Programm. Reportage-Literatur in der DDR (= Non-Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 17.3/4 (2022, im Erscheinen). 15 Siehe u. a. Kaelble, Hartmut/ Schriewer, Jürgen (Hrsg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Campus 2003.

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staatlicherseits zahlreiche Begrenzungen markiert wurden, es ideologische Vorgaben gab, Störungen ausgeschlossen werden sollten oder Eingriffe in das Privatleben existierten, sind die Ostdeutschen in besonderer Weise in die Lage versetzt, zu vergleichen. Sie sind zu dem geworden, was man Komparatisten nennt! Sie praktizieren die Methode des Vergleichens. Und sie vergleichen auf Grund von Erfahrungen, die sie in der DDR und in den letzten 30 Jahren gemacht haben. Ausgehend davon werden gegenwärtige Entwicklungen eingeschätzt.16 Ein Beispiel dafür, in welcher Weise das Vergleichen im Kontext mit der Pandemie provoziert wurde und wird, zeigt exemplarisch das Gespräch, das der WDR-Moderator Martin von Mauschwitz mit Jan Josef Liefers, einem der Protagonisten der Aktion #allesdichtmachen, geführt hat, auf das später zurückgekommen wird. Doch zunächst die Frage: Was war geschehen? Es ist der 22. April 2021, 15 Minuten vor Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt erscheint #allesdichtmachen ganz oben in der Onlineausgabe der Bild-Zeitung und in der Folgezeit ist die Aktion im deutschen Sprachraum für einige Tage das Thema Nummer eins. In der Bild-Zeitung wird die Aktion wie folgt eingeleitet: »Mit Ironie, Witz und Sarkasmus hinterfragen Deutschlands bekannteste Schauspielerinnen und Schauspieler die Corona-Politik der Bundesregierung und kritisieren die hiesige Diskussionskultur. Die Teilnehmer der Aktion #allesdichtmachen: ein ›Who is who‹ der deutschen Schauspiel-Szene! Stars wie Jan Josef Liefers, Heike Makatsch, Wotan Wilke Möhring, Ulrike Folkerts, Kostja Ullmann, Meret Becker, Ken Duken, Martin Brambach, Richy Müller, Nadja Uhl, Ulrich Tukur und Volker Bruch kritisieren die Maßnahmen, indem sie sich überschwänglich bei den Regierenden bedanken.«17

Doch schon wenige Stunden später sind die 53 Videos auf der »Haupt-Website der Aktion« schon nicht mehr abrufbar. Die Bild-Redaktion vermutet, dass die Seite »Offenbar gehacked« worden sei. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch positive Reaktionen, auf die bei Bild verwiesen wird, so beispielsweise auf den GrünenPolitiker Dieter Janecek oder den Hamburger Virologen Jonas Schmidt-Chanasit, der von einem »Meisterwerk« gesprochen habe. Gleichzeitig findet sich bereits ein Verweis auf den einsetzenden Diskurs der Leitmedien und damit das, was dann die digitalen Plattformen in den nächsten Tagen dominieren wird: »Manche User auf Twitter und Facebook versuchen, die Aktion in die Corona-

16 Zu dieser Überlegung siehe lange vor Corona meinen Beitrag in der Tageszeitung »Nordkurier«: Gansel, Carsten: Die Ostdeutschen jammern nicht. In: Nordkurier (Neubrandenburg), 11./12. Januar 2020. 17 #ALLESDICHTMACHEN: Deutschlands bekannteste Schauspieler kritisieren die CoronaPolitik. In: Bild-Zeitung vom 22. April 2021. Dieser Teil ist der Einleitung zu #allesdichtmachen entnommen. Siehe Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria: Von den Videos zum Buch. Eine Leseanleitung. In: Dies. (Hrsg.): #allesdichtmachen. 53 Video und eine gestörte Gesellschaft. Berlin 2022, S. 8–16, hier: S. 8f.

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leugner-Ecke zu rücken. Dabei leugnet keiner der Schauspielerinnen und Schauspieler auch nur ansatzweise die Existenz des Coronavirus.«18 Was in diesem Fall zu betonen ist: Die Bild-Zeitung hat mit den Berichten zwar ein Thema gesetzt, aber sie hat nicht die Bewertung vorgegeben, wenngleich die Sympathie für die Aktion durchaus sofort erkennbar wird. Aber schon wenig später ändert sich der Ton in radikaler Weise: Was am späten Donnerstagabend noch zu gelten scheint, ist am Freitag nicht mehr gültig. »Wenn man seinen eigenen Shitstorm verschlafen hat«, twittert Manuel Rubey an diesem Morgen, ein Schauspieler aus Österreich, der in seinem Video fordert, »die Theater, die Museen, die Kinos, die Kabarettbühnen überhaupt nie wieder aufzusperren«. Kunst, vielleicht sogar zusammen mit anderen »genossen«? »Das Analoge ist vorbei. Lasset uns gemeinsam nur noch zuhause bleiben. Lockdown für immer.« Eine Woche später erklärt Rubey einer Journalistin, mit der er schon vorher zusammengearbeitet hat, seinen Tweet. Gleich nach der Veröffentlichung habe er vor dem Zu-Bett-Gehen »noch ein bisschen Kommentare gelesen« und »das Gefühl« gehabt, »dass es verstanden wird, wie es gemeint war«. Der Tag danach: »ein kafkaesker Albtraum. Kollegen entschuldigten sich privat, dass sie ihre positiven Kommentare nun doch gelöscht hätten.«19 Sein Video hat Rubey zurückgezogen, seine Kritik jedoch nicht.20 Resümierend lässt sich sagen, dass die Aktion #allesdichtmachen im April 2021 den Nerv einer Gesellschaft getroffen hat, die seit mehr als einem Jahr von einem »Killervirus« beherrscht wurde – von einem »Narrativ«, zu dem vier »erzählerische Grundelemente« gehören: erstens »eine einzigartige Ausnahmesituation« (ein »tödlicher Erreger«, der mit anderen Viren nicht vergleichbar ist), zweitens »das lückenlose Kontaktverbot« als Gegenmittel, drittens die Verleumdung von allen, die nicht uneingeschränkt an eins und zwei glauben (»unsolidarisch, zynisch oder unmoralisch«), und viertens die Impfung als »einziger Ausweg aus der Krise«.21 Das Verb ›beherrscht‹ ist dabei in jeder Hinsicht wörtlich zu nehmen. Die Killervirus-Erzählung hat sämtliche Bereiche der Gesellschaft verändert – von der Wirtschaft, die erst Wochen und dann Monate durch Lockdowns aus ihrem Rhythmus gebracht wurde, über die Bildung (Stichwort Homeschooling) und damit den Alltag vieler Familien bis hin zum 18 #ALLESDICHTMACHEN: Deutschlands bekannteste Schauspieler kritisieren die CoronaPolitik. In: Bild-Zeitung vom 22. April 2021. 19 Manuel Rubey über #AllesDichtmachen: »Ein kafkaesker Albtraum«. Interview von Doris Priesching. In: Der Standard vom 30. April 2021. 20 Vgl. die Videoanalyse zu Manuel Rubey in dem Band: Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria: #allesdichtmachen. 53 Video und eine gestörte Gesellschaft. Berlin 2022, S. 295–298. Der nachfolgende Teil der Darstellung ist der Einleitung entnommen. Siehe Dies.: Von den Videos zum Buch. Eine Leseanleitung, S. 9–10. 21 Clemens G. Arvay: Wir können es besser. Wie Umweltzerstörung die Corona-Pandemie auslöste und warum ökologische Medizin unsere Rettung ist. Köln: Quadriga 2020, S. 55f.

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öffentlichen Debattenraum, der sowohl für andere Themen weitgehend geschlossen wurde als auch für Stimmen, die der hegemonialen Sicht widersprechen.22 Selbst eine Petition mit mehr als 60.000 Unterschriften konnte zum Beispiel den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Herbst 2020 nicht dazu bewegen, Befürworter und Kritiker der Regierungspolitik zur besten Sendezeit an einen Tisch zu bringen.23 Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben diese Blockade mit der Aktion #allesdichtmachen durchbrechen können, weil Form, Inhalt und Beteiligte perfekt auf die Handlungslogik eines Massenmediensystems abgestimmt waren, das auf die Maximierung von Reichweiten ausgerichtet ist und den Imperativ der Aufmerksamkeit selbst dann nicht ignorieren kann, wenn die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem gelockert und dafür die Bindungen an das politische System verstärkt werden.24 Dass in der Folgezeit vor allem vom ›Teilsystem Medien‹ – gar nicht unbedingt vom ›Teilsystem Politik‹ – so ablehnend bzw. vernichtend auf die versuchte Aufstörung reagiert wurde, lässt Rückschlüsse auf den Zustand von Gesellschaft zu. Exemplarisch zeigt sich dies bei dem bereits angesprochenen Gespräch zwischen Mauschwitz und Liefers im WDR. Ganz abgesehen davon, dass die abrufbare verschriftlichte Form des Gesprächs auch nach mehrmaligen Rückfragen und Hinweisen beim WDR nur in rudimentärer Form abrufbar war. Jan Josef Liefers notiert auf den Hinweis von Mauschwitz, »dass wir und andere jeden Tag die Regierung kritisieren, dass jeden zweiten Tag ein Interview da ist mit Leuten, die die Regierung auch sehr hart kritisieren«, dass Vieles fehlt, und er votiert dafür, dass die »Regierungsentscheidungen transparenter sind und nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden«. Darauf folgt folgender Vorwurf: WDR: »(…) Aber mit dem Video bedienen Sie auch exakt das Narrativ, die Erzählung der Corona-Leugner und dieser Rechtsextremen ›Lügenpresse‹-Schreihälse. Und die feiern Sie im Netz heute richtig ab. Davon haben Sie sich distanziert heute Nachmittag. Sind Sie wirklich so naiv? Liefers: Die Distanzierung davon war nicht heute Nachmittag, sondern schon gestern Nacht. Und, das ist etwas, das hat … schauen Sie. Jetzt sagen Sie naiv zu mir. Wissen Sie, wann jemand das letzte Mal zu mir gesagt hat: Sind Sie so naiv? (Unterbrechung) WDR: Das ist eine Frage. 22 Vgl. Meyen, Michael: Die Medien-Epidemie – Journalismus, Corona und die neue Realität. In: Hannes Hofbauer, Stefan Kraft (Hrsg.): Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand. Wien: Promedia 2021, S. 99–115. 23 Vgl. Schreyer, Paul: Im Dialog mit der ARD. In: Multipolar vom 26. November 2020. – Die Petition mit etlichen tausend Kommentaren findet sich auf der Seite Open Petition unter dem Titel »ARD-Sondersendung Wie gefährlich ist Corona?« Vgl. Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria: # Von den Videos zum Buch. Eine Leseanleitung, S. 10. 24 Vgl. Meyen, Michael: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft. München: Rubikon 2021.

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Liefers: Das war ein Mitglied des Zentralkomitees in der DDR in der Schauspielschule. (Unterbrechung) WDR: Da sind wir weit von weg. Liefers: Ich kenne solche Fragen. Ich weiß, aber so war’s ja, die Frage klingt genauso. Ich wollte es Ihnen nur sagen. Ich kenne solche Fragen. Also: Die Distanzierung fand gestern statt, aus sehr gutem Grund, das ist mir wichtig, dass das jeder weiß. Am Ende des Tages ist, glaube ich, damit auch alles gesagt.« (Unterbrechung)25

Betrachtet man rückblickend die unterschiedlichen Talkshows, in die Jan Josef Liefers eingeladen war, dann wird man nach dem Blick auf seine Antagonisten nicht umhinkommen zu vermuten, dass er hier als eine Art ›Bad Boy‹ zu fungieren hatte, dem jene gegenüberstanden, die den »Code der Moral«, »also den Unterschied von gutem und schlechtem bzw. bösem Handeln« vorführten.26 Die Frage ist freilich nicht nur in diesem Zusammenhang: Wer legt eigentlich fest, was als ›gutes‹ und ›schlechtes‹ Verhalten im Kontext mit der Pandemie zu bewerten ist? Unabhängig davon: Durch die Präsentation von ›Missetätern‹, welcher Couleur auch immer, leisten die Medien »eine laufende Selbstirritation der Gesellschaft, eine Reproduktion moralischer Sensibilität auf individueller wie auf kommunikativer Ebene«27. Das führt allerdings nolens volens – wie Luhmann sagt – zu einem »moralisierenden Reden, das durch keine kontrollierbaren Verpflichtungen gedeckt ist«28. Die Reaktionen auf die Aktion zeitigten zudem eine Tendenz zu dem, was man eine »Denunziation« jener nennen kann, die den vorgegebenen Code nicht bestätigten bzw. ihn hinterfragten und aufstörten. Nun war der Aspekt der »Denunziation« auch in der Parabel von Gottfried Meinhold angesprochen, denn wie heißt es im Text: »Man gewöhnte sich unterdessen an das bewachte, ängstliche Dasein, man achtete auch aufeinander, ob jeder dem Seuchengesetz Genüge tue – es war eine Zeit der gutgemeinten Denunziationen«. Aber gibt es »gutgemeinte« und »schlecht gemeinte Denunzia-

25 Zwischenzeitlich hat der WDR – möglicherweise nach Kritik – an einigen wenigen Stellen in der im Netz befindlichen Abschrift ursprünglich getilgte Wörter eingefügt. Das betrifft etwa die Passage mit dem Verweis auf das »Zentralkomitee der SED«. Allerdings ist durch Auslassungen bei der Antwort von Jan Josef Liefers nach wie vor der Zusammenhang nicht erkennbar. Liefers verweist nach einer kurzen Gedankenpause darauf, wer das letzte Mal zu ihm gesagt habe, er sei naiv. »Das war ein Mitglied des Zentralkomitees in der DDR in der Schauspielschule« (letzter Zugriff: 20. 01. 2022). Siehe dazu Gansel, Carsten: Der »unterschiedliche Blick«. Die Aktion #allesdichtmachen als Aufstörung. In: Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria: #allesdichtmachen. 53 Video und eine gestörte Gesellschaft. Berlin 2022, S. 17–41, hier: S. 25. 26 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 46. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 46, 47.

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tionen«? Damit sind wir beim Kern des Beitrags, in dem es zunächst um den Versuch gehen soll, den Begriff zu klären.

3.

Gesellschaftliche Kontexte und Aspekte des Begriffs Denunziation

Betrachtet man die Grundkonstellation dessen, was man Denunziation nennt, dann ist sie – wie es zu Recht heißt – von »brutaler Schlichtheit: A denunziert B beim Machthaber C, der B exekutiert.« Insofern handelt es sich um eine »triadische Struktur, in der Bürger oder Untertanen zu Lasten eines Dritten mit der Staatsmacht kooperieren«. Im Spezialfall gelingt es auf diese Weise dem »Mindermächtigen« in Verbindung »mit einer übermächtigen Sanktionsgewalt eigene Ziele und Schädigungsabsichten« zu realisieren.29 Initiator des in Gang gebrachten Prozesses ist also A, wenngleich die Sanktionen von der Staatsgewalt erfolgen. Allerdings – und dies gilt es zu beachten – wird durch die Anzeige die gesellschaftliche Ordnung stabilisiert, und staatlicherseits verfügte Normen und Gesetze werden gefestigt. Die Vorstellung, dass Denunziationen nur in repressiven Gesellschaften und Diktaturen eine Rolle spielen, ist auf den ersten Blick nicht haltbar. Es scheint Denunziation als Phänomen hier wie da zu geben. Ein Unterschied zwischen ›geschlossenen‹ und demokratisch verfassten Gesellschaften besteht oder bestand darin, dass Diktaturen die Denunziation staatlich legitimieren und es ein »Denunziationsangebot möglicher Straftatbestände auf die Privatsphäre« gibt.30 So existierte in der DDR mit dem § 106 der Straftatbestand der »staatsfeindlichen Hetze«. In dem Paragraph ging es um eine Abwehr von Aktivitäten, die nach Auffassung der Regierung dazu angetan waren, »die sozialistische Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen oder gegen sie aufzuwiegeln«. Dazu gehörte die Einführung, Herstellung und Verbreitung von Schriften, Gegenständen oder Symbolen, die »die staatlichen, politischen, ökonomischen oder anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik diskriminieren«.31 Ursprünglich war der § 106 mit dem Begriff der »Boykotthetze« fixiert. Letztlich diente der Tatbestand der Einschränkung der Meinungsfreiheit. Insbesondere in den 1980 Jahren wurden Oppositionelle unter dem Vorwurf der »staatsfeindli-

29 Paris, Rainer: Ein Grundmuster von brutaler Schlichtheit. Rezension zu Schröter, Michael (Hrsg.): Der willkommene Verrat. Beiträge zur Denunziationsforschung. Weilerswist: Velbrück 2007. In: FAZ, 31. 03. 2008. 30 Ebd. 31 Auszüge DDR-Strafgesetze. In: (letzter Zugriff: 20. 07. 2022).

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chen Hetze« verhaftet und kriminalisiert.32 Die Zielrichtung des § 106 ist denn auch vor und nach 1989 in bundesdeutschen Publikationen herausgestellt worden. Mit dem Bezug auf IM-Berichte und der Ausdehnung von Tatbeständen auf die Privatsphäre wird das Element des Verrats im Kontext mit einer Denunziation maßgeblich. Das hat Folgen für die Begrifflichkeit. »Erst wenn die Anzeige bei den Behörden gleichzeitig den Charakter eines Bruchs lebensweltlicher Solidaritätsnormen hat« – so notiert Rainer Paris – »können wir im heutigen Sinne von Denunziation sprechen«.33 Und in der Tat ist mit Blick auf die Geschichte des Begriffs »Denunziation« zu beachten, dass dieser einem historischen Wandel unterliegt, der an den Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung gebunden ist.34 Wenn es im Zuge von Modernisierung – wie Ulrich Beck das bereits in »Risikogesellschaft« herausgestellt hat – zu einem Wandel der Einfluß- und Machtstrukturen« kommt, zu »veränderten politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen sowie Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen«, dann erklärt dies, warum Denunziation als juristischer Terminus zunächst »ein weitgehend wert- und affektneutraler Begriff« war. Erst im Zuge der politischen Oppositionsbewegungen des Vormärz um 1820 und deren Observierung durch ein weit ausgebautes Spitzelsystem hat sich der Begriffsinhalt verändert und aus der »denunciatio« (der Anzeige) wird ein Lexem mit stark pejorativem Charakter.35 Mit anderen Worten: Aus einem rechtlichen Fachbegriff wurde ein 32 Angewandt wurde der Paragraph etwa auf junge Autoren und ihre literarischen Texte. Das Ziel des MfS bestand darin, mögliche Störungen durch vermeintlich subversive Botschaften auszuschließen. Ein bedrückendes Beispiel ist der damals 22-jährige Ulrich Schacht, der auf Basis eben dieses Paragraphen zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. 1976 kaufte die Bundrepublik ihn frei. Grundlage für die Verhaftung und Anklage von Ulrich Schacht waren IM-Berichte bzw. eine Denunziation im Zusammenhang mit dem für junge Autoren wichtigen Schweriner Poetenseminar. 33 Paris, Rainer: Ein Grundmuster von brutaler Schlichtheit. In: FAZ, 31. 03. 2008. 34 Ulrich Becks klassische Definition von 1986 kann bei allen Veränderungen an dieser Stelle immer noch als Orientierungsmaßstab gelten. Allerdings muss klar sein, dass Becks Begriff von gesellschaftlicher Modernisierung sich einzig auf westeuropäische Gesellschaften bezieht, die Länder des damaligen Real-Sozialismus spielen bei ihm keine Rolle. Mit Modernisierung meint mit Ulrich Beck die »technologischen Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation, umfaßt darüber hinaus aber auch sehr viel mehr: den Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiographien, der Lebensstile und Liebesformen, der Einfluß- und Machtstrukturen, der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, der Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen.« (Ders.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 25). 35 Im zaristischen Russland betrifft dies vergleichbar die Dekabristenbewegung, die gegen den Zaren und die Verhältnisse mit Leibeigenschaft, Zensur, Willkür und eine korrupte Bürokratie protestierten. In das kollektive Gedächtnis eingegangen ist der deutsche General Alexander von Benckendorf, der bereits um 1820 damit beschäftigt war, gegen die Dekabristen Informationen zu sammeln. Nach dem Tod Alexander I. im Jahre 1825 wurde er von Nikolai I. 1826 zum Chef der Geheimpolizei befördert. In dieser Funktion verfolgte er die

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politisch und moralisch aufgeladener Terminus. Träger des Bedeutungswandels sind dabei letztlich politische Protestkulturen, die im Zuge einer gesellschaftlichen Modernisierung in den europäischen Staaten entstanden. Dazu gehören literarische Bewegungen wie der Vormärz oder die jugendbewegten Burschenschaften. Von Heinrich Heine stammt in diesem Kontext einer der wichtigen Beiträge mit dem Titel »Über den Denunzianten« mit dem Untertitel »Vorrede zum dritten Theile des Salons« von 1837. Heine reagierte damit auf den Stuttgarter Literaturkritiker und Literaturhistoriker Wolfgang Menzel, der zwei Jahre zuvor, 1885, gegen die Autoren des Jungen Deutschland zu Felde gezogen war und ihnen Immoralität, Gotteslästerung und Republikanismus vorgeworfen hatte. Menzels Einlassungen waren die Grundlage für den Beschluss des Bundestages gegen das »Junge Deutschland« vom 10. Dezember 1835. Heine hatte bereits am 23. November 1835 auf die Beiträge Menzels reagiert und an Heinrich Laube geschrieben: »Wird die Not groß, so werde ich doch ins Geschirr gehen. Daß man mit Herrn Menzel just zu schaffen hat, ist ekelhaft. Er ist ein schäbiger Bursche. An dem man sich nur besudeln kann. Er ist durch und durch ein heuchlerischer Schurke.«36

Heines Rede über den Denunzianten war als Vorwort zum Sammelband »Der Salon« geplant. Der Zensor in Gießen gab allerdings keine Druckerlaubnis und so musste der dritte Band des »Salon« ohne die Vorrede im Frühjahr 1837 erscheinen. Heines Verleger Campe gelang es allerdings noch im gleichen Jahr eine Genehmigung in Hamburg zu erlangen, und so konnte ein Sonderdruck »Über den Denunzianten« im Augst 1837 erscheinen. Heine geht in dem Text hart mit Menzel, aber auch einer von ihm ausgemachten deutschen Gesinnung, ins Gericht. So notiert er mit unterschwelliger Ironie: »Herr Menzel hat sehr gut seine Zeit gewählt zur Denunziation jener großen Verschwörung, die unter dem Namen ›das junge. Deutschland‹ gegen Thron und Altar gerichtet ist und in dem Schreiber dieser Blätter ihr gefährlichstes Oberhaupt verehrt. Sonderbar! Und immer ist es die Religion und immer die Moral und immer der PaDekabristen und baute ein weit verzweigtes Spionagenetz auf, das das öffentliche und private Leben in der Folgezeit bestimmte. In der von ihm verantworteten sogenannten »Dritten Abteilung« gab es so viele Mitarbeiter mit deutschem biographischen Hintergrund, dass sie »im Volksmund die ›Deutsche Abteilung‹ hieß«. Siehe dazu Gansel, Carsten: Gerhard Sawatzkys Roman »Wir selbst« (1938) – Das zerstörte und verschollene Hauptwerk der Russlanddeutschen Literatur. In: Gerhard Sawatzky »Wir selbst«. Roman. Herausgegeben, mit einem dokumentarischen Anhang über die Wolgadeutsche Republik und ihre Literatur von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2020, S. 899–1081. 36 Heine, Heinrich: Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum dritten Teile des Salons. In: Ders.: Heines Werke. In Fünf Bänden. Fünfter Band. Ausgewählt und eingeleitet von Helmut Holzhauer. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1986, S. 145–166. Hinweise von Holzhauer finden sich auf den Seiten 470–472. Hier findet sich auch der Auszug aus dem Brief an Heinrich Laube (ebd., S. 470).

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triotismus, womit alle schlechten Subjekte ihre Angriffe beschönigen! –Sie greifen uns nicht an aus schäbigem Privatinteresse, nicht aus Schriftstellerneid, nicht aus angeborenem Knechtsinn, sondern um den lieben Gott, um die guten Sitten und das Vaterland zu retten.«37

Was Heine hier zum Denunzianten auf den Punkt bringt, das ist ein wiederkehrendes Moment, denn immer geht es um vermeintlich »größere Beträge«, mithin um Moral und gegebenenfalls um Solidarität. Von Hoffmann von Fallersleben ist der bis in die Gegenwart vielzitierte Spruch überliefert: »Der größte Lump im ganzen Land, das bleibt der Denunziant.« Entstanden ist er – wie Heines Schrift – während der Demagogenverfolgung ab 1820.38 Mit Blick auf die Bestimmung dessen, was Denunziation meint, bringt Rainer Paris die Folgen so auf den Punkt: »Das, was der Denunziant verrät, sind die lebensweltlichen Bindungen und Vertrauensbezüge des sozialen Nahfelds und der Nachbarschaft. Er liefert einen Gleichen der Staatsmacht ans Messer. (…) Dabei wird die Verletzung der Sittennorm, wie das Beispiel des ›Petzens‹ – der ›Infantilform der Denunziation‹ – zeigt, vor allem dann als besonders verwerflich empfunden, wenn sie die Solidargemeinschaft der Abhängigen aufbricht oder ein in den Streitigkeiten der Gemeinschaft Unterlegener sich durch das Bündnis mit der übermächtigen Sanktionsinstanz nachträglich doch noch durchzusetzen versucht.«39

Paris nennt in diesem Zusammenhang die »Infantilform der Denunziation«, nämlich das »Petzen«. Christa Wolf hat – um ein aktuelleres Beispiel zu geben – in ihrem Nachlasstext »Nachruf auf Lebende«, der 2014 erschienen ist, die IchErzählerin auf jene verwerfliche Handlung des »Petzens« verweisen lassen. Ohne dies explizit zu betonen, zeigt die Erzählung über das Erinnern von Kindheitsepisoden, die vor allem an die Mutter gebunden sind, wie sich eine spezifische Vorstellung von Werten und davon ausbildet, was moralisch »Gut« und »Böse« ist. So erinnert die Protagonistin: »In unserer Familie, wo es keine sehr scharfen Gesetze und daher auch keinen Hang zu scharfen Strafen gab, lag die Entscheidung über Gut und Böse in den Händen meiner Mutter, kraft einer moralischen Überlegenheit, die nie in Frage stand und wahrscheinlich nicht von irdischen Mächten verliehen war.«40

37 Ebd., S. 153, 154. 38 Siehe den instruktiven Beitrag von Schröter, Michael: Wandlungen des Denunziationsbegriffs. In: Ders. (Hrsg.): Der willkommene Verrat, 2007, S. 33–70. 39 Paris, Rainer: Ein Grundmuster von brutaler Schlichtheit. 40 Wolf, Christa: Nachruf auf Lebende. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014, S. 82.

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Die erinnerten Kindheitsepisoden zeigen, auf welche Weise sich bestimmte moralische Normen in der Familie ausbilden.41 Erinnert werden Vorfälle, »bei denen die Gerechtigkeit verletzt wurde« und sich eine »Empfindlichkeit gegen Demütigungen« ausbildete.42 Einfluss auf das Wertesystem der Tochter haben auch die Aversionen der Mutter gegenüber den »Genußmenschen« wie auch ihre Hinweise darauf, dass man die eigenen Affekte im Zaum halten und Selbstbeherrschung üben müsse. Als Lebensmaxime wird den Kindern vermittelt, dass es für das Leben nicht gut sei, wenn man es in der Jugend zu leicht habe. Schließlich erinnert die Erzählerin jene Episode, da die Mutter die Tochter – »zum ersten und einzigen Mal« – schlug und erbittert rief »Sollst du petzen? […] Wo hast du das denn her?«.43 Die Erzählerin fühlt in diesem Moment, »daß ich im Begriff war, zu verderben, und daß vielleicht Petzen am Anfang des Weges stand, an dessen Ende man dann verurteilt war, im Zickzackweg vor aller Augen herumzutaumeln und zu singen: Du kannst nicht treu sein«.44 Gemeint ist damit der Schneidermeister Kurth, der trank und beim Vater der Ich-Erzählerin »›anschreiben‹« ließ.45 Christa Wolfs Text verweist mit dem »Petzen« auf die familiäre, mithin private Ebene. Eher auf Gesellschaftliches zielen die Überlegungen im theoretischen Kontext, bei denen sich der Hinweis findet, der Denunziant würde sich im »Konflikt zwischen horizontaler und vertikaler Loyalität« letztlich auf die »Seite der Herrschenden« schlagen. Als »Grundelemente des heutigen Verständnisses von Denunziation« gelten sodann »Heimtücke und niedere Beweggründe wie Neid, ferner Eigenantrieb und Initiative«. Freilich werden sie – darauf verweist schon Heine – oftmals durch das kaschiert, was Volker Braun in seinem »HinzKunze-Roman« (1985) die DDR-Verhältnisse karikierend, die »gesellschaftlichen Interessen« genannt hat. Es steht nunmehr die Frage, wie es um die Handlung wie den Begriff »Denunziation« in demokratisch verfassten Gesellschaften steht? Einen Hinweis hat Bernhard Schlink gegeben, der sich als Jurist und Autor mit dem Phänomen »Verrat« auseinandergesetzt hat. Die Denunziation erfasst er neben der Verleugnung, der Kollaboration, der Korruption, dem Hochverrat als eine seiner Spielarten. Kennzeichnend für die Denunziation sei der Bruch eines »Loyalitätsverhältnisses«. »Der Bruch geschieht«, so Schlink, »durch eine formelle und informelle, offene oder anonyme Anzeige bei Staat, Partei, Kirche oder wer sonst 41 Ebd. Siehe dazu ausführlich meinen Beitrag: Gansel, Carsten: Christa Wolfs Erinnerungspoetik, menschliches Gedächtnis und die Nachlasserzählung ›Nachruf auf Lebende‹ (1971). In: Carsten Gansel/Therese Hörnigk (Hg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf. Berlin: vbb 2015, S. 69–93. 42 Wolf, Christa: Nachruf auf Lebende, 2014, S. 94. 43 Ebd., S. 96. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 94.

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die Macht hat, Sanktionen über den Denunzierten zu verhängen.«46 Davon setzt Schlink die Demokratie ab und notiert: »Wer in der Demokratie den Mitbürger an den Staat verrät, bricht nicht mehr die Loyalität mit denen da unten zugunsten des Sich-Andienens bei denen da oben«. Vielmehr würde die Handlung verhindern, »daß einer sich auf Kosten aller einen Vorteile verschafft und damit die Loyalität der Gleichen bricht.«47 Die hinreichend bekannten Aufforderungen in den letzten Jahren, vermeintliche Steuerbetrüger zu melden, gehören in dieses Feld, aber auch die aus Nordamerika inzwischen in Westeuropa übernommenen Formen von »Trigger warning«. Schlink jedenfalls sieht noch 2007 den pejorativen Gebrauch des Begriffs »Denunziation« in einer »obrigkeitlichen Tradition« und möchte ihn allem Anschein nach in demokratisch verfassten Gesellschaften nicht gebrauchen. 2011 spricht er dann aber – aktuelle Entwicklungen vorwegnehmend – von einer »Denunziation des Historischen«.48 Das Problem, das Schlink sieht, besteht darin, dass die Bewertung der Vergangenheit mit den Maßstäben der Gegenwart erfolgt. Dabei wird, so könnte man vereinfacht sagen, ein »Papiertiger« aufgebaut, gegen den sich gut kämpfen lässt. »Es muß«, so Schlink, »moralisch Gericht gehalten werden – mit heutigen Maßstäben über gestriges Verhalten«. Ein solches Vorgehen bezeichnet der Autor nun als denunziatorisch, denn: »Es unterwirft Personen einem Maßstab, der ihnen nicht gemäß ist, und überantwortet sie einem Gericht, das ihnen nicht gerecht wird.«49 Dies schaffe eine »Kultur des Denunziatorischen, weil es den Umgang mit der Geschichte insgesamt prägt, den wissenschaftlichen wie den alltäglichen, den Umgang mit der politischen Geschichte wie mit der Literatur- und Kulturgeschichte.«50 Letztlich habe die »Vergangenheitsbewältigung« den Abstand zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen eingeebnet, »indem der Maßstab der Gegenwart an die Vergangenheit angelegt wurde, wurde der Entlarvungsund Demontierungsimpuls, der sich zunächst auf die Vergangenheit richtete, auch auf die Gegenwart erstreckt.«51 Und mit Blick auf die Ursachen für eine solche »Kultur des Denunziatorischen« verweist er auf »ein Geflecht von Gründen«. »Der denunziatorische Zugriff auf die Vergangenheit und auch die Gegenwart ist einfach. Moralisieren reduziert Komplexität«, notiert Schlink.52 Die 46 Schlink, Bernhard: Verrat. In: Michael Schröter (Hrsg.): Der willkommene Verrat. Beiträge zur Denunziationsforschung. Göttingen: Velbrück 2007, S. 13–32, hier S. 15f. 47 Ebd. 48 Schlink, Bernhard: Die Kultur des Denunziatorischen. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 65, 2011, H. 6, S. 473–486, hier: S. 480. Diesen Fragen geht Schlink auch in seinen poetologischen Überlegungen nach. Siehe besonders Ders.: Über die Vergangenheit schreiben. In: Ders.: Gedanken über das Schreiben. Zürich: Diogenes 2011, S. 7–35. 49 Ebd., S. 481. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 480 52 Ebd., S. 484.

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Begründung dafür, warum das Moralisieren Komplexität reduziert, lautet – und da wird man Bernhard Schlink zustimmen können – so: »Die Erforschung nicht nur des markanten, sondern auch der unscheinbaren Befunde, aus denen Lebenswelten rekonstruiert werden, das Bewussthalten der Distanz, der letztlich unüberbrückbaren Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Balance zwischen dem analytischen und theoretischen Gegenwartsblick und der Einfühlung in vergangene Mentalitäten, das moralische Urteil aus dieser Balance – es ist aufwendig. Mit heutigem moralischem Maßstab zu entlarven und zu diskreditieren bedarf keines großen Aufwands.«53

Man muss Bernhard Schlinks Überlegungen, die hier nur angedeutet sind, nicht folgen, aber darüber nachdenken, welche Wertmaßstäbe bei der Beschäftigung mit vergangenen Ereignissen wie literarischen Texten angelegt werden, das sollte man schon.54

4.

Auf der Suche nach der Darstellung von denunziatorischen Handlungen in literarischen Texten

Denunziation kommt in den einschlägigen Lexika der Literaturwissenschaft als »Motiv« zunächst nicht vor. Aber das ursprüngliche Ziel des Beitrags war auch nicht auf die Darstellung von Denunziation in der Literatur ausgerichtet. Es sollte vielmehr um die Frage gehen, in welcher Weise die Handlung der Denunziation in literarischen Texten Gestaltung findet, die Pest, Cholera, Aussatz und andere Katastrophen bzw. Störungen ins Zentrum stellen. In den Blick geraten dabei – ausgehend von aktuellen Verhältnissen – folgende klassische Texte, in denen danach zu suchen wäre, ob der Akt des Meldens oder des Denunzierens eine Rolle spielt: Hartmann von Aue »Der arme Heinrich« (1190), Boccachio »Das Decamerone« (1470 erschienen); Daniel Defoe »Die Pest zu London« (1722); Heinrich von Kleist »Das Erdbeben von Lissabon« (1807); Edgar Allan Poe »Die Maske des roten Todes« (1842). Außer Frage steht, dass es sich in diesen Fällen bei der Denunziation um ein textimmanentes Phänomen handelt, dass auf der Ebene der ›histoire‹, also dem »Was« des Erzählens, angesiedelt ist. Denn es geht um die oben beschriebene Handlung des Anzeigens. Allerdings – und damit sei das Ergebnis vorweggenommen – wird man in keinem der Texte fündig, denn im Angesicht eines Ausnahmezustandes, der die Gesundheit und damit das eigene 53 Ebd. 54 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Bernhard Schlinks Essay Hahn, Hans-Joachim: Kulturen des Denunziatorischen Oder: »In richtig funktionierenden Institutionen versteht sich das Moralische von selbst«. literaturkritik.de vom 05. 04. 2012. (letzter Zugriff: 16. 03. 2022).

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Leben betrifft, sind Regeln, Verbote, Maßnahmen einzuhalten.55 Dort, wo man mit Foucault von einer »Bio-Macht« bzw. »Biopolitik« sprechen kann, gibt es keine Widerstände. In den betrachteten Texten findet sich denn auch kein wirklicher Akt der Denunziation. Unter Verhältnissen, in denen das Moment der Angst den Maßstab der Bewertung abgibt, scheint eine Devise verbindlich, die an einer deutschen Universität, nämlich der Universität Greifswald, so ausgegeben wurde. Die Aktion #allesdichtmachen verurteilend, hieß es hier im April 2021 schlicht: #allesschlichtmachen! Die bisherigen Überlegungen lassen den Schluss zu, dass Denunziation bevorzugt gebunden ist an Figuren, Handlungen, Schauplätzen und Gesellschaften, in denen demokratische Prinzipien nicht gelten. Aufgerufen sind mithin anscheinend Gesellschaftssysteme wie frühe Monarchien und sogenannte ›geschlossene‹ Gesellschaften bzw. Diktaturen. In diesen Fällen sollen Störungen, die durch Kommunikation zu bearbeiten wären, ausgeschlossen werden. Wenn es nun um literarische Texte geht, dann bietet es sich an, in diachroner Perspektive einmal mehr mit dem von Paul Ricœur entworfenen dreistufigen Modell der Mimesis zu arbeiten.56 Ricœur fragt nämlich nach dem Verhältnis zwischen der kulturellen Präfiguration eines Textes (Mimesis I) und seiner spezifischen 55 Anders war dies in Berthold Auerbachs Roman »Neues Leben«, der 1852, also nach der Revolution von 1848, entstand und zeitlich in das Jahr 1849 führt. Ein adeliger Offizier, Graf Eugen von Falkenberg, ist wegen seiner Teilnahme am badischen Aufstand zum Tode verurteilt worden, er kann fliehen und versucht nach Amerika auszuwandern. Bei seiner Flucht trifft auf einen Lehrer, dessen Traum es ist, nach Amerika zu kommen. Der eine, Graf Eugen, will bleiben, um »in unscheinbarem Wirkungskreis zu leben für meine Vaterlandsgenossen« (S. 207). Was geschieht: Beide tauschen ihre Identitäten. Im Text selbst spielen dann verschiedenen Varianten von Denunziation eine Rolle, der Denunziant aus Rache, der Spitzel, der Verräter. Und, was von Interesse ist: Es wird unterschieden in gute und schlechte Denunziation. Vgl. dazu Schröter, Michael: Literarische Demokratisierung nach 1848. In: Ders. (Hrsg.): Der willkommene Verrat, 2007, S. 139–158. 56 Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung Bd. I: Zeit und historische Erzählung. München: Fink 1988 (2. Aufl.), S. 90. Das ungemein anregende Modell von Paul Ricœur ist nicht nur mehrfach für die Analyse literarischer Entwicklungen genutzt worden. Sehr früh hat Astrid Erll im Rahmen von Forschungen des SFB Erinnerungskulturen an der Universität Gießen auf den Ansatz verwiesen. Vgl. Dies.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 2005. Siehe auch verschiedene Beiträge des Verfassers, in denen Paul Ricœurs Ansatz für die Analyse literarischer Phänomene genutzt wird: Gansel, Carsten: »Hassfiguren«? oder »Der Tod ist ein Geschenk« – Störungen in der Adoleszenz und Terrorismus. In: Carsten Gansel/ Heinrich Kaulen (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien von 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 247–262; Ders.: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Carsten Gansel/Norman Ächter (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 31–56; Ders.: Sprechen und (Ver)Schweigen: Kriegsdarstellung und Aufstörung bei Grass und Strittmatter. In: Lützeler, Paul Michael [u. a.] (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2013, S. 243–270.

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Konfiguration (Mimesis II). Präfiguration meint dabei den Bezug auf die »außerliterarische Wirklichkeit«, mithin das, was man vereinfacht »Stoff« nennen kann. Konfiguration bezeichnet den Prozess, in dem die im Rahmen der Mimesis I jeweils ausgewählten Elemente »syntagmatisch miteinander verknüpft und zu einer bestimmten Geschichte geformt« werden. Auf diese Weise entsteht mit dem literarischen Gebilde eine »narrative Struktur, in der jedes Element seinen Platz und damit seine Bedeutung erhält«. Nachfolgend sei vor diesem theoretischen Hintergrund der Fokus auf einige ausgewählte Fallbeispiele gerichtet, in denen die literarischen Texte eine story bzw. eine Geschichte erzählen, die in der Weimarer Republik, dem NS-System und der DDR situiert ist.

Fallbeispiel I: Hans Fallada in den 1920er Jahren – »Wir zahlen Prämien für die schuftigste Gesinnung« Hans Fallada, der schon in den 1920er Jahren die Erfahrung der Gefängnishaft gemacht hat, war ein Leben lang an Motiven jener interessiert, die andere denunzieren. Im Juli 1923 wird er das erste Mal zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt, die er am 20. Juni 1924 im Gerichtsgefängnis Greifswald antritt. Fallada nutzt die Zeit, er beobachtet und führt vom 22. Juni bis zum 2. September Tagebuch.57 Die Gefängnis-Erfahrungen verarbeitet Fallada umgehend. Am 3. Januar 1925 erscheint mit »Stimme aus den Gefängnissen« der erste von drei Texten, in denen Fallada journalistische Darstellungsweisen nutzt in der anerkannten Wochenzeitung »Das Tage-Buch«. »Ich habe vor kurzem nahezu fünf Monate Gefängnis in einer mittleren Strafanstalt Deutschlands verbüßt«, so setzt der Text ein, der wie eine Reportage aufgemacht ist und anschaulich macht, wie durch den Gefängnisalltag die Persönlichkeiten der Inhaftierten deformiert werden.58 Letztlich sei die »Gesamtheit des Strafvollstreckungsdienstes« ein »toter Körper« und ein »versteinertes Gerippe«, so der abschließende Befund.59 Literarischer kommt der zweite Text »Tscheka-Impressionen« daher, in dem erneut ein Ich-Erzähler agiert, der in diesem Fall allerdings als Beobachter über Gerichtsprozesse berichtet. Dabei liefert er ein atmosphärisches Bild dessen, was in einem Gerichtssaal abläuft und in den Gefängnissen selbst geschieht. Dabei

57 Jahrzehnte später werden seine Aufzeichnungen unter dem Titel »Strafgefangener, Zelle 32« erscheinen. Siehe Fallada, Hans: Strafgefangener, Zelle 32. Tagebuch 22. Juni – 2. September 1924. Hg. von Günter Caspar. Berlin: Aufbau Verlag 1998. 58 Fallada, Hans: Stimme aus den Gefängnissen. In: Ders.: Warnung vor Büchern. Erzählungen und Bericht. Hrsg. und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Ditzingen: Philipp Reclam jun. 2021, S. 15–26, hier: S. 15. 59 Ebd., S. 15–26.

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teilt der Erzähler in teilweise ironischer Diktion mit, in welcher Weise Denunzianten eingeschleust und belohnt werden: »Immerhin leugnet dieser Beamte nicht, dass er dem Poege, in Anbetracht seiner Verdienste um Rettung des Staates, eine weitgehende Strafermäßigung, vielleicht gar Strafaussetzung in Aussicht gestellt hat. Sogar von der Verhandlung dieses Prozesses in Stuttgart statt in Leipzig soll die Rede gewesen sein, damit Held Poege nicht den Blicken seiner Leipziger Genossen im Gerichtssaal ausgesetzt wird. Und natürlich hat Poege in keiner Dunkel-, in keiner Einzelzelle gelegen, man hat ihn in Gemeinschaftszelle gelegt, wo er andere Untersuchungsgefangene ausgehorcht und ihre Geständnisse brühwarm hinterbracht hat, man hat ihm diese ›häufigen Spaziergänge in frischer Luft zum Polizeipräsidium gerne gegönnt‹, er hat gutes Essen und Zigaretten bekommen, mit späterer Anstellung im Polizeipräsidium hat man gewinkt, am Horizont erscheinen undeutlich die Umrisse eines Auslandspasses.«60

Der Wirklichkeitsbezug im Sinne von Mimesis I ist unübersehbar und die Kommentierung des Ich-Erzählers unmissverständlich: »All dies lebt, also dies kommt täglich vor, und wir wundern uns nicht einmal darüber. Es ist eben so, wer soll es ändern? Der Untersuchungshäftling, der sich seiner Haut wehrt, im Dunkelarrest, der Untersuchungshäftling, der sein eigen Nest beschmutzt beim Spazierengehen. Wir zahlen Prämien für die schuftigste Gesinnung.«61

Schließlich äußert sich der Ich-Erzähler zur Rolle der Presse. An Beispielen zeigt er, »drei Wege der Macht«, die die Medien nutzen: »vollkommen Neues erfinden, Geschehenes verfälschen, Gehörtes unterdrücken.«62

Fallbeispiel II: Hans Fallada und das »Dritte Reich« – »Man konnte nicht vorsichtig genug sein in diesen Zeiten« Beispiele für verschiedene Formen von Denunziation innerhalb einer totalitären Gesellschaft entwirft Hans Fallada dann in seinem letzten Roman »Jeder stirbt für sich allein« (1947). Um das Ehepaar Quangel ist ein Ensemble unterschiedlicher Figuren gruppiert. Dazu gehören ein Gestapospitzel, der Staatsanwalt, der Verteidiger, ein Kammergerichtsrat, Richter Feisler, der dem bekanntesten Strafrichter der NS-Diktatur, Roland Freisler, nachempfunden ist, Nazikommissar Escherich oder das Nazi-Ehepaar Persicke. Sämtliche dieser Figuren haben Angst vor Verfolgung und Denunziation.63 Letztlich geht es in dem Roman 60 61 62 63

Fallada, Hans: Tscheka-Impressionen: In: Ebd., S. 27–35, hier: S. 30. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Vgl. dazu auch die zutreffende Darstellung bei Frank, Gustav/ Scherer, Stefan: Jeder stirbt für sich allein (1947). In: Dies. (Hrsg.): Hans-Fallada-Handbuch. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 473–490.

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um zwischenmenschliche Verhältnisse in einer Diktatur, in der jeder jeden beobachtet, verdächtigt, bespitzelt, denunziert. Zu Beginn des Romans werden vom Erzähler vier Parteien in einem Berliner Mietshaus charakterisiert, die sich wechselseitig misstrauen. Zunächst die Familie Persicke, die aus NSDAP-Mitgliedern besteht und die Nutznießer des Systems sind. Otto Quangel, eine der Hauptfiguren, geht der Familie, die bereits seit zehn Jahren in dem Haus wohnt, schon immer aus dem Weg. Der personale Erzähler gibt Einblick in Quangels Sicht und begründet seine Vorsicht so: »Jetzt waren die Persickes große Leute geworden, der Alte hatte alle möglichen Ämter bei der Partei, und die beiden ältesten Söhne waren bei der SS; Geld schien bei denen keine Rolle zu spielen. Umso mehr Grund sich bei ihnen vorzusehen, denn alle, die so standen, mussten sich bei der Partei in Beliebtheit halten, und das konnten sie nur, wenn sie was für die Partei taten. Etwas tun, das hieß aber, andere angeben, zum Beispiel melden: Der und der hat einen ausländischen Sender abgehört. Quangel hätte darum am liebsten schon lange die Radios aus Ottos Kammer verpackt in den Keller gestellt. Man konnte nicht vorsichtig genug sein in diesen Zeiten, wo jeder der Spion des anderen war, die Gestapo ihre Hand über alle hielt, das KZ in Sachsenhausen immer größer wurde und das Fallbeil in der Plötze alle Tage Arbeit hatte.«64

Auf der anderen Seite weiß Baldur Persicke, der Sohn, nicht, wie er Otto Quangel einschätzen soll. Gegenüber den Eltern teilt er seine Unsicherheit mit: »Kuck dir mal nen Menschen an wie den über uns, den Quangel. Kein Wort kriegst Du aus dem Manne heraus, und doch bin ich ganz sicher, der sieht und hört alles und wird auch seine Stelle haben, wo er’s hinmeldet. Wenn der mal meldet, die Persickes können die Schnauze nicht halten, die sind nicht zuverlässig, denen kann man nichts anvertrauen, dann sind wir geliefert. Du wenigstens bestimmt, Vater, und ich werde keinen Finger rühren, um dich wieder rauszuholen, aus dem KZ oder aus Moabit oder aus der Plötze oder wo du gerade sitzt.«65

Der Spitzel Emil Barkhausen schließlich, der im Souterrain wohnt, baut auf Erpressung und Denunziation seine Existenz auf. In die interne Fokalisierung wechselnd, wird ein Bild der denunziatorischen Verhältnisse gegeben: »Die meisten Menschen haben heute Angst, eigentlich alle, weil sie alle irgendwo irgendwas Verbotenes tun und immer fürchten, jemand weiß davon. Man muss sie nur im richtigen Augenblick überrumpeln, dann hat man sie, und sie zahlen.«66

Dabei sind vom System der wechselseitigen Beobachtung und Kontrolle auch die Gestapo-Leute nicht ausgenommen, weil in einem System der staatlichen Kon64 Fallada, Hans: Jeder stirbt für sich allein. Berlin: Aufbau Verlag 2011, S. 17. 65 Ebd., S. 19, 20. 66 Ebd., S. 28.

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trolle und Denunziation »jeder zum Spitzel des anderen« werden kann.67 In einer erst jetzt veröffentlichten Rede, die Fallada am 8. Dezember 1945 in Schwerin gehalten hat, fasst er die Situation in Deutschland während des Dritten Reiches und danach so zusammen: »In den schwersten Stunden, die wir alle in den vergangenen zwölf Jahren erlebten, hat uns dieser Glaube, diese Hoffnung aufrechterhalten. Wenn wir grade im letzten halben Jahre, da die Hitler’sche Knute fortfiel, haben erleben müssen, dass ein Großteil unserer Mitbürger den niedrigsten Instinkten mit Diebstahl, Denunziation, Neid Raum gegeben hat, wenn wir also grade in der jüngst vergangenen Zeit haben erfahren müssen, wie verkommen und moralisch erniedrigt dieses Volk in den letzten zwölf Jahren geworden ist, so sagen wir uns doch immer wieder: Ein anständiger Kern ist geblieben, und unsere Pflicht ist es, diesen Kern von Anstand zu erhalten, weiterzugeben, aus dem Kern einen ganzen Saatacker zu bestellen.«68

Fallbeispiel III: »Gut gemeinte Denunziation« im Sinne des Fortschritts in der DDR-Literatur Nach einem brieflichen Austausch mit Anna Seghers beginnt die 19jährige Brigitte Reimann sich Anfang der 1950er Jahre einem Stoff zuzuwenden, der »in Schulkreisen spielt«. In Kreisen also, in »deren Sprache ich mich am besten aus(kenne), denn ich bin ja auch erst vor kurzer Zeit von der Penne entwichen«, notiert sie.69 Bereits der Titel der Erzählung wirkt für damalige Verhältnisse irritierend, wenn nicht gar provokant. »Die Denunziantin« soll die Geschichte heißen. Letztlich geht es in dem Text um einen Konflikt zwischen Vertretern der alten und jener jungen Generation, die sich anschickt, nach einem verheerenden Krieg eine neue Gesellschaft aufzubauen. Erzählt wird von Eva Hennig, einer Oberschülerin, die in die zwölfte Klasse einer Kleinstadt kommt und dort in wenigen Monaten das Abitur machen soll. Eva ist eine aktive FDJ-lerin, Leiterin der Laienspielgruppe, und gilt in der Schule als eine »Überfortschrittliche«. Ihr Vater ist im KZ umgebracht worden. So nimmt es nicht wunder, dass sie vorschlägt, für eine Aufführung vor Kindern von im KZ umgebrachten Antifaschisten ein Stück der Gegenwartsliteratur von Peter Nell aufzuführen. Das Stück heißt die »Eysenhardts« und trägt den Untertitel »Der Weg einer Frau«. Der Deutschlehrer lehnt den Text ab, da er aus seiner Sicht keine hinreichende literarische Qualität besitzt. Daraufhin wendet sich Eva an die Schulleitung und 67 Frank, Gustav/ Scherer, Stefan, a.a.o., S. 482. 68 Fallada, Hans: Meine Damen und Herren. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Hans Fallada: Warnung vor Büchern, 2021, S. 217–230, hier: S. 218. 69 »… daß Sie mir Mut gegeben haben«. Briefe von Brigitte Reimann und Anna Seghers. In: NDL, Heft 6/1988, S. 5–8.

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vertritt die Auffassung, dass dieser Lehrer »wenn auch nicht offen, so doch versteckt und innerlich reaktionär« ist, also einer »jener Typen, die wir, da sie ausgezeichnete Lehrer sind, 1945 abzubauen vergaßen«.70 Letztlich handelt es sich um das, was man mit Gottfried Meinhold eine »gutgemeinte Denunziation« nennen kann. Die Klassenkameraden erkennen nach anfänglicher Abwehr schließlich auch die Sinnhaftigkeit von Evas Tun, denn es geht um eine für die neue Gesellschaft grundlegende Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich. Die Erzählung hat die Reimann letztlich nicht zu Ende gebracht, weil sie sich zunehmend nicht mehr im Klaren darüber war, ob man im Becherschen Sinne einer guten Sache auch mit schlechten Mitteln, also dem Denunzieren Anderer, dienen kann. Damit ist das moralische Urteil über den Akt der Denunziation gesprochen. Soweit zu übersehen, ist die Geschichte der Reimann der einzige Text, in dem offen die Frage der Denunziation im Sinne der antifaschistischen Staatsräson verhandelt wird. In der Folgezeit verschwindet die Konfiguration aus der Literatur. Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob« (1959), der nach dem Wechsel des Autors nach Westberlin nur in der Bundesrepublik erscheint, ist mit der Figur des Stasi-Offiziers Rohlfs eine Ausnahme. Dass sich in der DDR-Literatur die Figuration des Denunzianten in Form etwa eines Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) nicht findet, das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass mit dem Ministerium für Staatssicherheit eine Instanz geschaffen wird, die obschon in der Bevölkerung als »Horch und Guck« ironisiert, gleichwohl als gefährlich gilt, zumal sie im Geheimen agiert. Zudem gehört die Darstellung etwa der Rolle des MfS mit seinen IM zu einem der zentralen Tabu-Themen für Literatur. Bis 1989 gibt es in der DDR keinen Text, der explizit über das Denken und Handeln eines IM, eines Informellen Mitarbeiters, erzählt. Wo, wie in Volker Brauns »Unvollendeter Geschichte« (1977) und Christoph Heins »Der Tangospieler« (1989), hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in den Blick geraten, werden die Texte zur Aufstörung.71 Der dritte Text, in dem mit dem Staatssicherheitsdienst Fragen der Denunziation und Beobachtung angesprochen sind, ist Christa Wolfs Erzählung »Was bleibt«, die im Juni 1979 entstand und im November 1989 publiziert wurde.72 In 70 Reimann, Brigitte: Expose Laienspiel, S. 1. (unv.) 71 Dies gilt auch für die nur in der Bundesrepublik erscheinenden Texte von Reiner Kunze (»Die wunderbaren Jahre«, 1976), Rolf Schneider (»November«, 1979) oder Hans Joachim Schädlich (»Tallhover«, 1986), die allerdings keine Chance haben, das Lesepublikum in der DDR zu erreichen. 72 Wolf, Christa: Was bleibt. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1990. Siehe dazu meine ausführliche Darstellung, die die verschiedenen Fassungen des Textes berücksichtigt und zeigt, dass Christa Wolf seit der Erstfassung lediglich einige stilistische Veränderungen vorgenommen hat: Carsten Gansel: Erinnerung, Aufstörung und »blinde Flecken« im Werk von

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dem Text geht es um ein Schriftsteller-Ich, das in einer Art Bewusstseins- und Erinnerungsstrom die Dauerbewachung durch das Ministerium für Staatssicherheitsdienst reflektiert. Bekanntlich wurden Thema wie Zeitpunkt der Veröffentlichung von westdeutschen Kritikern als unangemessen empfunden und bildeten den Auslöser des sogenannten »deutsch-deutschen Literaturstreits«. Dieser Umstand hat mit dazu beigetragen, dass die Vielschichtigkeit des Textes ebenso wenig erkannt wurde wie die Tatsache, dass das Ich in dieser Erzählung dem eigenen »blinden Fleck« weitaus näher kommt als in allen anderen Texten. Von eigener Feigheit ist die Rede, vom »beschämende(n) Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen«, vom »bevorzugten Leben«, von »Selbstzensur« und »Angst«.73 Eine gewisse Überhöhung der eigenen Person, die sich im Text durchaus findet, wird mehrfach abgedämpft, so etwa, indem das Ich einen Bezug zur Situation der russischen Autorin Anna Achmatova herstellt, die unter Stalin »zwanzig Jahre lang einen persönlichen Begleiter gehabt (haben soll)«. Angesichts dieses Lebensschicksals erkennt das Ich: »Mir hatten sie nicht einmal die Instrumente gezeigt«74 Aber noch wichtiger ist die schonungslose Selbstkritik, wenn das Ich Georg Büchner paraphrasierend notiert, es »log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und nach Genuß. Nur: Die einen wußten es, und die anderen wußten es nicht«.75 Es nimmt nicht wunder, wenn die Auseinandersetzung um Fragen der Denunziation in Verbindung mit dem MfS erst nach der Wende des Jahres 1989 neu einsetzte. Eine Gemeinsamkeit der Texte von Wolfgang Hilbig »Ich«, Uwe Tellkamp »Der Turm« oder Eugen Ruge »In Zeiten abnehmenden Lichts« besteht darin, dass das moralische Urteil über jene gesprochen ist, die sich mit dem MfS einlassen und das »Loyalitätsverhältnis« gegenüber Freunden oder Verwandten brechen. Es sind Täter. Eine neue Diskussion der IM-Problematik setzt mit dem erfolgreichen Gundermann-Film von 2018 ein: Andreas Dresen (Regie) und Lailer Stieler (Drehbuch) haben herausgestellt, dass der Film sich weigert, ein »einfaches Urteil zu fällen und zu sagen: So, der ist jetzt bei der Stasi, der ist schuldig. Stattdessen haben wir die Figur in ihrer Ambivalenz gezeigt und in ihrer Aufmüpfigkeit, mit der sie ja auch im Osten aneckt. Dadurch weicht dieses starre Täter-Opfer-Schema auf. Wir selbst haben ja erlebt und erfahren, dass Biografien nicht so einfach sind.«76

73 74 75 76

Christa Wolf. In: Ders. (Hg.) unter Mitarbeit von Sonja Klocke: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 15–42. Ebd., S. 14, 15, 36, 50. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. In Georg Büchners »Dantons Tod« (1835) hatte es geheißen: »Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?« Dresen, Andreas/ Stieler, Laila: »Es gibt keine Absolution, Punkt«. In: Die Zeit, 03. 10. 2018.

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Dresen und Stieler wenden sich gegen die Tendenz, dass die Ostler sich in einer Demutsgeste dem Westen unterwerfen und beständig bekennen: »Oh ja, das war alles ganz schlimm, und wir waren ja alle nur opportunistisch, und wir sind ja so froh, dass das jetzt vorbei ist.« Letztlich, so Dresen, würde die »westliche, kapitalistische Gesellschaft« sich permanent selbst erhöhen, »indem sie das, was im Osten gewesen ist, verdammt.« Dresen zusammenfassend: »Das ist natürlich Blödsinn, denn die Ideen, mit denen die DDR angetreten ist, sind ja nicht per se schlecht.«77

5.

Denunziation – demokratische Gesellschaften und der »Störfall Pandemie«

In der Wendezeit des Jahres 1990 erschien im damaligen Leipziger Reclamverlag erstmals ein Taschenbuch mit Aufsätzen eines der wichtigsten Philosophen der Bundesrepublik Deutschland, Jürgen Habermas. Habermas beschrieb in einem der Beiträge die wichtige Rolle von Intellektuellen und Künstlern, die in der Tradition des Gesellschaftskritikers standen. Im Dritten Reich waren zahlreiche von ihnen aus Deutschland vertrieben worden. Und in der alten Bundesrepublik gehörten Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser oder Ingeborg Bachmann zu ihnen. Diese Autoren setzten sich im Sinne von Habermas für »verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten« ein und sie wandten sich an eine »resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit«. Dabei konnten sie sich auf einen »halbwegs funktionierenden Rechtsstaat« und eine Demokratie verlassen, die nur durch das »Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger am Leben bleibt«.78 Weil diese Koordinaten einer Demokratie auch in Folge der 68er-Entwicklungen gegeben schienen, gab es allem Anschein nach keine hinreichende Stoffgrundlage (Mimesis I) für Texte, in denen Denunziation zu verhandeln war. Freilich findet man die Problematik in Texten und Filmen angerissen, die sich mit RAF und Terroristenverfolgung in den 1970er Jahren auseinandersetzen.79 In diesen Rahmen gehört Heinrich Bölls Erzählung »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (1974). Erzählt wird die Geschichte von Katharina Blum, die von »der ZEITUNG« denunziert, diffamiert 77 Ebd. 78 Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990. Leipzig 1990, S. 130–158. 79 Siehe dazu Ächtler, Norman/ Gansel, Carsten (Hg.): Ikonographie des Terrors? Vom Erinnern über Bilder zum Erinnern der Bilder im künstlerischen Umgang mit dem Terrorismus der 1970er Jahre. In: Norman Ächtler/ Carsten Gansel (Hrsg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Heidelberg 2010: Winter, S. 9–20.

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und zur »Terroristenbraut« hochgeschrieben wird. Der Text erzählt auf welche Weise es zur staatlich sanktionierten psychischen und physischen Zerstörung von Katharina kommt. Aus Verzweiflung und Wut erschießt sie den verantwortlichen Redakteur der ZEITUNG. Dass der Text weltweit eine Auflage um die 2,7 Millionen hatte, signalisiert in welcher Weise Böll hier Grundprobleme einer Medienindustrie erfasst hatte. In einer Vorbemerkung hatte Böll herausgestellt, dass es nicht zuletzt um die menschenverachtende Berichterstattung eines Blattes ging, das im Text in Versalien als die ZEITUNG bezeichnet wird. Entsprechend heißt es: »Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ›Bild‹-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.«80

Das war vor etwa 50 Jahren, als es noch die Systemkonfrontation und zwei unterschiedliche Weltsysteme gab, die sie unversöhnlich gegenüberstanden. Inzwischen gibt es den Real-Sozialismus nicht mehr, was nicht ohne Folgen für die demokratische Verfasstheit der westlichen Gesellschaften geblieben ist. Das betrifft nicht zuletzt die Funktion und Leistung der Systeme Medien und Politik. Giorgio Agamben hat 2003, also lange vor der Pandemie, darauf verwiesen, dass es zu einer Praxis geworden zu sein scheint, »einen permanenten Notstand zu schaffen«, was auch für die »sogenannten demokratischen« Staaten gelte. Wenngleich der Notstand, so Agamben damals, auch noch nicht »im strikten Sinne ausgerufen« werde, komme es zu einer »unaufhaltsamen Steigerung« dessen, was man als »›weltweiten Bürgerkrieg‹« bezeichnen kann. Von daher erweise sich »der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens.«81 Letztlich komme es zu einer Verschiebung von einer »ausnahmsweise ergriffenen provisorischen Maßnahme zu einer Technik des Regierens. Eben dies drohe die »Struktur und den Sinn der traditionellen Unterscheidung der Verfassungsformen radikal zu verändern«. Insofern erweise sich der Ausnahmezustand als eine »Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus.«82 Ein Beispiel für diesen Ausnahmezustand, in dem das »Recht durch seine eigene Suspendierung das Lebendige in sich schließt«, stelle der Erlaß des Präsidenten der USA vom 13. November 2001 dar, mit dem jeder Nicht-Staatsbürger, der terroristischer Taten verdächtigst wird, in »unbeschränkte Haft« genommen werden kann. Mit der neuen Anordnung hatte Präsident Bush jeglichen rechtlichen Status der so 80 Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1974 (zitiert wird aus der Taschenbuchausgabe, 22. Auflage 1986.), S. 5. 81 Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand. Frankfurt/M.: edition Suhrkmap 2004, S. 9. 82 Ebd.

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bezichtigten Individuen ausgelöscht. Gesetze, rechtliche Kontrolle gelten ebenso wenig, wie eine zeitliche Markierung der Haft. Die so in Haft genommenen hätten »jede rechtliche Identität verloren«.83 Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn Agamben das, was er 2003 bereits als Tendenz markiert hat, nunmehr angesichts der durch die Pandemie motivierten Maßnahmen weiter zugespitzt sieht.84 Wobei mit Covid 19 ein Schlüssel gegeben scheint, der einzig Bestätigung oder zustimmendes Schweigen möglich macht. »Wir können ›Biosicherheit‹ das Regierungsdispositiv nennen, das aus der Verbindung der neuen Gesundheitsreligion mit der staatlichen Macht und dem von ihr verwalteten Ausnahmezustand entsteht«, so Agamben.85 In historischer Perspektive sieht Agamben in der »Biosicherheit« das machvollste Dispositiv in der »gesamten westlichen Geschichte«. Die Gegenwart habe gelehrt, dass »sobald ihre Gesundheit bedroht ist, die Menschen dazu bereit sind, Freiheitseinschränkungen hinzunehmen, die sie früher – sei es während der beiden Weltkriege oder unter dem Joch totalitärer Regime – unter keinen Umständen geduldet hätten.« Und mit Blick auf Italien konstatiert er, dass der dort verfügte Ausnahmezustand als die »längste Aufhebung der Legalität in der Geschichte dieses Landes in Erinnerung bleiben (wird)«. Dabei sei die Umsetzung auf »keinerlei Widerstand gestoßen«.86 Nun muss man Agambens Beschreibung italienischer Verhältnisse nicht 1:1 auf Deutschland übertragen. Allerdings wird man im Sinne des früheren Ansatzes von Habermas, der auf eine »resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit« setzt und eine Demokratie, die nur durch das »Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger am Leben bleibt«, irritiert sein können, wenn aus den Systemen Politik und Medien, sekundiert von Teilen der Wissenschaft, »mißtrauische wie streitbare Bürger« als »Covidioten«, »Verschwörungstheoretiker« oder gar »Rechte« bezeichnet werden. Hinzu kommen Aufforderungen von Medien und staatlichen Institutionen, Bürgerinnen und Bürger anzuzeigen, die sich nicht an die aufgestellten Regularien halten. So informiert »t-online. Nachrichten für Deutschland« am 28. August 2020 in einem Beitrag ausführlich, welche Schritte man gehen solle, wenn man Verstöße gegen die Corona-Verordnungen entdecken würde. Abschließend wird folgende Handlungsmaxime ausgegeben: »An wen können Sie sich bei einem Verstoß wenden? Sie sehen eine größere Menschengruppe ohne Abstandsregelungen oder Menschen ohne Mund-Nasen-Schutz in öffentlichen Verkehrsmitteln: In vielen Fällen sollten Sie natürlich zunächst versuchen, die Personen freundlich auf ihren Fehler hinzuweisen. Sie können sich aber auch an Behörden und Polizei wenden. Auch hier gibt es Unter83 Ebd., S. 11. 84 Agamben, Giorgio: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Wien-Berlin: Turia + Kant 2021. 85 Ebd., S. 10. 86 Ebd.

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schiede in den Bundesländern. In den meisten Fällen wie beispielsweise in NordrheinWestfalen oder im Saarland können Sie sich an die zuständigen Ordnungsbehörden und im Notfall auch an die Polizei vor Ort wenden.«87

Die Stadt Essen hatte im Oktober 2020 ein Portal eingerichtet, das unter der Überschrift »Melden eines Verstoßes gegen die Coronaschutz-Verordnung (Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARSCoV-2) firmierte.88 Hier konnten Bürger anonym andere anzeigen. Das Saarland erließ, wie andere Bundesländer auch, eine Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.89 Noch etwas weiter ging im April 2021 der Verfassungsschutzbericht. Unter dem Titel »Wir gehen entschieden gegen Feinde der Demokratie« findet sich nunmehr ein – wie es heißt – »Neuer Phänomenbereich«, der wie folgt beschrieben wird: »Das BfV hat im April 2021 den neuen Phänomenbereich ›Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‹ eingerichtet. Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Hierzu betreiben sie eine zielgerichtete Verächtlichmachung des demokratischen Systems und seiner Funktionsträger. Die Angehörigen des Phänomenbereichs zielen auf die Radikalisierung und Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung, um ihre eigene Agenda voranzubringen. Auch über die Corona-Pandemie hinausgehend werden Krisensituationen zur Delegitimierung des Staates genutzt.«90

Man wird nicht umhin können, irritiert zu sein, wenn der Verfassungsschutz in Verbindung mit der Bundesregierung einen Tatbestand der »Delegitimierung des Staates« einzuführen gedenkt. Und dies nicht nur, weil es in der DDR einen vergleichbaren Tatbestand gab, von dem bereits die Rede war, nämlich der § 106 »staatsfeindliche Hetze«. Es steht die Frage, was konkret unter »Delegitimierug« zu verstehen ist? Sollte etwa das »Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger«, von denen Habermas spricht, als Delegitimierung verstanden werden können? Dass sich unter den veränderten systemischen Bedingungen mit dem Denunzieren eine Verhaltensweise zu reproduzieren scheint, von der man glaubte,

87 (letzter Zugriff: 01. 07. 2022). 88 Das Portal ist derzeit nicht mehr abrufbar. 89 Darin heißt es: »Verstöße gegen die Ge- und Verbote der Verordnung sollen seitens der zuständigen Behörden als Ordnungswidrigkeiten regelmäßig wie folgt geahndet werden« (letzter Zugriff: 01.07. 2022). 90 Verfassungsschutzbericht 2021: »Wir gehen entschieden gegen Feinde der Demokratie« (letzter Zugriff: 01. 07. 2022).

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dass ihr in demokratischen Strukturen die Grundlagen entzogen sind, muss nicht verwundern. Dabei sollte man allerdings in Rechnung stellen, dass nicht erst die Pandemie und der damit in Verbindung stehende Ausnahmezustand den Boden bereitet haben. Neo Rauch hat in dieser Hinsicht bereits 2018 durchaus berechtigt darauf hingewiesen, dass wir 1989 »die Bagage der Blockwarte, Gesinnungsschnüffler und der Politkommissare zum Teufel gejagt und uns gesagt (haben) ›So etwas lassen wir uns nie wieder bieten. Wir lassen uns nie wieder auf Linie bringen.‹ Und jetzt sind die Blockwarte wieder da in Gestalt ihrer Enkelkinder.«91 Auf den Versuch eines Kunsthistorikers ihm »Motive rechten Denkens« zu unterstellen, antwortet Rauch mit einem Gemälde, dem er den Titel gibt »Der Anbräuner« gibt, und von 2019 stammt die Lithographie »Propaganda«.

6.

»Störfall Pandemie« als kulturelle Präfigurationen (Mimesis I) und mögliche Folgen

Geht man von dem eingeführten Modell von Paul Ricœur, nachdem es für literarische Texte von Interesse ist, nach der kulturellen Präfiguration (Mimesis I), mithin nach der »außerliterarischen Wirklichkeit« zu fragen, die sodann zur Grundlage für die Konfiguration eines Textes werden kann, dann erscheint es nach den oben nur angedeuteten Phänomenen der staatlichen Kontrolle, der verordneten Sanktionen wie der Aufforderung, Zuwiderhandlungen zu »melden«, durchaus absehbar, dass sich in Zukunft Texte finden werden, in denen das Motiv der Denunziation verhandelt und an Figurenbeziehungen durchgespielt wird. Ob sich dann herausstellt, dass es sich nolens volens um »gutgemeinte Denunziationen« handelt, muss aktuell offenbleiben. In der bereits mehrfach angesprochenen Aktion #allesdichtmachen findet sich mit Martin Brambach ein Video, das eine Art Blockwartmentalität, die Denunziation einschließt, zum Gegenstand der ironischen Darstellung macht.92 Ein Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Mann steht, der »Fingerzeig(er)«, wie man ihn, dem Hinweis im Abspann folgend, nennen kann. Beim Sehen von Martin Brambachs Video wird sofort klar, dass die bildkompositorische Inszenierung eine besondere Rolle spielt. Es geht um die Anordnung der Figur sowie der Elemente im inszenierten Raum, mithin um das, was man Mise en scène 91 Rauch, Neo/ Loy, Rosa: »Das ist die Talibanisierung unserer Lebenswirklichkeit«. Das Künstlerpaar Rosa Loy und Neo Rauch diskutiert im Gespräch über Geschlechterrollen in Kunst und Gesellschaft. In: Handelsblatt, 19. 04. 2018. 92 Die nachfolgende Darstellung entspricht weitgehend meinem Beitrag für den Band #allesdichtmachen zum Video von Martin Brambach. Er wurde für diesen Text übernommen. Siehe Gansel, Carsten: Martin Brambach: Fingerzeig(er). In: Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria (Hrsg.): #allesdichtmachen, Berlin 2022, S. 167–172.

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nennt. Schnell wird erkennbar, wohin die Aufmerksamkeit des Zuschauers gelenkt wird: zunächst auf den Mann, um die 50, mit einem grau schimmernden Dreitagebart und einem blauen Rollkragenpullover. Mit dem Styling ist angedeutet, dass die Figur sich als modisch zu inszenieren sucht. Die Kameraeinstellung ist nah, der Mann wird im Brustbild gezeigt. Dies hat einen Grund: Nachfolgend sind für das Statement Mimik und Gestik maßgeblich. Die Naheinstellung ermöglicht es dem Zuschauer, die den Monolog unterstreichenden Gesten, mit denen er ausgewählte Redesequenzen heraushebt, mitzuverfolgen. In welcher sozialen Schicht sich die Person bewegt, wird durch die Elemente im Raum, also dem Wohnzimmer, klar: Die Wand ist blau gestrichen, drei Graphiken sind, wenngleich teilweise durch die Person verdeckt, zu erkennen. Am rechten Bildrand befindet sich ein Regalsystem, das auf die 1970er Jahre verweist und in etwa eine Breite von 1,20 und eine Höhe von 1,80 Metern aufweist. Über dem mit Türen geschlossenen untersten Fach befinden sich offene Teile, in denen Bücher ebenso Platz haben wie Kunstgegenstände. In diesem Fall sind unten großformatige Bücher eingestellt, die durch die erkennbare Goldschrift Nachschlagewerke aus dem späten 19. bzw. dem frühen 20. Jahrhundert vermuten lassen. Es kann sich um ein vierbändiges Kunstlexikon handeln, was zu den Graphiken passen würde. Darüber Vasen und Porzellandosen. Ganz oben auf dem Regal befindet sich ein älteres Radio, das offensichtlich nur als Gestaltungselement dort steht. Vor dem Fenster, das durch weiße Gardinen verdeckt ist, befindet sich auf einer Anrichte ein Fernseher älterer Produktion, von dem nicht anzunehmen ist, dass er nicht genutzt wird. Daneben als Dekorationselement in einer ovalen weißen Vase eine Yuka-Palme. Vor der Couch ist ein Beistelltisch erkennbar. Die gesamte Einrichtung erinnert zunächst an die 1970er Jahre, wobei es sich eher um eine Art Retro-Stil handelt, denn im Fortlauf des Videos wird klar, dass durchaus eine moderne TV-Station existiert, mit der es möglich ist, durch die Programme zu zappen, um die neuesten Informationen der Medien nachzuverfolgen. Der »Fingerzeiger«, so erkennt man, ist ein medienaffiner Mensch, der den ersten Satz von Niklas Luhmanns Schrift »Die Realität der Massenmedien« folgt: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«93 Aber anscheinend hat ihm die scheinbare Bestätigung der Rolle der Medien gereicht, Luhmanns folgende kritische Analyse kennt er nicht. Die Figur, die in diesem Ambiente steht, beginnt mit ihrem Monolog, wobei sie während der einleitenden musikalischen Umrahmung die Hände vor dem Körper zusammenfaltet. In dem Augenblick, da die Musik endet, wird diese Körperhaltung aufgegeben, der Mann strafft sich, die Hände gehen nach unten 93 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 1996, S. 9.

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und werden sodann wieder vor dem Körper zusammengeführt: »Ich bin Martin Brambach, Schauspieler, und ich habe im letzten Jahr angefangen, solidarisch mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen«, heißt es zu Beginn. Während dieses Satzes werden die Textbausteine so, wie man es aus Rhetorik-Schulen kennt, durch den Einsatz von Handbewegungen unterstrichen. In dem Augenblick, da die Rede darauf kommt, »mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen«, stößt der Finger regelrecht auf den vorgestellten Zuschauer. Allerdings wirken bereits der erste Satz sowie die Geste irritierend, denn es gehört nicht zu den üblichen Umgangsformen, mit dem »Finger auf andere Leute zu zeigen«. Geschieht dies, dann handelt es sich um eine Art Dominanzverhalten, die Person will gegenüber anderen ihre Überlegenheit deutlich machen. Der ausgestreckte Zeigefinger ist im mitmenschlichen Zusammensein daher das Gegenteil »solidarischen« Verhaltens. Insofern ist schon mit dem ersten Satz erkennbar, in welcher Weise sich die Verhältnisse verkehrt haben. Was ansonsten als narzisstisch eingestuft wird, gilt nunmehr als solidarisch. Es geht dann weiter: »Ich bin ein eher unsicherer Mensch und brauche klare Regeln (Unterstreichung durch Handhaltung). Und es tut mir gut, wenn ich andere darauf hinweisen kann, was sie falsch machen.« Mit diesem Satz outet sich die Figur. Eigene Schwäche (»ich bin ein unsicherer Mensch«) und mangelnde Ich-Stärke werden durch das Pochen auf (staatlich verordnete) Regelkonformität abgefangen. An dieser Stelle folgt ein Sequenzwechsel. Der »Fingerzeiger« sitzt, worauf, ist nicht erkennbar. Im Hintergrund ist nunmehr ein weißer Bücherschrank modernerer Bauart zu sehen, daneben wiederum eine Anrichte mit Palme und drei Büchern. In der Hand hält er nun eine Fernbedienung für einen Fernseher, womit ein deutlicher Hinweis darauf gegeben wird, dass der Mann die Medien und ihre Nachrichten ständig verfolgt. Er ist auf diese Weise bestens in der Lage, die jeweils aktuellen Verfügungen zu verfolgen und entsprechend zu agieren. »Und es gibt ja ständig neue Maßnahmen und Regelungen. Ich halte mich immer auf dem Laufenden. Dann bin ich der erste, der das weiß, und kann den Menschen in meiner Umgebung sagen, was sie falsch machen.« Der Hinweis wird mit einem geradezu genüsslichen Grinsen unterstrichen. Denn: In einer aus den Fugen geratenen Welt ist er es, der durch permanente Anpassung den anderen immer einen Schritt voraus ist. Nicht mehr Eigenverantwortung, Mündigkeit, Selbstbewusstsein oder die über Jahrzehnte gekannte emanzipatorische Aussage »Mein Körper gehört mir« sind gefragt, sondern Affirmation, wie sie der »Fingerzeiger« praktiziert. Die Frage, was das für Verhältnisse sind, in denen permanent und teilweise sich widersprechend Maßnahmen und Regelungen in die Welt gesetzt werden, stellt sich für ihn daher nicht. Es erfolgt nunmehr ein erneuter Sequenzwechsel, die Figur steht wieder in der Mitte des Raumes und gibt eine Erklärung für das eigene Handeln ab: »Besonders freue ich mich, wenn ich jemanden ohne Maske erwische. Den mache ich fertig. Dem sage ich dann,

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dass er ein rücksichtsloses Arschloch ist! Das ist für mich gelebte Solidarität. Weil: Am Ende ist es gut für uns alle. Bleibt gesund. Bleibt solidarisch, haltet euch an die Coronamaßnahmen der Bundesregierung!« Einmal mehr wird die Rede durch permanente Mimik und Gestik unterstrichen, und erneut wird der Begriff »Solidarität« als Begründung für das eigene Handeln gesetzt. Was Brambach im Sprechakt des hyperbolischen Lobes in Szene setzt, das ist eine Aufseher- und Blockwartmentalität, die Denunziation einschließen kann. Im vorliegenden Fall wird man aber nicht von Denunziation sprechen, denn die setzt eine »triadische Struktur« voraus, in der eine Person A eine Person B bei den jeweiligen Machthabern anzeigt, wonach B zur Rechenschaft gezogen wird. Das ist beim »Fingerzeiger« nicht der Fall, denn die Bestätigung der eigenen Unsicherheit erfolgt gerade dadurch, dass er sich vor den Anderen in Szene setzt, also nicht intrigant hinter dem Rücken agiert. Wenn überhaupt, dann wird man gegebenenfalls von »gutgemeinter Denunziation« sprechen können. Allerdings wird noch eine andere Interpretation nahe gelegt und ironisch hinterfragt: Die Vielzahl und der permanente Wechsel der neuen Regelungen, die durch Bußund Strafgeldkataloge unterstrichen werden, bietet die Chance, »sich in infantiler Weise zum Bewacher der anderen aufzuspielen«. Zudem kommen in den von Brambach karikierten Haltungen »persönlichkeitspsychologische Faktoren« zum Tragen, die normalerweise eher als regressiv gelten.94 Theodor W. Adornos Studien zum autoritären Charakter können in diesem wie in anderen Fällen herangezogen werden.95 In Martin Brambachs Video ist dies auf innovative Weise in Szene gesetzt. Für #allesdichtmachen hat Brambach gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Christina Sommer, ein weiteres Video gedreht. Beide haben ihre Videos zurückgezogen!96

94 Czycholl, Dietmar: Leviathan, verschnupft. In: Maaz, Hans-Joachim/ Czycholl, Dietmar/ Czycholl, Aaron B.: Corona-Angst. Was mit unserer Psyche geschieht. Berlin: Franke & Timme 2021, S. 81–134, hier S. 106. 95 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973. 96 Die Erklärung für den Rückzug findet sich bei der Analyse des Videos, das Christine Sommer und Martin Brambach gemeinsam aufgenommen haben. Siehe dazu Meyen, Michael: Christine Sommer und Martin Brambach: Zwei-Zimmer-Atmung. In: Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria (Hrsg.): #allesdichtmachen, Berlin 2022, S. 306–308.

Monika Hernik

»Es war nur ein einziges Wort: Verbot« – kindliche Lebenswelten in der Pandemie am Beispiel von Uticha Marmons »Das stumme Haus«

1.

Einleitung

Kinder und Jugendliche sind von den Folgen der Pandemie besonders stark betroffen – dies geht aus zahlreichen Studien und Befragungen unter Kindern, Jugendlichen und Eltern deutlich hervor.1 Die Befragung der Copsy-Studie des Klinikums Hamburg-Eppendorf kommt zu dem Ergebnis, dass knapp ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten zeigt (diese darf man natürlich nicht mit Störungen oder Krankheiten verwechseln). Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind psychisch belastet. Fehlende Bewegung, viel mehr Zeit, die mit digitalen Medien verbracht wird, was nun seitens der Erwachsenen weitgehend geduldet wird, fehlende soziale Kontakte – all das sind Probleme, mit denen Kinder und Jugendliche konfrontiert wurden und werden. Die Befragungen zeigen ebenfalls deutlich, dass die Auswirkungen der Pandemie besonders stark diejenigen treffen, die weder auf finanzielle noch soziale Ressourcen im Familienkreis zurückgreifen können. So verstärkt die Pandemie-Zeit die Unterschiede zwischen Kindern aus wohlhabenden Familien und denen, die aus sozial schwächeren Haushalten stammen. Der Büchermarkt gehört – so kann man in gewisser Weise sagen – zu den Corona-Gewinnern, denn im Gegensatz zu vielen anderen Branchen hat er in der Krise keine Verluste notiert. Besonders die Sparte Kinder- und Jugendbuch erfreut sich gesteigerter Popularität während der nacheinander folgenden Lockdown-Perioden.2 So ist es nicht unbillig danach zu fragen, wie schnell und auf welche Weise der kinderliterarische Markt auf das Problem »Corona« reagiert hat. Die gewichtigen Ereignisse der letzten Zeit, die die Öffentlichkeit bewegten, 1 Vgl. (letzter Zugriff: 12. 06. 2021). Siehe auch den Beitrag von José Fernández Pérez in diesem Band. 2 Vgl. dazu: Hörnlein, Karin: Lesefieber und Virenbücher. In: Zeit Online. (letzter Zugriff: 19. 07. 2022).

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Monika Hernik

wie die Flüchtlingskrise 2015 oder die Umwelt-Debatten erreichten das Kinderund Jugendbuch relativ zeitnah. Wie verhält es sich aber nun mit der CoronaKrise? Es steht die Frage, welche Texte erscheinen und ebenso ist zu diskutieren, ob man von dominanten Tendenzen sprechen kann. Oder ist es so, dass die Literatur – in diesem Fall die KJL – einen zeitlichen Abstand braucht, um einen Weg der literarischen Darstellung zu finden und die Pandemie zu einem Stoff für Literatur zu machen? Derartigen Fragen sucht der folgende Beitrag nachzugehen.

2.

Kinder- und Jugendbücher zum Thema Corona-Krise

Der kinder- und jugendliterarische Markt hat relativ schnell auf die Pandemie und die neusten Entwicklungen reagiert, und so kamen bereits Sommer 2020 Corona-Bücher auf den Markt. Die ersten Texte waren Sachbücher und Sachbilderbücher, die überwiegend darauf abzielen, Wissen zum Thema zu vermitteln und die Lage zu erklären. So stellte der Beltz-Verlag bereits im April 2020 das vom Grüffelo-Illustrator Axel Scheffel bebilderte Buch »Coronavirus – das Buch für Kinder über Covid-19« kostenlos zum Downloaden bereit. Es folgten bald zahlreiche Titel, die alle in erster Linie informativ und aufklärerisch wirken sollten. Bei Büchern dieser Art handelt es sich um »zweckhaftes Gebrauchsgut« (Gerhard Haas), das im Dienst des Erklärens steht und keinen literarästhetischen Mehrwert aufweist – so Johanna Tönsing in ihrem Beitrag zur Darstellung der Coronakrise in ausgewählter KJL.3 Für eine Störung im kinderliterarischen Handlungssystem sorgte der zurückgezogene und korrigierte Text von Carlsen »Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz«, in dem der Protagonist, Erstklässler Moritz, erklärt: »Das Virus kommt aus China und hat sich von dort aus auf der ganzen Welt verbreitet.« Nach der Drohung mit einer Strafanzeige und Forderung, das Buch zurückzurufen, sagt Moritz den Satz in der neuen Auflage nicht mehr.4 Eine Ausnahme unter den zahlreichen Sachbilderbüchern bildet das Bilderbuch »Als das Umarmen verboten war« von Catalina Montoya Palacio, das die Geschichte des Wasserschweins Dodo erzählt, das sich nach nichts anderem als den Umarmungen mit seinen Waldfreunden sehnt, doch leider sind diese vorerst streng 3 Tönsing, Johanna: Ein feministischer Blick: Zur Darstellung der Coronakrise in ausgewählter Kinder- und Jugendliteratur. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbands 2 (2021); In Krisen erzählen – von Krisen erzählen. Sprachliche, literarische und mediale Dimensionen. Hrsg. von Elvira Topalovic´ und Jan Standke; S. 152–163, hier S. 155. 4 Trust, Dorothea/Steindamm, Constanze: Ein Corona Regenbogen für Anna und Moritz. Hamburg: Carlsen 2020. Zu den Kontroversen um den Roman siehe u. a.: Geyer, Christian: Ein Fall von cancel culture? In: FAZ, 10. 03. 2021; Lutz, Christiane: Was Moritz nicht weiß. In: Süddeutsche Zeitung, 08. 04. 2021.

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untersagt. Betrachtet man die Sach- und Bilderbuchtexte über die CoronaPandemie und COVID-19, so stellt man schnell fest, dass die meisten außer ihrer klaren informativen Funktion ebenfalls optimistisch und solidarisch anmuten sollen. So kommt wiederholt vor, dass auf dem Cover der Regenbogen erscheint, der in keiner klaren Verbindung zu dem Virus steht – so zum Beispiel die Corona-Schulgeschichte »Wir sind auch mit Abstand klasse!« von Usch Luhn oder »Wilma Wochenwurm erklärt: Wir halten alle zusammen!« von Susanne Bohne, Texte für Kinder in der Kita und der Grundschule.5 Eine Reihe von Texten werden als »Mut-Mach-« oder »Mit–Mach-Bücher« betitelt. Offensichtlich wird angenommen, dass Kinder dank Wissen und »Alles-wird-gut«-Affirmationen der pastellfarbenen Bücherwelten für die Pandemiezeit bestens ausgestattet sind. Den Texten mit rein informativem und wissensvermittelndem Charakter folgten dann Erzähltexte. Als Beispiel sei an der Stelle genannt: »Wir sehen jetzt alle aus wie Räuber – ein Kinderbuch über Corona« von Renate Brecht, im Mai 2020 erschienen, ab 4 Jahren empfohlen. Hier wird aus der Kindersicht erzählt, wie sich das Leben der Familie verändert hat und was die möglichen Ursachen dafür sein könnten: »Unser Leben ist seit ein paar Wochen ganz anders. Mama hatte mir vor einiger Zeit erzählt, es gäbe ein neues, noch unbekanntes Virus in China, das viele Leute krankmacht«, bekannt der Ich-Erzähler.6 Ein weiterer Kinderroman zum Thema Kinderblick auf die Pandemie ist »Auch in Wolonien« von Selin Özdogan, ein ab 5 empfohlener Kinderroman, der im Dezember 2020 erschienen ist und die Frage stellt, ob die Kinderspiele auch nach neuen Regeln des Alltags verlaufen müssen. Ginge es nach der kindlichen Protagonistin des Romans, lautete die Antwort ja, denn in ihrem Spiel, das die Kinder in dem imaginären Land Wolonien spielen, haben die Hygiene- und Schutzmaßnahmen längst Einzug gehalten: »Die [die Playmobil-Figuren] stehen so weit auseinander wegen Corona. In Wolonien gibt es auch Corona? Fragt Ralf. Ja, sagt Nefeli, natürlich. Warum sollte es in Wolonien kein Corona geben? Corona ist überall.«7

In dem Text meistern die kindlichen Figuren die Lage, indem sie die Realität im Spiel nachahmen und damit so tun, als ob sie alles verstehen würden. Allem Anschein nach bedient die Sparte Kinderbuch vor allem den Bedarf an Information und Erklärung bei den Lesenden. Ergänzt werden die Kinderbücher 5 Usch, Luhn /Harvey, Franziska: Wir sind auch mit Abstand klasse: eine Corona-Schulgeschichte. Hamburg: Carlsen 2020; Bohne, Susanne: Wilma Wochenwurm erklärt: Wir halten alle zusammen! Ein Corona Kinderbuch über Solidarität und Beschränkungen – Zum Mitmachen, Rätseln und Malen. Für Kinder in Kita und Grundschule. Books on Demand 2020. 6 Brecht, Renate: Wir sehen jetzt alle aus wie Räuber. Großröhrsdorf: Verlag DeBehr Thalia 2020, S. 5. 7 Özdogan, Selim: Auch in Wolonien. Norderstedt: Books on Demand 2020, S. 48.

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um eine ebenso breite Palette von Ratgebern für Elternteile, Lehrkräfte, Erzieher, die als Hilfe bei Gesprächen mit Kindern zum Thema COVID helfen sollten.

3.

Kinderalltag in der Pandemie – Uticha Marmons »Das stumme Haus«

Der Kinderroman, um den es im Folgenden gehen soll, ist insofern anders, als dass hier Corona nicht zum Hauptthema – oder noch problematischer – zum Hauproblem gemacht wird. Die Motivation zum Schreiben des Buches war – so Uticha Marmon selbst – die Idee, dass auch diese Kinder, die nicht in einem Einfamilienhaus wohnen, ein Buch über sich haben möchten. Im Nachwort, das dem Roman nachgestellt wird, schreibt sie über ihre Erfahrungen aus dem ersten Lockdown wie folgt: »Ich hatte eine Arbeit, ich war nicht allein. Es wurde zu Hause auch nicht eng. So viel Glück hatten und haben viele Menschen nicht – auch dann nicht, wenn alles normal ist. […] Darum habe ich mich entschieden, diese Geschichte zu schreiben. Nicht, weil ich finde, dass das Zuhausebleiben falsch ist. Sondern, weil es vieles gibt, das anders laufen könnte. Die soziale Ungleichheit zum Beispiel.«8

In ihrem Roman geht es Marmon um die Zeit des ersten Lockdowns, die für alle wohl am schwierigsten war, da sie absolut neu und unerwartet war. Die Entwicklungen dieser Monate können sehr wohl als Aufstörung gefasst werden, denn der Ausbruch der Pandemie und der Umgang mit der neuen Wirklichkeit hatte radikale Veränderungen des Alltags zur Folge. Uticha Marmon – dies nur knapp zur Autorin – wurde 1979 in Berlin geboren. Sie studierte Dramaturgie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Pädagogik und hat danach am Theater und in Verlagen gearbeitet. Heute lebt sie in Hamburg freiberuflich als Dramaturgin, Lektorin und Autorin. Ihr Kinderbuch »Mein Freund Salim« über einen syrischen Flüchtlingsjungen wurde 2016 mit dem Leipziger Lesekompass ausgezeichnet. Sie schreibt überwiegend problemorientierte Kinderromane, die Eigenschaften anderer Genres aufweisen, wie komischer Familienroman oder wie es bei ihrem neusten Text der Fall ist – Kinderkrimi. Der Roman beginnt mit einer Art Einführung mit dem Titel »Bevor diese Geschichte beginnt«, für die eine Episode im viel späteren Handlungsverlauf gewählt wird. Ziel dabei ist es, eine möglichst große Spannung am Erzählbeginn zu entwickeln, die sowohl am Geheimnis als auch am Ziel der Geschichte ori8 Marmon, Uticha: Nachwort zum Roman »Das stumme Haus«. Frankfurt/M.: Fischer Sauerländer 2021, S. 206f.

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entiert ist. Sofort am Textanfang meldet sich der homodiegetische Erzähler zu Wort, der eine Geschichte wiedergibt, an der er selber beteiligt ist. Zu Beginn sind das erzählende und erlebende Ich identisch. Das szenische Erzählen steigert den Eindruck der Unmittelbarkeit und Anteilnahme bei den Rezipierenden, die auch sofort in einer Leseranrede angesprochen werden: »Ist euch schon mal ein lebendig gewordenes Marshmallow begegnet, gepaart mit einer grünen Seifenblase? Nein? Seht mich an. Ich bin genau das.«9 Der Text erzählt sodann vom Alltag eines Mehrfamilienhauses aus der Sicht von Nikolai Wolkow, der eines von vielen Kindern ist, die den sogenannten Kaninchenbau bewohnen, der durch ungewöhnliche Ereignisse gestört wird. Da ist einmal das komische und für die Kinder absolut unverständliche Verhalten der Erwachsenen, die immer seltsamere Regeln aufstellen, andererseits sind sie womöglich einem Einbrecher auf der Spur. Da nun alle die ganze Zeit zu Hause verbringen müssen, beginnen sie ihre Umgebung sehr genau zu beobachten und machen dabei sehr beunruhigende Entdeckungen. Sogleich nach dem überraschenden und spannenden Einstieg in die Geschichte folgt eine lange und ausgebaute Textpassage, die das Haus im Sinne eines Anschauungs- und Symbolraums erfasst. Die Beschreibung des fünfstöckigen Hauses samt Hof ist detailreich und lässt weitgehende Schlüsse über die soziale und finanzielle Situation der Bewohner zu. Es handelt sich letztlich um einen perspektivierten Raum, denn aus der Sicht der Hauptfigur wird dieser anders wahrgenommen, als es aus dem Blickwinkel anderer geschieht: »Der Kaninchenbau ist darum jedenfalls kein Erdloch. Das ist unser Haus. Den Namen habe ich nicht erfunden und auch Nini nicht, obwohl das gut sein könnte. Das Haus wird irgendwie schon immer so genannt. Es war mal als Schimpfwort gedacht, weil hier auf fünf Stockwerken so viele Leute leben, dass man echt den Überblick verlieren kann.« (SH, 7)

Um den sozialen Raum der Geschichte noch deutlicher zu verorten, wird dem Kaninchenbau ein anderer Raum als Kontrast gegenübergestellt, nämlich eine moderne Einfamilienhaussiedlung: »Die Weißen Löcher. Diesen Namen haben wir den Häusern auf der anderen Straßenseite gegeben. Sie sind nagelneu und schneeweiß, sehen aus wie einzelne Klötzchen, und allesamt haben sie dunkle Fenster in den weißen Wänden, hinter denen man nie jemanden sieht. […] Einen größeren Gegensatz als die Weißen Löcher kann es zu den Häusern auf unserer Straßenseite gar nicht geben. […] Wie lange man da wohl brauchte, um vom Bett zum Frühstückstisch zu kommen?« (SH, 17f.)

Gleich zu Beginn der Geschichte werden die ersten Störmomente bzw. Irritationen in die Handlung eingebaut, wenn immer wieder festgestellt wird: »Wieder 9 Ebd., S. 5. (Nachfolgend im Text mit den Siglen SH).

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was, was heute nicht stimmt, dachte ich.« (SH, 18) Es sind einige unscheinbare Ereignisse, wie die Abwesenheit der älteren Nachbarin, die die Kinder normalerweise tagtäglich vor der Schule begrüßt, das Fehlen des Klassenlehrers und das komische Verhalten der Vertretungslehrkraft, als sich ein Kind verschluckt und zu husten beginnt: »Sie [Frau Niemann – die Lehrerin] blieb am Fenster stehen und fächelte frische Luft in Paulas Richtung. Dabei machte sie den Mund auf und zu wie ein Fisch. […] Und warum schnappte sie so seltsam nach Luft? Es dauerte ein bisschen, aber irgendwann beruhigte sie sich.« (SH, 20).

Diese Irritationsmomente kommen im Erzählfluss unter und werden vom kindlichen Lesenden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sofort als Störung wahrgenommen. Ein erwachsener (Mit)Leser wird freilich die Zusammenhänge sofort erkennen. Anders der kindliche Ich-Erzähler, der aus der naiven und teilweise begrenzten Perspektive berichtet. So sieht er keinen Zusammenhang zwischen der plötzlichen Abgeschiedenheit der älteren Nachbarin, Frau Kirchner, und den Radionachrichten, die er aus ihrer Wohnung hört: »Aus ihrer Küche hörte ich leise das Radio. ›…hohem Risiko, sollten sie…‹, schnappte ich auf. Wahrscheinlich hörte Frau Kirchner wieder eine ihrer Sendungen über Berge.« (SH, 23) Als sich die Lage immer mehr zuspitzt, kommt der Protagonist mit seiner Zwillingsschwester zu dem einfachen Schluss, dass die Erwachsenen ihnen etwas verheimlichen. Diese scheinen jedoch genauso – wenn nicht noch mehr – von der eingetretenen Lage überfordert zu sein. Die Hilflosigkeit der Erwachsenen, die plötzliche Stille im Haus –es sind dies Störmomente, die noch nicht das Ausmaß der Veränderungen erahnen lassen. Dies kommentiert der Erzähler aus späterer Sicht wie folgt: »Es war ein stinknormaler Tag, an dem es damit losging. Womit es losging? Immer langsam, ich komme ja gleich dazu. Also es war ein ganz normaler Tag. Und das an sich ist schon seltsam. Man denkt doch immer, wenn sich alles verändert, müsste man das merken. Vielleicht weil die Luft anders riecht oder so. Aber das stimmt nicht. […] Ich glaube, das ist jetzt acht Wochen her. Oder vielleicht sind es nur elf Tage. Ich sage euch, man kann schon mal den Überblick verlieren, wenn es nur noch Sonntag gibt. Denn genau darauf steuerten wir hier gerade zu. Ein Leben voller Sonntage. Ihr denkt, das wäre schön? Ich kann euch sagen, das ist es nicht. Auf gar keinen Fall!« (SH, 13, 25f.)

Der Erzähler wechselt ständig zwischen dem erzählenden und erlebenden Ich. Einmal gibt er die Geschehnisse in Präsens mit größter Unmittelbarkeit wieder, um dann zu einer überlegenen Allwissenheit zu wechseln und Vorausdeutungen zur Zukunft zu machen. Da der Bezug der unmittelbaren Lebens- und Erfahrungswelt der Rezipierenden gegeben ist, können sich diese mit beiden Sichtweisen des Ich-Erzählers identifizieren, da sie höchstwahrscheinlich ähnliche

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Erlebnisse hinter sich haben. Die Passagen des zeitdeckenden Erzählens, sowie die zahlreichen Leseranreden: »Ihr seid verwirrt wegen der ganzen Namen? Keine Sorge, da gewöhnt ihr euch schon dran. Hab ich ja auch« (SH, 12) laden die kindlichen Lesenden dazu, sich in die Geschichte und die Lage der Hauptfigur hineinzuversetzen. Der kindliche Pandemie-Alltag, der nun zum Thema der Geschichte wird, setzt sich aus einigen Elementen zusammen, die mit großer Wahrscheinlichkeit genauso in einem Erwachsenenroman eingesetzt worden wären. Das erste Motiv, das mit der Pandemie assoziiert wird, sind die Rolle und die Präsenz der Medien im Alltag der Menschen. So sind die Eltern des Protagonisten dermaßen mit der Lage überfordert, dass die Kinder von der Nachrichtensprecherin über die Situation aufgeklärt werden, was der Erzähler wie folgt kommentiert: »Wir sollten uns dazusetzen? Auch das war so selten, dass wir es auf der Stelle machten. Und dann hörten wir zu fünft der Nachrichtenfrau zu. Ich überlege immer noch, wie viele Leute wohl an dem Abend, genauso wie wir, vor dem Fernseher saßen und dachten, dass die Nachrichtenfrau nur mit ihnen spricht.« (SH, 33)

Die mediale Berichterstattung ist für die Familien im Haus die einzige Informationsquelle und Hoffnung auf die Veränderung der Lage. Somit scheint die Moderatorin aus der Perspektive des Erzählers eine enorme Macht über das Leben der Familie zu besitzen: »Tja, und dann machte unsere Freundin in den Nachrichten uns noch am selben Abend einen Strich durch die Rechnung. Es war nur ein einziges Wort: Verbot. […] Ich zählte die Buchstaben. Sechs. Und ich kann euch sagen, ich habe sie in der Zeit, die dann kam, noch oft gezählt. […] Und gleichzeitig verriegelte sie im ganzen Haus auf einen Schlag die Türen. Als gäbe es da in ihrem Nachrichtenstudio einen Knopf, mit dem sie alles abschließen konnte.« (SH, 61f.)

Eine weitere Störung im Alltag, mit dem die Kinder konfrontiert sind, ist das irrationale Verhalten der Erwachsenen, die ihnen in der ersten Zeit so gut wie keine Unterstützung bieten und mit der Situation absolut nicht klarkommen. So beschreibt der Erzähler ganz im Sinne des komischen Kinderromans die Reaktion eines eher unbeliebten Nachbarn auf die medialen Berichte über die Pandemie-Lage wie folgt: »Aber darum guckte ich auch nicht komisch. Sondern weil auf der anderen Straßenseite Herr Friedrich entlangkam. Er war in einen Regenmantel gehüllt und hatte eine Taucherbrille auf. Seine Hände steckten in Gartenhandschuhen und er atmete durch den Taucherschnorchel. ›Jetzt hat Herr Friedrich den Verstand verloren.‹« (SH, 39)

Die Figuren der Eltern, die in problemorientierten Romanen häufig als Vorbilder oder gleichberechtigte Helfer an der Seite der kindlichen Protagonisten fungieren, agieren in dem Text gänzlich unbeholfen und kindisch. So reagiert der Vater

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der Familie seinen Frust wegen des erzwungenen Homeoffice mit unzähligen misslungenen Reparaturversuchen an Haushaltsgeräten und Möbelstücken ab. Die Lage im Haus spitzt sich dann immer mehr zu, was dem kindlichen Erzähler nicht lange entgeht: »Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, dann hätte ich es kommen sehen können. Aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, mit Nini und mit Ralf, mit dem Licht und mit Papa. Hätte ich genau hingehört, dann wäre mir aufgefallen, dass all die Störgeräusche in der Stille schon längst da gewesen waren. Und sie waren immer lauter geworden. Erst der Streit bei den Lehnhardts, den ich zufällig gehört hatte. Dann Sarah und ihr schimpfender Vater. […] Und jetzt also die Steins, bei denen es sonst immer so lustig zuging. […] Dafür kamen die Störgeräusche auch bei uns.« (SH, 117f.)

Die vom Erzähler als Störgeräusche wahrgenommenen Streitigkeiten bis hin zu wörtlichen oder handgreiflichen Auseinandersetzungen in zahlreichen Haushalten, gipfeln in der körperlichen Gewalt, die die Mutter bei ihrem Sohn, dem Kind aus der wohlhabenden Siedlung gegenüber anwendet. Eine weitere wesentliche Störung, die vom Erzähler in zahlreichen Passagen aus der Innensicht kommentiert wird, ist das gestörte Zeitgefühl: »Seht ihr? Nichts. Das ist die Ewigkeit. Ich habe sie kennengerlernt. Was denn? Ihr kennt sie auch? Dann seid ihr sicher meiner Meinung: Sie ist nicht so toll! Die nächsten Tage vergingen einfach nicht. Konnten sie ja gar nicht. Ohne die anderen. Ohne den Hof.« (SH, 64)

Der plötzliche Stillstand des normalerweise geregelten Tagesablaufes, die fehlenden Beschäftigungen und unterbundenen sozialen Kontakte sind für die Kinder im Roman ein gravierendes Problem, was an vielen Stellen im Text zur Sprache gebracht wird: »›Was soll man denn bloß mit so viel Zeit anfangen?‹ fragte sie mich am siebten Tag. Oder war es der achte? Oder waren vielleicht sogar schon Wochen vergangen? Ich wusste es wirklich nicht. Denn das ist die Ewigkeit. Hier gibt es keine Minuten, keine Tage und keine Wochen. Es gibt kein Vorher von irgendwas, kein Nachher, in das man Sachen wie die Hauaufgaben aufschieben konnte. Und vor allem gibt es kein Jetzt. […] ›Ist heute Sonntag? Ich will nie wieder Sonntag haben!‹, sagte ich. ›Ich glaube, es ist Frühling‹, antwortete Nini.« (SH, 71)

Die Familien im Kaninchenbau schaffen es schlussendlich gemeinsam die Störungen in ihrem Alltag zu verarbeiten und für sich produktiv zu machen. Nachdem die erste Angst bewältigt worden ist, helfen die Nachbarn sich dabei, die schwierige Zeit gemeinsam durchzustehen. Gleichwohl ist es dem Erzähler – und somit auch den Lesenden bewusst – dass dies nicht immer der Fall sein muss. Die Zeit des Lockdowns oder wie es im stummen Haus heißt – der Ewigkeit – hat viele Probleme und Unstimmigkeiten innerhalb der menschlichen Gemein-

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schaften ans Licht gebracht. Der kindliche Protagonist nutzt dafür eine Metapher, indem er die Lockdown-Zeit mit einem Mikroskop vergleicht: »Aber, seit die Ewigkeit wie ein Mikroskop auch im Kaninchenhaus ein paar Sachen besser sichtbar gemacht hat, weiß ich, dass so was passieren kann. Bei uns hat niemand jemanden geschlagen. Aber hätten wir nicht die Ewigkeit durchbrochen, wer weiß…« (SH, 200)

Uticha Marmons Roman will keinesfalls ein Pandemie-Buch sein. Der Text kann der Gattung des Kinderkrimis oder auch des Abenteuerromans zugeordnet werden, da die Handlung vor allem eine spannende Kriminalgeschichte in dem Mehrfamilienhaus erzählt. Unter anderen Umständen wären die Kinder wahrscheinlich mit der Schule und ihrer Freizeit beschäftigt, doch die pandemischen Bedingungen zwingen sie in gewisser Weise dazu, sich etwas zu überlegen, was man in dieser Zeit machen kann. Die Corona-Krise bildet von daher im Roman eher den Hintergrund der Geschichte und wird nicht zum Hauptthema. Dadurch schafft es die Autorin, das Problem zu thematisieren, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken, auch wenn der optimistische Schluss der Geschichte denn doch klischeehaft und unrealistisch wirkt.

4.

Dystopisches Bild der Pandemie in Martin Schäubles »Cleanland«

Bereits 1978 wurde ein Roman über die große grippeartige Pandemie veröffentlicht – gemeint ist »The Stand« (der deutsche Titel: »Das letzte Gefecht«) von Stephen King. Das Thema Viren, Pandemie-Ausbrüche ist auch im Jugendbuch keinesfalls eine Seltenheit. Besonders in den Jahren 2012–2015 bemerkte man eine Flut von Texten, die diese Thematik ins Zentrum stellen. Sämtliche dieser Romane gehören in die Spalte der jugendliterarischen Phantastik, vermehrt handelt es sich dabei um Dystopien mit All-Age-Potential.10 Martin Schäubles Roman »Cleanland« verrät sein Thema bereits mit dem – doch etwas zu offensichtlichen – Cover, auf dem eine junge Frau mit Mundschutz abgebildet wird. Der Text wird inzwischen zu Recht mit Juli Zehs »Corpus delicti« verglichen, denn auch hier geht es um die dystopische Vision von einer Gesundheitsdiktatur, die in der Zukunft angesiedelt ist. Entsprechend heißt es:

10 Siehe etwa folgende Texte: Hesse, Andreas: Arcan Virus. Düsseldorf: Fischer Sauerländer 2004; Mous, Mirjam: Virus: Wer aufgibt, hat verloren. Würzburg: Arena 2016; Terry, Teri: Infiziert. Münster: Coppenrath 2017.

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»Gesundheit ist der Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit. […] Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon.«11

In einer Rezension fragt Harro Albrecht allerdings, ob das, was in der dystopischen Darstellung als Antizipation von möglichem Zukünftigen entworfen wird, nicht längst Realität ist: »Leben wir nicht bereits in einer Gesundheitsdiktatur?«, fragt er und notiert: »Wer seinen Körper verlottern lässt, gilt mittlerweile als verdächtigt, gar als Sozialschädling, der unser aller Krankenkassenbeitrag in die Höhe treibt. In den Kneipen ist das Rauchen verboten, Eltern werden gedrängt, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen… .«12

Schäuble greift in seinem Text einerseits auf die außertextuelle Wirklichkeit zurück, indem er die älteren Menschen isolieren, Kontakte registrieren und Temperatur messen lässt. Andererseits nutzt er intertextuelle Bezüge und übernimmt beispielsweise Margaret Atwoods allgegenwärtige Grußformel aus »Dem Report der Magd« für seinen Text – während es bei Atwood heißt: »Gesegnet sei die Frucht«, begrüßt und verabschiedet man sich im Cleanland mit »Achte die GaR [Gesetze der absoluten Reinheit]« und »Bleib gesund«. Der Handlung werden die »fünf Gesetze der absoluten Reinheit (GaR)« vorangestellt, von denen besonders die letzte Norm aufstörend erscheint, denn es heißt: »Gesundheit ist wichtiger als Freiheit«. Es folgt ein Textanfang in ultimas res, die Protagonistin befindet sich in einer Menschenmenge und überlegt, wie es mit ihr weitergehen soll. Die gleiche Episode wird am Romanende wiederholt, so dass hier tatsächlich aus der Retrospektive berichtet wird, was bis zu diesem Moment geschah. Ab dem zweiten Kapitel mit dem Titel »Davor« spielt die Handlung im dystopischen Raum des Cleanlands. Schäuble erzählt in dem Roman auf seine bereits bewährte reportagehafte Weise. So wird der Leser mit dem Beginn des Textes mit zahlreichen Informationen zum Cleanland regelrecht überschüttet: die Menschen werden jederzeit kontrolliert und überprüfen auch selbst ihre Gesundheit, alle leben im Zustand permanenter Desinfektion, das Leben ist in die Wohnungen verlegt, Arbeit und Lernen werden digital erledigt, die Straßen werden nachts von Drohnen und Wohnungen von Spezialpersonal gereinigt:

11 Zeh, Juli: Corpus delicti. Ein Prozess. Frankfurt/Main: Schöffling & Co 2009, S. 7f. 12 Albrecht, Harro: Ein bisschen Diktatur darf sein. In: Die Zeit, 23. März 2009.

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»Lichter sind kaum noch zu sehen auf der Straße. Es ist die Zeit der Cleaner. Und es ist die Zeit für Clean Rain – den Regen der Reinheit©. Bisher habe ich den Drohnen nie bei ihrer Arbeit zugeschaut – dafür sorgte der Nachtheiler.«13

Beim kleinsten Verdacht, ohne Schutzkleidung draußen zu sein, wird man unter Quarantäne gestellt. Die Wirklichkeitsbezüge zum Pandemiealltag sind durchweg erkennbar, wenn es heißt: »Und Menschen außer Samira darf ich sowieso nur treffen, wenn ich sie registrieren will bei Social Health – zu viel macht krank©. Nach der Probestunde müsste ich mich entscheiden: Samira oder der neue Kontakt.« (CL, 69)

Die Figuren sind nolens volens nach dem Gegensatz-Prinzip aufgebaut. So lebt die Protagonistin Schilo in einem vornehmen Hochhaus, da ihre Mutter zur privilegierten Beamtensicht gehört und beim Ministerium für Reinheit angestellt ist. Ganz anders Samiras Eltern, die eher unterprivilegiert sind. Samira ist denn auch sofort als Gegnerin des Systems zu erkennen, während Schilo alle Gesetze möglichst akribisch befolgt. So notiert Samira: »Keine zwei Meter später sagt sie noch etwas, sie spricht leiser und undeutlich. Was bei mir ankommt, kann sie nicht wirklich gesagt haben. ›Wenn was krank macht, dann die GaR!‹« (CL, 15)

Die figurale Konzeption steht pars pro toto für die soziale Lage der Familien. Während die Familie von Samira fröhlich, gemeinschaftlich, unbekümmert und frei agiert, ist Schilo überwiegend auf sich selbst gestellt ist, da ihre Mutter abwesend und oft abweisend ist. Diesen für sie schmerzhaften Unterscheid bringt die Ich-Erzählerin wiederholt auf den Punkt: »Ich mag Samiras Eltern in so Momenten wie jetzt ganz besonders. Ich hätte auch gern so ein Zuhause, also eine Familie, die Zeit miteinander verbringt und Spaß miteinander hat« (CL, 48), denkt sie. Doch auch in ihrer Familie gibt es Systemgegner, es ist ihre Großmutter, die in einem separaten Raum wohnt, da sie als eine ältere Person einen besonderen Schutz verdient. Dieser besteht darin, dass die ältere Dame ununterbrochen kontrolliert wird, den Raum nicht verlassen darf, Welt und Menschen nur noch am Bildschirm oder durch die Glaswand sehen darf. Die von Schüble entworfene Handlung ist kennzeichnend für Dystopien bzw. Anti-Utopien. So ist es letztendlich Schilo, die gegen das Gesundheitsregime kämpft. Zunehmend zweifelt sie an der fest gefügten Weltordnung, in der sie lebt, besonders nachdem sie einen Jungen kennenlernt, mit dem sie sich nicht treffen darf. Doch letztlich sind es einschneidende Ereignisse, die zu einer Wandlung führen: der kleine Bruder von Samira wird zwangsisoliert, verweigert das Essen 13 Schäuble, Martin: Cleanland. Frankfurt/M.: Fischer 2020, S. 79. (Nachfolgend im Text mit den Siglen CL).

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und Trinken und ihre Oma teilt ihr mit, dass ihr Großvater, den sie für tot hält, am Leben ist. Zu diesem Zeitpunkt wird dann ein zweiter kontrastierender Raum eingeführt – die Sicklands, wo jene Menschen leben, die sich weigern die vorgegebenen Gesetze der Gesundheit zu beachten. In diesem Raum muss nicht auf ungesundes Essen verzichtet werden, es gibt kein Alkoholverbot und Menschen dürfen einander berühren, ohne dabei in Panik vor der Seuche zu geraten. Die Sicklands werden vom Cleanland durch einen Fluss getrennt, den man mit Hilfe von Schleusern überqueren kann. Auf diese Weise werden im Text zwei konträre Welten konstruiert und gegeneinandergestellt. Der Fokus liegt dabei eindeutig auf der Konstruktion des Cleanlands, denn von der Gegenwelt erfährt der Leser nicht viel, außer dem Hinweis, dass sie genauso funktioniert, wie es vor der »Großen Pandemie« und dem »Gesunden Wandel« der Fall war. Allerdings ist gerade diese Welt das Gegenteil dessen, was der Hauptfigur an vermeintlichen Werten vermittelt wird. Die Ich-Erzählerin erinnert: »In der Schulbasis haben wir drei Wörter gelernt, die das Leben dort zusammenfassen: Sicklands – verseucht, verloren, verdammt.« (CL, 29) Zum Höhe- und Wendepunkt der Geschichte wird der Besuch Schilos in der Motivation Academy – jeder kann lernen, was gesund ist, einer Art Zwangsanstalt für Systemgegner und -kritiker, wo sie medikamentös umgepolt werden sollen. Das Treffen mit der halbnüchternen Samira wird abrupt unterbrochen und die Ich-Erzählerin notiert: »Der Mann mit dem Raumschiffspiel schüttelt den Kopf und zeigt zu einer Tür, über der Ausgang steht. ›Keine Sorge. Deine Freundin bekommen wir wieder hin.‹ Er läuft hinter mir und kann nicht sehen, wie ich weine, wie mein ganzer Körper bebt. ›Die funktioniert bald wieder‹, sagt er.« (CL, 145f.)

Ab diesem Zeitpunkt kommt es zur Beschleunigung der Handlung, die wenig Raum für die Entwicklung der Figuren lässt, was auch für andere Texte des Autors kennzeichnend ist.14 Es mag durchaus überraschend erscheinen, dass die bis vor kurzem extrem systemkonforme Schilo plötzlich zur Rebellin wird, während ihr Freund, der Cleaner Toko, aus Angst vor seiner Anfälligkeit für Krankheiten das freie Leben mit ihr in den Sicklands aufgibt. Das Textende bleibt offen, wie es mit Schilo weitergeht, nachdem sie ihren Großvater gefunden hat, wird nicht mitgeteilt.

14 Vgl. dazu: Hernik, Monika: Was wollte der Autor uns damit fragen? – Zu Martin Schäubles Endland. In: Bernhardt, Sebastian (Hrsg.): »Ausreißen« in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Analysen und didaktische Perspektiven. Baltmannsweiler: Schneider 2021, S. 303–329.

Caroline Rosenthal

Was von der Zivilisation übrig bleibt: Postapokalyptische Narrative und die Unvorstellbarkeit der Katastrophe

Dieser Beitrag widmet sich der Rolle, die kulturelle Diskurse bei der Verbreitung und Verarbeitung von Pandemien spielen. Denn Narrative – seien sie wissenschaftlich oder fiktiv – bilden Pandemien nicht nur ab, sondern bringen sie mit hervor und prägen später das kulturelle Gedächtnis an sie. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den postapokalyptischen Narrativen liegen, die in derzeitigen Endzeit- und Risikogesellschaften Hochkonjunktur haben. Sie führen den Leserinnen und Lesern spekulativ und proleptisch die möglichen Ausmaße einer Katastrophe vor Augen ebenso wie ein mögliches danach, sie imaginieren also das, was Frederic Jameson »mock futures« genannt hat.1 Dies soll im zweiten Teil dieses Beitrags an einem konkreten literarischen Beispiel erläutert werden, nämlich an dem 2014 erschienen Roman »Das Licht der letzten Tage«2 der Kanadierin Emily St. John Mandel. Pandemien sind in der Weltgeschichte nichts Neues. Im 14. Jahrhundert löschte die sog. Schwarze Pest ein Drittel der Bevölkerung Europas aus und flammte auch zu Shakespeares Zeiten immer wieder auf, so dass es schon damals zu Lockdowns kam und Theater geschlossen werden mussten. Zwischen 1816 und 1975 starben mehr als drei Millionen Menschen an der Cholera. Mit der Spanischen Grippe infizierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Drittel der Weltbevölkerung, der nach unterschiedlichen Schätzungen 50–75 Millionen Menschen zum Opfer fielen. In den 1980er Jahren kam das HIV-Virus auf, das bis 2013 etwa 35 Millionen Menschenleben forderte.3 Was diese Zahlen belegen, ist, 1 Smith, Bradon: Imagined Energy Futures in Contemporary Speculative Fictions. In: Resilience. A Journal of the Environmental Humanities 52, 2019, H. 2–3, S. 136–154, hier: S. 150. Im Rekurs auf Jamesons Begriff argumentiert Smith, dass spekulative Fiktionen es uns ermöglichen, einen kritischen Blick auf unsere Gegenwart zu werfen. 2 Mandel, Emily St. John: Das Licht der letzten Tage. Aus dem Englischen von Wibke Kuhn. München: Piper 2017. 3 Loiacono, Anna: The Language of Fear. Pandemics and their Cultural Impact. In: The Language of Medicine. Science, Practice and Academia. Hrsg. von Maurizio Gotti, Stefania M. Maci und Michele Sala. Bergamo: Celsb 2015, S. 25–47, hier: S. 1; siehe auch die Tabelle epidemischer und pandemischer Krankheiten ebd., S. 33.

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dass Viren und virale Pandemien zur menschlichen Gemeinschaft gehören und diese immer wieder bedrohen, zerstören und neu ordnen. Nun taugen Zahlen und Statistiken nicht besonders gut, um Menschen Dinge begreifbar und vorstellbar zu machen. Dazu braucht es Narrative, und so fanden alle oben genannten Pandemien ihren Niederschlag in der Literatur; vor allem die Pest hat einen literarischen Kanon von Giovanni Boccaccios »Decamerone« (1348–53) bis Albert Camus’ »La peste« (1947) hervorgebracht, um nur einige zu nennen. Narrative – seien sie literarisch, geschichtlich, religiös oder philosophisch – versuchen demnach jenseits der Zahlen und Fakten, die Katastrophe(n) zu deuten. Pandemien sind nicht neu, aber ihre kulturelle Deutung hat sich signifikant verändert. Während sie bis zum 19. Jahrhundert als göttliche Heimsuchung interpretiert wurden, stärkten die dann einsetzende Virologie und die Möglichkeit von Impfungen das Vertrauen in die Medizin. Das wandelte sich mit dem Übergang in eine globale Informationsgesellschaft, gekennzeichnet durch den medialen Wettstreit konkurrierender Fakten und widerstreitender Meinungen. Vor Corona war die Gegenwart beherrscht von Meldungen über immer wiederkehrende Ausbrüche der Vogel- und Schweinegrippe. Und auch wenn diese sich bislang noch nicht zu Pandemien entwickelt haben, schürten sie Ängste, denn sie legten den Finger in die Wunden der Zeit: Massentierhaltung, Konsumkapitalismus, Ausbeutung von Arbeitskräften, Globalisierung, Umweltzerstörung usw. Vor allem aber, und das zeigt sich an Covid-19 besonders deutlich, fallen diese Pandemien in das mediale Zeitalter, in dem minütlich neue Statistiken über die Bildschirme ticken und Menschen darauf reagieren.4 Der medizinisch viralen Pandemie folgt die virale Informationsflut, in der es schwer ist, sich ein Urteil zu bilden, Fakt und Gerücht zu unterscheiden und Vertrauen in wissenschaftliche und politische Akteure zu haben. Pandemien bringen, so haben kultur- und literaturwissenschaftliche Studien, wie die von Anna Loiacono und Jennifer Cooke, gezeigt, eine eigene Sprache der Angst sowie eine Vielzahl sich wiederholender rhetorischer Tropen und symbolischer Formationen hervor, die eine eigene Triebkraft entwickeln.5 Krankheit ist, wie Susan Sontag bereits 1978 in »Illness as Metaphor« deutlich machte, nie nur eine medizinische Realität, sondern stets zugleich eine symbolische Konstruktion.6 Krankheiten werden gedeutet und Ängste und Erklärungsmuster auf sie projiziert, sie erscheinen mal als Inkarnation böser Mächte, mal als Strafe für eigene Verfehlungen oder als unverschuldete Konsequenz des sog. technischen 4 Ebd., S. 31–34. 5 Siehe hierzu ebd., S. 25f.; sowie Cooke, Jennifer: Legacies of Plague in Literature, Theory and Film. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, S. 1–15. 6 Sontag, Susan: Illness as Metaphor and AIDS and its Metaphors. New York: Doubleday 1990.

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und wissenschaftlichen Fortschritts. Anders als individuelle Krankheiten wie etwa Krebs betreffen Pandemien aber nicht nur das Individuum, sondern die Gemeinschaft und Formationen der Gemeinschaft wie Dörfer, Städte und Nationen. Sie stören und gefährden nicht den individuellen, einzelnen Körper, sondern soziale Körperschaften und bedürfen, anders als individuelle Krankheiten, umfassender politischer Maßnahmen wie Eindämmung, Isolation, Grenzschließung sowie die Beschneidung individueller Freiheitsrechte. Tägliche Statistiken von Epidemiologen, Zeitungsberichte oder Appelle warnender Politiker und Internetforen beschworen auch während der Covid-19 Pandemie apokalyptische Szenarien herauf, die zu Panikkäufen, Wagenburgmentalitäten und abstrusen Verschwörungstheorien führten, die eine ähnliche Zersetzungskraft entwickelten wie das Virus selbst. Wie Cooke es ausdrückt, »the social disorder that results from the plague can become a plague itself.«7 Ebenso beängstigend wie die Bedrohung durch die Krankheit selbst, ist die Zersetzung demokratischer Strukturen sowie die gesellschaftlichen Risse und Brüche, die diese aufdeckt. Bei Pandemien kommen, wie René Girard es bereits 1974 postulierte,8 archaische Ängste und Triebe ans Tageslicht. So ist die eigentliche medizinische Bedrohung nur eine dünne Tarnung für die viel größere Gefahr der Erosion sozialer Strukturen, die zudem nicht von der Wissenschaft geheilt und durch politische Maßnahmen gebannt werden kann. Bei Pandemien kommt es zu Scapegoating-Prozessen, in denen Personengruppen als Schuldige stigmatisiert werden, sowie zu Verschwörungstheorien aus allen ideologischen Lagern, die die Pandemie kollektiven Verfehlungen oder geheimen Mächten anlasten. Pandemien besitzen solch unvorstellbare Ausmaße, dass bei ihrer Deutung die Fakten eben nicht die Fiktion übertrumpfen, wie der Neuroethiker James Giordano feststellt.9 Seit dem weltweiten Ausbruch von Covid-19 verzeichnet er bei Internetnutzern einen Anstieg des Interesses an Filmen über Pandemien von 4.900 %. Er erklärt dies mit dem Bedürfnis, diffus vorhandene Ängste anhand von Narrativen kognitiv durchzuspielen und emotional zu katalysieren. Filme wie »Contagion«, »Outbreak«, »The Andromeda Strain«, »Flu« und »Virus« bieten nach Giordano die Möglichkeit, Informationen über Pandemien zu erhalten und Ängste aus der Distanz anzuschauen.10 In seiner Studie konnte er nachweisen, dass unser Gehirn sich bei der Rezeption postapokalyptischer Fiktion mit einer Fülle von Reaktionen auseinandersetzt und diese einstudiert. Giordano 7 Cooke, Legacies of Plague. 2009, S. 5. 8 Girard, René: The Plague in Myth and Literature. In: Texas Studies in Literature and Language 15, 1974, H. 5, S. 833–850. 9 Doherty, Jane/Giordano, James: What We May Learn – and Need – from Pandemic Fiction. In: Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 15, 2020, H. 4. (letzter Zugriff: 19. 07. 2021). 10 Ebd.

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schlussfolgert hieraus, dass postapokalyptische Narrative einen Einfluss auf die realen Reaktionen auf die Covid-19 Pandemie haben. Auch wenn das Einstudieren von Reaktionen auf Pandemien durch Filme etwas positivistisch-pragmatisch anmutet, ist es absolut stimmig, dass Narrative helfen, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen, und dies in einer Zeit, in der Katastrophen immer weniger greifbar und zugleich immer omnipräsenter werden. In der gegenwärtigen Zeit der Risikogesellschaften, wie Ulrich Beck sie schon in den 1980er Jahren nannte,11 kommt Narrativen eine besondere Funktion zu, weil sie erklären sollen, was nicht begreifbar, und aussprechen, was nicht sagbar oder eben vorstellbar ist. Dies ist umso wichtiger, als dass wir in einem Zeitalter leben, in dem Wissenschaft als erklärender Diskurs nur noch bedingt trägt. Heutige Risiken unterscheiden sich von früheren dadurch, dass sie durch zu viel statt wie früher zu wenig Wissen und Technologie herbeigeführt werden. Die Legitimität von Wissenschaft und Technik wird in unserer Zeit, so Beck, durch ihre Unfähigkeit unterminiert, die Risiken zu kontrollieren, die sie selbst mit hervorgebracht haben. Die Wissenschaft ist also wie in einer Kippfigur die Quelle der Risiken und zugleich deren Heilmittel. In seinem Buch »Living in the End Times« konstatiert Slavoj Zˇizˇek, dass wir in einer Zeit leben, die mehr denn je von drohenden Apokalypsen geprägt ist – von nahenden Umwelt- und Technologiekatastrophen ebenso wie von wachsenden sozialen Divisionen und dem Kollaps des globalen Kapitalismus. Während wir uns der bevorstehenden Katastrophen, etwa des Klimawandels, bewusst sind, können wir uns deren Eintreten dennoch nicht wirklich vorstellen.12 Im Zeitalter des Anthropozäns kennen wir alle die wissenschaftlichen Fakten und düsteren Prognosen bezüglich der Erderwärmung und wissen so, dass der Kollaps des ökologischen Systems möglich ist. Und dennoch glauben wir nicht, dass er wirklich eintreten wird oder können uns zumindest nicht vorstellen, wie es danach weitergehen könnte. Die Funktion postapokalyptischer Narrative liegt nun eben darin, die Lücke zwischen dem Wissen um die Katastrophe und deren Vorstellbarkeit zu schließen. Ihnen kommt gerade bei der Imagination der sozialen Folgen von Pandemien eine tragende Bedeutung zu. Sie entwerfen dystopische Szenarien, wie es nach dem Ende der Welt für die wenigen Überlebenden weitergehen könnte. Dabei zielen postapokalyptische Narrative anders als die Apokalypse aber nicht auf die Darstellung einer möglichen neuen Welt, sondern werfen vielmehr aus der Zukunft einen kritischen Blick auf die Vergangenheit, also auf unsere Gegenwart, um die möglichen Konsequenzen unseres Handels vorzuführen. Ihnen kommt damit eine warnende, läuternde Funktion 11 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. 12 Zˇizˇek, Slavoj: Living in the End Times. London/New York: Verso 2010, S. 328.

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zu, ebenso wie sie als Katalysatoren unserer Ängste hinsichtlich der allgegenwärtigen Katastrophenszenarien dienen, die uns täglich umgeben.13 Postapokalyptische Romane beschäftigen sich mit den Folgen und Nachwirkungen der Katastrophe, die bereits eingetreten ist, und imaginieren, was von Zivilisation und Menschlichkeit übrigbleibt, wenn alles zerfallen ist. Die Gattung konstatiert, wie James Berger in »After the End« darlegt, ein Oxymoron.14 Sie setzt ein mit dem Ende, doch, wie Andrew Tate feststellt: »The end of the world is, oddly, a rich beginning for narrative.«15 Und diese Narration untersucht nicht nur das, was von der Welt, sondern auch, was vom Menschsein und von der Menschlichkeit übriggeblieben ist. Das Ende hat bereits stattgefunden, und doch geht irgendein Leben irgendwie weiter. Im Folgenden soll nun auf den 2014 publizierten Roman »Station Eleven« – auf Deutsch 2017 unter dem Titel »Das Licht der letzten Tage« erschienen – der Kanadierin Emily St. John Mandel eingegangen werden.16 Mandels Roman beginnt mit einem spektakulären Ende:17 In einer verschneiten Winternacht wird im Elgin Theater in Toronto »King Lear« gegeben. Im 4. Akt bricht der in den Gazetten aufgrund seines Erfolgs aber auch seiner vielen Ehen und Affären prominente Hauptdarsteller Arthur Leander während eines Monologs auf der Bühne zusammen und stirbt an einem Herzinfarkt. Aus dem Publikum eilt ein Sanitäter, Jeevan Chaudary, auf die Bühne, um erste Hilfe zu leisten. So beginnt ein Roman vom Ende der Welt. Denn das Mise-en-abyme-Stück zu Beginn nimmt nur die größere Katastrophe vorweg. Noch wissen die Theaterbesucherinnen und Theaterbesucher nicht, dass die meisten von ihnen innerhalb der nächsten 48 Stunden tot sein werden, denn noch während der Vorstellung breitet sich, begünstigt durch die Mobilität und den Flugverkehr der globalisierten Welt, die Georgia Flu, ein mutiertes Virus der Schweinegrippe, in rasender Geschwindigkeit aus und wird 99 % der Weltbevölkerung vernichten. Kaum jemand im Publikum wird überleben. Mandels Roman ist a-chronologisch und non-linear erzählt. Wie in vielen postapokalyptischen Narrativen spiegelt diese Art der Repräsentation den Riss der Welt in ein Davor und ein Danach wider. Die Handlung in »Das Licht der letzten Tage« gliedert sich in drei Zeitebenen und wechselt zwischen Kapiteln, die vor der Katastrophe spielen, einigen direkt danach und solchen, die 20 Jahre nach der Katastrophe stattfinden. Die Ereignisse vor der Katastrophe kontextualisie13 Siehe Zˇizˇek, Slavoj: Interlude 4. Apocalypse at the Gates. In: ebd., S. 315–352. 14 Berger, James: After the End. Representations of Post-Apocalypse. Minneapolis: University of Minnesota Press 1999, S. 218. 15 Tate, Andrew: Apocalyptic Fiction. London: Bloomsbury 2017, S. 22. 16 Siehe Anm. 1. 17 Nunez, Sigrid: Shakespeare for Survivors. (letzter Zugriff: 19. 07. 2021).

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ren Figuren und Handlung; die Ereignisse direkt nach der Pandemie erinnern an Dinge, die wir alle während der Corona-Pandemie erlebt haben und steigern diese: Es kommt zum Lockdown, Menschen stranden an Flughäfen, die Lebensmittelversorgung wird knapp, das Gesundheitssystem bricht zusammen, Menschen verschanzen sich in ihren Wohnungen. Die Steigerung dieser Verläufe erlebt man in Mandels Roman einzig durch die Perspektive des Sanitäters Jeevan, der Arthur zu retten versuchte. Er hört nach der Theatervorstellung von einem befreundeten Arzt von den Ausmaßen der Pandemie und begreift: »[T]hat this illness […] was going to be the divide between a before and after, a line drawn through his life.«18 Jeevan wird einer der wenigen sein, die überleben, obwohl er zunächst nicht aus der Stadt flieht, sondern bei seinem Bruder bleibt, der nach einem Unfall als Kriegsreporter im Rollstuhl sitzt. Frank und Jeevan erleben, verschanzt im Apartment, die unvorstellbaren Zahlen der Toten zunächst am Bildschirm: »›It is like those disaster movies,‹ […] They were stunned with horror but it hadn’t entirely sunk in yet. […] All evidence suggested that the center wasn’t holding – Was this actually happening? they asked one another – but personally they had food and water, they were at least momentarily secure and not sick« (SE, 193).

Doch dann fällt ein Nachrichtensender nach dem anderen weg, bis schließlich nur noch ein leeres Studio zu sehen ist und dann nichts mehr, weil die Kamera ausfällt und am Tag danach das Internet. Dann bleiben essenziellere Dinge aus: Die Wasser- und Stromversorgung bricht zusammen, die Müllabfuhr kommt nicht mehr, auch der Postbote nicht, die Straßen sind verstopft mit zurückgelassenen Autos, denen das Benzin ausgegangen ist, und es gibt keine Medikamente mehr. Frank wählt schließlich den Freitod und Jeevan verlässt allein die Stadt. All dies erfahren die Leserinnen und Leser aber nicht chronologisch, sondern über den Text hinweg verteilt, der, wie bereits erwähnt, zwischen den Zeitebenen changiert. Und während man ein wenig über die Zeit direkt nach der Pandemie erfährt, springt die Handlung dann in eine Zeit, die 20 Jahre nach der Katastrophe liegt. Das ist ein signifikanter Unterschied zu anderen Romanen der Gattung, die meist in den Nachwehen und dem Zerfall der Gesellschaft direkt nach der Katastrophe spielen. Mandel blendet diese Jahre bewusst aus – man erfährt nur hier und da, dass es Jahre der Gewalt und des Chaos waren. Was Mandel interessiert, ist hingegen, was passiert, wenn die Katastrophe zur Normalität geworden ist und neue Ordnungen entstehen und es bereits eine Generation von Menschen gibt, die danach geboren wurden und die alte Welt nicht mehr kennen. 18 Mandel, Emily St. John: Station Eleven. New York: Gale Group 2015, S. 20 [im Folgenden unter der Sigle »SE« mit Seitenzahl im Text].

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Eine tragende Rolle in der Welt nach der Katastrophe spielt Kirsten Raymonde, die als Kind mit Arthur auf der Bühne war, als dieser starb und die Grippe ausbrach. Kirsten ist acht Jahre alt, als sie eine junge Version von Lears Töchtern mimt, und etwa 28, als der Roman endet. Die Schrecken der Jahre nach der Katastrophe erinnert Kirsten nur dunkel. Eine Narbe zeugt von der Gewalt, die ihr angetan wurde, und ein Tattoo ist mit zwei Messern markiert, was darauf anspielt, dass sie zwei Menschen töten musste, um zu überleben. Aber all dies wird nur angedeutet und nicht erzählt. Als junge Frau schließt sie sich einer Gruppe umherziehender Musiker und Schauspieler an, der sog. »Travelling Symphony«, die durch die letzten verbliebenen Outposts der Zivilisation zieht und vornehmlich Shakespeares Stücke aufführt. Was demnach neben 1 % der Menschheit im Roman überlebt, sind die Dramen des englischen Dichters. Die Stellwagen der »Travelling Symphony« – alte LKWs, die nun nach dem Ende von Benzin und Strom durch Pferde gezogen werden – ziert der Satz »Survival is Insufficient« – Überleben reicht nicht.19 Dieser einer »Star Trek«-Episode entlehnte Satz trifft den Kern des Romans. Anders als bei vielen anderen postpandemischen Romanen geht es Mandel nicht primär um das physische Überleben, sondern darum, das verbliebene Menschsein und die Menschlichkeit zu behaupten, wobei sie der Kunst eine elementare Rolle zuweist. Shakespeares Stücke erscheinen ihr dabei als Kondensat der Menschheitsgeschichte und Essenz des Humanismus, zumal auch sie während einer von der Pest gebeutelten Zeit geschrieben wurden. Man könnte hier durchaus kritisch sehen, dass ausgerechnet ein weißer Mann, dessen Stücke Eurozentrismus und Kolonialismus repräsentieren, als Garant für das Überleben universeller Kulturwerte steht,20 und auch, warum die »Travelling Symphony« keine eigenen 19 Der Satz »Survival is Insufficient« durchzieht den Roman wie ein Mantra und macht immer wieder deutlich, dass es nicht um das rein physische Überleben, sondern um die Resilienz der Menschheit und der Menschlichkeit im Angesicht der Katastrophe geht. Nicht umsonst überleben im Roman Diejenigen, die sich in sinngebenden Gemeinschaften zusammenfinden: die Mitglieder der »Travelling Symphony«, die sich, so die Definition eines Orchesters und einer Schauspielgruppe, in vielstimmigen Rollen gemeinsam artikulieren und in ihrer Performanz definieren, oder die Bewohner des Flughafens, die neben dem reinen physischen Überleben durch das Museum eine Erinnerungskultur schaffen. Siehe hierzu auch Feldner, Maximilian: Survival is insufficient. The Postapocalyptic Imagination of Emily St. John Mandel’s Station Eleven. In: Anglica. An International Journal of English Studies 27, 2018, H. 1, S. 165–179. 20 Vgl. Thurman, Christopher: Apocalypse Whenever. Catastrophe, Privilege and Indifference (or, Whiteness and the End of Times). In: English Studies in Africa 58, 2015, H. 1, S. 56–67, hier: S. 58; Méndez-García, Carmen: Postapocalyptic Curating. Cultural Crises and the Permanence of Art in Emily St. John Mandel’s Station Eleven. In: Studies in the Literary Imagination 50, 2017, H. 1, S. 111–130, hier: S. 115f.; sowie Smith, Philip: Shakespeare, Survival, and the Seeds of Civilization in Emily St. John Mandel’s Station Eleven. In: Extrapolation. A Journal of Science Fiction and Fantasy 57, 2016, H. 3, S. 289–303.

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Dramen schreibt und aufführt, wenn Kreativität und Kunst die Gegenmittel zur Zersetzung der Zivilisation darstellen sollen. In der Logik des Romans jedoch sind die Stücke Shakespeares ein wichtiges humanistisches Gegenlager zur ideologischen Vereinnahmung der Katastrophe durch den sog. Propheten.21 Hinter der Figur des Propheten verbirgt sich Arthurs Sohn Tyler, der aus der Ehe mit dessen zweiter Frau stammt. Beim Ausbruch der Krise ist er so alt wie Kirsten, als Erwachsener versammelt er eine Gruppe Erleuchteter um sich und gründet einen Kult, dem er als unwidersprochener Erlöser vorsteht. In der Figur Tylers kritisiert Mandel apokalyptische Narrative, die als Mittel der Unterdrückung und ideologischen Legitimation von Gewalt entlarvt werden.22 Tyler verbreitet Schrecken in den verstreuten Gemeinden, wählt sich immer jüngere Mädchen zur Frau und tötet, wer ihm nicht folgt. Am Schluss des Romans wird der Prophet schließlich in einer Konfrontation zwischen der »Travelling Symphony« und den Erleuchteten erschossen. Die Apokalypse wird zum Ende des Romans also sprichwörtlich totgesagt und Mandels Erzählung wirkt wie eine Suchbewegung nach möglichen neuen Ordnungen, die auf vergangene Narrative und Strukturen zurückgreifen, ohne dabei ins Heilsgeschichtliche abzukippen. Statt religiöser Erlösung sind es die Urgeschichten des Menschseins und der Innovations- und Ordnungswille der Menschheit, die es, so argumentiert der Roman, ermöglichen, erneut zivilisiert zu leben. Und statt eines prophezeienden endzeitlichen Blicks in die Zukunft, richtet Mandel den Blick in die Vergangenheit; Zygmunt Baumann hat dies, in Abgrenzung zur Utopie, eine Retrotopie genannt. Die Utopie verknüpft eine bessere Zukunft mit einem Ort, den es noch nicht gibt. In Zeiten der Risikogesellschaften sei unsere Zukunft, so Baumann, aber zu ungewiss geworden, so dass utopische Szenarien nun in eine erinnerte Vergangenheit verlegt würden, die bei allen Schwächen als zuverlässig und stabil wahrgenommen wird. Retrotopien knüpfen an die Vergangenheit an, um in der Gegenwart die Chance zur Läuterung zu bieten, damit katastrophale Zukunften verhindert werden können.23 Die im Roman imaginierte Zukunft konstatiert sich in Erinnerung an die untergegangene Welt. Der Ton des Romans ist elegisch; er betrauert den Verlust sicher geglaubter Strukturen und Errungenschaften ebenso wie den Verlust von Dingen, die man heute als selbstverständlich begreift. Mandel widmet diesen Verlusten ein ganzes Kapitel im Roman. Kapitel 6 beginnt:

21 De Cristofaro, Diletta: Critical Temporalities. Station Eleven and the Contemporary PostApocalyptic Novel. In: Open Library of Humanities 4, 2018, H. 2, S. 1–26, hier: S. 8. 22 Ebd., S. 9. 23 Baumann, Zygmunt: The Age of Nostalgia. In: Retrotopia. Cambridge: Polity Press 2017, S. 1– 12.

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»AN INCOMPLETE LIST: No more diving into pools of chlorinated water lit green from below. No more ball game splayed out under floodlights. No more porch lights with moth fluttering on summer nights. No more trains running under the surface of cities on the dazzling power of the electric third rail. No more cities. […] No more pharmaceuticals. No more certainty of surviving a scratch on one’s hand, a cut on a finger while chopping vegetables for dinner, a dog bite. No more flight. […] No more countries, all borders unmanned. […] No more fire departments, no more police. No more Internet. No more social media« (SE, 31f.).

Die anaphorische Reihung definiert die neue Welt ex negativo in Erinnerung an Verlorenes. Sie fängt mit belanglosen Dingen an – erleuchteten Schwimmbädern und Sportplätzen – und steigert sich zu den Konsequenzen des Wegfalls medizinischer Hilfe, staatlicher Strukturen sowie virtueller und physischer Mobilität. Dies zeigt sich prägnant am ehemaligen Flughafen von Michigan, der im Roman eine signifikante semantische Umdeutung erfährt. An Flughäfen festzusitzen, ist zunächst ein ganz normaler Vorgang in der globalisierten Welt, der den Leserinnen und Lesern vertraut ist: Man sitzt in Abflughallen und wartet, dass es weitergeht. Nur hält im Roman das Warten der nach der Katastrophe am Flughafen gestrandeten Menschen bereits zwei Dekaden an. Erst begreifen sie, dass es keinen neuen Flug geben wird, dann dämmert ihnen, dass die National Guard nicht kommen wird, um sie zu retten, schließlich plündern sie die Vending Machines und Restaurants am Flughafen. Dann sterben die ersten, weil ihnen Medikamente fehlen usw., dann wird der Flughafen allmählich zur Normalität und es entstehen zaghaft und notgedrungen neue Ordnungen. Die Menschen richten sich ein. Flugzeuge, die früher dem Transport dienten, werden zu Särgen oder Behausungen. Es entsteht eine Schule. Die Gesellschaft der Überlebenden differenziert sich: Einige werden zu Jägern, andere zu Sammlern. Eine Dekade nach dem Untergang entsteht am Severn City Airport das »Museum of Civilization«, das von Clark, dem früheren Anwalt und Freund Arthur Leanders, kuratiert wird. Clark sammelt Objekte, die mehr und mehr ihren ursprünglichen Sinn und vor allem ihre Funktion eingebüßt haben: Kreditkarten, mit denen nichts mehr bezahlt werden kann, Pässe, die in einer Welt ohne Länder und Grenzen und mit nur sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Mobilität sinnlos geworden sind, Motorräder, die stillstehen, denn ab Jahr 3 gibt es kein Benzin mehr, sowie Handys und Computer, die nach dem Zusammenbruch der Elektrizität und des Worldwide Web keine Funktion mehr besitzen. Für die Nachgeborenen machen diese Objekte keinen Sinn mehr bzw. erhalten, ihrer ur-

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sprünglichen Funktion beraubt, einen neuen Sinn – oder entfalten ihren Eigensinn als Ding.24 Trotz dieses Bruchs der Dingbedeutsamkeit will Clark durch das Museum aber vor allem eine Erinnerungskultur schaffen als Anker für eine Zukunft, die sich über die Vergangenheit definiert. Es geht also weniger um den Abgesang der alten Welt als vielmehr darum, die Erinnerung an sie zu erhalten in der Hoffnung auf eine neue Zukunft. Auch in der Repräsentation von Objekten unterscheidet Mandels Roman sich von anderen Dystopien, in denen jene den Riss zwischen der untergegangenen und der postapokalyptischen Welt deutlich machen sollen. Objekte zielen in Dystopien häufig auf einen Verfremdungseffekt, weil alltägliche und vertraute Objekte in einer Welt, in der es um das reine Überleben geht, sinnlos erscheinen. In Mandels Roman fungieren Objekte aber vor allem als eine beziehungsstiftende sowie Raum und Zeit überdauernde Dimension und halten zudem die Narration zusammen: Da ist der gläserne Briefbeschwerer, den Kirsten auf all ihren Überlebensreisen im Gepäck hat und den sie als Kinderschauspielerin vor der Katastrophe im Theater von ihrer Aufpasserin geschenkt bekommen hatte, der aber davor Miranda Caroll gehört hatte, Arthurs erster Frau, die eine wichtige Rolle in der Handlung vor der Apokalypse spielt. Denn Miranda zeichnet den Comic, nach dem der Roman in der englischen Version benannt ist: »Station Eleven«. In diesem futuristischen Comic geht es um einen Wissenschaftler namens Dr. Eleven, der mit einer Handvoll Überlebender dem Untergang der Welt entkommt, indem er sein Raumschiff durch ein Wurmloch lenkt und in einer anderen Galaxy lebt. Der Comic ist zentral für die Zusammenführung der Personen und Handlungsstränge, denn es existieren von ihm nur zwei Kopien; eine bekommt Kirsten von Arthur geschenkt, die andere gibt dieser seinem Sohn Tyler. Aus diesem Comic wie aus der Bibel, den einzigen beiden Büchern, die Tyler nach der Katastrophe besitzt, bastelt er sich später seine endzeitliche Ideologie. Und alle diese Objekte – Briefbeschwerer und Comic – landen letztlich im »Museum der Zivilisation«. Die Objekte in Mandels Roman haben also bereits Schichten variierender Semantisierungen durchlaufen, bis sie im »Museum der Zivilisation« enden und dort zu Ausstellungsobjekten werden. Jenseits von Katastrophen ist dies ein ganz normaler Prozess der Musealisierung. Was einst eine gewöhnliche Vase war und dann eine nutzlose Scherbe, steht später in einer Vitrine im Museum für Anthropologie als Zeugnis einer untergegangenen Hochkultur. Und was man beim Anblick der Scherbe bewundert, ist nicht sie selbst, sondern die handwerklichen Fertigkeiten und symbolischen Komplexitäten der Kultur, die sie hervorgebracht 24 Zum Eigensinn der Dinge siehe Heidegger, Martin: Das Ding. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2000, S. 165–187; sowie Brown, Bill: Thing Theory. In: Critical Inquiry 28, 2001, H. 1, S. 1–22.

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hat. Im »Museum of Civilization« ist die Zivilisation nun etwas Vergangenes, das ins kulturelle Gedächtnis eingeht und in dem alltägliche Objekte den Status von Kunst und Erinnerungsobjekten erhalten. Gleichwohl hat diese Ästhetisierung von Objekten Mandel den Vorwurf eingebracht, dass sie die unfairen Produktionsbedingungen der globalen Welt ebenso ignoriere wie deren Lieferketten.25 Dagegen kann man, wie Pieter Vermeulen es getan hat, einwenden, dass Objekte erst schön werden, wenn sie nicht mehr im Kontext ihrer Produktionsketten betrachtet und wenn man sich der Endlichkeit und Fragilität der Dinge, Errungenschaften und Strukturen bewusst wird, die die Moderne hervorgebracht hat.26 Hierzu gehören auch die technischen Errungenschaften, die nun fehlen. Wie sich am Titel der deutschen Übersetzung – »Das Licht der letzten Tage« – wie auch an der bereits zitierten Reihung der verlorenen Dinge zeigt, ist ein wiederkehrendes Motiv in Mandels Roman das Licht. Es steht einerseits für eine modernisierte Welt und wird zum Symbol all der Strukturen und technischen Errungenschaften, die uns verlorengegangen sind, und wird andererseits zur Metapher für ein aufgeklärtes Zeitalter. Denn wenn der Prophet von den Erleuchteten spricht und sagt, wir sind das Licht, greift er auf jenseits der Rationalität liegende endzeitliche Diskurse zurück. Wenn Kirsten, die fasziniert von Elektrizität ist, von Licht spricht, dann geht es um die moderne technisierte Welt nach dem ›Dark Age‹, die nun erneut untergegangen ist.27 In den Kapiteln, die vor der Katastrophe spielen, ist es genau dieses Licht, das immer wieder eine temporäre Ordnung herstellt, etwa, wenn Arthur von oben auf das erleuchtete Los Angeles blickt. Es ist dies die von Michel de Certeau beschriebene Vogelperspektive, die es uns erlaubt, die unverständlichen Strukturen – das Gewusel der Stadt – in einen temporär lesbaren Text zu verwandeln.28 Das elektrische Licht wird im Roman immer wieder mit Ordnung und Schönheit assoziiert. Am Ende von Mandels Roman kehrt das Licht zaghaft und schemenhaft zurück. Kirsten ist mit ihrer Truppe am Flughafen bei Clark angelangt. Vom Watchtower aus sehen sie in der Ferne einen Ort, dessen Straßen erneut erleuchtet sind (SE, 311). Was hier zurückkehrt, ist mehr als nur Licht, es ist eine Ordnung, die Hoffnung gibt auf eine neue Zivilisation. Mandel ist dafür gescholten worden, dass sie die Technisierung der gegenwärtigen Welt, die schlussendlich zur Klimakrise führt, nicht infrage stelle, sondern diese gar feie25 De Cristofaro, Critical Temporalities. 2018, S. 15; sowie West, Mark: Apocalypse Without Revelation? Shakespeare, Salvagepunk and Station Eleven. In: Open Library of Humanities 4, 2018, H. 1, S. 1–26, hier: S. 20. 26 Vermeulen, Pieter: Beauty That Must Die. Station Eleven, Climate Change Fiction, and the Life of Form. In: Studies in the Novel 50, 2018, H. 1, S. 9–25, hier: S. 17f. 27 De Cristofaro, Critical Temporalities. 2018, S. 7. 28 De Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life. Berkely/California: University of California Press 2010, S. 91–110.

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re.29 Und in der Tat wohnt der Elektrizität bei Mandel ein Zauber inne, ebenso wie den nun verlorenengegangenen Dingen und Strukturen. Darin lässt sich unschwer ein romantischer – kein romantisierender – Gestus erkennen, der dem Gewöhnlichen das Ungewöhnliche entlocken will. Fast scheint es, als wolle Mandel die von Max Weber beschworene Entzauberung der Welt seit der Moderne rückgängig machen. Das bedeutet aber weder, dass der Roman zu einer vormodernen Zeit zurückkehren will, noch dass er die technischen Errungenschaften der kapitalistischen globalen Welt unkritisch hochhält. Vielmehr versucht Mandel, wie neueste Strömungen des Ecocriticism es tun, wieder eine affektive, vormoderne Bindung an die moderne Welt zu schaffen, ohne ihre Errungenschaften zu verteufeln.30 Der Roman strahlt eine fast altmodisch anmutende Dankbarkeit oder Wertschätzung gegenüber den gegenwärtigen Strukturen, wie z. B. Demokratie, ein funktionierendes Gesundheitssystem, menschliche Fürsorge und Solidarität sowie allgemein der technische Fortschritt, aus. Mandel wollte, so sagt sie in Interviews, nicht nur einen Roman über den Untergang unserer Zivilisation, sondern einen über den wie auch immer gearteten zaghaften Beginn einer neuen schreiben.31 Zudem hebt ihr Roman inmitten – oder gerade trotz – der Katastrophe immer wieder auf die Schönheit der Welt ab, etwa wenn Kirsten sich in der postapokalyptischen Welt an der immer noch aufgehenden Sonne oder der Schönheit der Welt freut oder wenn Jeevan darüber reflektiert, dass die moderne Welt vor der Katastrophe nie unpersönlich war, sondern es auch damals stets menschlicher Interaktion und menschlichen Miteinanders bedurfte. Der Roman ist weniger eine Apotheose der teils verheerenden Folgen modernen Fortschritts noch ein Aufruf, vergangene Fehler zu wiederholen, sondern ein Appell, mit wacheren Augen für deren Schönheit durch unsere Welt zu gehen. Es spricht aus ihm der Wunsch, etwas sorgsamer mit dem, was wir haben, umzugehen, auch mit der Chance auf eine zweite Zukunft. Christoph Mauch hat hierfür als Gegenlager zu Rob Nixons Begriff der »slow violence«, also der schleichenden Gewalt, mit der wir unseren Planeten zerstören,

29 De Cristofaro, Critical Temporalities. 2018, S. 16f. 30 Siehe hierzu Bennett, Jane: The Enchantment of Modern Life. Attachments, Crossings, and Ethics. Princeton/Oxford: Princeton University Press 2001; sowie Dies.: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham/London: Duke University Press 2010 [Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge. Aus dem Englischen von Max Henniger. Berlin: Matthes&Seitz 2020]. 31 Siehe etwa McCarry, Sarah: ›I want It All‹: A Conversation with Emily St. John Mandel. (letzter Zugriff: 20. 07. 2021); Griffith, Colin: When the Dust Settles: An Interview with Emily St. John Mandel. (letzter Zugriff: 20. 07. 2021).

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den Begriff »slow hope« geprägt.32 Auch wenn Mandels Roman nicht das Danach einer Klimakatastrophe imaginiert, sondern ein postpandemischer Text ist, lässt sich das Prinzip der »slow hope« gut übertragen. Mauch argumentiert, dass pessimistische Geschichten über Klimakatastrophen lähmen und man daher dringend Narrative braucht, die Hoffnung und Visionen auf eine bessere Zukunft spenden, in der man aus den Fehlern gelernt hat. Er beruft sich dabei auf Ernst Blochs Diktum, dass die tragischste Form des Verlusts diejenige sei, die Vorstellungskraft für Veränderung zu verlieren. In Hoffnung zu leben, so Mauch, macht uns menschlich. Dass Mandels Roman, der viel Anerkennung erhalten und einige Preise gewonnen hat,33 für seinen Lichtblick am Ende – seinen Hoffnungsschimmer auf eine neue Zivilisation – gescholten wurde, sagt m. E. einiges über unsere Zeit aus. Gerade weil Risiken heutzutage so schwer zu begreifen sind und gerade weil wir wissen, dass wir handeln müssen, um Katastrophen zu vermeiden, aber nicht wissen, wie, und auch weil es wichtiger wird, kollektive Entscheidungen als Spezies zu treffen, wir aber keine Erfahrungen darin haben, sehnt sich unsere Zeit nach Dystopien. Als wollten die Menschen gezwungen werden, der Katastrophe, zu der unsere Handlungen unweigerlich zu führen scheinen, ins Auge zu sehen, gerade weil sie so wenig greifbar scheint. Schwarzmalerei durchzieht nicht nur literarische Texte, sondern auch die politischen Diskurse von Krisenexperten und -expertinnen. Mandels Roman verweigert sich dem und imaginiert – ganz im Sinne von Mauchs »slow hope« – nach dem schrecklichen Ende einen Neubeginn, der aus den Wurzeln unserer Kultur möglich sein könnte. Es ist ein tröstender Blick nicht nur auf das Leben nach der Katastrophe, sondern auch auf unsere, wie auch immer fehlerhafte Welt. Das bringt mich ganz zum Schluss noch einmal zur gegenwärtigen Coronakrise, die eben nicht endet, wenn das Virus biologisch ›besiegt‹ ist. Das Virus lebt, wie Michael Peters ausführt, so lange, wie es medial verbreitet wird.34 Epidemiologisch gesehen, repetiert das Soziale das Biologische, aber letzteres stirbt schneller seinen natürlichen Tod. Denn was wird nun aus den Experten der Covid-19-Krise und aus den Strukturen, die sie geschaffen haben? So bemerkte der Arzt und Wissenschaftsjournalist Werner Bartens jüngst in der »Süddeut32 Nixon, Rob: Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge: Harvard University Press 2013; sowie Mauch, Christof: Slow Hope. Rethinking Ecologies of Crisis and Fear. RCC Perspectives Transformations in Environment and Society. (letzter Zugriff: 20. 07. 2021). 33 Etwa der prestigeträchtige Arthur C. Clarke Award, der in Großbritannien für den besten Science-Fiction-Roman vergeben wird oder der Toronto Book Award (beide in 2015). 34 Peters, Michael: Love and Social Distancing in the Time of Covid-19. The Philosophy and Literature of Pandemics. In: Educational Philosophy and Theory 53, 2020, H. 8, S. 755–759.

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Caroline Rosenthal

schen Zeitung«, dass die, »Modellierer« der Coronakrise, »statt zur Aftershow-Party bei Plasberg, Maischberger, Illner und Co.«, nun wieder in »Lab-Meetings mit einsilbigen Postdocs« oder »in den Haushaltsausschuss« gehen müssten.35 Jede Pandemie lebt eben auch von ihrer medialen Präsenz und von sich selbst perpetuierenden Wirtschafts- und Wissenschaftsinstitutionen. Um diese zu erhalten, braucht es, so Bartens, weiterhin die »Logik der Gefahr« oder, wie es am Anfang erwähnt wurde, die Sprache der Angst. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung, denn das nächste Virus kommt bestimmt. Diese Angst wird durch postapokalyptische Narrative beflügelt. Literatur schafft hypothetische Möglichkeitsräume, in denen man Szenarien durchspielen kann, oder erlaubt – wie Carsten Gansel in seinem Beitrag in diesem Band schreibt. Anders als viele andere Beispiele der Gattung imaginiert Emily St. John Mandel eine Welt nach der Katastrophe, in der es nicht nur Gewalt, Zombies, marodierende Banden oder Kannibalen gibt, sondern auch den Überrest oder die Essenz der Zivilisation, der sich nicht ausrotten lässt. Das Narrativ von »Das Licht der letzten Tage« fordert die Leser und Leserinnen nicht nur dazu auf, die Strukturen der Zivilisation wertzuschätzen, sondern auch, sich eine ethische Haltung bzw. einen Standpunkt darüber zu schaffen, was von der Zivilisation übrigbleiben sollte, wenn die Welt, wie wir sie kennen, enden sollte.

35 Bartens, Werner: Obacht, sonst droht die vierte, fünfte und sechste Welle. Was machen all die Krisenexperten eigentlich, wenn die Krise vorbei ist? Über Mechanismen der medialen Selbsterhaltung per Daueralarm. (letzter Zugriff: 20. 07. 2021).

Denis Newiak

Aus Pandemiefilmen lernen: Wie man Einsamkeit überlebt

Das Problem zunehmender sozialer Desintegration und das damit verbundene omnipräsente Gefühl der Vereinsamung haben sich längst zu den vielleicht wichtigsten Herausforderungen der spätmodernen Gesellschaften entwickelt: Während die Moderne immer neue Bequemlichkeiten, Wunder und Sicherheiten hervorbringt, wächst zugleich die empfundene Distanz zwischen den Bewohnenden der Moderne, in der Gemeinschaften um ihr Überleben kämpfen – und damit der moderne Mensch mit dem Bewusstsein seiner Einsamkeit. Vor dem Hintergrund philosophischer, soziologischer, psychologischer und medienwissenschaftlicher Diskurse lässt sich die Modernisierung – also die Kulturentwicklung von der Industrialisierung bis hin zur postindustriellen Gegenwart, zumindest aus einer abendländischen Perspektive – im Kern als ein Prozess ständig zunehmender Vereinsamung lesen, der sich bis heute weiter ungebremst fortsetzt: Gerade die Mechanismen unserer spätmodernen Gesellschaft – mit der enormen Beschleunigung sozialer Abläufe, zunehmender individueller räumlicher und sozialer Mobilität sowie einer Vielzahl konkurrierender Wahrheits- und Sinnstiftungsangebote, nicht zuletzt im Internet, das im Zeitalter von sogenannten »Sozialen Medien« neue Keile zwischen die Menschen schlägt – wirken zusammen wie ein Nährboden für immer neue Einsamkeitserfahrungen.1 Während dem Thema der modernen Einsamkeit als Gegenwartsproblem erst seit Kürzerem in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik zunehmend Beachtung geschenkt wird, hat die Corona-Pandemie das Problem von Einsamkeitserfahrungen wie unter einem Brennglas besonders deutlich hervortreten lassen: Einrichtungen für Senior_innen und Pflegebedürftige, die ohnehin zu Vereinsamungsgefühlen beitragen, wurden für die Bewohnenden zu einem Ort der Verlassenheit, als selbst der so sehnsüchtig erhoffte Familienbesuch ausbleiben musste – oft sogar im Moment der größten Einsamkeit, wenn das Leben in Folge von Alter und Krankheit endet. Der Rückzug ins leblose »Homeoffice« mit den 1 Vgl. Newiak, Denis: Die Einsamkeiten der Moderne. Eine Theorie der Modernisierung als Zeitalter der Vereinsamung. Wiesbaden: Springer VS 2022.

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unzähligen Videokonferenzen zeigte, wie sehr die informellen Kontakte mit Kolleg_innen am Arbeitsplatz und Kommiliton_innen im Studium, die gegenseitige soziale Kontrolle und die damit verbundenen Routinen und Verbindlichkeiten zur Erfahrung gesellschaftlicher Teilhabe beitragen. Und viele Kinder wollten während der Homeschooling-Phasen gar nicht mehr das Bett verlassen, schließlich warten am Bildschirm sowieso immer nur dieselben Einsamkeiten, wie man sie schon vom Smartphone kennt. Natürlich stellt nicht erst die Moderne die Frage nach der Einsamkeit, vielmehr ist sie seit jeher untrennbar mit kulturhistorischen und sozialphilosophischen Diskursen verknüpft. Erst jedoch mit Beginn der Modernisierung drängt sich die Einsamkeit selbst zunehmend als eigenständiges komplexes Problem auf. Schon Nietzsche wies am Ende des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass die Krise des christlichen Weltbilds, der ›Tod Gottes‹, und das damit entstehende Sinndefizit durch den Verlust der Universal-Gemeinschaft einer religiösen Transzendenz direkt in eine nihilistische Erfahrung von Einsamkeit führen müssten: »[d]er Kreis der überlebten und fallengelassenen Werthe wird immer voller; die Leere und Armut an Werthen kommt immer mehr zum Gefühl; die Bewegung ist unaufhaltsam — obwohl im großen Stil die Verzögerung versucht ist […]. Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte«2 – was sich dann als eine erstaunlich treffende Generaldiagnose für das 20. und 21. Jahrhundert erwies: Die Moderne bringt immer neue Potentiale zur gesellschaftlichen Desintegration hervor, die ich – in Abgrenzung zu einem umgangssprachlichen Verständnis von Einsamkeit etwa als romantische Sehnsucht nach einer Paargemeinschaft – bewusst im Plural die Einsamkeiten nennen will. Man denke an Marx, der einen Menschen in der rationalisierten Industriegesellschaft beschrieb, der eine unüberwindbare Distanz zum Produkt seiner Arbeit, zu seinen Mitmenschen und schließlich zu sich selbst zu spüren bekommt, sich also zunehmend von den sozialen Kontexten ›entfremdet‹.3 Mit der modernen Wohlstandsgesellschaft unentwirrbar verbunden ist etwa auch das Phänomen der Urbanisierung, die mit den Schlafstädten der frühen Industriegesellschaft beginnt,4 dann in gesichts- und beziehungslose Suburbs führt5 und 2 Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente.« (= NF) In: Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe. Auf der Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe Werke, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1967ff. und Nietzsche Briefwechsel Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Paolo D’Iorio, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1975ff. nietzschesource.org/#eKGWB, hier: NF-1887,11[119]. 3 Vgl. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 40. Berlin: Dietz 1968, S. 465–588, hier: S. 513–518. 4 Vgl. Mácha, Karel: Der einsame Mensch in der Industriezivilisation. In: Internationale DialogZeitschrift 1, 1968, H. 3, S. 291–297. 5 Vgl. Slater, Philip E.: The Pursuit of Loneliness. American Culture at the Breaking Point. Boston: Beacon Press [1976]1990.

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heute in den überwucherten Megacities,6 in denen soziale Interaktionen fast durchweg nur noch service sind, ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Allen anfänglichen Euphorien zum Trotz zeigen sich auch internetbasierte Digitaltechnologien, insbesondere soziale Netzwerke, nicht als Quelle neuer (virtueller) Gemeinschaft, sondern zunehmender gesellschaftlicher Spaltung, die auch der Demokratie zu schaffen macht,7 etwa in Form grassierender Verschwörungsideologien – dieser gerade zu Zeiten von Corona sichtbar gewordenen einsamen Bubbles abstruser Parallelwirklichkeiten, die natürlich auch dadurch attraktiv sind, dass sie (zumindest unter den Gleichgesinnten) auch während der großen pandemischen Einsamkeit eine Spielart von Gemeinschaftserfahrung suggerieren.8 Die Corona-Pandemie wiederum hat ihre ganz eigenen neuartigen Einsamkeiten hervorgebracht – und zugleich die bestehenden auf dem Silbertablett präsentiert und weiter verschärft. In einem kurz nach Ausbruch der Covid-19Pandemie entstandenen Buch unter dem Titel »Alles schon mal dagewesen. Was wir aus Pandemie-Filmen für die Corona-Krise lernen können«9 suche ich nach Spuren von Zukunftswissen in Virus-Filmen und -Serien und wie die Szenarien des Genres dabei helfen können, die gegenwärtigen pandemiebedingten Herausforderungen – als Individuum und als Gesellschaft – besser zu bewältigen, nicht zuletzt die Frage zunehmender Einsamkeiten. Es erstaunt, wie sehr diese fiktionalen Welten unserer ganz realen Alltagswelt ähneln: In »Contagion« (USA/ AE 2011) etwa signalisiert ein einfahrender LKW-Konvoy den Beginn des Ausnahmezustands, so wie die Bilder der mit Toten beladenen Laster in Bergamo europaweit den Ernst der Lage verdeutlichten. In der Pandemie-Satire »Phase 7« (ARG 2010) dauert es lange, bis die Figuren gelernt haben, ihre Schutzmasken richtig zu verwenden, denn anfänglich guckt immer die Nase raus, und wenn sie doch mal drin ist, wird der Bügel nicht korrekt dem Nasenrücken angepasst – was an die vielen kreativen und dabei gefährlichen Tragevariationen, wie man sie täglich in den Nachrichten sieht, erinnert. In »The Last Days« (»12 Wochen nach der Panik« F/S 2013) besteht die eigentliche Pandemie darin, dass sich die Menschen nicht mehr aus dem Haus trauen – die leergefegten Shopping-Malls und Städte werden zu Insignien einer pausierenden Moderne, von der noch 6 Vgl. Adli, Mazda: Stress in the City. Warum uns Städte krank machen und wie wir sie lebenswerter gestalten können. München: C. Bertelsmann 2017. 7 Vgl. Vaidhyanathan, Siva: Antisocial Media. How Facebook Disconnects Us and Undermines Democracy. New York/Oxford: Oxford University Press 2018. 8 Vgl. Newiak, Denis: Fighting Conspiracy Ideologies: Learning from Pandemic Movies to Counter the Post-Factual. In: The Post-Truth Era. Literature and Media. Hrsg. von Praveen Abraham und Raisun Mathew. New Delhi: Authors Press 2021. S. 21–30. 9 Newiak, Denis: Alles schon mal dagewesen. Was wir aus Pandemie-Filmen für die CoronaKrise lernen können. Marburg: Schüren 2020.

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ungewiss ist, ob sie jemals zu alter Stärke zurückkehrt, ja ob ein modernes Leben überhaupt jemals wieder möglich sein wird. Ob profitgierige Verschwörungsideologen, überforderte Krankenschwestern oder sich vergessen fühlende Jugendliche: Die fiktiven Figuren der Pandemiefilmen plagen dieselben Probleme wie die Menschen der realen Corona-Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit diesen Narrativen und ihren kinematographischen Inszenierungsstrategien kann dabei einen Diskursraum eröffnen, um über sonst unsichtbare, komplexe, abstrakte und tabuisierte Themen und Konflikte zu spekulieren und dadurch einen Zugang zu potentiellen Handlungsoptionen zu legen. Wiederkehrendes Thema dieser Pandemiefilme und -serien ist, was nicht verwundert, die Erfahrung von Einsamkeit, die mit der Pandemie verbunden ist – durch Krankheit oder den Verlust von Angehörigen, Quarantäne, und soziale Isolation, Arbeitslosigkeit und Homeoffice – und dabei auf das umfassende Gefühl der Verlassenheit in der modernen Gesellschaft verweist. In den filmischen Virus-Szenarien müssen die dort handelnden Figuren eine Vielzahl von Einsamkeiten, wie sie auch in den vergangenen Jahren während der Corona-Krise Thema waren: Das systemrelevante medizinische Fachpersonal fand sich oft in einer hoffnungslosen Situation überfüllter Krankenhäuser wieder, in der die eigene Machtlosigkeit im Angesicht wachsender Patientenzahlen ohne Therapieansatz zu schweren Sinnkrisen geführt hat. Kinder und Jugendliche waren dazu gezwungen, die für ihre geistige und körperliche Entwicklung so wichtigen Sozialkontakte auf ein Minimum zu reduzieren, dabei gehören Einsamkeitserfahrungen ohnehin schon unter normalen Umständen zu einem Kernerlebnis des Erwachsenwerdens. Und die Erwachsenen wiederum dürften sich zuweilen alleingelassen gefühlt und existentielle Zukunftsängste ausgestanden haben, als sich manche Supermarktregale leerten, die 116117 zeitweise überlastet war und Fernsehbilder den Verdacht nährten, der Staat würde vorübergehend seine wichtigsten Institutionen nicht mehr gegen die Feinde der Demokratie verteidigen können. All diese Erlebnisse stehen in zugespitzter Form stellvertretend für die wachsenden Gefahrenpotentiale und Unsicherheitserfahrungen, die unweigerlich mit der Modernisierung Hand in Hand gehen, denn für Beck ist es einzig und allein »die verselbständigte Macht der Moderne selbst«, das die »immanente Metaphysik der Moderne verändern könnte«.10 Mit Bonß sind »die Sicherheits- und Eindeutigkeitsversprechen von Wissenschaft und Technik

10 Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt: Suhrkamp [1986] 2007. S. 376.

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brüchig geworden« – und mit ihnen die Hoffnung auf eine Modernisierung, die nur eine Richtung kennt und nie eine Pause einlegt.11 In den Pandemie-Fiktionen erleben die Figuren aber häufig auch eine besondere, eskalierte Form der Isolation – eine letzte Stufe der Einsamkeit, wenn die Welt nach einer großen Sterbewelle schon fast ›am Ende‹ ist. In den Endzeitszenarien aus Film und Fernsehen ist oft schlicht niemand mehr ›übrig‹: Die Isolation entsteht hier regelmäßig aus dem tatsächlichen Mangel an anderen Überlebenden der Pandemie. Auch durch die Verbreitung von Covid-19 waren und sind Menschen überall auf der Welt plötzlich ganz auf sich selbst zurückgeworfen, müssen ihren Alltag ohne Berufstätigkeit oder strukturierten Alltag bewältigen und oft ohne die Zuwendung und Nähe von geliebten Menschen und Freunden auskommen. Auch wenn die Apokalypsen-Erzählungen der Pandemiefilme und -serien mit ihren ›letzten Menschen‹ das Problem der Einsamkeit während einer Seuche überzeichnen, nehmen sie doch eine aufschlussreiche Perspektive ein, denn das Alleinsein (unabhängig von dessen Ursachen) fordert vom Einzelnen bestimmte Verhaltensweisen ein, um dieses einsame Leben auch psychisch wie körperlich durchzustehen. Wie überleben die Figuren des Pandemie-Genres dieses Gefühl von Verlassenheit – und woran scheitern sie? Hierzu möchte ich zwei Beispiele nebeneinanderlegen und exemplarisch veranschaulichen, inwiefern eine Auseinandersetzung mit den Texten von Film und Fernsehen insbesondere aus dem Genre der Science Fiction dabei helfen können, Ansätze zur Bewältigung realer gegenwärtiger Probleme zu entwickeln.12 Als Prototyp des unfreiwilligen Einsiedler-Daseins im Pandemiefilm erscheint der in »I Am Legend« (USA 2007) von Will Smith verkörperte hochrangige Armee-Virologe Neville, der als scheinbar einziger Überlebender einer tödlichen Seuche versucht, sich im ausgestorbenen New York City von einem Tag zum nächsten zu hangeln, um in seinem persönlichen Kellerlabor ein Mittel gegen das Virus zu entwickeln, dem fast alle Menschen auf der Welt zum Opfer gefallen sind. Während er tagsüber durch die menschenleere Metropole zieht, verbarrikadiert er sich nachts in seinem Haus: Die wenigen Überlebenden haben sich längst in eine leichtscheue Horde tollwütiger Raubtiere verwandelt, die Jagd auf die letzten immunen Menschen macht. So dominiert die nächtlich wiederkehrende Angst, von seinen mutierten Artgenossen gefressen zu werden, und zugleich die Hoffnung, ein Gegenmittel zu finden, das die Wildgewordenen be-

11 Bonß, Wolfgang: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 1995. S. 23. 12 Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Kapitel »Plötzlich allein: Wie übersteht man eine Quarantäne?« aus dem Buch Newiak, Denis: Alles schon mal dagewesen. Was wir aus Pandemie-Filmen für die Corona-Krise lernen können. Marburg: Schüren 2020, S. 89–99.

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sänftigt, ja sie möglicherweise sogar wieder zu richtigen Mitmenschen machen würde, was damit Nevilles große Einsamkeit ein Ende setzen würde. Ähnlich ergeht es dem einstigen Polizisten John Dorie in der Folge »Laura« des Erfolgsprequels »Fear The Walking Dead« (S4E5). Der frühere Gesetzeshüter führt nach der Zombieapokalypse, in der es kein Gesetz mehr zu behüten gibt, ein bescheidenes Leben in einer zurückgezogenen Waldhütte (vgl. Abb. 1): Abgesehen von seinen strikten Rhythmen muss er sich nur darum kümmern, dass die gelegentlich vom Fluss angespülten bissigen Untoten rechtzeitig beseitigt werden – bevor sich dann zwischen die »Vergangenen« eine bewusstlose verwundete Frau mischt, die sein einsames Dasein durcheinanderwirbelt. Auch Neville bekommt am Ende von »I Am Legend« unverhofften Besuch von zwei Überlebenden, die ihn zumindest kurzzeitig wieder das Gefühl vermitteln, dass die lange Zeit der Einsamkeit nicht umsonst war.

Abbildung 1: In der Episode »Laura« von »Fear The Walking Dead« (S4E5, 4. Minute) hat sich John Dorie mit seinem autarken Einsiedlerdasein und mit der damit verbundenen Einsamkeit so gut es geht arrangiert. Wichtigste Voraussetzung bleibt, selbst seinen Alltag bewerkstelligen und für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können.

Solange sie jedoch ohne Gesellschaft auskommen müssen, versuchen die beiden Männer, irgendwie ihr einsames Dasein durchzustehen. Die Jagd nach den inzwischen in den Straßenschluchten von Manhattan herumspringenden Hirschen ist zwar selten erfolgreich, dafür türmt Dr. Neville einen beachtlichen Vorrat von haltbaren konservierten Lebensmitteln auf. In den verlassenen Wohnungen findet sich gelegentlich noch eine Büchse mit Fisch und Fleisch, die der Forscher in seiner Villa nach einem bestimmten System lagert: Ergattert er etwa bei seinen täglichen Touren ein Glas Pasta-Sauce, prüft er das Mindesthaltbarkeitsdatum

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der Ware, um es im Regal so einzusortieren, dass stets die kurz vor dem Ablaufen stehenden Produkte zuerst aufgebraucht werden. Jede Ecke seines Anwesens ist mit Lebensmitteln zugestellt, was ein ausgeklügeltes Lagermanagement erforderlich macht. Zugleich erlaubt ihm diese Vorratshaltung, keine unsicheren Entscheidungen aus der Not heraus treffen zu müssen sowie auch bei Bedarf hilfsbedürftige Personen aufnehmen zu können. Zumindest erübrigen sich Beschaffungsgänge für Nudeln und Toilettenpapier inmitten der heißen Phase einer Pandemie, wenn man vorher zumindest einen kleinen Vorrat angelegt hat, mit dem man einige Wochen auch ohne Einkäufe überbrücken kann. Der genügsame John Dorie hat in seiner Hütte hingegen zwar kaum Platz, um große Vorräte anzulegen, dafür aber das Glück, flussaufwärts einen voll ausgestatteten Tankstellen-Shop zu kennen, zu dem er immer dienstags paddelt, um »Besorgungen« zu machen. Statt den ganzen herrenlosen Laden einfach zu plündern, nimmt er sich jede Woche nur genau so viel, wie er wirklich benötigt und verbrauchen kann, allein schon aus Respekt vor dem verschollenen einstigen Eigentümer. Als einstiger Wild-West-Animateur weiß Dorie natürlich, sich ein kleines Gemüsebeet anzulegen und im Wald die richtigen Kräuter einzusammeln, ein paar Hühner zu halten und die Schätze des Flusses zu nutzen, wodurch er seinen Speiseplan etwas aufwerten kann. Zwar mangelt es ihm sichtlich an Kochkünsten, jedoch sorgt allein schon das Bewusstsein, in bestimmten Grenzen autark seinen eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können, für eine gewisse Sicherheit und Entspannung, was ihm die Möglichkeit gibt, trotz großer Einsamkeit seinen Alltag alles in allem optimistisch gestalten zu können. Auch der Stadtmensch in »I Am Legend« hat gelernt, den seit Jahren ungepflegten Central Park, der noch kurz zuvor zum Massengrab umfunktioniert wurde, wieder produktiv nutzbar zu machen und zumindest einige Gemüsearten anzupflanzen. Auf diese Weise kann er, ganz wie Dorie, seinen sonst vorwiegend aus Konserven bestehenden Ernährungsplan zumindest durch einige Karotten ergänzen. Da das ursprüngliche »Metropolitan Museum of Art« nicht mehr dem ursprünglichen Zweck dient, sitzt er gelegentlich vor dem antiken Tempel von Dendur und angelt die Zierfische aus dem Becken (vgl. Abb. 2). Für den tagesgerechten Bedarf wachsen frische Kräuter in einer kleinen Gewächsmaschine direkt in der Küche. So können Dorie und Neville, wenn auch auf unterschiedliche Weise, über Jahre hinweg ein fast autonomes Selbstversorgerdasein mit relativ ausgewogener Ernährung führen, was ihnen zumindest die Sorge nimmt, nicht satt zu werden. Während dabei Fleisch notgedrungen nicht den Mittelpunkt der Ernährung bildet, gehört auch Alkohol selbstverständlicher Weise bei keinem der beiden zum Speiseplan. Das Essen ist jedoch nicht nur Mittel zum reinen Überleben, sondern für beide zentral für den Erhalt ihrer psychologischen Gesundheit. Auch wenn die Kost recht eintönig ist und es an (menschlicher) Gesellschaft mangelt, ist es den

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Abbildung 2: Im Teich des Museums, wo einst Besuchende die Schätze der Menschheitsgeschichte bestaunten, findet der einsame Stadtmensch in »I Am Legend« (44. Minute) die letzten lebendigen Fische und damit ein wenig Frieden – denn beim Fischen kann man allein sein, ohne einsam zu sein.

beiden letzten Überlebenden wichtig, das Ritual der Mahlzeit zu pflegen, dadurch ihren Tag zu strukturieren und einen Rest an sozialer Normalität aufrechtzuerhalten, wie sie sie aus präapokalyptischen Zeiten kennen. Dr. Neville bereitet sich etwa seine Speisen stets in reinweißer Schürze zu (obwohl man die waschen muss), richtet sie sich und seinem vierbeinigen Freund stilvoll auf Tellern an (obwohl das Abwaschen eigentlich Trinkwasser verbraucht) und setzt sich gepflegt an den Esstisch, um in Ruhe – umgeben von Van Goghs, Dalis und Monets – sein Dinner einzunehmen (obwohl das mehr Zeit kostet, als schnell im Stehen nur einen Imbiss einzunehmen). Während sich der einstige Familienvater wohl daran erinnert, wie er früher mit Frau und Kind an diesem Tisch die Mahlzeiten des Tages einnahm, laufen im Fernsehen auf Kassette aufgezeichnete Abendnachrichten eines Lokalsenders, die trotz ihrer mangelnden Aktualität und inhaltlichen Banalität zumindest ein Mindestmaß moderner Lebensführung und gesellschaftlicher Teilhabe suggerieren: Immer wieder sieht er die Bilder der Weihnachtsvorbereitungen in New York, als die Welt noch ›in Ordnung‹ war, und kann so einen Bezug zu den modernen Gepflogenheiten und Ritualen aufrechterhalten, die ihm durch die einsamen Zeiten der Nachmoderne helfen. Auch für den ländlich lebenden John Dorie sind mit der Beschaffung, Zubereitung und dem Verzehr der Mahlzeiten klare Tagesroutinen verbunden: Morgens gibt es ein Spiegelei mit Kaffee, mittags eine Fischsuppe aus den eigenen Fängen, abends auf dem Sofa selbstgemachtes Popcorn, das er manchmal durch geschmolzene »Werthers Echte«-Bonbons mit Krokant anreichert. Das weitestgehende Aufrechterhalten der aus früheren Zeiten bekannten Ernährungsgewohnheiten und -rituale erlaubt den beiden Herren das Bewusstwerden, dass einst ein Leben in Ordnung, Sicherheit und Gemeinschaft möglich war, sowie den Verlust der Moderne und der geliebten Menschen besser zu verkraften. An den

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verbliebenen langhaltbaren Marken-Produkten, heimeligen Karamell-Bonbons und ihren typisch hochindustriellen Verpackungen, die aus einer kritischen spätmodernen Perspektive vielleicht als ungesunde Zuckerbomben in unökologischer Plastikhülle erscheinen, haftet inmitten der Krise ein Hauch moderner Gewissheiten und Sicherheiten, die in der Erinnerung die einsamen Tage erträglicher machen (vgl. Abb. 3)

Abbildung 3: Die aus modernen Zeiten übrig gebliebenen Sahnebonbons sind in »Fear The Walking Dead« (S4E5, 4. Minute) nicht nur eine werbewirksame Produktplatzierung, sondern bilden für die Hauptfigur John Dorie auch eine Brücke von der einsamen Nachmoderne zu den mit Gemeinschaft assoziierten (und dazu verklärten) Zeiten modernen Wohlstandlebens.

Beide Männer versuchen also ihr Leben weiterzuführen, als wäre es gar nicht zur Apokalypse gekommen, und halten sich an ihren geordneten Tagesabläufen fest, um nicht auf zermürbende Gedanken zu stoßen, die das eigene Leben in Frage stellen könnten. Obwohl kaum dringende Aufgaben anfallen, lassen sich daher beide Herren – wenn sie nicht sowieso schon wach sind – täglich wie zu einem gewöhnlichen modernen Arbeitstag aus dem Bett klingeln. Für John Dorie beginnt der Tag mit dem Tanz eines schrecklich kitschigen Plastikfisches, der singend auf dem Brett eines Scherzweckers zappelt. Nach der Morgenhygiene, dem Aufräumen des Bettes, einer Runde Scrabble gegen sich selbst (was zu ausgiebigen Selbstgesprächen führt, die den Geist wach und die Sprache lebendig halten) und dem Frühstück an frischer Luft verlangt der Haushalt sein Recht: Der Garten muss gepflegt, der Wasservorrat erneuert und das Ufer von den Untoten gereinigt werden. Wenn er trotz der körperlichen und psychischen Anstrengungen des Tages nachts mal wieder nicht einschlafen kann, reinigt er seine beiden Revolver, die er nach einer traumatisierenden Erfahrung nie benutzt.

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Abgesehen von der Struktur, die dieses Tagesprogramm bietet, ist es auch die Treue zum Versprechen sich selbst gegenüber, die Waffen nur noch in höchster Gefahr zu benutzen, die John Dorie eine Verbindung zum einstigen Leben mit seinen sozialen Verpflichtungen und Verantwortungen spüren lässt. Bei Dr. Neville piepst morgens eine Digitaluhr, es folgen ein ausgiebiges Frühsportprogramm (gemeinsam mit dem Hund, der auf dem Laufband daneben strampelt), einige Stunden produktiver Forschungsarbeit und das Warten auf das Signal der Armbanduhr, das vor dem gefahrbringenden Sonnenuntergang warnt. Bis dahin grast der New Yorker seine Stadt ab, läuft mit seinem vierbeinigen Kumpel um die Wette und fängt mit ausgetüftelten Tricks aggressive Mutanten als Versuchsobjekte ein, um an ihnen die Besänftigungsmethoden zu erproben. Dabei spielt körperliche Ertüchtigung für beide Männer eine zentrale Rolle: Während sich der Großstadtmensch – wie man es einst in den modernen Fitnessstudios tat – mit Klimmzügen stählt, seine überschüssige Energie auf dem Cardiotrainer abbaut und gelegentlich auf einem Flugzeugträger von der Tragfläche eines Kampfjets Golfbälle ins Nichts abschlägt, bringt der ländliche Alltag von John Dorie automatisch genug körperliche Ertüchtigung mit sich, die sich sinnvoll in den Tagesverlauf eingliedert. Ohne körperliche Herausforderungen, so erzählen es die filmischen Pandemie-Geschichten, wären die einsamen Helden nicht nur aufgrund der physiologischen Folgen, sondern auch durch den Mangel an psychischer Auslastung verzweifelt, da das Leben in der reiz- und veränderungsarmen Einsamkeit einfallsreiche Kompensationsstrategien erfordert.

Abbildung 4: Für den ›letzten Menschen‹ in Manhattan von »I Am Legend« (21. Minute) wird das Spiel mit den Menschimitaten im Videoverleih zur letzten Gelegenheit für interpersonelle Alltagsbegegnungen. Einsamkeit macht erforderlich, sich Substitute des Sozialen einzurichten. Während die Puppe unbelebt bleibt, bieten nur Film und Fernsehen zweckmäßige Ersatzgemeinschaften.

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Noch wichtiger als die Bewegung werden für die einsamen Letzten jedoch die Ersatzgemeinschaften, die sie sich aufwändig selbst organisieren müssen. Dabei greifen beide Männer in ihren sehr verschiedenen nachmodernen Welten interessanterweise auf sehr ähnliche, in der Moderne eingeübte Verfahren zurück. Neben den nostalgischen Klängen von unbeschwerten Reggae-Songs, alten Familienfotos am Kühlschrank und dem guten alten Gesellschaftsspiel werden für den urbanen Forscher wie den ländlich lebenden Polizisten die regelmäßigen Gänge zur Videothek zum wichtigsten Mittel, sich einen Gesellschaftsersatz zu verschaffen. Natürlich führt der Besuch eines Videoverleihs inmitten einer post-zombieapokalyptischen Welt zu kuriosen Situationen, die sich in beiden Fiktionen ähneln. Dr. Neville etwa bringt seine entliehenen DVDs jeden Tag in die Videothek zurück, wo er den anderen dort anwesenden ›Stammkunden‹ freundlich zuwinkt, den ›Kassierer‹ Hank mit »Ey, wie läuft’s, Alter?« grüßt und sich mit verschmitztem Blick zwischen den flotten ›Damen‹ durchschlängelt. Bei diesen Gesprächspartnern handelt es sich jedoch natürlich nicht um andere (erstaunlich stumme) Überlebende, sondern lediglich um zurechtgestellte Schaufensterpuppen, die der Alleingelassene im Geschäft so choreografiert hat, dass er bei seinen täglichen Besuchen wenigstens einige wenige erwachsene menschliche Worte wechseln kann, während er sich sonst vorwiegend mit dem Haustier (und damit letztlich mit sich selbst) unterhalten muss. Für Herzklopfen sorgt bei ihm eine weibliche dunkelhaarige Gestalt mit 70er-Jahre-Blick, die sich regelmäßig in der Ecke für erotische Filme aufhält und die er sich aber nicht ›anzusprechen‹ traut (vgl. Abb. 4). Über seine gespielte Schüchternheit und nach Jahren der Einsamkeit auch im Spiel recht unbeholfenen Annäherungsversuche unterhält sich der ›Aufreißer‹ dann mit der jungen Schäferhündin, die für ihn zunehmend zu einem Ersatzkind wird: Er passt auf, dass Sam das ungeliebte Gemüse auffrisst, sich regelmäßig in der Wanne einer Wäsche unterziehen lässt und nicht in dunkle fremde Gebäude rennt. Nachdem es ihm nicht mehr gelang, seine Ehefrau und Tochter vor der vollständigen Abriegelung von Manhattan noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, ist die Hündin nun zur letzten lebendigen Zeitgenossin geworden: Auch wenn sie nicht sprechen kann, kann sie doch zumindest auf seine menschlichen Gesten, die liebevollen Bemühungen und Zuwendungen mit Dankbarkeit und Folgsamkeit reagieren – und Dr. Neville damit das Gefühl geben, auch in Einsamkeit ein Mensch zu sein. Es ist auch die Treue des Herrchens der Hündin gegenüber, die ihn dann nach dem plötzlichen Tod der Vierbeinerin zurück in die Videothek führt, wo er sich schließlich aus letzter Kraft überwindet und – wie der Hündin Sam versprochen – der Schaufensterpuppe unter Tränen »Hallo« sagt, im verstörenden Bewusstsein seiner neuen totalen Einsamkeit, dass er wohl niemals wieder von irgendwem irgendeine Antwort bekommen würde.

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Für John Dorie sind die mit dem Filmsehen verbundenen Rituale selbst, die ihm gelegentlich das belastende Gefühl des Alleinseins austreiben oder es zumindest betäuben. Die Videoauswahl der kleinen Tankstelle ist zwar nicht mit dem umfangreichen Angebot der Metropole vergleichbar, dafür aber gibt es hier auf dem Land auch kein ausgeklügeltes (und potentiell entfremdendes) Verbuchungs- und Bezahlsystem, sondern nur ein Klemmbrett, wo man sich auf Vertrauensbasis selbst einträgt. Desto wichtiger aber ist dem ehemaligen Gesetzeshüter, die einstigen Regeln des Ladens auch dann noch zu würdigen, als es schon gar niemanden mehr gibt, der das einfordern würde: Bringt Dorie eine Kassette zurück, trägt er sich namentlich und eigenhändig in die Ausleihliste ein und gibt dahinter eine kleine Rezension an, die außer ihm selbst aber wohl niemand mehr lesen wird (vgl. Abb. 5). So erscheint in der Tabelle in jeder Zeile hinter dem immer selben Namen stets: entliehen: dienstags; zurückgegeben: dienstags. Nur das Feld mit der Adresse bleibt natürlich frei, denn im kleinen Ort kannten sich sowieso alle persönlich. Das Festhalten an diesen eingeübten sozialen Verbindlichkeiten stabilisiert die empfundene Nähe gegenüber früheren gesellschaftlichen Interaktionen, die bis auf Weiteres nicht mehr zur Verfügung stehen, deren Verlust jedoch Wahnsinn bedeuten würde.

Abbildung 5: Sich in der Leihliste einzutragen entspricht nicht nur John Dories moralischem Ethos, sondern entspringt seinem Wunsch, die Vorstellung einer funktionierenden Gesellschaft auch in Zeiten großer Einsamkeit aufrechtzuerhalten und sich mit ihr dadurch verbunden und aufgehoben zu fühlen (»Fear The Walking Dead«, S4E5, 22. Minute).

Wenn es dunkel wird, sind es dann die Filme in der Flimmerkiste, die dem Einsiedler ein wenig Gesellschaft leisten. Später analysiert er gegenüber seinem Überraschungsgast Laura: »Eigentlich hatte ich vor, mir alle Streifen, die hier

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stehen, in alphabetischer Reihenfolge anzusehen, aber letztlich guckt man immer seine Lieblingsfilme« (»Fear The Walking Dead« S4E5, 22. Minute). Die im Film vertraut wiederkehrenden Figuren, die miteinander typisch menschlich sprechen und interagieren und mit ihrer körperlichen Form nicht nur einander, sondern auch dem Zuschauenden als ein Gegenüber erscheinen, geben das Vertrauen, dass es Gemeinschaften einst doch gegeben haben muss, dass Gemeinschaft möglich ist. Von diesen flackernden Gemeinschaften kann man auch dann noch zehren, wenn sie schon längst wieder vergangen sind, und man darf durch sie darauf hoffen, dass sie vielleicht zurückkehren werden, wenn die Krise einst überstanden ist.13 Diese parasozialen Ersatzpräsenzen von Film und Fernsehen, die zwar fiktive, aber gerade dadurch besonders real erscheinende Subjekte in ihren bekannten modernen Rollen als Teil einer gesellschaftlichen Normalität zeigen, helfen dabei, den chronischen Mangel an sozialem Austausch in Zeiten der Pandemie zu verkraften. Allein der Geruch des frischen Popcorns weckt bei John Dorie die Assoziation gelebter Gemeinschaft, wie man sie von Kinobesuchen kennt. Auch für Dr. Neville werden die einsamen Videoabende zur wichtigsten Quelle für das Einfühlen in die so vermissten menschlichen Interaktionen. Als er am Ende seines eigenen Films doch noch auf einige Menschen trifft, hat er zwar schon so weit kommunikativ abgebaut, dass er kaum noch einen kurzen Smalltalk führen kann, zumindest aber bleiben ihm die klugen Sätze der Populärkultur: Er zitiert den einsamen Esel aus Shrek: »›… ich hab doch keine Freunde, und ich werde mich auch nicht allein auf die Socken machen.‹« – Er gesteht ein: »Ich steh auf Shrek.« (»I Am Legend«, 69. Minute) – denn die dortigen fiktionalen Erzählungen, die er vollständig synchronisieren kann, sind so eng mit seiner eigenen realweltlichen Erfahrung von Einsamkeit verbunden, dass sie für ihn ein Angebot zur Reflexion und zum Verständnis seiner eigenen misslichen Lebenslage darstellen. Auch wenn die Ersatzgemeinschaften, die durch das Fernsehgerät zu den einsamen Helden ins Wohnzimmer kommen, den Schmerz der Verluste kurzfristig betäuben können, sind sie natürlich nicht in der Lage, ein menschliches Gegenüber zu substituieren. An beiden Männern nagt ein Gefühl der Verlassenheit, das sie auch mit Film und Fernsehen nicht dauerhaft überspielen können. So befindet sich Dr. Neville auf einer ständigen, scheinbar vergeblichen Suche nach anderen Überlebenden, die er durch eine tägliche Radio-Übertragung ausfindig machen möchte. Wie versprochen findet er sich jeden Mittag aufs Neue am Hafen ein, wo er mit Blick auf die gesprengten Brücken, auf die ver13 Vgl. Newiak, Denis: Fernsehserien gegen spätmoderne Einsamkeiten: Formen telemedialer Vergemeinschaftung am Beispiel von »13 Reasons Why«. In: Fernsehwissenschaft und Serienforschung. Theorie, Geschichte und Gegenwart (post-)televisueller Serialität. Hrsg. von Denis Newiak, Dominik Maeder und Herbert Schwaab. Wiesbaden: Springer VS 2021, S. 103– 157.

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Denis Newiak

gangenen Insignien der Hochmoderne, auf andere Überlebende wartet. Auch John Dorie, der sich zwar mutig, aber erschöpft von einer einsamen Woche zur nächsten schleppt, gewinnt erst wieder ein wenig Lebensfreude, als er auf die verletzte und damit hilfsbedürftige »Laura« trifft, um die er sich kümmern kann, mit der er gemeinsam einen seiner gebratenen Fische essen und abends mit neuen Popcornsorten experimentieren kann. Auch wenn diese Begegnung nicht von langer Dauer ist und Laura genauso klanglos wieder verschwindet, wie sie aufgetaucht ist, treibt ihn die Erinnerung an geteilte Zeiten an, sich auf die Suche nach ihr zu machen – weiterzuleben, um sie wiederzusehen.

Abbildung 6: Die regelmäßigen Video-Tagebucheinträge in »I Am Legend« (37. Minute) dienen nicht nur als Gedächtnisstütze und Protokoll für andere Forschende, sondern viel mehr als festes Ritual, das – wie ein Gebet – der Reflexion der eigenen Gedanken und Wünsche dient und dabei ein geselliges Gespräch mit sich selbst ermöglicht.

Dr. Neville hängt hingegen an der vagen Hoffnung auf ein Gegenmittel, das die wenigen tollwütigen Überlebenden retten könnte, sofern diese noch zu retten wären. Während sein überraschender Gast den katastrophalen Untergang der sündig-dekadenten Moderne als scheinbare ›Rache Gottes‹ missversteht, steht für den Nietzscheaner fest: »Gott hat das nicht getan …, sondern wir. … Es gibt keinen Gott.« (»I Am Legend«, 71. und 77. Minute) – Dieses erdrückende, für die Moderne typische Gefühl allumfassender Verlassenheit in einer durchrationalisierten gottlosen und damit trostlosen Welt übertönt der einsame Held mit dem letzten Glauben daran, das Schicksal der Menschheit durch eigene lobenswerte Taten zurückerobern zu können, durch individuell beeinflussbare Entscheidungen den scheinbar unausweichlichen Untergang der Moderne auszutricksen. Dieser fast aussichtslose Kampf gibt ihm jeden Tag aufs Neue die Kraft, nicht nur einfach zu überleben, sondern sich zielorientiert und gewissenhaft einer sinnstiftenden Aufgabe zu widmen, was nicht nur seinem Leben Bedeutung verleiht, sondern sich schließlich für den Rest der menschlichen Zivilisation als nützlich herausstellt (vgl. Abb. 6). Nachdem John Dorie sich vor allem damit befasst,

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irgendwie das Leben am Laufen zu halten und den ständigen Zustrom an Untoten in Schach zu halten, gewinnt sein einsames Leben erst wieder an Sinn, als Laura eintrifft und seine Unterstützung benötigt, denn »wenn du lebst, fühlt sich die ganze Welt irgendwie so lebendig an« (»Fear The Walking Dead«, S5E5, 42. Minute). Diese Hoffnung darauf, einen Beitrag zur Rückkehr zu den gewohnten gesellschaftlichen Verhältnissen des modernen Lebens oder gar zur Überwindung der Pandemie leisten zu können, wird zur wichtigsten Triebkraft, die die einsamen Helden ihr Alleinsein aushalten lässt. Diese Aussicht auf Sinn inmitten der Sinnlosigkeit wird zum Leitmotiv der Pandemiefilme, das die Dinge am Laufen hält: »Wir dürfen nicht warten, nicht in einer Welt wie dieser. … Noch leben wir. Wir sind Teil dieser Welt. Verschwenden wir keine Zeit.« (»Fear The Walking Dead«, S4E5, 44. Minute) Die Corona-Pandemie hat sich bei allen schrecklichen Verlusten und Ängsten in vielerlei Hinsicht auch als Lehrstück für den modernen Menschen gezeigt, etwa wie viel im Bereich der Digitalisierung der Bildung über die Jahre liegen geblieben ist, wie sehr individuelle Interessen und ein solidarisches Handeln (etwa beim Infektionsschutz oder beim Impfen) unmittelbar voneinander abhängen oder dass trotz der scheinbaren Sicherheiten des modernen Lebens nichts selbstverständlich ist, dass unsere Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung genauso anfällig für Störungen sind wie die Versorgung mit fließendem Wasser und Elektrizität. Die beiden in diesem Beitrag vorgestellten Herren erteilen den modernen Menschen noch eine weitere wichtige Lektion: Weil Moderne und Einsamkeit so eng miteinander verbunden sind, weil die Wunder der Moderne nicht ohne Einsamkeit zu haben sind, wird der moderne Mensch das moderne Leben – im Alltag wie im Moment der Krise – nur dann durchstehen können, wenn er die Einsamkeit, zumindest vorübergehend, auszuhalten lernt.14 Gerade weil der Mensch auf Gemeinschaften angewiesen ist, kann ihm die Unfähigkeit, das Alleinsein zeitweilig zu ertragen, zum Verhängnis werden. Mit fortschreitender Modernisierung werden sich nicht nur die Einsamkeiten verschärfen, sondern auch die Lebenssituationen, in denen sie sich nicht immer ohne Weiteres abwenden lassen werden können. Nur wenn der moderne Mensch, wie die filmischen Figuren in der nachmodernen Welt, sich dieser Gewissheit nicht länger verschließt und Wege findet, mit diesem Bewusstsein umzugehen, wird die Moderne eine Chance haben, nicht an ihren eigenen Widersprüchen zu zerbrechen.

14 Vgl. das Schlusskapitel in Newiak, Denis: Einsamkeit in Serie. Televisuelle Ausdrucksformen moderner Vereinsamung. Wiesbaden: Springer VS 2022.

Stephanie Lotzow

Ludonarrative Inszenierungen von Pandemien und ihre Rezeption am Beispiel von »The Last of Us« (2013) und »Plague Inc.: Evolved« (2012)

1.

Einleitung

Die spielerische Aushandlung von Pandemien in digitalen Spielen ist kein neues Phänomen. Ähnlich wie in Literatur und Film werden auch in digitalen Spielen verschiedene Formen und Ausprägungen von Infektionskrankheiten, die letztlich auch eine Pandemie zur Folge haben können, thematisiert. Im Unterschied zu den vorgenannten Medien werden die Phänomene allerdings ludisch (spielerisch) oder gar ludonarrativ1 inszeniert. Das Spektrum von Infektionskrankheiten reicht dabei von Seuchen aller Art wie in »Plague Inc.: Evolved« (2012)2 über eine Pilzinfektion wie in »The Last of Us« (2013)3 oder die Spanische Grippe wie in »Vampyr« (2018)4 bis hin zur Pest wie in »A Plague Tale: Innocence« (2019)5, um nur einige wenige populäre Spieltitel zu nennen. Gleichwohl gewinnen digitale Spiele, in denen Infektionskrankheiten eine zentrale Rolle einnehmen, mit dem Aufkommen von Covid-19 (erneut) an Aufmerksamkeit. Aus systemtheoretischer Perspektive lassen sich diesbezüglich für das ›Handlungssystem Spiel‹, das die Handlungsrollen Produktion, Distribution und Rezeption umfasst, folgende Feststellungen treffen: Erstens kommt es während der CoronaPandemie zu einer vermehrten Produktion von neuen digitalen Spielen, die Infektionskrankheiten im Allgemeinen oder Covid-19 im Spezifischen themati-

1 Ludonarrativ meint in diesem Zusammenhang, dass zur Analyse digitaler Spiele nicht nur ausschließlich Bezug auf die Geschichte eines Spiels und die dazugehörigen Parameter (u. a. Figuren, Ereignisse, Ort und Zeit) genommen wird – sofern das Spiel überhaupt eine Geschichte erzählt oder anderweitig narrativ begleitet wird –, sondern, dass gleichwohl auch spielerische, also ludische Aspekte wie etwa die Spielmechanik, das Spielziel und ludische Handlungen, die Spielerinnen und Spieler ausführen können, bei der Analyse berücksichtigt werden sollen, um digitalen Spielen in ihrer Analyse gerecht zu werden. 2 Plague Inc.: Evolved. Ndemic Creations 2012. (PC u. a.). 3 The Last of Us. Naughty Dog. Sony Computer Entertainment 2013. (PS3/PS4). 4 Vampyr. DONTNOD Entertainment. Focus Home Interactive 2018. (PC u. a.). 5 A Plague Tale: Innocence. Asobu Studio. Focus Home Interactive 2019. (PC u. a.).

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sieren.6 Zweitens kann die Games-Branche als Profiteur7 der Pandemie bezeichnet werden, die wegen Quarantäne- und Lockdown-Maßnahmen sowohl ein erhöhtes Vermarktungsangebot als auch einen erhöhten Verkauf von Spielen verzeichnet.8 Drittens zeichnet sich ein Zulauf an Spielerinnen und Spielern ab, die entweder vermehrt selbst aktiv spielen oder aber Spiele in Form von »Let’s Plays«9 auf YouTube oder Live-Streams auf Twitch rezipieren, nicht zuletzt als Vorbeugung gegen Vereinsamung, Isolation und Langeweile.10 Im Rahmen des Call for Papers der 12. Hans Werner Richter Literaturtage 2020 wurde die Pandemie als »gesellschaftlicher Störfall« gefasst, deren grenzüberschreitende Folgen für das ›Teilsystem Kultur‹ im Fokus der Analysen standen.11 In diesem Zusammenhang ist mitunter nach Formen der Inszenierungen von Pandemien in unterschiedlichen Medien, darunter auch das ›Symbolsystem Spiel‹ mit seinen Stoffen, Themen und Darstellungsweisen, gefragt worden. Der vorliegende Beitrag greift diese Frage auf und richtet den Blick auf die Antizipation zivilisatorischer Störfälle in digitalen Spielen, die anhand eines Vergleichs zweier Spiele exemplarisch aufgezeigt werden soll. Mit Naughty Dogs’s SurvivalAction-Adventure »The Last of Us« (2013) und Ndemic Creations’ Strategiespiel »Plague Inc.: Evolved« (2012) werden im Folgenden zwei kontrastive Beispiele 6 Stellvertretend für eine Vielzahl an Spielen seien hier aufgrund ihrer positiven Bewertungen auf der digitalen Distributionsplattform Steam die Spiele »COVID: The Outbreak« (Mai 2020) von Jujubee S.A., »Covid Tale: Ignorance« (Juni 2020) von Bday Game und »Distancing« (Februar 2021) von Jan Place Jakobsen/Kristoffer Juel Friis/Jonas Skjønnemann/Ignacy Grabowski genannt. Neben gänzlich neuen Produktionen werden darüber hinaus auch für bereits veröffentlichte Spiele neue, zusätzlich herunterladbare Inhalte (DLCs) angeboten wie etwa die Erweiterung »Plague Inc.: Evolved. The Cure« (2021). 7 Vgl. weiterführend den Beitrag zu »Das System der Leitmedien als Profiteur und Verlierer der Corona-Störung« von Michael Meyen in diesem Band. 8 Bezüglich des Vermarktungsangebots sei beispielhaft auf Spiele-Bundles verwiesen, etwa das »Calm Quarantine«-Bundle, das insgesamt 25 Spiele umfasst und auf der digitalen Distributionsplattform Steam mit einer Preisreduzierung von 78 % angeboten wird (Stand: 14. 08. 2021) und damit zum Kauf anregen soll. Zur Beschreibung des Bundles heißt es: »In times like this, with the covid-19 outbreak, games can be a great source of calmness. A way to keep your mind in peace in such anxious times […].« (letzter Zugriff: 14. 08. 2021). Auf die Games-Branche als Gewinner verweist der Beitrag »Games-Branche. Gewinner im Lockdown« (2021) der Tagesschau.

(letzter Zugriff: 14. 08. 2021). 9 »Let’s Plays« sind kommentierte Videoaufnahmen von Spielen, bei denen sich Spielerinnen und Spieler oftmals zusätzlich selbst filmen, um ihre Reaktionen auf die Spielinhalte festzuhalten. Die Aufnahmen werden anschließend auf Online-Plattformen, insbesondere auf YouTube, für die Öffentlichkeit hochgeladen. 10 Vgl. »Games-Branche. Gewinner im Lockdown«. Zum Zuwachs an Spielerinnen und Spielern in Bezug auf »Plague Inc.: Evolved« siehe den vierten Abschnitt in diesem Beitrag. 11 Vgl. dazu den Call for Papers im Beitrag »Der ›Störfall Pandemie‹ und seine Folgen – Vorbemerkungen« von Carsten Gansel und José Fernández Pérez in diesem Band.

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einer ludischen bzw. ludonarrativen Inszenierung von Pandemien in digitalen Spielen einander gegenübergestellt, die mit dem Aufkommen von Covid-19 erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten. Der inhaltliche Kontrast beider Spiele ergibt sich dabei insbesondere aus dem Spielziel: Während es in »The Last of Us« darum geht, einer verheerenden Infektion zu entkommen und die Entwicklung eines Impfstoffes voranzutreiben, ist es das Ziel in »Plague Inc.: Evolved« die gesamte Menschheit mit einem tödlichen Pathogen zu infizieren und die Entwicklung eines Impfstoffes zu verhindern. Die erneute Beachtung von »The Last of Us« steht dabei im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des zweiten Teils des Spiels, der im Juli 2020 erschienen ist. »Plague Inc.: Evolved« hingegen wurde im Zuge der Corona-Pandemie von Spielerinnen und Spielern wieder »neu« entdeckt. So kommt es in der internationalen »Let’s Play«-Szene acht Jahre nach der Veröffentlichung von »Plague Inc.: Evolved« zu einem regelrechten Hype um das Spiel, während die Cyberspace Administration of China das Spiel aufgrund von illegalen Spielinhalten vom chinesischen Markt genommen hat. Dies gibt Anlass dazu, um neben der Inszenierung von Pandemien im Symbolsystem Spiel auch nach der Handlungsrolle der Rezeption im Handlungssystem Spiel zu fragen, da sich offensichtlich unterschiedliche kulturelle Handlungsweisen im Umgang mit digitalen Spielen abzeichnen, die Pandemien spielerisch inszenieren.

2.

Die imaginierte Pandemie als Selbstbeobachtung von Gesellschaft und Systemstörung

Krankheit steht grundsätzlich in einer binären Opposition zur Gesundheit. Die Gesundheit des Menschen bildet dabei die gesellschaftlich gesetzte Norm, während Krankheit die Abweichung von eben dieser Norm bezeichnet.12 Betrachtet man die Pandemie als ›gesellschaftlichen Störfall‹, so meint dies aus systemtheoretischer Perspektive also stets die Devianz zu der geltenden Norm eines kulturellen Gesellschaftssystems, wobei Gesundheit den Zustand der Ungestörtheit und Krankheit den Zustand der Störung markiert. Die »Krankheit als biopsychosoziale Disruption des Normativen«13 fordert daher stets kurative Maßnahmen der Entstörung (Heilung) heraus, um den Normalzustand (wieder) herzustellen. Die Pandemie als ansteckende Infektionskrankheit kann demzufolge als globale bzw. gesamt gesellschaftliche Störung gefasst werden, die die 12 Görgen, Arno: Funktionale Störungen der Normalität. Krankheit in der Populärkultur. In: Bechmann, Sascha (Hrsg.): Sprache und Medizin. Interdisziplinäre Beiträge zur Medizinischen Sprache und Kommunikation. Berlin: Frank & Timme 2017, S. 118ff. 13 Ebd., S. 223.

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Toleranzgrenzen von Gesellschaftssystemen aufzeigt, irritiert oder gar (temporär oder kontinuierlich) überschreitet. Mit dieser systemtheoretischen Auffassung von Pandemien als Störfall sind bereits Parameter impliziert, die im Zuge der Analyse von Störungen relevant sind. Carsten Gansel konstatiert zur Analyse von Störungen für das Handlungsund Symbolsystem Literatur drei Parameter, anhand derer Aussagen über a) die Topizität (Ort des Auftretens der Störung), b) die Temporalität (Zeitpunkt und Dauer des Auftretens der Störung) sowie c) die Intensität der Störung (Aufstörung, Verstörung und Zerstörung) getroffen werden können.14 Es sind dies Paramater, die im Zuge der Analyse von Störungen auch für das Symbolsystem digitaler Spiele geltend gemacht werden können und im Fortgang dieses Beitrags an den Spielen »The Last of Us« und »Plague Inc.: Evolved« untersucht werden sollen. Mit Rückgriff auf Niklas Luhmanns Systemtheorie betont Gansel nicht zuletzt das konstruktive Potenzial von Störungen und verweist darauf, dass medialen Darstellungsformen von Störungen zentrale Aufgaben zukommen, zu denen etwa die Selbstbeobachtung von Gesellschaft sowie damit einhergehend das Sichtbarmachen des bislang Unsichtbaren gehört. Nach Luhmann schaffen sich moderne Gesellschaftssysteme mittels der Künste Formen der Autopoiesis, »um sich selbst zu beobachten: in sich selbst gegen sich selbst«.15 Dabei wird mit der Verarbeitung von Stoffen und Themen über unterschiedliche mediale Darstellungsformen die »( jedermann geläufig[e]) Realität mit einer anderen Version derselben Realität«16 konfrontiert. So bilden auch digitale Spiele eine alternative (bisweilen auch potenziell mögliche) virtuelle Realität ab, die – in dem Moment, da das Spiel rezipiert wird – als Spiegel auf die Gesellschaft zurückgeworfen wird. In diesem Sinne können auch digitale Spiele als Reflexionsorgan der Gesellschaft betrachtet werden, die mitunter selbstreflexive (Kommunikations-)Prozesse in Gang bringen können, sei es bei den Figuren im Spiel oder bei Spielerinnen und Spielern, die das Spiel rezipieren. Das Sichtbarmachen des bislang Unsichtbaren, das heißt das Imaginieren und Durchspielen von Störungen im digitalen Spiel, bietet damit die Möglichkeit, ihre Darstellungsformen im Symbolsystem Spiel analytisch zu erfassen, um darauf aufbauend auch Rückschlüsse und mögliche Auswirkungen auf das Handlungssystem Spiel bezüglich Produktion, Distribution und Rezeption zu ziehen. Damit ist ein reziprokes Verhältnis von Handlungs- und Symbolsystem Spiel

14 Vgl. Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Ders./ Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 35. 15 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 864. 16 Luhmann, Niklas: Schriften zur Kunst und Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 144.

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angedeutet, das im Sinne von Luhmann als System-zu-System-Beziehung gefasst werden kann. In ihrer Monographie »The Future as Catastrophe. Imagining Disaster in the Modern Age« (2018) greift Eva Horn diesen Systemgedanken in ähnlicher Weise in Bezug auf die mediale Darstellung imaginierter Katastrophen auf: »Catastrophes are emergencies that suddenly claim to unveil the ›true face‹ of everything that had already been looming as a danger. In predicting or imagining a catastrophe, what had existed only in hypotheses, statistical probabilities, or prognoses all of a sudden appears with a clear and palpable shape«.17

Damit verweist Horn ebenfalls auf die bereits angesprochene Selbstbeobachtung von Gesellschaft über das Voraussagen oder Imaginieren von Katastrophen.18 Ebenso weist sie darauf hin, dass Katastrophen zu einer Störung des Gesellschaftssystems (»the collapse or disruption of highly complex systems«)19 führen können. Dies setzt voraus, dass zunächst ein Zustand der Ungestörtheit herrscht, der durch den Eintritt einer Katastrophe in ein Ungleichgewicht gerät und – sobald ein Wendepunkt erreicht ist – eine Destabilisierung oder gar einen Zusammenbruch des Gesellschaftssystems zur Folge haben kann: »[The tipping point – S.L.] signifies the point at which a previously stable condition suddenly becomes unstable, tips over, and turns into something qualitatively different«.20 Das Auftreten einer Katastrophe stellt damit die Funktions- und Verhaltensweise gesellschaftlicher Teilsysteme wie individueller psychischer Systeme auf die Probe, die Horn wie folgt auf den Punkt bringt: »Disasters thus illuminate society under stress and reveal the collective or individual reactions to this stress, from self-sacrifice and solidarity to the reckless fight for survival. Catastrophes test human beings, their strength and resilience, the sustainability of their bonds, and the ability of their social institutions to withstand a crisis«.21

Was Horn in Bezug auf Katastrophen im Allgemeinen aufzeigt, gilt ebenso für die Pandemie im Besonderen. Damit sei nachfolgend auf die mediale Darstellung von Krankheiten und ihrer theoretischen Auffassung als Störung zurückgekommen. Im Kontext medialer Krankheitsrepräsentationen in Filmen, Serien und digitalen Spielen22 verweist Arno Görgen ähnlich wie Gansel darauf, dass 17 Horn, Eva: The Future as Catastrophe. Imagining Disaster in the Modern Age. New York: Columbia University Press 2018, S. 11. 18 Vgl. ergänzend dazu den Beitrag von Caroline Rosenthal in diesem Band. 19 Horn. The Future as Catastrophe. 2018, S. 8. 20 Ebd., S. 7. 21 Ebd., S. 12. 22 Vgl. weiterführend auch den Sammelband von Görgen, Arno/Simond, Stefan Heinrich: »Krankheit in digitalen Spielen. Interdisziplinäre Betrachtungen«. Bielefeld: transcript 2020, in dem erstmals die Disziplinen Medical Humanities und Game Studies zusammengeführt werden.

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Störungen »im Rahmen der Erzählung zentrale Aufgaben zukommen«.23 Unter diesem Gesichtspunkt spricht Görgen von »funktionalen Störungen«, wobei die Störung »[erstens] medieninhärent in struktureller Hinsicht eine Rolle spielen [kann], indem sie formalen Einfluss auf die Gestaltung des Medienartefakts nimmt (etwa, indem sie in die Spielmechanik eines digitalen Spiels hineinwirkt) und zweitens kommen ihr auf erzählerischer Ebene verschiedene Funktionen in der Entwicklung des jeweiligen Narratives zu (indem sie bspw. durch einen Krankheitsverlauf einen Spannungsaufbau einer Erzählung vorstrukturiert).«24

Insbesondere mit Blick auf Pandemien und ihren medialen Inszenierungen misst Görgen ansteckenden Krankheiten eine »gesellschaftliche Relevanz« bei, die sich an drei Aspekten verdeutlichen lässt: »Erstens werden Epidemien allgemein als apokalyptische Ereignisse wahrgenommen, in welchen die Gesamtheit der Gesellschaft inklusive ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen bedroht wird. […] Zweitens geht mit der Darstellung von Seuchen immer ein Prozess des Othering einher, also die Idee der Provenienz eines Krankheitsbildes in einer fremden, bedrohlichen Umgebung oder aber fremder Individuen, die die Krankheit in die ,Zivilisation‹ einschleppen. […] Abjection ist […] nicht nur zentral in der Konstruktion des bedrohlichen Anderen, sondern spielt auch im Zusammenhang mit Epidemien eine Rolle, weil, und dies ist der dritte Aspekt in der populärkulturellen Bedeutungszuschreibung von ansteckenden Krankheiten, in der Semantik des Abjekten Konnotationen der Kontamination und Verschmutzung mitschwingen und im Medium besonders in Form monströser oder zerstörter Körper zum Vorschein treten.«25

Wie nachfolgend anhand der Beispielanalysen gezeigt werden soll, nehmen die drei zuvor genannten Aspekte in unterschiedlicher Ausprägung auch in »The Last of Us« und »Plague Inc.: Evolved« eine zentrale Rolle ein. Insbesondere kommt der Aspekt der (Post-)Apokalypse in beiden Spielen zum Tragen, wobei die Pandemie jeweils Auslöser von zukünftigen (post-)apokalyptischen Szenarien ist. In »The Last of Us« geht es primär um das Überleben von Menschen in einem postapokalyptischen Setting bei einer fortwährenden Pandemie, in »Plague Inc.: Evolved« hingegen um das rundenbasierte, aktive Herbeiführen der Apokalypse durch ein steuerbares Pathogen. Darüber hinaus verweist Görgen darauf, dass gesellschaftliche Störfälle »mit einem hohen Nachrichtenwert« 23 Görgen. Funktionale Störungen. 2017, S. 224. 24 Ebd. Kurz gesagt meint »Spielmechanik« die vom Spiel vorgegebenen Möglichkeiten der Interaktion, die von Spielerinnen und Spielern ausgeführt werden können, um den Spielzustand zu ändern: »[G]ame mechanics are methods invoked by agents, designed for interaction with the game state« (Sicart, Miguel: Defining Game Mechanics. In: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research 2008, Vol. 8, Issue 2, o. S.). 25 Görgen. Funktionale Störungen. 2017, S. 225–228. Hervorhebung im Original.

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verbunden sind und als solche »besonders sichtbar«26 gemacht werden. Auch dieser vierte Aspekt spiegelt sich in den hier zu analysierenden Spielen durch verschiedene Formen der Berichterstattung wider. Die im Rahmen der Systemtheorie skizzierten Aspekte medialer Repräsentationen von Störfällen sollen im Folgenden am Beispiel der ludischen bzw. ludonarrativen Inszenierung von Pandemien in digitalen Spielen und ihrer Rezeption aufgezeigt werden.

3.

Der Mensch im Mittelpunkt: Zum Umgang mit der Pandemie in »The Last of Us« (2013)

»The Last of Us« ist ein Third-Person-Survival-Action-Adventure von Naughty Dog, das 2013 erschienen ist. Im Mittelpunkt des Spiels stehen die steuerbaren Spielfiguren Joel und Ellie, deren Kampf ums Überleben während einer Pandemie ludonarrativ inszeniert wird. Das Spiel handelt von dem Ausbruch einer Pilzinfektion über kontaminierte Lebensmittel, die die Menschen in Austin, Texas im Jahr 2013 infiziert. Mit dem Bezug auf einen real existierenden Ort orientiert sich die Spielwelt an der realen Welt und referiert mit dem Jahr 2013 zusätzlich auf das Veröffentlichungsjahr des Spiels. Im Fortlauf der Spielzeit thematisiert das Spiel die Folgen und Auswirkungen der Pandemie auf die noch übrige Gesellschaft 20 Jahre nach dem Ausbruch der Infektionskrankheit. So besteht innerhalb der Spielwelt noch immer eine permanente Ansteckungsgefahr durch infizierte Menschen, es herrscht Lebensmittel- und Ressourcenknappheit sowie Zwietracht unter den Überlebenden und es kommt zu einer Repression durch das US-Militär, das nach dem Zusammenbruch der Regierung die Führung im Land übernommen hat. Zum Schutz der Überlebenden gibt es Quarantänezonen und Sperrzeiten, aber auch Schießbefehl, sofern den Anweisungen des Militärs nicht Folge geleistet wird. Zu den Überlebenden, die nicht wie Joel und Ellie in den verordneten Quarantänezonen leben, zählen zum einen die »Fireflies«, eine Rebellengruppe, die sich der Repression durch das Militär widersetzt und an der Entwicklung eines Impfstoffes forscht. Zum anderen gibt es die sog. »Hunter«, die aufgrund der Lebensmittelknappheit nicht davor zurückschrecken, Menschen zu verzehren. Ziel des Spiels ist es, das Mädchen Ellie, die gegen die Pilzinfektion immun ist, zur Entwicklung eines Impfstoffes zu den »Fireflies« zu führen. Die Vorgeschichte des Spiels thematisiert den Ausbruch der Infektionskrankheit, die die Spielerinnen und Spieler unmittelbar miterleben. Zunächst steuern diese Joels Tochter Sarah, die eines Nachts durch einen warnenden Anruf

26 Ebd., S. 224.

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bezüglich Unruhen in der Stadt von Joels Bruder Tommy geweckt wird. Über verschiedene Formen der Berichterstattung, etwa Zeitungsartikel und TVNachrichten (Abb. 1), erhalten die Spielerinnen und Spieler Kenntnis über eine sich ausbreitende Infektion und darüber, dass infizierte Personen aus den Krankenhäusern ausbrechen und die Einwohner der Stadt angreifen.

Abb. 1: Berichterstattung (Video-Screenshot. Gronkh: THE LAST OF US 001: Weltweite Pandemie [00:07:35])

Unmittelbar darauf werden Joel und seine Tochter von einer infizierten Person angegriffen, die in das Haus der beiden eindringt. Joel steht ab diesem Zeitpunkt als steuerbare Spielfigur zur Verfügung und rettet sich und seine Tochter vor dem Angriff mit einer Schusswaffe. Gemeinsam mit seinem Bruder Tommy, der die beiden mit seinem Auto an ihrem Haus abholt, versucht die Gruppe – wie auch andere Einwohner – panisch die Stadt zu verlassen (Abb. 2). Am Rande der Stadt angekommen, wird die Gruppe allerdings von einem Soldaten von der Flucht abgehalten. Trotz der Beteuerung, dass die Gruppe nicht infiziert ist, erhält der Soldat einen Schießbefehl, wobei der Schuss Sarah tödlich verletzt. Sarah verstirbt daraufhin in den Armen ihres Vaters. Der Tod von Sarah wird in Form einer »Cut-Scene« dargestellt, einer nicht interaktiven Filmsequenz, in die die Spielerinnen und Spieler nicht eingreifen können. Durch den Einsatz von Dialog und Perspektive richtet sich der Fokus auf die Darstellung von Gestik und Mimik und damit auf die Emotionen der Spielfiguren (Abb. 3). Begleitet wird diese Szene zusätzlich von dramatischer Musik, die den Tod des unschuldigen Mädchens auditiv unterstützt. Der auf diese Weise inszenierte Verlust von Sarah wirft bereits zu Beginn des Spiels die Frage nach der Ange-

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Abb. 2: Flucht aus der Stadt (Video-Screenshot. Gronkh: THE LAST OF US 001: Weltweite Pandemie [00:15:50])

messenheit drastischer Maßnahmen zur Eindämmung einer sich rasch ausbreitenden Pandemie auf.

Abb. 3: Sarahs Tod (Video-Screenshot. Gronkh: THE LAST OF US 001: Weltweite Pandemie [00:19:01])

Es folgt ein filmischer Vorspann, in dem die Spielerinnen und Spieler neben den Credits auch inhaltliche Informationen über das Geschehen in der Spielwelt durch Nachrichtenmeldungen erhalten. Die Informationen beinhalten z. B., dass der Notstand ausgerufen wurde, der mit Ein- und Ausreisebeschränkungen

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einhergeht, sich wegen gescheiterter Impfversuche weltweit Panik verbreitet, die Regierung zu Fall gekommen ist und sich eine Rebellengruppe namens »Fireflies« gegründet hat. Anschließend setzt das Spiel 20 Jahre nach dem Ausbruch der Pilzinfektion ein. Joel befindet sich nun in einem nahezu postapokalyptischen Setting, das geprägt ist von permanenter Überwachung, Angst, Gewalt und Hungersnot. Die eigentliche Geschichte des Spiels beginnt, als Joel von einer Überlebenden gebeten wird, ein Mädchen namens Ellie zu den »Fireflies« zu führen, um als Gegenleistung für diesen Tauschhandel Waffen zu erhalten. Ellie, die erst während der andauernden Pandemie geboren wurde und den Zustand der Welt vor Ausbruch der Infektion nicht kennt, wurde von einem infizierten Menschen gebissen, weist aber keinerlei Symptome auf. Daher besteht die Hoffnung, dass sie der Schlüssel zur Entwicklung eines Impfstoffes sein könnte. Die Spielzeit umfasst ab diesem Zeitpunkt ein ganzes Jahr, in dem die Spielerinnen und Spieler Ellie zu den »Fireflies« führen müssen. Auf dem Weg begegnen Joel und Ellie allerlei Gefahren, wobei der Kampf ums Überleben einerseits spielerisch durch »Stealthsequenzen«, also strategisches Verstecken und Anschleichen, umgesetzt wird sowie durch Kampfsequenzen, bei denen entsprechend des Survival-Genres auch das Munitionsmanagement eine Rolle spielt. Darüber hinaus gibt es auch sog. »Quick-Time-Events«, in denen die Spielerinnen und Spieler aufgefordert sind, innerhalb einer vorgegebenen Zeit eine bestimmte Aktion auszuführen. Letzteres illustriert Abb. 4, wobei es um das mehrfache Betätigen der angezeigten Taste auf dem Controller geht, um sich aus den Fängen einer infizierten Person zu befreien.

Abb. 4: Kampf mit einer infizierten Person (Video-Screenshot. Gronkh: THE LAST OF US 003: Trügerische Freiheit [00:30:06])

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Die obige vierte Abbildung zeigt einen infizierten Menschen der Infektionsstufe 3, einen sog. »Clicker«, dessen deformiertes Äußeres durch wuchernde Auswüchse aus den Augen geprägt ist. Diese kommen durch einen Pilzbefall des Cordyceps-Pilzes zustande, der durch den Verzehr oder das Einatmen seiner Sporen das Gehirn der Menschen befällt, diesen als Wirt benutzt und sich von dort aus rasch im gesamten Körper ausbreitet. Insgesamt gibt es vier Infektionsstufen (»Runner«, »Stalker«, »Clicker« und »Bloater«), wobei die Pilzinfektion nach zwei Tagen Inkubationszeit die Menschen immer mehr in Zombie ähnliche Mutanten verwandelt und mit fortschreitendem Verlauf den gesamten Körper mit pilzartigen Auswüchsen übersäht. Den Cordyceps-Pilz gibt es tatsächlich in unserer realen Welt, allerdings befällt eine Art dieser Gattung als Parasit lediglich Larven und Puppen verschiedener Insekten. »The Last of Us« spielt hingegen mit der Angst eines parasitären Pilzbefalls von Menschen. Hierbei kommt insbesondere der Aspekt des Abjekten zum Tragen, wobei das monströse Aussehen infizierter Menschen Ekel und Angst evozieren kann. Nicht weniger gefährlich als die infizierten Menschen sind die bereits erwähnten »Hunter«, die aufgrund der allgemeinen Lebensmittelknappheit nicht davor zurückschrecken, Menschen zu verspeisen, und denen Ellie auf ihrem Weg zu den »Fireflies« nur knapp entkommen kann (Abb. 5).

Abb. 5: Ellies Gefangenschaft bei den »Huntern« (Video-Screenshot. Gronkh: THE LAST OF US 029: Fleisch [00:25:14])

Damit zeigt »The Last of Us« auf erschreckende Weise weitere Folgen des menschlichen Umgangs miteinander während einer Pandemie auf, nämlich den Verlust von Moral- und Wertvorstellungen, der von Gesetzlosigkeit, Misstrauen und Hungersnot getrieben wird. Hierbei wird einmal mehr das ›wahre Gesicht‹

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der Menschen im Kampf ums Überleben deutlich, das Eva Horn im Zusammenhang mit dem Verhalten von Menschen in Ausnahmezuständen andeutet. Nach einer langen und gefährlichen Reise gelangen Joel und Ellie schließlich zu den »Fireflies«, die Joel gewaltsam in Gefangenschaft nehmen, um Ellie ungehindert für ihre Zwecke benutzen zu können. Da der Pilz im Gehirn der infizierten Menschen nistet, geht die Entwicklung des Impfstoffes nur mit dem Tod von Ellie einher. Joel, der Ellie schützen will und sie wie seine eigene Tochter behandelt, kann sich jedoch aus der Gefangenschaft befreien und entscheidet sich dagegen, sie der Wissenschaft zu opfern (Abb. 6).

Abb. 6: Ellies Rettung (Video-Screenshot. Gronkh: THE LAST OF US 034: Die letzte Hoffnung der Menschheit (ENDE) [00:08:42])

In der Folge tötet er die Ärzte der »Fireflies« und verhindert damit die Möglichkeit der Entwicklung eines Impfstoffes, um die Menschheit zu retten. Nicht zuletzt an dieser Stelle des Spiels kommt es zu selbstreflexiven Prozessen bei den Spielfiguren, aber auch bei den Spielerinnen und Spielern, die einem moralischen Konflikt ausgesetzt sind und ihr Handeln hinterfragen: Sollte man Ellie retten und der Menschheit damit ein Heilmittel verwehren oder sollte man die Menschheit retten und Ellie dafür opfern? Manche Spielerinnen und Spieler hätten sich wohl gerne für die Rettung der Menschheit entschieden. Das lineare Narrativ des Spiels lässt allerdings keine Entscheidungsmöglichkeit zu, sodass Spielerinnen und Spieler sozusagen »gezwungen« sind, Joels Willen zu folgen und die Ärzte zu töten, sofern sie das Spiel beenden wollen. Auch Ellie wäre durchaus dazu bereit gewesen, sich für die Entwicklung eines Impfstoffes zu opfern. Das Spiel endet damit, dass Joel Ellie nach ihrer Rettung anlügt und ihr versichert, es gebe noch mehr immune Menschen wie sie – und damit die

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Hoffnung auf einen Impfstoff. Dieser moralische Konflikt zwischen den Spielfiguren wird in »The Last of Us 2«27 erneut aufgegriffen. Die ludonarrative Inszenierung der Pandemie in »The Last of Us« zeigt mit Blick auf die Funktion der Selbstbeobachtung von Gesellschaft deutlich potenzielle Verhaltensweisen von Menschen bzw. Spielfiguren in Ausnahmezuständen. Das menschliche Versagen, einer Katastrophe standhalten oder diese gar verhindern zu können, gipfelt in einem Fall der Regierung und einer fortwährenden Pandemie, bei der existenzielle Not und Zwietracht unter den Überlebenden noch 20 Jahre nach Ausbruch der Infektion den neuen Normalzustand bilden. Im Fall von »The Last of Us« handelt es sich aus systemtheoretischer Perspektive also nicht um eine temporäre, sondern um eine kontinuierliche Störung, deren Ausmaß bzw. Intensität im Sinne von Gansel als irreversibel bezeichnet werden kann. Das Bemühen der Spielfiguren um eine Entstörung (Entwicklung eines Impfstoffes) scheitert und bleibt auch im zweiten Teil des Spiels aussichtslos. Für die infizierten Menschen bleibt die monströse Transformation des Körpers unausweichlich, wobei sich der Aspekt des Abjekten besonders im äußerlichen Erscheinungsbild widerspiegelt, das mit zunehmender Infektionsstufe immer abscheulicher und abstoßender wird. Im fortwährenden postapokalyptischen Zustand kommt es zu einer Spaltung der übrigen Gesellschaft, die nicht zuletzt die Formation unterschiedlicher Gruppierungen zur Folge hat. Der Aspekt des Othering bezieht sich dabei nicht nur auf das Verhältnis von Gesunden und Infizierten, sondern auch auf die gesunden, jedoch untereinander verfeindeten Menschen (etwa zwischen Militär, Zivilisten, »Fireflies« und »Huntern«), die für die Spielfiguren zur Bedrohung werden. Im Fortgang des Spiels rückt die eigentliche Pandemie daher in den Hintergrund, während der kriegerische Umgang von überlebenden, nicht infizierten Menschen miteinander zunehmend in den Mittelpunkt gerät.28 Der Aspekt der Berichterstattung über Ursache und Ausbreitung der Infektionskrankheit kommt lediglich zu Beginn des Spiels zum Tragen, da im weiteren Verlauf öffentliche Medien kaum mehr existieren. »The Last of Us« stellt darüber hinaus die Spielfiguren vor schwierige moralische Entscheidungen, die nicht zuletzt auch selbstreflexive Prozesse bei den Spielerinnen und Spielern in Gang bringen können. Zur Rezeption des Spiels lässt sich schließlich ergänzend feststellen, dass einerseits das Auftreten der Corona-Pandemie und andererseits auch die Veröffentlichung des zweiten Teils des Spiels im Juli 2020 zu einem Wiederaufleben des Interesses am ersten Teil des

27 The Last of Us 2. Naughty Dog. Sony Entertainment System 2020. (PS4). 28 Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch in der bekannten Serie »The Walking Dead« (2010– heute), in der die sog. »Walker« (also infizierte Menschen) zunehmend nebensächlich werden und stattdessen verfeindete Lager und Gruppierungen von nicht infizierten Menschen gegeneinander in den Kampf treten.

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Spiels führten.29 Beide Teile wurden – anders als »Plague Inc.: Evolved« – aufgrund der Corona-Pandemie nicht negativ rezipiert.

4.

Das Pathogen im Mittelpunkt: Zur Erzeugung der Pandemie in »Plague Inc.: Evolved« (2012)

»Can you infect the world?« – Mit dieser Frage werden die Spielerinnen und Spieler im Startbildschirm des rundenbasierten Strategie- bzw. Simulationsspiels »Plague Inc.: Evolved« von Ndemic Creations begrüßt, das 2012 erschienen ist. Die Frage deutet bereits auf das Ziel des Spiels hin, bei dem es darum geht, mit Hilfe eines steuerbaren Pathogens eine Pandemie zu verursachen mit der Absicht, die Ausrottung der Menschheit herbeizuführen und die Entwicklung eines Impfstoffes zu verhindern. Um das Spielziel zu erreichen, muss das Pathogen ungehindert und unentdeckt die gesamte Menschheit infizieren und tödliche Symptome entwickeln. Vor dem eigentlichen Spielbeginn muss zunächst eine Seuche ausgewählt werden – dies können beispielsweise Bakterien, Viren oder Pilze sein –, die anschließend benannt wird. Beispielhaft wurde für die nachfolgenden Screenshots zu »Plague Inc.: Evolved« ein Virus als Seuche gewählt, das »COVID-19« genannt wurde. Danach erscheint die Spielwelt in Form einer interaktiven Weltkarte, die unserer realen Welt nachempfunden ist. Die Spielrunde startet dann, wenn die Spielerinnen und Spieler ein Land ausgewählt haben, in dem sich die Seuche verbreiten soll. Daraufhin erscheint die Meldung, dass »Patient Null« infiziert ist. Anschließend gilt es, schnellstmöglich DNS-Punkte zu sammeln, die durch Anklicken der roten Blasen erzielt werden können, die immer dann erscheinen, wenn sich die Seuche in einem Land ausbreitet (Abb. 7). Die DNS-Punkte können eingesetzt werden, um das Pathogen in einem »SkillTree« (Fähigkeitsbaum) weiterzuentwickeln (Abb. 8). Dabei kann erstens die Art der Übertragung bestimmt werden (etwa über Tiere, Luft oder Blut), zweitens die Art der Symptome, die bei infizierten Menschen auftreten sollen (etwa Husten, Hautausschlag oder Übelkeit), und drittens die Art der Resistenz (etwa Hitzebeständigkeit oder Beständigkeit gegen Medikamente). 29 Vgl. etwa das »Let’s Play« zu »The Last of Us« und »The Last of Us 2« des mitunter bekanntesten Content Creators »Gronkh«, das mit einer Vielzahl an Aufrufen positive Resonanz von den Zuschauerinnen und Zuschauern erhielt. Gronkh: The Last of Us-Playlist. (letzter Zugriff: 29. 08. 2021). Während des »Let’s Play« werden die Inhalte des Spiels u. a. auch mit Bezug auf die aktuelle Corona-Pandemie von Gronkh kommentiert. Etwaige Diskussionen um die Aktualität des Spiels und Rückschlüsse auf menschliche Verhaltensweisen während der Corona-Pandemie finden sich auch in der Kommentarsektion des Videos.

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Abb. 7: Sammeln von DNS-Punkten (eigener Screenshot)

Abb. 8: Skill-Tree (eigener Screenshot)

Handelt es sich bei der Wahl der Seuche um ein Virus, kommt es im Fortlauf der Spielzeit zur selbstständigen Entwicklung von Symptomen ohne den Einfluss von Spielerinnen und Spielern. Die DNS-Punkte müssen dann zunächst eingesetzt werden, um die Symptome zurückzuentwickeln, damit das Virus unentdeckt, also ohne die Ausbildung von Symptomen, die Menschen infizieren kann. Die Ausbreitung des Virus wird visuell in Form roter Punkte auf der Weltkarte dargestellt.

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Während des Spielverlaufs erhalten die Spielerinnen und Spieler über das »Interface«30 notwendige Informationen über den Spielstatus und den Spielfortschritt. Dazu zählen mitunter Ort und Zeit der Ausbreitung, die Anzahl an infizierten, toten und geheilten Menschen sowie der Fortschritt der Entwicklung eines Heilmittels, die Anzahl an verfügbaren DNS-Punkten und Nachrichtenmeldungen zu Ereignissen innerhalb der Spielwelt.31

Abb. 9: Beginn der Entwicklung eines Heilmittels (eigener Screenshot)

Begleitet wird die Ausbreitung des Virus über Nachrichtenmeldungen, die entweder als »Pop-Up« erscheinen oder in der Nachrichten-Leiste des »Interface« eingeblendet werden. Dadurch erhalten die Spielerinnen und Spieler z. B. Informationen darüber, dass die WHO die Bedrohungsstufe des Virus erhöht hat, Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in verschiedenen Ländern ergriffen werden (wie etwa die Schließung von Flughäfen) oder ein erster Todesfall bestätigt wurde.

30 Vereinfacht gesagt, dient das »Graphical User Interface« (GUI) der Informationsvermittlung und umfasst nach Kristine Jørgensen im Allgemeinen »all features that are revealed to the player and that provide information that assists them in interacting with the game system« (Jørgensen, Kristine: Gameworld Interfaces. Cambridge, MA: MIT Press 2013, S. 20). In »Plague Inc.: Evolved« ist das Interface als Overlay über die Spielwelt gelegt und im Falle des »Skill-Tree« als separates Menü aufrufbar, das die interaktive Weltkarte temporär ausblendet. 31 Bezüglich der Informationsvermittlung lässt sich ein realer Bezug zur Corona-Pandemie herstellen, etwa zur digitalen Weltkarte der Johns Hopkins University, die die Ausbreitung des Coronavirus visuell und unter Einbezug verschiedener Parameter dokumentiert, siehe: »COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University«. (letzter Zugriff: 29. 08. 2021).

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Zwei Szenerien sind in »Plague Inc.: Evolved« zentral: Das erste beinhaltet, dass das Virus über das Auftreten von Symptomen bei infizierten Menschen entdeckt wurde. Unmittelbar darauf beginnt die Forschung an einem Heilmittel. Gelingt es den Spielerinnen und Spielern nicht, die Menschheit vor der Fertigstellung eines Heilmittels auszulöschen, erscheint die Nachricht, dass das Virus ausgerottet worden ist. In diesem Fall kommt es zu einer Niederlage. Im zweiten Szenario geht es darum, dass das Virus unentdeckt die gesamte Menschheit infiziert hat. Daraufhin gilt es, so schnell wie möglich über den Einsatz von DNSPunkten im »Skill-Tree« tödliche Symptome zu entwickeln (etwa »vollständiges Organversagen«), damit die Spielrunde gewonnen werden kann. Anschließend erscheint die Nachricht, dass das Virus die Menschheit auslöschen wird. Dies führt im Spiel zu einem Sieg. Im Gegensatz zu »The Last of Us« geht es in »Plague Inc.: Evolved« also nicht um den Kampf ums Überleben der jeweiligen Spielfiguren während einer Pandemie, sondern um das aktive Herbeiführen einer Pandemie durch ein steuerbares Pathogen, das möglichst effizient, also tödlich, agieren muss, um die Apokalypse herbeizuführen. Als realitätsnahes Simulations- bzw. Strategiespiel steht dabei die Entwicklung zielorientierter Spielstrategien im Fokus, die die Ausbreitung der Seuche begünstigen. Menschliche Spielfiguren und ihre Reaktionen auf die Ausbreitung der Seuche werden nicht visuell dargestellt; insofern spielen selbstreflexive Prozesse und Emotionen sowie die Aspekte des Othering und des Abjekten innerhalb der Spielwelt keine Rolle. Der Aspekt der Berichterstattung nimmt im Gegensatz zu »The Last of Us« eine umso zentralere Rolle ein. Reaktionen auf die Ausbreitung der Seuche erhalten die Spielerinnen und Spieler durch Nachrichtenmeldungen über Aufstände oder Entscheidungen von Gesundheitsorganisationen oder Landesregierungen bezüglich der Ergreifung von Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche. Diese werden in Form von »PopUps« über der interaktiven Weltkarte eingeblendet und sind mit einem NewsSymbol gekennzeichnet. Ebenfalls begleitet wird der Spielfortschritt durch MetaKommentare, die ebenfalls als »Pop-Up« erscheinen und mit einem BiohazardSymbol gekennzeichnet sind. Zum Beginn einer neuen Spielrunde erscheint etwa ein Meta-Kommentar mit einer Ansprache der Spielerinnen und Spieler, die darüber Hinweise zum Erreichen des Spielziels erhalten: »WILLKOMMEN BEI PLAGUE INC! Du bist eine neue Krankheit. Um zu gewinnen, musst du dich weiterentwickeln und dich auf der Welt ausbreiten. Lösche die Menschheit mit der ultimativen Seuche aus!«

»Plague Inc.: Evolved« stieß mit seinem Spielziel, die Menschheit mit einer Seuche auszulöschen, kaum verwunderlich, auf ambivalente Reaktionen in der öffentlichen Wahrnehmung. Mit Blick auf die Rezeption des Spiels während der Corona-Pandemie lässt sich festhalten, dass »Plague Inc.: Evolved« mit über

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130 Millionen Downloads das weltweit beliebteste Strategie- bzw. Simulationsspiel ist und sich mit dem Aufkommen von Covid-19 ein Zuwachs an Spielerinnen und Spielern verzeichnen lässt, zu dem sich die Entwicklerinnen und Entwickler wie folgt äußern: »[…] whenever there is an outbreak of disease we see an increase in players, as people seek to find out more about how diseases spread and to understand the complexities of viral outbreaks«.32

Daher kommt es acht Jahre nach der Veröffentlichung des Spiels zu einem internationalen Hype in der Gaming-Szene, der in einem direkten Zusammenhang mit Covid-19 steht und sich u. a. an der Vielzahl von »Let’s Plays« zu »Plague Inc.: Evolved« zeigt, die seit der Corona-Pandemie wieder vermehrt auf YouTube zu finden sind. Gänzlich anders fiel die Rezeption von »Plague Inc.: Evolved« in China aus – zwar nicht durch die Spielerinnen und Spieler, sondern durch die Cyberspace Administration of China, die ein Vermarktungsverbot des Spiels verhängte. Die Entwicklerinnen und Entwickler von »Plague Inc.: Evolved« äußern sich dazu in einer offiziellen Stellungnahme vom 27. Februar 2020 wie folgt: »We’ve just been informed that Plague Inc. ›includes content that is illegal in China as determined by the Cyberspace Administration of China‹ and has been removed from the China App Store. This situation is completely out of our control. […] It is not clear to us if this removal is linked to the ongoing coronavirus outbreak that China is facing«.33

Als Ursprungsort der Corona-Pandemie und als Gesellschaftssystem mit einer der weltweit strengsten Internetzensuren, die u. a. den Zugang zu US-amerikanischen Social Media Plattformen wie YouTube und Facebook oder die Verwendung von Suchmaschinen wie Google verwehrt, erscheint das Vermarktungsverbot von »Plague Inc.: Evolved« wenig überraschend. So liegt die Annahme nahe, dass das Spiel aufgrund seiner spielerisch inszenierten Darstellung von Pandemien in der aktuellen Lage in China als eine kulturelle Störung wahrgenommen wurde. Systemtheoretisch betrachtet können Störungen im Symbolsystem also zu Störungen im Handlungssystem führen, wobei das Teilsystem Politik in das Teilsystem Kunst eingreift und damit einen reflexiven Umgang mit der Störung ausschließt. Norman Ächtler bringt diese Form des kulturellen Handelns wie folgt auf den Punkt: 32 Ndemic Creations: Statement on the current coronavirus outbreak vom 23. 01. 2020. (letzter Zugriff: 29. 08. 2021). 33 Ndemic Creations: Statement on the Removal of Plague Inc. from the China App Store and Steam vom 26. 02. 2020. (letzter Zugriff: 29. 08. 2021).

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»Sodann kann die kulturelle Störung als Bedrohung wahrgenommen und als solche ›ausgeschaltet‹ werden. Ein derart nachdrücklicher Umgang mit diskursiven Grenzverletzungen ist eher ein Merkmal von geschlossenen Gesellschaften und obliegt dort im Wesentlichen den Zensurbehörden«.34

Eine gänzlich andere kulturelle Praxis im Umgang mit »Plague Inc.: Evolved« während der Corona-Pandemie zeigten seine Entwicklerinnen und Entwickler. Diese betonen neben dem Entertainment-Faktor des Spiels auch die Tatsache, dass es Kommunikations- und Lernprozesse in Gang bringen könne: »Plague Inc. stands out as an intelligent and sophisticated simulation that encourages players to think and learn about serious public health issues. […] Plague Inc.’s educational importance has been repeatedly recognised by organisations like the CDC [Centers for Disease Control and Prevention – S.L.] and we are currently working with major global health organisations to determine how we can best support their efforts to contain and control COVID-19«.35

Um finanzielle Unterstützung zu leisten und weiterhin einen reflexiven Umgang mit dem Spiel und der fortwährenden Corona-Pandemie zu ermöglichen, hat Ndemic Creations 250.000 US-Dollar an Gesundheitsorganisationen gespendet und in Kooperation mit diesen einen Zusatzinhalt für das Spiel entwickelt, der seit dem 11. November 2020 verfügbar ist.36 Dazu heißt es: »Plague Inc: The Cure will be free for all Plague Inc. players until COVID-19 is under control«.37 In dieser Variante des Spiels ist es das Ziel, die Ausbreitung einer Seuche mit entsprechenden Maßnahmen zu verhindern.

34 Ächtler, Norman: ›Entstörung‹ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik. In: Gansel/Ächtler, Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 70. 35 Ndemic Creations, Statement on the Removal of Plague Inc. from the China App Store and Steam vom 26. 02. 2020. 36 Wenngleich die Entwicklerinnen und Entwickler in ihrem Statement den Kampf gegen das Coronavirus betonen, soll nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zusammenarbeit mit internationalen Gesundheitsorganisationen auch als gewinnorientierte PR-Strategie verstanden werden kann, die die Vermarktung des Spiels fördert. So ist aus der Zusammenarbeit etwa ein »Let’s Play« entstanden, in dem zwei ausgewählte Experten von namhaften Gesundheitsorganisationen »Plague Inc.: The Cure« spielen und das Spiel mit Bezug auf Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie kommentieren, das öffentlich auf YouTube einsehbar ist. Vgl. Ndemic Creations: World Health Organization plays Plague Inc: The Cure vom 31. 03. 2021. (letzter Zugriff: 29. 08. 2021). 37 Ndemic Creations: Plague Inc: The Cure is out now for iOS and Android vom 11. 11. 2020. (letzter Zugriff: 29. 08. 2021).

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5.

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Schluss

Mit Blick auf das Symbolsystem Spiel lässt sich durch den Vergleich von »The Last of Us« und »Plague Inc: Evolved« festhalten, dass beide Spiele zwar eine Pandemie zum Thema haben, diese jedoch gänzlich unterschiedlich inszenieren. Während es in beiden Spielen zu einer Störung des Gesellschaftssystems kommt, ergibt sich ein kontrastives Verhältnis dieser Darstellungen von Pandemien bereits durch das jeweilige Spielziel. So verfolgt »The Last of Us« im Sinne des systemtheoretischen Ansatzes das Ziel der Entstörung, also die Wiederherstellung des vorherigen Normalzustandes durch die Entwicklung eines Impfstoffes, der letztlich jedoch scheitert. »Plague Inc.: Evolved« hingegen fokussiert das aktive Herbeiführen einer Störung unter der Voraussetzung, dass keine Entstörung erreicht werden darf, um das Spiel zu gewinnen. Dabei zeichnet sich ab, dass bei »The Last of Us« der Mensch und das menschliche Verhalten im Mittelpunkt stehen, während in »Plague Inc.: Evolved« das Pathogen selbst fokussiert wird. »The Last of Us« bildet dabei ein in sich geschlossenes, lineares Narrativ, das die Geschichte zweier überlebender Spielfiguren in einem postapokalyptischen Setting ludonarrativ inszeniert, wobei die Aspekte des Othering und des Abjekten besonders zum Tragen kommen. Neben dem Kampf ums Überleben der steuerbaren Spielfiguren spielen insbesondere moralische Entscheidungen und die Darstellung von Emotionen eine zentrale Rolle. In »Plague Inc.: Evolved« hingegen nehmen die zuvor genannten Aspekte aufgrund des fehlenden Storytellings keine zentrale Rolle ein. Im Gegensatz zu »The Last of Us« sind die Spielerinnen und Spieler in diesem Fall aufgefordert, als steuerbares Pathogen jegliche Moralvorstellungen abzulegen und die Menschheit zu vernichten. Durch die abstrakte Darstellung einer interaktiven Weltkarte, die weder infizierte Spielfiguren noch deren Verhalten visuell darstellt, sind die Aspekte des Othering und des Abjekten nicht von Bedeutung. Vielmehr steht hierbei die nüchterne Entwicklung möglichst effizienter Spielstrategien zur Verbreitung der Seuche im Vordergrund, wobei diese durch verschiedene Formen der Berichterstattung in besonderem Maße begleitet wird. Das reziproke Verhältnis von Symbol- und Handlungssystem konnte durch die Funktion der Selbstbeobachtung von Gesellschaft deutlich gemacht werden. Die Wechselwirkung sich gegenseitig bedingender Systeme findet einerseits dadurch statt, dass gesellschaftliche Störfälle im Symbolsystem digitaler Spiele antizipiert und rückwirkend durch die Rezeption der Spiele als Spiegel auf die Gesellschaft zurückgeworfen werden. Dabei konnte herausgestellt werden, dass das Sichtbarmachen des Unsichtbaren, also das Kreieren eines »Was wäre wenn?«-Szenarios, selbstreflexive Prozesse auslösen kann – nicht zuletzt deswegen, weil die Art und Weise der Inszenierung von Pandemien in den Spielen als potenziell mögliches Szenario für die reale Welt denkbar erscheint. Bezogen auf

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das Symbolsystem kann es dabei zu selbstreflexiven Prozessen bei den Spielfiguren kommen, die sich zur auftretenden Störung verhalten (müssen), was insbesondere an der Analyse von »The Last of Us« deutlich wurde. Bezogen auf das Handlungssystem sind hierbei gerade auch die Spielerinnen und Spieler aufgefordert, sich durch ludische Handlungen zu den Störungen im Spiel zu verhalten, wobei diese ebenso vor moralische Entscheidungen gestellt werden und ggf. ihre Interaktionsmöglichkeiten hinterfragen. Darüber hinaus konnte mit der Rezeption von »Plague Inc.: Evolved« gezeigt werden, dass es zu unterschiedlichen kulturellen Handlungsweisen im Umgang mit Störungen kommt. Während die Entwicklerinnen und Entwickler das produktive Potenzial von Störungen nutzen, um Lern- und Kommunikationsangebote über Infektionskrankheiten durch neue Spielinhalte zu schaffen, wird »Plague Inc.: Evolved« im Ursprungsland der Corona-Pandemie China als kulturelle Störung wahrgenommen, wodurch es zu einem Vermarktungsverbot gekommen ist, das gleichsam selbstreflexive Prozesse im Umgang mit Störungen ausschließt.

Beiträgerinnen und Beiträger

Matthias Braun, Dr. – Studium der Theologie, Theater- und Literaturwissenschaft; ab 1977 bis 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bertolt-Brecht-Archiv; von 1992 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsabteilung der BStU (Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes); Lehraufträge an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Publikation: Auf Suche nach einer realistischen Schreibweise für das Stasi-Narrativ im deutschen Roman seit 1989. In: Carsten Gansel/Manuel MaldonadoAlemán (Hgg.): Realistisches Erzählen als Diagnose von Gesellschaft. Berlin: Okapi Verlag 2018, S. 181–203. Brauner, Dirk, – M. A. – Studium der Kultur- Sozial- und Literaturwissenschaft sowie Philosophie in Frankfurt (Oder), Budapest, Wien und Paris. Promoviert zur Idiosynkrasie der Kunst an der Europa-Universität Viadrina. Letzte Publikation: »aufstand der träume«. Rocker und das Problem der Gattung in Christian Geisslers »kamalatta«. In: Detlef Grumbach (Hg.): kamalatta lesen. Aktuelle Perspektiven auf Christian Geisslers »romantisches fragment«. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. Hannah Broecker, Dr. – Studium der Internationalen Beziehungen, Security Studies und Soziologie; lehrt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LudwigMaximilians-Universität München. Letzte Publikation: Securitisation as Hegemonic Discourse Formation – An Integrative Model. Cham, Schweiz: Springer Verlag 2022. Daniela Dahn, – Studium der Journalistik in Leipzig, Fernsehjournalistin. Seit 1982 freischaffende Autorin. 1987 erschien »Prenzlauer Berg-Tour« im Mitteldeutschen Verlag Halle/Leipzig; 1980 Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs, bis 2012 Mitherausgeberin der Wochenzeitung »Freitag«, Mitherausgeberin von »Ossietzky«. Zahlreiche Preise, Gastdozenturen in den USA. Letzte Publikationen: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die

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Beiträgerinnen und Beiträger

Einheit – eine Abrechnung. Rowohlt, Hamburg 2019; Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung (mit Rainer Mausfeld). Westend: Frankfurt am Main 2020; zusammen mit Antje Vollmer et al.: Neubeginn. Aufbegehren gegen Krise und Krieg. Eine Flugschrift. VSA Verlag, Hamburg 2022. José Fernández Pérez, Dr. – Studium der Germanistik an der Philologischen Fakultät der Universität von Santiago de Compostela. Seit 2014 Studienrat im Hochschuldienst am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Publikationen: Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR. Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000. Göttingen V&R unipress Verlag 2022; Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch am Beispiel von Francesca Sannas »Die Flucht« (2016) und Jose Manuel Mateos »Migrar« (2011). In: Gansel, Carsten/ Kaufmann, Anna/ Hernik, Monika/ Kamin´ska-Ossowska, Ewelina: (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur heute. Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten. V&R unipress Verlag 2022, S. 295– 310. Thomas Findeiss, – Studium im Fach Regie, Kamera und Produktion an der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie (DFFB). 1991 Abschlussfilm »Die Kosten der Freiheit«, arbeitete als Fabrikarbeiter, Privatchauffeur, Bandleader und Studiomusiker. Bei Volk und Welt sind erschienen »Holy Days« (1997) und »Die Heimat der Schneestürme« (1999). Autor von Kurzgeschichten. Thomas Findeiss veröffentlichte zahlreiche Reisereportagen unter anderen in der »Süddeutschen Zeitung«, der »FAZ«, der »Zeit« und »MARE«. Carsten Gansel, Prof. Dr. – Studium der Germanistik, Slawistik, Pädagogik, Philosophie. Professor fu¨ r Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Publikationen: Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin: Galiani-Berlin 2022; Carsten Gansel/ Janine Ludwig (Hg.): 1968 – Ost – WestDeutsch -deutsche Kultur – Geschichten. Berlin: OKAPI Wissenschaft 2021; Carsten Gansel/ Katrin Lehnen/ Vadim Oswalt (Hg.): Schreiben, Text, Autorschaft I. Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten. Göttingen: V&R 2021. Christina Gansel, Prof. Dr. – Studium der Germanistik und Slawistik. apl. Professorin für Sprachwissenschaft am Institut für Deutsche Philologie der Universität Greifswald. Letzte Publikationen: Christina Gansel, Sergej Nefedov, Irina Jesan (Hg.): Kommunikative Praktiken in sozialen Kontexten. Sprachliche Mittel im Einsatz. Münster: LIT Verlag 2019; Christina Gansel, Karin Luttermann (Hg.):

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Nachhaltigkeit – Konzept, Kommunikation, Textsorten. Münster: LIT Verlag 2020. Monika Hernik, Dr. – Studium der Germanistik, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam, seit 2019 zudem Mitarbeiterin in einem Drittmittelprojekt am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Publikationen: Gansel, Carsten/ Kaufmann, Anna/ Hernik, Monika/ Kamin´ska-Ossowska, Ewelina (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur heute. Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten. V&R unipress Verlag 2022; Gansel, Carsten/ Hernik, Monika: Erinnerungsboom, unzuverlässiges Erzählen und »Tricks der Erinnerung« in Jan Koneffkes »Ein Sonntagskind« (2015). In: Gansel, Carsten/ Heidrich, Anna/ Kulkova, Mariya (Hgg.): Sondernummer zum Thema: Zum »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – Ausgewählte Textanalysen. German as a foreign language Heft 1/2021, S. 24–42; Hernik, Monika: Was wollte der Autor uns damit fragen? – Zu Martin Schäubles Endland. In: Bernhardt, Sebastian (Hrsg.): »Ausreißen« in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Analysen und didaktische Perspektiven. Baltmannsweiler: Schneider 2021, S. 303–329. Dennis Kaltwasser, Dr. – Studium der Germanistischen Sprachwissenschaft und Politologie; Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Gesellschaftsforschung. Lehrt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Publikationen: Coronalogie der Ereignisse. In: Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria (Hg.): #allesdichtmachen. 53 Videos und eine gestörte Gesellschaft. Köln: Ovalmedia 2022, S. 70–143; Kommunikationsanalytische Ansätze zur Beschreibung diskursiver Lagerbildung in der Corona-Krise. In: Lublin Studies in Modern Languages and Literature. Vol 45, 2021, No 2.: Common Spaces in Discourses, S. 39–51. Stephanie Lotzow, – M. A. – Studium der Germanistischen Linguistik sowie Anglophone Literary, Cultural and Media Studies und Kunstgeschichte. Doktorandin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Leiterin der AG Game Studies am Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK). Letzte Publikationen: Krampe, Theresa/ Lotzow, Stephanie/ Thon, JanNoël (im Erscheinen): Playful Poetics: Metareferential Interfaces in Recent Indie Games. In: Poetics Today. Durham: Duke University Press (im Erscheinen). Michael Meyen, Prof. Dr. – Studium der Journalistik, Diplomjournalist. Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der

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Beiträgerinnen und Beiträger

LMU München. Letzte Publikationen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft. München: Rubikon 2021; Das Elend der Medien. Schlechte Nachrichten für den Journalismus. Köln: Herbert von Halem 2021 (mit Alexis von Mirbach); Meyen, Michael/ Gansel, Carsten/ Gordeeva, Daria (Hg.): #allesdichtmachen. 53 Videos und eine gestörte Gesellschaft. Köln: Ovalmedia 2022. Denis Neviak, Dr. – Studium der Medien- und Filmwissenschaft, Promotion zu Fragen der Vereinsamung in der Spätmoderne und zu televisuellen Ausdrucksformen moderner Einsamkeit. Lehrt Medien-, Film- und Fernsehtheorie sowie Kommunikations- und Organisationsmanagement. Letzte Publikationen: Die Einsamkeiten der Moderne: Eine Theorie der Modernisierung als Zeitalter der Vereinsamung, Springer VS, 2022; Einsamkeit in Serie: Televisuelle Ausdrucksformen moderner Vereinsamung, Springer VS, 2022; Blackout – nichts geht mehr: Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können, Schüren, 2022. Robert Niemann, Dr. – Sprachwissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Praxistheorie sowie Subjekt- und Subjektivierungstheorie mit Blick auf Sprache und Sprachgebrauch. Letzte Publikationen: Prognostische Propheten. Rhetorische Menschenführung in der Coronapandemie. V. Hase & Koehler Essays 2022 (im Erscheinen); Searles Welten. Zur Kritik an einer geistfundierten Sprachtheorie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021; Zum Wandel des wissenschaftlichen Subjekts. Von kritischer Wissensschöpfung zum postkritischen Selbstmanagement? Bielefeld: transcript 2019; Hauke Ritz, Dr. – Studium der Komparatistik (AVL) und Religionswissenschaft an der FU Berlin sowie Kulturwissenschaft an der HU Berlin. Promotion im Fach Philosophie. Lehraufträge an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Lomonossow-Universität Moskau, Publizist mit Fragen im Grenzbereich zwischen Philosophie und Politik. Letzte Publikationen: Die kulturelle Dimension des Kalten Krieges. In: Carsten Gansel/ Janine Ludwig (Hg.): 1968 – Ost – WestDeutsch -deutsche Kultur – Geschichten. Berlin: OKAPI Wissenschaft 2021, S. 99–131; Die Krise des Westens: Chance für einen neuen Humanismus? In: Multipolar-Magazin sowie in der russischen Fachzeitschrift »Perspektivy«. Caroline Rosenthal, Prof. Dr. – Studium der Anglistik und Germanistik, Professorin für Amerikanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Letzte Publikationen: Anglophone Literature and Culture in the Anthropocene, ed. with Gina Comos. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2019; Gained Ground:

Beiträgerinnen und Beiträger

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Perspectives on Canadian and Comparative North American Studies, ed. with Eva Gruber. Camden House 2018. Lothar Schneider, Prof. Dr. – Studium der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie; lehrt als apl. Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Publikationen: Der lange Marsch nach Innen. Die Gruppe 47, 1968 und die neue Subjektivität Peter Handkes. In: Carsten Gansel/ Janine Ludwig (Hg.): 1968 – Ost – West- Deutsch -deutsche Kultur – Geschichten. Berlin: OKAPI Wissenschaft 2021, S. 181–198; Was dokumentiert Dokumentarliteratur? Überlegung in neun Aspekten sowie Zwischenspiel. Zur Poetik der Reportage zwischen Gebrauchstext und Literatur. In: Gansel, Carsten/ Braun, Peter (Hg.): Dokumentarisches Erzählen – Erzählen mit Dokumenten. Berlin: Okapi Verlag 2020, S. 21–34 und 235–256. Detlef Stapf – Studium der Ingenieurwissenschaften, Diplomingenieur, langjähriger Feuilletonchef des Nordkurier in Neubrandenburg. Zahlreiche Publikationen zur Kunst, Kunstgeschichte und Literatur. Lebt als Publizist und Kommunikationsberater in Neuwied. Zuletzt erschienen: Der Schmerz des Westens. Berlin: Okapi 2020; Caspar David Friedrich. Die Biographie. Berlin: Okapi 2019. Hans-Christian Stillmark, Dr. – Studium der Germanistik und Geschichte. Bis 2019/2020 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam, Publikationen zu Heiner Müller, Volker Braun, Wolfgang Hilbig, Wieland Förster oder Peter Weiss. Zuletzt erschienen: Hans-Christian Stillmark/ Sarah Pützer (Hrsg.): Inseln der Hoffnung- Literarische Utopien in der Gegenwart. Berlin: Weidler Buchverlag 2018. Hans-Christian Stillmark ist am 25. August 2021 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 67 Jahren verstorben.

Weitere Bände dieser Reihe Band 32: Barbara Bollig (Hg.)

Mythos und Postmoderne Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten

Band 29: Carolin Führer/Antonius Weixler (Hg.)

Umbruch – Bild – Erinnerung

Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten

2022. 235 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-1487-1

2022. 358 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1379-9

Band 31: Carsten Gansel / Anna Kaufmann / Monika Hernik / Ewelina Kamińska-Ossowska (Hg.)

Band 28: Carola Hähnel-Mesnard

Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten

Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck

Band 30: José Fernández Pérez

Band 27.1: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Kinder- und Jugendliteratur heute

2022. 522 Seiten, gebunden € 70,– D ISBN 978-3-8471-1480-2

Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000 2022. 380 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0913-6

Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDRLiteratur

2022. 293 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-1345-4

Schreiben, Text, Autorschaft I

Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten 2021. 340 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1272-3