Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung 9783110434743, 9783110441482

Facticity and Validity is one of Jürgen Habermas’s principal works. In it, he proposes an innovative justification for t

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German Pages 224 [228] Year 2016

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Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung
 9783110434743, 9783110441482

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung
I. Recht als Kategorie der Vermittlung zwischen Faktizität und Geltung
II. Soziologische Rechts- und philosophische Gerechtigkeitskonzepte
III. Zur Rekonstruktion des Rechts (1): Das System der Rechte
IV. Zur Rekonstruktion des Rechts (2): Die Prinzipien des Rechtsstaates
V. Unbestimmtheit des Rechts und Rationalität der Rechtsprechung
VI. Justiz und Gesetzgebung. Zur Rolle und Legitimität der Verfassungsrechtsprechung
VII. Deliberative Politik – ein Verfahrensbegriff der Demokratie
VIII. Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit
IX. Paradigmen des Rechts
Anhang I. Recht und Moral (Tanner Lectures 1986)
Anhang II und III. Volkssouveränität als Verfahren (1988) Staatsbürgerschaft und nationale Identität (1990)
Auswahlbibliographie
Personenregister
Sachregister
Hinweise zu den Autoren

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Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung

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Herausgegeben von Herausgegeben von von Herausgegeben Otfried Höffe Otfried Höffe Höffe Otfried Band 48 36 Band Band 45

Herausgegeben von Otfried Höffe

Band 62

Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie der Universität Tübingen. an der Universität Tübingen. Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen

Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung Herausgegeben von Peter Koller und Christian Hiebaum

ISBN 978-3-11-044148-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043474-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043323-4 ISSN 2192-4554 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort 

 VII

Peter Koller und Christian Hiebaum Einführung   1 Peter Koller I Recht als Kategorie der Vermittlung zwischen Faktizität und Geltung 

 21

Otfried Höffe II Soziologische Rechts- und philosophische Gerechtigkeitskonzepte  Klaus Günther III Zur Rekonstruktion des Rechts (1): Das System der Rechte 

 37

 51

Alexander Somek IV Zur Rekonstruktion des Rechts (2): Die Prinzipien des Rechtsstaates  Robert Alexy V Unbestimmtheit des Rechts und Rationalität der Rechtsprechung 

 85

Dieter Grimm VI Justiz und Gesetzgebung. Zur Rolle und Legitimität der Verfassungsrechtsprechung   99 Hauke Brunkhorst VII Deliberative Politik – ein Verfahrensbegriff der Demokratie  Regina Kreide VIII Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit  Elisabeth Holzleithner IX Paradigmen des Rechts 

 153

Christian Hiebaum Anhang I Recht und Moral (Tanner Lectures 1986) 

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 117

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 69

VI 

 Inhalt

Hasso Hofmann Anhang II und III Volkssouveränität als Verfahren (1988) Staatsbürgerschaft und nationale Identität (1990)   201 Auswahlbibliographie  Personenregister   209 Sachregister   212 Hinweise zu den Autoren   215

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Vorwort Zur Vorbereitung dieses Bandes fand im Oktober 2014 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz ein Workshop mit den Autorinnen und Autoren statt. Für die großzügige Förderung der Veranstaltung danken wir der Fritz Thyssen Stiftung, der Universität Graz, der Stadt Graz und dem AlfredSchachner-Gedächtnisfonds. Zu unserer großen Freude konnten wir auch Jürgen Habermas selbst dafür gewinnen. Dies verlieh der Veranstaltung besonderen Glanz, erwies sich erwartungsgemäß aber auch sonst als Glücksfall. Nicht nur lauschte Habermas geduldig den Präsentationen der einzelnen Entwürfe, er replizierte zudem noch ausführlich und half auf diese Weise, einige Missverständnisse aufzuklären und die Konturen der verbliebenen Auffassungsunterschiede weiter zu schärfen. Dafür gebührt ihm unser herzlichster Dank. Graz, Mai 2016

Peter Koller und Christian Hiebaum

Peter Koller und Christian Hiebaum

Einführung

Jürgen Habermas’ Werk Faktizität und Geltung, das 1992 erschienen ist, gehört innerhalb des imposanten Stroms seiner wissenschaftlichen Arbeiten sicher zu den bedeutendsten Erträgen seines Denkens. Denn zum einen bietet es eine Art Zwischenresümee seines damals schon mehrere Jahrzehnte dauernden Bemühens, eine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, welche die für eine solche Theorie relevanten, jedoch mehr oder minder separierten, ja zum Teil inkompatiblen Beiträge der maßgeblichen Disziplinen, so insbesondere der Philosophie und der Sozialwissenschaften, aufnimmt und kritisch sichtet, um sie in entsprechend austarierter Form in ein großformatiges Gedankengebäude zu integrieren, das in der zeitgenössischen Theorielandschaft seinesgleichen sucht. Zum anderen bietet das Werk eine erhebliche Ausweitung dieser Theorie, weil Habermas darin versucht, ihre grundlegenden Ideen für eine anspruchsvolle Konzeption von Recht und Politik fruchtbar zu machen, die sowohl die faktische Existenz einer bindenden, durch organisierten Zwang gesicherten rechtlichen Ordnung erklären als auch die Bedingungen ihrer normativen Geltung erhellen soll. Da diese Konzeption in den nachfolgenden Kapiteln des vorliegenden Bandes im Detail resümiert und kritisch kommentiert wird, können wir uns hier auf eine kurze Einführung beschränken. Zuerst soll aber der Versuch unternommen werden, die zentralen Grundgedanken von Habermas’ Überlegungen, die den Kern seiner allgemeinen Theorie bilden und seiner Konzeption des Rechts zugrunde liegen, in groben Strichen zu skizzieren. Diese Überlegungen lassen sich, je nachdem, ob sie sich überwiegend mit Fragen der Gesellschaftstheorie, der Sprachphilosophische oder der Ethik befassen, in drei thematisch unterscheidbare, wenn auch in der Sache eng miteinander verzahnte Teilbereiche untergliedern: Habermas’ Konzept des kommunikativen Handelns, formale Sprachpragmatik und Diskursethik.

E.1 Zum Konzept des kommunikativen Handelns Dieses Konzept zielt darauf ab, die für Sozialwissenschaften grundlegende Frage zu beantworten, wie das Handeln der Menschen, insbesondere deren soziales Handeln, theoretisch zu fassen ist, um gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen angemessen verstehen und erklären zu können. In erster Annäherung an diese Frage unterscheidet Habermas vier Handlungskonzepte, denen

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verschiedene ontologische Voraussetzungen bezüglich der das Handeln umrahmenden Welt und auch differente Konzeptionen der Rationalität des Handelns zugrunde liegen: das sind die Konzepte des teleologischen, normenregulierten, dramaturgischen und kommunikativen Handelns, von denen die drei ersten von prominenten sozialwissenschaftlichen Ansätzen vertreten werden, während die letzte Habermas’ eigene Position darstellt (siehe dazu und zum Folgenden: Habermas 1981, 126ff.; 1984b, 573ff./159ff.). Das Konzept teleologischen Handelns, das den ökonomischen Ansätzen der rationalen Wahl zugrunde liegt, konzipiert das Handeln der Menschen als deren Wählen und Ergreifen geeigneter Mittel zur Verfolgung und Erreichung der von ihnen jeweils erstrebten Zwecke, als erfolgsorientiertes Handeln jeder einzelnen Person, mit dem sie im Lichte ihrer Deutung der Handlungssituation und der ihr zu Verfügung stehenden Handlungsalternativen ihren Nutzen zu mehren versucht. Wird auch zwischenmenschliches, soziales Handeln einzig und allein in diesem Sinne gedeutet, so wird es als strategisches Handeln modelliert. Demgegenüber stellt das Konzept normenregulierten Handelns, von dem die Rollentheorien der Soziologie ausgehen, von vornherein auf soziale Gruppierungen ab, deren Mitglieder sich in ihrem gegenseitigen Handeln von Normen leiten lassen, die sie übereinstimmend akzeptieren, was, wie Habermas meint, voraussetzt, dass sie darüber vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Deutung ihrer sozialen Welt ein rationales Einverständnis erzielt haben. Davon weicht das Konzept des dramaturgischen Handelns, mit dem die diversen Theorien des symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie operieren, insofern ab, als es weder auf einzelne Handelnde, noch auf normenregulierte Gruppieren fokussiert, sondern auf die Teilnehmer sozialer Interaktionen, die sich anderen gegenüber, gleichsam wie Schauspieler vor einem Publikum, als Personen mit ihren jeweils subjektiven Ambitionen, Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen im Bemühen um Glaubwürdigkeit präsentieren. Jedes dieser drei Konzepte ist nach Habermas unzureichend. Der Angelpunkt der Einwände, die er gegen sie erhebt, ist der Begriff der Welt, die das Handeln der Menschen rahmt und die ihm zufolge drei Dimensionen hat: die objektive Welt der für das Handeln relevanten externen Tatsachen, die durch assertorische Behauptungen mit dem Anspruch auf Wahrheit beschrieben werden; die soziale Welt der das zwischenmenschliche Handeln regelnden Normen, die gegenüber den Beteiligten Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben und von ihnen als gerechtfertigt anerkannt werden müssen, um soziale Geltung zu besitzen; und schließlich die subjektive Welt der handelnden Personen, deren Äußerungen über ihre persönlichen Befindlichkeiten, Gefühle und Intentionen den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben. Davon ausgehend wendet Habermas gegen das teleologische Konzept ein, es stelle ganz einseitig nur auf die objektive Welt ab, weil es



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einzig und allein auf die von den jeweils relevanten (wahren oder falschen) Tatsachenannahmen abhängige Eignung der den Handelnden offen stehenden Mittel zur Verwirklichung der von ihnen verfolgten Zwecke Bezug nehme und damit sowohl die normative Ordnung der sozialen Welt wie auch das subjektive Selbstverständnis der Handelnden außer Acht lasse. Demgegenüber nehme das normative Konzept zwar auch die soziale Welt in den Blick, greife aber ebenfalls zu kurz, weil es das Einverständnis der Beteiligten über die ihr soziales Handeln regulierenden Normen voraussetze statt sein Entstehen zu erklären, wozu auch die subjektive Welt der Handelnden in Betracht gezogen werden müsse. Und gegen das dramaturgische Konzept wendet Habermas ein, dass es, abgesehen von seiner wenig elaborierten Form, die soziale Welt der intersubjektiv anerkannten Normen unberücksichtigt lasse (vgl. Habermas 1981, 129ff.; 1984b, 576ff./163ff.). Den drei kritisierten Handlungskonzepten stellt Habermas das Konzept des kommunikativen Handelns entgegen, das sich von den anderen durch seinen dreifachen Weltbezug abhebe. Dieses Konzept beziehe sich auf die Interaktion mehrerer sprach- und handlungsfähiger Subjekte, die eine interpersonale Beziehung eingehen und eine Verständigung über ihre Handlungssituation suchen, um ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren, wobei der Sprache eine zentrale Funktion zukomme. Zwar spiele die Sprache auch in den anderen Konzepten eine gewisse Rolle (wie im teleologischen zur Mitteilung von Meinungen oder Absichten, im normativen zur Bekräftigung sozialer Normen und im dramaturgischen als Medium der Selbstinszenierung), doch nur das Konzept kommunikativen Handelns setze die „Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Sprecher und Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln“ (Habermas 1981, 142). Denn wenn die Handelnden eine solche Verständigung suchen, dann müssten sie in ihren Äußerungen auf alle drei Welten Bezug nehmen und für sie je nach ihrem Weltbezug spezifische Geltungsansprüche erheben, die von Anderen bejaht oder verneint werden können: (a) auf die objektive Welt der für ihre Situation jeweils relevanten realen Tatsachen, indem sie darüber deskriptive Aussagen mit dem Anspruch auf deren Wahrheit machen, (b) auf die soziale Welt der legitimen Regelung der interpersonalen Beziehungen, indem sie für die von ihnen jeweils befolgten oder vorgeschlagenen Normen Anspruch auf Richtigkeit erheben, und (c) auf die subjektive Welt ihrer ganz persönlichen Befindlichkeiten, für deren Schilderung sie Wahrhaftigkeit beanspruchen (siehe auch Habermas 1984b, 584ff./171ff.). Die so strukturierten kommunikativen Verständigungsprozesse finden jedoch, so Habermas, nicht in einem sozialen Vakuum statt, sondern sind eingebettet in die jeweilige Lebenswelt der Beteiligten, die sich aus deren unreflek-

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tierten, mehr oder weniger diffusen Hintergrundüberzeugungen zusammensetzt. „Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden. […] Die Weltkonzepte und die korrespondierenden Geltungsansprüche bilden das formale Gerüst, mit dem die kommunikativ Handelnden die jeweils problematischen, d.  h. einigungsbedürftigen Situationskontexte in ihre als unproblematisch vorausgesetzte Lebenswelt einordnen.“ (Habermas 1981, 107; vgl. 1984b, 589ff./176ff.) Die geteilten Hintergrundüberzeugungen der Lebenswelt, welche die kulturellen Überlieferungen früherer Generationen speichern, würden zwar das Dissensrisiko aktueller Verständigungsprozesse verringern, seien aber dennoch keineswegs unanfechtbar und immun gegen kritische Zweifel. Doch sobald sie in Frage gestellt werden, verwandeln sie sich selber in einen strittigen Gegenstand der sprachlichen Verständigung, werden damit rationalisiert und aus der Lebenswelt herausgelöst (siehe auch Habermas 1988b, 88ff./224ff.). Habermas bestreitet nicht, dass Menschen im sozialen Leben tatsächlich häufig erfolgsorientiert vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen, gegenüber anderen strategisch handeln und auch die Sprache instrumentell zum Zweck der kausalen Einwirkung auf das Handeln anderer gebrauchen, doch vertritt er die These, dass soziale Ordnungen sich auf Dauer nur vermöge einer verständigungsorientierten Kommunikation der Beteiligten stabilisieren lassen. Und er spitzt diese These noch dahingehend weiter zu, dass diese Verständigung nur dann gelingen kann, wenn die Beteiligten nicht bloß einen unter den jeweiligen Umständen allseits vorteilhaften Ausgleich ihrer divergierenden Interessen anstreben, sondern ein rationales Einverständnis suchen, dem sie alle aus guten Gründen zustimmen können, weil sie die Geltungssprüche der ihm zugrunde liegenden Äußerungen bejahen, d. h. diese für wahr, richtig oder wahrhaftig halten. Dieses anspruchsvolle, normativ stark aufgeladene Konzept sozialen Handelns wirft freilich die Frage auf, was es – verglichen mit einer bescheideneren, rein empirisch-deskriptiven Auffassung der Sprache – für das Verständnis sozia­ len Handelns und der sich aus ihm ergebenden Prozesse der Gesellschaftsbildung bringt und wie seine Anforderungen an ein gelingendes soziales Handeln und eine stabile gesellschaftliche Ordnung begründet werden können. Habermas beschreitet mehrere Wege, um diese Frage zu beantworten. Ein Weg ist der von ihm in dem Werk Theorie des kommunikativen Handelns unternommene Versuch, in Auseinandersetzung mit den großen Theorien der Soziologie die Fruchtbarkeit seines Modells für die Erklärung der Entwicklung moderner Gesellschaften zu demonstrieren. Darauf kann in diesem Kontext nicht weiter eingegangen werden. Ein anderer, direkterer Weg ist die von Habermas im Anschluss an die analytische Sprachphilosophie entwickelte sprachtheoretische Konzeption, die er „formale Sprachpragmatik“ nennt.



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E.2 Zur formalen Sprachpragmatik Habermas’ sprachtheoretische Überlegungen knüpfen an die auf Karl Bühler zurückgehende These an, dass die Sprache, verstanden als ein konventionelles Regelsystem menschlicher Kommunikation vermittels bedeutungstragender Zeichen, drei Grundfunktionen hat: die kognitive Funktion der Darstellung objektiver Sachverhalte, die expressive Funktion der Kundgabe von Erlebnissen des Sprechers und die appellative Funktion der Äußerung von Aufforderungen an die Adressaten. Davon ausgehend entwickelt er im Wege einer kritischen Rezeption wesentlicher Einsichten der neueren analytischen Sprachphilosophie, insbesondere der Spätphilosophie Wittgensteins und der Sprechakttheorie, eine sprachpragmatische, d. h. auf die kontextabhängigen Verwendungsweisen sprachlicher Äußerungen abhebende Konzeption, die die Sprache als ein allen drei Funktionen zugleich dienendes Medium „einer durch Verständigungsakte vermittelten Interaktion sprach- und handlungsfähiger Subjekte“ versteht (siehe dazu und zum Folgenden Habermas 1981, 372ff.; 1984a; 1988b). Zu diesem Zweck sichtet Habermas die Theorieentwicklung der analytischen Sprachphilosophie, die mit Husserl und Frege einsetzt und über verschiedene Bedeutungstheorien, wie die logische Semantik und die Gebrauchstheorie, zur Sprachpragmatik in Gestalt der Sprechakttheorie führt. Hier können nur einige markante Resultate seiner diesbezüglichen Erörterungen angedeutet werden. Der logischen oder Wahrheitssemantik, nach der die Bedeutung eines Satzes aus den Bedingungen seiner Wahrheit hervorgeht, schreibt er das Verdienst zu, den „Zusammenhang zwischen der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks und der Geltung eines mit seiner Hilfe gebildeten Satzes zunächst für die Dimension der sprachlichen Darstellung von Sachverhalten herausgearbeitet“ zu haben, wendet aber gegen sie ein, sie bleibe auf assertorische Sätze beschränkt und lasse damit die Bedeutung anderer Sprachverwendungen unerklärt (Habermas 1981, 174). Dagegen hält er der Wittgenstein’schen Gebrauchstheorie der Bedeutung zugute, dass sie im Unterschied zu den rein semantischen Theorien auch die Pragmatik sprachlicher Kommunikation in den Blick nehme, obschon sie keine systematische Analyse des Zusammenspiels zwischen Sprechen und Handeln biete. Erst die Theorie der Sprechakte von John Austin und John Searle stelle einen ersten Schritt zu einer solchen Analyse dar, zu einer formalen Pragmatik, die sich auch auf die nicht-kognitiven Verwendungsweisen der Sprache erstreckt (siehe auch Habermas 1988a; 1988b, 75ff./211ff.). Die Sprechakttheorie versucht der an sich zwar nicht überraschenden, von der Sprachphilosophie aber lange vernachlässigten Beobachtung Rechnung zu tragen, dass wir mit manchen unserer sprachlichen Äußerungen bestimmte Dinge tun, also damit verbundene Handlungen (wie z. B. versprechen, drohen,

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taufen) vollziehen. Austin hat solche Äußerungen, die ihm folgend als „Sprechakte“ oder „performative Akte“ bezeichnet werden, in drei Elemente zergliedert: ein lokutionäres, bestehend in der Äußerung eines bestimmten Satzes (z. B. „Ich verspreche, p zu tun“), ein illokutionäres, das ist die mit der Äußerung vollzogene Handlung (mit der der Sprecher die Verpflichtung übernimmt, p zu tun), und ein perlokutionäres, nämlich die vom Sprecher beabsichtigte Wirkung (etwa dass der Adressat erwartet, dass der Sprecher p tut). Ferner hat Austin zwei Sorten von Bedingungen des Erfolgs von Sprechakten hervorgehoben: objektive in Gestalt entsprechender sozialer Konventionen, die bestimmen, unter welchen Umständen bestimmte Sprechakte erfolgreich vollzogen werden können, und subjektive betreffend die Intentionen der Sprecher, die das Gelingen solcher Akte erfordert. Obwohl Austin damit eine Reihe typischer Sprechakte, etwa das Versprechen und das Taufen, erhellen konnte, blieb seine Analyse doch fragmentarisch, weil sie nur auf einige eher zufällig ausgewählte Sorten von Sprechakten fokussierte, ohne sie in eine stimmige systematische Ordnung zu bringen. Ferner hat sie den performativen Charakter assertorischer Äußerungen nicht berücksichtigt, zumindest nicht hinreichend unterstrichen. Diese Mängel wurden von Searle insofern behoben, als es ihm gelang, eine systematische Klassifikation von Sprechakten zu präsentieren, die auch die assertorischen Äußerungen einschließt. Diese Klassifikation, die sich nicht an der sprachlichen Form der Äußerungen, sondern an den illokutionären Handlungsabsichten der Sprechenden orientiert, inkludiert fünf Klassen von Sprechakten: konstative (assertorische Behauptungen), kommissive (Selbstverpflichtungen), direktive (an andere Personen gerichtete Anleitungen), deklarative (normativ bindende Erklärungen, wie Ernennungen, Kündigungen) und expressive (Kundgabe subjektiver Einstellungen). In Auseinandersetzung mit dieser Klassifikation und in Abgrenzung von nachfolgenden Bemühungen, sie entweder ontologisch oder empirisch zu begründen, entwickelt Habermas seine formalpragmatische Konzeption, die sowohl den dreifachen Weltbezug des kommunikativen Handelns als auch die ihm inhärenten starken normativen Anforderungen an sprachliche Verständigungsprozesse fundieren soll (siehe zum Folgenden Habermas 1981, 435ff.; 1984a, 83ff./108ff.). Diese Konzeption setzt zweierlei voraus: erstens, dass die illokutionären Ziele von Sprechakten durch die intersubjektive Anerkennung der mit diesen Akten zum Ausdruck gebrachten Macht- oder Geltungsansprüche erreicht werden; und zweitens, dass die sich auf die soziale und die subjektive Welt beziehenden illokutionären Gehalte von Sprechakten – analog zum Wahrheitsanspruch ihrer assertorischen Gehalte – ebenfalls begründungsbedürftige Geltungsansprüche implizieren, u. zw. die auf normative Richtigkeit bzw. subjektive Wahrhaftigkeit. Auf diesen Voraussetzungen beruht auch Habermas’ Vorschlag, die logischsemantische Bedeutungstheorie, der zufolge die Bedeutung assertorischer Sätze



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durch deren Wahrheitsbedingungen bestimmt wird, zu einer ganz allgemeinen, sich auf alle Sprechakte erstreckenden formalpragmatischen Konzeption der Bedeutung zu erweitern, nach der die Bedeutung eines Sprechakts verstanden wird, wenn man die Bedingungen seiner Geltung kennt, d. h. die Bedingungen, unter denen die mit ihm erhobenen Geltungsansprüche von allen Beteiligten aus rationalen Gründen akzeptiert werden können (so Habermas 1981, 195; 1988a, 126ff./94ff.). Davon ausgehend unterscheidet Habermas sechs Sorten von Sprechhandlungen, von denen hier aber nur die folgenden vier interessieren: (a) imperative, nämlich Handlungsanweisungen mit Machtanspruch; (b) konstative, also Behauptungen über Sachverhalte mit Wahrheitsanspruch; (c) regulative, d.  h. Vorschläge zur einvernehmlichen Regelung interpersoneller Beziehungen mit dem Anspruch auf normative Richtigkeit; und (d) expressive, d. s. subjektive Erlebnisberichte mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Diesen vier Sorten von Sprechakten entsprechen, so Habermas, ebenso viele reine Typen des sprachvermittelten sozialen Handelns, nämlich (1) strategisches Handeln, mit dem die handelnden Personen ihre jeweiligen Ziele erfolgsorientiert nach Maßgabe ihrer relativen Macht durchzusetzen trachten und die Sprache bloß als ein Mittel zur kausalen Einwirkung auf ihre Gegenspieler benutzen; (2) konversationelles Handeln, d.  i. die Kommunikation mittels konstativer Sprechakte, (3) normenreguliertes Handeln zur allseitig als legitim akzeptierten Koordination des sozialen Lebens mittels regulativer Sprechakte und (4) dramaturgisches Handeln in Gestalt des Vollzugs expressiver Sprechakte (vgl. Habermas 1981, 427ff.; 1984a, 101ff./128ff.). Habermas vertritt nun die These, dass nur die drei letzten Handlungstypen – also konversationelles, normenreguliertes und dramaturgisches Handeln  – Formen des kommunikativen Handelns darstellen, wogegen das strategische Handeln erfolgsorientierter Akteure das Telos der Sprache, nämlich die intersubjektive Verständigung zur Erreichung eines rational motivierten Einverständnisses aller Beteiligten, verfehle (dazu Habermas 1981, 385ff.; 1984b, 602ff./191ff.). Da diese Akteure die Sprache nicht zum Zweck einer solchen Verständigung, sondern nur zur Mitteilung ihrer an Andere adressierten Forderungen und der von ihnen in Betracht gezogenen Mittel zur Durchsetzung dieser Forderungen verwenden, um ein bestimmtes Verhalten der Adressaten kausal zu bewirken, würden sie die für das Verständnis ihrer Sprechhandlungen konstitutiven Geltungsansprüche gar nicht ernsthaft in der Absicht erheben, sie nötigenfalls durch gute Gründe zu untermauern, um sie für alle Betroffenen akzeptabel zu machen. Erfolgsorientierten Akteuren mag es zwar gelingen, ihre strategische Interaktion durch eine unter den gegebenen Bedingungen für alle vorteilhafte Abstimmung ihres Handelns zu koordinieren, doch eine derartige Abstimmung erfülle nicht die Anforderungen an ein kommunikativ erzieltes Einverständnis. Ein solches

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Einverständnis könne wegen der Geltungsansprüche sprachlicher Äußerungen „nicht allein durch Einwirkung von außen induziert sein, es muß von allen Beteiligten als gültig akzeptiert werden. Insofern unterscheidet es sich von einer bloß faktisch bestehenden Übereinstimmung. Verständigungsprozesse zielen auf ein Einverständnis, welches den Bedingungen einer rational motivierten Zustimmung zum Inhalt einer Äußerung genügt.“ (Habermas 1981, 386f.) Und daraus folge, „daß der verständigungsorientierte Sprachgebrauch der Originalmodus ist, zu dem sich die indirekte Verständigung, das Zu-verstehen-geben oder das Verstehen-lassen, parasitär verhalten“ (388). Dieses Argument, mit dem Habermas’ Konzept des kommunikativen Handelns letztlich steht oder fällt, wirft jedoch – wie auch seine formalpragmatische Bedeutungskonzeption – kritische Fragen auf. Eine Frage betrifft den von ihm behaupteten engen Zusammenhang zwischen sprachlicher Verständigung und der Herstellung eines rational motivierten Einverständnisses, der schon intuitiv einigermaßen rätselhaft erscheint. Denn normalerweise pflegen wir zwischen mindestens drei verschiedenen Formen sprachlicher Verständigung zu differenzieren: (a) dem interpersonellen Transfer der Bedeutungen sprachlicher Äußerungen in dem Sinn, dass die Adressaten das von den Sprechern Gemeinte verstehen, ohne aber in irgendeiner Weise damit einverstanden sein zu müssen; (b) einem Austausch von Behauptungen, Meinungen, Vorschlägen oder Forderungen mit dem Ziel, über eine Sache Einigung zu erzielen, wenn auch nur in Form eines für die Beteiligten unter den gegebenen Umständen nolens volens akzeptablen Kompromisses; (c) einem rational motivierten Konsens über die zur Debatte stehenden Sachverhalte oder Verhaltensnormen, dem alle Beteiligten bei rechter Erwägung aus gemeinsam geteilten Gründen zustimmen können. Auf die Frage, wie sich diese Formen zueinander verhalten, liegt auf den ersten Blick wohl die Antwort nahe, dass ein gelingender Bedeutungstransfer (a)  eine notwendige Voraussetzung sowohl für eine Einigung der Form (b) als auch für eine rational motivierte Übereinstimmung (c) ist, selber aber ganz unabhängig von (b) und (c) möglich ist, und dass ferner (b) und (c) voneinander unabhängig, in der Regel aber nicht gleichzeitig möglich sind. Da die Differenzierung zwischen den erwähnten Formen von Habermas keineswegs bestritten, ja wiederholt unterstrichen wird, mutet seine ihr Verhältnis betreffende Behauptung, dass schon der sprachliche Bedeutungstransfer (a) das Bemühen um eine rationale Übereinstimmung (c) voraussetzt und dass deren Vorrang überdies strategisch erzielte Kompromisse (b) verbietet, mehr als überraschend an. Und es ist auch schwer zu sehen, dass diese These durch die von ihm vertretene formale Sprachpragmatik zwingend begründet wird. Habermas nimmt in seine Klassifikation von Sprechakten ja selber imperative Sprechhandlungen auf, mit denen die Sprecher gegenüber den Adressaten einen



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Machtanspruch erheben, der sich zwar im Rahmen kommunikativen Handelns durch gute Gründe rechtfertigen lassen mag, sich aber auch auf nichts weiter als auf das schlichte Faktum stützen könnte, dass der Sprecher über die Machtmittel verfügt, um seinen Anweisungen Geltung zu verschaffen. Im letzten Fall liegt eine Konstellation strategischen Handelns vor, die Habermas zwar als eine reale Möglichkeit sozialer Interaktion in Betracht zieht, aber letztlich doch aus dem Feld sozialen Handelns ausscheidet, weil der für sie typische Sprachgebrauch bloß einen parasitären Modus sprachlicher Kommunikation darstelle. Aber trifft das auch zu? Könnte man nicht sagen, dass der Geltungsanspruch imperativer Sprechakte eben in dem mit ihnen erhobenen Machtanspruch besteht, der sich unabhängig davon, ob er sich auch durch vernünftige, allgemein akzeptable Gründe rechtfertigen lässt oder nicht, einfach auf die Möglichkeit seiner realen Durchsetzbarkeit durch den Einsatz entsprechender Machtmittel stützt? Diese Interpretation wäre allerdings unvereinbar mit der von Habermas vertretenen Bedeutungskonzeption, nach der das Verständnis sprachlicher Äußerungen die Kenntnis der Bedingungen erfordert, unter denen die mit diesen Äußerungen erhobenen Geltungsansprüche von allen Beteiligten aus rationalen Gründen akzeptiert werden können. Denn damit sind imperative Sprechakte, die sich einfach nur auf die Macht der Sprecher berufen, ihren Willen durchzusetzen, ohne diese ihre Macht durch allgemein akzeptable Gründe rechtfertigen zu können, von vornherein ausgeschlossen. Diese Konsequenz könnte jedoch dazu Anlass geben, die Habermas’sche Bedeutungskonzeption gerade wegen ihrer starken normativen Implikationen ihrerseits in Zweifel zu ziehen. Um diese Implikationen zu vermeiden, würde es vielleicht schon genügen, diese Konzeption etwas zu modifizieren, etwa dahingehend, dass man die Bedeutung sprachlicher Äußerungen an die Bedingungen knüpft, unter denen die mit ihnen erhobenen Geltungsansprüche (einschließlich der mit imperativen Sprechakten erhobenen Machtansprüche) erfüllt sind, unter denen also konstative Aussagen wahr, regulative Direktiven legitim, expressive Darstellungen aufrichtig und imperative Anweisungen durchschlagskräftig sind. Eine derartige Modifikation würde freilich den normativen Gehalt der formalen Sprachpragmatik und des Konzepts des kommunikativen Handelns erheblich schwächen. Es ist hier nicht der Platz, die näheren Details und die diversen Probleme von Habermas’ sprachtheoretischer Fundierung seiner Konzeption kommunikativen Handelns weiter zu vertiefen. Selbst wenn die erwähnten oder andere Einwände gegen diese Konzeption durchschlagend sein sollten, würden sie sie keineswegs ganz entwerten, sondern nur ihren Anwendungsbereich beschränken. Denn dass es kommunikatives Handeln in der von Habermas beschriebenen Form faktisch gibt und dass es im sozialen Handeln eine bedeutende, ja in ethischen Diskursen

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eine tragende Rolle spielt, ist offensichtlich. Angesichts dieses Umstands ist es nicht verwunderlich, dass Habermas auf der Grundlage seiner Konzeption eine ethische Theorie ausarbeiten konnte, die im Folgenden skizziert werden soll.

E.3 Zur Diskursethik Kommunikatives Handeln verlangt wegen der Geltungsansprüche, welche die Sprechhandlungen der beteiligten Personen inkludieren, deren Bereitschaft, die von ihnen erhobenen Geltungsansprüche bei Bedarf argumentativ zu begründen, gegen kritische Nachfragen oder Einwände zu verteidigen und sie bei Vorliegen stichhaltiger Gegenargumente aufzugeben, um nach Möglichkeit ein rationales Einvernehmen über die zur Debatte stehenden Themen zu erreichen. Dies setzt jedoch, so Habermas, eine ideale Sprechsituation voraus, in der alle Beteiligten eine gleiche Stimme haben, also gleichermaßen berechtigt sind, Themen zur Diskussion zu stellen, ihre Ansichten zu äußern, Gründe für oder gegen einzelne Auffassungen vorzubringen und auch ihre Stellungnahmen zu revidieren. Die Voraussetzung einer derartigen Sprechsituation sei zwar eine kontrafaktische Idealisierung, von der reale Verständigungsprozesse stets mehr oder minder abweichen, der sich aber die Beteiligten doch bis zu einem gewissen Grade annähern können. Dieses Geschehen wird von Habermas Diskurs genannt (wodurch seine Redeweise von anderen gebräuchlichen Verwendungen dieses Terminus erheblich abweicht). Entsprechend den früher erwähnten Sorten von Sprechakten unterscheidet er analytisch mehrere Arten des Diskurses, so vor allem theoretische, praktische und ästhetische Diskurse, die faktisch jedoch vielfach miteinander Hand in Hand gehen. Im Zentrum der Diskursethik stehen praktische Diskurse, die auf eine rational motivierte Einigung aller Beteiligten über die Regelung ihres sozialen Lebens zielen, was freilich in der Regel auch theoretische Diskurse über die relevanten Tatsachen erfordert (siehe zum Folgenden Habermas 1983a; 1991a; 1991b). Habermas verwendet die Begriffe „Ethik“ und „ethisch“ jeweils auf spezielle Weisen, die sich mit dem – freilich recht diffusen – üblichen Sprachgebrauch nicht ganz decken und leicht zu Konfusionen führen können. Wenn er von Diskursethik spricht, versteht er den Ethik-Begriff in der weiten Bedeutung, die nicht nur Diskurse über moralische Standards, sondern über alle Richtlinien des menschlichen Handelns, mithin die Gesamtheit praktischer Diskurse, umfasst. Davon ausgehend teilt er dann diese Diskurse in Anlehnung an die Kantische Unterscheidung zwischen Zweckmäßigkeit, Klugheit und Moral in drei Arten ein, die er – jedoch abweichend von Kant, der die entsprechenden Anleitungen technische, pragmatische und moralische Imperative nannte – als pragmatische,



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ethische und moralische Diskurse anspricht. Bei pragmatischen Diskursen geht es in seiner Terminologie um die Zweckmäßigkeit des Handelns oder, wenn kollektiv verbindliche Entscheidungen oder Normen zur Debatte stehen, um deren Effizienz im Sinne ihrer Eignung, die von den Beteiligten gemeinsam verfolgten Ziele zu erreichen. Ethische Diskurse betreffen dagegen Fragen des nachhaltigen Wohlergehens einzelner Personen oder sozialer Gemeinschaften, Fragen, die bei den letzteren eine Meinungsbildung ihrer Mitglieder über ihr gemeinschaftliches Selbstverständnis, ihre gemeinsame Vorstellung des Guten und ihre kulturelle Praxis erfordern. In moralischen Diskursen stehen schließlich die Richtlinien der Moral und Gerechtigkeit zur Debatte, von denen angenommen wird, dass sie universelle und kategorische Verbindlichkeit besitzen, d. h. für und gegenüber jeder Person gelten und auch Vorrang vor den anderen Anleitungen haben (siehe Habermas 1991a). Dieser Terminologie zufolge bezeichnet das Adjektiv „ethisch“ nicht die Gesamtheit der praktischen Diskurse, auf die sich die Diskursethik erstreckt, sondern nur eine Teilklasse derselben, die ihrerseits nicht die Standards der Moral, sondern die der Klugheit bzw. des gemeinsamen Besten zum Gegenstand hat. Dessen ungeachtet wird die folgende Skizze nur mehr auf moralische Diskurse abstellen, die in der Ethik (im weiten Sinn verstanden) ohnehin eine tragende Rolle spielen und auch im Zentrum der Diskursethik stehen. Habermas’ Diskursethik zielt nicht in erster Linie darauf ab, substanzielle Normen der Moral, gewissermaßen einen Moralkodex, zu postulieren, sondern darauf, das Verfahren einer rationalen Willensbildung über solche Normen im Wege eines konsensorientierten Diskurses ihrer Adressaten und der von ihnen möglicherweise betroffenen Personen zu erhellen, um damit ihre „Sollgeltung“ zu erklären. Sie ist demnach eine prozedurale Ethik, die auf die Methode der Begründung moralischer Normen fokussiert, deren Inhalt aber erst durch eine gelingende Konsensfindung der Beteiligten festgelegt werden soll. Sie ist ferner eine kommunikative Ethik, weil sie gültige Normen, anders als die meisten traditionellen Ethik-Konzeptionen, nicht aus der monologischen Reflexion einsam räsonierender Individuen, sondern aus der diskursiven Willensbildung aller betroffenen Personen hervorgehen lässt. Und sie soll, wie Habermas (wenn auch u. E. nicht sehr überzeugend) argumentiert, eine kognitivistische Ethik sein, die zeige, dass moralische Normen kognitiven Gehalt haben und daher –in analoger, wenn auch nicht gleicher Weise wie assertorische Sätze – wahrheitsfähig sind, ohne sich jedoch auf reale Tatsachen zu beziehen, die in der Welt unabhängig von menschlicher Willensbildung existieren (vgl. Habermas 1996; dazu Koller 1998, 258ff.). Die Anwendung der Konzeption des kommunikativen Handelns, nach der normative Propositionen Anspruch auf Richtigkeit im Sinne der rationalen Zustimmungsfähigkeit für alle Beteiligten erheben, auf praktische Diskurse,

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in denen ein rational motivierter Konsens über gültige soziale Normen erreicht werden soll, führt Habermas zu einem allgemeinen Grundprinzip der Diskursethik, das die Zielsetzung praktischer Diskurse – die Konsensfindung über gültige soziale Normen – formuliert und von deren Gelingen die Geltung moralischer Normen abhängig macht. Das ist das Diskursprinzip D, dem zufolge „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“ (Habermas 1983a, 103/94). Ein Konsens über solche Normen kann deren Geltung freilich nur dann fundieren, wenn der praktische Diskurs den Erfordernissen einer idealen Sprechsituation genügt und wenn die Tatsachenannahmen zutreffen, von denen die Beteiligten bei ihrer Willensbildung ausgehen. Infolgedessen können faktische Diskurse, die diese Erfordernisse ja niemals ganz erfüllen, stets nur zu provisorischen und falliblen Ergebnissen führen, die jedoch besser oder schlechter begründet sein können, je nachdem, wie weit sich die in Betracht stehenden Diskurse vom Ideal einer vernünftigen Willensbildung der Beteiligten entfernen. Da das Diskursprinzip D ja nichts weiter als die Voraussetzung der Geltung moralischer Normen benennt, nicht aber angibt, wann diese Voraussetzung erfüllt ist, ist es selber noch kein Moralprinzip, das eine taugliche Grundlage für die substanzielle Begründung solcher Normen bereitstellt. Dazu bedarf es, so Habermas, eines spezifischeren Prinzips, das die Bedingungen eines rational motivierten Konsenses aller Betroffenen über die für sie gültigen moralischen Normen näher bestimmt. Und dieses Prinzip sei nichts anderes als der in der Moralphilosophie wohlbekannte Grundsatz der Verallgemeinerung, den er nach eingehender Diskussion anderer Auffassungen schließlich in Gestalt des Universalisierungsgrundsatzes U wie folgt formuliert: Eine Norm muss, um unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses allgemeine Zustimmung finden zu können (und damit allgemeine Geltung zu besitzen), der Bedingung genügen, „dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können“ (Habermas 1983b, 131; ähnlich 1991b, 134/196). Diese diskurstheoretische Fassung des Prinzips der Verallgemeinerung biete, so Habermas, zugleich eine überzeugende Deutung des moralischen Standpunkts, von dem aus moralische Fragen aus einer allgemeinen und unparteiischen Sicht erwogen werden müssen. Das Prinzip U gewährleiste die Unparteilichkeit der moralischen Willensbildung, da es von den Beteiligten verlange, ihre faktischen Stellungnahmen unter der idealisierenden Anforderung vorzunehmen, dass die voraussichtlichen Folgen der allgemeinen Befolgung der von ihnen proponierten Normen die Interessen jeder anderen davon betroffenen Person gleichermaßen befriedigen wie ihre eigenen. Diese Anforderung nötige jeden Teilnehmer zu einer



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idealen Rollenübernahme, d. h. dazu, sich in die Perspektive der anderen Betroffenen hineinzuversetzen und zu prüfen, „ob er, auf der Grundlage einer wechselseitigen Kritik der Angemessenheit von Deutungsperspektiven und Bedürfnisinterpretationen, aus jeweils seiner Sicht eine strittige Norm als allgemeines Gesetz wollen kann“ (Habermas 1991b, 157/222). Habermas’ Diskursethik steht zwar eindeutig in der Tradition einer nichtskeptischen bzw. rationalistischen Ethik im Gefolge von Kant, sie hebt sich aber sowohl von der Kantischen als auch von den daran anknüpfenden Konzeptionen, wie z. B. der von Rawls, in mehreren Hinsichten ab. Denn erstens unterstreicht sie deutlicher als diese die an sich banale Einsicht, dass moralische Standards weder von moralphilosophischen Experten noch von einer gesellschaftlichen Autorität dekretiert werden können, sondern Ergebnis öffentlicher Diskussion sind, in der alle Betroffenen als gleiche und freie Personen eine gleiche Stimme haben. Zweitens modelliert die Diskursethik das moralische Erwägen, anders als die meisten herkömmlichen Konzeptionen, nicht als ein monologisches Räsonieren isolierter Individuen, sondern als einen diskursiven Prozess der kollektiven Willensbildung, der darauf zielt, einen für alle Betroffenen aus vernünftigen Gründen akzeptablen Konsens über die für sie verbindlichen moralischen Normen zu erreichen. Auch wenn sich gegen Habermas’ Prätention, dadurch unterscheide sich die Diskursethik grundsätzlich von anderen Konzeptionen, einwenden ließe, dass auch diese Konzeptionen letztlich auf die intersubjektive Konsensfähigkeit moralischer Normen ausgerichtet sind und dass umgekehrt auch die Diskursethik wegen ihrer idealisierenden Anforderungen an moralische Diskurse auf „monologische“ Erwägungen nicht verzichten kann, hat seine Theorie doch den Vorzug, die kollektive Natur der Moral besonders zu akzentuieren, indem sie sowohl deren Funktion für die Regelung des sozialen Lebens als auch ihre Produktion durch kommunikatives Handeln in den Vordergrund stellt. Und drittens ist auch das grundlegende Moralprinzip der Diskursethik, das Prinzip U, ein origineller Beitrag, weil es die Idee der kategorischen Verbindlichkeit moralischer Normen im Sinne der Kantischen Ethik mit einer Erwägung der Folgen dieser Normen entsprechend einer konsequenzialistischen Ethik in recht plausibler Weise verknüpft. Diese Fassung des Verallgemeinerungsgrundsatzes erscheint zumindest prima facie vielversprechend. Obwohl Habermas in den erwähnten Arbeiten gelegentlich auch darauf zu sprechen kommt, wie sich die normativen Ergebnisse kommunikativer Verständigungsprozesse, insbesondere moralischer Diskurse, in faktisch geltende soziale Institutionen und Normen, vor allem solche des Rechts, übersetzen lassen, hat er eine elaborierte Theorie, die sich mit dieser Thematik befasst, erst in seinem Werk Faktizität und Geltung entwickelt, das den Gegenstand des vorliegenden Bandes bildet.

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E.4 Zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats Faktizität und Geltung bietet „die erste ausgearbeitete Rechtsphilosophie aus dem Umkreis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“ (Dreier 1994, 90), und zwar eine, die neben den Legitimitätsproblemen auch die Potenziale des Rechts als Medium der sozialen Integration hervorhebt. Habermas „löst die kritische Theorie von der Fixierung sowohl auf einen primär negativen Herrschaftsbegriff wie auf eine primär negative Gesellschaftskritik“ (Höffe 1993, 73). Der kurz vor Erscheinen des Buches zu Grabe getragenen Spielart des Sozialismus hält er vor, „das sozialistische Projekt mit dem Entwurf – und der gewaltsamen Durchsetzung – einer konkreten Lebensform verwechselt [zu haben]. Wenn man jedoch ‚Sozialismus‘ als Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen begreift, über die sich die Beteiligten selbst erst verständigen müssen, erkennt man, daß die demokratische Selbstorganisation einer Rechtsgemeinschaft den normativen Kern auch dieses Projekts bildet.“ (12) Man mag darüber streiten, wie viel von Sozialismus und Kritischer Theorie in der diskurstheoretischen Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaates übrig geblieben ist. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, dass das Werk weit mehr als eine Rechtsphilosophie im herkömmlichen Sinne enthält. Habermas verbindet die Rechtstheorie nicht nur mit der Moralphilosophie, sondern überdies mit der normativen und empirischen Demokratietheorie. Seine Argumentation „zielt“, wie er im Nachwort zur vierten Auflage schreibt, „wesentlich auf den Nachweis, daß zwischen Rechtsstaat und Demokratie nicht nur ein historisch-zufälliger, sondern ein begrifflicher oder interner Zusammenhang besteht“ (Habermas 1994, 664). Damit erreicht die Ambition des Werks nahezu Hegel’sche Dimensionen und hebt sich deutlich ab von den Zielsetzungen so gut wie jeder anderen Unternehmung der zeitgenössischen Rechts- und Sozialphilosophie. Das bedeutet freilich nicht, dass Habermas sich hauptsächlich im eigenen Begriffs- und Ideenuniversum aufhalten würde. Ganz im Gegenteil, wie schon in früheren Schriften generiert, präzisiert und modifiziert er seine Thesen und Argumente gerade in der Auseinandersetzung mit einer Fülle soziologischer, philosophischer und juristischer Denktraditionen. Denn: „Was seinerzeit in Begriffen der Hegelschen Philosophie zusammengalten werden konnte, verlangt heute ein methodenpluralistisches Vorgehen aus den Perspektiven der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und -geschichte, der Moral- und der Gesellschaftstheorie. Das ist mir insofern willkommen, als ich auf diese Weise eine oft verkannte pluralistische Anlage der Theorie des kommunikativen Handelns deutlich machen kann. Die philosophischen Grundbegriffe bilden keine eigene Sprache, jedenfalls kein



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System mehr, das sich alles anverwandelt – sondern Mittel für die rekonstruierende Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dank ihrer Vielsprachigkeit kann eine Philosophie, die aus eigener Kompetenz nur noch für die Durchsichtigkeit der Grundbegriffe sorgt, auf metatheoretischer Ebene überraschende Kohärenzen aufdecken.“ (9) Es ist gerade diese „Vielsprachigkeit“, die das Habermas’sche Denken auch von dem (unter den sich nicht ohnehin explizit auf Habermas berufenden Ansätzen) wohl engsten Verwandten in der gegenwärtigen Philosophie unterscheidet: dem auf diskursive Praktiken und wechselseitige Anerkennung abstellenden Hegelianismus von Robert Brandom, der sich nunmehr ebenfalls mit dem Recht befasst (Brandom 2014) und wie Habermas den Skeptizismus in die Schranken weisen möchte. Während es Brandom ausschließlich um die (Möglichkeit der) Bestimmung des Inhalts von rechtlichen Begriffen geht und darum, wie ein „normativer Status“ (etwa das Haben von Rechten) überhaupt erst entstehen kann, steht bei Habermas die politisch-theoretische Frage im Zentrum, wie sich wechselseitig als Freie und Gleiche Anerkennende ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts organisieren können und sollen, „zumal in pluralistischen Gesellschaften, in denen inklusive Weltbilder und kollektiv verbindliche Ethiken zerfallen sind und wo die übriggebliebene posttraditionale Gewissensmoral keine hinreichende Grundlage für das einst religiös oder metaphysisch begründete Naturrecht bietet“ (Habermas 1994, 662). Die Antwort darauf liefert eine Theorie der modernen Gesellschaft, in der das positive Recht selbst bzw. die Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsdiskurse eine wesentliche Integrationsfunktion erfüllen. Über die Legitimität erst konstituierenden Verfahren der Rechtsetzung und Rechtsanwendung und die mit ihnen verbundenen Argumentationslasten bleibt eine Verbindung zur Moral gewahrt, die – anders als noch in der naturrechtlichen Tradition – nicht mehr als dem Recht einfach übergeordnet konzipiert wird. Die Diskurstheorie platziert sich damit zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehren – und in der weiteren Explikation des Zusammenhangs von Recht, Moral und Politik zwischen liberalen und kommunitaristischen politischen Theorien. Zudem wendet sie sich gegen bestimmte realistisch-sozialwissenschaftliche Entzauberungen des Rechts wie auch gegen Modelle der Demokratie als Verfahren der bloßen Elitenselektion und der Aggregation von exogenen, d.  h. dem politischen Prozess äußerlichen Präferenzen: „Der demokratische Prozeß trägt die ganze Bürde der Legitimation. Er muß gleichzeitig die private und die öffentliche Autonomie der Rechtssubjekte sichern; denn die subjektiv-privaten Rechte können nicht einmal angemessen formuliert, geschweige denn politisch durchgesetzt werden, wenn nicht zuvor die Betroffenen selbst in öffentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für die Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle geklärt und kommunika-

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tive Macht für die Berücksichtigung ihrer neu interpretierten Bedürfnisse mobilisiert haben.“ (Habermas 1994, 664). Im Folgenden seien die hervorstechendsten Thesen und Argumente des Buches knapp zusammengefasst: Die moderne Gesellschaft lässt sich problemlos weder als im Staat zentrierte Einheit begreifen, als Ganzes, das durch die Verbindung seiner Teile konstituiert werde, noch als Kollektiv, zu dem sich autonome Individuen zusammengeschlossen hätten. Eine ihr entsprechende, rekonstruktive Gesellschaftstheorie muss, um noch einen Zusammenhang zwischen Vernunft und gesellschaftlicher Praxis herstellen zu können, an die Stelle der allzu eng ans Moralische gebundenen praktischen Vernunft die kommunikative Vernunft setzen. Das heißt, sie muss ihr Hauptaugenmerk auf die Verständigungspraktiken der Einzelnen richten. Vernunft kommt weder dem „einzelnen Aktor“ noch „einem staatlich-gesellschaftlichen Makrosubjekt“ zu: „Es ist vielmehr das sprachliche Medium, durch das sich Interaktionen vernetzen und Lebensformen strukturieren, welches kommunikative Vernunft ermöglicht.“ (17f.) In modernen Gesellschaften sind es nicht zuletzt die Verfahren der politischen Willensbildung, der Gesetzgebung und Rechtsanwendung, in denen sich kommunikative Vernunft entfaltet und für Rationalität unter Bedingungen der Komplexität bzw. der weitgehenden funktionalen Ausdifferenzierung zu sorgen hat. Die diskurstheoretische Rekonstruktion dieser Kommunikationsformen kann zwar keine inhaltlich bestimmten Vorgaben für die politische und juristische Praxis liefern, aber immerhin – auch wenn sie den Rahmen einer bloß normativen Betrachtungsweise verlässt – einen kritischen Maßstab zur Beurteilung selbiger. In einer Gesellschaft, in der geteilte Werte, religiöse und metaphysische Überzeugungen sowie schlicht unhinterfragte Gewohnheiten und Sitten nicht mehr den erforderlichen Zusammenhalt gewährleisten, trägt, angesichts des im kommunikativen Handeln angelegten Dissensrisikos, das positive Recht die Hauptlast der sozialen Integration. Es ist als ein „Mechanismus“ zu betrachten, „der die überforderten Verständigungsleistungen der kommunikativ Handelnden von Aufgaben der sozialen Integration entlastet, ohne im Prinzip die Entschränkung des Kommunikationsspielraums rückgängig zu machen“ (57). Deshalb muss das Recht auch im Zentrum einer Gesellschaftstheorie des kommunikativen Handelns stehen. Diese wiederum hat die Perspektiven der soziologischen Rechts- und der philosophischen Gerechtigkeitstheorie zu integrieren, um der im Recht augenscheinlich werdenden Spannung zwischen äußerem Zwang und Normativität gerecht zu werden und die Funktion des positiven Rechts als notwendige Ergänzung der Moral richtig zu begreifen. Damit das Recht Legitimität und also Geltung im Sinne von Verbindlichkeit beanspruchen kann, muss es einen Bezug zur Moral aufweisen. Doch dieser Bezug



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spiegelt keine schlichte Unterordnung des Rechts wider. Recht bildet die Moral nicht bloß ab, sondern ergänzt sie: „Allgemeine Handlungsnormen verzweigen sich […] in moralische und juridische Regeln. Unter normativen Gesichtspunkten entspricht dem die Annahme, daß die moralische und die staatsbürgerliche Autonomie gleichursprünglich sind und mit Hilfe eines sparsamen Diskursprinzips erklärt werden können, das lediglich den Sinn postkonventioneller Begründungsanforderungen zum Ausdruck bringt.“ (138) Das Diskurprinzip bildet die Grundlage des Moralprinzips (vgl. E.3) einerseits und des Demokratieprinzips andererseits. Letzteres „ergibt sich aus einer entsprechenden Spezifizierung [des Diskursprinzips] für solche Handlungsnormen, die in Rechtsform auftreten und mit Hilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Gründe – und nicht allein aus moralischen Gründen – gerechtfertigt werden können“ (139). Wie moralische und staatsbürgerliche Autonomie, so sind auch Volkssouveränität und Menschenrechte gleichen Ursprungs. Die „logische Genese von Rechten“ (154f.) lässt sich folgendermaßen darstellen: Vom Diskursprinzip ausgehend gelangt man über dessen Anwendung auf das für die Rechtsform konstitutive, zunächst aber gänzlich abstrakte Recht auf subjektive Handlungsfreiheiten zur rechtlichen Institutionalisierung jener Bedingungen, die die diskursive Ausübung von staatsbürgerlicher Autonomie und die rückwirkende rechtliche Ausgestaltung der privaten Autonomie ermöglichen. Zu diesen Bedingungen zählen insbesondere die Prinzipien des Rechtsstaats, die zugleich Prinzipien der Demokratie in einer komplexen, funktional differenzierten Gesellschaft sind. Sie ergeben sich nämlich allesamt aus dem Prinzip der Volkssouveränität: das Prinzip des umfassenden individuellen Rechtsschutzes und der Unabhängigkeit der Justiz; das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie der gerichtlichen und/oder parlamentarischen Verwaltungskontrolle; und das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft als Barriere bzw. Filter zwischen sozialer und administrativer Macht. Die Übersetzung von sozialer in staatlich-administrative Macht hat über kommunikative Machtbildung zu erfolgen. Diese wiederum findet nicht erst in Gesetzgebungsgremien statt, sondern bereits in den vorgelagerten zivilgesellschaftlichen Netzwerken und Diskursen. Als Prinzip bildet die Volkssouveränität „das Scharnier zwischen dem System der Rechte und dem Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates“ (209). Was die normativen rechtsbezogenen Diskurse betrifft, so ist mit Klaus Günther (1988) zu unterscheiden zwischen Begründungsdiskursen, wie sie hauptsächlich in Gesetzgebungsprozessen geführt werden, und Anwendungsdiskursen, in denen „es nicht um die Geltung, sondern um den angemessenen Situationsbezug einer Norm [geht]“ (267). Nichtsdestoweniger handeln letztere von mehr als bloß den positiven Regeln. Auch ihnen ist ein Moralbezug immanent, nämlich insofern, als die Begründung von Entscheidungen im Einzelfall nicht

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selten einen Rückgriff auf Prinzipien erfordert, die positiven Regeln zugrunde liegen und die ebenfalls Gegenstand rationaler Diskurse sind. Gleichwohl sind juristische Diskurse nicht lediglich als ein Sonderfall des moralischen Diskurses zu begreifen. Dazu ist das Verhältnis von Justiz und Gesetzgebung zu komplex. Eine besonders eigentümliche und aus diskurstheoretischer Sicht durchaus problematische Vermengung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen zeigt sich in der Gesetzesprüfung durch Verfassungsgerichte – umso mehr, wenn dabei Verfassungsnormen als mehr oder weniger realisierbare Werte bzw. als Güter verstanden werden, die gegeneinander abzuwägen wären. In diesen Güterabwägungen büßen Prinzipien nämlich ihren genuin deontologischen Geltungssinn ein. Darunter leidet auch die Rationalität der Entscheidungen. Aus der Diskurstheorie ergibt sich jedenfalls das Postulat verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung. Diese soll nur dann abgelegt werden, wenn „es um die Durchsetzung des demokratischen Verfahrens und der deliberativen Form politischer Meinungs- und Willensbildung geht“ (340). Eine rekonstruktiv verfahrende Theorie der demokratischen Genese von Rechtsnormen formuliert nicht einfach ein Ideal, dem eine wie immer unzulängliche Wirklichkeit gegenübergestellt werden könnte. Ebenso wenig begnügt sie sich als politische Soziologie mit der Beschreibung von Machtkämpfen und Interessenkonflikten. Sie legt ihr Augenmerk vielmehr auf den normativen Gehalt, der „teilweise der sozialen Faktizität beobachtbarer politischer Prozesse selber eingeschrieben“ ist (349). Ihr Begriff der Demokratie ist weder der deflationistische Begriff realistischer Theorien noch der hoffnungslos idealistische von Theorien, die eine im Staat zentrierte Gesellschaft postulieren und die funktionalen Imperative bzw. Eigenlogiken sozialer Subsysteme weitgehend ausblenden. Die moderne Gesellschaft kann nicht als Ganze deliberativ gesteuert werden. Und Volkssouveränität ist intersubjektivistisch zu deuten: „Das ‚Selbst‘ der sich selbst organisierenden Rechtsgemeinschaft verschwindet in den subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung so regulieren, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben.“ (365) Weder der handlungs- noch der systemtheoretische Machtbegriff erfasst „das Spezifische […], das die politische Macht ihrer rechtsförmigen Konstitution verdankt“ (400). Eine diskurstheoretisch informierte Soziologie der Demokratie fokussiert nicht bloß auf das politische System. Sie interessiert sich auch und vor allem für dessen Einbettung in lebensweltliche Kontexte und die Anbindung an Kommunikationen der Öffentlichkeit. Die Funktionstüchtigkeit des politischen Systems im Sinne der Fähigkeit, legitimitätsstiftende kommunikative Macht aufzubauen, hängt nämlich davon ab, inwieweit „die Netzwerke der nicht-institutionalisierten öffentlichen Kommunikation mehr oder weniger spontane Meinungs-



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bildungsprozesse ermöglichen“ (434). Dort müssen gesamtgesellschaftliche Probleme zuerst wahrgenommen, interpretiert und auf eine „Aufmerksamkeit erregende und innovative Weise in Szene [gesetzt werden]“ (434). Dazu wiederum bedarf es einer entgegenkommenden liberalen politischen Kultur, welche ihrerseits kaum rechtlich oder politisch gesteuert werden kann. Eine „mißtrauische, mobile, wache und informierte Öffentlichkeit“ (532) ist auch, was ein prozeduralistisches Rechtsparadigma benötigt, um eine plausible und realitätstüchtige Alternative zum formalrechtlich-liberalen und zum paternalistisch-wohlfahrtsstaatlichen Paradigma zu sein. Solche Rechtsparadigmen spielen sowohl in Begründungs- als auch in Anwendungsdiskursen eine wichtige Rolle. Sie reduzieren Komplexität und geben Orientierung. Als Sozialmodelle des Rechts erklären sie, „wie […] die Grundrechte und die Prinzipien des Rechtsstaats zu verstehen sind und wie sie realisiert werden können“ (238). Das prozeduralistische Paradigma ist dabei dem liberalen und dem sozialstaatlichen Paradigma überlegen: „Nachdem sich die formalrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie als unzureichend erwiesen hat, und nachdem die soziale Steuerung durch Recht die Privatautonomie, die sie doch wiederherstellen soll, zugleich gefährdet, bietet einen Ausweg nur die Thematisierung des Zusammenhangs zwischen Kommunikationsformen, die gleichzeitig private und öffentliche Autonomie in ihrer Entstehung gewährleisten.“ (493) Neben den hier resümierten Kapiteln enthält Faktizität und Geltung noch einen Anhang bestehend aus „Vorstudien und Ergänzungen“, die einen guten Eindruck von der Entstehung und Fortführung einiger der wichtigsten Motive des Werkes vermitteln – und daher ebenfalls in diesem Band kommentiert werden.

Literatur Brandom, R. B. 2014: A Hegelian Model of Legal Concept Determination: The Normative Fine Structure of the Judges’ Chain Novel, in: G. Hubbs/D. Lind (Hrsg.), Pragmatism, Law, and Language, New York, 19–39. Dreier, R. 1994: Rechtsphilosophie und Diskurstheorie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 48, 90–103. Günther, K. 1988: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1983a: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main, 53–125; auch in: Philosophische Texte, Band 3: Diskursethik, Frankfurt/Main 2009, 31–115. Habermas, J. 1983b: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main, 127–206.

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Habermas, J. 1984a: Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/ Main, 11–126; auch in: Philosophische Texte, Band 1: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Frankfurt/Main 2009, 29–156. Habermas, J. 1984b: Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main, 571–605; auch in: Philosophische Texte, Band 1: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Frankfurt/Main 2009, 157–196. Habermas, J. 1988a: Zur Kritik der Bedeutungstheorie, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/Main, 105–135; auch in: Philosophische Texte, Band 2: Rationalitäts- und Sprachtheorie, Frankfurt/Main 2009, 70–104. Habermas, J. 1988b: Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktion und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/Main, 63–104; auch in: Philosophische Texte, Band 1: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Frankfurt/ Main 2009, 197–242. Habermas, J. 1991a: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main, 100–118; auch in: Philosophische Texte, Band 3: Diskursethik, Frankfurt/Main 2009, 360–381. Habermas, J. 1991b: Erläuterungen zur Diskursethik, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main, 119–226; auch in: Philosophische Texte, Band 3: Diskursethik, Frankfurt/ Main 2009, 179–301. Habermas, J. 1994: Nachwort zur vierten Auflage, in: ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main, 661–680. Habermas, J. 1996: Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1996, 11–64; auch in: Philosophische Texte, Band 3: Diskursethik, Frankfurt/Main 2009, 302–359. Höffe, O. 1993: Eine Konversion der kritischen Theorie? Zu Habermas’ Rechts- und Staatstheorie, in: Rechtshistorisches Journal 12, 70–88. Koller, P. 1998: Jürgen Habermas über Moral, Staat und Politik. Anmerkungen zu „Die Einbeziehung des Anderen“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 257–267.

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I Recht als Kategorie der Vermittlung zwischen Faktizität und Geltung I.1 Einleitung Habermas eröffnet sein Werk mit einer knappen kritischen Bestandsaufnahme der rezenten Entwicklung der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Theorien von Recht und Staat, um Motivation und Zielsetzung seines Projekts einer Diskurstheorie des modernen Rechts und Staates verständlich zu machen. Er argumentiert, der überkommene Begriff der praktischen Vernunft, von dem sich die großen neuzeitlichen Konzeptionen einer rational begründeten rechtlichen und staatlichen Ordnung leiten ließen, habe seine Plausibilität verloren, weil er wegen seiner Verengung auf das subjektive Vernunftvermögen der Individuen, aber auch wegen seines überschießenden normativen Idealgehalts der komplexen Realität moderner Gesellschaften nicht gerecht werden könne. Infolgedessen sei es zu einer Spaltung der Politik- und Rechtstheorie in zwei entgegengesetzte Lager gekommen, die jedoch beide unfruchtbar seien: nämlich in einen sozialtheoretischen Objektivismus einerseits, der die Idee einer vernünftig legitimierten gesellschaftlichen Ordnung überhaupt preisgegeben habe, und in einen dem alten Vernunftrecht verhafteten ethischen Normativismus andererseits, der den eigensinnigen Prozessen der gesellschaftlichen Entwicklung ohnmächtig gegenüberstehe. Einen Ausweg aus diesem Dilemma biete, so Habermas, eine tiefgreifende Erneuerung der Idee praktischer Vernunft durch das Konzept kommunikativer Vernunft, das eine tragfähige Grundlage für eine politische Theorie bereitstelle, welche zugleich die Bedingungen sowohl der realen Faktizität wie auch der normativen Geltung einer rechtlich geregelten und staatlich organisierten gesellschaftlichen Ordnung aufzeige. Die kommunikative Vernunft unterscheide sich vom klassischen Begriff der praktischen Vernunft wesentlich dadurch, dass „sie nicht länger dem einzelnen Aktor oder einem staatlich-gesellschaftlichen Makro­subjekt zugeschrieben“ werde, sondern dem „Telos der Verständigung“ im Medium der natürlichen Sprache eingeschrieben sei (17f.). Die sich in diesem Medium gewaltlos vollziehenden Verständigungsprozesse setzten nämlich eine performative Einstellung der Beteiligten voraus, aufgrund der diese für ihre Äußerungen bestimmte kontextüberschreitende Geltungsansprüche erheben, so vor allem die Ansprüche auf die objektive Wahrheit ihrer assertorischen und auf die normative Richtigkeit ihrer praktischen Äußerungen; Ansprüche, mit denen sie sich zur Anerkennung bestimmter normativer Erfordernisse verpflichten, wie

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etwa zur Anerkennung des gleichen Rechts jeder anderen Person, in Verständigungsprozessen ihre Stimme zu erheben, Argumente vorzubringen und die Argumente anderer zu kritisieren (grundlegend Habermas 1981). Die kommunikative Vernunft sei jedoch, anders als die klassische praktische Vernunft, keine Quelle wirksamer Handlungsnormen, da ihr normativer Gehalt auf kontrafaktischen Idealisierungen beruhe, die ihren Erfordernissen bloß die schwache Motivationskraft rationaler Gründe, nicht aber die starke Verbindlichkeit geltender Handlungsgebote verleihe. „Ein Kranz unvermeidlicher Idealisierungen bildet die kontrafaktische Grundlage einer faktischen Verständigungspraxis, die sich kritisch gegen ihre eigenen Resultate richten, sich selbst transzendieren kann. Damit bricht die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit in die Faktizität sprachlich strukturierter Lebensformen selber ein.“ (20f.) Obwohl die von kommunikativer Vernunft geleiteten Verständigungsprozesse, so Habermas, grundsätzlich darauf zielen, eine legitime soziale Ordnung zu stiften und damit soziale Integration zu ermöglichen, reichen sie nicht aus, um eine Gesellschaft zu integrieren. Die kommunikative Vernunft stelle nur den Leitfaden für die öffentliche Meinungsbildung über die Gestaltung einer legitimen sozialen Ordnung bereit, für deren Verwirklichung es jedoch einer Rechtsordnung bedürfe, um das soziale Handeln der Beteiligten wirksam zu regulieren. Infolgedessen müsse eine vom Konzept der kommunikativen Vernunft ausgehende politische Theorie gerade dem Recht als dem zentralen Medium der Integration moderner Gesellschaften besondere Beachtung schenken. Dementsprechend will Habermas im ersten Kapitel die doppelte Frage beantworten, warum die von ihm in früheren Schriften entwickelte „Theorie des kommunikativen Handelns der Kategorie des Rechts einen zentralen Stellenwert einräumt, und warum sie ihrerseits für eine Diskurstheorie des Rechts einen geeigneten Kontext bildet“ (21).

I.2 Faktizität und Geltung im Kontext der Sprache Wie Habermas einräumt, mag die seiner Konzeption der kommunikativen Vernunft zugrunde liegende Annahme, dass diese Vernunft in sozialen Tatsachen verkörpert liege oder, anders ausgedrückt, dass ihre normativen Erfordernisse schon aus solchen Tatsachen folgen, prima facie wenig plausibel erscheinen. Zur Begründung dieser Annahme lässt er die Entwicklung der Sprachtheorie seit der linguistischen Wende um 1900 Revue passieren, um deutlich zu machen, dass schon die normale Sprache eine Spannung von Faktizität und Geltung in sich birgt, weil sprachliche Kommunikation überhaupt nur möglich sei, wenn die beteiligten Personen dabei von idealisierenden Voraussetzungen ausgehen, die den konkreten Kontext der jeweiligen Sprachakte überschreiten.



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So setze jede sprachliche Verständigung, wie die semantische Sprachtheorie zeige, die idealisierende, in der Realität keineswegs immer zutreffende Unterstellung der Beteiligten voraus, dass sie den verwendeten Begriffen und ausgedrückten Gedanken identische Bedeutungen beilegen (Idealität der Bedeutungsallgemeinheit). Die Mitteilung von Sachverhalten mittels assertorischer Behauptungen setze, so Habermas unter Berufung auf die sprachpragmatische Analyse von Peirce, ferner voraus, dass die Beteiligten für ihre Behauptungen den – freilich der Kritik ausgesetzten und oft revisionsbedürftigen – Anspruch auf Wahrheit erheben, und zwar nicht allein gegenüber den jeweils angesprochenen Personen, sondern grundsätzlich gegenüber einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft (Idealität der Wahrheitsgeltung). Damit verlagere „sich die Spannung zwischen Faktizität und Geltung in Kommunikationsvoraussetzungen, die, auch wenn sie einen idealen und nur annäherungsweise zu erfüllenden Gehalt haben, alle Beteiligten faktisch jedesmal dann machen müssen, wenn sie überhaupt die Wahrheit einer Aussage behaupten oder bestreiten, und für die Rechtfertigung dieses Geltungsanspruchs in eine Argumentation eintreten möchten“ (31). Entsprechendes gelte für die anderen Funktionen, die der Alltagssprache neben ihrer Darstellungsfunktion zukommen, vor allem auch für ihre Funktion, das soziale Handeln durch Verhaltensnormen zu koordinieren. So verlange die Verständigung über solche Normen, dass die Beteiligten für ihre diesbezüglichen Vorschläge gegenüber allen davon möglicherweise betroffenen Personen Anspruch auf normative Richtigkeit erheben. Diese der sprachlichen Kommunikation immanenten Geltungsansprüche gewinnen Habermas zufolge eine handlungstheoretische Bedeutung dergestalt, dass sie – bzw. die illokutionären Bindungskräfte der Sprechakte, mit denen sie verbunden sind – von den beteiligten Personen für die Koordinierung ihrer Handlungspläne genutzt werden. Damit werde die Sprache selber zur primären Quelle der sozialen Integration im Sinne der kommunikativen Abstimmung und Vernetzung der Handlungen von Individuen ohne Ausübung manifester Gewalt. Und nur in diesem Sinn solle der Begriff des kommunikativen Handelns verstanden werden: „Mit dem Begriff des kommunikativen Handelns, der sprachliche Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung in Anschlag bringt, erhalten auch die kontrafaktischen Unterstellungen der Aktoren, die ihr Handeln an Geltungsansprüchen orientieren, unmittelbare Relevanz für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Ordnungen; denn diese bestehen im Modus der Anerkennung von normativen Geltungsansprüchen. Das bedeutet, dass die in Sprache und Sprachverwendung eingebaute Spannung von Faktizität und Geltung in der Art und Weise der Integration vergesellschafteter Individuen wiederkehrt – und von den Beteiligten abgearbeitet werden muß.“ (33)

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Kommunikatives Handeln ist also eine Form der sprachlichen Verständigung, die darauf zielt, soziales Handeln zu koordinieren oder soziale Ordnung zu stiften, indem die Beteiligten sich durch die mit ihren Sprechakten verbundenen idealisierenden Geltungsansprüche performativ auf die intersubjektive Anerkennung entsprechender Handlungsnormen festlegen. Habermas unterscheidet analytisch zwei Stufen dieses Prozesses entsprechend den für die Verständigung jeweils erforderlichen kontrafaktischen Idealisierungen. Auf der ersten Stufe stimmen die Beteiligten ihr wechselseitiges Handeln nur dadurch ab, dass sie einander ihre jeweiligen Handlungspläne mitteilen und nach Möglichkeit in Einklang zu bringen versuchen, wozu sie einerseits die Bedeutungsallgemeinheit ihrer Sprachverwendung unterstellen, andererseits aber auch einander Zurechnungsfähigkeit zuschreiben müssen (35). Daraus erfließen noch keine bindenden Handlungsnormen, welche die Spannung zwischen Faktizität und Geltung in sich tragen. Solche Normen können erst auf der zweiten Stufe zustande kommen, auf der die von den Beteiligten erhobenen Geltungsansprüche auf die Richtigkeit ihrer Stellungnahmen den Charakter der Unbedingtheit haben. „Diese Stellungnahmen laden die sozialen Tatsachen, die sie schaffen, mit einer idealen Spannung auf, weil sie auf Geltungsansprüche reagieren, für deren Berechtigung die Zustimmung eines ideal erweiterten Auditoriums vorausgesetzt werden muß. […] Das ideale Moment der Unbedingtheit ist tief in die faktischen Verständigungsprozesse eingelassen, weil Geltungsansprüche ein Janusgesicht zeigen: als Ansprüche schießen sie über jeden Kontext hinaus; zugleich müssen sie hier und jetzt erhoben sowie akzeptiert werden, wenn sie ein koordinationswirksames Einverständnis tragen sollen.“ (36f.) Ich möchte an dieser Stelle mein Resümee von Habermas’ Überlegungen unterbrechen, um auf eine mögliche Schwachstelle oder Lücke seiner Argumentation hinzuweisen. Ich habe den Verdacht, dass die skizzierte transzendentalpragmatische Begründung der kommunikativen Vernunft, so stringent sie auf den ersten Blick erscheinen mag, trügerisch ist, weil sie sich die notorische Mehrdeutigkeit der Rede von Verständigung zunutze macht. Dieses Wort wird im allgemeinen Sprachgebrauch, wie Habermas ja selber betont, in mehreren Bedeutungen verwendet, die es auseinanderzuhalten gilt. Zuallererst ist zwischen einer ganz weiten, basalen und einer engeren, spezielleren Bedeutung zu unterscheiden. Ganz weit verstanden, meint Verständigung nichts weiter als einen gelingenden Austausch von Mitteilungen zwischen Personen, die ihre aneinander gerichteten Äußerungen im Wesentlichen bedeutungsgleich verwenden und verstehen (V0). Die Rede von Verständigung wird jedoch oft auch in dem viel engeren Sinn gebraucht, dass die beteiligten Personen eine Einigung über bestimmte Sachverhalte erzielen, wie z.  B. auf eine gemeinsame Beschreibung einer sie interessierenden Situation oder auf bestimmte Regeln ihres wechselsei-



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tigen Verhaltens, wozu sie freilich nur im Wege einer Verständigung im weiten Sinn gelangen können. Diese Doppeldeutigkeit ist aber noch nicht die Quelle des Problems, das ich ansprechen möchte. Dieses ergibt sich vielmehr erst im Kontext der engeren Bedeutung, wo sich wiederum zwei Typen von Verständigung unterscheiden lassen, je nachdem, aus welchen Gründen die Beteiligten zu einer Einigung gelangen: aus konvergenten subjektiven Gründen oder aus übereinstimmenden objektiven Gründen (dazu Koller 2003; Heath 2003, 83ff.). Eine Verständigung des ersten Typs besteht in einer Einigung, zu der sich die Beteiligten in Verfolgung ihrer subjektiven Ziele und Interessen entschließen, weil sie damit unter den bestehenden faktischen Umständen am besten zu fahren glauben, sei es deshalb, weil sie sich davon Vorteile versprechen, oder auch nur deswegen, weil sie sich durch fremde Übermacht genötigt sehen, nolens volens in einen unvorteilhaften Handel einzuwilligen, um Schlimmeres abzuwenden (V1). Demgegenüber handelt es sich bei einer Verständigung des zweiten Typs um eine Einigung aus Gründen, die alle Beteiligten bei objektiver, unparteiischer Betrachtung teilen, bei der sie von ihren jeweiligen Sonderinteressen abstrahieren und sich hypothetisch in eine Situation allgemeiner Gleichbefindlichkeit versetzen (V2). Die Differenz zwischen diesen beiden Arten von Verständigung (die im Wesentlichen der Rousseau’schen Distinktion zwischen einer volonté des tous und einer volonté générale entspricht) scheint mir Habermas nicht hineichend zu beachten, wenn er von der schwachen und unproblematischen Prämisse, dass koordiniertes soziales Handeln ein Einvernehmen der Beteiligten über verbindliche Normen erfordert, zu der viel stärkeren und keineswegs zweifelsfreien These übergeht, eine effektive Koordination sozialen Handelns lasse sich nur im Wege einer von kommunikativer Vernunft geleiteten Verständigung der Art V2 erreichen (nicht aber auf der Basis einer bloß von konvergenten subjektiven Gründen getragenen Einigung im Sinne von V1). Gegen diese These sprechen nicht nur zahlreiche empirische Befunde, sondern auch gewichtige theoretische Gründe. So ist offensichtlich, dass so gut wie alle Gesellschaftsordnungen der Menschheitsgeschichte, einschließlich jener der großen, Jahrhunderte überdauernden Hochkulturen, durch enorme Ungleichheiten der individuellen Rechte, sozialen Positionen und wirtschaftlichen Aussichten gekennzeichnet sind, die wohl kaum ein vernünftiges Einverständnis gleichberechtigter Personen, sondern viel eher ein strategisches Gleichgewicht der realen – oft sehr ungleichen – sozialen Kräfte widerspiegeln (siehe z. B. Lenski 1973; Mann 1990–2001). Und spieltheoretische Analysen zeigen, dass und wie aus einem solchen Gleichgewicht, auch wenn es durch erhebliche Machtunterschiede zwischen den Beteiligten gekennzeichnet ist, eine einigermaßen stabile soziale Ordnung entstehen kann, die unter den gegebenen Bedingungen für alle besser ist als ein Zustand fortdauernder Fried-

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losigkeit, wobei diese Ordnung aber auch ihrerseits dazu beitragen kann, bestehende ungleiche Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu verstärken (dazu Ullmann-Margalit 1977; Axelrod 1984; Taylor 1987; Koller 1993). Damit soll nicht bestritten werden, dass soziale Normen und Ordnungen gewöhnlich mit dem Anspruch auf Richtigkeit, d.  h. auf allseitige Zustimmungsfähigkeit aus objektiv einsichtigen Gründen auftreten und dass sie diesen Anspruch nur dann zu Recht erheben, wenn sie durch ein vernünftiges Einverständnis im Sinne von V2 bekräftigt werden können. Und es leuchtet auch ohne weiteres ein, dass ein solches Einverständnis gegenüber einer bloß strategischen Einigung des Typs V1 aus der Sicht einer Moral der gleichen Achtung vorzugswürdig ist. Ich sehe aber nicht, wie es gehen sollte, daraus Habermas’ sehr starke These zu gewinnen, eine effektive Koordination sozialen Handelns setze notwendig ein kommunikativ vernünftiges Einverständnis der Betroffenen über die verbindlichen Normen ihres Handelns voraus (sofern unter einer „effektiven Koordination“ nicht schon von vornherein nur eine solche Regelung sozialen Handelns verstanden wird, die sich auf ein von kommunikativer Vernunft geleitetes Einverständnis der Beteiligten stützt).

I.3 Lebenswelt, archaische Institutionen und Recht Ausgehend von der These, die sprachliche Kommunikation sei nicht nur ein Medium des Informationstransfers, sondern auch die primäre Quelle der sozialen Integration, weil sie den Beteiligten die Möglichkeit eröffne, ihre Handlungspläne durch Verständigungsprozesse gemeinsam aufeinander abzustimmen, unterzieht Habermas die Bedingungen sozialer Integration einer Rekonstruktion im Geiste einer sinnverstehenden Soziologie. Er entwickelt diese Rekonstruktion sukzessive in drei Schritten, denen verschiedene – idealtypisch stilisierte – Mechanismen der sozialen Integration im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechen. Diese Mechanismen, die alle dazu dienen, das stets gegenwärtige Risiko von Dissensen über eine allgemein verbindliche Regelung des sozialen Handelns zu mindern, sind zuallererst die Lebenswelt der Beteiligten, ferner in wenig differenzierten Gesellschaften archaische Institutionen und schließlich das Recht. Die Lebenswelt der Handelnden, die Habermas im ersten Schritt seiner Rekonstruktion ins Auge fasst, bilde deswegen eine unverzichtbare Bedingung sozialer Integration, weil ihre Wissensbestände und Praktiken eine gewaltlose Stabilisierung von Verhaltenserwartungen überhaupt erst möglich machen. Denn „das hohe Dissensrisiko, das durch Erfahrungen, also durch überraschende Kontingenzen immer neue Nahrung erhält, würde soziale Integration über verstän-



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digungsorientierten Sprachgebrauch ganz unwahrscheinlich machen, wenn das kommunikative Handeln nicht in lebensweltliche Kontexte eingebettet wäre, die für Rückendeckung durch einen massiven Hintergrundkonsens sorgen“ (38). Das lebensweltliche Hintergrundwissen des kommunikativen Handelns bilde zwar eine gesteigerte, zugleich aber auch defiziente Form des Wissens, weil es seine Funktion als stabiles Hintergrundwissen nur so lange erfüllen könne, als die Beteiligten von ihm Gebrauch machen, ohne es zu problematisieren, aber diese Funktion verliere, wenn es ausgesprochen und damit kritischer Prüfung ausgesetzt werde. Seine Stabilität verdanke sich deshalb einer eigenartigen Einebnung der Spannung zwischen Faktizität und Geltung, der Tatsache nämlich, dass das lebensweltliche Hintergrundwissen gegen die kontrafaktischen Idealisierungen des kommunikativen Handelns immun bleibe, solange es implizit als gewiss vorausgesetzt werde (38f.). Ich bin mir nicht sicher, ob ich Habermas’ Einebnungsthese richtig verstanden und resümiert habe. Aber vielleicht hilft die folgende Überlegung, diese These besser zu verstehen und zu untermauern. Die lebensweltlichen Wissensbestände und Praktiken können ihre Funktion, die soziale Integration zu fördern, wohl nur dann erfüllen, wenn sie von den Beteiligten nicht nur allgemein geteilt, sondern zumindest in einem gewissen Umfang auch durch informellen sozialen Druck in Gestalt entsprechender Reaktionen auf die Äußerungen und Handlungen Anderer bekräftigt werden. Unter diesen Bedingungen haben diese Wissensbestände und Praktiken für die Beteiligten zugleich normative Verbindlichkeit und faktische Wirksamkeit, so dass ihre Geltung und ihre Faktizität Hand in Hand gehen und insofern eingeebnet werden. Doch unabhängig davon, ob diese Überlegung die Einebnungsthese untermauert oder nicht, leuchtet mir nicht recht ein, warum die Lebenswelt stets nur eine von kommunikativer Vernunft geleitete Verständigung (V2), nicht aber eine bloß strategische Einigung (V1) über soziale Normen unterstützen können soll. Wir kennen ja auch Lebenswelten, die selber schon diskriminierende Mythen und Praktiken enthalten und deshalb eine wohlinformierte und unparteiische Meinungs- und Willensbildung über eine allgemein akzeptable soziale Ordnung nicht nur nicht fördern, sondern sogar behindern. Ab einer gewissen Größe und Komplexität brauchen gesellschaftliche Einheiten neben einer gemeinsamen Lebenswelt ihrer Mitglieder auch gewalthabende Autoritäten, um ihr soziales Leben zu regeln. Im Frühstadium gesellschaftlicher Entwicklung haben diese Autoritäten, so Habermas im zweiten Schritt seiner Rekonstruktion, die Gestalt archaischer Institutionen, die mit unanfechtbarem Autoritätsanspruch auftreten: „In tabugeschützten Institutionen von Stammesgesellschaften verfestigen sich ungeschieden kognitive und normative Erwartungen zu einem mit Motiven und Wertorientierungen verknüpften Überzeugungs-

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komplex. […] Der kristallisierte Überzeugungskomplex behauptet eine Art von Geltung, die mit der Kraft des Faktischen ausgestattet ist.“ (39f.) Auch hier gebe es eine Verschmelzung von Faktizität und Geltung, aber nicht mehr innerhalb des impliziten Hintergrundwissens der Lebenswelt, sondern auf dem Niveau des bereits kommunizierten, thematisch verfügbaren Wissens und „im Modus einer gefühlsambivalent besetzten Autorität, die uns gebieterisch entgegentritt“ (40). Diese Autorität beruhe auf einer Fusion zweier Momente, nämlich der Androhung rächender Gewalt und der Kraft bindender Überzeugungen, die uns heute als inkompatibel erscheinen, aber in verwandtschaftlich organisierten Gesellschaften ohne positives Recht miteinander verknüpft sein mussten, um das mit deren sozialen Konflikten einhergehende Dissensrisiko zu mindern und soziale Inte­gration zu ermöglichen. Dieser – hier nur sehr gerafft zusammengefassten – Darstellung der sozialen Ordnungsbildung in archaischen Gesellschaften kann vielleicht entgegenhalten werden, dass sie die Rolle ihrer Oberhäupter und Autoritäten in hohem Maße stilisiert und die dezentralen Mechanismen ihrer sozialen Integration unterbelichtet lässt. Nach meiner Kenntnis der ethnologischen Literatur über segmentäre und kephale Gesellschaften verfügen deren Häuptlinge oder Könige in der Regel nur über eine sehr fragile und begrenzte Macht, und auch ihre Mythen, Riten und Tabus sind oft eher eine Quelle des Unfriedens als der Ordnungsstiftung. Was diese Gesellschaften, die allerdings meist keine festen territorialen und personellen Grenzen kennen, viel eher zusammenhält, das sind diverse Spielarten dezen­traler Koordination und Kooperation, wie etwa folgende: die Praktiken der Bildung von Koalitionen zwischen Verwandtschaftsgruppen, Praktiken, die häufig durch bestimmte Heiratsregeln gestützt werden; die Varianten des symbolischen Gabentausches, die zumindest einen befristeten Gewaltverzicht verlangen; die Formen der reziproken Wiedervergeltung von Missetaten gegen Verwandtschaftsangehörige, woraus sich allerdings nicht selten eskalierende Fehden zwischen Sippen ergeben; und die Wege schiedsrichterlicher Streitschlichtung zwischen einander befehdenden Gruppen durch respektierte und mächtige Familienoberhäupter, die sich unter Umständen auch schon die Befugnis zu einer verbindlichen Rechtsprechung arrogieren können (siehe Roberts 1981; Pospísil 1982; Wesel 1985). Aber abgesehen von der Frage, wie verwandtschaftlich organisierte Gesellschaften ihre soziale Integration bewerkstelligen, ist mir wiederum nicht klar geworden, welche Gründe eigentlich für die – von Habermas offenbar stillschweigend vorausgesetzte – Annahme sprechen, dass die in Betracht stehenden archaischen Institutionen zumindest im Großen und Ganzen den sehr anspruchsvollen normativen Erfordernissen der kommunikativen Vernunft genügen, ohne von den in diesen Gesellschaften bestehenden, oft extrem ungleichen Machtverhältnissen dominiert zu werden.



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Der dritte Schritt seiner Rekonstruktion der Mechanismen sozialer Integration führt Habermas zum Recht, und zwar gleich zum Recht moderner, funktional hochgradig differenzierter und pluralistischer Gesellschaften. Diese Gesellschaften stünden vor dem Problem, „wie die Geltung einer sozialen Ordnung stabilisiert werden kann, in der sich autonom gewordene kommunikative Handlungen von strategischen Interaktionen aus der Sicht der Aktoren selber klar voneinander differenzieren“ (42). Da dieses Problem weder durch lebensweltliche Gewissheiten, noch durch geheiligte Autoritäten bewältigt werden könne, müsse die soziale Integration in zunehmendem Maße durch Verständigungsprozesse bewerkstelligt werden, für deren Beteiligte Geltung und Faktizität, also die bindende Kraft rationaler Überzeugungen und der auferlegte Zwang äußerer Sanktionen, aus­ einandergetreten seien. Denn wenn eine stabile soziale Ordnung, wie Habermas annimmt, nicht allein durch eine Koordination des Handelns erfolgsorientierter, nur ihre Sonderinteressen verfolgender Personen erreicht werden kann, müsse die Gesellschaft letztlich über kommunikatives Handeln integriert werden. „Im Konfliktfall stehen die kommunikativ Handelnden vor der Alternative zwischen Kommunikationsabbruch und strategischem Handeln – zwischen Vertagung oder Austragung eines ungelösten Konfliktes. Einen Ausweg bietet nun die normative Regelung strategischer Interaktionen, auf die sich die Aktoren selbst verständigen.“ (44) Auf eine solche Regelung ziele das Recht, das eine stabile soziale Ordnung jedoch nur dann gewährleisten könne, wenn seine Regeln aus der Teilnehmerperspektive der Adressaten gleichzeitig zwei Bedingungen erfüllen: sie müssen einerseits faktische Beschränkungen darstellen, welche die Beteiligten dazu nötigen, ihr erfolgsorientiert-strategisches Verhalten an die Erfordernisse der allgemein erwünschten sozialen Ordnung anzupassen; und sie müssen andererseits zugleich mit den intersubjektiv anerkannten normativen Geltungsansprüchen kommunikativen Handelns in Einklang stehen. „Die gesuchte Sorte von Normen müßte demnach gleichzeitig durch faktischen Zwang und durch legitime Geltung Folgebereitschaft bewirken.“ (44f.) Eben diese Sorte von Normen, deren Faktizität und Geltung in einem Verhältnis wechselseitiger Verschränkung stehen, finden wir, so Habermas, „in jenem System von Rechten, das subjektive Handlungsfreiheiten mit dem Zwang des objektiven Rechts ausstattet“ (45). Obwohl ich Habermas’ Auffassung, dass eine gute, aus moralischer Sicht allgemein akzeptable Rechtsordnung die eben erwähnten Bedingungen erfüllen sollte, und damit auch seine Präferenz für eine von kommunikativer Vernunft statt von strategischer Rationalität geleitete kollektive Willensbildung über die Gestaltung des Rechts vollkommen teile, sehe ich nicht, dass diese Auffassung notwendig aus der Prämisse des dritten Rekonstruktionsschritts folgt, also daraus, dass in modernen Gesellschaften eine stabile soziale Ordnung nur durch zwangsbewehrte rechtliche Normen gewährleistet werden kann. Diese Schluss-

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folgerung steht und fällt mit der – von Habermas vorausgesetzten, meines Erachtens aber fragwürdigen – Annahme, dass eine solche Ordnung nicht allein im Wege einer strategischen Übereinkunft erfolgsorientierter Akteure (vom Typ V1), sondern nur durch eine kommunikativ vernünftige Verständigung (des Typs V2) erreicht werden kann. Das ist eine empirische Annahme, die sich wohl nicht in der von Habermas behaupteten Allgemeinheit halten lässt, auch wenn man über sie im Detail streiten kann. Die historische Erfahrung spricht vielmehr dafür, dass die Entwicklung des Rechts eher von handfesten sozialen Machtverhältnissen als von vernünftigen Verständigungsprozessen bestimmt wird, auch wenn solche Prozesse selber zu einer maßgeblichen Machtquelle im Kampf ums Recht werden können (dazu Koller 2012). Und auch die Ergebnisse der ökonomischen Sozialtheorie, welche die Menschen als erfolgsorientierte Akteure modelliert, begründen die Vermutung, dass deren strategisches Handeln unter einigermaßen günstigen Bedingungen eine halbwegs stabile soziale Ordnung generieren kann, wenn diese den jeweils bestehenden sozialen Machtverhältnisse Rechnung trägt und eine hinreichende Flexibilität zur Anpassung an mögliche Verschiebungen dieser Machtverhältnisse besitzt (vgl. Buchanan 1975; Elster 1989). Dass jede solche Ordnung den Anspruch auf Legitimität erhebt, trifft zwar sicher zu, impliziert aber weder, dass sie diesen Anspruch tatsächlich zu erfüllen vermag, noch, dass ihre Legitimität von den Beteiligten am Maßstab kommunikativer Vernunft gemessen wird.

I.4 Faktizität und Geltung im Modus der Rechtsgeltung Die Verschränkung von Faktizität und Geltung rechtlicher Normen findet Habermas zufolge zunächst schon im Modus der Rechtsgeltung Niederschlag, in dem sich „die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimität begründenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden Verfahrens der Rechtsetzung“ verschränke, auch wenn die Spannung zwischen beiden Momenten weiterhin bestehen bleibe (46). Diese der Rechtsgeltung inhärente Verschränkung von Faktizität und Geltung lasse sich mit Kant durch den Zusammenhang zwischen Zwang und Freiheit erklären, den das Recht herstelle, weil es mit der Befugnis zur Zwangsausübung verbunden sei, diese aber nur zur Sicherung der Freiheit jeder Person zulasse. Der erste Aspekt der Rechtsgeltung (die Zwangsbefugnis) impliziere, dass das Recht von seinen Adressaten nicht mehr als ein den rechtlichen Regeln entsprechendes äußeres Verhalten, dessen Legalität, fordern könne, da sich das Motiv zum Rechtsgehor-



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sam aus Pflicht nicht erzwingen lasse. Demgegenüber verlange der zweite Aspekt (die Sicherung der Freiheit), dass die rechtlichen Regeln, die das Verhalten der Adressaten beschränken, aus moralischer Sicht die vernünftig motivierte Anerkennung aller Betroffenen finden können. Kurz, Rechtsnormen seien zugleich Zwangsgesetze und Gesetze der Freiheit (47). Diese Zweidimensionalität der Rechtsgeltung macht es nach Habermas den Adressaten möglich, die Regeln des Rechts aus zwei verschiedenen Perspektiven zu betrachten: einerseits aus einer objektivierenden Beobachterperspektive, aus der sie bloß auf die faktische Geltung solcher Regeln im Sinne ihrer positiven Rechtskraft und tatsächlichen Durchsetzung abstellen und sie nach dem Grad ihrer Wirksamkeit nur als faktische Schranke ihres erfolgsorientierten Verhaltens betrachten; und andererseits aus einer performativen Teilnehmerperspektive, aus der sie auf die Legitimität solcher Regeln im Sinne ihrer diskursiven Vertretbarkeit in einem von kommunikativer Vernunft geleiteten Gesetzgebungsverfahren pochen (48f.). Er weist in diesem Zusammenhang ferner darauf hin, dass die Legitimität rechtlicher Regeln zwar nicht von ihrer faktischen Wirksamkeit abhänge, dass diese aber umgekehrt in einem erheblichen Maße vom Legitimitätsglauben der Rechtsgenossen zehre, dem seinerseits deren Anspruch auf die Richtigkeit solcher Regeln zugrunde liege. Die skizzierten Überlegungen führen Habermas schließlich zum folgenden Fazit: „Die Rechtsgültigkeit einer Norm – und darin besteht ihr Witz – besagt nun, daß beides zugleich garantiert ist: sowohl die Legalität des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, die erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungen wird, wie auch die Legitimität der Regel selbst, die eine Befolgung der Norm aus Achtung vor dem Gesetz jederzeit möglich macht.“ (49) Ich habe mit dieser Analyse der Rechtsgeltung ein Problem, das auf den ersten Blick als geringfügig erscheinen mag, sich bei näherer Betrachtung aber als folgenreich erweist. Ich stimme Habermas zunächst zwar darin zu, dass die Rechtsgeltung die beiden von ihm klar herausgearbeiteten Erfordernisse der Faktizität und der Legitimität rechtlicher Normen verknüpft, möchte aber gegen seine Deutung des zweiten Aspekts und die sich daraus ergebenden Folgerungen Widerspruch erheben. Da das Erfordernis der Legitimität des Rechts wohl nicht bedeuten kann, dass rechtliche Normen, um Geltung zu besitzen, tatsächlich einer idealen, vernünftig begründeten Moral entsprechen, weil dem ja kaum eine Rechtsordnung genügen könnte, muss es meines Erachtens in einem schwächeren Sinne verstanden werden: nämlich in dem Sinne, dass rechtliche Regeln erstens mit dem Anspruch auf Legitimität verbunden sind, der sowohl von den rechtsetzenden Autoritäten wie auch von den Rechtsadressaten erhobenen wird, und dass sie zweitens von einem hinreichenden Teil der Adressaten für einigermaßen legitim, zumindest nicht für illegitim gehalten werden, und zwar im Lichte der

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von den Adressaten jeweils tatsächlich akzeptierten Wert- und Moralvorstellungen, die ja von einer idealen, kritischen oder diskursiv begründbaren Moral mehr oder minder abweichen können. So verstanden, inkludiert die Geltung des Rechts entgegen der Auffassung von Habermas nicht schon die direkte Unterstellung seiner Legitimität im Lichte irgendeiner philosophischen Konzeption von Ethik und Moral, sondern bloß die Voraussetzung, dass das Recht von seinen Adressaten auf der Grundlage ihrer aktualen moralischen Überzeugungen für einigermaßen legitim, zumindest nicht für völlig illegitim gehalten wird, und zwar wenigstens in einem für den Fortbestand des Rechts hinreichenden Umfang. Und diese Voraussetzung genügt, damit das Recht die ihm zukommende Funktion, eine stabile soziale Ordnung zu stiften, erfüllen kann. Diese Lesart des Legitimitätsaspekts hat einerseits den Vorteil, dass sie die meisten einigermaßen stabilen Rechtssysteme in Geschichte und Gegenwart als veritable Rechtsordnungen gelten lässt; sie hat andererseits aber auch die möglicherweise unerwünschte Konsequenz, dass sie auch solche Regelsysteme in die Kategorie des Rechts aufnimmt, die vom Standpunkt einer aufgeklärten kritischen Rechtsethik ziemlich schlecht abschneiden. Der von mir anvisierte Ausweg aus diesem Dilemma besteht in der – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen wirklich berechtigten – Hoffnung, dass sich innerhalb der einzelnen Rechtsgemeinschaften immer wieder eine kritische Öffentlichkeit formiert, welche die jeweils vorherrschenden, oft verzerrten Wert- und Moralvorstellungen im Bemühen um eine informierte und unparteiliche Urteilsbildung in Frage stellt und auf ihre vernünftige Zustimmungsfähigkeit hin überprüft, und dass dieser Diskurs dann über diverse Kanäle – wie die Medien, rechtliche Institutionen und soziale Bewegungen – nach und nach auch im Prozess der Rechtsetzung, sei es der Gesetzgebung, der Rechtsprechung oder der staatlichen Verwaltung, Niederschlag findet (vgl. Koller 2013). Zumindest in diesem Punkt dürfte ich mich in Übereinstimmung mit Habermas befinden. Auf der Grundlage der aus seiner Analyse der Rechtsgeltung resultierenden These, dass das positive Recht legitim sein muss, nimmt Habermas den Prozess der Rechtsetzung in den Blick, darunter vor allem die Gesetzgebung, die im Rechtssystem den eigentlichen Ort der sozialen Integration bilde. In diesem Prozess, argumentiert er, stehe es den Beteiligten nicht mehr frei, gegenüber den in Betracht stehenden rechtlichen Regeln die Perspektive erfolgsorientiert handelnder Privatrechtssubjekte einzunehmen, sondern sie seien vielmehr verpflichtet, ihre Rechte auf politische Beteiligung in der Einstellung verständigungsorientiert handelnder Teilnehmer an der kollektiven Willensbildung über allseits verbindliche und annehmbare Regeln der sozialen Ordnung wahrzunehmen. „Deshalb ist im Begriff des modernen Rechts, das die Spannung zwischen Faktizität und Geltung zugleich steigert und verhaltenswirksam operationalisiert, der von Rousseau und Kant entfaltete demokratische Gedanke schon angelegt: daß



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der Legitimitätsanspruch einer aus subjektiven Rechten konstruierten Rechtsordnung nur durch die sozialintegrative Kraft des ‚übereinstimmenden und vereinigten Willens aller‘ freien und gleichen Staatsbürger eingelöst werden kann.“ (50) Habermas konstatiert, die Spannung zwischen Faktizität und Geltung werde durch die Positivierung des Rechts im Prozess der Rechtsetzung noch einmal reproduziert, und zwar anders als im Modus der Geltung bereits positiv geltender Normen. Denn die Faktizität der Rechtsetzung unterscheide sich von der Rechtsdurchsetzung dadurch, dass die Legalität der letzteren, also der Ausübung rechtlichen Zwangs, auf die Erwartung der Legitimität der ihr zugrunde liegenden Gesetzesnormen zurückgeführt werden müsse, während deren Legitimität nicht ihrerseits wieder allein durch eine Legalität begründet werden könne, die es den Adressaten freistellt, zu diesen Gesetzesnormen eine strategische Einstellung einzunehmen. Aus dieser dem Prozess der Rechtsetzung inhärenten Spannung zwischen Faktizität und Geltung ergebe sich eine Solidaritätslücke in dem Sinne, dass „ein System des rechtlich geordneten Egoismus“, dessen Teilnehmer sich allein von ihren Eigeninteressen leiten lassen, sich nicht selbst reproduzieren könne, sondern auf einen Hintergrundkonsens der Bürger angewiesen bleibe. Denn die rechtliche Regelung des eigennützigen Handelns der Individuen könne nicht funktionieren, wenn diese Regelung nicht ihrerseits geleitet sei von einem übergeordneten Allgemeininteresse, das darauf zielt, das Verhalten der Beteiligten in Bahnen zu lenken, deren Ergebnisse im gleichen Interesse aller liegen. Da sich diese Solidaritätslücke in modernen Gesellschaften aber nicht mehr durch ein gesamtgesellschaftliches Ethos oder die Autorität eines heiligen Rechts schließen lasse, bleibe nur noch die Möglichkeit, die subjektiven Privatrechte, die den Bürgern die Freiheit einräumen, ihren eigenen Geschäften nachzugehen, durch subjektive Rechte eines anderen Typs zu ergänzen, nämlich „durch Staatsbürgerrechte, die nicht mehr auf Willkürfreiheit, sondern auf Autonomie abstellen. Denn ohne religiöse oder metaphysische Rückendeckung kann das auf legales Verhalten zugeschnittene Zwangsrecht seine sozialintegrative Kraft nur noch dadurch bewahren, dass sich die einzelnen Adressaten der Rechtsnormen zugleich in ihrer Gesamtheit als vernünftige Urheber dieser Normen verstehen dürfen. Insofern zehrt das moderne Recht von einer Solidarität, die sich in der Staatsbürgerrolle konzentriert und letztlich aus kommunikativem Handeln hervorgeht.“ (51f.) Ich bin mit diesen Überlegungen zwar im Grundsätzlichen einverstanden, möchte aber im Detail einige Vorbehalte gegen die sehr anspruchsvollen substanziellen Schlussfolgerungen anmelden, die Habermas daraus zieht. So würde ich seine starke These, dass das Recht legitim sein muss (und dies wohl am Maßstab der kommunikativen Vernunft), durch die viel schwächere These ersetzen, dass es von den Beteiligten in einem hinreichenden Ausmaß für legitim gehalten werden

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muss (und zwar im Lichte der von ihnen akzeptierten Wert- und Moralvorstellungen, die ja oft von dem, was die kommunikative Vernunft zu erfordern scheint, mehr oder minder abweichen). Infolgedessen stehe ich auch der These, die Idee der Demokratie sei schon im Begriff des modernen Rechts angelegt, mit erheblicher Skepsis gegenüber. Mir scheint es wesentlich plausibler, diese Idee als eine Forderung der politischen Moral oder der Gerechtigkeit zu verstehen, die sich in der Moderne zwar mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus dem überlieferten Verständnis von Gerechtigkeit entfaltet hat, sich aber nur durch das Zusammenwirken vielfältiger kontingenter sozialer Prozesse, zu denen nicht zuletzt soziale Bewegungen gehören, durchsetzen konnte. Ich bestreite natürlich nicht, dass Bürgerrechte eine unverzichtbare Voraussetzung für einen lebendigen öffentlichen Diskurs sind, in dem sich nicht nur partikulare Interessen, sondern auch Anliegen des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit Gehör verschaffen können. Andererseits scheint mir aber auch nicht viel für die Erwartung zu sprechen, dass die durch diese Rechte garantierte Autonomie der Bürger diese sehr stark motiviert, sich im Sinne kommunikativer Vernunft für Belange des allgemeinen Besten und der Gerechtigkeit einzusetzen, wenn diese mit ihren Sonderinteressen in Konflikt geraten.

I.5 Zusammenfassende Würdigung Es ist sicher riskant, ein großes, sowohl theoretisch tiefgreifendes wie auch thematisch weitreichendes Werk wie Habermas’ Faktizität und Geltung schon auf der Grundlage seines ersten Kapitels beurteilen zu wollen. Da in diesem Kapitel aber nichts weniger als die grundlegenden Voraussetzungen und maßgeblichen Wegmarken des Argumentationsgangs des ganzen Werks vorgezeichnet werden, möchte ich doch eine erste, natürlich nur vorläufige Einschätzung von Habermas’ Projekt einer Diskurstheorie des modernen Staats und Rechts wagen. Dabei ist freilich unvermeidlich, dass diese Einschätzung meinen eigenen, stärker von der empiristischen als von der Kantisch-transzendentalphilosophischen Tradition geprägten Zugang zur Sozial-, Politik- und Rechtstheorie reflektiert. Alles in allem genommen, finde ich Habermas’ handlungs- und sprachtheoretisch fundierte Konzeption kommunikativer Vernunft und sein Unterfangen, aus ihr eine Diskursethik zu destillieren und diese wiederum in eine normativ gehaltvolle Theorie sozialer Ordnung, ja des modernen Staats und Rechts zu verlängern, in hohem Maße faszinierend, weil originell, erhellend und mit gewissen Einschränkungen auch überzeugend. Faszinierend ist zunächst schon die fundamentale, in den Sozialwissenschaften zuvor wenig reflektierte Einsicht, dass soziales Handeln sich weitgehend im Medium der Sprache vollzieht, eine



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Einsicht, die Habermas im Wege sprachpragmatischer Überlegungen zur bedeutenden Erkenntnis führt, dass wir bereits im faktischen Vollzug sprachlicher Kommunikation, wenn diese gelingen soll, diverse Geltungsansprüche erheben, die uns zur Anerkennung entsprechender Normen verpflichten. Ebenso faszinierend ist der Gedanke, dass wir in Kommunikationsprozessen, in denen wir uns über verbindliche Normen des sozialen Handelns verständigen wollen, für die von uns vorgeschlagenen Normen Anspruch auf allseitige Geltung erheben müssen, dessen vernünftige, d. h. für alle Beteiligten aus einsichtigen Gründen akzeptable Begründung den Nachweis der Konsensfähigkeit solcher Normen in einem von kommunikativer Vernunft geleiteten Diskurs erfordert, der eine informierte und unparteiische Erwägung der wesentlichen Interessen aller Betroffenen garantiert. Und faszinierend finde ich schließlich auch Habermas’ Analyse der Entwicklung der Prozesse sozialer Ordnungsbildung von den unreflektierten Lebenswelten der Menschen über relativ einfache und spontane, aber schon im Wesentlichen sprachlich vermittelte soziale Praktiken bis hin zu rechtlich regulierten und staatlich organisierten Gesellschaften, deren Normen und Institutionen der öffentlichen Rechtfertigung bedürfen. Was mir dabei allerdings nicht recht einleuchten will, ist die von Habermas aus alledem abgeleitete und für seine ganze Sozial-, Politik- und Rechtstheorie bestimmende These, dass eine stabile Koordination sozialen Handelns durch gültige soziale Normen nur im Wege einer von kommunikativer Vernunft geleiteten Verständigung der Beteiligten als gleichgestellter Personen, nicht aber vermittels eines unter den jeweils gegebenen Machtverhältnissen allseits annehmbaren Kompromisses zwischen erfolgsorientiert und strategisch handelnden Akteuren möglich sei. Diese These, die die von ihm angepeilte Verbindung der faktischen Wirksamkeit und der normativen Gültigkeit sozialer Ordnungen tragen soll, scheint mir nicht nur nicht zwingend aus den von Habermas angestellten handlungs- und sprachtheoretischen Analysen hervorzugehen, sondern auch empirisch unhaltbar. Überdies drängt sie seine Argumentation in eine Richtung, die sein Projekt einer normativ gehaltvollen und zugleich realitätsadäquaten Theorie wie auch deren kritische Intention unterminiert, weil er gerade wegen seiner (meines Erachtens überzogenen) Insistenz auf die Verankerung moralisch hochgradig anspruchsvoller normativer Erfordernisse der Geltung sozialer Normen im faktischen Sprachgebrauch dazu neigt, diese Erfordernisse in den von ihm betrachteten Prozessen sozialer Ordnungsbildung mehr oder minder erfüllt zu sehen und dabei die handfesten sozialen Triebkräfte solcher Prozesse zu unterschätzen. So liefert er von den originären sozialen Lebenswelten der Menschen ein allzu idyllisches Bild, das die oft von großen Machtungleichheiten geprägten sozialen Verhältnisse in solchen Welten verharmlost. Ebenso lässt seine Charakterisierung der Institutionen archaischer Gesellschaften einen kritischen

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Blick auf die notorischen Machtkämpfe in diesen Gesellschaften vermissen. Und es ist wohl nicht unfair festzustellen, dass diese Tendenz das vorliegende Werk insgesamt durchzieht, da auch dessen folgende Kapitel sich hauptsächlich mit der normativen Logik von Moral, Politik, Recht und Staat beschäftigen, aber eine empirisch informierte kritische Soziologie der einschlägigen realen Vorgänge und Entwicklungen weitgehend schuldig bleiben. Dieser Sachverhalt mag zwar den von Habermas erhobenen Anspruch desavouieren, mit der in Faktizität und Geltung vorgelegten Theorie die fruchtlose Alternative zwischen einem normativ blinden sozialwissenschaftlichen Objektivismus und einem real ohnmächtigen idealistischen Normativismus zu überwinden; er schmälert aber nicht die eminente Bedeutung dieses Werks als eines überaus originellen, anregenden, erhellenden und fruchtbaren Beitrags zur Politik- und Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts in Gestalt einer Theorie, die meines Erachtens ungeachtet der von Habermas dagegen erhobenen Einwände in der Tradition des Normativismus der neuzeitlichen Vernunftrechtsdoktrin steht.

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Otfried Höffe

II Soziologische Rechts- und philosophische Gerechtigkeitskonzepte II.0 Einleitung Habermas entwickelt seine systematisch angelegte Rechts- und Demokratietheo­ rie unter dem dualistischen Begriffspaar „Faktizität und Geltung“. Denn das (moderne) Recht zeichne sich durch eine dreifache Spannung aus. Hinsichtlich der Rechtsgeltung bestehe sie zwischen Positivität und Legitimität, innerhalb des Systems der Rechte zwischen privater und öffentlicher Autonomie, schließlich bei der Idee des Rechtsstaates zwischen dem Drohpotential politischer Herrschaft und deren Autorisierung durch legitimes Recht (171). Dabei fällt laut Habermas der jeweils erste Faktor unter den Begriff der Faktizität, der zweite unter den der Legitimität. Das mit der Darstellung und Auflösung dieser Spannungen betraute Werk, Habermas’ zweites Opus magnum nach der monumentalen Theorie des kommunikativen Handelns, besteht aus neun Kapiteln. Da sie allesamt sich aus drei Unterkapiteln aufbauen, kommt ein Philosoph nicht umhin, an den dialektischen Dreischnitt zu denken. Auf die These, in unserem Kapitel die „sozialwissenschaftliche Entzauberung des Rechts“, folgt als Antithese die „Wiederkehr des Vernunftrechts und Ohnmacht des Sollens“, worauf die abschließende Synthese unter dem Stichwort „Parsons vs. Weber: die sozialintegrative Funktion des Rechts“ steht. Freilich, wird sich zeigen, handelt es sich nur um eine vorläufige Synthese. Denn weder mit Webers noch Parsons Analysen zufrieden, beginnt Habermas’ systematisches Kernstück, die zweiteilige Rekonstruktion des Rechts, erst im folgenden Kapitel III. Gemäß dem Titel scheint das die Gesamtstudie leitende Begriffspaar Faktizität und Geltung auch für das Kapitel II entscheidend zu sein. Denn bei den „soziologischen Rechtskonzepten“ darf man an Faktizität, wenn auch eine theoretisch aufgearbeitete Faktizität, denken. Und die „philosophischen Gerechtigkeitskonzepte“ spielen auf eine freilich interpretierte Geltung an. Allerdings fallen schon beim ersten Blick einige Besonderheiten auf: Erstens ist die Soziologie sowohl im Unterkapitel II.I als auch II.II vertreten, sie ist also doppelt präsent. Dieses Übergewicht wird dadurch noch verstärkt, dass beide Unterkapitel deutlich länger sind als das der Gerechtigkeit und der Philosophie gewidmete mittlere Unterkapitel. Auf diese Weise betont Habermas die größere Bedeutung der schon in Kapitel I eingeführten Rechtssoziologie. Die von den beteiligten Rechtsbürgern getragenen empirischen Bestandsvoraussetzungen des modernen Rechts erscheinen damit als wichtiger denn die normati-

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ven Geltungsbedingungen. Für das noch zu nennende Interesse, Soziologie und Philosophie zusammenzubringen, spräche aber auch ein gleiches Gewicht dieser beiden Theorieansätze. Es fällt zweitens auf, dass die erwähnte „These“, die Entzauberung des Rechts, sich mit der vor allem von Niklas Luhmann inspirierten Systemtheorie befasst, also mit einer um und nach 1970 entwickelten Position, und dass die Antithese mit John Rawls in dieselbe Zeit fällt, während die eventuelle Synthese mit dem Gegensatz von Max Weber und Talcott Parsons zeitlich zurückgeht. Mit Weber sind es zwei Generationen, mit seinem Gegenpart Parsons ist es immerhin noch eine Generation. Zugleich handelt es sich um einen Autor, von dessen Systemtheorie bekanntlich Luhmann inspiriert ist, auch wenn er sich gegen Parsons’ handlungstheoretische Gedanken absetzt. Im weitläufigen Gespräch, das Habermas mit älteren und mit zeitgenössischen Klassikern zu führen pflegt, nutzt also unser Autor in Kapitel II die Freiheit systematischer Überlegungen und geht auffallend sprunghaft vor. Eine weitere Eigenart besteht in einer thematischen Engführung. Sowohl dieses Kapitel als auch Habermas’ gesamte „Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“ begnügt sich mit dem Themenfeld, das, lässt man Feinkritik beiseite, in den Grundzügen doch wenig umstritten ist. Allenfalls war es den Hauptvertretern der kritischen Theorie, am wenigsten aber Habermas selbst, lange Zeit fremd. Wenn man sich zudem ins Bewusstsein ruft, dass für die traditionelle kritische Theorie der Begriff politischer Herrschaft primär negativ besetzt war, überdies erkenntnisintentional und methodisch die negative (Gesellschafts-) Kritik vorherrschte, so sind Habermas’ Werk insgesamt und dessen hier behandeltes Kapitel II höchst eindrucksvoll: Die kritische Theorie macht sich von einer doppelten Fixierung frei, sie löst sich sowohl von einem primär negativen Herrschaftsbegriff als auch von einer primär negativen Gesellschaftskritik. An deren Stelle tritt eine Rekonstruktion der rechtsstaatlichen Demokratie, die überdies im Wesentlichen affirmativ ausfällt. Denn Habermas gibt sich mit Überlegungen zu Recht, Rechtsstaat, Demokratie und Zivilgesellschaft zufrieden, womit er Recht und Staat zu wesentlichen Momenten gesellschaftlicher Modernität erklärt. Neue Rechts- und Staatsaufgaben wie der Umweltschutz und der Datenschutz sowie vor allem die globale Seite des Rechts, das Völkerrecht und eine etwaige Weltrechtsordnung, bleiben hingegen unerörtert. Schließlich darf man auch dies nicht verschweigen. Das an Fachsprachen reiche Kapitel II liest sich weder argumentativ noch sprachlich leicht: Das im ersten Unterkapitel vorgetragene Lob der Umgangssprache geht in Habermas’ eigene Diktion nicht ein. Die folgende Analyse greift einige als wichtig erscheinende Gesichtspunkte heraus. Dabei erkennt sie an, dass Habermas, wie angedeutet, eine soziologi-



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sche Kausalanalyse und eine normative Philosophie zusammenbringen will. Er verfolgt also ein systematisches Interesse, das er aber in Form einer, so die Dramaturgie, dialektisch aufgebauten Theoriegeschichte realisiert. Nach ihrem erst zu Beginn des Kapitels III hervorgehobenen methodischen Selbstverständnis sollen die modernen Rechtsordnungen – nach Goldmann (2014) auch die Praxis juristischer Diskurse – rational rekonstruiert werden (109) (zur Klärung dieser Methode siehe Patberg 2014). Zweifellos wird dabei mit idealisierenden, zum Teil kontrafaktischen Annahmen operiert. Trotzdem bleiben theoriegeschichtliche Rückfragen erlaubt.1

II.1 Entzauberung des Rechts? Im ersten Abschnitt von Kapitel II folgt Habermas nach eigenem Bekunden „der systemtheoretischen Linie der sozialwissenschaftlichen Diskussion“, mit dem Ziel, „Nutzen und Nachteil einer objektivistischen Entzauberung des Rechts zu prüfen“ (62). Einleitend behauptet er einen schwankenden Stellenwert des Rechtsbegriffs in der Staats- und Gesellschaftsanalyse der letzten drei Jahr­ hunderte. Da Habermas’ erster Gewährsmann, Hobbes, seine einschlägigen Elements of Law schon im Jahr 1640 zirkulieren lässt und der einflussreiche Traktat De cive zwei Jahre später erscheint, handelt es sich in Wahrheit um dreieinhalb Jahrhunderte. In ihnen kann man nur dann von einem schwankenden Stellenwert des Rechtsbegriffs sprechen, wenn man eventuell mit Hegel im Hintergrund „Staat und Gesellschaft“ als einen einzigen Themenkomplex behandelt. Tatsächlich handelt es sich um relativ verschiedene Themenbereiche. Es trifft durchaus zu, dass die schottischen Moralphilosophen, die Habermas als Beleg anführt, sich neuen Themen zuwenden. Adam Ferguson kommt es auf „Praktiken, Sitten und Institutionen“ an, dem gleichaltrigen Adam Smith auf die Ökonomie, die er unter dem (durchaus normativen) Leitaspekt des „Wohlstandes der Nationen“ betrachtet. Neue Themen müssen aber nicht als Kritik der bisherigen Gegenstände verstanden werden. Vertragstheorien sind Theorien politischer Legitimation, in Form eines Gedankenexperiments entwickelt; sie werden durch soziologische Analysen weder widerlegt noch devalorisiert. Allenfalls könnte der Staat mit seinem zwangsbefugten Recht im Prinzip unstrittig geworden sein, womit er an intel-

1 Ich danke Jürgen Habermas für seinen hilfreichen Kommentar zu dem im Rahmen des Work­ shops zur Vorbereitung des vorliegenden Bandes vorgetragenen Entwurf dieses Textes.

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lektuellem Interesse, aber nicht an realem Gewicht verliert. Im Übrigen ist ein Gewährsmann von Habermas, Ferguson, nicht nur Empiriker, sondern wie Smith nachdrücklich auch Moralphilosoph. Nicht zuletzt spielt in seinem von Habermas erwähnten Essay On the History of Civil Society (1767, dt. schon 1768 als Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft) die bei der Analyse der Arbeitsteilung hervorgehobene Rechtssicherheit, mithin doch das Recht, eine wichtige Rolle. Außerdem wären, bevor man mit Habermas das Recht zu einem Epiphänomen zu degenerieren sucht und von Marx zu Luhmann springt, zur Entzauberung des Rechts auch Alternativdiskurse und Gegenautoren zu nennen. Dazu gehört etwa Marx’ Zeitgenosse John Stuart Mill, der keine Schwierigkeit hat, sich sowohl mit der Politischen Ökonomie als auch der Rechts- und Staatstheorie zu befassen. Auch darf man an den Gründer der historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, ferner an große Juristen und Rechtstheoretiker wie Hans Kelsen, Gustav Radbruch und Herbert Hart erinnern. Nicht zuletzt setzt sich Habermas im dritten Unterkapitel mit Durkheim, Max Weber und Parsons, also mit Autoren auseinander, deren sozialwissenschaftlicher Blick Leistungen von Recht und Staat einschließt. Nach Habermas’ „positiver These“ soll das angeblich zu einem Epiphänomen herabgesunkene Recht durch den Systemtheoretiker Niklas Luhmann „wieder einen Eigensinn“ erhalten haben, allerdings nur in einer „periphere[n] Stellung“ (67f.). Zu Recht übt Habermas daran Kritik, etwa dass der „interne Zusammenhang zwischen dem Recht und der demokratisch-rechtsstaatlichen Organisation […] politischer Macht“ aus dem Blick gerät (70). Allerdings hätte Habermas daran anschließen und eine andere Teildiagnose noch kritisch kommentieren sollen. Dass die Sozialwissenschaften „mit den letzten Resten des vernunftrechtlichen Normativismus“ aufräumen, gibt zwar der sozialempirischen Seite des Rechts die nötige Aufmerksamkeit, verdient aber schwerlich die lobende Einschätzung als „Ernüchterung“ (72). Von einer Wissenschaft, die die Normativität des Normativen thematisch und methodisch ausschließt, kann man nichts anderes als Nichtnormativität erwarten. Darin liegt aber keine theoretische Einsicht, die man „Ernüchterung“ nennen dürfte, sondern ein apriorisches Desinteresse: Sozialwissenschaftler blieben bei ihren Leisten und sollten den Philosophen, die mit anderen Leisten arbeiten, nämlich mit einem Legitimationsinteresse, nicht ihre Andersartigkeit vorwerfen. Es sein denn, man erliegt einem Soziologismus, der nur die soziologische Betrachtung für rechtens hält. Am interessantesten im Unterkapitel I ist Habermas’ systematische These. Für sie hätte man sich mehr sachliche Argumente als eine doch stellenweise fragwürdige theoriegeschichtliche Rekonstruktion gewünscht. Dieser Einwand



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nimmt freilich Habermas nicht das Recht, seine These nach dem Muster der bestimmten Negation zu begründen, hätte diese aber nicht exklusiv auf die Kritik einer konkurrierenden Theoriearchitektonik beschränken müssen. Nach Habermas’ systematischer These erlaubt die eigene Theorie, die Kommunikationstheorie, verständlich zu machen, was der (im Gewicht vielleicht überschätzten) Systemtheorie versperrt ist. Im Gegensatz zu den Spezialsprachen, auf die die Systemtheorie setze, besitze „die grammatisch komplexe und reflexiv strukturierte Umgangssprache den Vorzug der Multifunktionalität“. Dabei beweise das Recht die für seine soziale Aufgabe erforderliche Fähigkeit, „eine Scharnierfunktion zwischen System und Lebenswelt“ zu bilden (77). Nur als Randbemerkung: Habermas, der Schüler des Kulturanthropologen Rothacker, hatte 1958 im damals weit verbreiteten Fischer Lexikon Philosophie den hochkompetenten Artikel „Anthropologie“ veröffentlicht. Fast 35 Jahre später spielt die Anthropologie wieder eine Rolle, freilich so unbetont, dass sie von vielen Lesern übersehen werden dürfte. In diesem Zusammenhang erklärt Habermas jedenfalls die Hand zu einem „anthropologische[n] Monopol“ (77), was über Anthropologen des 20. Jahrhunderts hinaus zu Aristoteles zurückweist. Denn für ihn ist die Hand dank des aufrechten Gangs von Menschen ein einzigartiges Mehrzweck-Organ, das Organ der Organe (De partibus animalium IV 10, 687a 18ff.), das zu größter technischer Gewandtheit befähigt. Ein analoges anthropologisches Monopol besitzt nach Habermas die Umgangssprache (vgl. für Aristoteles das zōon logon echon: Politik I 2, 1153a9f.). Für das eigene Thema, das Recht, hätte Habermas noch das dritte von Aristoteles hervorgehobene anthropologische Monopol erwähnen können, die dank der Sprache zu Recht und Unrecht begabte, also nicht immer schon, sondern menschheitsgeschichtlich erst spät realisierte politische Natur des Menschen (ebd., 1253a10ff.). Zurück zu Kapitel II von Faktiziät und Geltung: Wegen seiner Scharnierfunktion wird das Recht, ohne dass Habermas es so deutlich sagt, zu einem dritten Steuerungsmedium. Als eine Sprache, sogar einzige Sprache (bei Habermas „nur“), in der „normativ gehaltvolle Botschaften gesellschaftsweit zirkulieren“ (78) können, ergänzt es die beiden anderen Steuerungsmedien, Geld und administrative Macht: Außer der Ökonomie und der Bürokratie zählt auch das Recht. Die Frage, ob es weitere Medien gibt – von den anthropologischen Monopolen her bieten sich die Technik („Hand“), die Wissenschaft („Umgangssprache“), ohnehin die Demokratie („rechtsorientierte Polisnatur“) an –, taucht themengebunden nicht auf.

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II.2 Ein normativer Gerechtigkeitsdiskurs? Das zweite Unterkapitel ist den zur Systemtheorie „komplementären Schwierigkeiten eines [angeblich] rein normativ durchgeführten Gerechtigkeitsdiskurses“ gewidmet (62). Habermas setzt sich hier mit der „Wiederkehr des Vernunftrechts“ auseinander und wählt dafür als entscheidenden Gesprächspartner John Rawls mit seiner weltweit wirkungsmächtigen „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971). Zusätzlich geht Habermas auf einige weitere Texte von Rawls und einige wenige Interpreten ein. Habermas versteht Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als eine „Reaktion auf die sozialwissenschaftliche Unterminierung des vernunftrechtlichen Normativismus“. Diese Interpretation erlaubt seiner Argumentation eine Dramaturgie, die an die von mir einleitend genannte Dialektik denken lässt. Wie schon in einem früheren Rezensionsessay (Höffe 1993) bemerkt, entwickelt Habermas die eigene Theorie als eine Synthese, die die Schwächen von zwei theoriegeschichtlichen Entwicklungen eliminiert und ihre Stärken verbindet. Von der einen Entwicklungslinie – bei der er, wie erwähnt, den ökonomischen und auch moralischen Anteil unterbewertet, überdies alternative Diskurse übergeht – will Habermas den sozialwissenschaftlichen Blick übernehmen, aber ohne dessen Depotenzierung des Rechtsbegriffs. Und von der anderen Entwicklungslinie greift er die Anerkennung des moralischen Standpunktes, genauer: der Gerechtigkeit, auf, jedoch ohne das sozialwissenschaftliche Defizit. Ein erstes Bedenken gegen Habermas’ Rawls-Auseinandersetzung entzündet sich am Vorgehen: Unser Autor diskutiert Rawls nicht aus dessen eigenem Diskurszusammenhang. Er berücksichtigt nicht, dass Rawls seinem Lebensthema, der Gerechtigkeit als Fairness, seit 1958, also lange vor Luhmann, nachgeht. Ebensowenig erwähnt er, dass es Rawls dabei auf eine Rehabilitierung der normativen Ethik gegenüber der damals vor allem in der Anglophonie vorherrschenden Metaethik, ferner auf eine Kritik an den in den anglophonen noch dominierenden normativ-ethischen Debatten ankommt, nämlich sowohl auf eine Kritik am vorherrschenden, seit den 1930er Jahren aber einer gründlichen Revision unterzogenen Utilitarismus als auch eine Kritik an einem gegen Sozialstaatlichkeit abgeschotteten Liberalismus. Schon aus diesen Gründen ist Habermas’ einleitender Vorwurf an Rawls, „von der sozialwissenschaftlichen Entzauberung des Rechts keine Notiz zu nehmen“ (79), unangemessen. Nicht zuletzt zeichnet sich Rawls’ Gerechtigkeitstheorie kaum durch ein Defizit an wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Aspekten aus, denn aus mindestens zwei guten Gründen wird Rawls’ Theorie sowohl in der Politischen Ökonomie als auch in den Sozialwissenschaften intensiv diskutiert: Einerseits bedient sich der Autor, was sowohl bei Luhmann als auch bei Habermas unterbleibt, der in den Wirtschafts- und Sozial-



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wissenschaften seit vielen Jahren dominierenden Sprache der der Entscheidungsund Spieltheorie. Andererseits sucht Rawls zwar nicht wie Habermas nach einer Vermittlung von soziologischen und normativen Überlegungen. Sein Gedanke der gesellschaftlichen Grundgüter bietet aber einer empirisch gehaltvollen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie einen guten Einstieg. Zusammengefasst und salopp formuliert: Was kann Rawls dafür, dass er in anderen Diskurszusammenhängen agiert? Auch im Falle von Rawls’ Vorbild, Kant, vermag Habermas’ Behauptung, das Vernunftrecht verstelle die sozialwissenschaftliche Perspektive aufs Recht, nicht zu überzeugen. Ich darf hier mein damaliges Argument wiederholen. Kant unterscheidet ausdrücklich die rationale, sprich: moralische, von der empirischen Betrachtung und hält, statt ein Entweder-Oder zu behaupten, beide für gleicherweise berechtigt. Zu einer Konkurrenz kommt es nur dort, wo man die Leistungsfähigkeit der eigenen Perspektive überschätzt, beispielsweise mit empirischen Begriffen den moralischen Anspruch des Rechts, seinen Gerechtigkeitsanspruch, entschlüsseln oder umgekehrt allein mit moralischen Begriffen die gesellschaftliche Funktion des Rechts und dessen historische Organisation verstehen zu können glaubt. Ein entsprechender Vorwurf ist aber gegen Kant nicht berechtigt. Habermas nimmt in der Sache Hegels oft leichtfertig wiederholten Einwand von der Ohnmacht des Sollens auf. Schon gegen Hegels Konkurrenten, Kant, ist der Einwand unberechtigt. Denn in seiner Rechtslehre behandelt Kant vor allem auf zweifache Weise die Macht des Sollens. Einerseits behauptet er, zum Recht gehöre schon begrifflich die Zwangsbefugnis hinzu, andererseits begründet er die öffentliche, sprich: staatsförmige Sicherung des Rechts, da es andernfalls nur provisorisch gelte. Habermas’ stillschweigende Kritik an Kant müsste daher genauer, weniger pauschal ausfallen. Nun setzt sich Habermas direkt nicht mit Kant, sondern Rawls auseinander. Ihm wirft er vor, seine Gerechtigkeitstheorie „zunächst in vacuo“ zu entwickeln und sie „abstrakt einer einsichtslosen Realität“ gegenüberzustellen (79). Dabei übergeht er Rawls’ methodische Doppelstrategie. Nur gegen die eine Teilstrategie, gegen die auf der Entscheidungs- und Spieltheorie basierende „moralische Geometrie“, lässt sich der „in vacuo“-Vorwurf erheben, aber selbst hier nicht aufrechterhalten. Denn eine genuin normative Theorie kann „Bedingungen der politischen Akzeptanz“ nur zu einem allzu hohen Preis, dem Sein-Sollensfehler, ab ovo berücksichtigen. Außerdem wäre hier Rawls’ Gedanke der gesellschaftlichen Grundgüter zu berücksichtigen, der jene doppelte Öffnung erleichtert, auf die Habermas als Soziologe Wert legt, die Öffnung zu empirisch gehaltvollen Theorieelementen und die zur politischen Akzeptanz. Mit seiner zweiten Teilstrategie, dem Überlegungsgleichgewicht, sucht Rawls eine Gerechtigkeitstheorie, der die politische Akzeptanz von vornherein inne-

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wohnt. Insofern unternimmt Rawls letztlich nichts mehr, allerdings auch nichts weniger als eine mit einem Reformpotential verbundene Hermeneutik der kon­ stitutionellen, exemplarisch in seinem Heimatland, den USA, realisierten Demokratie. Ob ihm dies gelingt, eine in sich kohärente Theorie des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates vorzulegen, ist eine andere Frage. Mit Blick auf die politische Akzeptanz sieht Habermas bei Rawls zwei Stufen normativer Rechtfertigung. Auf der ersten Stufe, der „Kongruenz des Rechten und des Guten“, findet eine „Selbststabilisierung der gerechten Gesellschaft“ statt. Denn ihre Stabilität beruhe „nicht auf Rechtszwang“ (dieses Thema kommt bei Rawls sogar zu kurz), sondern auf der „sozialisatorischen Kraft eines Lebens unter gerechten Institutionen“ (81). Auf der zweiten Stufe, dem Etablieren gerechter Institutionen, geht nun Habermas auf die Methode des Überlegungsgleichgewichts und auf den „Kontext einer bestehenden politischen Kultur“ ein. Er behauptet aber, das Überlegungsgleichgewicht spiele dabei „eine zweideutige, von Rawls selbst nicht hinreichend differenzierte Rolle“ (ebd.). Einerseits gehe es um die Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, andererseits um die politische Werbung für sie (82). In der Tat übernimmt Rawls’ Überlegungsgleichgewicht diese doppelte Aufgabe. Ich vermute aber, dass Rawls sie letztlich für eine einzige Aufgabe, gewissermaßen für ein Paket, hält, das ich mit dem Begriff der „Hermeneutik einer konstitutionellen Demokratie“ bezeichne. Auch darf man sich fragen, ob Habermas, gegen Rawls’ erste Teilmethode zweifellos skeptisch, am Ende auch nicht viel mehr als eine derartige Hermeneutik zustande bringt. Im Fortgang seiner Argumentation gesteht Habermas Rawls’ später eingeführtem Begriff des „overlapping consensus“ zu, weniger zweideutig zu sein. Er nimmt den eigenen Gedanken einer nachmetaphysischen Gerechtigkeitstheorie auf, die „vermeidet, im Streit konkurrierender Lebensformen und Weltanschauungen Partei zu ergreifen“ (83). Er stellt sich aber nicht der Frage, ob die Philosophie das nicht schon immer versucht habe, schon deshalb, weil es dem von Philosophen häufig vertretenen Universalitätsanspruch innewohne. Ein etwaiges Misslingen resultiert hingegen aus einer Gefahr, gegen die auch heutige Theorien nicht grundsätzlich gefeit sind, nämlich unbemerkten Vor-Urteilen zu erliegen. Bei Rawls sind die gesellschaftlichen Grundgüter einer der Kandidaten, die daraufhin zu untersuchten wären, ob sie, wie der Autor annimmt, der pluralistischen Konkurrenz enthoben sind oder doch nicht. Habermas’ Bedenken gegen den überlappenden Konsens bleiben eigentümlich abstrakt und vage. Ich kann mir durchaus Themen vorstellen, bei denen Rawls’ Konzept versagen könnte, zum Beispiel bei Grenzfragen der medizinischen Ethik. Habermas lässt aber nähere und konkrete Überlegungen vermissen. Stattdessen geht er auf zwei einflussreiche US-Denker ein. Nach Rorty hat Rawls „eine



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durch und durch historische und antiuniversalistische Einstellung“, was aber eine unplausible kontextualistische Vereinnahmung sei, die Rawls’ „erheblichen Begründungsaufwand“ nicht erkläre (85). Dworkin hingegen suche nach einer „weniger kontingenten Einbettung“ (86), was aber am Dilemma scheitere, in das sich jede nachmetaphysische Ethik, die allgemeine Gültigkeit beansprucht, verstricke: Entweder müsse sie „substantielle Aussagen“ machen, deren Prämissen „dem Entstehungskontext bestimmter historischer oder gar persönlicher Selbstund Weltdeutungen verhaftet“ bleiben, oder sie müsse, um diesem Verhaftetsein zu entgehen, „hinreichend formal“ sein, was aber eine, darf man sagen, sub­ stanzarme Substanz zur Folge habe, die nicht mehr beinhaltet, als „das Verfahren ethischer Selbstverständigungsdiskurse zu erläutern“ (87f.). Eine weitere Option zieht Habermas nicht in Erwägung, die Verbindung von Ethik mit Anthropologie (siehe z. B. Höffe 1990). Diese Alternative mag Habermas fremd sein, die beiden Bausteine sind es aber nicht: von einem „anthropologischen“ Monopol (77) ist bei ihm ebenso die Rede wie von „ethischen“ Diskursen. Damit beende ich meine Bemerkungen zu Habermas’ Rawls-Diskussion und komme zur konstruktiven Alternative (89). Deren Grundgedanke ist zweiteilig, wobei zumindest der eine Teil überzeugt: dass die Analyse des Rechts den externen Zugriff mit einer intern ansetzenden Rekonstruktion verbinden soll. Der andere Teil hingegen, dass die Analyse „sozialwissenschaftlich“ zu erfolgen hat, erscheint von Habermas’ Argumenten aus nicht als zwingend. Die Analyse müsste aber zwingend sein, um Habermas’ nächsten, dritten Schritt für notwendig zu halten, also die „Doppelperspektive“ von „Rekonstruktion und Entzauberung des Rechtssystems“ einzunehmen (89f.). Soweit Habermas’ Kritik an Rawls plausibel ist, könnte die Alternative ebenso in einer überzeugenderen Rekon­ struktion liegen, nämlich einer vermutlich komplexen Rekonstruktion, die, wie Habermas selber einige Zeilen vorher anmahnt, (1) normativ angeleitet ist und sich (2) auf sowohl die geschichtliche Entwicklung des Rechtsstaates (genauer wohl: des demokratischen Rechtsstaates) als auch (3) dessen soziale Basis einlässt.

II.3 Der doppelte Blick auf das Recht Das dritte Unterkapitel beginnt mit der Kants erster Kritik entlehnten Antithese von leeren Gedanken und blinden Anschauungen. Zum einen erneuert Habermas den Vorwurf an den philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs, mangels eines sozialwissenschaftlichen Blicks die institutionelle Dimension, das Recht als empirisches Handlungssystem, zu verfehlen. Richtig ist, dass philosophische Rechtsund Gerechtigkeitstheorien, deutlich von Kant über Hegel bis Rawls, schon

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aufgrund ihres Metiers und selbstgestellten Themas nicht den Standpunkt eines Sozialwissenschaftlers einnehmen. Sie pflegen aber die Anwendungsbedingungen ihrer Legitimationsüberlegungen zu berücksichtigen. Rawls beispielsweise widmet den mittleren Teil seiner dreiteiligen Theorie der Gerechtigkeit genau den von Habermas vermissten „Institutionen“. Und schon im Teil I, § 15, taucht der empirisch gehaltvolle Gedanke der gesellschaftlichen Grundgüter auf. Gegen Kants Rechtslehre oder gar Hegels Grundlinien des philosophischen Rechts lässt sich ebensowenig Habermas’ Vorwurf, die philosophischen Begriffe blieben leer, aufrecht erhalten (90). Der konträre Vorwurf an die (wohl Luhmann’sche) Rechtssoziologie, bei ihrem objektivierenden Blick von außen blind zu sein, bleibt mangels einer näheren Bestimmung der vermissten internen symbolischen Dimension zunächst unklar. Etwas klarer wird sie aber durch den Hinweis auf zwei neukantianisch in­spirierte Soziologen, von denen Habermas die Überwindung des Defizits erwartet, von Max Weber, der soziale Ordnungen von „Ideen und Interessen“, und Parsons, der sie von vorkulturellen Werten und Motiven durchdrungen sieht, wodurch das Recht nicht länger primär als staatliches Organisationsmittel erscheint. Habermas selbst sucht „die Herausbildung und Stabilität von Verhaltensmustern zu erklären“ und beruft sich dafür auf einen „sanften Zwang“, nämlich die Internalisierung geltender Normen in die eigene Persönlichkeit (91). Dass er dabei von einer „Gewissensautorität“ spricht, dürfte das Ergebnis der Internalisierung zu hoch ansetzen. Zumindest wäre bei der inneren Anerkennung eine Differenzierung angebracht. Sie solle eine vormoralische, etwa aus Sorge vor sozialen oder sogar rechtlichen Sanktionen erfolgende innere Anerkennung von der genuin moralischen Anerkennung im Gewissen unterscheiden. Im folgenden Max Weber-Referat zeichnet sich allerdings ein differenziertes Verständnis, unter anderem eine aus Gründen und empirischen Motiven „gemischte Geltungsbasis“, ab (93). Habermas legt bei Max Weber Wert auf dessen Unterscheidung einer juristischen und einer soziologischen Betrachtung. Jene frage nach den Bedingungen der idealen Geltung, wobei sie nur auf notwendige, nicht hinreichende Bedingungen stoße. Und diese rekonstruiere die Bedingungen des im modernen Recht vorausgesetzten „Legalitätseinverständnisses“. Allerdings unterscheide Weber nicht hinreichend zwischen Rechtsdogmatik, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. Mit Max Weber sieht Habermas die Positivierung des Rechts mit einer „Differenzierung zwischen Recht und Moral“ verbunden (96). Hier wünscht man sich erneut eine genauere, zugleich differenziertere begriffliche Abgrenzung, womit ich wieder auf schon früher geäußerte Bedenken zurückgreife: Bei seiner Funktionsbestimmung des Rechts im dritten Unterkapitel argumentiert Habermas, um den Siegeszug des modernen Rechts verständlich zu machen, mit den Begriffen



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„gesellschaftliche Integration“ und „Überforderung“. Der erste Begriff erkläre die Notwendigkeit einer Sozialregulierung, der zweite, warum die vor- und außerrechtliche Regulierung nicht ausreicht. Das moderne Recht springe also dort ein, wo soziale Ordnungen mit ihrer Integrationsaufgabe überfordert seien. Dafür sei die Vernunftmoral insofern verantwortlich, als ihretwegen die naturwüchsigen Institutionen baufällig werden und die dann verbleibende Instanz, die moralischen Subjekte, allein keine verlässliche Integration leisten können. Gegen diese „Rekonstruktion“ drängen sich mindestens vier Einwände auf: Erstens übergeht Habermas die Frage, wo denn schon das vormoderne, von der Vernunftmoral „unbeschädigte“ Recht tätig war. Ein rascher Blick in die Geschichte zeigt, dass die von Recht geregelten sozialen Phänomene seit langem auf überwältigende Weise konstant sind. Auch wenn sich in der Neuzeit der rechtliche Regelungsbedarf erhöht und sich vor allem im Bereich des Sozial- und Wirtschaftsrechtes (einschließlich des Arbeitsrechts) neuartige Aufgaben stellen, ist das Recht doch in den meisten Lebensbereichen schon seit alters her tätig; sowohl im Zivilrecht wie im Strafrecht gibt es eine Fülle von durchlaufenden Rechtsgebieten. Gemäß dem Begriff „Überforderung“ soll zweitens das Recht dort erforderlich werden, wo ehemals stabile Sozialordnungen destabilisiert werden. Aber auch festgefügte Gesellschaften mit stabilen Ehe- und Familienverhältnissen und ebenso stabilen Tauschinstitutionen kennen ein Ehe- und Familienrecht, ein Vertrags- und Handelsrecht usw. Und den Lebens- oder Eigentumsschutz braucht man nicht erst, wenn Institutionen baufällig werden. Außerdem trägt die Vernunftmoral für die Baufälligkeit naturwüchsiger Institutionen kaum die Primärverantwortung. Im Gegenteil kann sie sogar stabilisierend wirken, wenn sie so elementare Institutionen wie Eigentum, Ehe und Familie, nicht zuletzt den Staat moralisch, also mit überpositiven Argumenten legitimiert. Drittens leistet eine gesellschaftliche Integration, wer eine Ehe eingeht, wer eine Familie gründet, wer Tauschgeschäfte vornimmt; zuständig sind also die Sozialpartner selber. Das entsprechende Zivilrecht legt nur die verbindliche Gestalt fest, hat folglich keine primäre, nur eine sekundäre Bedeutung. Es nimmt die Integration nicht vor, lenkt sie aber, vorausgesetzt sie findet überhaupt statt, in sowohl erwartungsstabilisierende als auch verhaltenssteuernde Bahnen. Anders sieht es bei Strafrecht, etwa beim Lebens- und beim Eigentumsschutz, aus. Hier räumt das Recht in der Regel lediglich Barrieren gesellschaftlicher Integration aus dem Weg, trägt zu ihr aber nicht konstruktiv bei. Wer sich an die einschlägigen Verbote peinlich genau hält und weder tötet noch stiehlt noch betrügt, ansonsten aber nur seine eigenen Wege geht, entzieht sich der gesellschaftlichen Integration ganz. Nicht zuletzt vermisst man bei Habermas rechtsinterne Distinktionen. Wo das Recht Form und Verfahren sozialer Integration definiert, übt es eine grund-

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legend andere Funktion als dort aus, wo es Koexistenzbarrieren überwindet. Im einen Fall gilt das Recht hypothetisch („Wenn man eine Ehe eingehen, ein Testament hinterlassen will usf., dann muss man X tun.“), im anderen Fall gilt es kategorisch („Was auch immer man will – Töten, Stehlen, Betrügen sind unerlaubt.“) Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Wenn die hier genannten Einwände berechtigt sind, wird durch die Begriffe „Integration“ und „Überforderung“ die Funktion des (modernen) Rechts teils zu weit, teils zu eng bestimmt. Geeignet sind die Begriffe für eine vorläufige, aber auch erst vorläufige Funktionsbestimmung; eine Theorie, die sich mit diesen Begriffen zufriedengibt, bleibt unterkomplex. Zurück zu der bei Habermas fehlenden differenzierenden Abgrenzung von Recht und Moral. Insbesondere vermisst man den Hinweis, dass das Recht sowohl moralische Grundlagen hat (Privatgewalt und Privatjustiz werden delegitimiert) als auch auf moralische, wenn auch rechtsmoralische Grundsätze wie die Menschenwürde und die Menschenrechte verpflichtet wird. Das klingt übrigens bei Habermas selbst an, wenn er im „Legitimitätsanspruch des Rechts“ ein „Moment der Unverfügbarkeit“ (96), ferner „universalistische Grundsätze“ (97) anerkennt. Trotzdem vertritt er gegen Ende von Kapitel II die dezisionistisch anmutende These: „ich möchte [...] Recht und Moral von vornherein unterscheiden“ (106) (zum komplexen Verhältnis von Recht und Moral siehe Höffe 2001, Teil II). Im Zuge der einschlägigen Rationalisierung der Grundlagen des Rechts ergibt sich nach Habermas zwingend die Positivierung (101). Diese These klingt plausibel. Trotzdem wünschte man sich die Frage näher erörtert, ob die Positivierung nicht schon vor der modernen Rationalisierung beginnt, es folglich noch andere Gründe für die Positivierung gibt. Vor allem drängt sich die Rückfrage auf, ob ein etwaiges Hand-in-Hand-Gehen von Rationalisierung und Positivierung tatsächlich „zwingend“ ist. Ferner sähe man die These, Rationalisierungsprozesse würden religiöse Weltbilder entzaubern, in Bezug auf das Recht gern näher erläutert. Denn profanes Recht gibt es schon bei den Griechen; in Rom findet es sich zumindest als Ius gentium, überdies im Strafrecht, sofern es mit Mommsen (1899) ein Deliktrecht ist. Und der Sachsenspiegel, das älteste und einflussreichste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, das zudem weitere deutsche Rechtsbücher beeinflusste, überdies in weiten Teilen Polens, Russlands und Ungarns Geltung besaß, hat weithin profanen Charakter. Eine weniger pauschale Beschreibung verdient meines Erachtens auch die Bemerkung „positiv gesetzter, also änderbarer“ Normen (97). Ein Großteil alter Rechtstexte bringt nämlich das bis dato geltende Gewohnheitsrecht in Schriftform, ohne die vermutlich weit spätere Änderbarkeit mitzudenken; ein Rechtsbuch wie der genannte Sachsenspiegel gilt immerhin über Jahrhunderte. Mit Max Weber hält Habermas den „internen Zusammenhang von [positivem] Satzungs- und [universalistischem] Begründungsprinzip“ (97) für wichtig. Er kri-



Soziologische Rechts- und philosophische Gerechtigkeitskonzepte 

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tisiert aber die Überbetonung des funktionalen Zusammenhangs des modernen Rechts „mit der bürokratischen Herrschaft der rationalen Staatsanstalt“. Denn dadurch werde die „sozialintegrative Eigenfunktion des Rechts“ nicht gebührend beachtet (98). Wegen dieses Defizits geht Habermas zu Parsons über. Bei ihm schätzt er, dass der „moderne Verfassungsstaat aus der Perspektive reiner Verrechtlichung der politischen Gewalt betrachtet“ werde (98). Dabei werde die den Rechten eigene Funktion, die „Sicherung gesellschaftlicher Solidarität“, wichtig (99). (Hier verdiente der Begriff der Solidarität eine nähere Erläuterung. Denn zum einen kann man die Solidarität sowohl im anspruchsvollen Sinn des geschlechtsneutralen Ausdrucks der Brüderlichkeit verstehen als auch im bescheideneren Sinn des traditionellen Begriffs des Gemeinwohls. Zum anderen hat weder das Recht in sozialer Hinsicht nur eine Solidaritätsfunktion, noch findet alle Solidarität rechtsförmig statt.) Das Gewicht dagegen, das das moderne Recht auf „rationale Begründung und Positivität“ legt, sieht Habermas bei Parsons nur „beiläufig“ behandelt. Positiv sei jedoch einzuschätzen, dass Parsons „das moderne Recht als Transmissionsriemen“ versteht, „über den sich Solidarität, also anspruchsvolle Strukturen gegenseitiger Anerkennung, die wir aus konkreten Lebensverhältnissen kennen, in abstrakter, aber bindender Form auf die anonym gewordenen und systemisch vermittelten Beziehungen einer komplexen Gesellschaft übertragen lassen“ (102f.). Laut Habermas bezieht sich Parsons in empirischer Hinsicht auf T. H. Marshalls Einteilung staatsbürgerlicher Rechte in civil, political und social rights. (Die entsprechende juristische Einteilung dürfte auf Georg Jellineks Lehre von status negativus, activus und positivus zurückgehen [Jellinek 1914].) Anders als bei Marshall dürfe die „fortschreitende Inklusion der Bürger“, dass nämlich „immer mehr Personen immer umfassendere Rechte auf Zugang und Beteiligung an immer mehr Teilsystemen [erwerben]“, nicht bloß im Zusammenhang mit der kapitalistischen Modernisierung, sondern müsse auch im Blick auf Kämpfe und vielfältige Bewegungen gesehen werden (103f.). Dabei sei ein Unterschied zu beachten: während nur die politischen Teilhaberrechte die reflexive Rechtsstellung eines Staatsbürgers begründen, seien „Rechtsstaat und Sozialstaat im Prinzip auch ohne Demokratie möglich“ (104).

II.4 Blick auf die weitere Argumentation Gegen Schluss des dritten Unterkapitels betont Habermas die Bedeutung, die er der „rationale[n] Rekonstruktion der Bürgerrechte aus der Innenperspektive des Rechtssystems“ beimisst (105). Weil er das weder bei Weber noch bei Parsons hinreichend beachtet sieht, verspricht er für die beiden folgenden Kapitel, „das

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Konzept der Staatsbürgerschaft“ diskurstheoretisch zu rekonstruieren, und zwar zunächst normativ (Kapitel III). Dabei sollen zwei Fehler vermieden werden: Der eine Fehler besteht in einer in philosophischen Gerechtigkeitsdiskus­ sionen angeblich verbreiteten, aber nicht näher belegten Zweideutigkeit. Dass sie durch den Sprachgebrauch von „Recht“ und „Rechten“ nahegelegt werde, trifft schon auf die englischsprachigen Diskurse mit ihrer klaren Unterscheidung von „law“ auf der einen, „rights“ und „claims“ auf der anderen Seite nicht zu. Auch für die deutschsprachigen Diskurse lassen sich prominente Belege nicht leicht finden. Andererseits sollen holistische Gesellschaftskonzepte vermieden werden, deren Begriffe wie „Staatsvolk“ oder „Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen“ „als Modelle für die Gesellschaft im ganzen ungeeignet“ sind. „Der juristische Begriff der Rechtsordnung als einer Assoziation von Rechtsgenossen, an dem die philosophischen Diskurse bis heute festhalten, ist zu konkretistisch für die Gesellschaftstheorie.“ (107) Philosophen, die in ihren Diskursen daran festhalten, können jedoch Habermas entgegnen, dass sie keine Gesellschaftstheorie suchen. Kapitel III schließt mit einem Lob auf die sich an die Umgangssprache anschließende Sprache des Rechts, das wohl Habermas’ Unterscheidung von Recht und Moral bekräftigen soll: „anders als die auf die Sphäre der Lebenswelt beschränkte moralische Kommunikation“ kann die Sprache des Rechts „als Transformator im gesellschaftlichen Kommunikationskreislauf zwischen System und Lebenswelt fungieren“ (108). Dabei macht Habermas eine Voraussetzung, die er nicht begründet, nicht einmal bemerkt: dass die moralische Kommunikation auf die Sphäre der Lebenswelt beschränkt sei. Ist diese Beschränkung tatsächlich notwendig?

Literatur Goldmann, M. 2014: Dogmatik als rationale Rekonstruktion: Versuch einer Metatheorie am Beispiel völkerrechtlicher Prinzipien, in: Der Staat 53, No. 3, 373–399. Höffe, O. 1990: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt zur Moderne, Frankfurt/Main (31995). Höffe, O. 1993: Eine Konversion der kritischen Theorie? Zu Habermas’ Rechts- und Staatstheorie, in: Rechtshistorisches Journal 12, 70–88. Höffe, O. 2001: „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt/Main. Jellinek, G. 1914: Allgemeine Staatslehre3, Berlin. Mommsen, T. 1899: Römisches Strafrecht, Leipzig. Patberg, M. 2014: Supranational Constitutional Politics and the Method of Rational Reconstruction, in: Philosophy Social Criticism 40, 501–521. Rawls, J. 1971: A Theory of Justice, Cambridge, Mass.

Klaus Günther

III Zur Rekonstruktion des Rechts (1): Das System der Rechte Das III. Kapitel von Faktizität und Geltung besitzt sowohl eine Scharnierfunktion als auch eine Schlüsselstellung innerhalb des gesamten Argumentationsgangs. Es leitet von den einführenden und der theoretischen Abgrenzung dienenden beiden ersten Kapiteln über zur Entfaltung einer der zentralen Thesen, dass nur eine Rekonstruktion des modernen Rechts angemessen sei, in der die Gleichursprünglichkeit privater und politischer Autonomie zur Geltung gebracht werde. Damit trägt es die Hauptlast der Argumentation für eine Diskurstheorie des Rechts, die dann mit der Rekonstruktion der Prinzipien des Rechtsstaates fortgeführt wird. Methodisch handelt es sich um eine rationale Rekonstruktion des Selbstverständnisses des modernen Rechts. Dies festzuhalten ist wichtig, um Erwartungen zu relativieren, die sich aus den vorangegangenen Studien von Habermas zur Diskursethik, zur Entwicklung des moralischen Bewusstseins oder zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts nähren mögen. Kapitel III bietet keine diskursethische oder moralische Begründung des Rechts. Es geht auch nicht um eine Analyse des Rechtsbegriffs oder um eine philosophische Begründung des Rechts aus Prinzipien der Gerechtigkeit oder um eine Rechtfertigung des Rechts durch eine universalistische Moral. Noch geht es um eine Rekonstruktion des Rechts aus der Evolution des moralischen Bewusstseins oder um eine bloße Nachzeichnung der historisch kontingenten Genese des modernen Rechts.

III.1 Als modernes Recht ist es durch spezifische Merkmale gekennzeichnet, die es von anderen historischen Formationen des Rechts unterscheiden, und dies nicht nur für einen historisch vergleichenden Beobachter, sondern auch schon im Selbstverständnis derjenigen, die ihr Zusammenleben in der Form des modernen Rechts regeln. Vor allem zeichnet sich das moderne Recht durch die hervorgehobene Position subjektiver Rechte aus, die ihrem Inhaber die negative Freiheit verleihen, seine individuellen Interessen zu verfolgen und Eingriffe Dritter abzuwehren. Die Form des subjektiven Rechts bestimmt nicht nur die Privatautonomie, paradigmatisch das Eigentumsrecht, sondern auch subjektiv-öffentliche Rechte, paradigmatisch die Grundrechte, sowie die Menschenrechte. Trotz ihrer individualisierenden, vereinzelnden Natur besitzen die subjektiven Rechte zugleich eine

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intersubjektive und soziale Dimension. Sie sind funktional für eine moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft, deren Ökonomie marktförmig und dezentral organisiert ist. Aber auch in normativer Hinsicht treten subjektive Rechte in der Moderne stets als allgemeine und gleiche Rechte auf, die alle Personen sich gegenseitig einräumen und anerkennen. Die negative Freiheit ist nur als eine gleiche und wechselseitig anerkannte möglich. Um als subjektive Rechte zu gelten, genügt freilich ihre wechselseitige Anerkennung nicht; sie bedürfen zudem der rechtlichen Positivierung in der Form des objektiven Rechts. Zum Selbstverständnis des modernen objektiven Rechts gehört in dieser Hinsicht zweierlei: dass die Rechtssetzung ein Akt gesetzgebender Souveränität ist und dass die souveräne Autorität der Legitimation bedarf. Die Autorisierung des gesetzgebenden Souveräns und die Frage ihrer Legitimität werden spätestens seit Bodin kontrovers diskutiert. Später formulieren Rousseau und Kant prägnant das Prinzip der Volkssouveränität, das sich historisch in den Revolutionen Englands, der Vereinigten Staaten und Frankreichs schrittweise und konflikthaft etabliert hat. Souveräne Gesetzgebung ist nur legitim in der Form politischer Autonomie, wenn also die Adressaten des objektiven Rechts zugleich dessen Autoren sind. Als Autoren müssen die Rechtspersonen in der Weise konfiguriert werden, dass sie als vernünftige, in ihren Handlungen und Äußerungen an kritisierbaren Geltungsansprüchen sich orientierende Akteure gelten können, und nicht nur als eigeninteressiert-rational. Die beiden spezifischen Merkmale der historischen Formation des modernen Rechts, das Prinzip subjektiver (Menschen-)Rechte und das Prinzip der Volkssouveränität, „bestimmen das Selbstverständnis demokratischer Rechtsstaaten bis heute“ (124). Beide Prinzipien können freilich in ein Spannungsverhältnis geraten, das immer wieder aufzulösen versucht wird, mit unterschiedlichen, oftmals konträren Ergebnissen. Viele Lösungsversuche leiden darunter, dass sie einem der beiden Prinzipien jeweils den Vorrang vor dem anderen einräumen, heute zumeist den Grund- und Menschenrechten vor der demokratischen Selbstbestimmung. Der Grund für diese Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass dieses Spannungsverhältnis auf einer latenten Paradoxie beruht. Der individualisierende, Willkür­ freiheit des Einzelnen ermöglichende Bedeutungsaspekt des subjektiven Rechts steht im Gegensatz zur Idee einer gemeinsamen demokratischen Selbstbestimmung. Umgekehrt lässt sich aber auch das Prinzip der Volkssouveränität so verabsolutieren, dass subjektive Rechte, namentlich Grund- und Menschenrechte, wenn überhaupt, dann nur zu Reflexrechten der Volkssouveränität degenerieren, also den Einzelnen nicht mit einem Recht sui generis ausstatten, das er im Konfliktfall gegen den demokratischen Mehrheitswillen zur Geltung bringen könnte. Habermas’ Anspruch ist es dagegen, dieses Spannungsverhältnis so aufzulösen, dass „beide Momente unverkürzt zur Geltung kommen“ können (118). Dann droht



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aber das individualistische, instrumentelle Verständnis subjektiver Rechte direkt mit dem Prinzip einer demokratischen, allgemeinen und gleichen Gesetzgebung zu kollidieren. Politische Partizipation an der Gesetzgebung müsste selbst als subjektives Recht ausgestaltet werden, das aber von seinen Inhabern auch in der Weise gebraucht werden kann, dass sie dieses Recht entweder gar nicht wahrnehmen oder nur instrumentell und erfolgsorientiert für ihre partikularen Interessen. In dieser Kollision liegt das Paradox der Entstehung von Legitimität aus Legalität (110): Wie kann die Allgemeinheit und Gleichheit sowie die Intersubjektivität der Verfassungsgebung ebenso wie der Gesetzgebung ermöglicht werden, wenn die Rechte der Staatsbürger schon kraft ihrer Rechtsform selbst nur als subjektive Rechte, also als Rechte auf Willkürfreiheit, auftreten. Kurz: Wie kann öffentliche, politische Autonomie in der Form subjektiver Rechte institutionalisiert werden?

III.2 Es gibt zumindest zwei historische Kontexte, aus denen das moderne subjektive Recht hervorgeht: zum einen aus der Erfahrung religiöser Kriege und Bürgerkriege im 16. und 17. Jahrhundert als Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, auf die individuelle Entscheidung für oder gegen ein Glaubensbekenntnis; zum anderen aus den sich über einen langen Zeitraum und gegen viele Hindernisse sich entwickelnden kapitalistischen Marktgesellschaften. Als paradigmatisch gilt hier das Eigentumsrecht. Es gibt dem Inhaber die Befugnis, mit seiner Sache nach Belieben zu verfahren und Dritte von der Einwirkung auf die Sache auszuschließen. Paradigmatisch ist das Eigentumsrecht aber auch deshalb, weil es am deutlichsten erkennen lässt, was mit Privatautonomie gemeint ist. Der Eigentümer darf nach Belieben mit seiner Sache verfahren, das heißt unter anderem auch, dass er sich dabei in einer Sphäre bewegt, in welcher er seine eigenen Zwecke setzen, seinen eigenen Willen bilden und verwirklichen kann, ohne Dritten gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet zu sein. Es handelt sich um die Sphäre der individuellen Willkürfreiheit. Gerade am Eigentumsrecht wird jedoch auch deutlich, dass und wie subjektive Rechte funktional für moderne Wirtschaftsgesellschaften sind (110). Nicht nur, dass sie die Entscheidung über die Verwendung einer Sache in das Belieben oder die Willkürfreiheit des Einzelnen stellen und damit zugleich individualisieren und dezentralisieren. Zumindest nach dem vorherrschenden liberalen Selbstverständnis der Protagonisten moderner Marktgesellschaften wird erst damit auch eine optimale Verwendung der Sache möglich. Diese Sicht offenbart freilich zugleich auch die gesellschaftliche und ökonomische Funktion der dezentralisierenden Verteilung subjektiver Rechte. Subjektive Rechte wie das Eigentumsrecht

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oder die Vertragsfreiheit haben in der Marktgesellschaft die Funktion, Individuen in das Wirtschaftssystem zu inkludieren, d. h. sie zur Teilnahme an den marktförmig organisierten wirtschaftlichen Austauschprozessen zu aktivieren. Durch die überwiegend anzutreffende Charakterisierung als negatives Abwehrrecht wird die Tatsache verdeckt, dass für moderne Marktgesellschaften nichts schädlicher ist als ein toter, jeder Verwendung entzogener Besitz. Die Dezentralisierung und Individualisierung der Entscheidung soll gerade zur effizienten, nutzenmaximierenden Verwendung der Sache führen, z. B. als Sicherheit für einen Kredit, mit dem sich ein Unternehmen gründen oder in ein Unternehmen investieren lässt. Dezentralisierung und Individualisierung haben zur Folge, dass das subjektive Recht sich aus Sozialbeziehungen der Reziprozität ausdifferenziert, in denen es kein Recht ohne Pflichten gibt, wie dies paradigmatisch in den mittelalterlichen Lehensbeziehungen der Fall war (Besitzrecht an Grund und Boden gegen Loyalität und Waffendienst für den Lehensgeber). Das moderne subjektive Recht verleiht seinem Inhaber einen Anspruch gegen Andere, der nicht durch eine gleichzeitige Verpflichtung diesen Anderen gegenüber bedingt ist. B hat gegenüber dem Inhaber A eines solchen claim-right (Hohfeld) nur die komplementäre Pflicht, etwas zu tun oder zu unterlassen (z. B. Eingriffe in das Eigentum des A), ohne dass B ihrerseits ein Recht gegenüber A hätte. Der Übergang von der Reziprozität zur Komplementarität von Rechten und Pflichten führt unter anderem auch dazu, dass das Recht sich aus seiner traditionellen Verschränkung mit anderen normativen Ordnungen löst, weil in ihm Rechte Vorrang vor Pflichten haben. Das subjektive Eigentumsrecht wird rechtlich gegenüber jedem Dritten anerkannt, auch wenn der Inhaber dieses Rechts vielleicht noch einer Religionsgemeinschaft angehört, die den Besitz einer Sache nur unter der Bedingung als gerechtfertigt anerkennt, dass der Eigentümer seiner primären Pflicht zur Hilfeleistung für Bedürftige nachkommt. Schließlich kommt mit dem so verstandenen subjektiven Recht auch das Konzept einer individuellen Handlungsmacht (agency) in die Welt – die Vorstellung, sui juris, Herr seiner selbst zu sein, und durch den eigenen Willen die sozialen Verhältnisse des eigenen Lebens zu gestalten, indem man zurechenbare Rechtsfolgen auslöst. Dass normative Ordnungen überhaupt, namentlich Rechtsverhältnisse, insbesondere rechtliche Verpflichtungen, durch den Willen eines Einzelnen geschaffen, geändert und beendet werden können, dass diese Rechtsgestaltungen ausschließlich und allein ihren rechtfertigenden Grund in der Autorität einer Rechtsperson haben – dieser Schritt ist der eigentlich revolutionäre. Damit geraten alle Verpflichtungen, die Einzelne in ihren sozialen Verhältnissen eingehen oder in denen sie sich vorfinden, für den Fall unter den Vorbehalt einer autonomen Willenserklärung, dass aus diesen Verpflichtungen Rechtsfolgen begründet werden sollen.



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Die individualisierende, vereinzelnde Bedeutung subjektiver Rechte, zumal in Gestalt der Menschenrechte, ist historisch und aktuell immer wieder kritisiert worden. Die individuellen Freiheitsspielräume seien nur funktionale Zuweisungen eines ökonomischen Systems, das wettbewerbsförmig und kapitalistisch organisiert wird und dem Einzelnen faktisch als Zwang gegenübertritt. Aus der Beobachterperspektive erscheint das moderne subjektive Recht als eine Funktion der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse (Marx), als Inklusion des Einzelnen in das ökonomische System (Luhmann), als eine der vielen Techniken der Bio-Macht, mit der Menschen zu rechtlich verantwortlichen und haftbaren Personen subjektiviert werden. Unübersehbar ist der Widerspruch zwischen der rechtlich behaupteten normativen Gleichheit aller Individuen als (Eigentümer-) Rechtssubjekte und einer sozialen und ökomischen Realität, in der die ungleiche Verteilung von Gütern und Lebenschancen dieses Recht für viele bedeutungslos werden lässt. Gleichwohl tritt das moderne subjektive Recht nicht nur als faktisches Privileg einer Klasse oder Elite auf, sondern mit dem Anspruch, allgemeines und gleiches Recht für gleiche Rechtssubjekte zu sein. Die Konfrontation zwischen Anspruch und Wirklichkeit initiiert Prozesse der Kritik, die zu Veränderungen sowohl der sozialen Verhältnisse als auch des Rechts führen. So soll eine für alle vorteilhafte und gerechte, arbeitsteilige und kooperative Struktur, ein System der Zusammenarbeit ermöglicht werden (117). In dieser Form können diese Prozesse allerdings erst dann auftreten, wenn das Recht sich in der oben beschriebenen Weise von anderen normativen Ordnungen entkoppelt hat. Sie setzen die wechselseitige Anerkennung als Rechtspersonen voraus, die Inhaber eines subjektiven Rechts sind, unabhängig davon, zu welchen Gemeinschaften mit welchen normativen Ordnungen sie außerdem noch gehören. Die wechselseitige Anerkennung als Rechtsperson verlangt insofern eine hohe Abstraktionsleistung, dies vor allem dann, wenn es um Menschenrechte geht. Die Dezentralisierung, Individualisierung und Subjektivierung, die mit den subjektiven Rechten einhergeht, erlaubt nicht nur die eigeninteressiert-rationale Zwecksetzung und Erfolgsorientierung der Inhaber dieser Rechte, sondern auch den Verzicht auf deren Ausübung und Gebrauch. Gleichwohl bedarf auch der passive Rückzug, wenn er sich in die Form eines Rechts kleidet, der intersubjektiven Anerkennung durch andere Rechtspersonen. Auch der höchste Grad der Vereinzelung ist als Recht nur innerhalb einer Rechtsgemeinschaft möglich. Subjektive Rechte sind also intrinsisch auf ein objektives Recht angewiesen, das ihren intersubjektiven Gehalt explizit macht und in der Form des Rechts zur Geltung bringt. Diese Form ist das allgemeine, abstrakte und gleiche Gesetz. Auch als Grund- und Menschenrechte bedürfen die subjektiven Rechte dieser Form, sei es als Vertrag, als Konvention oder als Verfassung. Der intersubjektive Gehalt moder-

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ner subjektiver Rechte lässt sich also sowohl funktional aus der Struktur und Dynamik moderner Gesellschaften erklären als auch normativ rechtfertigen. Subjektive Rechte und objektives Recht gehören daher zusammen. Allerdings liegt nicht von vornherein fest, wie der intersubjektive Gehalt subjektiver Rechte in der Form des objektiven Rechts ausbuchstabiert werden kann. Dabei gehört es aber schon zur Idee des subjektiven Rechts als einer Willens- und Handlungsmacht zu selbstbestimmter Freiheit, dass nur eine solche Gesetzgebung legitim sein kann, in der diese subjektive Freiheit ihrerseits wiederum zur Geltung kommen kann. Wenn ich als Inhaber subjektiver Rechte Autor meiner Rechtsverhältnisse bin, muss ich auch bei der Gestaltung des objektiven Rechts, das subjektive Rechte gewährt, Mit-Autor der Gesetzgebung sein können.

III.3 In der Reflexion auf das Selbstverständnis des modernen Rechts sind dazu verschiedene Modelle entwickelt worden, von denen Habermas paradigmatisch die naturrechtlichen Theorien des Gesellschaftsvertrages, den Rechtspositivismus, Rousseaus Theorie der Volkssouveränität sowie Kants Theorie des Vernunftrechts diskutiert. Ihr jeweiliges Defizit besteht stets darin, dass in ihnen die beiden zentralen Momente des Selbstverständnisses, die Privatautonomie und die politische Autonomie (Volkssouveränität), nicht unverkürzt zur Geltung kommen. Wie lässt sich also „die intersubjektive Struktur von Rechten und die kommunikative Struktur der Selbstgesetzgebung ernstnehmen und angemessen explizieren“? (135). In einer Reihe von Lösungsvorschlägen spielt die moderne, kognitivistische und universalistische Moral oftmals eine zentrale Rolle. Wird politische Autonomie nach dem Modell einer selbstbestimmten, allgemeinen Gesetzgebung für alle Menschen konfiguriert, liegt es nahe, das Recht als Einschränkung der Moral durch faktisch wirksame Institutionen einer partikularen Rechtsgemeinschaft zu verstehen, dessen Legitimität jedoch strikt an eine moralische Rechtfertigung gebunden bleibt. Gegen dieses Modell eines hierarchischen Verhältnisses von Moral und Recht führt Habermas das sozialgeschichtliche Faktum an, dass sich in modernen Gesellschaften rechtliche und moralische Regeln gleichzeitig ausdifferenziert haben (137). Es ist daher angemessener, von einer Komplementarität zwischen Recht und Moral, statt einer Über- und Unterordnung zu sprechen. Dieses Ergänzungsverhältnis hat selbst wiederum einen sozialgeschichtlichen Hintergrund, der das Selbstverständnis des modernen Rechts mitbestimmt. Das moderne Recht gewinnt seine spezifische Form als Folge der Modernisierung, der Ausdifferenzierung einer traditionalen, holistischen, integrativen Sittlichkeit. Es löst sich damit aus dem integrierenden Zusammenhang mit den norma-



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tiven Ordnungen der Religion, der Moral, der Ethik der Lebensführung und der ethisch-politischen Identität einer Gemeinschaft. In dem Maße, wie sich diese Ordnungen, insbesondere die Ethik der Lebensführung, die Normen des ethischpolitischen Selbstverständnisses einer Gemeinschaft und die Moral ihrerseits ausdifferenzieren, übernimmt das Recht seinerseits eine soziale Integrationsfunktion. Es tritt insbesondere in ein funktionales Ergänzungsverhältnis zu einer universalistischen und kognitivistischen Moral. Von den ethisch-existentiellen, ethisch-politischen und moralischen Normen unterscheidet sich die Rechtsform vor allem dadurch, dass sie nicht aus naturwüchsigen Interaktionsprozessen hervorgeht. Sie ist nicht wie die Moral auf eine motivationale Verankerung bei den Adressaten, auf deren rationale Einsicht angewiesen, sondern kann mit Zwang durchgesetzt werden. Die moderne Rechtsform bildet zudem einen speziellen Typus von Normen heraus, über den andere normative Ordnungen zumindest nicht von Haus aus verfügen. Mit Ermächtigungsnormen (H.  L.  A. Harts sekundären Regeln) lassen sich Kompetenzen erzeugen und Organisationen mit entsprechenden Zurechnungen künstlich herstellen. Rechtsnormen bilden insofern „eine intentional erzeugte und reflexive, nämlich auf sich selbst anwendbare Schicht von Handlungsnormen“ (142). Diese Normen regeln unter anderem, wie sich Normen in und außer Kraft setzen, ändern, anwenden und durchsetzen lassen. Mit diesen Eigenschaften tritt die moderne Rechtsform in ein funktionales Komplementärverhältnis zu einer kognitivistischen und universalistischen Moral. Während diese an lebensgeschichtlich individuierte Personen adressiert ist, die zugleich moralische Subjekte sind, gilt das Recht innerhalb einer künstlich erzeugten Gemeinschaft mit abstrakten Rechtspersonen, von denen nur zweckrationale Willensbildung erwartet wird, nicht moralische Selbstbindung (144). Die Etablierung eines Systems sekundärer Regeln verringert das Problem der kognitiven Unbestimmtheit moralischer Normen angesichts konkreter regelungsbedürftiger Materien. Das Recht kann moralische Erkenntnis und Einsicht nicht substituieren, aber durch eine legitime autoritative Regelung epistemische Defizite unter den moralischen Subjekten kompensieren – die kognitive Unbestimmtheit wird durch die Faktizität der Rechtssetzung absorbiert, was zumal bei komplexen gesellschaftlichen Problemen „für den einzelnen eine Entlastung von den kognitiven Bürden der eigenen moralischen Urteilsbildung“ bedeutet (147). Die Verknüpfung des Rechts mit dem Zwang, der eine freiwillige Rechtsbefolgung nicht ausschließt, ermöglicht den Transfer vom Wissen zum Handeln. Dafür zahlt es den Preis, dass es auf rational motivierte Selbstbindung nicht zurückgreifen kann, sondern Willkürfreiheit zulassen muss, indem es nur das äußere Verhalten durch positive oder negative Anreize regelt. Schließlich ermöglicht die Rechtsform die Errichtung von Institutionen und Organisationen zur Bewältigung kom-

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plexer sozialer Koordinationsprobleme für die Erfüllung legitimer Ziele, vor allem auch moralisch gebotener Ziele. Während die moderne Moral vor allem als eine Form kulturellen Wissens, als ein Symbolsystem auftritt, ist das Recht vermöge seiner Faktizität auch ein Handlungssystem. Dass der institutionelle Aspekt einer normativen Ordnung einen Eigenwert besitzt, kommt erst im modernen Recht adäquat zum Ausdruck (dazu Lieber 2007). Es handelt sich also, wie schon bei der Figur des subjektiven Rechts, um eine funktionale Erklärung der modernen Rechtsform aus ihrem Verhältnis zu den normativen Ordnungen der Moral und der Ethik. Auch die Rechtsform ist Faktizität, nicht Geltung: „Denn die Rechtsform ist überhaupt kein Prinzip, das sich, sei es epistemisch oder normativ ‚begründen‘ ließe.“(143) Sie ist historisch gegeben und als solche kontingent – aber zugleich zutiefst in die Strukturen der modernen Gesellschaft eingelassen. Aus dem Ergänzungsverhältnis zur Moral folgt aber immerhin, dass das Recht der Moral nicht widersprechen darf.

III.4 Wenn Recht und Moral sich komplementär zueinander verhalten, kann sich die juridische nicht an der moralischen Gesetzgebung orientieren. Moralische und staatsbürgerliche Autonomie sind dann gleichursprünglich. Daher schlägt Habermas einen anderen Weg ein, um den intersubjektiven Bedeutungsgehalt subjektiver Rechte auf der Ebene der Gesetzgebung des objektiven Rechts auszubuchstabieren. Er betritt eine Abstraktionsstufe oberhalb von Moral und Recht, auf der es um kommunikatives Handeln überhaupt geht. Kommunikatives Handeln ist im Fall von Dissensen, Konflikten und anderen Störungen der kommunikativen Beziehungen zwischen den Teilnehmern darauf angewiesen, problematisierte Geltungsansprüche in der Form von Diskursen zu klären, wenn diese Störungen sich nicht auf andere Weise beseitigen lassen und dies im Interesse der Teilnehmer liegt. Rationaler Diskurs soll „jeder Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprüche heißen, sofern er unter Kommunikationsbedingungen stattfindet, die innerhalb eines durch illokutionäre Verpflichtungen konstituierten öffentlichen Raums das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, Informationen und Gründen ermöglichen“ (139). Dies gilt für moralische ebenso wie für juridische Diskurse, wenn der Verbindlichkeitsanspruch einer Handlungsnorm unter den Beteiligten strittig ist. Diskurse werden unter einem Diskursprinzip D geführt, nach dem gültig genau die Handlungsnormen sind, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten (138). Dieses Prinzip D muss nun sowohl für moralische als auch für rechtliche Handlungsnormen so spezifiziert werden, dass es den



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jeweiligen Eigenarten dieser Normen gerecht wird. Moralische Handlungsnormen müssen „allein unter dem Gesichtspunkt gleichmäßiger Interessenberücksichtigung gerechtfertigt werden können“ (139). Ihr Bezugspunkt ist die gesamte Menschheit. Demgegenüber gilt das Demokratieprinzip für Handlungsnormen, „die in Rechtsform auftreten“ und „mit Hilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Gründe – und nicht allein aus moralischen Gründen – gerechtfertigt werden können“ (139). Dabei ist das Diskursprinzip – im Gegensatz zum Moralprinzip – jedoch nicht direkt auf rechtliche Handlungsnormen anwendbar. Das Diskursprinzip trifft hier nämlich auf solche Handlungsnormen, die in Rechtsform auftreten und subjektive Rechte gewährleisten. Daher muss das Diskursprinzip selbst die Rechtsform annehmen – sich mit der Rechtsform verschränken. Solcherart verschränkt, verwandelt es sich in das Demokratieprinzip, demzufolge „nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtssetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können“ (141). Politische Fragen der Gesetzgebung können nun diskursiv und rechtsförmig zugleich bearbeitet werden. Die Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform generiert ein System von Rechten, das mit den bereits durch die Rechtsform vorgegebenen subjektiven Freiheitsrechten und ihren Korollar-Rechten beginnt und mit dem Recht auf gleiche politische Teilnahme an politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen der Gesetzgebung dasjenige demokratische Verfahren erzeugt, das das bis jetzt nur vorläufige System von Freiheitsrechten demokratisch legitimiert. Das damit jedem Einzelnen in der Form des subjektiven Rechts zuerkannte politische Teilnahmerecht an der politischen Gesetzgebung wird schließlich durch soziale Teilhaberechte auch faktisch handlungswirksam. Dieser Argumentationsgang erklärt letztlich „den performativen Sinn der Selbstbestimmungspraxis von Rechtsgenossen, die einander als freie und gleiche Mitglieder einer freiwillig eingegangenen Assoziation anerkennen“ (141). Ist damit das Spannungsverhältnis zwischen privater und politischer Autonomie, zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität so aufgelöst, dass beide Momente gleichwertig und unverkürzt zur Geltung kommen? Das Demokratieprinzip soll aufgrund seiner Herkunft aus dem Diskursprinzip den intersubjektiven Sinn subjektiver Rechte adäquat ausbuchstabieren, denn „erst mit Hilfe des Diskursprinzips zeigt sich, dass jedermann ein Recht auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten zusteht“ (157). Gleichzeitig soll es jene private Autonomie sichern, die wiederum „den aktiven Gebrauch der öffentlichen Autonomie erst möglich macht“ (Habermas 2013, 71). Über diese Frage gibt es eine bis heute andauernde Kontroverse, deren wichtigsten Streitpunkt Albrecht Wellmer am klarsten formuliert hat: Die moderne Rechtsform gewährt mit den subjektiven Freiheitsrechten Bedingungen, „unter denen die Individuen

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ein Recht haben, im Sinne eines kommunalen Begriffs von Rationalität nicht vollkommen rational zu sein“, also eben auch „selbstsüchtig, verrückt, exzentrisch, unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, monomanisch etc. zu handeln“ (Wellmer 1993, 39; dazu auch Engländer 2008; Günther 2008). Als Recht auf negative Freiheit bedeutet es auch, nicht am demokratischen Rechtssetzungsdiskurs teilzunehmen, sich im wörtlichen Sinne privat zu verhalten und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. „Die private Autonomie reicht so weit, wie das Rechtssubjekt nicht Rede und Antwort stehen, für seine Handlungspläne keine öffentlich akzeptablen Gründe angeben muss. Subjektive Handlungsfreiheiten berechtigen zum Ausstieg aus dem kommunikativen Handeln und zur Verweigerung illokutionärer Verpflichtungen; sie begründen eine Privatheit, die von der Bürde der gegenseitig zugestandenen und zugemuteten kommunikativen Freiheit befreit.“ (153) Allerdings gehört das implizierte Recht zum Ausstieg aus kommunikativen Verpflichtungen selbst zu den konstitutiven Bedingungen dieser Verpflichtungen. Nur wer sich dem Diskurs insgesamt gegenüber verweigern, wer sich entscheiden kann, den Raum der Gründe nicht zu betreten, sich einzelnen Gründen gegenüber verschließen kann, kann sich Gründe auch zu eigen machen. Um überhaupt wirksam werden zu können, sind Gründe aber auf diesen individuellen Prozess des Sich-zu-eigen-Machens angewiesen. Wenn dieser Prozess etwas anderes sein soll als Überredung, Täuschung, Manipulation, Nötigung oder Zwang, dann liegt an seinem Grund ein Moment uneinholbarer individueller Freiheit. Die Entscheidung, an einem Diskurs teilzunehmen und sich Gründe zu eigen zu machen, wäre nicht frei, wenn sie nicht auch die Freiheit einschlösse, nicht am Diskurs teilzunehmen oder sich einen (guten, rationalen) Grund nicht zu eigen zu machen. Ohne Willkürfreiheit und damit das Recht, sich kommunikativen Verpflichtungen zu entziehen, ließen sich Äußerungen und Handlungen einer Person auch nicht als ihre jeweils eigenen kommunikativ zurechnen. Wiederum ist es die subjektive Freiheit, auf die sich die Autorität des Einzelnen gründet, mit eigener Stimme zu sprechen. In dieser Hinsicht ist der Einzelne unvertretbar. Äußerungen und Handlungen gelten daher kommunikativ nicht als bloße Wirkungen von Naturgesetzen oder als Artikulation fremder Stimmen, für die der Sprecher und Aktor nichts kann. Kommunikative Freiheit setzt die kommunikative Autorität des Einzelnen voraus. Auch wenn die Ermächtigung, mit eigener Stimme zu sprechen, wenn kommunikative Autorität selbst eine Zuschreibung innerhalb von Verständigungsprozessen ist, impliziert sie gleichzeitig die Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen. In der so begründeten Zurechenbarkeit gründen auch alle weiteren kommunikativen (illokutionären) Verpflichtungen und (inferentiellen) Festlegungen, die eine Sprecherin mit ihren Äußerungen eingeht und an denen sie von den Hörerinnen festgehalten werden kann. Schließlich liegt in der durch



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subjektive Freiheit bedingten kommunikativen Autorität nicht nur die normative Ermächtigung, dass Handlungen und Äußerungen als je eigene der Person gelten können, sondern auch eine motivationale Ermächtigung zur eigenen Stimme. Die eingangs beschriebene revolutionäre Wende in der Bedeutung des subjektiven Rechts als eines aktivierenden Rechts findet letztlich hier ihre Grundlage. Die aktive Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse qua Rechtsverhältnisse wäre undenkbar ohne die individuelle Zurechenbarkeit von kommunikativen Äußerungen eines Akteurs zum je eigenen Willen dieser Person. Paradigmatisch deutlich wird dies in der Klagebefugnis. Dieses Könnensbewusstsein bestimmt auch den aktiven Gebrauch kommunikativer Freiheiten. Die Praxis politischer Autonomie ist gebunden nicht nur an individuell zurechenbare Äußerungen und Handlungen, für die der Einzelne einsteht und verantwortlich gemacht werden kann, sondern auch an die aktive Verantwortungsübernahme. Insoweit macht die Sicherung der privaten Autonomie auch „den aktiven Gebrauch der öffentlichen Autonomie erst möglich“ (Habermas 2013, 71, Herv. K. G.). Dies steht nicht schon von vornherein im Widerspruch zu den Verpflichtungen kommunikativer Rationalität. Nicht jede Äußerung, nicht jede Handlung steht immer und überall unter diesen Verpflichtungen. Es ist ein geläufiges Missverständnis der Theorie des kommunikativen Handelns, dass kommunikative Verpflichtungen die Offenlegung aller Handlungspläne fordern und zur diskursiven Verständigung darüber verpflichten würden. Diskurse sind nur für den Fall erforderlich, dass es Konflikte, Dissense, Störungen in den sozialen Sequenzen kommunikativen Handelns gibt, dass diese Störungen von den Betroffenen als relevant für die Fortsetzung der Kommunikation eingeschätzt werden und dass es für die Betroffenen selbst darauf ankommt, diese Störungen im Wege wechselseitiger Einsicht und rationaler Motivation zu beheben (vgl. dazu Lafont 2009, 180; Günther 2009, 304). Auch das demokratische Rechtssetzungsverfahren mit seinen deliberativen Prozessen öffentlicher Meinungs- und Willensbildung hat seine raison d’être nicht darin, alle Staatsbürger für einen alle Lebensäußerungen umfassenden, endlosen Diskurs zu aktivieren, gleichsam der Dynamik einer permanenten Revolution in diskursiver Gestalt zu unterwerfen. Demokratie reagiert auf gesellschaftliche Interessenkonflikte, deren politische Deliberation sowie rechtsförmige, gewaltfreie Regelung im gleichmäßigen Interesse aller liegt. Das schließt auch die Entscheidung darüber ein, ob und wann ein Konflikt regelungsbedürftig ist. Nicht einmal der hartgesottenste Liberale bestreitet, dass die Freiheit des Einen zu irrationalem Verhalten dort aufhört, wo die gleiche Freiheit des Anderen beginnt. Dies gilt auch für eigeninteressiertes, erfolgsorientiertes, strategisches Handeln. Nicht umsonst haben sich in einigen Bereichen systemische Kommunikationsmedien zur effizienten Koordination eigeninteressierten Verhaltens herausgebildet. Dazu zählt auch ein System von negativen und

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positiven Anreizen, die auf ein Gewaltmonopol gestützte Drohung mit Zwang, weshalb Kant das Problem des Staates auch für ein Volk von (eigeninteressierten) Teufeln für lösbar hielt. Das gilt für alle Bereiche, in denen eigeninteressiertes Handeln effizient koordiniert werden kann und muss. Auch das muss nicht diskursiv geschehen, wie auf Märkten, auf denen Geld als Kommunikationsmedium funktioniert und die individuelle Präferenzbildung über Preisbildungsmechanismen sogar unter bestimmten Bedingungen eine optimale Güterallokation bewirkt. Auch hier wirken subjektive Rechte funktional; sie ordnen Positionen zu, paradigmatisch wiederum die Eigentumsrechte. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass subjektive Rechte im Sinne des Rechts zur strategischen und erfolgsorientierten Interessenverfolgung an komplexe gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden sind, die sowohl institutionell, normativ als auch sozial sowie materiell gegeben und gewährleistet sein müssen. Dazu gehören auch die Regeln des objektiven Rechts. Während die am Diskursprinzip orientierte und rechtsförmig institutionalisierte demokratische Meinungs- und Willensbildung den Teilnehmern zwar ihre Willkürfreiheit lässt und damit auch die Freiheit, nicht teilzunehmen, spricht sie diese gleichwohl nicht primär in dieser Rolle an. Primär wendet sich das Recht an autonome, an Gründen sich orientierende Personen, unter anderem auch deshalb, weil es ihnen die Befolgung der Normen stets freistellt, die Zwangsdrohung keine Konditionierung oder Willkür ist. Spätestens dann, wenn das so angesprochene Subjekt das Recht kritisiert, wechselt es in die Rolle desjenigen, der sich an Gründen orientiert und erwartet, dass das Recht seinerseits durch Gründe gerechtfertigt wird.

III.5 Habermas setzt gleich zu Beginn des III. Kapitels eine aufschlussreiche Prämisse, die bisher nur wenig beachtet worden ist: „Dabei gehe ich von den Rechten aus, die Bürger einander zuerkennen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen.“ (109, Herv. K. G.) Der freiwillige Entschluss zu einer Assoziation von Rechtsgenossen, die sich wechselseitig subjektive Rechte zuerkennen und den performativen Sinn dieses Entschlusses mit Hilfe des Demokratieprinzips ausbuchstabieren, ist nur möglich, weil die Rechtsform selbst einen artifiziellen und instrumentellen Charakter hat. Erst aufgrund ihres artifiziellen Charakters wird es möglich, die Assoziation von freien und gleichen Rechtsgenossen als den Sinn und das Ergebnis eines Entschlusses zu verstehen und damit die Assoziation selbst als eine künstliche, intentional und instrumentell erzeugte Rechtsgemeinschaft. Es handelt sich dabei um die „Selbstautorisie-



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rung von Staatsbürgern, die kollektiv auf ihre gesellschaftlichen Existenzbedingungen Einfluss nehmen“ (Habermas 2013, 71). Dies macht den besonderen Sinn des Rechts der Moderne aus: Es besteht in einer künstlich erzeugten, aus einem Entschluss hervorgegangenen Gemeinschaft und für eine solche. Diese Formulierung lässt bereits erkennen, dass moderne Rechtsordnungen von ihren Subjekten nicht als etwas Naturwüchsiges verstanden werden, sondern als eine von ihnen selbst herzustellende Ordnung. Zwar finden sie die Rechte, die sie einander zuerkennen, kontingenterweise vor, aber der Prozess ihrer Institutionalisierung und Ausgestaltung ergibt sich nicht von selbst, sondern muss intentional durch einen Entschluss in Gang gesetzt und durch weitere intentionale Handlungen fortgeführt werden. Habermas selbst akzentuiert den artifiziellen Charakter der Rechtsform insbesondere dort, wo er das moderne Recht als Folge der Modernisierung, der Ausdifferenzierung einer traditionalen, holistischen, integrativen Sittlichkeit beschreibt. Als ein Typus von artifiziellen, intentional erzeugten Normen ist das Recht auch auf einen spezifischen Erzeugungsmechanismus angewiesen – daher „muß das Demokratieprinzip die „Erzeugung des Rechtsmediums selber steuern“ (142f.). Mit dem System der Rechte muss „zugleich die Sprache geschaffen werden, in der sich eine Gemeinschaft als eine freiwillige Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen verstehen kann“ (143). Dieser artifizielle und konventionelle Charakter des modernen Rechts, soll im Folgenden eingehender erläutert werden. Habermas führt die moderne Rechtsform als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses ein. Aus religiös und sittlich integrierten, kosmologisch fundierten nor­ma­tiven Ordnungen werden in langfristigen Prozessen der Säkularisierung, Differenzierung und Modernisierung solche, die aus komplexen Wechselbeziehungen moralischer, sittlicher, ethisch-existentieller und ethisch-politischer, religiöser, rechtlicher und anderer Normen bestehen. Diese sind weniger in ihren normativen Gehalten, als vielmehr in ihrer jeweiligen Geltungsbegründung weitgehend unabhängig voneinander. Der Rechtspositivismus hat diese spezifische Rolle am klarsten, wenn auch in einseitiger Weise expliziert. Diese Theorie akzentuiert am stärksten den expli­ zit artifiziellen und konventionellen Charakter des Rechts, weil sie auf der Tren­ nung der Rechtsgeltung von der Moral insistiert (149; vgl. insbesondere Marmor 2002). „The most fundamental of positivism’s core commitments is the Social Fact Thesis, which asserts that law is, in essence, a social creation or artefact.“ (Himma 2002, 126) Rechtsordnungen verfügen im Unterschied zu anderen nor­ mativen Ordnungen außer über primäre Normen (Verhaltensgebote), wie sie in der Form einfacher Gesetze und Verordnungen bis hin zu Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen auftreten, auch über sekundäre Normen der Setzung, Ände­ rung und Anwendung primärer Normen. Dadurch nehmen die primären Normen

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einen explizit artifiziellen Charakter an, weil sie erst durch die in den sekundären Normen vorgesehenen Verfahren erzeugt werden müssen, um Geltung zu erlan­ gen. Zudem sind auch die sekundären Normen in dem Maße, wie sie ihrerseits reflexiv aufgestuft werden (z. B. in der Form von Kompetenz-Kompetenzen), arti­ fizielle Gebilde. Vor allem gilt dies jedoch für diejenige sekundäre Regel, aus der die Geltung aller anderen zu einem Rechtssystem gehörenden Regeln folgt, die Grundnorm oder Erkenntnisregel (rule of recognition). Diese entscheidet darüber, welche Normen als geltendes Recht anerkannt werden, indem Konventionen für die Setzung, Änderung, Anwendung und überhaupt für die Identifikation einer zum Recht gehörenden Norm etabliert werden. Obwohl sich die verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus darin unterscheiden, wie das Recht als eine soziale Tatsache zu interpretieren sei, insbesondere, ob die Erkenntnisregel – nicht notwendig, kontingent – die Moral einschließen kann, scheint Einigkeit darin zu bestehen, dass die Erkenntnisregel als soziales Faktum nur in einer Gewohnheit derjenigen bestehen kann, die diese Regel praktizieren, nicht als eine intentional gesetzte Regel. Wie bei Habermas lässt sich das Recht – die Rechtsform – als eine historisch tradierte Gewohnheit interpretieren, als ein soziales Faktum mit bestimmten Formeigenschaften, wie sie dem Selbstverständnis des modernen Rechts entsprechen. Freilich gibt es einen entscheidenden Unterschied. Während der Rechtspositivismus die Gewohnheit ausreichend sein lässt und dann nur die Frage der Inklusion oder Exklusion der Moral diskutiert, geht Habermas einen Schritt weiter. Die bisher nur als eingewöhnte soziale Praxis bestehende, rechtsförmige Regelung des Zusammenlebens wird unter den spezifischen Bedingungen der Moderne gleichsam rekonstruktiv auf einen gemeinsamen und freiwilligen Entschluss zurückgeführt. Erst dadurch verwandelt sich die rechtsförmige soziale Praxis in eine freiwillige Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen. Man mag die seltenen historischen Augenblicke revolutionärer Verfassungsgründungen, namentlich die Nacht vom 4. auf den 5. August 1789 in der Versailler Nationalversammlung, als Ereignisse in diesem Sinne deuten. Aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die Teilnehmer an einer Rechtspraxis durch einen solchen tatsächlichen oder retrospektiv nachgeholten Entschluss bewusst machen, mit der rechtsförmigen Regelung ihres Zusammenlebens nicht nur einer Gewohnheit zu folgen, sondern sich diese zu eigen zu machen und künftig die Regeln ihres Zusammenlebens intentional zu gestalten. Es bedarf dieses Entschlusses insbesondere deshalb, weil die historisch vorgefundene Rechtsform nur so das Zusammenleben von sich selbst bestimmenden Personen regeln kann, die sich in ihrem Handeln an kritisierbaren Gründen orientieren sowie Gründe geben und verlangen können. Nur so wird sie zur Rechtsform autonomer Personen. Die Rechts-



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form (mit der Figur des subjektiven Rechts) wird also historisch vorgefunden, als kontingente rechtsförmige soziale Praxis zunächst gewohnheitsförmig tradiert und mehr oder weniger bewusst befolgt, aber erst durch den gemeinsamen Entschluss wird sie als eine autonome Praxis autonomer Rechtspersonen konstituiert. Es handelt sich um einen „Akt der Selbstkonstituierung“ (668). Nicht zuletzt deshalb wird dieser Akt historisch häufig auf subjektive Rechte in der Form der Menschenrechte gestützt. Erst dadurch wird aus der Gewohnheit ein intentionaler Akt, für den die Beteiligten Verantwortung übernehmen. Erst dadurch kommt die vom Positivismus akzentuierte Eigenschaft des Rechts, ein Artefakt zu sein, in vollem Umfang zur Geltung. Diese Rekonstruktion macht auch nochmals aus einer anderen Perspektive verständlich, was mit der Verschränkung von Rechtsform und Diskursprinzip gemeint ist. Das Diskursprinzip der unparteilichen Begründung von Handlungsnormen ist selbst „in den symmetrischen Anerkennungsverhältnissen kommunikativ strukturierter Lebensformen fundiert“ (140) und expliziert ein postkonventionelles Begründungsniveau, das in solchen Lebensformen erreicht wird, in denen der Verbindlichkeitsanspruch von Normen nicht mehr selbstverständlich hingenommen, sondern von Prozeduren der öffentlichen Kritik und Rechtfertigung abhängig gemacht wird. Diejenigen, die sich zu einer Rechtsgemeinschaft zusammenschließen wollen, bringen daher das Diskursprinzip gleichsam von Haus aus mit, als kommunikativ handelnde Personen, die sich an Geltungsansprüchen orientieren. Für sie sind Handlungsnormen nur dann legitim, wenn sie das Ergebnis rationaler Diskurse sind. Treffen sie nun auf die historisch überlieferte Rechtsform, auf die Gewohnheit einer rechtsförmig (u.  a. über subjektive Rechte) geregelten Praxis sozialer Kooperation, streifen sie ihre zweite Natur als kommunikativ handelnde und damit am Diskursprinzip sich orientierende Akteure nicht einfach ab. Sie verstehen sich als Akteure, die sich an Handlungsnormen orientieren, sich diese als Gründe zu eigen machen können, aber im Falle des Konflikts oder Dissenses verlangen, dass die kontroversen Gründe einen deliberativen Prozess der öffentlichen Kritik und Argumentation durchlaufen. Erst in rationalen Diskursen überwundene Dissense lassen Handlungsnormen legitim werden, so dass die Adressaten sie sich als Gründe zu eigen machen können. Mit dem Entschluss, eine Rechtsgemeinschaft zu gründen, legen sich die Akteure zumindest implizit bereits fest, die rechtliche Regelung ihrer sozialen Kooperation und das heißt, die jeweiligen (objektiven) Rechtsnormen (und subjektiven Rechte) dem Diskursprinzip zu unterwerfen. In einem gewissen Sinne können sie gar nicht anders. Wenn sie nun jedoch das Diskursprinzip explizit machen und so institutionalisieren, dass es auch tatsächlich wirksame rechtliche Regeln des Zusammenlebens generiert, müssen sie sich dazu wiederum der Rechtsform bedienen. Rechtnormen sind für die zu einer Rechtsgemeinschaft

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Assoziierten legitim nur dann, wenn sie das Ergebnis rationaler Diskurse sind, aber rationale Diskurse sind für die Rechtspersonen einer Rechtsgemeinschaft ihrerseits nur in Rechtsform zu haben. In dem Augenblick, in dem sie der kontingenten, historisch überlieferten Rechtsform gegenübertreten und diese mit ihrem Gründungsentschluss dem Diskursprinzip unterwerfen, verwandelt sich dieses in das Demokratieprinzip, weil anders die Realisierung des Diskursprinzips innerhalb der Rechtsform nicht denkbar wäre. Das Diskursprinzip rechtsförmig zu institutionalisieren, bedeutet unter den historisch kontingenten Bedingungen des modernen Rechts nun aber auch, es (unter anderem) in der Form subjektiver Rechte zu institutionalisieren. Dabei lässt sich mit Hilfe des Diskursprinzips sogleich ein implizites Merkmal subjektiver Rechte explizit machen, das den funktionalen Erklärungen verborgen bleiben musste: Subjektive Rechte treten als gleiche Rechte eines jeden Einzelnen auf und als ein System der Rechte. Dieses System besteht aus dem Recht auf Handlungsfreiheit als überliefertes Recht auf eigeninteressiertes und erfolgsorientiertes Handeln, dem Recht auf justizförmige Durchsetzung dieses Rechts, und dann notwendigerweise aus dem Recht auf politische Teilnahme, um dadurch das Demokratieprinzip so zu institutionalisieren, dass die konkrete Ausgestaltung subjektiver Rechte in deliberativen und diskursiven Prozessen möglich wird. Insofern kann Habermas sagen: „Das System der Rechte und die Prinzipien des Rechtsstaates lassen sich aus dem Vollzugssinn der Praxis entfalten, auf die man sich mit dem ersten Akt der Selbstkonstituierung einer solchen Rechtsgemeinschaft eingelassen hat.“ (Habermas 1994, 668) Der Entschluss selbst und die Rechtsform, in welcher er vollzogen wird, sind kontingent, aber der Akt selbst lässt sich dann notwendigerweise nur so vollziehen, dass sich in ihm Rechtsform und Diskursprinzip verschränken. Auch solche Rechtsordnungen, die aus Tradition, Überlieferung und Gewohn­heit hervorgehen, rekonstruieren sich selbst zumindest retrospektiv im Zuge ihrer Modernisierung als Resultat eines hypothetischen Entschlusses, mit dem die Begründung der tradierten Normen als geltendes Recht auf einen expliziten, intentionalen Akt einer Person oder Versammlung zurückgeführt wird. Wie dieser konventionelle Charakter von den Angehörigen einer Assoziation von Rechtsgenossen jeweils interpretiert wird, hängt von variierenden historischen Bedingungen und dem kollektiven Selbstverständnis dieser Assoziation ab. Spätestens jedoch mit der Idee eines souveränen Gesetzgebers, wie sie seit Bodin in verschiedenen Varianten auftritt und schließlich von Rousseau als Volkssouveränität demokratisiert wird, liegt der konventionelle Charakter auf der Hand. Unter den säkularen und post-metaphysischen Bedingungen der Moderne lässt sich die letzte oder höchste Kompetenz-Norm der Rechtssetzung nur noch auf diejenigen zurückführen, die sich explizit oder implizit entschließen, eine künstliche normative Ordnung des Rechts zu errichten und sich in ihrem Verhalten



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wechselseitig daran zu orientieren, also sich, wie Lon Fuller es formuliert hatte, auf das Projekt einlassen, ihr Verhalten rechtlichen Normen zu unterwerfen.

Literatur Engländer, A. 1995: Grundrechte als Kompensation diskursethischer Defizite?, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 81, 482–495. Engländer, A. 2008: Diskurstheorie des Rechts. Das Scheitern eines Begründungsprogramms, in: R. Neck (Hrsg.), Was bleibt vom Positivismusstreit?, Frankfurt/Main, 117–135. Günther, K. 2008: Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Menschenrechte, in: W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt/ Main 338–359. Günther, K. 2009: Diskurs, in: H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch, Stuttgart, 303–306. Habermas, J. 1994: Nachwort zur vierten Auflage, in: ders. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main, 661–680. Habermas, J. 2013: Im Sog der Technokratie, Berlin. Himma, K. E. 2002: Inclusive Legal Positivism, in: J. Coleman/S. Shapiro (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, Oxford, 125–165. Lafont, C. 2009: Kommunikative Vernunft, in: H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch, Stuttgart, 176–187. Lieber, T. 2007: Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, Tübingen. Marmor, A. 2002: Exclusive Legal Positivism, in: J. Coleman/S. Shapiro (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, Oxford, 104–124. Wellmer, A. 1993: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt/Main.

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IV Zur Rekonstruktion des Rechts (2): Die Prinzipien des Rechtsstaates IV.0 Einleitung Habermas entwickelt einen materialen Rechtsstaatsbegriff (169; Böckenförde 1976). Der gelungene Rechtsstaat verbürgt Gerechtigkeit. Außerdem ist er das Medium, in welchem eine Assoziation von Rechtsgenossen ihre kollektive Identität bestimmt. Eine Bestimmung dieser Art wird bei der Entscheidung über kollektive Ziele vollzogen. Die Prinzipien des Rechtsstaats (209–217) gelten Habermas als ein Ausdruck von Volkssouveränität (217). Sie ist der Geltungsgrund des Rechts. Ihre Stellung mutet zunächst ambivalent an. Zum einen tritt sie nicht als eine ungebundene und wesenslose („existenzielle“) Ursprungsmacht auf. Alle Macht, die vom Volk ausgeht, gilt Habermas als Artikulation (oder „Sättigung“) des Systems der Rechte (159f.). Zum anderen stipuliert Habermas’ Philosophie des Rechtsstaats kein Naturrecht. Sie ist eine Art Machttheorie. Das Recht gilt aufgrund der Macht, zu der das souveräne Volk fähig ist. Allerdings ist die Macht, von der nach Habermas alles Recht ausgeht, anders geartet als jene Befehlsmacht, die Autoren wie Hobbes oder Austin vorschwebte. Das legitime Recht entspringt einer Macht, der wir uns als Vernunftwesen nicht entziehen können. Für das angemessene Verständnis des Rechtsstaats kommt es entscheidend darauf an, diesen qualitativen Unterschied zu fassen. Der Text des Kapitels ist wenigstens zweischichtig. Sein Hauptthema ist das Verhältnis von Recht und Politik. Das Grundthema des Werkes wird dort fortgeführt. Die Spannung von Faktizität und Geltung, die sich im vorangegangenen Kapitel auf die Spannung von Volkssouveränität und Menschenrechten bzw. von privater und öffentlicher Autonomie übertragen hatte (124, 163f.), manifestiert sich nunmehr im Verhältnis von Politik und Recht. Innerhalb des vom Hauptthema abgesteckten Rahmens beschäftigt sich Habermas auch mit Fragen, die man mit Fug und Recht als „scholastisch“ bezeichnen kann. Sie betreffen die Entwicklung der Theorie des kommunikativen Handelns am Beispiel des Rechts. Hier kommt es auf Unterscheidungen an wie die zwischen administrativer und kommunikativer Macht (183), dem Rechtskode und dem Machtkode (178), zwischen Verhandlungen und Diskursen (204, 222) oder auf die Binnendifferenzierung des praktischen Diskurses in pragmatische, moralische und ethische Varianten (192–199). Daher lässt sich das Kapitel einerseits als Versuch lesen, das positive Recht ganz allgemein aus dem Verhältnis von Recht

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und Politik zu begreifen; andererseits stellt es auch eine Bewährungsprobe der Theorie des kommunikativen Handelns an einem besonderen Gegenstand dar. In diesem Vorgehen lauert eine Gefahr. Ihr erlag das Luhmann’sche Projekt. Denn leicht gerät die Theorie in Versuchung, sich selbstverliebt von der Sache zu lösen und bloß noch auf ihre eigenen Grundbegriffe zu konzentrieren. Doch Habermas zieht sich nicht darauf zurück. Die scholastisch indizierten Anbauten bleiben unabhängig davon erhellend, ob sie zur Ausfaltung der Gesamttheorie beitragen. Es dient dem Verständnis der Sache, wenn Habermas dem Verhandeln, dem ethischen Diskurs und dem moralischen Diskurs jeweils unterschiedliche Begriffe des Gemeinwillens und der Repräsentation zuordnet (222–226) oder die Staatsfunktionen danach unterscheidet, ob ihnen der „Zugriff“ auf unterschiedliche Sorten von Gründen offenstehen darf (235f.). Die diesbezüglichen Beobachtungen leuchten ein und sind eines Kommentars nicht weiter bedürftig.

IV.1 Zur Genealogie des Verhältnisses von Recht und Politik Allerdings enthält das Kapitel auch Dunkles. Das gilt vor allem für Habermas’ Versuch, die Genealogie des Verhältnisses von Recht und Politik entwicklungslogisch zu rekonstruieren (173; generell Habermas 1983, 41, 48). Das Anliegen selbst ist deutlich. Der moderne Staat tritt als eine mit Gewaltmonopol ausgestattete Wirkungseinheit auf. Die Entscheidungsmacht wird von einem in Ämtern und Kompetenzen ausdifferenzierten Apparat ausgeübt. Der Apparat selbst wird durch politische Dezisionen gelenkt. Laut Habermas verdeckt aber der moderne Staat durch diese seine Gestalt die Ausgangsbedingungen, unter denen die Staatsgewalt aus Formen traditionaler Herrschaft entstand (173). Habermas will diese Bedingungen rekonstruieren, um das Verhältnis von Recht und Politik aufzuklären. Die Ausführung dieses Vorhabens erschließt sich den Leserinnen kaum von selbst. Dies ist vor allem deswegen der Fall, weil Habermas die einschlägige evolutionstheoretische Analyse von Klaus Eder äußerst knapp darstellt (Eder 1976, 68–71). Der Kommentar muss daher versuchen, eine Orientierung zu bieten, denn diese Genealogie ist für Habermas’ Verständnis des Rechtsstaats von zentraler Bedeutung. Habermas will erklären, wie Recht und Politik in einem Differenzierungsprozess einander historisch wechselseitig „konstituieren“. Die politische Macht wäre nicht geworden, was sie ist, wenn es das Recht nicht gegeben hätte. Umge-



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kehrt hätte das Recht nicht werden können, was es ist, ohne durch die Politik ermöglicht worden zu sein. Das Paradoxon ist auffällig. Weder Recht noch Politik können sein, was sie sind, ohne durch ihr jeweils Anderes konstituiert zu werden. Dieses Andere kann allerdings nicht sein, was es zum Zweck der Konstituierung seines Anderen sein müsste, solange es selbst der Konstituierung durch dieses bedarf. Die wechselseitige Konstituierung ist daher wohl als wechselseitige Ausdifferenzierung zu beschreiben: ein Bestimmen vermöge der tätigen Abgrenzung von einem bedingenden Anderen, das sich gleichfalls tätig abgrenzt. Historisch beginnt nach Habermas die Konstituierung von politischer Macht und staatlicher Herrschaft mit dem Entstehen eines Richterkönigs. Dieser verfügt über soziale Macht. Er kann sich durchsetzen. Seine Macht kann als legitim gelten, wenn sie als allgemein akzeptabler Ausdruck dessen auftritt, was die Menschen verbindet und sie über ihre Einzelheit erhebt (Habermas 2012, 241f.). Dieses Verbindende zeigt sich laut Habermas, der an diesem Punkt ganz Durkheim verpflichtet ist (Habermas 1981b, 79f.), im Verhältnis zum Heiligen. Der Richterkönig verwandelt somit seine soziale Macht in politische Macht, indem er sich auf die Autorität des sakralen Rechts beruft. Das sakrale Recht verschafft der Ausübung von sozialer Macht politische Legitimität. Die sakral legitimierte soziale Macht ist politische Macht. Die Ausübung der letzteren führt wiederum zur Entstehung eines neuen Typus von Recht. Es ist dies das gesetzte Recht: „[D]ie Autorisierung von Macht durch sakrales Recht und die Sanktionierung von Recht durch soziale Macht vollziehen sich uno acto [sic]. So entstehen politische Macht und staatlich sanktioniertes Recht als die beiden Komponenten, aus denen sich die rechtsförmig organisierte staatliche Gewalt zusammensetzt.“ (177) Bei der Ausübung von politischer Macht geht es idealtypisch um das Bestimmen und Erreichen von kollektiven Zielen. Diese Machtausübung gilt als legitim, solange sie mit dem sakralen Recht nicht in Konflikt gerät. Aus dieser Sicht des sakralen Rechts muss die politische Ordnung darauf achten, kein Unheil heraufzubeschwören. Demgegenüber stellt sich das gesetzte Recht aus der Sicht der politisch Mächtigen primär als ein Organisationsmittel dar. Wer über politische Macht verfügt, kann anschaffen und mittels des Rechts zweckrational Ziele verfolgen. Dieser instrumentelle Nexus zwischen der Macht und dem Recht verhilft dem Recht zu werden, was es dem Anspruch nach sein will: effektiv. Denn ein Recht, dem die machtbewehrte Durchsetzung abginge, käme dem Jhering’schen Licht gleich, das nicht leuchtet (Jhering 1884, 332). Sobald das Recht aber mit politischer Macht behauptet wird, ist es in der Lage, sozial, zeitlich und sachlich generalisierte Verhaltenserwartungen zu stabilisieren (155; Luhmann 1972, 94). Die Menschen können nun mit dem Recht, das durch Gerichte „gesprochen“ wird, „rechnen“ und auf es „zählen“ (Habermas 1981a, 352).

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IV.2 Weder Legitimität aus Legalität noch Vernunftrecht Ein wichtiger weiterer Schritt in dieser Genealogie wird vollzogen, wenn die Autorität des sakralen Rechts mit der Säkularisierung politischer Autorität verblasst. Damit schrumpft der Abstand zwischen dem gesetzten und dem allem Setzen vorausgesetzten Recht, an welchem zu rütteln Frevel wäre. Das Recht beruht auf Macht und gewährleistet Rechtssicherheit. Die Ausübung von Macht soll zwar weiterhin einem „höheren Recht“ gehorchen, doch wenn die sakrale Fundierung entfällt, avanciert die effektive Durchsetzbarkeit von guten Zielen zum leitenden Gesichtspunkt für die Legitimität des Rechts. Das höhere Recht reduziert sich dem Anspruch nach auf die Ermöglichung von organisatorischen Abläufen und die Gewährleistung von Rechtssicherheit. Aus der Sicht der Macht steht das Recht der politischen Herrschaft zu Diensten. Für das Recht bleibt die Macht das Medium, das ihm Wirksamkeit verschafft. Das Recht legitimiert politische Herrschaft und steht dieser zu Gebote. Die Rechtmäßigkeit als Legitimitätsbedingung von politischer Macht nimmt sich nun als eine an diese selbst adressierte Vorschrift aus. Es sieht so aus, als könne politisch erzeugbare Legalität Legitimität stiften. Mit dem Zerfall des Glaubens an sakrales Recht scheint es hinzureichen, wenn die rechtlichen Bedingungen für die Ausübung politischer Macht selbst mit politischer Macht gesetzt werden. Somit ermächtigt der Prozess der Säkularisierung die politische Macht im Verhältnis zum Recht. Die Einhaltung der bloßen Rechtsform scheint zu genügen, um die Ausübung von Macht zu legitimieren (180). Damit droht die Spannung von Faktizität und Geltung zusammenzubrechen. Das säkulare Vernunftrecht lässt sich nach Habermas als Versuch begreifen, diese Spannung aufrechtzuerhalten. Es wollte die Rechtssetzung an die praktische Vernunft binden. Aber das Vernunftrecht „[…] blieb freilich weitgehend im dogmatischen Bann der überlieferten Konstruktion einer aus überpositivem Recht autorisierten Herrschaftsmacht befangen“ (182). Mit der vermeintlichen Überpositivität des Vernunftrechts kehrt offensichtlich jene Äußerlichkeit wieder, mit welcher der Richterkönig soziale Macht in politische verwandelte, indem er sich dem sakralen Recht unterordnete. Der Immanenz des kraft Macht gesetzten Rechts steht eine transzendente Sphäre ewig geltenden Naturrechts gegenüber, das gegenüber dem positiven Recht nur zu leicht den Eindruck erwecken muss, ohnmächtiges oder leeres Sollen zu sein. Habermas will diese Entgegensetzung überwinden. Er schlägt sich auf die Seite der Immanenz. Dort begegnet man allerdings Formen menschlicher Macht. Damit eröffne sich aber auch „eine ganz andere Perspektive“ (182). Die Entschei-



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dung für die Perspektive erklärt, weshalb nach Habermas die Bindung der Staatsgewalt an das Recht aus einer Bedeutungsklärung der Volkssouveränität zu verstehen ist. Um dies angemessen zu begreifen, ist daran zu erinnern, dass Habermas’ System der Rechte sich bewusst nicht in die Nachfolge des rationalistischen Naturrechts stellt. Es gibt nicht vor, den Maßstab zu setzen, an dem das positive Recht gleichsam von außen zu messen wäre. Habermas versteht die Verzahnung von Handlungsfreiheiten, Mitgliedschafts- und Beteiligungsrechten (155f.) nicht als einen Katalog von a priori geltenden Menschenrechten (156, 163), sondern als den Horizont (ein „Sinnfeld“; Gabriel 2013, 88f.), innerhalb dessen Rechtsgenossen sich untereinander Rechte wechselseitig zuerkennen. Wenn „transzendental“ bedeutet, dass etwas eine Bedingung der Möglichkeit von etwas Wirklichem ist, umschreibt das System der Rechte den transzendentalen Horizont, in dem sich jede geschichtliche Bestimmung von Rechten bewegen muss, um unter den einschränkenden Bedingungen des Diskurs­prinzips (Pauer-Studer 2000, 188–196) ihrem Gegenstand adäquat zu sein. Der Bedeutungshorizont des wechselseitigen Zuschreibens von Rechten verschafft freilich einem solchen System ebenso wenig Wirklichkeit, wie die Form des Urteilens eine Erfahrungserkenntnis ergibt. Auf der Ebene des Systems der Rechte allein weiß niemand, woran er ist und worauf er sich verlassen kann (167). Die Bestimmung und der reale Genuss von subjektiven Rechten setzen den Staat voraus. Die vorhin bezeichnete Leistung, welche die Macht für das Recht erbringt, löst das Problem, dass man ohne organisierte Bestimmung und Durchsetzung der Rechte nicht wüsste, welche Ansprüche man hat. Das impliziert, dass die Bestimmung und Durchsetzung von Rechten zu den gemeinsam zu verfolgenden Zielen von Staaten gehört. Der Staat ist die „objektiv-rechtliche Implikation“ des Systems der Rechte (168). Er soll Rechte bestimmen und deren Genuss ga­rantieren. Die wechselseitige Zuschreibung von Rechten muss sich also als Prozess der politischen Willensbildung im Rahmen einer zur Willensbildung fähigen Assoziation von Rechtsgenossen verstehen. Damit wird sie vom Ansatz her zum Ausdruck von Volkssouveränität. Allerdings darf die wechselseitige Zuschreibung von Rechten sich nicht an einen hoheitlichen Prozess entäußern und sich zu einem „Großsubjekt“ (134) zusammenziehen (Habermas 2009, 79f.). Ansonsten würde die Intersubjektivität der Verständigung von einem kollektiven Subjekt absorbiert. Die Intersubjektivität muss vielmehr ihre eigene institutionelle Unbestimmtheit im Verhältnis zur staatlichen Willensbildung präsent halten. Das wird bei Habermas nicht genau so ausgesprochen. Aber wenn es ihm nicht darum ginge, wäre schwer zu verstehen, warum er betont (170), dass „[i]m diskurstheoretisch begriffenen Rechtsstaat [...] sich [die Volkssouveränität, A.  S.] in die

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gleichsam subjektlosen Kommunikationskreisläufe von Foren und Körperschaften zurück[zieht]“. Er hält in diesem Sinne fest, dass „die Volkssouveränität [sich] nicht mehr in einem Kollektiv, nicht mehr in der physisch greifbaren Präsenz der vereinigten Bürger oder ihrer versammelten Repräsentanten zusammenzieht, sondern in der Zirkulation vernünftig strukturierter Beratungen und Entscheidungen zur Geltung kommt“ (170). Das bedeutet, dass sich die Bestimmung der Konkretisierung des Systems der Rechte in einem Kontext vollziehen muss, in dem die regulierte Rechtssetzung durch Repräsentanten des Volkes eingebettet ist in die Auseinandersetzung mit einer im Wesentlichen anarchisch verfassten Zivilgesellschaft. Von dieser haben die entscheidenden sachlichen Impulse für die politische Willensbildung auszugehen (430, 432, 434). Der Rechtsstaat legt sich dialektisch auseinander in einen hoheitlich regulierten Prozess der demokratischen Willensbildung und dessen nicht-hoheitliche „Belagerung“ durch autonome Öffentlichkeiten und zivilgesellschaftliche Gruppen (211, 450). Vor diesem Hintergrund resultiert nun die Zurückweisung des naturrechtlichen Sollens in einer bemerkenswerten Wiederkehr der höheren, unverfügbaren und uns erschaudern lassenden Autorität des Sakralen unter säkularen Bedingungen.

IV.3 Die mächtigste unter den irdischen Mächten Das System der Rechte bildet den Horizont für die kommunikative Bestimmung von Rechten. Dieser Horizont ist kein Naturrecht. Er ist ein bloßes „Sinnfeld“, d. h. ein semantischer Raum, in dem sich Bedeutungen entwickeln lassen. Innerhalb dieses Horizontes, in welchem die Bedeutungszuschreibung zunächst „zweitpersonal“ (Darwall 2006) konstituiert ist, muss es eine hoheitliche Dimension der Rechtsbestimmung von oben nach unten geben. Die staatliche Macht „tritt nicht gleichsam von außen neben das Recht, sondern wird von diesem vorausgesetzt, und sie etabliert sich selber in Formen des Rechts“ (168). In nicht-hoheitlicher Form realisiert sich das System der Rechte in den Verhältnissen der Bürgerinnen untereinander. Im Verhältnis zwischen diesen beiden Dimensionen erscheint nun jene reelle Kraft, aus der das positive Recht entsteht und die alles andere als ein Vernunftrecht ist. Diese Kraft bezeichnet Habermas als kommunikative Macht (182f.; Habermas 1987). Sie ist keine Norm. Sie ist die letzte Quelle legitimen Rechts. Sie ist Macht, die mächtig genug ist, die Ausübung politischer Macht zu steuern und  – zu Normen erstarrt – die administrative Macht zu binden (185f., 213). Bezwungen werden kann sie, wenn überhaupt, nur mit nackter Gewalt (Brunkhorst 2012, 223).



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Aufgrund des internen Bezugs der Ausübung kommunikativer Macht auf die Bestimmung von äußeren Rechten und Pflichten ist das Recht „von Haus aus“ (185) mächtig. Seine Bindungskraft wird durch die Idee des Naturrechts falsch repräsentiert. Dadurch werde es an die Moral assimiliert. Und das sei falsch. Denn die postkonventionelle Moral ist nach Habermas ein Wissenssystem und kein Handlungssystem (137, 202). Sie ist von Motivationen weitestgehend entkoppelt und als eine Form des kulturellen Wissens eher ein System des Moralisierens als ein Medium zur Gewinnung von Handlungsorientierung. Der für die Rechtsphilosophie entscheidende Kontrast ist also nicht der zwischen Naturrecht und positivem Recht. Den Angelpunkt bildet vielmehr die Unterscheidung von kommunikativer und administrativer Macht (hilfreich Iser 2009). Die letztere gleicht dem, was Rechtspositivisten wie Kelsen unter positivem Recht verstanden haben. Die administrative Macht programmiert sich mittels Rechtsnormen selbst. Im Verhältnis zur selbstprogrammierenden administrativen Macht tritt die kommunikative Macht das Erbe des sakralen Rechts an. Gottgleich besteht sie aus Gedanken, die sich ins Sein übersetzen. Sie ist ein Sein, das vermöge seines Seins immer schon vernünftig ist. Von der politischen Macht kann sie nicht erzeugt werden. Sie ist unverfügbar (441). Geld kann sie nicht kaufen. Ihr Auftreten lässt sich weder anschaffen noch erzwingen. Bestenfalls lässt sie sich durch Inszenierungen von Massenloyalität simulieren. Politische Macht, die nicht dauerhaft aus ihrem kommunikativen Gegenstück zehrt, wird brüchig und repressiv. Die kommunikative Macht entspringt Verständigungsprozessen, die keinen bestimmten Autor haben. Religionskritisch mag man ergänzen, dass die Autorität des Heiligen wohl der entfremdete Ausdruck dafür war, was Menschen vermögen, wenn sie sich über eine Angelegenheit gemeinsam verständigen. Das sieht man also von der „ganz anderen Perspektive“ auf den internen Zusammenhang von Recht und Politik, den das Vernunftrecht äußerlich durch die blutleere Gängelung der Politik durch die praktische Vernunft herstellen wollte.

IV.4 Kommunikative Macht Im Begriff der kommunikativen Macht begegnet uns Habermas als Leser Hannah Arendts (Arendt 1956, 199–207). Wir können dahingestellt sein lassen, wie akkurat seine Lektüre ist (Canovan 1983). In unserem Zusammenhang ist wesentlich, was er aus ihr zu gewinnen glaubt. Laut Habermas entsteht nach Arendt Macht aus Prozessen der Verständigung. Die kommunikative Macht ist, wie er festhält, ein „Gruppeneffekt der Rede, in der für alle Beteiligten Verständigung Selbstzweck ist“ (Habermas 1987, 231).

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Aufgrund der illokutionären Bindungswirkungen der auf Einverständnis über die Sache abzielenden Kommunikation übersetzt sich das kognitive Element der diskursiv vermittelten Einsicht in die Motivation, für diese Einsicht einzutreten und ihr gemäß zu handeln. Alles andere wäre beschämend. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von der „Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation“ (Habermas 1987, 230). Die diskursive Genese einer gemeinsamen Überzeugung verwandelt die Beteiligten in ein Instrument, das in diesem Willen beabsichtigte gemeinsame Ziel auch zu realisieren. Ihren Ursprung hat die kommunikative Macht in „Strukturen unversehrter Intersubjektivität“ (184, 188; Habermas 1987, 233), die sich nur in „nicht-deformierten Öffentlichkeiten“ bilden kann (184). Sie ist niemandes Besitz (Arendt 1956, 220), weil der Druck, für eine gemeinsam beschlossene Sache einzutreten, der wechselseitig eingenommenen performativen Einstellung entstammt, die Teilnehmer an Verständigungsprozessen einnehmen. Sie ist ein Produkt von Intersubjektivität. Thematisch ist die Bildung von kommunikativer Macht auf die Ausbuchstabierung unserer Rechte bezogen. Etwas überschwänglich hält Habermas fest, dass das Recht und die kommunikative Macht „gleichursprünglich“ der öffentlichen Meinung entstammen (182, 438f.), und spricht verschiedentlich von der „Verschwisterung“ der kommunikativen Macht mit der Erzeugung legitimen Rechts bzw. von einer „Verschränkung“ von diskursiver Rechtssetzung und kommunikativer Machtbildung (185, 208; 188, 201). Letztlich zielt die kommunikative Macht auf die Stiftung und Bewahrung einer freiheitlichen Verfassung ab. Am „reinsten“ tritt sie hervor, „wenn Revolutionäre die Macht ergreifen, die auf der Straße liegt“ (184; Habermas 1987, 238), wenn überzeugte Minderheiten zivilen Ungehorsam gegen ungerechte Gesetze organisieren oder wenn „in Protestbewegungen die ‚pure Lust am Handeln‘ durchbricht“ (184f.; Habermas 1987, 232, 238). Indirekt erinnert Habermas’ Begriffsbildung an Arendts Emphase auf das Neue, das sich aus dem gemeinsamen Handeln gebären kann (Arendt 1956, 204). Gleichwohl ist die kommunikative Macht nichts Außeralltägliches. Ihre Ausübung ist wesentlich für die Integrität jedes Rechtsstaats. Im Vergleich dazu beruht die administrative Macht auf rechtlich konstituierten Verhältnissen der Über- und Unterordnung (dem „Machtkode“). Die Beziehung zur kommunikativen Macht ist asymmetrisch. Der rechtlich kanalisierten Ausübung von administrativer Macht soll eine rechtssetzend ausgeübte kommunikative Macht zugrunde liegen (183). Genau genommen steht die kommunikative Macht für die Entstehung legitimer politischer Macht (185f.), die sich in der Form des Rechts artikuliert. Diese Artikulation ist ein zweistufiger Prozess. Zunächst materialisiert sich die kommunikative Macht in einer legalen Kompetenzord-



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nung. Diese bildet die Grundlage der normalen Rechtssetzung. Der kommunikativen Macht begegnet man in beiden Kontexten. Wegen dieses transitiven Zusammenhangs von kommunikativer Macht und Recht kann Habermas das Recht als Medium bezeichnen, kommunikative Macht in administrative Macht umzusetzen (186, 196). Gesetze sind Kondensate und Erstarrungen von kommunikativer Macht (213). Deswegen ist die Gesetzesbindung, die in zwei der vier Prinzipien des Rechtsstaats zum Ausdruck kommt, so wichtig (211–215). Das Recht ist der Transmissionsriemen für die Übersetzung von kommunikativer Macht in administrative Macht (559). Vor dem Hintergrund dieser weitestgehend begrifflichen Klärungen gelangt Habermas zur Bestimmung des Rechtsstaats. Normativ betrachtet sei er Ausdruck der Forderung, das mittels Befehlsmacht gesteuerte administrative System an die kommunikative Macht zurückzubinden (186, 209). Das von Habermas ausführlich skizzierte „Prozessmodell“ der politischen Willensbildung erläutert, wie man sich das Funktionieren dieses Machtkreislaufs (230) – durch den Einschub von Verhandlungen (204f.) – konkret vorzustellen hat (203–207). In einem späteren Kapitel wird die Notwendigkeit der Themenführerschaft peripherer Öffentlichkeiten nachgereicht (430, 432, 434, 461). Nur durch ein rechtlich vertikal organisiertes und horizontal aufgespreiztes System der politischen Willensbildung können sich die Bürgerinnen als Autorinnen des Rechts verstehen, dessen Adressaten sie sind (230), denn nur dieses ermöglicht es, die „naturwüchsige“ (232) Selbstprogrammierung administrativer und ökonomischer Macht zu unterbinden. Habermas legt größten Wert darauf, dass die „ganz andere Perspektive“ – anders als die Tradition des Gesellschaftsvertrages – nicht das Naturrecht als Lückenbüßer für verlorengegangene sakrale Fundierungen heranzieht (185). Das System der Rechte muss als positives Recht in Erscheinung treten. Es besitzt keine der Willensbildung der Bürger vorausliegende moralische oder naturrechtliche Geltung.

IV.5 Recht und Moral Volkssouveränität ist ein „Verfahren“. Sie umgreift den Staat und die Zivilgesellschaft, ohne auf ein unbewegtes Zentrum zuzulaufen. Sie ist ebenso subjektlos wie die kommunikative Macht, die sich in Verständigungsprozessen bildet (626). Dasjenige Recht ist legitim, das ausgehend von Verständigungsprozessen gebildet wird, die an den Schnittstellen von horizontal ausfließenden Assoziationen und parlamentarischen Prozessen der Meinungs- und Willensbildung vollzogen werden. Ein solches Recht könnte „in diskursiver Meinungs- und Willensbildung von allen Rechtsgenossen rational akzeptiert werden“ (169). Es ist moralisch richtiges Recht. Es ist gerecht. Der Rechtsstaat ist der gerechte Staat.

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Aber er ist auch der gute Staat, insofern er das gemeinsame Gute realisiert. Denn interessanterweise ist für Habermas die moralische Richtigkeit kein hinreichendes Legitimitätskriterium (193f., 209). Genau genommen kann es aufgrund moralischer Gründe allein kein legitimes Recht geben. Das erklärt sich aus der Abstammung des Rechts aus der kommunikativen Macht. Nach Habermas regelt die Moral Interaktionszusammenhänge überhaupt (188) unter strikt deontologischen Gesichtspunkten. Moralische Normen geben an, was man nicht tun darf, unabhängig davon, welche Zwecke man verfolgt (190). Gerechtigkeitsfragen betreffen die zwischen Personen strittigen Ansprüche. Der Universalitätsanspruch moralischer Gebote, Ausdruck dessen zu sein, was für alle gleichermaßen gut ist, schließt es aus, moralische Gebote „teleologisch“ im Hinblick auf die Vorzugswürdigkeit bestimmter Werte zu deuten (190). Rechtsnormen liegen laut Habermas nicht auf der „gleichen Abstraktionshöhe“. Sie sagen „im allgemeinen“ nicht, was gleichermaßen gut ist für alle Menschen, denn „sie regulieren den Lebenszusammenhang der Bürger einer konkreten Rechtsgemeinschaft“ (190f.). Anders als idealisierte Gemeinschaften moralischer Wesen können „konkrete Gemeinschaften“ bei der Regelung von interpersonalen Konflikten nicht von Werten und kollektiven Zielsetzungen ab­strahieren (188). Versuchten sie es, würde sich jene kommunikative Macht nicht einstellen, bei der Gründe motivierend wirken. Deswegen speist sich die Rechtsgeltung aus einem umfassenden Gebrauch der praktischen Vernunft, der auch die pragmatischen und die ethischen Diskurse umfasst (selbstverständlich sind auch „Verhandlungen“ rechtssetzungsrelevant [193, 205, 218], allerdings werden sie wegen des mangelnden Zusammenhangs mit kommunikativer Macht hier ausgespart). Motivierend ist kommunikative Macht wegen dieses ihres ethischen Moments. Es betrifft die Frage, als was sich Menschen verstehen und wie sie leben wollen (192). Nicht zufällig sind ethische Diskurse in einem eminenten Sinn öffentlichkeitsrelevant. Es ist der Sinn von Öffentlichkeit, die Operation von medienspezifisch ausdifferenzierten Funktionssystemen mit den biographischen Erfahrungen von Individuen zu konfrontieren und an deren lebensgeschichtlicher „Bilanz“ auch zu messen (441). Die kommunikative Macht, die in der alltagssprachlichen Verständigung über das eigene Wohl und Wehe sich aus der öffentlichen Meinung herausbildet, ist wegen ihres Einflusses auf die Rechtsbildung dazu geeignet, die systemischen Kommunikationen zu steuern, die Medien wie Geld und admi­ nistrative Macht gebrauchen (429). Ohne letztlich solcherart mit der Frage nach dem guten Leben in Zusammenhang zu stehen, hätte das Recht keine Macht. Es bliebe motivational ebenso kraftlos wie die postkonventionelle Moral. Ethische Diskurse betreffen die Frage, als wen sich die an Meinungs- und Willensbildungsprozessen Beteiligten eigentlich verstehen und wie sie leben



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wollen (192). Deswegen spielen Güter, die gemeinsam realisiert werden können, eine bedeutende Rolle. Das kollektive Selbstverständnis, das an der historisch kontingenten Bejahung von Zielen und Gütern zum Ausdruck kommt, ergänzt die personale Identität insofern, als es die Frage betrifft, wie wir uns die Lebensformen, in die wir hineingeboren worden sind, zurechtlegen und in welchen Elementen unserer Traditionen wir uns, indem wir Kontinuität zulassen (198), wiedererkennen wollen. Die Entwicklung eines solchen Selbstverständnisses ist ein im strikten Sinne hermeneutischer Vorgang (199), in dem sich Menschen, die in einem Überlieferungszusammenhang stehen, Elemente dieses Zusammenhangs gemeinsam kritisch aneignen. Herauszufinden, was wir wollen (198f.) und als was wir gelten wollen, indem wir einem Kollektiv angehören, ist eine kontextrelative Angelegenheit. Das Resultat der Auseinandersetzung mit entsprechenden „klinischen Ratschlägen“ (125, 199) ist, wie Habermas Heidegger paraphrasierend sagt, ein „geworfener Entwurf“ (125) der kollektiven Identität. Die Gründe, die dabei ins Spiel kommen, sind relativ zur betreffenden Gemeinschaft. Habermas anerkennt in diesem Zusammenhang, dass Kontingenz die Bildung von kommunikativer Macht ermöglicht (195).

IV.6 Ausblick Habermas’ Prinzipien des Rechtsstaats ergeben sich vor diesem Hintergrund wie von selbst. In der Ausübung der mit der Volkssouveränität verbundenen Teilnahmerechte entfaltet sich kommunikative Macht (210). Deren Entäußerungen müssen in der Form des Rechts – insbesondere Gesetzen – aufbewahrt werden, damit die Bürgerinnen der Selbststeuerung der administrativen Macht entgegenwirken können (213). Um dies zu gewährleisten, bedarf es einer unabhängigen Justiz und der Verwaltungskontrolle (213f.). Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist erforderlich, um die hinsichtlich ihres Subjekts unbestimmte Intersubjektivität der Verständigung im Verhältnis zum hoheitlich organisierten und finanzierten Prozess der Meinungs- und Willensbildung präsent zu halten (215ff.; Habermas 2009, 80). Was sich nicht von selbst ergibt, ist die vermeintliche Subjektlosigkeit des intersubjektiven Prozesses. Die öffentliche Verständigung vermag nur dann zur kommunikativen Macht zu gerinnen, wenn die Menschen in ethischen Diskursen sich als Element von etwas verstehen, das umfassender ist als ihre vereinzelte Existenz. Diese „Transzendenz von innen“ mag sich in einem schlichten „Wir wollen das nicht“ ausdrücken und sich auch leicht wieder verflüchtigen. Habermas weist später selber darauf hin, dass die „Schließung“ zur ersten Person Plural zum Inventar jeder funktionierenden Demokratie gehört (Habermas 1998,

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126). Dafür gibt es wenigstens zwei Gründe, über die uns Habermas gleichwohl im Dunkeln belässt. Erstens geht es in der Politik letztlich um unsere Lebenssituation. Das politische Handeln ist die ultima ratio, die uns verbleibt, diese Situation zu verändern. Was uns bewegt, wenn uns etwas bewegt, ist die Frage, wie es uns und anderen ergeht, die wir als Teil unseres Lebens wahrnehmen. Im lebensweltlichen Kontext sehen wir uns nicht als die rationalen Nutzenmaximierer, als die wir uns im systemischen Kontext der Operation des Geldmediums zu verstehen haben. Wir reflektieren auf uns als Einzelne, die durch ihren Ort, ihre Herkunft und ihre Beziehung zu anderen bestimmt sind. Zumindest präsentieren wir uns so im täglichen Leben („Ich bin Döblinger“). Wir reflektieren auf uns im holistischen Vorgriff auf eine Lebensform, deren Integrität unsere Angelegenheit ist, weil wir uns nur haben können, indem wir uns in ihr finden. Ich bin gegen die Ladenöffnung am Wochenende. Ruhetage gehören zu einem ausgeglichenen Leben. In einer Welt, in der man sieben Tage in der Woche „shoppen“ kann, komme ich bloß als ein Besucher vor. Zweitens können wir in dieser Situation unsere Präsenz nur sichern und daher uns in ihr auch finden, wenn wir in der Lage sind, auf sie vermöge unserer Verbundenheit mit anderen einzuwirken. Ich bin in der Welt des Dauershoppens dann nicht zu Hause, wenn ich der Einzige bleibe, der in einer solchen Welt nicht leben will. Die evaluative Einkleidung der Lebensform ist eine Bedingung dafür, dass die lebensgeschichtliche „Bilanz“ der Individuen auch Resonanz bei anderen finden kann. Weil wir wechselseitig voneinander wissen, dass das Schicksal jedes Einzelnen mit dem Ganzen verwoben ist, in welchem wir uns als uns selbst finden, sind wir auch motiviert zu sagen, dass „uns“ etwas betrifft, wenn unsere persönlichen Interessen nicht berührt sind. Die wertgeprägte Lebenswelt ist keine partikulare Zutat zum universellen Diskurs über Gerechtigkeit. Sie überwindet dessen Ohnmacht im Verhältnis zur äußerlichen Steuerung von Situationsbedingungen durch Geld und Macht. Insofern rächt es sich, dass Habermas’ Lektüre von Arendts Begriff der Macht so intellektualistisch (Canovan 1983, 109) ausfällt. Er spart den vielleicht wesentlichsten Punkt aus, den Arendt eigenartig etymologisch einführt. Macht kommt nicht von Machen, sondern von Möglichkeit (Arendt 1956, 200). Sie besteht aus dem Vermögen, sich spontan zu versammeln und gegen etwas aufzubegehren, das einem nicht behagt. Diese Möglichkeit besteht nur dann, wenn zwischen Menschen stabile und kulturell einigermaßen gefestigte Verbindungen geknüpft sind. Arendt weiß, was die Voraussetzung dafür ist: „The only indispensable material factor in the generation of power is the living together of people.“ (Arendt 1956, 201) Um mächtig zu sein, müssen Menschen zusammenleben. Dabei kann es sich um eine Stadt handeln, ein Dorf, eine Region oder die „vorgestellte Gemein-



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schaft“ des durch Massenmedien als gemeinsamer Lebensraum vermittelten Nationalstaats. An solchen Orten können Menschen Klage führen in dem Vertrauen darauf, dass diese nicht auf taube Ohren fällt. Dass anderen nicht egal ist, was mit einem geschieht, indiziert, dass diese anderen auch dazu bereit sind, Zeit, Geld oder persönlichen Einsatz für eine gemeinsame Angelegenheit aufzuwenden. In einem sehr trivialen Sinn müssen sie dazu bereit sein, das eine oder andere Opfer zu erbringen. Von solchen durchaus „alteuropäischen“ Grundlagen zehrt die kommunikative Macht. Während Faktizität und Geltung zu diesen sozialpsychologischen Voraussetzungen der kommunikativen Macht mehr schweigt als dazu beiträgt, sie zu erhellen, äußert sich Habermas später skeptisch, wenn nicht sogar spöttisch, zur vorgeblich „vorpolitischen Vertrauensbasis“, die unter Angehörigen („Volksgenossen“) einer Nation die erforderliche Solidarität stiftet (Habermas 1998, 152). Seines Erachtens besteht eine „bemerkenswerte Dissonanz“ (Habermas 1998, 152) im Verhältnis zu den aufgeklärten Prinzipien des Rechtsstaats. Für ihn kennt die aus den Ketten des Aberglaubens an die Schicksalsgemeinschaft befreite Demokratie „das Opfer“ ebenso wenig wie jene prämodernen direkten Solidaritätsformen, zu denen Frühsozialisten oder anfänglich noch Marx zurückkehren wollten (Habermas 1998, 130, 152). Aber Habermas’ ansonsten scharfsinniger soziologischer Blick erweist sich an diesem Punkt als individualistisch getrübt. Die „Vertrauensbasis“ unter Angehörigen eines Nationalstaats ist alles andere als vorpolitisch. Sie repräsentiert jene von Arendt richtig erkannte Möglichkeit von kommunikativer Macht, die immer dann besteht, wenn Menschen wechselseitig davon ausgehen, dieselbe Lebenssituation zu teilen. Wer mit anderen gemeinsam lebt, ist bereit, sein Steuergeld zu opfern, um öffentliche Räume ansehnlich zu machen, weil er in genau solchen Räumen gesehen werden will. Wie sollte es ohne Opferbereitschaft Macht geben? Wie anders könnte der Ernst einer Forderung öffentlich signalisiert werden als durch die Bereitschaft, etwas Bedeutendes aufs Spiel zu setzen? Unter Bedingungen politischen Misstrauens und kollektiver Egozentrik kann sich Gruppendruck einstellen, nicht aber kommunikative Macht. Diese entspringt der Achtung für moralische und ethische Überzeugungen. Wenn selbst der Gruppendruck entfällt, verbleibt als Einziges, zu dem Weltbürger fähig sind, die „Entrüstung“ (Habermas 1998, 163), die sich in einer kunstgerecht eingenommenen moralischen Pose erschöpft. Auch ist die Solidarität, um die es in politischen Verhältnissen geht, nicht die von Zunftgenossen. Vielmehr stammt sie aus der Anerkennung des Faktums, dass das Schicksal von Fremden Relevanz für einen selbst besitzt. Ermöglicht wurde sie bislang durch den Schleier der nationalen Identität. Er lässt Fremdes vertraut aussehen. Eine solche Solidarität kann nicht grenzenlos sein, denn sonst würde sie sich nicht in Macht übersetzen.

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Menschen sind mächtig, wenn sie an Orten leben. Diese haben Grenzen. Macht ist nichts Liebes, nicht einmal im Fall von kommunikativer Macht. Sobald Menschen das Leben unter Menschen aufgeben, mögen sie zwar smart, erfolgreich, wohlhabend und in sozialen Netzwerken beliebt sein; was sie indes riskieren, ist ihr aufrechter Gang. Die aufmerksame Lektüre von Faktizität und Geltung stößt damit auf ein Thema, das in Habermas’ späterem Eintreten für die transnationale Demokratie nicht mehr aufscheint, weil er dazu neigt, die Generierung von kommunikativer Macht aus ihrer Verankerung in partikularen Lebensformen zu lösen. Allerdings mag die Schwerfälligkeit, mit der sich generell die Begeisterung für die postnationale Demokratie einstellt, ein Indiz dafür sein, dass mit ihr jener Rückzug in ein Wissenssystem verbunden ist, das zu sein Habermas der postkonventionellen Moral zuschreibt und das er der vom Entscheidungsdruck entlasteten Öffentlichkeit als Problem attestiert. So wie sich Moral aufs Moralisieren zurückzieht, reduziert sich die Politik aufs Politisieren. Es manifestiert sich zum einen in Beiträgen zu Wochenschriften oder Blogeinträgen sowie Stellungnahmen auf internationalen Konferenzen, die von Sozialwissenschaftern besucht werden, welche daran glauben, dass viele gute Gedanken dazu beitragen können, die Welt zu verändern. Nicht zufällig werden zum anderen die spärlichen institutionellen Manifestationen postnationalen Deliberierens in den neonbeleuchteten meetings zwischen Bürokratien und mitarbeitenden, selbstnominierten Bürgerassoziationen angesiedelt (Habermas 1998, 166). Es ist daher zu vermuten, dass, solange die gemeinsame Anerkennung einer gemeinsamen Lebensform fehlt, die postnationale Demokratie eine Angelegenheit bleiben muss, über die man sich bloß feuilletonistisch begeistern kann und die von Doktoranden und Jungwissenschaftern in Texten über die Konstitutionalisierung des Völkerrechts brav approbiert wird.

Literatur Arendt, H. 1956: The Human Condition, Chicago. Böckenförde, E.-W. 1976: Entstehung und Wandlung des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/ Main, 65–93. Brunkhorst, H. 2012: Power and the Rule of Law in Arendt’s Thought, in: M. Goldoni/Ch. McCorkindale (Hrsg.), Hannah Arendt and the Law, Oxford, 215–228. Canovan, M. 1983: A Case of Distorted Communication: A Note on Habermas and Arendt, in: Political Theory 11, 105–116. Darwall, S. 2006: The Second-Person Standpoint: Morality, Respect, and Accountability, Cambridge, Mass 2006. Eder, K. 1976: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften: Ein Beitrag zur einer Theorie sozialer Evolution, Frankfurt/Main 1976.



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Gabriel, M. 2013: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin. Habermas, J. 1981a: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1981b: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1983: Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main, 29–52. Habermas, J. 1987: Hannah Arendts Begriff der Macht, in: ders., Philosophisch-politische Profile, 4. Aufl., Frankfurt/Main, 228–248. Habermas, J. 1998: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main. Habermas, J. 2009: Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Philosophische Texte, Bd. 5: Politische Theorie, Frankfurt/Main, 140–153. Habermas, J. 2012: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin. Iser, M. 2009: Macht, in: H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hrsg.), Habermas-Handbuch, Stuttgart, 349–352. Jhering, R. v. 1884: Der Zweck im Recht, Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig. Luhmann, N. 1972: Rechtssoziologie, Bd. 1, Reinbek. Pauer-Studer, H. 2000: Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt/ Main.

Robert Alexy

V Unbestimmtheit des Rechts und Rationalität der Rechtsprechung Die Habermas’sche Diskurstheorie des Rechts kreist um die Spannung zwischen Faktizität und Geltung. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich in verschiedenen Zusammenhängen in verschiedenen Formen. Im fünften Kapitel geht es um die „Theorie der Rechtsprechung und des juristischen Diskurses“ (241). Hier soll die Spannung zwischen Faktizität und Geltung sich „als Spannung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Anspruch, richtige Entscheidungen zu fällen“ (241f.), manifestieren, kurz: als Spannung zwischen „Rechtssicherheit und Richtigkeit“ (244). Dies Spannungsverhältnis definiert, spätestens seit Gustav Radbruch, eines der Hauptprobleme der Rechtsphilosophie (Radbruch 1993, 302–307, 314f.; Alexy, 2013a, 52).

V.1 Das Rationalitätsproblem der Rechtsprechung Das Prinzip der Rechtssicherheit fordert, dass rechtliche Entscheidungen sich am jeweils geltenden positiven Recht orientieren, also an dem, was ordnungsgemäß gesetzt wurde und sozial wirksam ist. Dies bedeutet, dass die „institutionelle Geschichte des Rechts [...] den Hintergrund jeder gegenwärtigen Entscheidungs­ praxis“ (243) zu bilden hat. Diese institutionelle Geschichte umfasst nicht nur Entscheidungen des Gesetzgebers, sondern auch Normen des Gewohnheitsrechts und Entscheidungen der Judikative (243). Jede rechtliche Entscheidungspraxis ist so in „die Kontingenzen dieses Entstehungszusammenhangs“ (243) einge­ bunden. Doch das ist nur die eine Seite der Sache. Der Anspruch des Rechts auf Richtigkeit fordert mehr als bloße Übereinstimmung mit Gesetz, Präjudiz und Gewohnheitsrecht. Er verlangt darüber hinaus, dass rechtliche Entscheidungen „auch in der Sache vernünftig begründet sein sollen“ (243). Habermas bezeichnet das Entscheiden in Bindung an positivrechtlich vorgegebene Prämissen in einer etwas unglücklichen Anlehnung an Wróblewski – dieser bezieht sich ausschließ­ lich auf die formale Unterscheidung zwischen Deduktion und Begründung der in der Deduktion verwendeten Prämissen, welcher Art auch immer (Wróblewski 1974, 39) – als „interne Rechtfertigung eines Urteils“ (243), und stellt dem die ratio­ nale Begründbarkeit als „externe Rechtfertigung“ (243) gegenüber. Vor diesem Hintergrund formuliert er das zentrale Problem des fünften Kapitels, das „Ratio­ nalitätsproblem der Rechtsprechung“ (242): „Das Rationalitätsproblem der Recht­ sprechung besteht also darin, wie die Anwendung eines kontingent entstandenen

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Rechts intern konsistent vorgenommen und extern rational begründet werden kann, um gleichzeitig Rechtssicherheit und Richtigkeit zu garantieren“ (244).

V.2 Drei unzureichende Antworten Um einer Lösung des Rationalitätsproblems näher zu kommen, wirft Habermas drei kurze Blicke auf die Antworten der juristischen Hermeneutik, des Rechtsre­ alismus und des Rechtspositivismus, um dann eingehender die Position Ronald Dworkins zu erörtern. Der Hermeneutik hält Habermas zunächst zugute, dass sie mit ihrer Beschrei­ bung des Verhältnisses von Norm und Sachverhalt als zirkulär ein methodologi­ sches Problem formuliert hat, das jede Theorie der Rechtsanwendung zu lösen versuchen muss. Aus dem Lager der Hermeneutiker hat es Vorschläge gegeben, dies Problem durch Rückgriff auf historisch bewährte Standards oder „ein herr­ schendes, durch Interpretation fortgebildetes Ethos“ (245) einer Lösung zuzufüh­ ren. Habermas hält dem treffend entgegen, dass der Rekurs auf Historisches oder Herrschendes „in einer pluralistischen Gesellschaft“ (245) nicht ausreiche, um das Rationalitätsproblem zu lösen. Dem Rechtsrealismus, der wesentlich auf psychologische und soziologische Erklärungen und Voraussagen abstellt, hält Habermas vor, dass er „die idealis­ tische Vorstellung der Verfahrensbeteiligten, daß alle (oder die meisten) Fälle auf der Grundlage geltenden Rechts zugleich konsistent und richtig entschieden werden können“ (246), verfehle. Damit verliere er die Möglichkeit, die „Funktion des Rechts, Verhaltenserwartungen zu stabilisieren“ (247), zu erklären. Haber­ mas bezieht dies freilich nur auf die „Rechtssicherheitsgarantie“ (247). Damit bleibt ein möglicher Zusammenhang zwischen der deutlich idealistischeren inhaltlichen Richtigkeit und der „Funktionsfähigkeit des Rechtssystems“ (247) unbestimmt. Dem Rechtspositivismus, wie er etwa von Hans Kelsen und H. L. A. Hart ver­ treten wird, billigt Habermas demgegenüber zu, dass er in der Lage sei, der „Funk­ tion der Erwartungsstabilisierung“ (247) Rechnung zu tragen, da er die „Konsis­ tenz regelgebundener Entscheidungen“ (247) ermögliche. Er wirft ihm aber eine „asymmetrische Lösung des Rationalitätsproblems“ (248) vor. Die Asymmetrie soll darin bestehen, dass „die Garantie der Rechtssicherheit die Richtigkeitsga­ rantie überschattet“ (248). Das zeige sich daran, wie der Positivismus das Ent­ scheiden schwieriger Fälle (hard cases) deutet. Ein schwieriger Fall liegt etwa dann vor, wenn die Vagheit einer Normformulierung mehrere Entscheidungen zulässt. Nach Kelsen und Hart kommt dem Richter dann ein Ermessensspielraum zu, den er „durch juristisch nicht begründbare Prämissen“ (248) auszufüllen



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ermächtigt ist. Habermas spricht hier von einer „dezisionistischen Schlußfolge­ rung“ (248). Man kann diesen Vorwurf dahin verstehen, dass er sagt, dass der Positivismus die im Recht angelegten Rationalitätspostulate nicht ausschöpft. Hierfür spricht in der Tat vieles.

V.3 Ronald Dworkins Theorie der Rechte Es ist nach Habermas Dworkins Theorie der Rechte, die die „Mängel der realisti­ schen, positivistischen und hermeneutischen Lösungsvorschläge“ (249) zu ver­ meiden versucht und daher den richtigen Weg weist. Die Grundannahme dieser Theorie ist, dass „das positive Recht unvermeidlicherweise moralische Gehalte assimiliert hat“ (250), deren Kern sich zu einer „Grundnorm, die gleiche Rück­ sichtnahme auf und Achtung für jedermann fordert“, oder zu einem „Grundrecht auf gleiche Rücksicht und Achtung“ (249) zusammenfassen lässt. Die Nähe der Habermas’schen Theorie zu dieser Grundannahme Dworkins kommt exempla­ risch zum Ausdruck, wenn Habermas bemerkt, dass diese für eine „Diskurstheo­ rie des Rechts [...] keine Überraschung“ (250) bedeute. Auffällig ist, dass Habermas seiner Zustimmung zu Dworkins These der not­ wendigen Inklusion moralischer Gehalte in das positive Recht sofort eine „Erläu­ terung“ (250) anfügt. In diesem „Exkurs über moralische Gehalte des Rechts“ (250) geht es um die „Vermeidung naturrechtlicher Konnotationen“ (250). Die Kern­ these lautet, dass „das Einwandern moralischer Gehalte ins Recht keine unmittelbare Moralisierung des Rechts“ (253) bedeutet. Bei der Inklusion moralischer Gehalte in das Recht würden diese „in den Rechtskode übersetzt und mit einem anderen Geltungsmodus ausgestattet werden“ (252f.). Was mit der Ausstattung mit einem anderen Geltungsmodus gemeint ist, scheint leicht zu sagen zu sein. Die moralischen Normen erhalten eine juristische Geltung, was bedeutet, dass die Motivation ihrer Befolgung irrelevant und ihre Nichtbefolgung sanktioniert wird. Nicht so einfach ist zu sagen, was unter der Übersetzung in den Rechtskode zu verstehen ist. Habermas spricht davon, dass die moralischen Gehalte „eine rechtsformspezifische Veränderung ihrer Bedeutung erfahren“ (250). Als Beispiel für ein Rechtsprinzip findet sich bei ihm die Menschenwürde (255). Nun kann kaum ein Zweifel sein, dass das Prinzip der Menschenwürde auch ein moralisches Prinzip ist. Soll mit der „Veränderung ihrer Bedeutung“ gemeint sein, dass sich der Inhalt der Bedeutung des Ausdrucks „Menschenwürde“ ändert, wenn eine Garantie der Menschenwürde in eine Verfassung aufgenommen wird? Das wäre zu verneinen. Die Menschenwürde wird zwar in den Kontext eines Rechtssys­ tems gestellt, was ihre Durchsetzbarkeit stärkt und ihre Konkretisierung erleich­ tert. Der Inhalt des moralischen Prinzips der Menschenwürde ändert sich durch

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dessen Transformation in positives Recht jedoch nicht. Habermas spricht davon, „daß sich die Grundnormen von Recht und Moral, denen dasselbe Diskursprin­ zip zugrundeliegt, inhaltlich überschneiden“ (253). Vielleicht liegt hier die Lösung. Soweit Moralnormen, wie etwa die Menschenwürdenorm, zugleich als Rechtsnor­ men gelten, kann von einer unmittelbaren inhaltlichen Moralisierung des Rechts gesprochen werden. Diese Moralisierung ist bloß inhaltlich, weil sie sich nicht auf den „Geltungsmodus“ (253), der als formal angesehen werden kann, erstreckt. Vor allem aber erstreckt die Moralisierung sich keinesfalls auf alle Rechtsnormen, denn die meisten von ihnen befinden sich nicht im Raum des moralisch Unmög­ lichen, also Verbotenen, oder des moralisch Notwendigen, also Gebotenen, sondern im weiten Raum des moralisch bloß Möglichen, also Erlaubten. Eine besondere Rolle spielt die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien in Dworkins Recht und Moral verbindenden Theorie der Interpretation, jedenfalls in ihrer früheren Form, auf die Habermas sich bezieht. Habermas stellt Dwor­ kins Unterscheidung dar, ohne allerdings auf ein Merkmal einzugehen, das im früheren Werk Dworkins eine entscheidenden Rolle spielt, die „dimension of weight or importance“ (Dworkin 1978, 26). Diese Dimension des Gewichts legt es nahe, Prinzipienkollisionen durch Abwägungen nach Maßgabe des Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatzes zu lösen (Alexy 1996, 79). Dies wiederum spricht dafür, Prinzipien als Optimierungsgebote aufzufassen (Alexy 1996, 75f./100). Dem aber widerspricht Habermas mit Nachdruck. Prinzipien erhielten dadurch eine „teleo­ logische Struktur“ und verlören ihren „deontologische[n] Geltungssinn“ (255). Damit könnten Grundrechte nicht mehr als Dworkin’sche Trümpfe „im juristi­ schen Diskurs gegen Zielsetzungsargumente ausgespielt werden“, womit eine „Brandmauer“ (315) falle. Dies soll sich daraus ergeben, dass Optimierungsge­ bote wegen der ihnen zuzuschreibenden teleologischen Struktur als Werte zu deuten seien. Prinzipien als Normen könnten „aufgrund ihres deontologischen Geltungssinnes allgemeine Verbindlichkeit und nicht nur eine spezielle Vorzugswürdigkeit beanspruchen“ und besäßen deshalb eine „größere Rechtfertigungs­ kraft als Werte“ (315), denn „Werte müssen von Fall zu Fall mit anderen Werten in eine transitive Ordnung mit anderen Werten gebracht werden“ (315). Für eine solche Abwägung aber fehlten „rationale Maßstäbe“ (315). Auf all dies ist bereits geantwortet worden (Alexy 1995b, 167–170; Alexy 2009, 13–19), was hier schon deshalb nicht wiederholt werden soll, weil die Abwägung wohl ein Hauptthema des sechsten Kapitels ist, nicht aber des fünften. Nur ein Punkt soll von Interesse sein. Im sechsten Kapitel wird die schwächere Rechtfertigungskraft der Optimie­ rungsgebote damit begründet, dass sie als Werte „von Fall zu Fall mit anderen Werten in eine transitive Ordnung gebracht werden“ (315) müssen. Genau dies schreibt Habermas den unter Ablehnung der Optimierungsgebotsthese deontolo­ gisch interpretierten Prinzipien im fünften Kapitel zu: „Zwischen Prinzipien stellt



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sich von Fall zu Fall eine andere transitive Ordnung her, ohne daß davon ihre Geltung berührt würde.“ (255) Das klingt nach Abwägung auch des „Deontologi­ schen“. Zudem scheint die „spezielle Vorzugswürdigkeit“ (315) mit der Formulie­ rung „von Fall zu Fall“ (315) zu speziell gefasst zu sein. Es sind nicht die Fälle als raum-zeitliche Individuen, die über den „Vorrang“ (255) herrschen, sondern die den Vorrang begründenden Merkmale der Fälle, die aus Prädikaten und nicht aus Eigennamen oder definitiven Beschreibungen bestehen, also trotz ihrer relativen Konkretheit oder Spezialität eine universalistische Dimension aufweisen (Alexy 1996, 83).

V.4 Das Recht als ideal kohärentes Normensystem Habermas greift Dworkins Idee „einer anspruchsvollen Theorie, die es insbeson­ dere in schwierigen Fällen erlaubt, die einzelne Entscheidung aus dem kohären­ ten Zusammenhang des rational rekonstruierten geltenden Rechts zu begründen“ (258) auf, stellt aber zugleich die Frage, ob die Betrachtung des geltenden Rechts „als ideal kohärentes Normensystem“ (270) „den richterlichen Entscheidungs­ prozeß an einem falschen Ideal“ misst (261). Von Seiten des Critical Legal Studies Movement ist der Einwand vorgebracht worden, „daß das geltende Recht über­ haupt von gegensätzlichen Prinzipien und Zielsetzungen durchzogen sei; somit sei jeder Versuch einer rationalen Rekonstruktion zum Scheitern verurteilt“ (265). Habermas’ Entgegnung besteht in einer Verknüpfung von Dworkins Unterschei­ dung zwischen Regeln und Prinzipien mit Klaus Günthers Unterscheidung zwi­ schen Begündungsdiskursen und Anwendungsdiskursen. Bei Prinzipienkollisi­ onen gehe es, anders als bei Regelkonflikten, nicht um „kontradiktorische, aber gleichermaßen Geltung beanspruchende Vorschriften“ (266), also nicht um echte Widersprüche, sondern um die Konkurrenz von zwei Normen, die beide prima facie anwendbar seien. Welche definitiv anwendbar sei, sei in einem Anwen­ dungsdiskurs zu klären, in dem es nicht, wie im Begründungsdiskurs, um die Geltung von Normen, sondern lediglich um deren Anwendbarkeit gehe. Anwend­ bar sei die Norm, die angemessen ist. Angemessen ist nach Günther diejenige Norm, die nach „Berücksichtigung aller Merkmale der Anwendungssituation“ (Günther 1988, 94) und der Berücksichtigung „alle[r] anderen Prinzipien, die in der Situation anwendbar sind“ (Günther 1988, 271), vorzuziehen ist. Diesem Pos­ tulat der Berücksichtigung aller Merkmale der Anwendungssituation und aller in Frage kommenden Normen entspricht die alte hermeneutische Forderung der Berücksichtigung aller Umstände, die nicht falsch ist, aber zu wenig sagt. Schwe­ rer wiegt die Trennung des Anwendungsdiskurses vom Begründungsdiskurs. Rationale Normanwendung setzt in schwierigen Fällen die Festsetzung fallbezo­

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gener Normen, etwa in Gestalt von semantischen Regeln (Alexy 1995a, 62) oder von Regeln, die bedingte Vorrangrelationen zwischen Prinzipien zum Ausdruck bringen (Alexy 1996, 83), voraus (Dwars 1992, 75ff.). Ein Verzicht hierauf würde die Konsistenz der Entscheidungspraxis und damit die Rechtssicherheit gefährden. Habermas scheint dies zu sehen, wenn er sagt, dass die an der „ideali­ ter gerechtfertigten Kohärenz“ orientierte Theorie Dworkin’scher Herkunft mit „Günthers elegantem Vorschlag“ (268) nun nur noch „lediglich Angaben für eine flexible Menge von Prinzipien und Zielsetzungen“ (268) enthält, und fragt: „Kann aber eine solche Theorie eine Entscheidungspraxis anleiten, die Rechts­ sicherheit garantieren soll?“ (269) In seiner Antwort stellt Habermas zunächst fest, dass „Rechtssicherheit [...] selbst ein Prinzip [darstellt], das in casu gegen andere Prinzipien abgewogen werden muß“ (270). Dem ist zuzustimmen (Alexy 2013a, 53f.). In einem zweiten Schritt verlegt er die Rechtssicherheit „auf eine andere Ebene“ (270), und zwar die des Verfahrens, auf der es um „eine diskur­ sive Klärung der einschlägigen Tatsachen- und Rechtsfragen“ (270) geht. Dem ist grundsätzlich beizupflichten, wenngleich nicht ganz klar ist, was unter einer „verfahrensabhängige[n] Rechtssicherheit“(270) zu verstehen ist. Auch bei Haber­ mas scheint eine gewisse Skepsis zu verharren, wenn er sagt, dass „die Orien­ tierung an einem derart anspruchsvollen Ideal in der Regel auch eine professio­ nalisierte Rechtsprechung überfordern“ wird (270). Eine mögliche Lösung sieht Habermas in einem dritten Schritt in den Rechtsparadigmen (270f.), wobei er das des „bürgerlichen Formalrechts“ von dem des „sozialstaatlich materialisier­ ten Rechts“ und von beiden wiederum das „prozeduralistische Rechtsverständ­ nis“ unterscheidet, wobei nach Habermas letzteres „die beiden anderen in sich aufhebt“ (239). Es geht also von vornherein um eine Paradigmenverküpfung. Nun gibt es aber sowohl innerhalb der ersten beiden Paradigmen als auch zwischen ihnen Spannungsverhältnisse. Wie will man mit etwas, das wesentlich durch Spannungsverhältnisse gekennzeichnet ist, Spannungsverhältnisse auflösen? Es wundert nicht, wenn Habermas vermerkt, dass schon wegen der Konkurrenz alternativer Rechtsparadigmen „ein prozeduralistisches Rechtsverständnis eine Ebene auszeichnen [muss], auf der sich die reflexiv gewordenen Rechtsparadig­ men füreinander öffnen“ (272). Damit liegt die Last der Versöhnung von Rechtssi­ cherheit und Richtigkeit wesentlich auf den Schultern der Prozedur.

V.5 Theorie der juristischen Argumentation Mit dem Schritt zur Prozedur verwirft Habermas den „monologischen Ansatz“ (272) Dworkins, der seinen sinnfälligsten Ausdruck in dessen Richter Herkules findet, „a lawyer of superhuman skill, learning, patience and acumen“ (Dworkin



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1978, 105). Es bleibt zwar bei einer „Rekonstruktion der Auslegungspraxis [...], die rechtstheoretisch und nicht rechtsdogmatisch verfährt“ (276), doch an die Stelle des idealen Individuums treten die Ideale des Diskurses: „Die Kritik an Dworkins solipsistischer Rechtstheorie muß auf derselben Ebene ansetzen und in Gestalt einer Theorie der juristischen Argumentation die Verfahrensprinzi­ pien begründen, auf die nunmehr die Bürde der bisher an Herkules gerichteten idealen Anforderungen übergeht.“ (276) Im Zentrum jeder Theorie der Argumentation steht der Begriff des Argu­ ments. Habermas definiert Argumente als „Gründe, die einen [...] Geltungsan­ spruch unter Diskursbedingungen einlösen“ (276). Das Ideale, das bei Dworkin eine Anforderung an die Theorie war, wird damit in die Diskursbedingungen verlagert, die Habermas als „ideale Anforderungen an ein kooperatives Verfahren der Theoriebildung“ (277) beschreibt. Die Idee der Kohärenz bleibt erhalten, wird aber dem Diskurs unterstellt. Sie soll „auf pragmatische Voraussetzungen der Argumentation [verweisen]“ (281) und wird als Herstellung eines „kohärenten Ganzen“ mit einem argumentativ erzeugten „zwanglose[n] Einverständnis“ (278) in Verbindung gebracht. Man könnte hier von einer „diskursiven Kohärenzthe­ orie“ sprechen. Auch die Idee der einzig richtigen Antwort erfährt eine diskurs­ theoretische Transformation. Sie wird dabei von einer ontologischen Annahme zu einer „regulativen Idee“ (278) herabgestuft und mit der „Fallibilität der tat­ sächlichen Entscheidungspraxis“ (277) verbunden. Das wiederum führt zu der „Idee eines unendlichen Argumentationsprozesses“ (278), in dem eine „hinrei­ chende Annäherung an die idealen Bedingungen“ (279) des Diskurses unterstellt wird. Zu diesen zählen der Ausschluss von „Repression und Ungleichheit“ (279), also Freiheit und Gleichheit, „unendliche Zeit, unbegrenzte Teilnehmerschaft und vollkommene Zwanglosigkeit“ (281f.) sowie „beste Informationen“ (279). In praktischen Diskursen ist eine „gemeinsam praktizierte und verallgemeinerte ideale Rollenübernahme“ (280) von besonderer Bedeutung. „Damit wird Dwor­ kins Grundnorm der gleichen Rücksicht und Achtung diskursethisch gleichsam eingeholt.“ (282) Hiermit sind die diskurstheoretischen Grundlagen einer Theorie der juristischen Argumentation gelegt.

V.6 Die Sonderfallthese Die Grundlagen einer Theorie sind freilich etwas anderes als diese Theorie selbst. Jede Theorie der juristischen Argumentation muss das Verhältnis von Rechts­ sicherheit und Richtigkeit bestimmen. Dies wiederum verlangt, dass dargelegt wird, was das Spezifische der juristischen Argumentation ist. Ein Versuch, beides zu tun, ist die Sonderfallthese. Habermas kritisiert die Sonderfallthese. Die

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Berechtigung dieser Kritik hängt wesentlich davon ab, was unter der Sonderfall­ these zu verstehen ist.

1. Moralischer und allgemeiner praktischer Diskurs Nach Habermas sagt die Sonderfallthese, „daß der juristische Diskurs als Sonder­ fall des moralischen (Anwendungs-) Diskurses zu begreifen sei“ (242, 286). Juristi­ sche Diskurse bildeten jedoch „keine speziellen Fälle von moralischen Argumen­ tationen“ (287). Sie dürften nicht „als Teilmenge moralischer Argumentationen begriffen werden“ (283). Blickt man auf den Wortlaut der Sonderfallthese, dann sagt sie, „daß der juristische Diskurs ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses ist“ (Alexy 2012, 263). Wenn man den Ausdruck „allgemeiner prakti­ scher Diskurs“ als synonym mit dem Ausdruck „moralischer Diskurs“ versteht und den moralischen Diskurs mit Habermas als einen Diskurs definiert, in dem es um Universalisierbarkeit und nur um Universalisierbarkeit (139, 190) in Gestalt der Frage geht, ob die jeweiligen Normvorschläge „ein gemeinsames Interesse aller Betroffenen ausdrücken“ (Habermas 1991a, 113), erweist sich die Sonderfallthese schnell als falsch. Der juristische Diskurs ist nicht nur für moralische, sondern auch für ethisch-politische und pragmatische Gründe offen (191, 282). Erstere sind „Ausdruck eines bewußten kollektiven Selbstverständnisses“, das sich auf Traditionen und „starke[n] Wertungen“ gründet (139, 198). Bei letzteren geht es um die Auswahl geeigneter Mittel zur Realisierung „gegebene[r] Ziele und Prä­ ferenzen“ (197). Diese Offenheit sowohl gegenüber moralischen als auch gegen­ über ethischen und pragmatischen Gründen ist aus systematischen Gründen notwendig. Die wichtigsten Ausgangspunkte der juristischen Argumentation in einer Demokratie sind Gesetze, die im demokratischen Prozess erzeugt wurden. Im demokratischen Gesetzgebungsprozess aber geht es um „Handlungsnormen, die in Rechtsform auftreten und mit Hilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Gründe – und nicht allein aus moralischen Gründen – gerechtfertigt werden können“ (139). Wenn die juristische Argumentation mit dem verknüpft werden soll, was im demokratischen Prozess entschieden wurde, dann hat sie alle drei mit seinen Ergebnissen verbundenen Arten von Gründen ernst zu nehmen. Wenn es nur die Möglichkeit gäbe, den Ausdruck „allgemeiner praktischer Diskurs“ als synonym mit dem Ausdruck „moralischer Diskurs“ zu verstehen, wäre die Sonderfallthese deshalb evident falsch. Es gibt jedoch nicht nur eine andere Möglichkeit, sondern diese liegt auch näher. Allgemeine praktische Dis­ kurse sind Diskurse, die moralische, ethische und pragmatische Fragen und Argumente verknüpfen. Ein Beispiel ist die Diskussion eines Gesetzesentwurfs in der allgemeinen Öffentlichkeit.



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Ein möglicher Einwand gegen die Bildung eines Begriffs des allgemeinen praktischen Diskurses könnte sein, dass er die Prioritäten zwischen dem Gerech­ ten, dem Guten und dem Zweckmäßigen gefährde. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Priorität des Guten gegenüber dem Zweckmäßigen resultiert schon daraus, dass selbst der höchste Grad an Zweckmäßigkeit eines Mittels für einen Zweck nichts zählt, wenn der Zweck keinen Wert hat. Die Priorität des Gerechten gegen­ über dem Guten ist eine nicht so leicht zu begründende Sache. Beim Guten geht es um nichtuniverselle individuelle und kollektive Werte, beim Gerechten um uni­ verselle Normen. Es geht also um die Priorität des Universellen gegenüber dem Nichtuniversellen. Die Frage, wie diese Priorität begründet werden kann, soll hier nicht erörtert werden. Um dem Einwand einer möglichen Prioritätsgefährdung zu entgegnen, reicht die Feststellung aus, dass die Priorität des Universellen gegen­ über dem Nichtuniversellen dann, wenn sie begründet werden kann, also gilt, gleichermaßen zwischen „verschiedene[n] Diskurstypen“ (197) wie zwischen ver­ schiedenen Argumenten innerhalb eines verschiedene Diskurstypen verknüpfen­ den allgemeinen praktischen Diskurses gilt. Nicht weniger wichtig ist, dass es nicht nur Prioritäten zwischen moralischen, ethischen und pragmatischen Argumenten gibt, sondern auch Verknüpfungen. Man nehme die Menschenrechte, die den Kern der Gerechtigkeit definieren. Men­ schenrechte sind abstrakte Rechte, die moralisch gelten, wenn sie begründbar sind (Alexy 2013b, 11). Wenn sie als abstrakte moralische Rechte begründbar sind, kommt ihnen absolute Priorität zu. Kein Verfassungsgeber und kein einfacher Gesetzgeber kann sie als abstrakte moralische Rechte aus ethischen oder prag­ matischen Gründen aufheben. Kommt man aber zu der Frage, was sie in einem konkreten Fall fordern, können durchaus neben moralischen auch ethische und pragmatische Arguments eine Rolle spielen. Das zeigt sich am deutlichsten in der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Auf ihren ersten beiden Stufen, der Geeignet­ heits- und der Erforderlichkeitsprüfung, kommt den pragmatischen Argumenten die entscheidende Rolle zu. Auf der dritten Stufe, der Proportionalitätsprüfung, können ethische Gründe als Schrankengründe ins Spiel kommen. Wenn der Ein­ griff in ein Menschenrecht sehr leicht ist und die ethischen Gründe sehr schwer wiegen, können letztere ihn rechtfertigen. Das abstrakt Absolute kann so im Kon­ kreten eine Relativierung erfahren. All dies zeigt, dass der allgemeine praktische Diskurs nicht eine bloße Vermischung oder Kombination ist, sondern eine syste­ matisch notwendige Verknüpfung, die die Einheit der praktischen Vernunft zum Ausdruck bringt (Alexy 1999, 379).

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2. Die Regeln und Formen des juristischen Diskurses Ein zweiter Einwand Habermas’ gegen die Sonderfallthese lautet, dass sie zeigen müsste, dass die speziellen Regeln und Formen des juristischen Diskurses „die allgemeinen Verfahrensbedingungen moralisch-praktischer Diskurse im Hin­ blick auf die Bindung ans geltende Recht lediglich spezifizieren“ (284). Dieser Forderung werde mit einem „kurzen Hinweis auf strukturelle Ähnlichkeiten der für beide Diskursformen jeweils angeführten Regeln und Argumentformen“ jedoch „nicht Genüge getan“ (284). Die Antwort lautet, dass dieser Forderung niemals Genüge getan werden kann, dies die Sonderfallthese jedoch nicht in Frage stellt. Es gibt zwar einige Regeln und Formen des juristischen Diskurses, denen solche des allgemeinen praktischen Diskurses entsprechen (Alexy 2012, 352ff.), dass nicht alle dies tun, ist jedoch nicht nur unschädlich, sondern auch notwendig. Diese Notwendig­ keit folgt aus der Notwendigkeit des positiven Rechts, die sich wiederum aus der „Entscheidungsungewißheit“ (287) oder Unbestimmtheit allgemeiner praktische Diskurse (Habermas 1991b, 164ff.) ergibt (Alexy 2013a, 52). Juristische Diskurse sind wesentlich durch autoritative oder institutionelle Gründe definiert, die die Bindung an Gesetz, Präjudiz und System zum Ausdruck bringen. Die Regeln und Formen der semantischen, genetischen, präjudiziellen und systematischen Inter­ pretation bringen daher mehr als eine bloß „eingespielte juristische Auslegungs­ praxis“ (284) zum Ausdruck. Sie nehmen an der Notwendigkeit der Positivität teil. Dies impliziert, dass sie, was ihren Inhalt und ihre Struktur betrifft, keine Spezifizierungen der Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskur­ ses sein können. Dennoch sind sie mit ihnen verbunden. Die Existenz positiven Rechts ist eine Forderung der praktischen Vernunft und kann deshalb in allge­ meinen praktischen Diskursen gerechtfertigt werden (Pavlakos 1998, 152). Die auf das Autoritative abstellenden Regeln und Formen des juristischen Diskurses sind daher zwar nicht direkt, wohl aber indirekt mit den Regeln und Formen des allge­ meinen praktischen Diskurses verbunden.

3. Ungerechtes Recht Ein dritter Einwand sagt, dass der von der Sonderfallthese „angenommene Ein­ klang der Rechts mit der Moral die unangenehme Konsequenz [hat], die Richtig­ keit einer juristischen Entscheidung nicht nur zu relativierten, sondern als solche in Frage zu stellen“ (284). Der Grund dafür soll sein, dass „Geltungsansprüche [...] binär kodiert [sind] und [...] ein Mehr oder Weniger nicht [zulassen]“ (284). Mit dem „Einklang von Recht und Moral“ kann nicht gemeint sein, dass die Sonder­



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fallthese annimmt, dass das Recht stets tatsächlich mit der Moral übereinstimmt. Die Formulierung kann nur als Bezugnahme auf den mit Rechtsnormen und rechtlichen Entscheidungen notwendig erhobenen Anspruch auf Richtigkeit ver­ standen werden. Der in moralischen Diskursen erhobene Anspruch auf Richtig­ keit ist ein Anspruch auf moralische Richtigkeit. Der in allgemeinen praktischen Diskursen erhobene Anspruch auf Richtigkeit ist ein Anspruch auf allgemeine praktische Richtigkeit. In beiden Fällen geht es um inhaltliche oder substan­ tielle Richtigkeit. Man kann hier von Richtigkeit erster Ordnung sprechen. Die Richtigkeit erster Ordnung ist der idealen Dimension zuzuordnen. Im Recht tritt zur idealen Dimension die reale Dimension der Positivität. Der in juristischen Diskursen erhobene Anspruch ist deshalb komplex. Er bezieht sich sowohl auf die ideale als auch auf die reale Dimension. Man kann hier von einer Richtig­ keit zweiter Ordnung sprechen. Der Anspruch auf Richtigkeit zweiter Ordnung verknüpft sowohl das Prinzip der inhaltlichen Richtigkeit, insbesondere das der Gerechtigkeit, als auch das der Rechtssicherheit notwendig mit dem Recht (Alexy 2013a, 53) Wenn nun ein ungerechtes Gesetz anzuwenden ist, stellt sich die Frage der Abwägung des formellen Prinzips der Rechtssicherheit mit dem materiellen Prinzip der Gerechtigkeit. Das soll an dieser Stelle nicht weiter aus­ geführt werden. Nur zwei Dinge sind hier von Bedeutung. Wenn dem Prinzip der Rechtssicherheit der Vorrang zu geben ist, ist der Anspruch auf Richtigkeit zweiter Stufe erfüllt und der in der Tat binär kodierte juristische Geltungsan­ spruch wird nicht in Frage gestellt. Trotz ihrer juristischen Geltung ist die Ent­ scheidung aber wegen Nichterfüllung des Anspruchs auf materielle Richtigkeit eine rechtlich fehlerhafte Entscheidung. Es ist ein Vorzug der Sonderfallthese, dass sie dieses Auseinanderklaffen von juristischer Geltung und rechtlicher Feh­ lerhaftigkeit darstellen kann.

4. Spezifisch juristische Natur? Ein vierter Einwand gegen die Sonderfallthese könnte mit Habermas’ Thesen formuliert werden, „daß sich juristische Diskurse auf Rechtsnormen nicht nur beziehen, sondern mit ihren Kommunikationsformen selber ins Rechtssystem eingelassen sind“ (287) und „keine speziellen Fälle von moralischen Argumen­ tationen“ bilden, sondern „vielmehr von Haus aus auf das demokratisch gesatzte Recht bezogen“ sind (287). Mit den Formulierungen „eingelassen“ und „von Haus aus“ könnte gesagt werden, dass die allgemeinen praktischen, also die morali­ schen, ethischen und pragmatischen Argumente im juristischen Diskurs ihren allgemeinen Charakter verlören und eine spezifisch juristische Natur annähmen. Das entspräche der im Zusammenhang mit dem „Exkurs über moralische Gehalte

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des Rechts“ schon erwähnten These Habermas’, dass „moralische Gehalte, indem sie in den Rechtskode übersetzt werden, eine rechtsformspezifische Veränderung ihrer Bedeutung erfahren“ (250). Der These von der Annahme einer spezifisch juristischen Natur steht freilich die ebenfalls von Habermas vertretene These gegenüber, dass „sich der juristische Diskurs nicht selbstgenügsam in einem hermetisch abgeschlossenen Universum des geltenden Rechts bewegen“ kann, sondern sich „gegenüber Argumenten anderer Herkunft [...] offenhalten“ muss, wobei Habermas auf „pragmatische, ethische und moralische Gründe“ (282f.) verweist. Die richtige Lösung könnte sein, dass die im juristischen Diskurs ver­ wendeten allgemeinen praktischen Argumente einerseits das bleiben, was sie sind, nämliche allgemeine praktische Argumente, dass aber andererseits der juristische Diskurs als Ganzer eine spezifisch juristische Natur hat. Das entsprä­ che der Sonderfallthese.

Literatur Alexy, R. 1995a: Normenbegründung und Normanwendung, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt/Main, 52–70. Alexy, R. 1995b: Jürgen Habermas’ Theorie des juristischen Diskurses, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt/Main, 165–174. Alexy, R. 1996: Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., Frankfurt/Main (3. Neudr. 2011). Alexy, R. 1999: The Special Case Thesis, in: Ratio Juris 12, 374–384. Alexy, R. 2009: Die Konstruktion der Grundrechte, in: L. Clérico/J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation. Studien zur Rechtstheorie Robert Alexys, Baden-Baden, 9–19. Alexy, R. 2012, Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl., Frankfurt/Main Alexy, R. 2013a: Rechtssicherheit und Richtigkeit, in: M. Anderheiden/R. Keil/S. Kirste/J. P. Schaefer (Hrsg.), Verfassungsvoraussetzungen. Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, Tübingen, 49–61. Alexy, R. 2013b: The Existence of Human Rights, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 136, 9–18. Dwars, I. 1992: Application Discourse and the Special Case-Thesis, in: Ratio Juris 5, 67–78. Dworkin, R. 1978: Taking Rights Seriously, 2. Aufl., London. Günther, K. 1988: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1991a: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main, 100–118; auch in: Philosophische Texte, Band 3: Diskursethik, Frankfurt/Main 2009, 360–381. Habermas, J. 1991b: Erläuterungen zur Diskursethik, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main, S. 119–226; auch in: Philosophische Texte, Band 3: Diskursethik, Frankfurt/Main 2009, 179–301. Pavlakos, G. 1998: The Special Case Thesis. An Assessment of R. Alexy’s Discursive Theory of Law, in: Ratio Juris 11, 126–154.



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Radbruch, G. 1993: Rechtsphilosophie, 3. Aufl., in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. v. A. Kaufmann, Bd. 2, (Orig. 1932), Heidelberg, 206–450. Wróblewski, J. 1974: Legal Syllogism and Rationality of Judicial Decision, in: Rechtstheorie 5, 33–46.

Dieter Grimm

VI Justiz und Gesetzgebung. Zur Rolle und Legitimität der Verfassungsrechtsprechung VI.1 Zur Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Leitfrage des sechsten Kapitels von Faktizität und Geltung lautet, wie eine „konstruktiv verfahrende Auslegungspraxis innerhalb der Grenzen der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung operieren kann, ohne daß die Justiz auf gesetzgeberische Kompetenzen übergreift“ (292). Nachdem Habermas in den vorangegangenen Kapiteln seine Vorstellung von den Bedingungen rationalen Rechts und rationaler Rechtsauslegung entwickelt und sein Konzept der Gewaltenteilung entworfen hat (Kap. III bis V), geht er damit zur institutionellen Ebene über und untersucht, ob und wie sich die Justiz, namentlich die Verfassungsgerichtsbarkeit, in das Gewaltenteilungsgefüge einordnen lässt und wie sie ihre Funktion ausüben muss, um die Rationalität des Gesetzes im Anwendungsprozess nicht wieder aufzuheben und so zur Gefahr für Gewaltenteilung und Demokratie zu werden. Dass dies nicht geschehen darf, ergibt sich für Habermas aus der im vierten Kapitel behandelten „Logik der Gewaltenteilung“. Der Sinn der Gewaltenteilung liegt für ihn weniger in der Verhinderung von Machtmissbrauch, wie er im Fall der Gewaltkonzentration droht, als in der Aufrechterhaltung der unterschiedlichen Rationalitätsbedingungen von Rechtserzeugung einerseits und Rechtsanwendung andererseits. Das aus einem diskursiven Prozess demokratisch verantwortlicher Repräsentanten des Volkes hervorgegangene und gerade durch diesen Prozess legitimierte Gesetz darf auf der Anwendungsebene nicht verfälscht werden. Dem Rechtsstaatsprinzip liegt „eine einzige Idee zugrunde: die Organisation des Rechtsstaates soll letztlich der politisch autonomen Selbstorganisation einer Gemeinschaft dienen, die sich mit dem System der Rechte als eine Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen konstituiert hat“ (217). Die Gewaltenteilung dient dem „Vorrang der demokratischen Gesetzgebung“ und damit der Bindung des staatlichen Gewaltapparats an das diskursiv erzeugte Recht (230). Das Demokratieproblem ergibt sich aus dem Umstand, dass die generell und abstrakt formulierten Rechtssätze die Anwendung auf individuelle und konkrete Streitfälle nicht vollständig, sondern nur mehr oder weniger determinieren. Die Differenz zwischen der generellen und abstrakten Norm und dem individuellen und konkreten Fall muss vielmehr durch Auslegung der Norm überbrückt werden. Auslegung erschöpft sich aber nicht, wie in der Rechtswissenschaft

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zeitweise angenommen, in der Aufdeckung eines in der Norm schon vollständig enthaltenen Sinns, sondern ist, je nach Determinationskraft einer Norm oder Neuartigkeit des Falls, immer auch in größerem oder kleinerem Umfang Sinnkonstituierung. Daher rührt die Bedeutung der Frage, wer den Sinn von Rechtsnormen letztverbindlich feststellt und in welchem Verfahren und mit welcher Methode das geschieht. Um dieses Problem kreist Kapitel VI. Überschrieben ist es mit „Justiz und Gesetzgebung“. Im Untertitel erfährt es eine Eingrenzung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit, um deren „Rolle und Legitimität“ es gehen soll. Die Eingrenzung hat Folgen. Während die Notwendigkeit einer unabhängigen Justiz im gewaltenteilenden Staat unbestritten ist, gilt das für die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht. Verfassungsgerichte wenden nicht Gesetze auf Fälle an, sondern höherrangige Normen auf Gesetze und können diese im Fall der Unvereinbarkeit für nichtig erklären. Insofern haben sie selbst Anteil an der Gesetzgebung, wenngleich in Kelsens Formulierung nur negativen (Kelsen 1929). Das macht sie für eine Kritik unter Demokratiegesichtspunkten anfällig, und diese Kritik betrifft nicht nur die Richtigkeit konkreter Entscheidungen, sondern die Daseinsberechtigung der In­stitution als Ganzer. Die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit muss also gerechtfertigt werden, und das geht für Habermas nicht umstandslos. Er erkennt zwar an, dass der demokratische Gesetzgeber in seinen Entscheidungen nicht gänzlich frei ist, sondern den Bindungen der Verfassung, namentlich der Grundrechte, unterliegt. Das ist bereits im dritten Kapitel begründet worden. Für die Einhaltung dieser Bindungen muss also Sorge getragen werden. Das führt jedoch nicht zwangsläufig zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Habermas hält sie sogar nur für die zweitbeste Lösung. So wie sich die Exekutive durch die Binnendifferenzierung von Regierung und Verwaltung und die Justiz im Instanzenzug selbst kontrollierten, könne auch das Parlament eigene Mechanismen zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze entwickeln. Was Habermas sich vorstellt (295f.), ist ein Parlamentsausschuss, dem auch Rechtsexperten angehören sollen und der Gesetze nach ihrer Verabschiedung durch das Parlament auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüft. Für diese „Internalisierung der Selbstreflexion“ schlägt er ein gerichtsförmiges Verfahren vor. Zur Frage der Unabhängigkeit des Ausschusses vom Parlament äußert Habermas sich nicht. Das Normenkontrollverfahren bliebe jedenfalls „in der Zuständigkeit des Parlaments“. Ob das bedeutet, dass sich das Parlament über die Entscheidung des Ausschusses hinwegsetzen dürfte, wird ebenfalls nicht gesagt. Möglicherweise deutet der Satz, der Vorzug dieser Lösung liege darin, dass das Parlament sich frühzeitig seiner Verfassungsbindung bewusst werden müsse, darauf hin.



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Diesen Vorzug hat freilich auch das verfassungsgerichtliche Verfahren. Aber es hat ihn eben wegen der Befugnis des Verfassungsgerichts, verfassungswidrige Akte des Gesetzgebers aufzuheben, nicht nur zu kritisieren. Wenn es daran fehlt, ist die parlamentsinterne Kontrolle kein Äquivalent für die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Im Übrigen begnügt sich die Verfassung auch gegenüber den anderen Gewalten keineswegs mit internen Kontrollen. Für die Exekutive gilt nicht nur das Weisungsrecht der Politik gegenüber der Verwaltung, das ja selber nur im Einklang mit dem Recht ausgeübt werden darf. Gegen alle Akte der Verwaltung steht vielmehr auch der Rechtsweg offen. Und auch die Justiz ist sich nicht selbst überlassen. Das Parlament kann sie jederzeit durch Gesetzesänderung umprogrammieren. Habermas spitzt seine Überlegungen zur Selbstkontrolle der Legislative daher auch nicht zur Forderung nach einem Verzicht auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zu. Ob ihm dabei die Schwäche jeder Selbstkontrolle, die gewöhnlich nicht weiter reicht als das Eigeninteresse der ihre eigenen Handlungen kontrollierenden Institution, zur Zurückhaltung bewogen hat, oder der Umstand, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als Mittel zur Durchsetzung der Verfassungsbindung des Gesetzgebers weltweit durchgesetzt hat, bleibt offen. Seine Schlussfolgerung besteht lediglich in der Aussage, dass die Übertragung der Normenkontrolle an ein Verfassungsgericht einer „komplexen Begründung“ bedarf (296). Dieser widmet er sich im Folgenden. Um auszumachen, wo die Gefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen, unterscheidet Habermas drei „Kompetenzbereiche“ von Verfassungsgerichten: Organstreitigkeiten einschließlich Föderalismusstreitigkeiten, Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde (294). Indessen sind die Kompetenzen nicht identisch mit den Verfahrensarten, in denen sie wahrgenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenz, Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern und zwischen Bundesorganen sowie zwischen diesen und ihren Organteilen zu entscheiden. Ferner darf es Rechtsnormen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen, ebenso Einzelakte (Regierungs- und Verwaltungsakte und Gerichtsurteile). Dafür stehen verschiedene Verfahrensarten zur Verfügung, für die unterschiedliche Regeln gelten. Ein und dieselbe Kompetenz kann in verschiedenen Verfahrensarten ausgeübt werden. Die mangelnde Unterscheidung zwischen Kompetenzen und Verfahren wirkt sich auf die Gefahreneinschätzung aus, derentwegen Habermas die Einteilung eingeführt hat (siehe auch Eberl 2006, 115f.). Er nimmt an, dass die konkrete Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde „unter Gesichtspunkten der Gewaltenteilung am wenigsten problematisch“ seien (294). Für problematischer hält er die Organ- und Föderalismusstreitigkeiten, weil sie die Staatsfunktionen berührten. Doch rechtfertigten sie sich plausibel „aus dem verfassungstechni-

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schen Bedürfnis, Konflikte zwischen den auf ein Zusammenwirken angewiesenen staatlichen Organen überhaupt beizulegen“ (294). Erst bei der abstrakten Normenkontrolle spitze sich die Konkurrenz des Verfassungsgerichts mit dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu. Den Grund für die Unbedenklichkeit der konkreten Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde findet Habermas darin, dass das Verfassungsgericht in diesen Verfahren nur im Sinn der Rechtsvereinheitlichung tätig werde. Es übernehme hier die Aufgabe der Selbstkontrolle der Justiz. Indessen geht es bei der konkreten Normenkontrolle genauso wie bei der abstrakten um die Kontrolle der Norm, nicht der Gerichtsentscheidungen, in denen die Norm angewendet wird. Der Unterschied zwischen den beiden liegt lediglich darin, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm das eine Mal im gerichtlichen Verfahren, das andere Mal im politischen Prozess gestellt wird. Dementsprechend unterscheiden sich die Antragsteller, aber nicht die Gegenstände. Beide Male geht es um ein Erzeugnis des demokratischen Gesetzgebers. Das Gefahrenpotential für die Gewaltenteilung, die ihrerseits für Habermas im Interesse des Primats der Gesetzgebung besteht, ist deswegen das gleiche. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind dagegen in der Tat überwiegend gerichtliche Entscheidungen, aber nur deshalb, weil das Bundesverfassungsgerichtsgesetz die Ausschöpfung des Rechtswegs vorschreibt, ehe sich ein Betroffener, der im Rechtszug keinen Erfolg gehabt hat, an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Ausnahmsweise, nämlich dann, wenn kein Rechtsweg eröffnet oder seine Beschreitung nicht zumutbar ist, kann die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtet werden. Aber auch im Regelfall, in dem eine Gerichtsentscheidung wegen Grundrechtsverstößen angegriffen wird, eröffnet die zulässige Verfassungsbeschwerde den Zugriff auf das gesamte Prüfungsprogramm, einschließlich des dem angegriffenen Staatsakts zugrunde liegenden Gesetzes. Das ist so, weil ein Grundrechtseingriff nur dann verfassungsmäßig ist, wenn das Gesetz, welches ihn erlaubt, selber verfassungsmäßig ist. Es besteht also in jedem Verfassungsbeschwerde-Verfahren die Möglichkeit, dass ein parlamentarisches Gesetz aufgehoben (und nicht etwa nur im Anlassfall außer Anwendung gelassen) wird. Im Ergebnis spielt es für die Beeinträchtigung des demokratischen Gesetzgebers keine Rolle, in welcher Verfahrensart ein Gesetz für nichtig erklärt wird. Das Gefahrenpotential für die Gewaltenteilung ist bei abstrakter wie konkreter Normenkontrolle und bei der Verfassungsbeschwerde das gleiche. Insoweit unterscheiden sich nur die Organ- und die Föderalismusstreitigkeiten von diesen Verfahren, weil dort ein Gesetz nicht für nichtig erklärt, sondern nur festgestellt werden kann, ob Maßnahmen oder Unterlassungen des Antragsgegners das Grundgesetz verletzt haben.



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Das demokratische Problem liegt also in der Kompetenz des Verfassungsgerichts zur Normenkontrolle, nicht in bestimmten Verfahrensarten. Aber worin genau besteht es und ist es so gewichtig, dass es zur Illegitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit führt? Habermas diskutiert die Frage ohne Berücksichtigung der Organisations- und Verfahrensbestimmungen der Verfassung nur in Bezug auf die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, die er als solche nicht in Zweifel zieht, wie es etwa Anhänger einer Vorstellung tun würden, die Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip identifiziert. Für sie gibt es nur ein einziges Grundrecht, nämlich das Recht auf Beteiligung an der staatlichen Willensbildung. Habermas stellt in diesem Zusammenhang zwei Erwägungen an. Die eine knüpft an die besondere Vagheit der Grundrechte, die andere an das heute vorherrschende Verständnis der Grundrechte an. Die Vagheit der Grundrechte kommt in den Blick, weil sie so weitreichend sein könnte, dass eine rationale Interpretation nicht mehr möglich wäre (296ff.; siehe auch Kap. V). Das Verfassungsgericht würde dann im Gewand der Verfassungsinterpretation Verfassungspolitik betreiben und damit die Gewaltenteilung sprengen. Interpretationsbedarf ist freilich eine Eigenschaft aller Rechtsnormen. Der Unterschied zwischen Grundrechten und detaillierteren Bestimmungen ist insofern nur ein gradueller, kein kategorischer. Aus dem höheren Grad an Unbestimmtheit mögen sich größere Schwierigkeiten bei der Konkretisierung ergeben, strukturell handelt es sich aber, wie Habermas unter Berufung auf Konrad Hesse annimmt, um gleichartige Vorgänge. Daher „müssen die weitgehenden Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts die Logik der Gewaltenteilung nicht gefährden“ (299).1 Größere Aufmerksamkeit widmet er der Frage, ob die Grundrechte nur so lange einer rationalen Anwendung zugänglich sind, wie sie auf ihre negative Dimension beschränkt bleiben (299f.). Diese Sichtweise war längere Zeit vorherrschend und wird gern als „klassisch“ bezeichnet. Sie hat jedoch mit dem LüthUrteil des Bundesverfassungsgerichts von 1958 ihr Ende gefunden (BVerfGE 7, 198). Hatte man bis dahin überwiegend angenommen, die Grundrechte seien ausschließlich subjektive Rechte des Einzelnen mit vertikaler Richtung auf den Staat und negativer, staatsbegrenzender Wirkung, so stellen sie nach dem LüthUrteil auch objektive Werte dar, und zwar die höchstrangigen einer Gesellschaft, und sind deswegen nicht auf vertikale Richtung beschränkt, sondern entfalten auch horizontale Wirkung.

1 Die Berufung auf Konrad Hesse (1990, 219) lässt allerdings nicht erkennen, dass dieser seine Schlussfolgerung gerade auf methodologische Erwägungen stützt, welche Habermas ablehnt.

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Später zog das Bundesverfassungsgericht aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte auch die Konsequenz für das in Lüth offen gebliebene dritte Element des traditionellen Grundrechtsverständnisses. Danach sind die Grundrechte nicht nur negative, staatsbegrenzende Rechte, sondern auch positive Rechte und verpflichten den Staat als solche nicht nur zum Unterlassen von Freiheitsverletzungen, sie erlegen ihm vielmehr auch Handlungspflichten zum Schutz der grundrechtlich gesicherten Freiheiten vor Bedrohungen von privater Seite auf (BVerfGE 39, 1). Habermas nimmt das als Paradigmenwechsel von einer liberalen zu einer sozialstaatlichen Grundrechtstheorie wahr und verteidigt diesen Wechsel gegen diejenigen Autoren, welche darin einen Rationalitätsverlust sehen wollen, der die Verfassungsrechtsprechung im selben Maß zur Verfassungspolitik mache. Für diese Auffassung steht hier vor allem Böckenförde (304ff.; Böckenförde 1991, 159).2 Habermas wehrt sich allerdings dagegen, das liberale Grundrechtsparadigma von seinen Realisierungsbedingungen zu abstrahieren. Dessen Überzeugungskraft hing an der Annahme, dass die Freisetzung der Einzelnen zur individuellen Interessenverfolgung aufgrund des Marktmechanismus automatisch zum gerechten Interessenausgleich führen würde. Diese Annahme ist für Habermas schon mit der Marx’schen Kritik erschüttert worden. Seines Erachtens „bringt erst der sozialstaatliche Paradigmenwechsel jene objektivrechtlichen Gehalte subjektiver Freiheitsrechte wieder zur Geltung, die im System der Rechte immer schon enthalten waren“ (306). Habermas räumt zwar ein, dass mit dem Paradigmenwechsel ein Machtzuwachs der Justiz einhergeht, fürchtet aber nicht, dass er zwangsläufig zur Illegitimität der Verfassungsrechtsprechung führt. Um den Machtzuwachs einzugrenzen, will Habermas in einer späteren Passage dem Verfassungsgericht nur die Verwerfung von Gesetzen, nicht aber Aufträge an den Gesetzgeber gestatten (319). Eine Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis sei damit gleichwohl nicht verbunden. Das ist aber fraglich, denn das neue Paradigma besteht gerade darin, dass neben die subjektive Abwehrdimension der Grundrechte die objektive Dimension tritt, derzufolge auch die Voraussetzungen des individuellen Freiheitsgebrauchs in den Grundrechtsschutz einbezogen werden und die Grundrechte den Einzelnen überdies vor Freiheitsbedrohungen schützen, die nicht vom Staat, sondern von dritter Seite ausgehen. Das heißt aber nichts anderes, als dass aus der Verfassung Hand-

2 Dass auch ich in diesem Zusammenhang erwähnt werde (305, Fn. 15), ist allerdings missver­ ständlich, wie bereits Eberl (2006, 117) bemerkt hat. Ich verteidige den Paradigmenwechsel gegen seine Kritiker, vgl. meinen von Habermas zitierten Aufsatz „Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?“ (Grimm 1980) und Grimm 1991.



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lungsaufträge für den Gesetzgeber folgen. Es bedarf daher einer besonderen Begründung, warum diese vom Verfassungsgericht dennoch nicht durchgesetzt werden sollen.

VI.2 Zur Verfassungsinterpretation Am Ende von Abschnitt I Unterabschnitt (1) des VI. Kapitels steht also – nach einem starken Ja zur Verfassung in den vorangehenden Kapiteln – ein zögerliches, in eine Verneinungsformel gekleidetes Ja zur Verfassungsgerichtsbarkeit und besonders zu ihrer Kernfunktion, der Normenkontrolle: Sie muss die Gewaltenteilung nicht gefährden, nämlich dann nicht, wenn sie methodisch richtig ausgeübt wird (vgl. die Unterscheidung zwischen prinzipieller und modaler Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit bei Eberl 2006, 103f.). Der Fokus verschiebt sich damit von der Institution zur Interpretation. Ob diese so beschaffen ist, dass sie die Gewaltenteilung nicht gefährdet, wird im folgenden Abschnitt II erörtert, und so halbherzig Habermas sich zur Normenkontrolle bekannt hat, so entschieden trumpft er hier auf: Das Bundesverfassungsgericht macht es falsch. Der Fehler liegt für Habermas in dem Verständnis der Verfassungsnormen, besonders der Grundrechte, als Werte (309). „Eine solche Wertejudikatur […] macht nämlich jene Art von implizit rechtsetzender Normenkonkretisierung nötig, die die Verfassungsrechtsprechung in den Stand einer konkurrierenden Gesetzgebung versetzt.“ (314f.) Das Verfassungsgericht verwandle sich dadurch, dass es sich von der Idee der Verwirklichung verfassungsrechtlich vorgegebener Werte leiten lasse, in eine „autoritäre Instanz“ (315). Die „Logik der Gewaltenteilung“ werde auf diese Weise untergraben. In der „Angleichung von Rechtsprinzipien an Werte“ sieht Habermas daher das eigentliche Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland (310 unter Berufung auf Carl Schmitt). Grundlage dieser Annahme ist eine Entgegensetzung von Werten und Rechten, die Habermas entwickelt und mit einer Unterscheidung von Ethik und Moral verbindet (139, 197ff.). Werte werden als „intersubjektiv geteilte Präferenzen“ verstanden; sie „drücken die Vorzugswürdigkeit von Gütern aus, die in bestimmten Kollektiven als erstrebenswert gelten und durch zielgerichtetes Handeln erworben oder realisiert werden können“ (311). Auf der Rechtsseite ist die Terminologie weniger übersichtlich. Zur Sprache kommen Normen, Rechtsnormen, höherstufige Normen, einfache Normen, Rechte, Grundrechte, Prinzipien, Rechtsprinzipien, Grundsätze, Regelungssysteme (310ff.). Den Oberbegriff bilden ersichtlich „Normen“ (hier stets verstanden als Rechtsnormen). Sie zerfallen in höherstufige und einfache. Zusammengenommen ergeben sie ein Regelungssystem. Rechte sind Normen. Dasselbe gilt für Grundrechte. Sie sind

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zugleich Rechtsprinzipien und als solche ebenfalls Normen, und zwar höherstufige, die das Regelungssystem strukturieren und einfache Normen rechtfertigen. Normen und Werte unterscheiden sich für Habermas in mehreren Hinsichten (310ff.). Normen haben einen „Verallgemeinerungstest“ durchlaufen und gelten universal, Werte gelten lediglich partikular. Normen sind verbindlich, Werte sind empfehlenswert oder erstrebenswert. Die Befolgung von Normen ist moralisch geboten, die Verwirklichung von Werten lediglich ethisch. Werte können einander widersprechen, Normen fügen sich zum System, in dem Widerspruch ausgeschlossen ist. Normen gelten absolut, sie sind deontologisch, Werte gelten relativ, sie sind teleologisch. Bei der Anwendung von Normen auf Fälle gibt es nur eine richtige Lösung, während Werte verschiedene Lösungen zulassen. Die Geltung eines Wertes hängt davon ab, ob er im konkreten Fall nicht von einem anderen Wert verdrängt ist, Normen gelten unbedingt. Aus all dem ergibt sich der Vorrang von Normen vor Werten. Ein Gericht, das Grundrechte als Werte versteht, verkennt den juristischen Charakter der Verfassung (312). In der Tat stützt das Bundesverfassungsgericht seine Verfassungsinterpretation auf ein werthaftes Verständnis des Grundgesetzes, namentlich der Grundrechte. Der von Habermas so genannte Paradigmenwechsel in der Grundrechtsinterpretation hat hier seine Grundlage. Der Übergang vom liberalen zum sozialstaatlichen Grundrechtsverständnis, der sich im Lüth-Urteil vollzogen hat, wird mit der Werthaftigkeit von Grundrechten begründet. Will man die Auslegungspraxis des Bundesverfassungsgerichts auf eine knappe Formel bringen, kann man sagen, dass das Gericht bestrebt ist, dem Wert, der in einer Verfassungsnorm rechtlichen Ausdruck gefunden hat, zu größtmöglicher Verwirklichung unter den jeweils gegebenen Verhältnissen zu verhelfen. Man kann freilich zweifeln, ob die Wertejudikatur, welche Habermas verwirft, mit der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts identisch ist.3 Habermas’ Wertbegriff und seine Implikationen konnte das Gericht nicht vor Augen haben, als es begann, die Bedeutung der Grundrechte zu klären. Der Wertbegriff wurde damals anders verstanden und wird auch heute überwiegend nicht im Sinn von Habermas verwendet. Dasselbe gilt für Habermas’ Abgrenzung von Moral und Ethik. Eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat Habermas nicht vorgenommen. Über die Intentionen des Verfassungsgerichts gewinnt man größere Klarheit, wenn man sich vergewissert, wogegen sie sich richteten. Es deutet dann alles darauf hin, dass es sich mit seiner methodologischen Grundentscheidung von dem juristischen Positivismus absetzen wollte, der seit der Reichsgründung

3 Nach Schlink (1998, 374) ist die Wertorientierung des Bundesverfassungsgericht „a myth“.



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von 1871 die Staatsrechtslehre beherrschte. Dem Positivismus ging es um eine von allen subjektiven, in Sonderheit allen politischen, Elementen gereinigte, ausschließlich rechtliche Verfassungsinterpretation. Der Sinn einer Norm durfte daher nur in ihrem Text aufgesucht werden. Das Handwerkszeug des Staatsrechtlers bestand allein aus Grammatik und Logik, wie es das Schulenhaupt Paul Laband programmatisch formuliert hatte (Laband 1887, Vorwort). Jeder außertextliche Bezug hätte die Verfassungsinterpretation entwissenschaftlicht. Ausgeschlossen waren damit zum einen die philosophischen Wurzeln der Normen. Selbst die Zwecke, welche der Gesetzgeber mit einer Norm verfolgte, blieben der Norm äußerlich und gehörten zur Sphäre der Politik. Ausgeschlossen war zum anderen die Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit, in der die Norm ihre Wirkung entfalten sollte. Die Wirklichkeit kam einem Positivisten nur in Gestalt des Falles in den Blick, auf den die Norm anzuwenden war. Die Frage, ob eine Norm die ihr zugedachte Wirkung in der Wirklichkeit entfaltete oder, etwa wegen eines inzwischen eingetretenen sozialen Wandels, verfehlte, stellte sich dem Rechtsanwender nicht. Sie lag ausschließlich in der Zuständigkeit des Gesetzgebers. Insofern versprach der Positivismus eine strikte Wahrung der Gewaltenteilung. Zwar wäre es ein Fehler, die positivistische Methode für einen kruden Tex­ tualismus zu halten. Vielmehr erlaubte sie es, Normen auf den Begriff zu bringen und die Begriffe zum System zusammenzuführen, aus dem dann wiederum auf den Sinn einer Norm geschlossen werden konnte und Lücken im positiven Recht sich füllen ließen. Dem Positivismus in seiner aufgeklärten Variante eignete also durchaus eine beträchtliche Produktivität. Doch erschöpfte sie sich weitgehend im Formalen. Die Verfassung war dann ein Gesetz wie jedes andere mit dem einzigen Unterschied, dass zu seiner Veränderung eine Supermajorität nötig war. Demokratie reduzierte sich auf das Mehrheitsprinzip, der Rechtsstaat auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Grundrechte verlangten nur, dass Freiheitsbeschränkungen einer gesetzlichen Grundlage bedurften. Für den Inhalt des Gesetzes waren sie ohne Bedeutung. Die antiformalistischen Ansätze, die in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik aufkamen, wurden 1933 abgebrochen, ehe sie sich durchsetzen konnten. Eine Rückkehr zum Positivismus schien nach der Unfähigkeit des formalistischen Verfassungsverständnisses, die Machtübernahme Hitlers zu verhindern, und angesichts des Wertebedürfnisses, das dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus folgte, nicht in Betracht zu kommen. Ein materiales Verfassungsverständnis, insbesondere ein materiales Grundrechtsverständnis, wurde für geboten erachtet und war ja auch in der Begründung der neuen Verfassungsordnung auf die Menschenwürde selbst angelegt. Das Bundesverfassungsgericht nahm das auf und trieb es zugleich an, indem es die Verfassung als Wertordnung

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und die Grundrechte als juristischen Ausdruck von Werten verstand und sie im Rekurs auf diese Werte auslegte und anwandte. Der Vergangenheitsbezug tritt in den frühen Urteilen noch deutlich hervor. Im SRP-Verbotsurteil von 1952 heißt es, Parteien dürften erst dann verboten werden, „wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaats erschüttern wollen [...] Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.“ (BVerfGE 2, 1 [12]) Auch das Elfes-Urteil von 1957, in dem das Gericht zu klären hatte, was der Schutzgegenstand des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz ist, stützt den Wertegesichtspunkt gerade auf die Abkehr von der Vergangenheit, hier die Schwäche der Grundrechte in der Weimarer Reichsverfassung, und hebt stattdessen auf die Menschenwürde ab, „die im Grundgesetz der oberste Wert ist“ (BVerfGE 6, 32 [40f.]). Im Lüth-Urteil zieht das Gericht jene dogmatischen Konsequenzen aus dem Wertverständnis, die Grundrechtstheorie und -interpretation revolutionierten und das Fundament des Paradigmenwechsels vom liberalen zum sozialstaatlichen Grundrechtsverständnis bilden, den Habermas bejaht. Dem Gericht war also an der Überwindung des formalistischen Verfassungsverständnisses des Kaiserreichs und der Weimarer Republik gelegen. Dafür setzte es, zeitgemäß und zeitbedingt, das Wort „Wert“ ein, ohne damit doch all jene Hypotheken zu übernehmen, die Habermas dem Wertbegriff aufbürdet. Als die Methodendebatte in der Staatsrechtslehre der 1970er Jahre die Missverständlichkeit des Wertbegriffs gezeigt hatte (Forsthoff 1959; Schmitt 1967; Goerlich 1973; Denninger 1975), war das Verfassungsgericht schnell bereit, ihn aufzugeben und die Grundrechte stattdessen von den Prinzipien, die hinter ihnen stehen, oder der gesellschaftlichen Funktion, die ihnen zugedacht sind, her zu deuten, ohne dass damit ein Wechsel in der Sache verbunden war. An die Stelle eines werthaften Verfassungsverständnisses setzt Habermas ein prozeduralistisches. Die Verfassung ist weder Rahmenordnung noch Gesamtrechtsordnung, sondern Verfahrensordnung. „Allein die Verfahrensbedingungen der demokratischen Genese von Gesetzen sichert die Legitimität des gesatzten Rechts.“ (320) Mit der Existenz inhaltlicher Grundrechte verträgt sich das, weil die Selbstgesetzgebung des Volkes von inhaltlichen Bedingungen abhängig ist. Das Verfassungsgericht „soll eben jenes System der Rechte hüten, welches die private und öffentliche Autonomie der Staatsbürger ermöglicht“ (320). Trotz der



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gleichen Ursprünglichkeit werden die Grundrechte damit aber doch verfahrensakzessorisch. Das Verfassungsgericht soll sie so weit prüfen, wie sie „die Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahrensbedingungen des demokratischen Gesetzgebungsprozesses“ sichern (320). Das Interpretationsproblem verschwindet durch die Deutung der Grundrechte als Normen statt als Werte freilich nicht. Vielmehr bleibt es dabei, dass die Kluft zwischen der generell und abstrakt formulierten Norm und dem individuellen und konkreten Fall durch Interpretation überbrückt werden muss. Erforderlich ist die Konkretisierung der Norm zu einer Regel, die den Fall entscheidbar macht. Zwischen beiden besteht ein Ableitungszusammenhang, der durch die Interpretationsmethode zu sichern ist. Die Konkretisierung kann einfach oder schwer sein, kurze oder lange Begründungsketten erfordern, je nach Bestimmtheit oder Vagheit der Norm und je nach Normalität oder Anormalität des Falles. Bei den Grundrechten ist der Weg vom Normtext zur Fallentscheidung besonders lang. Grundrechte sind nicht nur erheblich vager als die meisten anderen Rechtsnormen. Sie haben auch eine andere Struktur als klassische Rechtsnormen. Diese sind konditional formuliert, definieren Tatbestandsmerkmale und ordnen, falls diese vorliegen, eine Rechtsfolge an. Grundrechte erklären demgegenüber einen bestimmten, meist nur mit einem einzigen Wort gekennzeichneten Gegenstand, ein Verhalten (seine Meinung äußern), eine gesellschaftliche Einrichtung (Presse), als frei oder sichern einen Freiheitsraum (Wohnung) und erlauben dann dem Gesetzgeber (und auf Grund eines Gesetzes der Exekutive und der Judikative), diese Freiheit zu beschränken. Sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Ermächtigungsseite ist damit nahezu alles offen. Offen ist, was der Gegenstand einschließt (bei der Meinungsäußerung z. B. „naked dancing“ oder Wahlkampfspenden, wie der US Supreme Court annimmt, dem Bundesverfassungsgericht aber nicht in den Sinn käme) und was er ausschließt (z. B. erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung, wie das Bundesverfassungsgericht annimmt, aber nicht der amerikanische Supreme Court). Offen ist, was in Bezug auf die Presse oder das Eigentum „frei“ heißt. Offen ist ebenfalls, wie weit der Gesetzgeber bei einer Grundrechtseinschränkung gehen darf (laut Grundgesetz bis zum „Wesensgehalt“, wie immer dieser zu bestimmen ist). Um Interpretation kommt man also nicht herum, und dass diese Interpretation nicht einfach die Aufdeckung eines im Grundrecht schon immer enthaltenen Sinns ist, sondern Optionen eröffnet, die sich nicht in richtig oder falsch einteilen lassen, wie heute kaum noch bezweifelt wird. Trotzdem will Habermas angelehnt an Dworkin an der Möglichkeit einer einzig richtigen Entscheidung festhalten (317). Wie man diese angesichts der Offenheit der Grundrechte gewinnt, lässt Habermas offen. Die Normen „finden eben im Anwendungsdiskurs ihre eindeu-

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tige Bestimmung“ (317). Aber wie? Daran entscheidet sich die Frage nach Rationalität und Irrationalität der Rechtsanwendung. Das Problem spitzt sich zu, wenn verschiedene Grundrechte miteinander in Konflikt geraten. Solche Konflikte sind in der verfassungsgerichtlichen Praxis an der Tagesordnung. Wenn der Gesetzgeber ein Grundrecht einschränkt, steht als Motiv dahinter nicht selten der Schutz eines anderen Grundrechts. Durch den Paradigmenwechsel in der Grundrechtstheorie hat sich die Häufigkeit von Grundrechtskollisionen erhöht. Erfüllt der Gesetzgeber seine Schutzpflicht für ein Grundrecht, das von dritter Seite gefährdet wird, tut er dies durch Beschränkung von Grundrechten des Gefahrenverursachers. Es können sogar intra-grundrechtliche Kollisionen auftreten, wenn die subjektive Freiheit des Grundrechtsträgers zugunsten des objektiven Schutzgehalts des Grundrechts eingeschränkt wird, etwa die Freiheit des Zeitungsverlegers zugunsten der Freiheitlichkeit des Pressewesens insgesamt. Diese Widersprüche können abstrakt in der Schwebe gehalten werden. Gilt es, konkrete Fälle zu entscheiden, muss entschieden werden, welches der betroffenen Grundrechte am Ende überwiegt. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Lösung solcher Konflikte den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelt, der heute die Hauptlast des Grundrechtsschutzes trägt und von der Mehrzahl der Verfassungsgerichte in aller Welt übernommen worden ist (siehe Barak 2012, 182). Grundrechtseingriffe sind danach nur verfassungsgemäß, wenn sie auf einem Gesetz beruhen, welches das Grundrecht nicht unverhältnismäßig beschränkt. Das läuft auf eine Abwägung zwischen dem durch ein Gesetz beschränkten Grundrecht und dem Schutzgut, das hinter dem beschränkenden Gesetz steht (meist selber ein Grundrecht), hinaus. Es ist diese Abwägung, welche die schärfste Kritik von Habermas hervorruft. „Eine an Prinzipien orientierte Rechtsprechung hat darüber zu befinden, welcher Anspruch und welche Handlung in einem gegebenen Konflikt rechtens ist – und nicht über die Ausbalancierung von Gütern und über die Relationierung von Werten.“ (317) Die Abwägung ist demgegenüber kein juristisch rationaler Vorgang. „Weil Normen und Grundsätze auf Grund ihres deontologischen Geltungssinns allgemeine Verbindlichkeit und nicht nur spezielle Vorzugswürdigkeit beanspruchen können, besitzen sie eine größere Rechtfertigungskraft als Werte; Werte müssen von Fall zu Fall mit anderen Werten in eine transitive Ordnung gebracht werden. Weil dafür rationale Maßstäbe fehlen, vollzieht sich die Abwägung entweder willkürlich oder unreflektiert nach eingewöhnten Standards und Rangordnungen.“ (315f.) Die Möglichkeit von Grundrechtskollisionen verschwindet jedoch nicht, wenn man Grundrechte als Normen und nicht als Werte versteht. Was soll also für Habermas an die Stelle der Abwägung treten? Habermas löst das Problem für



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sich, indem er annimmt, dass es sich bei den sogenannten Grundrechtskonflikten nur um einen scheinbaren Widerspruch handelt. In Wirklichkeit trifft immer nur ein Grundrecht auf einen Fall zu. Dieses muss ermittelt worden sein, ehe der Anwendungsvorgang beginnt. Sein Augenmerk richtet sich daher auf den Auswahlprozess der einschlägigen Norm aus einer Mehrzahl prima facie in Betracht kommender Normen. Welche Norm einschlägig ist und welche zurücktritt, ist für ihn eine Frage der Angemessenheit. Indessen bedeutet „Angemessenheit“ für Habermas nicht Abwägung, sondern „so viel wie Gültigkeit eines aus einer gültigen Norm abgeleiteten singulären Urteils, durch das die zugrundeliegende Norm erst ‚gesättigt‘ wird“ (317). Die ausgeschlossenen Normen verlieren nicht ihre Gültigkeit, sondern nur ihre Anwendbarkeit auf den zu entscheidenden Fall. „Die einschlägigen und die zurücktretenden Normen verhalten sich zueinander nicht wie konkurrierende Werte, die als Optimierungsgebote in jeweils verschiedenem Maß ‚erfüllt‘ werden, sondern wie ‚angemessene‘ und ‚unangemessene‘ Normen“ (317). Habermas’ Vorstellung bereitet zwei Schwierigkeiten, die beide daraus resultieren, dass er sich zum Wie der Normermittlung und -anwendung nicht äußert. Zum einen ist schwer zu sehen, wie das einschlägige Grundrecht im Fall der Grundrechtskollision ohne eine irgendwie geartete (nicht notwendig nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip erfolgende) Abwägung bestimmt werden könnte. Da einschlägig dasjenige von mehreren in Betracht kommenden Grundrechten sein soll, welches „am besten zu der unter allen relevanten Gesichtspunkten möglichst erschöpfend beschriebenen Anwendungssituation passt“ (317), liegt die Vermutung nicht fern, dass hier eben die Erwägungen angestellt werden müssen, die das Bundesverfassungsgericht bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt. Habermas würde, wenn das zutrifft, die Verhältnismäßigkeits-Erwägungen, die er aus der Normanwendung eliminieren will, auf der vorausliegenden Stufe der Normbestimmung vornehmen. Das wäre dann gegenüber der verfassungsgerichtlichen Praxis lediglich eine Verschiebung. Um eine Abwägung käme man nur herum, wenn man von einer Hierarchie der Grundrechte ausginge, so dass bei einer Grundrechtskollision immer schon im Voraus feststünde, welche Norm zum Tragen kommt. Eine solche Hierarchie lehnt Habermas jedoch ab, und sie wäre auch nicht empfehlenswert, weil sie Konstellationen nicht in den Griff bekäme, in denen der Gesetzgeber das höherrangige Grundrecht minimal beeinträchtigt, um von dem rangniederen Grundrecht einen schweren Schaden abzuwenden. Zum zweiten ist das als einschlägig ermittelte Grundrecht nicht ohne weiteres auf den Fall anwendbar. Es bleibt so unbestimmt wie vorher. Es muss also im Blick auf den Fall konkretisiert werden. Der Fall ist aber gerade durch die Kollision zweier Grundrechtspositionen charakterisiert. Die Entscheidung berührt

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also Grundrechte Dritter. Diese dürfen jedoch bei der Interpretation, obwohl sie gültig bleiben, nicht mehr berücksichtigt werden. Habermas läuft also Gefahr, unausgewogene Ergebnisse zu gewinnen, oder muss die Erwägungen aus dem Stadium der Normermittlung hier wiederholen. Eine kleine Passage in Habermas’ Werk könnte allerdings auch darauf hindeuten, dass es nicht das Verhältnismäßigkeitsprinzip an sich ist, welches er ablehnt, sondern eine bestimmte Art seiner Handhabung. Nach der Versicherung, dass letztlich nur Rechte im Argumentationsspiel stechen dürfen, zählt er unter Berufung auf Ingeborg Maus beispielhaft auf, was nicht „stechen“ darf, nämlich Gesichtspunkte wie die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, die Funktionsfähigkeit der Unternehmen und der Gesamtwirtschaft. Würden die Grundrechte in ihrem deontologischen Sinn ernstgenommen, blieben sie „einer solchen Kosten-Nutzen-Analyse“ entzogen (316, Hervorhebung von mir). In der Tat weist diese Bemerkung auf eine Unschärfe in der Anwendungspraxis des Verhältnismäßigkeitsprinzips hin, die Kritik verdient. Bei der verfassungsrechtlichen Lösung von Fällen kommen diese Groß-Güter praktisch nicht vor. Selbst bei einem Gesetz, das im Interesse der inneren Sicherheit oder der wirksamen Strafverfolgung erlassen worden ist, steht niemals die Sicherheit oder die Strafverfolgung zur Debatte, sondern ein begrenzter Beitrag zu diesem Ziel, dem ein ebenso begrenzter Aspekt eines Grundrechts geopfert wird, so dass nicht Groß-Güter abgewogen werden, sondern Gewinne und Verluste für verfassungsrechtliche Garantien. Das wird nicht immer hinreichend beherzigt. Wird möglichst exakt bestimmt, ob ein Gesetz den Kern- oder den Randbereich eines Grundrechts betrifft und ob die Betroffenheit schwer oder geringfügig ist, und wird entsprechend exakt bestimmt, welcher Aspekt der kollidierenden Verfassungsposition durch das Gesetz gefördert wird und welchen Umfang und Effekt diese Förderung hat, dann kann auch auf der letzten Stufe des Verhältnismäßigkeitstests eine juristisch-rationale Prüfung stattfinden. Fehlt es für die Abschätzung der Wirkung einer gesetzlichen Maßnahme an gesichertem Wissen, so dass man auf Prognosen angewiesen ist, begnügt sich das Verfassungsgericht damit, die Gewinnung der Prognose zu überprüfen, ersetzt aber nicht die Prognose des Gesetzgebers durch eine eigene.

VI.3 Zur Rolle von Verfassungsgerichten Obwohl der dritte Unterabschnitt des VI. Kapitels im Titel Ausführungen über „Die Rolle der Verfassungsrechtsprechung im liberalen, republikanischen und prozeduralistischen Verständnis von Politik“ verspricht, verflüchtigt sich die



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Verfassungsgerichtsbarkeit hier zusehends. Habermas leitet den Abschnitt mit der Bemerkung ein, dass der Streit um die Legitimität der Verfassungsrechtsprechung in den USA stärker unter politologischen als unter rechtsmethodologischen Gesichtspunkten geführt werde. Es sind dann auch fast ausschließlich amerikanische Autoren, mit denen er sich im Folgenden auseinandersetzt. Nachdem gegen Ende des zweiten Abschnitts bereits John Ely zu Wort gekommen war, geht er nun vor allem auf Frank Michelman, Cass Sunstein und Bruce Ackerman ein. Diese Autoren haben für Habermas den Vorzug, die Rolle der Verfassungsrechtsprechung nicht vom liberalen Politikverständnis her zu bestimmen. Habermas geht davon aus, dass sich das liberale Politikverständnis von den bürgerlichen Interessen der Privatleute, nicht von den öffentlichen Interessen der Staatsbürger ableitet. Der Staat wird daher im Liberalismus nur als Garant einer gesellschaftlichen Ordnung benötigt, die sich den gerechten Interessenausgleich vom Markt verspricht. Seine Aufgabe reduziert sich unter diesen Umständen darauf, die Ordnung vor Störungen zu bewahren oder sie wieder herzustellen, wenn sie gestört worden ist. Politik dient deswegen den Interessen der Marktteilnehmer und ist im Parteienwettbewerb um Wählerstimmen selbst marktmäßig organisiert. Der Verfassung fällt die Aufgabe zu, die Bindung des Staates an die privaten Interessen zu gewährleisten. In diesem Modell schützen die Grundrechte vor allem die privaten Freiheiten gegen staatliche Eingriffe, die nicht strikt auf Gefahrenabwehr beschränkt sind. Um das Gefahrenpotential des Eingriffs kreist das gesamte öffentliche Recht im Liberalismus. Die Grundrechte setzen dem Staat Grenzen. Sie wirken negativ, nicht positiv. Für den voraussetzungsvollen Charakter der Freiheit und für die Freiheitsgefahren, welche von dritter Seite ausgehen, sind die Grundrechte blind, weil die soziale Gerechtigkeit als keiner staatlichen Bewirkung bedürftig angesehen wird, sondern sich aus dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte automatisch ergibt. Was das für die Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet, lässt sich nur indirekt erschließen, es wird bei Habermas nicht weiter entwickelt. Sie folgt aber zwangsläufig der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte und gibt den Privatleuten ein rechtliches Mittel an die Hand, Grundrechtseingriffe auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Es muss freilich betont werden, dass der Liberalismus keine eigenständige Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit und auch nur in den USA Gerichte mit verfassungsgerichtlichen Kompetenzen entwickelt hat. Außerhalb Amerikas hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit erst in Reaktion auf die Erfahrung mit totalitären, autoritären und rassistischen Systemen weltweit ausgebreitet. Demgegenüber ist den amerikanischen Autoren, die Habermas unter dem Titel des Republikanismus zusammenfasst, ein eher verfahrens- als ergebnis-

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bezogener Ansatz eigen, den Habermas teilt, ohne deswegen deren Vorstellungen über die Rolle von Verfassungsgerichten ungeschmälert zu übernehmen. Mit Ely verbindet ihn die Auffassung, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit sich in erster Linie „auf die Bedingungen der demokratischen Genese der Gesetze“ beziehen soll (322). Auch stimmt er Ely in seiner Verurteilung eines paternalistischen Verständnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit zu. Die daraus abgeleitete Forderung nach judicial self-restraint nimmt Habermas aber nicht beifällig auf. Eine „offensive Verfassungsrechtsprechung“ kann dort, wo es um die „Durchsetzung des demokratischen Verfahrens und der deliberativen Form politischer Meinungs- und Willensbildung geht, nicht schaden, sie ist sogar normativ gefordert“ (340). Vollends entfernt Habermas sich von Ely, wenn dieser verlangt, dass sich die Verfassungsrechtsprechung von einer Orientierung an Rechtsgrundsätzen moralischer oder ethischer Herkunft freihalten solle. Für Habermas stützt sich der demokratische Prozess dagegen selbst auf Gerechtigkeitsprinzipien. Das Konzept der Verfahrensgerechtigkeit verlangt eine Demokratietheorie, die er bei Ely nicht wiedererkennen kann (323f.). Er findet sie aber bei den republikanischen Autoren, die sich gerade darin von Ely unterscheiden. „Der republikanische Begriff der ‚Politik‘ bezieht sich nicht auf die staatlich garantierten Rechte privater Bürger auf Leben, Freiheit und Eigentum, sondern in erster Linie auf die Selbstbestimmungspraxis gemeinwohlorientierter Staatsbürger, die sich als freie und gleiche Angehörige einer kooperierenden und sich selbst verwaltenden Gemeinschaft verstehen.“ (325f.) Bei Michelman sollen Gerichte mit verfassungsrechtlichen Kompetenzen vor allem Hüter der deliberativen Demokratie sein. Diese ergibt sich aus einem Zusammenspiel der politischen Willensbildung im Parlament mit der politischen Meinungsbildung in der Gesellschaft. Die Anstöße erwartet Michelman aber eher von den Rändern als aus der Mitte des Meinungsspektrums. Deswegen ist es die Aufgabe eines Verfassungsgerichts, die randständigen oder abwesenden Stimmen zur Geltung zu bringen. Das kann für Michelman judicial activism statt deferentialism erfordern. Bei Ackerman erfährt dieser Gedanke für Habermas eine Wendung eines „pädagogischen Statthalters“ (338). Da das Volk nur in Ausnahmesituationen, nämlich „wenn die Geschichte heißläuft“ (337), handelnd in das politische Geschehen eingreift, bedarf es für die Intervalle einer Instanz, deren Mitglieder „als die Hüter einer aktuell stillgestellten, in den Routinen des parlamentarischen Geschäfts erstarrten Selbstbestimmungspraxis die Selbstbestimmungsrechte des Volkes vikarisch wahrnehmen“ (338). Damit kann sich Habermas nicht anfreunden, weil hier die Verfassungsgerichtsbarkeit gerade in die paternalistische Attitude zurückfällt, die Habermas im Verein mit Ely bekämpft, von der



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er aber auch bei Michelman trotz dessen Abneigung gegen den Paternalismus Spuren entdeckt. Sunstein wiederum will der Verfassungsgerichtsbarkeit die Prüfung übertragen, ob der Gesetzgeber seinen Beschlüssen eine rationale Analyse der regelungsbedingten Materie zugrunde gelegt hat. Entscheidungen, die lediglich auf der Macht bestimmter partikularer Interessen beruhen, genügen dem nicht. Was Habermas’ Auffassung entgegenkommt, ist der Umstand, dass bei diesem Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit die Ergebnisse des Gesetzgebungsprozesses sekundär sind. Ausschlaggebend ist vielmehr allein, ob der Entscheidung ein deliberativer Prozess vorausgegangen ist, der nicht von Privatmacht verzerrt war (336). Habermas wirft Sunstein aber vor, dass sein realistisches Bild von der Gesetzgebung zu oberflächlich bleibt, weil es die Differenz von Politik und Ethik nicht scharf genug vornimmt (346). Gerade wegen dieses Defizits, das Habermas bei republikanischen und kommunitaristischen Autoren generell feststellt, sieht er sich gezwungen, über deren Standpunkt hinauszugehen. Für ihn „kann das demokratische Verfahren seine legitimierende Kraft aber nicht mehr aus dem vorgängigen Einverständnis einer präsupponierten sittlichen Gemeinschaft ziehen, sondern nur noch aus sich selber“ (347). Die Angleichung der politischen Meinungs- und Willensbildung an ethische Selbstverständnisse eines Volkes reicht daher zur Legitimation von Politik nicht aus. Maßstab der Legitimität ist nicht das in Diskursen erreichte Einverständnis der Staatsbürger, sondern das mögliche Einverständnis aller. „Die Vernunft verkörpert sich dann allein in den formalpragmatischen Ermöglichungsbedingungen für eine deliberative Politik.“ (347) Für die Verfassungsrechtsprechung folgt daraus, dass sie allein diesen Ermöglichungsbedingungen verpflichtet ist. Eine solche Engführung der Verfassungsgerichtsbarkeit stellt Habermas allerdings vor zwei Probleme. Zum einen wird es schwer, die Gleichrangigkeit von privater und öffentlicher Autonomie aufrechtzuerhalten. Die private gerät vielmehr in eine dienende Rolle gegenüber der öffentlichen und wird vom Verfassungsgericht auch nur insoweit geschützt, wie sie diese stützt. Zum anderen kommt der Vorrang moralischer Standards vor ethischen unter Druck. Da es sich nicht ausschließen lässt, sondern im Gegenteil wahrscheinlich ist, dass sich Verfassungen auch an ethischen Standards orientieren, muss Habermas entweder, um an der Gesetzesbindung der Justiz festhalten zu können, den Vorrang moralischer Postulate opfern, oder, um an deren Vorrang festhalten zu können, die Verfassungsgerichtsbarkeit aus ihrer strikten Gesetzesbindung entlassen. Beide Probleme lassen sich nicht ohne Rest auflösen (vgl. Möllers 2009).

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Literatur Barak, A. 2012: Proportionality: Constitutional Rights and their Limitations, Cambridge. Böckenförde, E.-W. 1991: Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main, 159–199. Denninger, E. 1975: Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtenordnung. Zur Entwicklung der Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, in: JuristenZeitung 30, 545–550. Eberl, M. 2006: Verfassung und Richterspruch, Berlin. Forsthoff, E. 1959: Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion/E. Forsthoff/W. Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, Berlin, 35–62; Hesse, K. 1990: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg. Goerlich, H. 1973: Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden. Grimm, D. 1980: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung Heft 10, 704–709. Grimm, D. 1991: Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/Main, 221–240. Kelsen, H. 1929: Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Heft 5, 30–88. Laband, P. 1887: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 2. Aufl., Freiburg. Möllers, Ch. 2009: Demokratie und Recht, in: H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hrsg.), Habermas-Handbuch, Stuttgart, 254–263. Schlink, B. 1998: The Dynamics of Constitutional Interpretation, in: M. Rosenfeld/A. Arato (Hrsg.), Habermas on Law and Democracy: Critical Exchanges, Berkeley/Los Angeles, 371–378. Schmitt, C. 1967: Die Tyrannei der Werte, Berlin.

Hauke Brunkhorst

VII Deliberative Politik– ein Verfahrensbegriff der Demokratie Das Kapitel enthält drei Thesen zur deliberativen Demokratie, denen auch die Gliederung meines Textes folgt. Durch alle drei Thesen trennt sich die Theorie deliberativer Demokratie von allen Varianten empiristischer oder entscheidungstheoretischer Demokratietheorien ebenso wie von der alteuropäischen Theorie der Demokratie als bloßer Mehrheitsherrschaft. Sie markieren überdies die Äquidistanz deliberativer Demokratie zum modernen Liberalismus (Constants ‚Freiheit der Modernen‘) und zum alteuropäischen Republikanismus (Constants ‚Freiheit der Alten‘). Die Theorie deliberativer Demokratie behauptet demgegenüber einen internen Wahrheitsbezug egalitärer Selbstgesetzgebung (1). Sie setzt die Aufhebung des idealistischen Dualismus von Vernunft und Wirklichkeit voraus (2), und sie begründet die gesetzgeberischen Entscheidungsverfahren (Rechtsetzung und Konkretisierung) in öffentlichen Debatten und sozialen Kämpfen (3). Ich werde diese Aspekte im Folgenden zunächst am historischen Beispiel der Entstehung des parlamentarischen Regimes in der Zeit der Pariser 1848er Revolution erläutern. Dabei orientiere ich mich an einer kurzen Darstellung der Parlamentsdebatten von 1849 im 18. Brumaire von Marx. Ich verstehe diese Passage (Marx 1985, 134) und die implizite Parlamentarismustheorie des 18. Brumaire als eine frühe Anwendung der Theorie deliberativer Demokratie auf einen historischen Fall, die begrifflich reich genug ist, um Habermas’ These, eine angemessene empirische Beschreibung der politischen Praktiken müsse die „bereits verkörperten Partikel und Bruchstücke einer ‚existierenden Vernunft‘“ in der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit identifizieren (349), zu veranschaulichen. Genau das macht Marx, weil er sich 1. in seiner Darstellung der Französischen Revolution von 1848–51 durchgängig an Hegels Begriff des objektiven Geistes orientiert, den er selbst einmal als die Vernunft der Gesellschaft bezeichnet hat. Da er sich dabei 2. an den Emanzipationsinteressen der ausgebeuteten und ökonomisch unterworfenen Klassen orientiert, stößt er fast schon zwangsläufig auf die Strukturen einer kommunikativen Vernunft, die sich im parlamentarischen Regime verkörpert hat. Freilich hat Marx daraus noch nicht die Konsequenz gezogen, die am „Spiegel der Natur“ (Rorty) orientierte, liberale Theorie der Repräsentation aufzugeben. Außerdem hat sich die weltgesellschaftliche Wirklichkeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein weiteres Mal tiefgreifend verändert. Der damals jedem Zeitgenossen ins Auge springende, bipolare Klassenkonflikt hat sich zu einer multipolaren Konfliktkonstellation pluralisiert und die Weltgesellschaft hat die

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nationalstaatliche und nationalökonomische Perspektive, aus der Marx sie noch analysiert, vollständig dezentriert.

VII.1 Instrumentelles Interesse und nicht instrumentalisierbare Einsicht In dem Abschnitt über die parlamentarischen Kämpfe des Jahres 1849 konzentriert Marx sich auf die Parlamentsreden der Ordnungspartei, die in Personal und politischer Ausrichtung die Klasseninteressen der damaligen Bourgeoisie verkörpert. Die Redner dieser Partei erklärten jede Gesetzesvorlage der Opposition, von der Weinsteuer über die Pressefreiheit bis zum Eisenbahnbau für sozialistisch. Das sollte sich bis heute noch oft wiederholen. In den späten 1970er Jahren hatte die damalige deutsche Ordnungspartei, die Bayrische CSU, den Bundestagswahlkampf unter der Parole „Freiheit oder Sozialismus“ geführt und jede Begrenzung der Geschwindigkeit auf deutschen Autobahnen für sozialistisch erklärt, und in der europäischen Krise von 2014 galt deutschen Ordoliberalen schon die mögliche Übernahme griechischer Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank als Zeichen kommunistischer Unterwanderung. Margaret Thatcher war 1987 so weit gegangen, sogar den Begriff der Gesellschaft, der in Hegels Rechtsphilosophie noch die Summe aller liberalen Errungenschaften bezeichnete, für sozialistisch zu erklären. „Selbst der bürgerliche Liberalismus“, schreibt Marx über die Redner von 1849, „wurde für sozialistisch erklärt.“ Das instrumentelle Interesse der Sprecher der bürgerlichen Ordnungsparteien von 1849 bis 2014 ist offensichtlich. „Politik“, schreibt Habermas im ersten Absatz von Kap. VII, ist, funktional betrachtet, „eine Arena von Machtprozessen“, die sich „unter Gesichtspunkten interessengeleiteter strategischer Auseinandersetzungen oder systemischer Steuerungsleistungen analysieren“ lassen (349). Jedes Recht, jeder Diskurs, jedes Verfahren demokratischer Selbstbestimmung, jedes parlamentarische (aber auch jedes Räte- oder sonst wie sozialistische oder anarchistische) Regime hat eine gesellschaftliche Basis. Das „Reich der Freiheit“, das Marx Mitte des 19. Jahrhunderts beim Streik-, Assoziations- und Wahlrecht der Arbeiter beginnen lässt und von dem er annahm, es werde im kommenden Sozialismus verwirklicht, „beginnt erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“, während „die eigentliche, materielle Produktion“, die an der „Basis“ den „Stoffwechsel“ der Gesellschaft mit der Natur reguliert, „immer ein Reich der Notwendigkeit“ bleiben wird (Marx 1968, 828). Auch für Habermas gilt: Keine kommunikative Sozialintegration ohne systemische Stabilisierung (Habermas 1981, 228). Dementsprechend ist das demo-



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kratische Verfahren auf „Einbettungskontexte, die es selbst nicht regeln kann, angewiesen“ (370). Für den Autor des 18. Brumaire bestanden sie im Wesentlichen im ausdifferenzierten Wirtschaftssystem und der verselbständigten Staatsmacht; mittlerweile sind im Zuge fortschreitender funktionaler Differenzierung und Pluralisierung viele weitere Einbettungskontexte hinzugekommen, auch wenn bislang keiner das Erpressungspotential der globalisierten Ökonomie aufzubringen vermag und der Schrecken der Polizeigewalt auch nicht geringer geworden ist. Aber schon im brüchigen, noch schwach institutionalisierten parlamentarischen Regime der Französischen Republik von 1848 stößt der Versuch, die Erpressungsmacht des Kapitals in eine parlamentarische Diktatur der Bourgeoisie umzusetzen, auf Beschränkungen, die sich „der empirisch wirksamen Unterstellung einer demokratischen Genese des Rechts“ verdanken und nur um den Preis empfindlicher Legitimationseinbußen von politisch organisierter Macht und mächtigen Interessen aufgehoben werden können (389f.). Marx spricht in diesem Zusammenhang von der „moralischen Macht“ des Parlaments, die es daraus zieht, dass es das „gemeinsame Interesse“ der „ganzen Nation“ und die „mannigfaltigen Seiten des Nationalgeistes“ in sich versammelt (Marx 1985, 104ff.). Zwar versucht die Partei der Bourgeoisie 1849 solche Legitimationseinbußen zu vermeiden, indem sie alles als sozialistisch denunziert, was der Erhaltung ihrer materiellen Interessen in die Quere kommen und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse gefährden könnte. Dazu gehören jedoch, wie sie einsehen musste, ausgerechnet die verfassungsrechtlichen Errungenschaften, die sie sich einst mit stolzem Selbstbewusstsein zugeschrieben, wenn auch keineswegs ohne die Hilfe der andern Klassen, die die Arbeit tun, errungen hatte. Gerade die konstitutionellen, in der Revolution von 1848 zum ersten Mal (wenn auch nur für die eine Hälfte des menschlichen Geschlechts) ernsthaft demokratisierten Errungenschaften des Liberalismus sind nämlich keineswegs vollständig von den „anspruchsvollen Verfahrensbedingungen und Kommunikationsvoraussetzungen, auf die eine legitime Rechtsetzung angewiesen ist“ (349), entkoppelt. Im Gegenteil, das ist die zentrale These von Faktizität und Geltung, sie sind deren geschichtliche – d. h. geschichtlich begrenzte und veränderliche – Verkörperung, und sie verkörpern dabei kein der Gesellschaft transzendentes Sollen, sondern das, was die Gesellschaft in Abermilliarden von Sprechakten und symbolischen Äußerungen (mit Händen und Füßen, Zähnen, Zungen, Schall- und elektromagnetischen Wellen) tagtäglich ausstößt und aneinanderhängt: die weit verstreuten, aber überall anwesenden, materiellen Spuren kommunikativer Rationalität. Nur, weil er beobachtet, wie die Bourgeoisie in manipulativer Verfolgung ihres instrumentellen Klasseninteresses auf eine nicht-instrumentelle und nichtmanipulierbare Rationalität stößt, die im parlamentarischen Regime selbst verkörpert ist, kann Marx gleich im nächsten Satz, der der instrumentell motivierten

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Rhetorik der Abgeordneten der Bourgeoisie („Freiheit oder Sozialismus?“) folgt, behaupten, dass die Redner, ob sie es wissen oder nicht, dabei auf die richtige, zwar bestreitbare, aber nicht instrumentalisierbare Einsicht gestoßen sind, dass der normative Gehalt der „sogenannten (!) bürgerlichen Freiheiten“ weit über die vom bürgerlichen Klasseninteresse dominierte Gesellschaft hinausweist (Marx 1985, 134). Sprache, und sei ihre Rhetorik noch so sehr durch possessive Interessen motiviert, ist kein Privateigentum (Habermas 2001, 25f.). Das gilt auch vom öffentlichen Recht. Deshalb ist, wie Marx an der durch und durch instrumentellen Rhetorik der Bourgeoisie von 1849 beobachtet, die Beschwörung des sozialistischen Gespenstes „nicht bloße Redeform, Mode, Parteitaktik“, vielmehr hatte die Bourgeoisie „die richtige Einsicht, daß alle Waffen, die sie gegen den Feudalismus geschmiedet, ihre Spitzen gegen sie selbst kehrten […]. Sie begriff, daß alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten, also ‚sozialistisch‘ geworden waren.“ (Marx 1985, 134) Was sie in der instrumentellen Absicht, die Leute bei der Stange zu halten, beschwor, war kein Gespenst, sondern der objektive Geist des parlamentarischen Regimes, auf dessen Widerstand sie gestoßen war. Was die Bourgeois als sozialistisch denunzierten, war nichts anderes als das Allgemeine jener Freiheiten und Fortschrittsorgane, das Marx, in einer unmittelbar an Hegel anschließenden, Normativität und Faktizität vermittelnden Begrifflichkeit näher bestimmt als das, im einfachen Gesetz verkörperte, „gemeine Dasein der Freiheit“, als das Institution gewordene „gemeinsame Interesse“, als den vom parlamentarischen Regime erzeugten „allgemeinen Gedanken“ (Marx 1985, 107, 110, 134). In diesem Gedanken findet nicht die instrumentelle „Vernunft des Individuums“ Niederschlag, sondern die kommunistische „Vernunft der Gesellschaft“ (Marx 1972a, 104), die in der universellen Pressefreiheit (Marx 1972a, 99) und im allgemeinen Stimmrecht (Marx 1985, 110) existiert. Mit der von ihr selbst, im Bruch mit Großgrundbesitz und Monarchie durchgesetzten, egalitären Verfassung war die städtische Bourgeoisie an die Schranke gelangt, die demokratisch erzeugtes Recht ihrem Klasseninteresse in den Weg gelegt und sie schließlich zur Einsicht in den „sozialistischen“ Charakter ihrer eigenen Errungenschaften genötigt hatte: „Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie (die Verfassung von 1848 – H.  B.) durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen.“ (Marx 1973, 43)



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Was die Bourgeoisie erst in Schockstarre, dann in Raserei und Verfolgungswahn versetzt, schließlich in den politischen Selbstmord treibt durch ihre Bereitschaft, „unter die Despotie eines Individuums zurückzufallen“, das den parlamentarischen Klassenkampf so schlichtet, „daß alle Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben niederknien“, war die im parlamentarischen Regime objektiv gewordene Erkenntnis, dass die ökonomisch herrschende Klasse das eine liberale Recht des Privateigentum an Produktionsmitteln nur durch das Opfer aller anderen Errungenschaften des Liberalismus für sich erhalten konnte (Marx 1985, 178). Sie wollte den Rechtsstaat ohne Demokratie, um die parlamentarische Herrschaft ihrer Klasse über alle anderen zu sichern, und bekam die Gewaltherrschaft eines Individuums über alle Klassen. Da die Bourgeoisie spätestens 1849 erkannt hatte, dass sie ihre politische Herrschaft nur durch eine letale Verletzung der egalitären Lebensbedingungen des parlamentarischen Regimes bewahren konnte, sah sie sich „im Kampfe gegen die andern Klassen der Gesellschaft“ genötigt, „alle Bedingungen ihres eigenen Régimes, des parlamentarischen Régimes mit eigener Hand zu vernichten“. In dem Augenblick, in dem sich ihre Partei entschließt, die parlamentarische Diktatur zu errichten, musste sie erkennen, dass sie „dem Klassenkampf“ auch den „kleinen Spielraum“ nicht mehr „gewähren“ konnte, den sie benötigt hätte, „um die Exekutive von sich abhängig zu erhalten“ (Marx 1985, 165f.). Damit aber macht sie „die ihr feindliche Exekutivgewalt unwiderstehlich“ und untergräbt „die Lebensbedingungen einer jeden, also auch ihrer eigenen parlamentarischen Gewalt“ (Marx 1985, 133). Der Stoff, aus dem diese Lebensbedingungen gemacht sind, ist jedoch, wenn wir Habermas über Marx hinaus folgen, nichts anderes als die kommunikative „Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens“ selbst (559). Der Spaten, mit dem die Partei der Bourgeoisie zuschlägt, biegt sich an der Unverfügbarkeit der kommunikativen Macht zurück, zu der sich die Rationalität des parlamentarischen Regimes im Gesetzgebungsverfahren verdichtet, das nicht im Parlament, in der Wahlkabine oder in der elitären Ausgewogenheit der Ethikkommissionen, sondern inmitten des kommunikativen Getümmels beginnt und in dieses zurückführt: im politischen Streit am Stamm- und Küchentisch, in der Zusammenrottung radikaler Minderheiten, im verstörenden Versuch, das, was die Gesellschaft kommunikativ beschweigt, zur Sprache zu bringen, im wilden Streik, mit dem tagtäglichen Kampf sozialer Gruppen und Klassen um Rechte, der kleinteiligen Diskussion von Reformprogrammen, der Provokation der Polizeigewalt, der Besetzung öffentlicher Plätze, dem Schweigemarsch, der populistischen Rede, der expressiven Aktion, der Artikulation und Assoziation zu kurz gekommener ideeller und materieller Interessen, dem Bruch der Konvention und der Beschwörung der politischen Revolution in Wahlkampagnen.

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Mit der Errichtung der parlamentarischen Diktatur aber hat die französische Bourgeoisie sich im entscheidenden Jahr 1849 der einzigen Macht entledigt, die sie gegen die Eigenmacht der Exekutivgewalt und die Diktatur Bonapartes hätte ins Spiel bringen können. In solchen Zwiespalt zwischen dem Edelmut ihres längst vergangenen politischen Idealismus und der Kammerdienerperspektive ihres gegenwärtigen Privatinteresses geraten, „klatschte“ sie Louis Bonaparte noch „ihr serviles Bravo zu“, als die „Bomben“ der Bonapartisten schon ihre eigenen Häuser „zerklatschten“ (Marx 1985, 172). Am 2. Dezember 1851, dem Tag des Staatsstreichs, erwies sich endgültig, dass die parlamentarische Diktatur einer Klasse unter Bedingungen einer Verfassung der Volkssouveränität eine logische Unmöglichkeit ist. Die „politische Herrschaft der Bourgeoisie“ war „mit der Sicherheit und dem Bestand der Bourgeoisie“ „unverträglich“ geworden (Marx 1985, 166). Die Julimonarchie hatte gezeigt, dass subjektive Rechte, die auf die Rechtsanwendung beschränkt bleiben, bestens zum modernen Kapitalismus passen, ja für ihn und ein politisches Regime, in dem die einen immer nur als Kläger und die andern immer nur als Angeklagte auftreten, konstitutiv sind. Wird die Geltung der Freiheitsrechte jedoch auf den intersubjektiven Rechtsetzungsprozess ausgedehnt, so tritt der „umfassende Widerspruch“ (Marx 1973, 43) zwischen politischer Verfassung und kapitalistischer Gesellschaftsformation im öffentlichen Recht hervor und wird auf der Bühne des öffentlichen Lebens weithin sichtbar. Es wird klar, dass das moderne Recht nicht nur von der herrschaftsfunktionalen Form subjektiver Rechte, sondern auch von der herrschaftsbrechenden Dynamik demokratischer Selbstgesetzgebung bestimmt wird. Die Republik von 1848 erbrachte den Beweis, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse (Privatrecht) mit dem egalitären Charakter des parlamentarischen Regimes (öffentliches Recht) inkompatibel sind. Um diesen, im Recht „daseienden Widerspruch“ (Hegel 1975, 59), wenn nicht zu schlichten, so doch öffentlich thematisierbar, in den Horizont legislativen Entscheidens zu rücken und zum Gegenstand einer „legalen und permanenten Revolution“ (615) zu machen, müssen, so Habermas, „die gleichen Staatsbürgerrechte soziale Wirksamkeit erlangt haben“ (374). Die soziale Wirksamkeit gleicher Staatsbürgerrechte gehört zu den inhärenten Lebensbedingungen des parlamentarischen Regimes: „Nur auf einer Basis, die aus Klassenschranken hervorgetreten ist und die jahrtausendealten Fesseln gesellschaftlicher Stratifikation und Ausbeutung abgeworfen hat“ (374), ist deliberative Demokratie, das heißt die Einbettung und Steuerung des parlamentarischen Regimes durch sozial, politisch und kulturell inklusive, öffentliche Willensbildung möglich. Die These von Habermas, die diese, durch Hegels Dialektik vermittelten Beobachtungen von Marx auf den kommunikationstheoretischen Begriff bringt, ist, dass die parlamentarische (und jede andere) Demokratie ihre legitimierende



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Kraft nicht aus der bloßen Aggregation instrumenteller Interessen durch mehrheitssichernde Verfahren und verfahrenskonforme Abstimmungen gewinnen kann, sondern (als legitimierende Kraft) nur „aus der diskursiven Struktur einer Meinungs- und Willensbildung, die ihre sozialintegrative Funktion nur dank der Erwartung einer vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse erfüllen kann“ (369). Deshalb werden leere Parlamente, in denen nur noch zum Schein oder folgenlos diskutiert wird, zum Legitimationsproblem. So wie es keine moderne Demokratie ohne Rechtsstaat gibt, so gibt es auch keine moderne Demokratie ohne deliberative Legitimation. Eine „post-truth democracy […] wäre keine Demokratie mehr“ (Habermas 2005, 150f.). Moderne Demokratie ist – wie schon Rousseau, der das Problem freilich bürgerlich, durch Isolierung der Individuen gegeneinander lösen wollte, in seiner Kritik der antiken Demokratie betonte – nicht Mehrheitsherrschaft (volonté des tous), sondern ein öffentliches, kooperatives, egalitäres und inklusives Verfahren zur Lösung gesellschaftlicher Probleme (volonté générale), oder wie Marx sagt, zur Verwandlung jedes Interesses, jeder gesellschaftlichen Einrichtung in „allgemeine Gedanken“, die sich freilich als veränderlich und verbesserbar erweisen. Und genau hier trifft Habermas sich mit John Dewey, den er mit der treffenden Bemerkung zitiert, kaum einer habe diese Auffassung der Demokratie energischer herausgearbeitet (369): „Majority rule, just as majority rule, is as foolish as its critics charge it with being. But it never is merely majority rule […] The means by which a majority comes to be a majority is the more important thing: antecedent debates, modification of views to meet the opinions of minorities. […]. The essential need, in other words, is the improvement of the methods and conditions of debate, discussion and persuasion.“ (Dewey 1954, 207f.)

VII.2 Ideal vs. Wirklichkeit? In der eben zitierten Bemerkung Deweys, wonach die Demokratie als problemlösender Entdeckungszusammenhang verstanden wird, der vom Erfolg kooperativer Lernprozesse abhängig ist, kommt eine Einsicht zum Zuge, die den geschichtsphilosophischen Horizont, den Marx’ Praxisphilosophie zumindest teilweise noch voraussetzt, sprengt. Natürlich machen die Akteure bei Marx wie bei Dewey sozial-kognitive Lernprozesse und neue Erfahrungen. Die Bourgeoisie muss schmerzlich erfahren, dass das parlamentarische Regime ihrem Privatinteresse als Eigentümer der Produktionsmittel entgegensteht. Marx zeigt, wie diese Einsicht für die Bourgeoisie zur Lernblockade wird und sie hindert, sich auf einen weiteren riskanten Lernprozess einzulassen, der ihr erlaubt hätte, zu testen, ob der „kleine Spielraum“, den sie „dem Klassenkampf“ hätte „gewähren müssen, um die Exekutive

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von sich abhängig zu erhalten“, groß genug gewesen wäre, um noch zu einem Klassenkompromiss mit den anderen Parteien des Parlaments zu gelangen, oder ob er schon, wie Marx und seine Genossen hofften, aber nicht wussten, zu groß war, um die soziale Revolution noch in reformistische Bahnen zu lenken. In den Worten Deweys hätte es eines demokratischen Experimentalismus bedurft, um diesen Spielraum auszutesten. Aber dazu fehlte der Bourgeoisie der Mut, sich zumindest auf Alternativen zum Kapitalismus im Kapitalismus einzulassen, was spätere Generationen herrschender Klassen unter dem kommunikativen Druck der Straße, besetzter Fabriken, aggressiver Streiks und wachsender Gewerkschaftsmacht getan haben. Aber „der Aufgabe“, „mit dem Feuer zu spielen“, war die französische 48er-Bourgeoisie nicht mehr „gewachsen“. So hat sie aus „Feigheit“, „Mutlosigkeit“ und „Begeisterung für ihren Geldbeutel“ die Regression, den Kniefall vor dem Kolben dem Wagnis kooperativer Lernprozesse vorgezogen, wie Marx in einer Phänomenologie der Pseudoaktivität zeigt, die die „lumpige Farce“ von der „großen Tragödie“ unterscheidet und den ganzen Essay durchzieht (Marx 1985, 96, 156). Auch die heroischen Kämpfe und schrecklichen Niederlagen des städtischen Proletariats beschreibt Marx als Beginn eines Lernprozesses, der „beständig sich selbst“ „korrigiert“, immer „wieder von Neuem anfängt“, von „Versuch“ zu „Versuch“ fortschreitet (Marx 1985, 101f.). Aber bei allem Lernen scheinen die Ziele selbst ebenso festzustehen wie die Notwendigkeit einer revolutionären Zuspitzung der Klassenkonflikte bis zu dem Punkt, an dem „die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!“ Der wissenschaftliche Beobachter kennt „die Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen [der Arbeiter – H. B.] Zwecke“ bereits, bevor die Akteure selbst sie entdeckt, ergriffen und erzeugt haben (Marx 1985, 101f.). Der vorgreifende Beobachter der Weltgeschichte lässt ihnen gar keinen Spielraum mehr, ihre Ziele selbst zu erzeugen und fällt damit auf den Standpunkt der Hegel’schen Logik zurück, der zufolge die ganze Weltgeschichte nur als ein blutiger Umweg zu dem Ziel erscheint, an dem die Idee immer schon angekommen ist. Damit aber fällt er zugleich hinter die Einsicht seiner eigenen Praxisphilosophie in die begriffliche Uneinholbarkeit der Praxis zurück. Die Praxis, die handelnden Akteure haben keine Chance mehr, ihre Ziele in ihren eigenen Lern- und Verlernprozessen selbst zu bestimmen. Genau das aber wäre die logische Konsequenz aus Marx’ harscher, aber nicht unbegründeter Kritik an dem „sogenannten Sozialismus“, der die schlechte Wirklichkeit des modernen Kapitalismus nur abstrakten Idealen „allgemeiner Bruderliebe“, dem „Geist“, der „Bildung“, der „Freiheit“ „und der Wohlfahrt aller Klassen“ gegenüberstelle (Marx 1985, 134). Hier trifft er sich mit Habermas, der gleich zu Beginn von Kap. VII zum wiederholten Mal klarstellt, dass eine solche „Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit“ den „normativen Gehalt“



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jener „Verfahrensbedingungen und Kommunikationsvoraussetzungen“ gerade verfehlt, der, wie Marx und die damalige Bourgeoisie richtig erkannt hatten, wenigstens „teilweise der sozialen Realität beobachtbarer politischer Prozesse selber eingeschrieben“ (349) ist. Eine empirische Beschreibung der politischen Praktiken ist deshalb erst dann angemessen, wenn sie die in ihnen „bereits verkörperten Partikel und Bruchstücke einer ‚existierenden Vernunft‘ identifizieren kann“ (349). Weil auch der Junghegelianer Marx sich bei seiner Beschreibung der kurzen Epoche der Französischen Republik vom Februar 1848 bis zum Dezember 1851 an den Partikeln und Bruchstücken der im parlamentarischen Regime existierenden Vernunft orientiert, ist es kein Zufall, dass er das Scheitern des parlamentarischen Regimes jener Tage als Scheitern an dessen deliberativem Egalitarismus erklärt. Nur eine solche, an der bruchstückhaft existierenden Vernunft orientierte Beschreibung politischer Praktiken – Habermas versteht sie mit einem Begriff der 1970er Jahre als empirisch gehaltvolle, rationale Rekonstruktion, deren wissenschaftliches Paradigma die Evolutionstheorien Chomskys und Piagets sind (Habermas 1983; Gaus 2013) – ist begrifflich reich genug, um der komplexen sozialen Realität überhaupt gerecht zu werden. Deshalb versucht Habermas an konkurrierenden Theorien demokratischer Legitimation (352ff., 367ff., 383ff.) zu zeigen, dass sie die legitimierende Kraft demokratischer Verfahren nicht erklären können, während er sich anheischig macht, mit der kommunikationstheoretischen Erklärung der Legitimationsbedingungen moderner Demokratien auch noch erklären zu können, warum die Konkurrenten falsch liegen, indem er ihnen ein Selbstmissverständnis ihrer eigenen, alltäglichen Praxis nachzuweisen versucht. Rationale Rekonstruktion ist etwas ganz anderes als das Messen politischer Praktiken an einem hehren Ideal, das in der Welt dieser Praktiken gar keinen Ort hat und weder als Partikel noch als Bruchstück in ihr vorkommt. Das gilt auch schon von den „Geltungsansprüchen“ auf kognitive Wahrheit und normative Richtigkeit, die zwar die Provinzialität faktischer Geltung im Licht ihrer auch anderswo und zu andern Zeiten vermuteten Geltung überschreiten, aber in keinem Jenseits dieser Welt als intelligible Wesenheiten (res cogitans), sondern nur im praktischen Gebrauch der Sprache vorkommen (392). Habermas nennt das Transzendenz von innen und ins Diesseits (30ff.). „Aussagen müssen behauptet werden und Behauptungen haben ihren Ort.“ (Habermas 2009, 333) Aber selbstverständlich behaupten sie, auch andernorts und später noch gültig zu sein (Transzendenz von innen), wo sie dann erneut ihre Wahrheit erweisen müssen, stellt jemand sie in Zweifel (Transzendenz ins Diesseits). Nicht anders in Sachen Gerechtigkeit: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ (Erich Kästner). Die von keinem Wirklichkeitskontakt verunreinigte „Idee“, die sich „blamiert“, wenn das

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„Interesse“ ihr entgegensteht (Marx/Engels 1972, 85), ist etwas ganz anderes als die Idee, die sich in materiellen Bruchstücken und Partikeln geschichtlich verkörpert und den partikularen Interessen, die sie missachten, dadurch Nachachtung abnötigt, dass sie ihnen öffentlichen Widerstand entgegensetzt (389). Ganz in diesem Sinn unterscheidet auch Marx wiederholt bloße „Phrasen“, die „dem borniertesten Privatinteresse“ nur vorgeschoben sind, von wirklichen Ideen, die wenigstens ein allgemeines Klasseninteresse, wenn nicht gar die mannigfaltigen Seiten des Nationalgeistes zum Ausdruck bringen.

VII.3 Exkurs zum „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ Wer A sagt, muss auch B sagen, weil mit dem A-Sagen in der Regel bestimmte Geltungsansprüche verbunden sind, z.  B. dass Behauptung zu Behauptung passt, dass sie wahr ist, dass die normative Erwartung gerechtfertigt, dass der Scherz gelungen ist usw. Der in solchen Geltungsansprüchen faktisch wirksam werdende zwanglose Zwang des besseren Arguments ist an – zwar kontrafaktisch unterstellte, aber sozial wirksame – egalitäre, universelle und freiheitssichernde Erwartungen der Zwanglosigkeit gebunden, nicht jedoch an die Verfassungsprinzipien der sehr spezifischen und evolutionär ebenso unwahrscheinlichen wie späten Formation demokratischer Politik. Keine Fürstenberatung, in der schon die sozialen Rollen der Teilnehmer höchst ungleich verteilt sind, ohne die Unterscheidung zwischen einer wirklichen Beratung, die dem Fürsten auf gleicher Augenhöhe begegnen muss, sofern und solange es ihr um die richtige Lösung eines Problems zu tun ist, und einer Scheinberatung durch unterwürfige Schleimer, die dem Fürsten nach dem Munde reden. Will der Fürst aber eine Beratung, die Probleme erkennt und löst, muss er alles tun, um Zwanglosigkeit, Gleichheit und Offenheit, ja soziale Inklusion der Meinungsbildung zu gewährleisten. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments ist in jedem Geschwätz, jeder Klatschgeschichte, jedem Wortgefecht, jeder ironischen Geste, kurz: in jeder propositional ausdifferenzierten (oder ausdifferenzierbaren) Äußerung – wie schwach auch immer – wirksam, und nur in solcher (prinzipiell empirisch messbaren) Wirksamkeit gibt es ihn. Er ist mit dem kommunikativen Sprachgebrauch gleichursprünglich. Er nötigt mythische Erzählungen, Einwände profanen Wissens zu verarbeiten, wird in den Dialogen Platons, die von Demokratie nichts wissen wollen, ebenso als gültig unterstellt wie in prophetischen Reden, die eine bessere Welt herbeireden wollen. Dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments entgeht keine wissenschaftlichen Abhandlung, keine Apologie und keine



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Kritik der Demokratie, keine fundamentalistische Hetzrede, kein noch so blöder Zwischenruf, nicht einmal der Versuch, zu zeigen, es gäbe keinen zwanglosen Zwang. Den Erfolg eines solchen Versuchs kann man nicht ausschließen. Das berühmte Argument mit dem pragmatischen Selbstwiderspruch ist so fallibel wie jedes andere auch, wenn auch vermutlich mit längerem Haltbarkeitsdatum als die Meinungsforschung. Manchmal ist der zwanglose Zwang des besseren Arguments sehr schwach. Aber immer ist er wirksam, solange die Gesellschaft sich redend in einer der vielen Sprachen, die heute gesprochen werden, reproduziert und zu ihrer Reproduktion auf niemals verstummendes Gequassel angewiesen ist – was keineswegs auf immer so bleiben muss. Das Gequassel könnte bleiben, sein Wahrheitsanspruch infolge von Drogen, genetischen Veränderungen und anderen Manipulationstechniken verschwinden. Eine höchst aktuelle Gefahr (Habermas 2001; 2009, 271ff.). Auch die kontrafaktischen Idealisierungen, die den zwanglosen Zwang des besseren Arguments wirksam werden lassen, hausen nicht in einer zeitlosen Welt körperloser Ideen, die sich dieser Welt vergleichen und zu ihrem Vorbild und Maßstab erklären ließen, sondern sind als wechselseitig unterstellte Bedingungen erfolgreicher Kommunikation selbst Teil der sozialen Realität und in ihr als Zwang wirksam. Nur die reziproke Unterstellung der Zwanglosigkeit kann in den Augen der jeweils betroffenen Akteure selbst die Vermutung, das Ergebnis sei argumentativ zwingend, also konsistent, wahr, richtig, gerecht oder fair, begründen, es akzeptabel machen und die Befolgung seiner praktischen Konsequenzen rational motivieren. Handeln, das dem Begriff immer schon voraus ist, muss man dann immer noch wollen. Begründet ist nur die Vermutung der Wahrheit oder Gerechtigkeit eines Lösungsvorschlags, sofern die zugehörigen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Verwendungsbedingungen erfüllt sind (Habermas 1999, 37, 152f.), nicht aber die Wahrheit oder Gerechtigkeit der Lösung, die sich nur im Vollzug der ihr folgenden, technischen oder sozialen Praxis an der jeweiligen Sache, deren Entgegenkommen oder Widerständigkeit ihre Gelingensbedingung ist, erweisen lässt (Hogrebe 1989, 43). Das Ergebnis zwangloser Argumentation ist bindend, weil es die Betroffenen nicht wie die Pistole auf der Brust, sondern ebenso zwanglos zwingt wie ein logisch zwingender Beweis, der so einfach und unstrittig ist wie „zwei mal zwei ist vier“, aber auch so kompliziert und strittig sein kann wie die Riemann’sche Geometrie, die Quantenphysik, Chomskys Universalgrammatik, ein Gesetzespaket, das Urteil eines Höchstgerichts oder die Theorie des kommunikativen Handelns.

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VII.4 Parlamentarische Gesetzgebung und öffentliche Meinung Was ist der Grund für die empirische Wirksamkeit des Geistes, der im parlamentarischen Regime zumindest partiell öffentliches Recht geworden ist? Bei aller Überlegenheit ihres praktischen Klassenbewusstseins über den schlechten Idealismus der damaligen Sozialisten hatten die Bourgeoisie von 1849, ihre Partei, ihre intellektuellen Wortführer wie Guizot und ihre intellektuellen Nachzügler wie Carl Schmitt nicht erkannt, dass die Verfassung des parlamentarischen Regimes sich nicht auf die politische Öffentlichkeit einer bürgerlichen Parlamentselite und schon gar nicht auf das Interesse der vermögenden Privateigentümer einschränken ließ, weil sie die permanente Anwesenheit einer weit ausfransenden, jede noch so abwegige symbolische Äußerung in sich einsaugende, öffentliche Meinung der ganzen Gesellschaft voraussetzt. Auch Love- und Fuck-Parade sind „politisch ohne amtlich zu sein“ (Marx 1972b, 189f.; vgl. Möllers 2005, 1974f.). Es ist nämlich keineswegs der rein funktionale Zusammenhang von politscher Macht und Recht, der Recht und Verfassung auch nur einen Hauch von Legitimation verschaffen kann, ja, noch nicht einmal das Recht allein machen kann, wie es das Hobbes’sche auctoritas non veritas facit legem nahelegt. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: nur die öffentliche Diskussion, die normativ an der Geltung, der Wahrheit, Richtigkeit, Authentizität und Stimmigkeit von Sprechakten und kommunikativen Handlungen orientiert ist, kann dem Recht Legitimation verschaffen. Die „Unruhe“ der Diskussion, von der das parlamentarische Regime lebt (Marx 1985, 135), ist der Grund des in ihm wirksam werdenden objektiven Geistes. Dass dieser Geist nicht mehr der von Hegels Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie, ist, sondern sich der von Marx beschriebenen, zu kommunikativer Macht versammelten Vernunft des Geredes verdankt, war dem kühl analysierenden Theoretiker Marx so fremd, wie es dem journalistisch engagierten, teil- und anteilnehmenden Beobachter in Fleisch und Blut übergegangen war. Während der Theoretiker sich an dem von Habermas zu Recht kritisierten „produktionsgesellschaftlichen Verfügungsmodell reiner Vergesellschaftung“ orientiert, orientiert sich der anteilnehmende Beobachter, für den alle Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist, an den „inklusiven Beziehungen gegenseitiger symmetrischer Anerkennung“ (393), die im parlamentarischen Regime der Revolution und im Kampf um die damals noch kaum realisierte Pressefreiheit fragmentarisch existierende Vernunft geworden ist: „Endlich musste die Philosophie ihr Schweigen brechen, sie wurde Zeitungskorrespondent“ (Marx 1972a, 99). Aus derselben Zeit stammt auch der geniale Einfall, den allgemeinen Stand (das ist bei Hegel der Beamtenapparat, der die höhere Vernunft des Staats in der Ver-



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waltung seiner Macht wirklich werden lässt, indem er vorgibt, das „besondere Interesse zum allgemeinen Interesse zu machen“) durch den „sittlichen Geist“ der Presse, die ebenso Produkt wie Produzent der öffentlichen Meinung ist, zu substituieren. Die öffentliche Meinung ist der einzige Ort, an dem sich die Allgemeinheit der Vernunft gegen die Privatinteressen des bürgerlichen Warenverkehrs ebenso wie gegen die „Macht der Behörde“ (Marx 1972b, 192) zur Geltung bringt, oder, wie Habermas sagt, die Solidarität der Zivilgesellschaft „gegen die beiden anderen Mechanismen gesellschaftlicher Integration, Geld und administrative Macht“ (363). Die Presse als Hüter der Solidarität, schreibt Marx, ist „politisch ohne amtlich zu sein“ und „bürgerlich […] ohne unmittelbar in die Privatinteressen und ihre Notdurft verwickelt zu sein“ (Marx 1972b, 192).. Die Wucht kommunikativer Macht, die das parlamentarische Regime – 1848 eine bestenfalls in wenigen Partikeln und Bruchstücken gesellschaftlich existierende, rasch wieder verglühte, aber eben doch schon mächtige und wirksame Idee – freisetzt, war radikalen Demokraten, seien es nun Liberale wie Fröbel (der nach dem Scheitern von 1848 bald in den autoritären Realismus zurückfiel, ein Syndrom, das man heute an vielen Alt-Achtundsechzigern beobachten kann), seien es Kommunisten der ersten Stunde wie Marx, bewusst. Sie haben sofort erkannt, dass die sozial, kulturell und politisch inklusive öffentliche Meinung der permanente Grund des parlamentarischen Regimes ist, der sich – soweit hat Rousseau mit seiner Kritik der repräsentativen Regierung recht – in diesem nicht mehr repräsentieren, also darstellen, spiegeln und abbilden lässt. Weil das parlamentarische Regime, das allgemeine Wahlrecht und ein freier und gleicher Zugang zur Öffentlichkeit vorausgesetzt, die Legitimation politischer Herrschaft faktisch an die entgrenzte öffentliche Diskussion bindet, die sich nicht „durch Berechnen beherrschen“ (Max Weber) lässt, verwandelt sie den strategischen, ökonomischen Kampf der sozialen Klassen in einen politischen Kampf, der zwar von deren Organisationsmacht (Parteien, Vereine, Gewerkschaften) zusammengehalten wird, aber als Politik ohne Amt vom argumentativen Potential der Diskussion lebt, deren Unruhe jede gesellschaftliche Einrichtung und jedes Interesse in allgemeine Gedanken verwandelt und als Gedanken verhandelt, um sie dem Test ihrer Verallgemeinerbarkeit zu unterziehen: Das parlamentarische „Régime der Unruhe“ lebt „im Kampfe und durch den Kampf“. Es „lebt von der Diskussion“, und der „Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Preßbengel hervor, der debattierende Klub im Parlament ergänzt sich notwendig durch debattierende Klubs in den Salons und in den Kneipen“. Es „berechtigt die Volksmeinung, […] ihre wirkliche Meinung zu sagen. […] Wenn ihr auf dem Gipfel des Staates die Geige streicht, was andres erwartet ihr, als daß die drunten tanzen?“ (Marx 1985, 135) Weil der debattierende Klub im Parlament mit dem Preßbengel und den debattierenden Klubs in den Salons und in den Kneipen ein in sich differenzier-

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tes Kontinuum (Dewey) bildet, sind die öffentliche Meinung und die aus ihr fließende öffentliche Willensbildung nicht repräsentierbar. Der ganze alteuropäische Komplex aus dualistischer Metaphysik, Korrespondenztheorie der Wahrheit, Vorrang kognitiver Aussagen und reflexiver Repräsentation des Wirklichen („mirror of nature“) ist seit den Junghegelianern, dem amerikanischen Pragmatismus und dem linguistic turn der Philosophie auf ganzer Breite unter Beschuss geraten. Schon früh hat Hans Kelsen die Repräsentationstheorie auch im Staatsrecht dekonstruiert. Wie Dewey, ungefähr zur selben Zeit der 1920er Jahre, dekonstruiert Kelsen die Dualismen des deutschen Staatsrechts und substituiert die Repräsentationstheorie des parlamentarischen Regimes durch eine demokratische Methode der Rechtserzeugung, in der die Parlamentsdebatten und Beschlüsse nur eine von vielen Stufen eines Rechtserzeugungsverfahrens darstellen, das von der ersten öffentlichen Unruhe über viele Stufen der Erzeugung und Konkretisierung des Rechts in seinen Ausgangspunkt, zur ersten Unruhe zurückläuft, um mit der nächsten Welle die ganze Bewegung der prozeduralisierten Volkssouveränität erneut in Gang zu setzen. Die erst in jüngster Zeit beendete Verbannung Kelsens aus dem deutschen Staatsrecht und die über den „sanften Paternalismus“ (Talcott Parsons) der „öffentlich ausgetrockneten“ (Habermas) Adenauerära hinausreichende, große Distanz der deutschen Juristen und weiter Teile der bürgerlichen Parteien, von der Qualitätspresse ganz zu schweigen, zur Demokratie, haben dazu geführt, dass die Repräsentationstheorie des 19. Jahrhunderts, der zufolge der Volkswille sich im Parlamentsbeschluss spiegelbildlich, allenfalls verzerrt, am besten jedoch bildungsbürgerlich geläutert (Rudolf Smend) darstellt, um im Repräsentantenhaus auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, in Deutschland erst mit der Etablierung einer Vielzahl von Varianten des „prozeduralen Rechtsparadigmas“ (468ff.) in den Hintergrund getreten ist. Damit enden die (noch für Marx, die Liberalen des 19. und 20. Jahrhunderts und die Sozialstaatstheoretiker der Nachkriegszeit selbstverständlichen) „konkretistischen Vorstellungen einer Repräsentation des Volkes als einer Entität“ (228). Diesen Vorstellungen zufolge verschwindet der ungezähmte, „wilde Komplex“ (374) „anarchisch entfesselter kommunikativer Freiheiten“, der in der öffentlichen Konfrontation und Diskussion der Meinungen und Interessen besteht, im gezähmtem, zivilisierten und verstaatlichten Diskurs der Abgeordneten, der ihn zur bindenden Entscheidung eines Volkssubjekts transsubstantiiert (228). Kant zufolge gibt der Mensch beim Eintritt in den bürgerlichen Gesellschaftszustand seine „wilde gesetzlose Freiheit“ auf, um sie immerhin „unvermindert“ „in einer gesetzlichen Abhängigkeit […] wieder zu finden; weil diese Freiheit seinem gesetzgebenden Willen entspringt“ (Kant 1977, 434). Dasselbe geschieht – auch wenn das in der Kantforschung seit Inge Maus zu Recht strittig ist – ein



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zweites Mal beim Eingang ins Repräsentantenhaus. Das erste Mal besteht die Freiheit im demokratisch organisierten Gesellschaftszustand zwar „unvermindert“ fort, aber – das ist von Schelling über Marx und Dewey bis Adorno immer wieder zu Recht kritisiert worden – um den (dualistischen) Preis, den Menschen seiner eigenen Naturgeschichte zu entfremden. Die Freiheit verliert ihre naturgeschichtliche Basis und wird ein Wolkenkuckucksheim. Beim Übertritt aus der Hölle des Gesellschaftszustands in die Hölle des Repräsentantenhauses trifft die derogative Kraft verfassungsgebender Gewalt dasselbe, traurige Schicksal. Sie muss ihre Repräsentation mit dem Preis eines weiteren Rückfalls in den alteuropäischen Dualismus teuer bezahlen. Das ist keine Frage bloßer Theorie, sondern eine höchst praktische Frage, rechtfertigt die dualistische Stufung der Repräsentation doch den Ausschluss der Unselbständigen, der Farbigen, der Frauen, bei Marx der „Bauern“ und des „Lumpenproletariats“, des „Kartoffelsacks“ und der „unorganischen Masse“ (multitude), die „sich nicht vertreten“ können (Marx 1985, 116, 180). Erst die Theorie deliberativer Demokratie beendet das Purgatorium des parlamentarischen Regimes und erlöst den anarchischen, wilden und unbezähmbaren Komplex des öffentlichen Lebens, in dem Repräsentantenhaus, Marktplatz und Kneipe, aber auch Natur und Kultur ein Kontinuum bilden, aus seiner Jahrtausende alten Verbannung durch die politische Philosophie, die von Platon bis Lenin immer wieder prolongiert worden ist. Erst jetzt wird erkennbar, dass die „diskursive Struktur öffentlicher Kommunikation“ „keinem Konsens Zwanglosigkeit und damit legitimierende Kraft“ zugesteht, „der sich nicht unter fallibilistischem Vorbehalt und auf Grundlage anarchisch entfesselter kommunikativer Freiheiten einspielt“ (228f.). Nicht mehr die Staatsgeiger, sondern der Tanz derer drunten, die niemand vertreten kann, macht die dissonante Komposition der Demokratie zu einer permanenten legalen Revolution. Das demokratische Verfahren egalitärer Willensbildung und Gesetzgebung, einmal in Gang gesetzt, lässt sich dann auch nicht auf ein Funktionssystem, das der Politik, einschränken und für die politische Krönung der ökonomischen Klassenherrschaft der Bourgeoisie gefügig machen. Das ist Habermas’ zentrales Argument in Kap. IV über die Prinzipien des Rechtsstaats (208ff.). Es ist vielmehr umgekehrt. Das parlamentarische Regime sprengt durch den thematisierenden Zugriff der von ihm unbeherrschbaren, diffusen und peripheren öffentlichen Willensbildung auf die Totalität aller gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur die Grenzen der Klassenherrschaft, sondern auch die der Funktionssysteme und der subjektiven Rechte, die ihre Institutionalisierung ermöglicht haben. Sie macht an der Grenze des Gesellschaftssystems nicht halt, sondern bezieht in der Thematisierung ausgeschlossener und zum Schweigen gebrachter Stimmen (375f.) und der vermeintlich stummen Natur die Differenz von System und Umwelt in den Diskurs ein (Habermas 2005, 187ff).

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Mittlerweile hat der immer dichtere, kommunikative Zusammenhang der Weltgesellschaft alle nationalstaatlichen und kontinentalen Grenzen hinter sich gelassen und die Zentrierung struktureller Konflikte und Klassengegensätze auf eine Systemreferenz in eine vollständig dezentrierte, multipolare, ziemlich ungemütlich gewordene Konfliktlandschaft verwandelt. Als am 1. Oktober 1964 Mario Savio – er war der Sprecher der Studenten von Berkeley, die einen Polizeiwagen, in dem ein festgenommener Kommilitone saß, durch ein Sit-in blockiert hatten (es ging auch in diesem Konflikt um Ordnung und Redefreiheit) – mit Erlaubnis der Polizei vom Dach des Polizeiautos eine Rede hielt, die er mit Referenz auf die beiden Polizisten im Auto unter ihm mit dem welterschließenden Satz eröffnete: „They’re family men, you know. They have a job to do! Like Adolf Eichmann. He had a job to do. ���������������������� He fit into the machinery.“, begann eine neue Epoche deliberativer Demokratie. Als Huey Newton und Bobby Seale Anfang 1966 in dem an Berkeley angrenzenden West-Oakland die Black Panthers Party for Self-defense gründeten, nachdem zuvor bei Unruhen nach der Ermordung von Malcolm X 300 Schwarze von Militär und Polizei getötet worden waren, begann eine neue Epoche deliberativer Demokratie. Als am 15. April 1967 im New Yorker Central Park Wehrpflichtige hunderte von Einberufungsbescheiden nach Vietnam verbrannten, begann eine neue Epoche deliberativer Demokratie. Während der Staat auf die plötzliche „Repolitisierung der ausgetrockneten Öffentlichkeit“ (Habermas 1968, 100) des weißen und männlichen Wohlfahrtsstaats legal und illegal mit Polizei und Geheimpolizei reagierte und Richard Nixon die silent majority zu den Waffen rief, globalisierte sich die von Berkeley ausgehende Bewegung innerhalb weniger Monate. Die Bewegung verschwand nach wenigen Jahren, nur um in Gestalt der Frauen-, Ökologie-, LGBT-, Indigenen-, Post-colonial- und vieler anderer Bewegungen seit einem halben Jahrhundert immer von Neuem zurückzukehren. Sie haben in einer sozialevolutionär winzigen Zeitspanne eine – in der OECD-Welt und Lateinamerika zentriete, aber in jeden Winkel der Welt ausstrahlende – Kulturrevolution herbeigeführt, für die sich in der Weltgeschichte nur wenige Beispiele finden lassen; man denke nur an die Emanzipation der Frauen und Homosexuellen von einer jahrtausendealten, immer wieder verfeinerten Kultur ihrer Ausbeutung und Unterdrückung. Wenn die Serie kulturevolutionärer Eruptionen die „allein durch Entpolitisierung abgedeckte Legitimationsgrundlage des Spätkapitalismus“ zwar nicht zum Einsturz gebracht (Habermas 1968, 103), aber doch in bedrohliche Schwingungen versetzt hat, hat sie das einer deliberativen Erneuerung der westlichen Demokratien zu verdanken. Denn der verblüffende Erfolg der sozialen Bewegungen, die außer der Frauenbewegung alle minoritär waren, erklärt sich nicht aus der Kraft der Bewegungen selbst, sondern allein aus der anscheinend noch nicht verebbten,



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deliberativen Dynamik des parlamentarischen Regimes. Diese Dynamik, so lautet meine abschließende These, resultiert aus der dialektischen Interaktion, dem daseienden Widerspruch zwischen dem wilden, anarchischen und (trotz immens fortgeschrittener Polizei- und Überwachungstechniken) nach wie vor unbezähmbaren Komplex außer- und sogar antiparlamentarischer, an den Rändern bisweilen gewalttätiger Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten auf der einen Seite und auf der anderen einer mehrheitsorientierten, parlamentarischen Gesetzgebung, bei der auch die silent majority mit deutlich vernehmbarer, von der Kulturund Bewusstseinsindustrie verstärkter Stimme spricht – aber eben nicht nur sie, wie die französische Bourgeoisie in den 1840er Jahren und Richard Nixon in den 1960er Jahren gehofft, dabei aber die Rechnung ohne die intersubjektive Logik des parlamentarischen Regimes gemacht hatten. Freilich funktioniert die deliberative Demokratie dann und nur dann, wenn erstens die Möglichkeit, nicht nur grundlegende kulturelle, sondern auch grundlegende politische, soziale und ökonomische Alternativen zum Status quo demokratisch zu entscheiden nicht verfassungsrechtlich, institutionell, polizeilich und/ oder durch überwältigende ökonomischen Erpressungsmacht blockiert ist. Keine deliberative Demokratie ohne effektive, egalitäre Entscheidungsverfahren. Zweitens setzt deliberative Demokratie, wie wir gesehen haben, eine Öffentlichkeit voraus, die eine gesellschaftliche Basis hat, „in der die gleichen Staatsbürgerrechte soziale Wirksamkeit“ besitzen (374) voraus. Das kann mittlerweile als empirisch bewiesen gelten (Schäfer 2015). Nicht Armut, sondern wachsende soziale Ungleichheit erzeugt politische Ungleichheit. Die drunten tanzen nicht mehr und bleiben am Wahltag zuhause. Die demokratische Verfassung wird zur „Farce“ (Marx), zur „Fassade“ (Habermas). Beide Bedingungen sind vor allem infolge der neoliberalen Wende der gesamten Weltwirtschaft seit den späten 1970er Jahren, was spätestens erst seit Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise 2008 erkennbar wurde, heute immer weniger erfüllt, was zu einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit geführt hat, der alle Errungenschaften deliberativer Demokratie untergräbt. Diese Errungenschaften haben ihren fairen Wert (Rawls) für eine und einen jeden verloren, in den reichen Ländern und zwischen den reichen und elenden sowieso. Diese stoßen nun in einer Weltgesellschaft aufeinander, die längst zu einer einzigen Schicksalsgenossenschaft – das war einmal das Alleinstellungsmerkmal des Nationalstaats – geworden ist, in der überdies alle untereinander nicht mehr nur kommunikativ, sondern auch körperlich in schnell überwindbarer Distanz leben. Ob daraus wiederum eine Epoche deliberativer Demokratie hervorgeht oder das Ende der Epoche der Demokratie, wer weiß es?

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Literatur Dewey, J. 1954: The Public and its Problems, Chicago. Gaus, D. 2013: Rationale Rekonstruktion als Methode politischer Theorie zwischen Gesellschaftskritik und empirischer Politikwissenschaft, in: Politische Vierteljahresschrift 54 (2), 231–255. Habermas, J. 1968: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt/Main. Habermas, J. 1983: Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: D. Henrich (Hrsg.), Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, Stuttgart, 42–58. Habermas, J. 1999: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/Main. Habermas, J. 2001: Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt/Main. Habermas, J. 2005: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/Main. Habermas, J. 2009: Kritik der Vernunft, Philosophische Texte Bd. 5, Frankfurt/Main. Hegel, G. W. F. 1975: Wissenschaft der Logik II, Hamburg. Hogrebe, W. 1989: Prädikation und Genesis, Frankfurt/Main. Kant, I. 1977: Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, Frankfurt/Main. Marx, K. 1968: Das Kapital, Bd. 3, Berlin/Ost. Marx, K. 1972a: Der leitende Artikel, in: MEW Bd. 1, Berlin/Ost, 86–104. Marx, K. 1972b: Rechtfertigung des ††-Korrespondenten von der Mosel, in: MEW Bd. 1, 172–199. Marx, K. 1973: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW Bd. 7, Berlin/Ost, 9–107. Marx, K. 1985: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEGA I/11, Berlin, 86–189. Marx, K./Engels, F. 1972: Die Heilige Familie, in: MEW Bd. 2, Berlin/Ost, 3–223. Möllers, C. 2005: Wandel der Grundrechtsjudikatur, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1973–1979. Schäfer, A. 2015: Der Verlust politischer Gleichheit, Frankfurt/Main – New York.

Regina Kreide

VIII Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit1 Ein Großteil des Werkes von Jürgen Habermas ist durch die Annahme geprägt, dass die politische Öffentlichkeit in hohem Maße bedroht ist und theoretisch wie politisch verteidigt werden muss. Diese Vorstellung teilt Habermas mit den „Frankfurtern“ der ersten Generation, Adorno und Horkheimer. Ähnlich wie Horkheimer und Adorno entwickelt Habermas in Anlehnung an Marx eine Ideologiekritik, die den Nachweis erbringen soll, dass die Ideen der Aufklärung, darunter auch die der politischen Öffentlichkeit, nur noch leere Versprechungen sind, die unter den gesellschaftlichen, durch Herrschaftsverhältnisse geprägten Bedingungen nicht realisiert werden können. Anders jedoch als die frühen Vertreter der Kritischen Theorie beschränkt sich Habermas keineswegs darauf, die Korrumpierung gesellschaftlicher Strukturen und deren Verfall bloß zu kritisieren, sondern er fordert zugleich neue institutionelle Formen, die eine Verwirklichung von Öffentlichkeit erlauben (Iser/Strecker 2010, 58–59). Auch in Faktizität und Geltung spielen die Öffentlichkeit und ihre Schwester, die Zivilgesellschaft, eine entscheidende Rolle: Ohne Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft wäre die Demokratie, die Dritte im Bunde der Geschwister, nicht denkbar. Im Unterschied zu fachspezifischen Konzeptionen der „Lebenswelt“, des „kommunikativen Handelns“ oder der „Diskursethik“ ist „Öffentlichkeit“ ein Begriff, der fächerübergreifend Einzug in die wissenschaftliche Diskussion gefunden hat und nicht zuletzt in der breiteren Öffentlichkeit selbst thematisiert wird. Nancy Fraser geht sogar so weit zu sagen, dass Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff in den USA einen ähnlichen Rang hat wie eine naturwissenschaftliche Entdeckung: Vor der (recht späten) Übersetzung von Strukturwandel der Öffentlichkeit ins Englische (1989) gab es für dieses Verständnis von politischer Öffentlichkeit („public sphere“) nicht einmal einen eigenen Namen (Fraser 2009, 148). Die Sprengkraft dieser Feststellung wird verständlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, was mit Öffentlichkeit gemeint ist. Unter Öffentlichkeit versteht Habermas nicht einfach einen öffentlichen Raum, wie den Marktplatz zum Beispiel, sondern einen sozialen Raum des kommunikativen, vernünftigen Umgangs miteinander (Nanz 2009, 358), einen Ort der kollektiven Selbstverständigung. Debatten in der Öffentlichkeit bilden als Grundlage demokratischer Entschei-

1 Eine längere Version dieses Beitrags findet sich in Kreide 2016.

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dungen eine notwendige Bedingung für Rechtssetzungsprozesse, von denen man dann sagen kann, sie seien legitim zustande gekommen. Die Öffentlichkeit ist die Grundlage der Demokratie. Zugleich ist sie deskriptiv gesehen eine Sinnressource für Meinungs- und Wissensbildungsprozesse und kollektive Lernprozesse. Normativ betrachtet erlaubt sie eine sozialwissenschaftliche Analyse von Handlungs- und Kommunikationsblockaden und dient als Folie, vor deren Hintergrund gesellschaftliche Pathologien aufgezeigt werden können, die einer kulturellen Sinnschöpfung im Wege stehen. Auf diese Weise fungiert Öffentlichkeit als Ausgangspunkt und Maßstab für Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Das bereits im Titel des Buches angedeutete Spannungsverhältnis zwischen Faktizität und Geltung spiegelt sich auch in der Konzeption der Öffentlichkeit: Im Prozess deliberativer Politik entscheidet sich, ob in den kommunikativen Arenen die sozialen und kulturellen Bedingungen für eine aktive, inklusive und uneingeschränkte Beteiligung von Bürgern gegeben sind. Der normative Begriff der Öffentlichkeit hingegen dient der kritischen Überprüfung, inwieweit der Prozess politischer Deliberation inklusiv und fair ist und die öffentliche Meinungsbildung tatsächlich von unten nach oben verläuft. Die öffentliche Meinungsbildung geht zwar der parlamentarischen Gesetzgebung voraus, ist aber normativ selbst bereits der wesentliche Teil der Gesetzgebung, der die parlamentarischen Entscheidungen formt, kanalisiert und unter Druck setzt. Diese nur übersichtartige erste Annäherung an Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff werde ich im Folgenden näher ausbuchstabieren. Ich werde zunächst in Umrissen Habermas’ Öffentlichkeitsvorstellung diskutieren und dabei kurz auf deren Anfänge in Strukturwandel der Öffentlichkeit eingehen (1), um dann Kontinuitäten und Weiterentwicklungen in Faktizität und Geltung aufzuzeigen. In Faktizität und Geltung wird der Öffentlichkeit die kommunikative Macht zur Seite gestellt, die ebenfalls vor der Rechtssetzung den Willen der Bürgerschaft zum Ausdruck bringt (2). Dem schließt sich eine Diskussion früherer und zeitgenössischer Einwände gegen Habermas’ Vorstellung von Öffentlichkeit an. In einer globalisierten Welt und im Zeitalter digitaler Medien, so die Interpretation, lösen sich Öffentlichkeit und kommunikative Macht von der engen Verbindung mit klassischen demokratischen Institutionen und werden zu einem selbstständigen Faktor für die Legitimität politischer Entscheidungen (3).

VIII.1 Ideologiekritik und linguistic turn Habermas’ Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) steht noch ganz im Zeichen der Ideologiekritik. Er rekonstruiert die gesellschaftlichen Kontexte Deutschlands, Englands und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert,



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um einen Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit herauszuarbeiten (u.  a. Fraser 2007; 2009; Calhoun 1992). Die Vorstellung einer liberalen Demokratie, bei der die Bürger und Bürgerinnen ihre autonomen Interessen und Bedürfnisse uneingeschränkt und gleichberechtigt öffentlich formulieren, ist, so kann er zeigen, von Anbeginn demokratischer Verhältnisse eine Ideologie. Die Entfaltung der freien Presse und des Buchdrucks, die Entstehung von Kaffeehäusern, Salons und Bürger-Vereinen, der teilweise erfolgreiche Kampf gegen die Zensur: All dies sind deutliche Anzeichen einer expandierenden Öffentlichkeit, deren markantestes Kennzeichen die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft sowie von Privatem und Öffentlichem ist (Nanz 2009, 358). Diese Trennung – eine Bedingung für die politische Autonomie sich selbstbestimmender Bürger – wurde nach Ende des 19. Jahrhunderts in der Folge sozialstaatlicher Maßnahmen und ökonomischer Imperative sukzessive aufgehoben. Die Öffentlichkeit zersplitterte in eine große Anzahl verschiedener Interessengruppen, mit der Folge, dass Kompromisse an die Stelle einer an Vernunftgründen orientierten öffentlichen Debatte über das Gemeinwohl traten (Fraser 2009, 149). Auch die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts, die zwar mehr Bürgern eine politische Teilnahme ermöglicht, verhinderte durch eine weitreichende Verschränkung von administrativen mit staatlichen und öffentlichen Bereichen eine gleichberechtigte Beteiligung aller Bevölkerungsschichten an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung. Stattdessen bereiteten Werbekampagnen, Amüsements im Fernsehen, inszenierte Politikveranstaltungen den Boden für die schon von Horkheimer und Adorno diagnostizierte Kulturindustrie. Die kritische Öffentlichkeit, so Habermas’ Einschätzung, verkümmert zur Scheinöffentlichkeit und die demokratische Politik verkommt zur Farce. Habermas’ Lösungsvorschlag besteht aber nun, anders als für Adorno und Horkheimer, nicht darin, sich mit der Darstellung einer Verfallsgeschichte zufriedenzugeben. Er nimmt das „Öffentlichkeitsgebot“ (Habermas 1962, 237; Iser/Strecker 2010, 60) ernst und plädiert für eine interne Demokratisierung staatlicher und privater Organisationen: die Ausweitung der Demokratie als wirksames Gegenmittel gegen ihren Niedergang. Die Ideologiekritik zur Verteidigung der politischen Öffentlichkeit trat dann bald aber in den Hintergrund, auch wenn Habermas sie, entgegen einer weitverbreiteten Annahme, nie ganz aufgab (siehe dazu Habermas 1981, 517ff.; 1976, 9–49). Die wichtige Rolle der Öffentlichkeit für das Projekt der Moderne blieb bestehen, doch die normativen Grundlagen wurden nun auf andere Weise aus der sozialen Wirklichkeit gewonnen. Die Ideologiekritik als Teil der Gesellschaftskritik wurde um eine solidere (normative und evolutionstheoretische) Basis ergänzt, sodass die Grundannahmen des historischen Materialismus rational rekonstruiert werden konnten. Zu diesen Grundannahmen gehören die unhintergehbaren Bedingungen von Kommunikation, die nicht mehr einer bestimmten politischen Kultur

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bzw. einer bestimmten Epoche, sondern allgemein den menschlichen Lebensformen zugeordnet werden können und die als normativer Maßstab fungieren sollen. Diese Bedingungen gewinnt Habermas aus einer grundlegenden Analyse der Sprache, die für das Verständnis seines Begriffs von Öffentlichkeit zentral ist. Aber auch hier zeigt sich eine Kontinuität zur Ideologiekritik. Es wird lediglich der philosophische Begriff des Absoluten so rekonstruiert, dass er nicht nur im Rahmen des historischen Materialismus und der Hermeneutik, sondern auch sprachanalytisch, und damit unter nachmetaphysischen Bedingungen, überlebt. Habermas schlägt einen zweistufigen Prozess vor, wie diese Grundannahmen sprachanalytisch gewonnen werden können. Zunächst gelangt er zu einer „ratio­ nalen Rekonstruktion“ jener sprachlichen Regeln, die Menschen in ihren Interaktionen transkulturell befolgen (wie etwa Geltungsansprüche). Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion kann dann in einem zweiten Schritt das Subjekt oder auch ein Kollektiv durch kritische Selbstreflexion die Defizite realer Verständigungsverhältnisse ausmachen. Auf diese Weise werden verzerrte sprachliche Kommunikation und Kommunikationsblockaden entlarvt. Machtverhältnisse, durch die beispielsweise denjenigen Teilnehmern mit höherem Bildungsabschluss eher Gehör verschafft wird als Bildungsfernen oder durch die Debatten entscheidend durch eine ökonomisierte Sprache bestimmt werden, können als irrational entlarvt werden. Die Sprache selbst wird damit zum Medium der Befreiung. Diese prominente Rolle der Sprache führte zum linguistic turn in der Kritischen Theorie (Iser/Strecker 2010, 62ff.). Alle weiteren Werke von Habermas, auch Faktizität und Geltung, sind dadurch entscheidend geprägt. Habermas reagiert in Faktizität und Geltung auf die Kritik an seinem Öffentlichkeitsbegriff und nimmt einige Revisionen des Öffentlichkeitsbegriffs vor (siehe Fraser 2009). Er geht nun nicht mehr von einer einzigen und durch bürgerliche Werte geprägten Öffentlichkeit aus (Negt/Kluge 1972). Öffentlichkeit wird vielmehr als plurales Gebilde beschrieben, als dezentrales Netzwerk, als verschiedene, sich überlagernde Kommunikationsräume, in denen unterschiedliche Gruppierungen, Assoziationen, soziale Bewegungen mit allen erdenkbaren Themen und auf ganz unterschiedlichen Wegen versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Zweitens spielt die Effektivität von Öffentlichkeit eine Rolle und wie Macht in der Öffentlichkeit, und das heißt bei Habermas auch immer, wie die Vorherrschaft administrativer gegenüber kommunikativer Macht, beschrieben werden müsste, damit die Wirkungsdefizite von öffentlicher Meinung sichtbar gemacht werden können (siehe Fraser 1992). Und schließlich, um noch auf eine weitere Revision einzugehen, rückt Habermas von einem zwar nicht weiter ausbuchstabierten, aber dennoch unterstellten substanzialistischen Begriff von Öffentlichkeit ab (Benhabib 1992), in dem schon von vorneherein feststeht, was öffentlich und was privat ist. Dem setzt er eine



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prozedurale Öffentlichkeit entgegen, deren Anspruch es ist, offen für neue und zuvor als „privat“ eingestufte Themen zu sein und diese vernünftig zu diskutieren. Damit ist nichts anderes als die Volkssouveränität gemeint, die sich in konkretisierten Rechten, Versammlungsfreiheit, Presse, Abstimmungen, Proteste usw. zeigt und die Einheit von verfassungsgebender und verfasster Gewalt darstellt. Zwei wichtige Motive werden aus Strukturwandel der Öffentlichkeit uneingeschränkt beibehalten. Dazu gehört zum einen die Anforderung an die Legitimität öffentlicher Meinungen. Damit ist die Annahme gemeint, dass die öffentliche Meinung sich inklusiv und auf faire Weise herausbilden soll, d. h. so, dass alle von Gesetzen Betroffenen teilnehmen können und dass soziale Faktoren wie Herkunft, Geschlecht, Alter, Dialekt oder aber religiöse Zugehörigkeit kein Hindernis darstellen, einigermaßen gleichen Einfluss auf rechtsnormgenerierende Entscheidungen ausüben zu können. Zweitens findet die bereits erwähnte Rationalitätskonzeption ebenfalls wieder Einzug in seine politik- und rechtswissenschaftlichen Untersuchungen, was von erheblicher Tragweite für Habermas’ Verständnis deliberativer Politik ist. Aus diesen Weichenstellungen resultiert ein kritischer Umgang mit konkurrierenden, vor allem empirischen Demokratietheorien, auf die ich als nächstes eingehe.

VIII.2 Volkssouveränität und kommunikative Macht Soziologische Demokratietheorie Habermas’ auch gegenwärtig noch zutreffende Diagnose ist, dass im Laufe der Theoriegeschichte die normative Demokratietheorie von den eher empirisch orientierten, sogenannten realistischen Theorieströmungen ins Abseits gedrängt wurde. Der idealistische Gehalt normativer Theorien, schmelze, so Habermas, „unter der Sonne sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse“ dahin (399). Zwar lege die soziologische Sicht eine geradezu ernüchternde, wenn „nicht gar zynische“ (399) Sicht auf jene schwachen Stellen im Machtkreislauf von Demokratien frei, in denen die rechtsstaatlichen Prozeduren politischer Entscheidungen durch große Organisationen, Verwaltungszwänge oder die Medienmacht unterwandert werden – nach Ansicht von Habermas aber völlig zu unrecht. Es ist eine Stärke seiner Analyse in Kap. VIII, dass er mit einem soziologisch geschulten Blick die vorherrschenden Positionen auf dem Gebiet der Demokratietheorie mit ihren eigenen, empirischen Mitteln schlägt. Er hält ihnen eine andere Lesart faktischer Gegebenheiten entgegen, deren Dreh- und Angelpunkt eine alternative Machtanalyse ist.

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Habermas konzentriert sich bei der Rekonstruktion empirischer bzw. realistischer Theorien zum einen auf die Systemtheorie von Helmut Willke und die Überwindung einiger Legitimationsprobleme des Staates, zum anderen auf die ökonomische Demokratietheorie und die ebenfalls nicht völlig überzeugende Weiterentwicklung durch Jon Elster. Beide beschreiben, so lässt sich Habermas’ Vorbehalt zusammenfassen, das Verhältnis zwischen Macht und Politik auf unzulängliche Weise (ausführlich dazu Kreide 2016). Willke (1992) konzentriert sich auf die Beschreibung der Überlastung des Staates durch immer komplexer werdende Steuerungsprobleme, die nach seiner Analyse nur noch unter Umgehung kommunikativer Macht und damit systemimmanent gelöst werden können. Dies aber verkennt, so Habermas, die Leistung der Umgangssprache und ebenfalls die Rolle des Rechts als „Transformator“ (429): Die Sprache des Rechts bringt die lebensweltliche Kommunikation aus den verschiedenen Öffentlichkeiten und der Privatsphäre in eine Form, in der die Botschaften, die in Umgangssprache vorgebracht werden, auch von den Spezialkodes der selbstgesteuerten Handlungssysteme, einschließlich des politischen Systems, aufgenommen werden können. Das Recht, das in Theorie des kommunikativen Handelns noch die entscheidende Rolle bei der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ spielte, zeigt sich in Faktizität und Geltung auch von einer versöhnlichen Seite. Es kann zum Werkzeug werden, mit dem die Bürger kommunikative Macht aktivieren und in das ansonsten hermetisch verschlossene politische System vordringen können. Die nicht zu unterschätzende Leistung Jon Elsters, einem weiteren Vertreter einer realistischen Demokratietheorie, besteht für Habermas darin, verdeutlichen zu können, dass die praktische Vernunft den Kommunikationsformen und institutionalisierten Verfahren der Rechtssetzung „implantiert“ (414) ist. Elster (1986) jedoch bietet keine Verbindung zwischen prozeduraler Rationalität der verfahrensregulierenden Meinungs- und Willensbildung und politischen Institutionen an. Habermas hingegen führt Elsters Idee der politischen Macht fort und geht davon aus, dass Kommunikation erst dann tatsächlich Macht entfaltet, wenn sie auf irgendeine Weise einen Zugang zu den Schaltstellen der politischen Entscheidungszentralen erhält. Diese „kommunikative Macht“, auf die ich weiter unten noch eingehen werde, ist eine entscheidende Kraft im politischen Prozess. Doch wie genau kann kommunikative Macht in politische Macht umgemünzt werden? Wie wird sie effektiv und bleibt nicht nur eine normative Idee? Die institutionelle Verbindung zwischen lebensweltlicher Praxis, politisch-administrativen Institutionen und Öffentlichkeiten beschreibt Habermas mit Hilfe des „Schleusenmodells“, das Bernhard Peters entwickelt hat.



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Schleusen und Machtkreisläufe Bernhard Peters’ soziologisches Modell der Öffentlichkeit stellt die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse auf einer Linie von Zentrum und Peripherie dar (432; Peters 1993, 340f.). Der Kernbereich des Zentrums umfasst das politische System, das aus Parlament, Gerichten sowie Verwaltungen besteht und in dem routinemäßig Entscheidungen getroffen, Urteile gefällt und Fälle von Klienten bearbeitet werden. Auf der anderen Seite der Achse liegt die Peripherie, die durch die „Zivilgesellschaft“ gebildet wird. Anders als noch bei Hegel oder Marx besteht die Zivilgesellschaft weder aus wirtschaftlichen noch aus staatlichen Organisationen bzw. Institutionen. Vielmehr setzt sie sich aus spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, die in direkter Verbindung mit den privaten Lebensbereichen stehen und kulturelle, religiöse oder humanitäre Themen, Probleme und leidvolle Erfahrungen der Bürger bündeln und als „problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses“ (443) an die Öffentlichkeit weiterleiten. Nichtdestotrotz obliegt diese Sphäre dem grundrechtlichen Schutz der Verfassung: Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie die Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen geben der Zivilgesellschaft ihre gesellschaftliche Struktur vor (445). Die Zivilgesellschaft ist für Habermas primäre Quelle thematischer Impulse für Themen, die dann in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Sie verbindet die Kommunikationsstrukturen der Lebenswelt mit der politischen Öffentlichkeit und ist, in anderen Worten, das „organisatorische Substrat“ der Öffentlichkeit (444). Die Öffentlichkeit liegt auf der genannten Achse zwischen Zentrum und Peripherie, und das heißt, zwischen dem politischen System und der Lebenswelt bzw. der Zivilgesellschaft. Sie ist vor allem als Raum zu verstehen, der sich durch den intersubjektiven Austausch von Überzeugungen bildet. Zentrum und Peripherie sind keineswegs voneinander getrennte Bereiche. Vielmehr ist das politische System, das für den Input aus der Zivilgesellschaft sensibel bleiben muss, über die Betätigung politischer Parteien und die Wahlberechtigung der Staatsbürgerinnen mit der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft verbunden (445). Nach Peters (1993, 432ff.) stellen Verfahren und Kommunikationsbedingungen der demokratischen Meinungs- und Willensbildung ein System von Schleusen dar, das die Argumente aus den Öffentlichkeiten auf ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit überprüfen. Durch diese Filter werden Verzerrungen des allgemeinen Willens, die sich in dominanten Individualinteressen oder gravierenden nicht-egalitären Einflussmöglichkeiten ausdrücken können, verhindert. Während Peters eine Gefahr darin sieht, dass ein idealisiertes Demokratiemodell schnell dazu neigt, die Grenzen der Kommunikationskapazitäten zu ignorieren und damit die Möglichkeiten für Problemlösungen durch Deliberation zu überschätzen, schlägt

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Habermas eine andere Lesart vor. Er gibt dem „Schleusenmodell“ eine normative Wendung (432). Bindende Entscheidungen müssen, wenn sie denn Anspruch auf Legitimität haben wollen, durch Kommunikationsflüsse hervorgebracht werden, die von der Peripherie stammen, die also durch Assoziationen der Zivilgesellschaft angeregt werden, und die Schleusen demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren passieren (432). Diese Kommunikationsfilter dienen der Legitimation von Ergebnissen politischer Deliberation und nicht, zumindest nicht in erster Linie, ihrer Effektivitätssteigerung.

Volkssouveränität Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit bilden in Habermas’ Ansatz die Grundlage für Volkssouveränität. Ohne Öffentlichkeiten kann es keine Demokratie und auch keine legitime Rechtssetzung geben. Die Verfahren der Rechtssetzung und der Willensbildung sind Teil des Legitimationsprozesses, der dafür sorgen soll, dass die Meinungen der Bürgerinnen auch eine wirksame Kraft im Machtspiel des politischen Systems entfalten. Letztlich sind nämlich diese Rechtssetzungsverfahren nur legitim, wenn auch sie das Ergebnis öffentlicher Deliberation sind (Habermas 2005, 386). Diese Vorstellung von Öffentlichkeit als sozialer Raum der Deliberation und als normativer Standard für legitime Rechtssetzung spiegelt nochmals die Balance zwischen Faktizität und Geltung. Wie aber sieht das Verhältnis zwischen Faktizität und Geltung, zwischen Öffentlichkeit als empirische Voraussetzung von Demokratie und als normative Messlatte aus? Auf diese Frage bietet Habermas mindestens drei Antworten. Zum einen sind die Legitimationsbedingungen selbst schon in der Öffentlichkeit zu finden. Öffentlichkeit ist nicht nur Ort der Thematisierung gesellschaftlicher Probleme, sondern besitzt bereits eine rationalisierende Kraft, durch die Legitimität erzeugt wird. Und dies passiert, indem im Prozess öffentlicher Deliberation die verschiedenen Wertorientierungen zu ihrem Recht gelangen und ein Austausch von Gründen für oder wider eine umstrittene Position auf ihre Zustimmungsfähigkeit hin geprüft wird. Zweitens wird durch die öffentliche Deliberation die Erzeugung rationaler Ergebnisse durch bestimmte Standards der Kommunikationspraktiken erreicht. Diese Standards, zu denen die Inklusion aller relevanten Beiträge, die kommunikative Gleichberechtigung aller Beiträge, die Zwanglosigkeit des besseren Arguments sowie der Ausschluss von Täuschung (auch von Selbsttäuschung) durch Kritik gehören, werden, so die Annahme nach dem bereits oben erwähnten linguistic turn, in der Alltagspraxis schon vorausgesetzt (Wesche 2013, 186). Letztlich verhilft eine öffentliche Deliberation, Irrtümer zu vermeiden und triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen zu verhindern.



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Und drittens ist die Öffentlichkeit selbst ein Machtfaktor, der deskriptive wie auch normative Aspekte aufweist. Habermas unterscheidet einen „offiziellen“ Machtkreislauf (432), der demokratisch erzeugt wird und in dem die „schwachen“ Öffentlichkeiten der Peripherie die „starken“ Öffentlichkeiten des politischen Systems beeinflussen (siehe Fraser 1992). Das politische System wiederum soll die administrativen Apparate kontrollieren. In diesem Kreislauf geht die legitimierende Kraft von der kommunikativen Macht aus, die im öffentlichen Raum erzeugt wird und die, nachdem sie die „Schleusen der Vernunft“ passiert und zu politischen Entscheidungen geführt hat, zur administrativen Macht wird. Die administrative Macht wiederum bleibt auf Ergebnisse demokratischer Entscheidungen bezogen, sie erzeugt nicht selbst Gesetze, sondern setzt diese in Verwaltungsvorschriften um (432). Der „inoffizielle“, undemokratische und illegitime Machtkreislauf läuft in die Gegenrichtung. Private Interessengruppen und bürokratische Kräfte umgehen den demokratischen Gesetzgeber oder bringen ihn unter ihre Kontrolle und manipulieren die öffentliche Meinung mit unzulässigen Mitteln. Im politischen Routinealltag ist dieser inoffizielle Machtkreis, daran lässt Habermas keinen Zweifel, in der Regel dominant. Dann beherrschen die administrative und die soziale Macht faktisch das politische Geschehen. Erst der Druck der öffentlichen Meinungsbildung „erzwingt einen außerordentlichen Problemverarbeitungsmodus“ (433), der eine rechtsstaatliche Regulierung begünstigt und eine Sensibilität der politischen Verantwortlichen für die Themen und Vorschläge der Bürger erreicht. Das ist der Moment der kommunikativen Macht.

Kommunikative Macht Habermas deutet, in Anlehnung an Hannah Arendt, politische Macht als Macht, die niemand besitzt, sondern die zwischen Menschen entsteht, wenn sie politisch handeln – jenseits von einer Verengung auf die Durchsetzung eigener Interessen, die Verwirklichung kollektiver Ziele oder gar administrativ bindender Entscheidungen (Arendt 1970, 45). Nach Arendt drückt sich in der Ausübung politischer Macht Freiheit aus, nämlich zum einen die negative Freiheit, nicht beherrscht zu werden und nicht zu herrschen, und zum anderen die positive Freiheit, einen Raum zu kreieren, „in dem jeder sich unter Seinesgleichen bewegt“ (Arendt 1993,  9). Habermas hat diese Idee aufgegriffen und als kommunikative Macht umgedeutet (Hindrichs 2009). Kommunikative Macht ist eine Form politischer Macht. Allgemein gesagt, ist damit die ungehinderte Ausübung öffentlicher Freiheit der Bürger gemeint. Spezifischer ausgedrückt lässt sich die kommunikative Freiheit durch drei Aspekte charakterisieren. Die kognitive Seite kommunikativer

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Freiheit fordert erstens freies, deliberatives Prozessieren, den freien öffentlichen Austausch von Informationen und Argumenten zu wichtigen Themen. Sie basiert auf der Annahme, dass Ergebnisse durch ein gerechtes Verfahren zustande kommen und deshalb für sich in Anspruch nehmen können, rational zu sein (183ff.). Zweitens kann kommunikative Macht nur kollektiv ausgeführt werden, sie kreiert geteilte Überzeugungen, die immer wieder aufs Neue debattiert werden können, die aber durchaus intersubjektive Anerkennung finden können. Diese geteilten Überzeugungen entfalten zugleich eine motivationale Kraft. Kommunikative Macht ist treibende Kraft, weiter zu deliberieren, neue Machtpotentiale zu generieren und für die Akzeptanz handlungsrelevanter Pflichten zu werben. Und drittens ist kommunikative Macht, um noch einmal Arendt zu bemühen, Macht, durch die eine gemeinsame Willensbildung unter Bedingungen nicht erzwungener Kommunikation geschaffen werden kann. Macht korrespondiert mit der menschlichen Fähigkeit, nicht nur einfach irgendwie, sondern vielmehr orchestriert, im Einvernehmen zu handeln (184; Arendt 1970, 45). Kommunikative Macht ist demnach weder ein Mittel, private Interessen durchzusetzen, noch ist Macht gleichbedeutend mit administrativer Macht, kollektiv bindende Entscheidungen zu implementieren. Vielmehr ist sie eine autorisierende Kraft, die sich in der öffentlichen Aktivität, aber auch in der Rechtsgenese und der Schaffung legitimen Rechts ausdrückt. Die kommunikative Macht, die ein kraftvolles Instrument der Bürger ist, kann, um im Bild des „Schleusenmodells“ zu bleiben, die Filter vernünftiger Argumentation passieren und Druck auf politische Entscheidungen innerhalb des politischen Systems ausüben. Sie entfaltet sich aber auch schon vor den Schleusen, im politischen Streit, im politischen Handeln und in öffentlicher Kommunikation. Während Peters durch die Verfahren und Kommunikationsbedingen dem politischen Handeln eine Art Beschränkung durch eine „Vernünftigkeitsprüfung“ auferlegt, führt Habermas mit der kommunikativen Macht ein Instrument ein, das geeignet ist, diese Schleusen für die Meinungsbildung der Bürger weit offen zu halten. Man kann also sagen, eine weitere Schwester der Öffentlichkeit, der Zivilgesellschaft und der Demokratie ist die kommunikative Macht. Erst im Quartett kann legitime politische Willensbildung gelingen. Es überrascht nicht, dass es bereits kurz nach Erscheinen von Faktizität und Geltung von verschiedenen Seiten Kritik an dieser Öffentlichkeitskonzeption gab. Im Folgenden werde ich einige der früheren, aber auch der zeitgenössischen Einwände diskutieren und argumentieren, dass die allermeisten Einwände die Sprengkraft kommunikativer Macht für Habermas’ Öffentlichkeitsidee ver­ kennen.



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VIII.3 Kritiken Konformismus-Vorwurf William Scheuerman (2002) hat eingewandt, dass Habermas durch die Einbeziehung von Peters’ Schleusenmodell die kritische Perspektive auf Öffentlichkeit gegen eine konformistische Sicht der Öffentlichkeit als bloßen Zulieferer politischer Apparate eingetauscht habe. Bestenfalls könne man noch sagen, dass Habermas’ Ansatz in einer ambivalenten Haltung verharre, die einer sehr ambitionierten, auf soziale Gleichheit basierenden Vorstellung radikaler Demokratie zuneigt. Zugleich aber werde damit ein recht defensiv auftretendes Modell deliberativer Demokratie präsentiert, das allenfalls sanft versucht, Markt und Administration ein wenig zurückzudrängen. Letztlich werde, so mit Bezug auf Peters, das Parlament zum „Juniorpartner“ des Verwaltungsapparates im Gesetzgebungsprozess (Scheuerman 2002, 65ff.). Diese Kritik bietet eine doch recht einseitige Interpretation der Rolle der Öffentlichkeit für deliberative Politik, die die soziologische Absicherung effektiver Rechtssetzung mit einer Angleichung ans Gegebene verwechselt und – noch entscheidender – die performative Kraft kommunikativer Macht nicht wahrnimmt. So „ausgewogen“, wie Scheuerman es darstellt, ist Habermas’ Ansatz keinesfalls. Um das genauer fassen zu können, ist es hilfreich, sich nochmals kurz der Funktion kommunikativer Macht zu vergewissern. Kommunikative Macht gelangt nicht immer gleichermaßen in den Vordergrund, in ruhigen Zeiten des politischen Alltagsgeschäftes tritt sie vielleicht weniger in das mediale Bewusstsein, obgleich NGOs, Bürgerinitiativen oder Vereine immer Themen bearbeiten und versuchen, Einfluss zu nehmen. In Krisenzeiten jedoch und während politischer Konflikte erstarkt das Potential kommunikativer Macht. Sie unterbricht die Routine des politischen Apparats, wodurch andere, auch normative Argumente in den Vordergrund rücken und rein zweckrationale Verwaltungsvorgänge in Frage gestellt werden. Von einer Affirmation ans bestehende Institutionensystem kann also mit Blick auf die Sprengkraft kommunikativer Macht keine Rede sein.

Idealismus-Verdacht Zugleich aber riss die Kritik, Habermas’ Vorstellung einer radikalen Demokratietheorie sei zu idealistisch, nicht ab und ist bis in die Gegenwart präsent (u.  a. Regh/Bohman 2002; Marchart 2010; Flügel-Martinsen 2013). Es ist vor allem ein Punkt, der in diesem Zusammenhang immer wieder aufgeführt wird: Die deliberative Demokratietheorie, so der Vorwurf, sei konsensorientiert und allein

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daher viel zu idealistisch. Regh und Bohman kritisieren, dass Habermas die empirisch angenommene Pluralität moderner Gesellschaften auf der normativen Ebene wieder einziehe, indem existierende Meinungsverschiedenheiten „transsubstantialisiert und in idealisierte Einheit“ umgewandelt und „gerechtfertigt“ werden (Regh/Bohman 2002, 43). Es wäre nun aber ein Missverständnis, würde die Deliberationstheorie samt ihrem Insistieren auf der Rolle der Öffentlichkeit als konsensheischende Harmoniekonzeption begriffen werden. Hier muss man differenzieren. Habermas unterscheidet zwischen verständigungsorientiertem Sprachgebrauch, dem Versuch wechselseitigen Verstehens von Behauptungen, Willensäußerungen, Präferenzen und einverständnisorientiertem Sprachgebrauch. Ersterer ist Teil der kommunikativen Alltagspraxis. Wir können gar nicht anders, als im Gespräch zu versuchen, den anderen zu verstehen und ihn womöglich durch Argumente von unseren Ansichten zu überzeugen. Dadurch werden unvermeidliche idealisierende Voraussetzungen der Sprache zu sozialen Tatsachen. Nur mit letzterem, dem einverständnisorientierten Sprachgebrauch, ist ein Konsens gemeint, der sich auf die normativen Gründe für die Wahl von Zielen selbst bezieht (Habermas 1999, 116). Keineswegs ist jedoch ein solcher Konsens als Ziel jeder Kommunikation zu verstehen. Vielmehr kann man sich auch darin einig sein, dass man sich nicht einig ist: „to agree to disagree“. Die Selbstbindung einer Gesellschaft an ein begründbares Einverständnis, das historisch immer das Ergebnis von massiven Konflikten war, kann als eine Art Bollwerk gegen Substitution anderer Kräfte gelten – gegen ökonomische, politisch-instrumentelle, juridische Imperative.

Fehlende Pluralität Ein weiterer häufig zu vernehmender Kritikpunkt ist, dass die Konzeption deliberativer Demokratie und mit ihr die der Öffentlichkeit der Pluralität von Gesellschaft nicht gerecht wird, da sie eine Einheit, ein „wir“ unterstelle, das es nicht gibt und nicht geben kann (Regh/Bohman 2002; Badiou 2003; Marchart 2010; Han 2013). Für Alain Badiou und Oliver Marchart etwa zeichnet sich deliberative Demokratie dadurch aus, dass sie auf grundlegende Weise Differenz verkennt. Sie beziehen sich auf die von Heidegger in „Sein und Zeit“ vertretene „ontologische Differenz“. Während aber Heidegger von der Differenz zwischen „Sein“ und „Seiendem“ spricht, gibt Marchart (2010) der ontologischen Differenz einen politischen Dreh. Das „Politische“ nimmt die Rolle des „Seins“ ein, die „Politik/ Polizei“-Unterscheidung die des Seienden. Erst durch „das Politische“ lassen sich demnach Sinnzusammenhänge menschlichen Handelns überhaupt erfassen. Da



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es keine Identität zwischen Bürger und Souverän, keine gelungene Selbstbestimmung, keine vollständige Repräsentation geben kann, bricht sich die Differenz ihre Bahn, so die Annahme, und ermöglicht die Freiheit der Bürger. Als Ergebnis ist diese Betonung der Nichtassimiliation zwischen Bürger und Staat sehr zu begrüßen, denn sie ist die Bedingung von Freiheit. Nur stellt sich die Frage, wozu es dafür einer politischen Ontologie bedarf. Wird die angenommene Ontologie ihren eigenen Ansprüchen, nämlich keinen Grund zu besitzen, tatsächlich gerecht? Das muss bezweifelt werden (Saar 2012). Das Sein kann viele Gesichter haben. Es ist das Gemeinsame, aber alle Formen des „ist“ können negiert werden und sind selbst umstritten. Es ist daher fraglich, wie differenz-affin, wie offen für Kontestation die Lehre von der politischen Ontologie tatsächlich ist. Hingegen bedeutet das In-der-Welt-Sein aus deliberativer Sicht, sich immer schon in sozialen Beziehungen zu bewegen und der Interreferenzialität ausgesetzt zu sein. Der kommunikativen Praxis ist die Differenz bereits eingeschrieben. Kommunikation beginnt nicht mit dem ersten Sprachangebot eines Sprechers, sondern mit der Ja/Nein-Stellungnahme des Adressaten; also nicht mit Ego, sondern mit Alter (Brunkhorst 2006, 28). Die Repression von Differenz zeigt sich im Nichtzulassen einer Stellungnahme, einer Erwiderung, eines sprachlichen Aufbegehrens. Soziologisch ist sie erkennbar an der „rächenden Gewalt“, die immer dann hervorbricht, wenn zwanglose Verständigung unterdrückt wird (Brunkhorst 2006, 31). Dann bahnt sich die kommunikative Macht ihren Weg an die Öffentlichkeit.

Transnationale Öffentlichkeiten Ein weiterer Kritikpunkt, dem Habermas jedoch recht schnell begegnete, bezieht sich auf den in Faktizität und Geltung noch eng an einem „westfälischen“, d. h. nationalstaatlichen und territorialen Ordnungsgefüge angelehnten Öffentlichkeitsbegriff (Fraser 2007). Bereits Mitte der 1990er Jahre waren massive Menschenrechtsverletzungen, die Erderwärmung, ungerechte internationale Handelsabkommen und die weltweite Armut Gegenstand transnationaler Kampagnen und Proteste. Eine erste europäische Mobilisierung, die diesen Namen verdient, sah Habermas in den am 15. Februar 2003 zeitgleich in London, Rom, Madrid, Barcelona, Paris und Berlin stattfindenden Massendemonstrationen gegen die drohende US-Invasion im Irak (Habermas 2004, 43). Diese öffentlichen, transnationalen „Parallelaktionen“ können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb und jenseits Europas die transnationale administrative gegenüber der kommunikativen Macht die Oberhand erlangt hat. Angesichts dieser ernüchternden Entwicklungen hat Habermas in Die postnationale Konstellation (1998) einige Revisionen vorgenommen.

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In einer globalisierten Welt scheint die Öffentlichkeit nun für die Legitimität demokratischer Verfahren eine noch präsentere Rolle einzunehmen. Anstelle einer institutionell verankerten Partizipation und Willensäußerung tritt die „allgemeine Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse begründet“ (Habermas 1998, 166). Weniger Wahlakte und repräsentative Körperschaften als vielmehr die Anforderungen an Kommunikations- und Entscheidungsprozesse treten nun als Legitimationsanforderungen in den Vordergrund. Die bis dato enge Verschränkung von Öffentlichkeit und staatlichen Organisationsformen wird gelockert. Unübersehbar ist, dass auf transnationaler Ebene eine kontinuierlich aktive, plurale und die Regierungen und andere nicht-staatliche Organisationen kontrollierende Kraft fehlt (Nanz/Steffek 2007): Die Betroffenheit durch transnationale Regeln und die Regelautorenschaft klaffen weit auseinander. Eine kritische Öffentlichkeit wird sich zunächst darin zeigen müssen, dass sich nationale Medienöffentlichkeiten jeweils „füreinander öffnen“. Nationalstaatliche Grenzen würden dann zu „Portalen wechselseitiger Übersetzungen“ (Habermas 2008, 191). Die neuen Medien spielen in diesem Prozess einer sukzessiven Transnationalisierung bestehender nationaler Öffentlichkeiten eine wichtige Rolle.

Digitale Öffentlichkeit Wir leben, so ein weiterer Einwand, schon längst in Zeiten „digitaler“ und nicht mehr „analoger“ Rationalität (Han 2013). Die deliberative Demokratietheorie aber habe den „digital turn“ verschlafen. Diese Kritik setzt an der soziologischen Basis der politischen Öffentlichkeit an und stellt das „Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt“ in Frage. Die neuen sozialen Medien, wie Twitter, Facebook, Internetforen, Blogs und andere Medien besäßen, so der Vorwurf, eine geradezu „entpolitisierende“ Wirkung. Statt verbindende Effekte produziere das Netz eine „Personalisierung“, die durch die individualisierten und am Verkauf orientierten Algorithmen der meisten Suchmaschinen zu einer unendlichen Zersplitterung, Zerstreuung und Zentrifugierung dessen führt, was man einmal Öffentlichkeit genannt habe. Wir seien gefangen in der „Filter-Bubble“ und merkten meist gar nicht, wer hier für uns die Welt vorsortiere und interpretiere (Pariser 2012). Der Diskurs löse sich auf, das politische Subjekt transformiere sich zum privaten Subjekt und von kommunikativer Rationalität könne keine Rede mehr sein (Han 2013, 7, 18). Zweifellos haben soziale Medien zu zentrifugalen Tendenzen geführt, die das Verständnis von Öffentlichkeit verändert haben. Auch Occupy unterstützende Intellektuelle haben eine fragmentierte, vor allem nicht-organisierte und daher



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manchmal diffuse soziale Bewegung beschrieben (Graeber 2012). Dennoch – bei genauerer Recherche zeigt sich ein ganz anderes Bild der Rolle sozialer Medien in und für die politische Öffentlichkeit. Zum einen scheinen die Autoren das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn sie, liberalen Positionen nicht unähnlich, eine scharfe Dichotomie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und zwischen Rationalität und Unvernunft vertreten. Soziale Medien sind, wie Untersuchungen verdeutlichen, keineswegs frei von Argumentationen. Janssen und Kies etwa zeigten in Auseinandersetzung mit Faktizität und Geltung, dass bei OnlineDeliberationen das Argumentationsniveau durchaus hoch sein kann (Janssen/ Kies 2005). Und auch Skandalisierungen, die über Twitter laufen, besitzen einen Bezug zu Debatten, die an anderer Stelle öffentlich ausgetragen werden (etwa in der „Aufschrei“-Diskussion in Deutschland, in der über Formen alltäglicher Diskriminierung von Frauen debattiert wurde). Die Medien im web2.0., d. h. in Bereichen des Internet, die so gestaltet sind, dass ihre Erscheinungsweisen wesentlich durch die Benutzer mitbestimmt werden können, zeigen von den dezentrierenden Tendenzen eine ganz andere Seite (Münker 2009, 15). Anders als bei den elektronischen Massenmedien unterscheidet die digitale Öffentlichkeit nicht mehr zwischen Lesern, Hörern, Zuschauern auf der einen und einer Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Die neuen Medien, von Twitter über Wikis, Blogs bis zu Newsgroups entstehen erst durch die Partizipation der Vielen. So unterschiedlich die verschiedenen Angebote auch sein mögen, das web2.0 besitzt alle Anzeichen einer aufgeklärten Öffentlichkeit (Münker 2009, 74ff.): Der Zugang ist (noch) uneingeschränkt offen, es gibt keine einschränkenden Vorgaben hinsichtlich der Themenwahl, alle Beteiligten sind im Austausch ebenbürtig und der Kreis aller Teilnehmenden ist per se unabgeschlossen. Diese Habermas’schen Kriterien sind für die Nutzer kein fernes Ideal, sondern schlicht „Teil der Spielregeln“, die im Internet gelten. Zweitens ist ebenso eine anerkannte Spielregel des Netzes, alle Teilnehmerinnen als gleichberechtigte Diskurspartner anzuerkennen und zu achten, ob als Autoren auf Blogs oder bei einem der zahlreichen Wiki-Diskussionen. Drittens können in den verschiedenen Kanälen des Netzes die unterschiedlichen Themen kommentiert werden, und viertens schließlich sind die meisten dieser Themen offen für alle und nicht nur für einen bestimmten Personenkreis konzipiert. Zweifellos ist der Zugang zum Netz eine Frage finanzieller Ressourcen und Wissen, und trotz zunehmender weltweiter Vernetzung besteht weiterhin ein digital divide. Auch bedeutet web2.0 nicht, dass es keine Hierarchien, Konkurrenz oder Marktimperative gibt. Aber in den interaktiven Netzgemeinschaften besteht eine gemeinsame Partizipation ihrer Mitglieder, die den von Habermas beschriebenen Idealen näher kommt als all das, was wir bislang unter demokratischer Öffentlichkeit verstanden haben (auch Gimmler 2001).

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Plätze und Sphären Schließlich aber ist nun die Frage, ob die Vorstellung einer deliberativen Öffentlichkeit womöglich auch den realen Auseinandersetzungen der Straße theoretisch nicht gewachsen ist. Ist sie, in anderen Worten, eine „Feiertagstheorie“, bestenfalls geeignet für Seminarveranstaltungen? Interessanterweise fanden politische Umwälzungen auch in den zwei letzten Internet-Jahrzehnten stets noch in den Straßen und vor allem auf den Plätzen statt. Die Austragungsorte der jüngsten größeren Proteste waren alles „Maidane“: Maidan at-Tahrir in Kairo, Taksim Meydani in Istanbul, Maidan Nezalezhnosti in Kiew (Widmann 2014). Die Bilder von Barrikaden, von brennenden Reifen, Sandsäcken und Zelten wirken archaisch. Aber auch heutzutage ist der Maidan umkämpft. In der Ukraine beispielsweise wurde schnell ein „Anti-Maidan“ organisiert, eine scheinbar unabhängige Bewegung bezahlter Gelegenheitsarbeiter und Angestellter, die für die Gegenseite demonstrierte (Mishchenko 2014, 26f.). Der Protest auf dem Platz, so beschreiben es zahlreiche Autoren, ist körperlich und materiell. Eine neue, subversive Beziehungsform entsteht, die im Austausch von Gedanken, Lebensmitteln, Arbeit und Hilfe besteht. Dieser Kampf wird im Netz weitergeführt, er ist nicht losgekoppelt vom Platz. Im virtuellen Raum hingegen treten andere Qualitäten in den Vordergrund, nicht zuletzt sind es dort die Mächtigen, und auch, wie in Kiew, die Rechtsradikalen, die dann das Sagen haben. Was hat dies mit deliberativer Demokratietheorie zu tun? Sehr viel, wie ich meine. Es lenkt den Blick auf das, was vor der Rechtssetzung im öffentlichen Raum passiert. Hier zeigt sich noch einmal eine andere Facette kommunikativer Macht. Sie nämlich tritt auch im Widerstand gegen Repressionen zutage, in den Augenblicken, wenn Revolutionäre die Macht ergreifen, wenn eine zum passiven Widerstand entschlossene Bevölkerung fremden Panzern mit bloßen Händen entgegentritt, wenn überzeugte Minderheiten bestehenden Gesetzen die Legitimität bestreiten und zivilen Ungehorsam verüben (184). Niemals ist kommunikative Macht nur Macht in Verfahren und Institutionen. Deliberative Demokratie beruht auf beidem: auf einer öffentlichen Kritik der bestehenden Verhältnisse und der prozeduralen Neuschaffung möglichst gerechter Institutionen.

Literatur Arendt, H. 1970: Macht und Gewalt (amerikan. Orig. 1970), München – Zürich. Arendt, H. 1993: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. von U. Ludz , München – Zürich. Badiou, A. 2003: Über Metapolitik, Zürich – Berlin.



Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit 

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Elisabeth Holzleithner

IX Paradigmen des Rechts IX.1 Zu Begriff und Funktion von Rechtsparadigmen Im neunten Kapitel, „Paradigmen des Rechts“, will Habermas seine rechts­ theoretischen und seine gesellschaftstheoretischen Überlegungen „im Begriff des prozeduralistischen Rechtsparadigmas“ zusammenführen (10). Enge Verknüp­ fungen ergeben sich dabei mit dem fünften Kapitel, in welchem Habermas das Konzept einführt. Ganz grundsätzlich versteht er unter einem Rechtsparadigma „exemplarische Auffassungen einer Rechtsgemeinschaft hinsichtlich der Frage, wie das System der Rechte und die Prinzipien des Rechtsstaates im wahrgenom­ menen Kontext der jeweils gegebenen Gesellschaft verwirklicht werden können“ (238). Rechtsparadigmen stehen auch hinter dem Verständnis der Grundrechte (238). Dabei können aus rechtshistorischer Perspektive insbesondere zwei „auch heute noch miteinander“ in Konkurrenz stehende Rechtsparadigmen unterschie­ den werden, nämlich „die des bürgerlichen Formalrechts und des sozialstaat­ lich materialisierten Rechts“ (239). Sie verhalten sich, so lässt sich Habermas’ Überlegungen entnehmen, zueinander wie These und Antithese.1 Als Synthese soll das dritte, prozeduralistische Rechtsparadigma erwiesen werden, welches „die beiden anderen in sich aufhebt“ (239), also ihre Stärken beibehält, ihre Schwächen überwindet und insofern dem System der Rechte eine überzeugende Deutung zu geben vermag. Als bemerkenswert ist gleich an dieser Stelle festzuhalten, dass Habermas den Rechtsparadigmen zwei unterschiedliche Aufgaben zuweist. Einerseits stehen sie für ein recht globales Hintergrundverständnis der Rechtsordnung. Andererseits aber spricht er Rechtsparadigmen auch Aufgaben in der Rechtspre­ chung zu: Sie sollen nämlich Richterinnen und Richter „von der überkomplexen Aufgabe [entlasten], eine ungeordnete Menge von nur prima facie anwendbaren Prinzipien bloßen Auges und unvermittelt mit den relevanten Merkmalen einer möglichst vollständig erfassten Situation in Beziehung zu setzen“ (271). Haber­ mas glaubt, dass diesfalls der Verfahrensausgang für die Parteien eines Rechts­ streits vorhersehbar werde, nicht zuletzt, weil das einschlägige Paradigma nicht bloß das Verständnis der juristischen Expertinnen und Experten leitet, sondern auch von allen „Rechtsgenossen“ geteilt wird (271).

1 Siehe zu dieser Anlehnung des gesamten Buchs an den „dialektischen Dreischritt“ auch den Beitrag von Höffe.

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 Elisabeth Holzleithner

Wie gezeigt wurde (Somek 1993; Holzleithner 1996, an einem Beispiel aus der österreichischen Rechtspraxis), können Habermas’ Makroparadigmen die Prognostizierbarkeit eines Verfahrensausgangs nicht verbürgen. Dies ermögli­ chen gegebenenfalls, in der Diktion Ralf Dreiers, „Theorien mittlerer Reichweite“ (1981, 93), die bisweilen von der Rechtswissenschaft entwickelt werden und sich in der Spruchpraxis von Gerichten und sonstigen Behörden als „ständige Recht­ sprechungen“ materialisieren. Und auch hier gibt es keine Garantien auf einen bestimmten Verfahrensausgang – sei es, weil nicht für jedes Rechtsproblem eine etablierte Praxis der Norminterpretation existiert, oder aufgrund der konstruk­ tiven Leistungen des Gerichts bei der „Feststellung“ eines Sachverhalts, der aus diversen Fallerzählungen generiert wird und der eine ganz wesentliche, für die Verfahrensparteien oft schwer vorherzusagende Rolle für die behördliche Ent­ scheidung spielt.2 Eher in Frage kommt die erstgenannte Rechtsparadigmen zugewiesene Rolle, bei der ihre Abstraktheit ernst genommen wird und ihnen keine von vornherein unerledigbaren Aufgaben zugemutet werden. Sehen wir uns einschlägige Charak­ terisierungen genauer an: Habermas spricht vom „paradigmatische[n] Rechtsver­ ständnis einer gesellschaftlichen Epoche“ (472) im Sinne jener „impliziten Bilder, die der Praxis der Rechtsetzung und Rechtsanwendung eine Per­spektive, oder allgemein: dem Projekt der Verwirklichung einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen eine Orientierung geben“ (472). Es sei angemerkt, dass dies eine sehr spezifische Formulierung ist. Denn Rechtsparadigmen kann es wohl auch in Gesellschaften geben, die ihr Rechtssystem nicht auf eine solche aufklärerischvernunftrechtliche Weise deuten. Woran kann dieses implizite Gesellschaftsbild abgelesen werden? Haber­ mas konstatiert, üblicherweise würde man „exemplarische[] Entscheidungen der Justiz“ dafür heranziehen; derart wäre das „Gesellschaftsbild von Richtern“ seine Quelle. Offenbar geht Habermas davon aus, dass das paradigmatische Rechtsverständnis zunächst (Habermas macht freilich keine Zeitangabe) gleich­ sam „unschuldig“ als „hinterrücks fungierende[s] Orientierungswissen“ fungiert hat – insofern nachgerade der Lebenswelt analog. Nunmehr aber könne „sich die Rechtsprechung zum eigenen Sozialmodell nicht länger naiv verhalten“ – sie sei „zu einer selbstkritischen Rechtfertigung“ herausgefordert (474). Ohnehin findet Habermas es fraglich, die Auseinandersetzung über das angemessene Rechtsparadigma als Expertenstreit zu führen: „Der Streit um das richtige para­

2 Vollends offen wird es, wenn im prozeduralen Rechtsparadigma keine ideologischen Festle­ gungen mehr existieren, wenn also liberales und sozialstaatliches Rechtsparadigma reflexiv und synthetisch aufgehoben werden.



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digmatische Verständnis eines Rechtssystems, das sich als Teil im Ganzen der Gesellschaft reflektiert, ist im Kern ein politischer Streit. Im demokratischen Rechtsstaat betrifft er alle Beteiligten, er darf sich nicht nur in den esoterischen Formen eines von der politischen Arena entkoppelten Expertendiskurses vollzie­ hen.“ (477) Hier sind also alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefordert. Und dabei zeigt sich nicht zuletzt eine nationalstaatlich geprägte Grenze von Haber­ mas’ Überlegungen.

IX.2 Wandel des Rechtsparadigmas: Vom liberalen zum sozialstaatlichen Modell Sehen wir uns nun mit Habermas den Wandel vom liberalen zum sozialstaat­ lichen Modell näher an. Dieser sei zunächst im Privatrecht bemerkt worden. Habermas kontrastiert dessen klassische Sichtweise im Vergleich mit dem öffent­ lichen Recht: Das Privatrecht gewährleiste „über die Organisation einer entpoliti­ sierten, staatlichen Eingriffen entzogenen Wirtschaftsgesellschaft den negativen Freiheitsstatus der Rechtssubjekte und damit das Prinzip rechtlicher Freiheit […], während das öffentliche Recht arbeitsteilig der Sphäre des Obrigkeitsstaates zuge­ ordnet ist, um die unter Eingriffsvorbehalt operierende Verwaltung im Zaume zu halten und zugleich mit dem individuellen Rechtsschutz den positiven Rechtssta­ tus der Bürger zu garantieren“ (478f.). Das Problem mit dieser Sichtweise besteht darin, dass sie auf Voraussetzun­ gen beruht, die in der Realität nicht vorliegen. In der Formulierung von Habermas stützt sich dieses Modell „stillschweigend auf gesellschaftstheoretische Annah­ men oder Tatsachenunterstellungen – in erster Linie auf die ökonomischen Gleichgewichtsannahmen über marktförmig organisierte Wirtschaftsprozesse (mit unternehmerischer Freiheit und Konsumentensouveränität), sowie auf eine entsprechende soziologische Annahme über eine breite Streuung von Vermögen und eine annähernde Gleichverteilung sozialer Macht, die die chancengleiche Ausübung der privatrechtlichen Kompetenzen sichern sollten“ (485). Dass diese Voraussetzungen in der Realität niemals gegeben waren, ist Gegenstand von Legionen kritischer Literatur. Und die Einsicht darin wurde zum Ausgangspunkt nicht nur empirischer Kritik, sondern auch einer Praxis der Reform zur „Kompen­ sation von ‚Marktversagen‘ zugunsten der Inhaber schwächerer Marktpositionen“ (487). Das Privatrecht wurde gleichsam grundrechtlich in die Pflicht genommen. Dafür sorgte ein entsprechend aktiver Gesetzgeber (478). Das Privatrecht sollte nun also nicht mehr bloß individuelle Freiheit verbür­ gen, sondern einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten (480). Dazu dienten

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 Elisabeth Holzleithner

neue Rechtsgebiete wie das Arbeits- und Sozialrecht ebenso wie die „Materia­ lisierung des Vertrags-, Delikts- und Eigentumsrechts“ (479). Während in der klassischen Perspektive private und staatsbürgerliche Autonomie als Gegensatz angesehen wurden, wurde deren Verhältnis nun als „reziproke[r] Verweisungs­ zusammenhang“ (479) gesehen. Hier identifiziert Habermas „ein gewandeltes rechtsparadigmatisches Verständnis der Privatautonomie“ (482). Die Materia­ lisierung des Privatrechts wurde von vielen als Einschränkung individueller Freiheit angesehen. Kritik etwa am knebelnden Charakter des Antidiskriminie­ rungsrechts zeigen diese Perspektive ganz deutlich. Habermas widerspricht einer solchen Sichtweise. „Was als Einschränkung erscheint“, so hält er mit Verve fest, „ist nur die Kehrseite der Durchsetzung gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten für alle; [...]. Wenn sich daraus für eine der Parteien tatsächliche Einschränkun­ gen gegenüber dem Status quo ante ergeben, handelt es sich nicht um normative Einschränkungen des Prinzips rechtlicher Freiheit, sondern um die Abschaffung solcher Privilegien, die mit der von diesem Prinzip geforderten Gleichverteilung subjektiver Freiheiten unvereinbar sind.“ (483f.) Im Zusammenhang mit Habermas’ Beurteilung feministisch inspirierter rechtlicher Interventionen werde ich dann die Frage stellen, ob er selbst bei der Implementierung dieses Prinzips immer ganz konsequent ist – das Prinzip selbst ist aber klar und gilt Habermas als „normativ unbedenkliche[r] Motor“ (501) rechtlicher Reform. Dieser Motor steuert das Gefährt des „regulativen“, also interventionistischen Rechts allerdings in die unglückseligen Gefilde eines, wie Habermas dies nennt, „Nullsummenspiels“ (490) zwischen staatlichen und pri­ vaten Handlungssubjekten. Denn was als Stärkung der individuellen Positionen strukturell Schwächerer gedacht war, artete, wie Habermas markig formuliert, in „penetrante[] Vorgaben“ eines „fürsorgende[n], Lebenschancen zuteilende[n] Sozialstaat[s]“ (490) aus. Der staatliche Kompetenzzuwachs geht nach dieser Analyse auf Kosten individueller Kompetenz und Autonomie. Habermas spezifiziert nicht, worin genau der Kompetenz- und Autonomie­ verlust auf Seiten jener liegt, die von den sozialstaatlichen Verbürgungen profi­ tieren. Seine Andeutungen gemahnen an seine These von der Kolonialisierung der Lebenswelt aus der Theorie des kommunikativen Handelns. Hier wird er kon­ kreter im Hinblick auf die mit der Sozialpolitik einhergehenden „Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug“ (Habermas 1981, 531). Die These hätte in Faktizität und Geltung mehr Aufmerksamkeit hinsichtlich der in unterschied­ lichen Bereichen auch verschiedenen Faktizitäten dieser Ambivalenz verdient, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Positionalitäten und Vulnerabilitäten von Männern und Frauen (Fraser 1985, 40ff.). Als Fazit ist hier zu vermerken, dass beide Rechtsparadigmen, das liberale wie das sozialstaatliche, Habermas nicht überzeugend können. Die Ignoranz des



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Sozialstaats gegenüber den von ihm selbst produzierten individuellen Autono­ mieverlusten durch Eingriffe der anwachsenden Bürokratien in die Lebenszu­ sammenhänge ihrer Klientinnen und Klienten verhalte sich überdies symmet­ risch zur sozialen Unempfindlichkeit des liberalen Paradigmas (470). Schließlich können sich beiden Paradigmen, wie Habermas dies formuliert, nicht vom „produktivistischen Bild einer industriekapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft“ (491) lösen. Deren Vorstellung, Gerechtigkeit würde sich durch die privatauto­ nome Interessenverfolgung schlicht einstellen, wird aus Sozialstaatsperspektive bestritten. Aber die Bezogenheit bleibt. Und bei beiden Wahrnehmungsweisen gerate „der innere Zusammenhang zwischen privater und staatsbürgerlicher Autonomie – und damit der demokratische Sinn einer Selbstorganisation einer Rechtsgemeinschaft – aus dem Blick“ (491). Genau um diesen demokratischen Sinn der Selbstorganisation einer Rechts­ gemeinschaft geht es Habermas bekanntlich. An dieser Stelle ruft er in Erin­ nerung, bei der Begründung des Systems der Rechte gezeigt zu haben, „dass die Autonomie der Bürger und die Legitimität des Rechts aufeinander verwei­ sen“ (492). Eine wesentliche Ressource, aus der legitimes Recht gespeist wird, sind „Kommunikationen einer nichtvermachteten, über zivilgesellschaftliche In­stitutionen in den privaten Kernbereichen der Lebenswelt verwurzelten Öffent­ lichkeit“ – diese speisen den „rechtsstaatlich regulierten Machtkreislauf“ (492). Zusammenfassend hält Habermas eine Rechtsordnung für „in dem Maße legitim, wie sie die gleichursprüngliche private und staatsbürgerliche Autonomie ihrer Bürger gleichmäßig sichert; aber zugleich verdankt sie ihre Legitimität den Formen der Kommunikation, in denen sich diese Autonomie allein äußern und bewähren kann. Das ist der Schlüssel zu einem prozeduralistischen Rechtsver­ ständnis.“ (493) An dieser Stelle sind einige wenige Bemerkungen zu Habermas’ Begriff der Macht angezeigt. Mir scheint, dass dieser einigermaßen schillert. Einerseits ist Macht negativ besetzt, wenn das Ideal einer „nichtvermachteten“ Öffentlichkeit beschworen wird, die an eine nichtkolonialisierte Lebenswelt andockt. Gleichzei­ tig gibt es den Begriff der kommunikativen Macht sowie jenen des rechtsstaatlich regulierten Machtkreislaufs, die beide darauf hindeuten, Macht sei hier schlicht im Sinne einer Kraft gedacht, die legitim zu regulieren ermöglicht. Diese Ambi­ valenz zieht sich (nicht nur) durch Faktizität und Geltung. Abschließend muss darüber hinaus angemerkt werden, dass die von Habermas zum Ausgangspunkt genommene Problematik sich seit dem Beginn der 1990er Jahre, als das Buch verfasst wurde, massiv verschoben hat. Angesichts des Rückbaus sozialstaatli­ cher Verbürgungen im Zeichen neoliberaler Marktentfesselung zeigt sich das sozialstaatliche Paradigma erheblich geschwächt, mit massiven Auswirkungen in der Realität der an Zahl zunehmenden sozial Schwächeren. Habermas selbst

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hat im Zuge der Diskussionen um sein Buch festgehalten, er könnte diesen Teil des 9. Kapitels aufgrund der angesprochenen Entwicklungen heute so nicht mehr schreiben.3

IX.3 Schärfung der Konturen: Herausforderungen für das prozeduralistische Rechtsparadigma In der Folge will Habermas die Konturen des prozeduralistischen Rechtspa­ radigmas schärfen, indem er sich weiter mit den Problematiken des liberalen und des sozialstaatlichen Rechtsparadigmas auseinandersetzt. Insbesondere sei zu überlegen, wie die Nutznießerinnen und Nutznießer von Sozialleistun­ gen ihren Klientenstatus überwinden können. Es ist kein Zufall, dass Habermas im Folgenden auf Diskurse innerhalb des sozialstaatlichen Rechtsparadigmas fokussiert. Denn dieses soll ja nicht einfach überwunden, sondern „auf höherer Reflexionsstufe fortgesetzt“ (494) werden. Der leitende Gedanke besteht darin, „das kapitalistische Wirtschaftssystem zu zähmen, d. h. auf einem Wege sozial und ökologisch ‚umzubauen‘, auf dem gleichzeitig der Einsatz administrativer Macht ‚gebändigt‘, nämlich unter Effektivitätsgesichtspunkten auf schonende Formen indirekter Steuerung trainiert sowie unter Legitimitätsgesichtspunkten an kommunikative Macht rückgebunden und gegen illegitime Macht immunisiert werden kann“ (494). Das hat logischerweise auch Auswirkungen darauf, welche Rechtsform jeweils gewählt wird, um intervenierend zu regulieren: Diese muss „auf den ursprünglichen Sinn des Systems der Rechte bezogen bleiben – nämlich die private und öffentliche Autonomie der Bürger dadurch uno actu zu sichern, dass jeder Rechtsakt zugleich als Beitrag zur politisch-autonomen Ausgestaltung der Grundrechte, also als Element eines auf Dauer gestellten verfassunggeben­ den Prozesses verstanden werden kann“ (494). Das ist eine überaus anspruchs­ volle Ausgangsposition. Habermas befasst sich im Folgenden mit verschiedenen Strategien, die ver­ suchen, dies einzulösen – etwa die von Häberle favorisierte Idee eines „status activus processualis“ oder die an „Wiethölter anschließende Schule“, die sich „Formen kooperativer Willensbildung“ (496) verschreibt. Freilich können gerade letztere – beispielhaft auf den Punkt gebracht mit dem Begriff der „Tarifautono­ mie“ – erst recht wieder auf „freiheitseinschränkende Normalisierungen“ (498)

3 Diskussionsbemerkung im Anschluss an das Referat der Autorin im Rahmen des Workshops zur Vorbereitung des vorliegenden Bandes.



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hinauslaufen, wie sie etwa im Gefolge der Orientierung an „Normalarbeitsver­ hältnissen“ (498) auftreten. Habermas stützt sich an dieser Stelle insbesondere auf Analysen von Simitis und gelangt wieder an den Punkt, dass der „Ausgleich von Situationsnachteilen mit Bevormundungen“ verbunden ist, welche „die beabsichtigte Autorisierung zum Gebrauch der Freiheit in Betreuung verkehren“ (502). Aber liegt, so fragt Habermas, ein Dilemma vor? Ein Dilemma hat ja die Eigenheit, nicht aufgelöst werden zu können. Dies ist nicht in Habermas’ Sinn. Es sei „voreilig“, so warnt er, „diese Struktur selbst als dilemmatisch zu bezeich­ nen“ (502). Warum? Habermas fährt fort: „Denn die Kriterien, anhand deren sich der Punkt identifizieren lässt, wo die ermächtigende in eine nur noch betreuende sozialstaatliche Vorsorge umschlägt, sind zwar kontextabhängig und umstritten, aber nicht beliebig.“ (502) Hier sind einige Fragen zu stellen: Inwiefern spricht die Möglichkeit, solche Kriterien zu identifizieren, gegen das Vorliegen eines Dilemmas? Meint Habermas, dass man das durch den Konflikt von liberalem und sozialstaatlichem Rechtspa­ radigma eben nur scheinbar existierende Dilemma mithilfe des prozeduralisti­ schen Paradigmas zum Verschwinden bringen kann? Etwa indem sich die Krite­ rien kommunikativ ermitteln lassen und auf dieser Erkenntnis aufbauend dann Recht geschaffen werden kann, mit dem der nur scheinbar gordische Knoten des eben doch nicht vorhandenen Dilemmas durchhauen wird? Aber gerade wenn man darüber verhandelt, werden die Komplexitäten der diversen Ausprägungen der Dilemmata ja erst richtig offensichtlich. Ich vermute, dass Habermas der Leis­ tungskraft der zivilgesellschaftlichen Diskurse etwas zu viel zumutet. Ob diese Vermutung richtig ist, soll sich anhand der weiteren Überlegungen herausstellen. Worin liegt das gesuchte Kriterium, das zwar kontextabhängig und umstrit­ ten, nicht aber beliebig ist? Es wird nicht überraschen, wenn Habermas dieses im komplementären Verhältnis von privater und öffentlicher Autonomie sieht, die in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang zueinander stehen. Anhand dieses Maßstabes ließe sich einschätzen, „ob eine Regelung Autonomie fördert oder beeinträchtigt“ (503). Habermas weiter: „Diesem Maßstab zufolge müssen die Staatsbürger in Wahrnehmung ihrer öffentlichen Autonomie die Grenzen der privaten Autonomie so ziehen, dass diese die Privatleute für ihre Rolle als Staatsbürger hinreichend qualifiziert. Denn der Kommunikationszusammen­ hang einer aus Privatleuten zivilgesellschaftlich rekrutierten Öffentlichkeit ist auf die spontanen Zufuhren aus einer Lebenswelt angewiesen, die in ihren privaten Kernbereichen intakt ist.“ (503) Die Geschlechterkonnotationen des von ihm als regelrecht naturwüchsig angenommenen Privatbereichs thematisiert Habermas an dieser Stelle nicht. Die angesprochenen Kriterien will Habermas für die Beurteilung heranzie­ hen, ob ein Rechtsprogramm diskriminierend oder paternalistisch ist. Diskrimi­

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nierend ist es dann, wenn es für die „freiheitseinschränkenden Nebenfolgen fak­ tischer Ungleichheiten“ blind ist; als paternalistisch gilt es ihm dann, „wenn es gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen der staatlichen Kompensation dieser Ungleichheiten unempfindlich ist“ (503). Ganz entscheidend für die Archi­ tektur seiner Theorie ist die nächste Festlegung. Habermas stellt den Staatsbürger in seiner Rolle als Autor des Rechts derart in den Mittelpunkt, dass für ihn die „Gewährung von Ansprüchen auf Teilhabe im Sinne sozialer Sicherheit (und des Schutzes vor ökologischen oder wissenschaftlich-technischen Gefahren) [bloß] relativ begründet [wird]; sie bleibt bezogen auf die Gewährleistung individueller Selbstbestimmung als einer notwendigen Bedingung für politische Selbstbestim­ mung“ (503). Sprich: Die politische Selbstbestimmung steht im Zentrum, ist das Herz der Theorie. Dafür bedarf es der individuellen Selbstbestimmung, und diese wird u. a. ermöglicht durch Teilhabe im Sinne sozialer Sicherheit und Schutz vor ökologischen und wissenschaftlich-technischen Gefahren. Der mit dieser Akzentuierung noch einmal besonders herausgestrichene „freiheitsverbürgende Sinn legitime[r] Rechte“ werde sowohl vom liberalen wie auch vom sozialstaatlichen Rechtsparadigma verfehlt, und zwar wiederum auf symmetrische Weise. Beiden Rechtsparadigmen wirft Habermas vor, eine reduk­ tionistische Sichtweise zu haben: das sozialstaatliche, indem es Gerechtigkeit auf Verteilungsgerechtigkeit reduziere, und das liberale, indem es Rechte gleich wie Güter ansehe und so tue, als könnten Rechte einfach aufgeteilt und besessen werden (505). Bekanntlich kann man Rawls diesen Vorwurf machen, der unter die Grundgüter auch diverse Rechte subsumiert (Rawls 2003, 100); als allgemeiner Einwand gegen Ansätze, die dem liberalen Rechtsparadigma unterstellt werden könnten, scheint dies allerdings überzogen. Habermas vertieft die Problematik auch nicht weiter; er scheint im Wesentlichen eine Kritik von Iris Young aufzu­ greifen, die betont: „Rights are relationships, not things; they are institutionally defined rules specifying what people can do in relation to one another.“ (Young 1990, 25) Freilich ist kaum eine Rechtswissenschaftlerin vorstellbar, egal welcher Provenienz, die einen solchen Satz nicht unterschreiben könnte.

IX.4 Potenziale und Grenzen feministischer Rechtskritik Anlässlich der eben zitierten Bemerkung von Iris Young geht Habermas zur femi­ nistischen Rechtskritik über, die ihm seine eigene Kritik an den jeweiligen Schwä­ chen von liberalem und sozialstaatlichem Rechtsparadigma gut auf den Punkt zu bringen scheint. Insbesondere schreibt er der feministischen Rechtstheorie zu,



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sich „vom sozialstaatlichen Rechtsparadigma“ zu verabschieden (506). Haber­ mas hat jedenfalls recht, wenn er die feministische Rechtstheorie als sensibel mit Blick auf jene freiheitseinschränkenden Folgen zeichnet, welche sozialstaat­ liche Maßnahmen (und nicht nur diese!) auch zeitigen können (Fraser/Gordon 1993). Der Schritt hinein in ein prozeduralistisches Paradigma der Problemati­ sierung von geschlechtsbasierten Ungleichheiten macht skeptisch gegenüber aus feministisch-emanzipatorischer Perspektive je erreichte rechtliche Reformen. Sie tragen zu sehr die Spuren des „Systems“ in sich, sind noch zu wenig gespeist von einer „gleichberechtigten Teilnahme an der Praxis staatsbürgerlicher Selbst­ bestimmung“. In deren Zuge allein können Habermas zufolge „die Betroffenen selbst die jeweils ‚relevanten Hinsichten‘ von Gleichheit und Ungleichheit klären. Der Feminismus“, so konstatiert Habermas, „beharrt auf dem emanzipatorischen Sinn rechtlicher Gleichbehandlung, weil er sich gegen Strukturen der Abhängig­ keit richtet, die vom sozialstaatlichen ‚Distributionsparadigma‘ verdeckt werden“ (506). Im Sinne der vorangegangenen Analyse wäre zu ergänzen, dass solche Abhängigkeiten vom Sozialstaat auch erzeugt werden. Habermas hält sich auch hier nicht mit Spezifika auf. Wichtiger ist für ihn eine bestimmte Schlussfolgerung aus dieser Diagnose, und sie ist weitgehend: „Solange diese kolonisierenden Abhängigkeiten nicht überwunden werden, geht eine noch so wohlmeinende Politik der ‚begünstigenden Diskriminierung‘ in die falsche Richtung; denn sie unterdrückt die Stimmen derer, die allein sagen könnten, was die jeweils relevanten Gründe für eine Gleich- bzw. Ungleichbe­ handlung sind.“ (506f.) Diese apodiktische Einschätzung ist doch verblüffend. Denn diverse Maßnahmen einer „begünstigenden Diskriminierung“, wie Haber­ mas das komplexe Phänomen vorrangiger Berücksichtigung selektiv bezeich­ net, sollen doch gerade dazu dienen, die Stimmen allererst hörbar zu machen, also jenen Personen Zugang zum öffentlichen Raum zu geben, die sagen wollen, was aus ihrer Perspektive „die jeweils relevanten Gründe für eine Gleich- bzw. Ungleichbehandlung“ sind. Habermas vertieft im Weiteren, worin die Problematik des zeitgenössischen feministisch-emanzipatorischen Rechts zu sehen sei: Sie liege „in überverallgemeinernden Klassifikationen von benachteiligenden Situationen und benachtei­ ligten Personengruppen. Was die Gleichstellung von Frauen generell fördern soll, kommt oft nur einer Kategorie von (ohnehin privilegierten) Frauen auf Kosten anderer zugute, weil geschlechtsspezifische Ungleichheiten auf komplexe und undurchschaute Weise mit Unterprivilegierungen anderer Art (soziale Herkunft, Alter, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung usw.) korrelieren.“ (510) Auch diese Einschätzung, die sich auf prominente Stimmen einer Denkrichtung stützen kann, die unter dem von Kimberlé Crenshaw (1989) initiierten Begriff „intersektional“ bekannt geworden ist, erscheint einseitig. So wie Habermas

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die Problematik skizziert, haben wir es mit einem reinen Frauenthema zu tun. Männer bleiben durch die Verkomplizierung der Kategorie Frauen noch weiter außen vor. Polemisch zugespitzt scheint aus dieser Analyse hervorzugehen, dass Männer mit der Unterdrückung von Frauen gar nichts mehr zu tun haben – die Unter­ drückung findet allein innerhalb der Gruppe von Frauen statt. Vielsagend ist die Kritik daran, viele Maßnahmen kämen ohnehin nur privilegierten Frauen zugute. Wenn man aber darauf verzichtet, solche Maßnahmen zu setzen, also relativ pri­ vilegierte Frauen zu unterstützen, weil dadurch möglicherweise andere, weniger privilegierte Frauen benachteiligt werden: Was ist dann mit den Privilegien der noch privilegierteren Männer? Diese bleiben unangetastet. Im Übrigen ist es auch kein Naturgesetz, dass diejenigen Frauen, die durch „begünstigende Diskriminie­ rung“ gefördert werden, immer schon und ausschließlich die privilegiertesten sind. Es kommt auf die Art der Maßnahme selbst an. Habermas vollzieht in der Folge jene Schwierigkeiten nach, mit denen eine feministische Rechtswissenschaft in der Tat zu ringen hat: Sie schlägt sich damit herum und wendet sich gegen die Annahme, dass „die Gleichberechtigung der Geschlechter innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens und inner­ halb einer von Männern definierten und beherrschten Kultur erreicht werden kann“ (510). Innerhalb dieses Rahmens greift auch feministisch inspiriertes, regulatives Recht herrschende Geschlechterstereotype auf, antwortet auf diese mit Reformen und befestigt diese Stereotypen gleichzeitig. Das ist die eine Seite dessen, was mit Martha Minow (1990, 20) als „Dilemma der Differenz“ bezeich­ net werden kann. Die andere Seite macht freilich darauf aufmerksam, dass ein Ignorieren wie auch immer stereotypisierter geschlechtsspezifischer Unter­ schiede ebenfalls zur Befestigung des Status Quo führt, weil eben nicht interve­ niert wird. Am Grunde der Problematik liegt, hier hat Habermas recht, ein „Assimila­ tionsdruck“, der letztlich darauf zurückzuführen ist, dass „Differenzen zwischen den Geschlechtern nicht als interpretationsbedürftige Beziehungen zwischen zwei gleichermaßen problematischen Bezugsgrößen begriffen werden, sondern als Abweichungen von dem als unproblematisch unterstellten Maßstab ‚nor­ maler‘, nämlich auf Männer zugeschnittener Verhältnisse“ (511). Ein solches Verständnis liegt etwa dem bereits angesprochenen „Normalarbeitsverhältnis“ zugrunde. Qua Gebärfähigkeit wird Frauen in einem bestimmten Alter unter­ stellt, von den darin gebündelten Normen abzuweichen, und so erscheinen sie auf dem Arbeitsmarkt unter dem Stigma des Risikos. Der Ausweg, der Habermas vorschwebt, liegt ganz im Sinne des prozeduralistischen Rechtsparadigmas in öffentlichen Diskussionen, in welchen „die Hinsichten, unter denen Differenzen zwischen Erfahrungen und Lebenslagen von (bestimmten Gruppen von) Frauen



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und Männern für eine chancengleiche Nutzung subjektiver Handlungsfreiheiten relevant werden“ (513), zu klären sind. Wieder hat Habermas einen Punkt, wenn er gegen Ende seiner Ausführungen zur feministischen Rechtskritik festhält, dass auch „feministische Avantgarden kein Definitionsmonopol“ haben: „Die Wortführerinnen können, wie Intellektu­ elle überhaupt, erst sicher sein, nichts zu präjudizieren und niemanden zu bevor­ munden, wenn alle Betroffenen die wirksame Chance erhalten, ihre Stimme zu erheben, um aus konkreten Erfahrungen der verletzten Integrität, der Benachtei­ ligung und Unterdrückung Rechte einzufordern.“ (514) Ich gebe freilich zu beden­ ken, dass ein solcher Anspruch, wenn man ihn ganz ernst nimmt, letztlich dazu führen muss, die Hände in den Schoß zu legen. Denn wer kann sich jemals einer Sache ganz sicher sein? Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Stimmen der Benachteiligten und Unterdrückten einfach an einem absehba­ ren Punkt konvergieren würden. Es gibt Übereinstimmung, aber insbesondere dann, wenn der Pluralismus der Lebenslagen seine Wirkungen zeitigt, noch viel mehr Kollisionen, bis hin zu jenem unglückseligen Phänomen, das als „battle of oppression“ unter verschiedenen Gruppen von Marginalisierten (Ehrenreich 2004, 267) bezeichnet werden kann. Der aus Erfahrungen gespeiste Kampf gegen Unterdrückung erzeugt eben nicht nur Synergien, sondern häufig von Ängsten und Ressentiments gespeiste Konflikte. Als ein Beispiel sei nur der Streit um das aus religiösen Gründen getra­ gene Kopftuch genannt. Er zeichnet sich durch heftige innerfeministische Kämpfe um Deutungen und mögliche rechtliche Maßnahmen aus. Welche Deutung der vielen die überzeugendste ist, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem misstönen­ den Konzert der vielen Stimmen – und jede feministische Position beruft sich selbstverständlich auf Stimmen von Betroffenen. Aus den diversen Dilemmata der Differenz gibt es keinen Ausweg – man kann sie bloß und hoffentlich mög­ lichst sensibel durchschreiten. Es liegt dann an den politisch und juristisch zuständigen Instanzen, mit guten Gründen unterlegte Einsichten entsprechend umzusetzen.

IX.5 Zum Ausbau des demokratischen Rechtsstaats Damit komme ich zum dritten und letzten Teil nicht nur dieses Kapitels, sondern auch des Buches selbst. Habermas diskutiert hier, „wie in komplexen Gesell­ schaften der demokratische Rechtsstaat ausgebaut werden kann“ (516). Er hält zunächst fest, die Bürde der Legitimation, welche „die demokratische Genese des Rechts tragen“ müsse, werde immer größer, „je mehr das Recht als Mittel politi­ scher Steuerung und sozialer Gestaltung in Anspruch genommen wird“ (517). Der

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nächste Punkt geht mitten ins Zentrum der Frage nicht nur nach der Legitimi­ tät, sondern auch nach dem Wesen des Rechts: „Die Konstitutionsbedingungen von Recht und politischer Macht“, moniert Habermas, „würden verletzt, wenn sich die Politik der Form des Rechts für beliebige Zwecke bediente und dabei die Eigenfunktion des Rechts zerstörte.“ Und weiter: „Sobald nämlich Politiken, die nur noch in Rechtsformen eingekleidet werden, so zustandekommen, dass sie den Bedingungen der demokratischen Genese von Recht nicht mehr gehorchen, gehen auch die Kriterien verloren, nach denen sie normativ beurteilt werden können.“ (517) Wir erinnern uns, wie Habermas diese Kriterien fasst: Sie liegen im komplementären Verhältnis von privater und öffentlicher Autonomie, die in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang zueinander stehen. Die Problematik, die Habermas in den rechtlichen Entwicklungen der späten 1980er Jahre hin zu weitreichenden Kompetenzen der Verwaltung identifiziert, liegt nicht zuletzt in der Verschiebung des Maßstabs: Nicht die in der Idee des Gesetzes liegende Legitimität ist leitend, sondern der der Verwaltung eigene Maßstab der Effektivität. Dieser tritt umso mehr in den Vordergrund, je mehr die Verwaltung im Wege der finalen Programmierung dazu beauftragt wird, regulato­ risch in Lebenszusammenhänge zu intervenieren. Die Verwaltung verselbständigt sich zunehmend, je mehr sie „vom sozialstaatlichen Gesetzgeber für Aufgaben der Gestaltung und der politischen Steuerung in Anspruch genommen“ wird, und nun reicht, so die Analyse, „das Gesetz in seiner klassischen Form nicht mehr aus, um die Praxis der Verwaltung hinreichend zu programmieren“ (520). Die Verwal­ tung und mit ihr das Recht entkoppelt sich von der wertvollsten Legitimationsres­ source, dem „ungezwungenen Prozess der Bedürfnisartikulation“ (518–519). Worin liegt nach Habermas die Problematik dieser Entwicklung, und welche Konsequenzen hat sie für die Wahrnehmung der Steuerungsfähigkeit des Rechts? Zunächst: Habermas findet nicht, dass man aufgrund der konstatierten Ohnmacht des Rechts kapitulieren müsste. Die neuen Steuerungsaufgaben überfordern das Rechtsmedium gerade nicht als solches (524). Was im Gefolge der Verlagerung von Verantwortung auf die Verwaltung passiert, ist ein Umstellen jener Gründe, auf die sich die Administration bei der Erfüllung ihrer Aufgaben stützt. In Zeiten schlichter Konditionalprogramme war die Verwaltung einfach an die Vorgaben des Gesetzgebers gebunden. Wenn/Dann-Entscheidungen sind, so Habermas’ Vorstel­ lung, unvermittelt zu treffen. (Dass dies die Komplexität der Rechtsanwendung unterschätzt, wurde bereits angedeutet, kann an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden.) Anders die jetzige Situation: „Eine sich selbst programmierende Verwaltung muss [...] die im klassischen Gewaltenteilungsschema vorgesehene Neutralität im Umgang mit normativen Gründen aufgeben.“ (526) Insofern ist die Verselbständigung der Verwaltung ganz wörtlich zu verste­ hen, und das destabilisiert das klassische Verständnis von Gewaltenteilung:



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„In dem Maße, wie die Administration Aufgaben des politischen Gesetzgebers übernimmt und im Vollzug eigene Programme entwickelt“ (526), wird sie auch in Begründungsdiskurse verwickelt. Es wird ein rationaler Umgang mit norma­ tiven Gründen verlangt. Und das bedeutet eine Bezogenheit darauf, was ratio­ nale Aktoren unter der Voraussetzung wechselseitiger Anerkennung als freie und gleiche Bürgerinnen und Bürger beschließen würden. Die Bezugnahme auf solche Gründe aber ist an sich genuine Aufgabe der Gesetzgebung. Und der Ver­ waltung ist nicht ohne weiteres zuzutrauen, dass sie sich dieser Aufgabe bewusst ist und ihr auch gerecht wird. Es sollte ihr auch nicht ohne Umschweife zugemu­ tet werden – jedenfalls nicht ohne Ankoppelung an die Bedürfnisse jener, für die die Verwaltung im Sozialstaat angeblich tätig wird. Sieht man die Krisentendenzen des modernen Rechts in diesem Licht, so ergeben sich auch spezifische praktische Empfehlungen für den Umgang damit. Zunächst zum zentralen Problem: Es liegt laut Habermas in jener „Instrumentali­ sierung des Rechts für Zwecke der politischen Steuerung, die […] die Bindung der Politik an die Verwirklichung unverfügbarer Rechte auflöst“ (528). Genau diese Aufgabe muss aber in jeder Phase des Umgangs mit Recht – bei seiner Entstehung ebenso wie bei seiner Anwendung – präsent bleiben. Das hat Konsequenzen für alle Ebenen der Rechtsgestaltung, sieht man diese im Licht des prozeduralisti­ schen Rechtsparadigmas. Die „Plätze des privatautonomen Marktteilnehmers und des Klienten wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien“ sind hier „vakant gewor­ den“; sie werden nun „von Staatsbürgern eingenommen, die an politischen Dis­ kursen teilnehmen, um verletzte Interessen zur Geltung zu bringen und auf dem Wege ihrer Artikulation an der Bildung von Maßstäben für die Gleichbehandlung gleicher und die Ungleichbehandlung ungleicher Fälle mitzuwirken“ (528). Die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind auf allen Ebenen des Rechts­ diskurses einzubeziehen. Bei der Gesetzgebung ist das klar. Auch der Justiz können „trotz aller Kautelen Entscheidungen in der Grauzone zwischen Gesetz­ gebung und Rechtsanwendung zufallen“. Daher müsse die richterliche Rechts­ anwendung um „Elemente von Begründungsdiskursen“ (530) erweitert werden. Habermas schwebt vor, dass dies durch eine entsprechend gebildete, kritische Öffentlichkeit gewährleistet werden kann, vor der sich die Justiz zu rechtfertigen hat – eine solche Öffentlichkeit dürfte freilich nicht bloß aus juristischen Exper­ tinnen und Experten bestehen. Der besondere Fokus gilt aber – dies ist in obigen Ausführungen bereits ange­ klungen – der Verwaltung, die ihre Steuerungsaufgaben nicht mehr als „norma­ tiv neutralen, fachkompetenten Gesetzesvollzug“ (530) durchführen kann. Es häufen sich vielmehr Probleme, die in Begründungsdiskurse münden. Diese Ent­ wicklung lässt sich nicht rückgängig machen. Sie lässt sich aber, so hofft Haber­ mas, prozeduralistisch einhegen. In die Verwaltung müssen entsprechende

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„Legitimationsfilter“ (531) eingebaut werden. Hier gelte es durchaus, kreativ zu sein. Einschlägige Innovationen zu entwickeln sieht Habermas als „Frage des Zusammenspiels von institutioneller Phantasie und vorsichtiger Erprobung. Praktiken der Verwaltungsbeteiligung“ sind in dieser Perspektive „ex ante wirk­ same Verfahren zur Legitimation von Entscheidungen, die, ihrem normativen Gehalt nach beurteilt, Akte der Gesetzgebung oder Rechtsprechung substitutie­ ren“ (531). Ergänzt werden diese Prozeduren selbstredend durch entsprechende „reaktive Verwaltungskontrollen“ (531). Habermas schränkt ein, seine vorgängigen Überlegungen würden „noch nicht das neokorporatistisch geprägte Verhältnis der Verwaltung zu jenen Orga­ nisationen und gesellschaftlichen Funktionssystemen [berühren], die sich durch soziale Macht und komplexe Binnenstruktur von anderen rechtsschutzbedürf­ tigen Klienten schon deshalb unterscheiden, weil sie einer imperativen Steue­ rung weitgehend unzugänglich sind“ (532). Habermas wird weder hier noch an einer anderen Stelle spezifisch und sagt nicht, welche Organisationen und gesellschaftlichen Funktionssysteme er meint. Es ist anzunehmen, dass darun­ ter transnational agierende Konzerne als Hauptakteure der produktivistischen industriekapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft zu verstehen sind, wohl aber auch die Sozialpartner. Angelehnt an eine Kantische Formulierung bringt Habermas „[g]egen die Verselbständigung illegitimer Macht“ jenes „Palladium der Freiheit“ in Stellung, welches „in letzter Instanz wiederum nur eine misstrauische, mobile, wache und informierte Öffentlichkeit [sein kann], die auf den parlamentarischen Komplex einwirkt und auf den Entstehungsbedingungen legitimen Rechts beharrt“ (532). Sie ist es dann wohl auch, die dagegen protestieren muss, wenn Politiken die bereits angesprochene „Eigenfunktion des Rechts“ (517) in seiner Bezogenheit auf staats­ bürgerliche Autonomie verfehlen, indem es für beliebige politische Ziele instrumentalisiert wird (517). Denn Habermas mag sich dagegen verwehren, dass die Form des Rechts wie eine glänzende Hülle über illegitime Inhalte gestülpt wird, aber er vertritt jedenfalls nicht ausdrücklich die Theorie, dass derart problema­ tisches Recht seine Qualität, Recht zu sein und als solches in Geltung zu stehen, verlöre. Mit den einschlägigen Überlegungen Radbruchs zu solchen rechtlichen Normen, die in unerträglichem Widerspruch zur Idee der Gerechtigkeit stehen und denen daher die Geltung abzusprechen sei, befasst Habermas sich gar nicht. Insofern dürfte er der Positivität des Rechts den Vorrang vor seiner Legitimität geben (Dreier 1994, 99). Die politische Öffentlichkeit ist die eigentliche Ressource, welche das System der Rechte speist, sie ist, so Habermas, „die impulsgebende Peripherie, die das politische Zentrum einschließt: sie wirkt über den Haushalt normativer Gründe ohne Eroberungsabsicht auf alle Teile des politischen Systems ein“ (533). Mit



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Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit zeichnet das prozeduralistische Rechtsparadigma „energisch Bezugspunkte aus, unter denen der demokratische Prozess für die Verwirklichung des Systems der Rechte ein anderes Gewicht und eine bisher vernachlässigte Rolle gewinnt“ (536). Im demokratischen Prozess in seiner ganzen Vielfalt macht Habermas auch jenen Ort aus, an dem sich „die Kräfte gesellschaftlicher Solidarität […] regenerieren“ lassen. (536) Eines liefere und präjudizere das prozeduralistische Rechtsparadigma aber nicht, nämlich „ein bestimmtes Gesellschaftsideal, eine bestimmte Vision des guten Lebens oder auch nur eine bestimmte politische Option“ (536). Das ist eine starke Aussage – und sie überzeugt nur bedingt. Wenn das prozeduralistische Rechtsparadigma eine Synthese sein soll, die liberales und sozialstaatliches Rechtsparadigma in sich aufhebt, dann sind damit einige Vorentscheidungen getroffen, die auch ausbuchstabiert werden könnten. Habermas selbst deutet dies an, wenn er an einer zentralen Stelle festhält, die von ihm postulierten Rechte implizierten „Grundrechte auf die Gewährung von Lebensbedingungen, die in dem Maße sozial, technisch und ökologisch gesichert sind, wie dies für die chancengleiche Nutzung der […] bürgerlichen Rechte unter gegebenen Ver­ hältnissen jeweils notwendig ist“ (157). Das prozeduralistische Rechtsparadigma scheint demnach um einiges voraussetzungsvoller, als Habermas suggeriert. Darüber hinaus scheint, und dies ist ein ganz grundsätzlicher begrifflicher Punkt, dass die Bezeichnung des von Habermas favorisierten Rechtsparadigmas als „prozeduralistisch“ nicht geglückt ist. Jedes Rechtsparadigma kann nicht anders als prozeduralistisch sein – es sind genau die institutionalisierten Proze­ duren und die mit ihnen verbundenen Rollen, die Recht ausmachen. Die Pointe dürfte doch darin bestehen, dass der Habermas’sche Ansatz partizipatorisch ist, dass also die Prozeduren in jedem Bereich des Rechts um staatsbürgerliche Parti­ zipation anzureichern sind. Damit sei ein letzter Punkt vorgetragen. Gegen Ende seines Werks hält Haber­ mas fest, dass „das paradigmatische Rechtsverständnis […], wie der Rechtsstaat selber, einen dogmatischen Kern [behält]: die Idee der Autonomie, wonach Men­ schen nur in dem Maße als freie Subjekte handeln, wie sie genau den Gesetzen gehorchen, die sie sich gemäß ihren intersubjektiv gewonnenen Einsichten selber geben“ (537). Ich halte diese These insofern für überzogen und dabei schon fast gefährlich, als sie ein wesentliches Element des demokratischen Ethos nicht thematisiert: die so häufige Erfahrung, Gesetzen gehorchen zu müssen, die eben genau nicht den eigenen intersubjektiv gewonnenen Einsichten entsprechen. Dass und inwiefern das Recht das Ergebnis von Kompromissen ist, die „wir“ – als Marktteilnehmerinnen, Klientinnen des Sozialstaats, Staatsbürgerinnen – schlicht ertragen müssen: Das scheint mir eine wesentliche Komponente eines realistischen prozeduralistischen respektive partizipatorischen Ansatzes zu sein.

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Demokratie lehrt uns nicht zuletzt, mit der Enttäuschung unserer eigenen indi­ viduellen wie kollektiven Fehlbarkeit umzugehen – aufgrund der „Bürden des Urteilens“ (Rawls 2003, 68f.) und weil Prozesse der Aushandlung nicht immer und nicht von allen mit den besten Absichten geführt werden. Das von Haber­ mas immer wieder gleichsam utopisch imaginierte inhaltliche Einverständnis als Fluchtpunkt demokratischer Prozesse ist aber nicht zu haben. Und genau diese konstitutive Umstrittenheit jeglicher Inhalte, denen im demokratischen Rechts­ staat Legitimität zugemessen wird, sollte eine Theorie wie jene von Habermas, die so sehr auf die aktive Beteiligung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger abstellt, angemessen thematisieren: auch und gerade als deren Leistung, dies auszuhalten und gemeinsam unermüdlich um legitimes Recht zu ringen.

Literatur Crenshaw, K. 1989: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum, 139–167. Dreier, R. 1981: Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, Frankfurt/Main. Dreier, R. 1994: Rechtsphilosophie und Diskurstheorie. Bemerkungen zu Habermas’ „Faktizität und Geltung“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 48, 90–103. Dworkin, R. 1990: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/Main. Ehrenreich, N. 2004: Subordination and Symbiosis: Mechanisms of Mutual Support between Subordinating Systems, in: University of Missouri-Kansas City Law Review, 251–324. Fraser, N. 1985: What’s Critical About Critical Theory? The Case of Habermas and Gender, in: New German Critique 35, 97–131. Fraser, N./Gordon, L. 1993: Dekodierung von „Abhängigkeit“. Zur Genealogie eines Schlüsselbegriffs des amerikanischen Wohlfahrtsstaates, in: Kritische Justiz, 306–323. Habermas, J. 1981: Theorie des kommunikativen Handelns. Zweiter Band, Frankfurt/Main. Holzleithner, E. 1996: Begriffsbestimmungen. Habermas, Unbestimmtheit und „beischlafsähnliche Handlungen“, in: Juridikum 4, 21–25. Minow, M. 1990: Making All the Difference. Inclusion, Exclusion, and American Law, Ithaca/New York. Rawls, J. 2003: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt/Main. Somek, A. 1993: Unbestimmtheit: Habermas und die Critical Legal Studies. Einige Bemerkungen über die Funktion von Rechtsparadigmen für die Rechtsanwendung im demokratischen Rechtsstaat, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41, 434–457. Young, I. M. 1990: Justice and the Politics of Difference, Princeton.

Christian Hiebaum

Anhang I Recht und Moral (Tanner Lectures 1986) In seinen Tanner Lectures aus dem Jahr 1986 widmet sich Habermas einer Frage, die die Rechtstheorie seit jeher beschäftigt: der Frage, wie das Recht Verbindlichkeit erlangt und damit sowohl individuelle als auch politische Entscheidungen legitimieren kann. Indem Habermas seine Rechtsphilosophie in eine umfassendere gesellschaftstheoretische Reflexion einbettet, verlässt er aber die schon reichlich ausgetretenen Pfade der Diskussion und kämpft an mehreren Fronten: (1) gegen einen Formalismus, der die Rationalität des Rechts im Wesentlichen mit der semantischen Form von Rechtsregeln identifiziert; (2) gegen naturrechtliche Auffassungen, wonach die Verbindlichkeit des positiven Rechts letztlich von seiner moralischen Substanz abhängt; (3) gegen einen Positivismus, der von einer nicht bloß empirisch-kontingenten Verbindung zwischen Recht und Moral nichts wissen will; und (4) gegen einen an den Positivismus anknüpfenden soziologischen Realismus, der die Legitimitätsunterstellungen der Rechtsadressaten und Rechtsanwender im Ergebnis als (notwendige) Illusionen beschreibt. Im Folgenden werde ich die Argumentation, die Habermas in den beiden Vorlesungen entfaltet, zu rekonstruieren versuchen und kommentieren. Einige Fragen, die der Text aufwirft, werden in anderen Kapiteln von Faktizität und Geltung beantwortet oder zumindest eingehender erörtert. Andere wiederum indizieren Grundprobleme, für die ich selbst bislang keine Lösung zu erkennen vermag, welche die Ansprüche der Habermas’schen Diskurstheorie nicht signifikant herunterschrauben würde.

A.I.1 Kritik des Rechtsformalismus und der Entformalisierung Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet Max Webers Diagnose einer Materialisierung des bürgerlichen Formalrechts. Weber beobachtete, wie viele seiner Zeitgenossen, ein Schwinden der Legitimationskraft des Rechts durch Aushöhlung des Systems öffentlicher, abstrakter und allgemeiner Regeln. Damit meinte er die insbesondere durch Demokratie und sozialstaatliche Gesetzgebung bedingte Instituierung eines Rechts „auf der Grundlage pathetischer sittlicher Postulate (‚Gerechtigkeit‘, ‚Menschenwürde‘)“ (Weber 1972, 507). Als Positivist

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wollte er die legitimierende Kraft des Rechts nicht aus der Moral herleiten, also fokussierte er auf das, was er als dessen eigentümliche Rationalität begriff. Diese ergab sich für ihn allein aus den formalen Eigenschaften, wie sie zu einem guten Teil das Ergebnis wissenschaftlich-methodischen Rechtsdenkens seien. Das Eindringen von Gesichtspunkten materialer Gerechtigkeit (jenseits der Sicherung von Leben, gänzlich formaler Freiheit und Eigentum) müsse diese Rationalität zerstören und somit Legitimitätsprobleme erst erzeugen. Immerhin werde die Rechtsfindung dadurch irrational. Dass solche Gesichtspunkte in das Recht eindringen, hält Weber freilich nicht für überraschend. Denn die „‚Erwartungen‘ der privaten Rechtsinteressenten sind an dem ökonomischen oder fast utilitaristischen praktischen ‚Sinn‘ eines Rechtssatzes orientiert“ (Weber 1972, 506.). Aber dieser sei eben, „rechtslogisch angesehen, irrational“ (Weber 1972, 506). Zudem könne angesichts der Tatsache, dass es sich bei Gesetzen üblicherweise um Kompromisse zwischen konfligierenden Interessen handle, ohnehin nicht mit moralisch richtigem bzw. material gerechtem Recht oder Konsens darüber gerechnet werden (Weber 1972, 502). Analoges gelte für die privatautonome Rechtsetzung durch Verträge. Auch die daraus entstehenden Normen dürften, u. a. aufgrund von Machtasymmetrien zwischen den Parteien, nur in seltenen Fällen moralischen Ansprüchen vollends genügen (Weber 1972, 439). Habermas bestreitet nun keineswegs den Befund einer Entformalisierung im Sinne einer Vermehrung von Generalklauseln oder abstrakten Zielvorgaben und folglich einer Vergrößerung der Freiräume für Ermessensausübung in der Rechtsanwendung. Er fügt ihm sogar noch weitere Beispiele aus der Zeit nach Weber hinzu (553ff.): die Delegation von Verhandlungs- und Rechtsetzungsmacht an streitende Parteien (etwa Tarifs- bzw. Kollektivvertragsparteien); die „wachsende Empfindlichkeit des Gesetzgebers gegenüber Problemen der Durchsetzbarkeit oder Akzeptanz“ (553) sowie zunehmende Konsensorientierung selbst dort, wo man mit einem besonders ausgeprägten Zwangscharakter der Normen rechnen sollte (etwa im Strafrecht); die Instrumentalisierung des Rechts für immer mehr politische Zwecke (nicht bloß des sozialen Ausgleichs); und den verstärkten Rekurs auf moralische, teilweise in den positiven Rechtsbestand übernommene Prinzipien. Allerdings besteht Habermas darauf, dass Webers Rechtsrationalität in ihren drei Dimensionen Regelrationalität, Zweckrationalität und (rechts-)wissenschaftliche Rationalität die legitimierende Kraft des positiven Rechts nicht erklären könne: „Wie ein Blick auf die europäische Arbeiterbewegung und die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts lehrt, sind ja die politischen Ordnungen, die den Modellvorstellungen von einer formalrechtlich rationalisierten Herrschaft noch am nächsten kamen, keineswegs per se als legitim empfunden worden – sondern allenfalls von seiten der nutznießenden Sozialschichten und ihrer liberalen Ideo-



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logen. Wenn man das liberale Modell einmal für Zwecke der immanenten Kritik voraussetzt, ergibt sich die Legitimität des bürgerlichen Formalrechts bei näherem Zusehen gar nicht aus den angegebenen ‚rationalenʻ Kennzeichnungen, sondern bestenfalls aus moralischen Implikationen, die sich aus jenen Kennzeichnungen unter Zuhilfenahme weiterer empirischer Annahmen über Struktur und Funktionen der Wirtschaftsordnung ableiten lassen.“ (546f.) Dass der Rechtsformalismus, wie er ihm vorschwebte, nicht allen Interessen gleichermaßen gerecht wird, das war freilich auch Weber klar: „Insbesondere ist den besitzlosen Massen mit einer formalen ‚Rechtsgleichheit‘ und einer ‚kalkulierbaren‘ Rechtsfindung und Verwaltung, wie sie die ‚bürgerlichen‘ Interessen fordern, nicht gedient. Für sie haben naturgemäß Recht und Verwaltung im Dienst des Ausgleichs der ökonomischen und sozialen Lebenschancen gegenüber den Besitzenden zu stehen, und diese Funktion können sie allerdings nur dann versehen, wenn sie weitgehend einen unformalen, weil nämlich ‚ethischen‘ (‚Kadi‘-)Charakter annehmen.“ (Weber 1972, 565) Damit ist nicht gesagt, dass die formalen Eigenschaften nichts mit wahrhaft rationaler Legitimation zu tun hätten. Immerhin realisieren, wie Habermas hervorhebt, abstrakt-allgemeine Regeln in dem Maße, wie sie wirksam sind, den Wert der Rechtssicherheit und – teilweise – das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Die rechtsdogmatischen Bemühungen um eine Systematisierung des Normenbestands hingegen lassen, gerade unter der Bedingung einer Auflösung von Traditionen und religiöser wie metaphysischer Gewissheiten und einer Koppelung des Rechts an die Politik, einen Begründungsbedarf zu Tage treten, der über die Desiderate der begrifflichen Explikation und der logischen Konsistenz hinausgeht. Aber was macht eine Begründung aus, die als legitimitätsstiftend gelten kann, weil sie rational ist? Der demokratische Gesetzespositivismus – etwa von Wolfgang Abendroth, für den das Recht überhaupt keine eigene Struktur aufweise, die sich verformen ließe, sondern lediglich ein Mittel der kollektiven Selbstbestimmung sei – liefert nach Habermas keine zufriedenstellende Antwort. Ihm wird attestiert, „eigentümlich blind [zu sein] sowohl gegenüber den Systemzwängen von Staat und Ökonomie wie auch gegenüber den spezifischen Erscheinungsformen der sozialstaatlichen Verrechtlichung“ (557). Habermas sieht gerade hinter den angeführten Entformalisierungstendenzen einen Gesetzgeber am Werk, der immer bereitwilliger eigene Kompetenzen und Aufgaben an Justiz und Verwaltung abgibt. Von demokratischer Selbstbestimmung kann demnach zunehmend weniger die Rede sein: „‚Gesetzesattrappen‘ bilden nur noch eine hauchdünne Legitimation für Durchgriffe der Justiz auf überpositive Wertungen einerseits, für die korporatistischen Vernetzungen und Arrangements der Verwaltung mit den jeweils mächtigsten Interessen andererseits.“ (558)

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A.I.2 Die prozeduralistische Alternative Zumindest als Philosoph hat Habermas aber noch nicht jede Hoffnung auf ratio­ nale Legitimation in einem anspruchsvolleren Sinne fahren lassen. Er glaubt noch an die Möglichkeit, den Verbindlichkeitsanspruch des Rechts moralisch und zugleich demokratisch zu begründen, ohne damit einer Entformalisierung das Wort reden oder sich dieser gegenüber gleichgültig verhalten zu müssen. Ja, er sieht gar keine überzeugende Alternative, wenn man Rechtsnormen als verbindlich und nicht bloß als für Klugheitskalküle relevant verstehen möchte. Jedoch müsse sich die Rationalität des Rechts und der rechtsförmigen Herrschaft aus einer dem Recht inhärenten Moralität ergeben. Denn der Rekurs auf irgendwelche von der Rechtsprechung verwalteten überpositiven „Werte“, vor dem Rechtsformalisten wie Positivisten graut, ist für Habermas keine Lösung: „Ob man diese nun dem christlichen Naturrecht oder einer materialen Wertethik entlehnt, oder ob man sich neoaristotelisch auf das eingelebte Ethos vor Ort beruft, gleichviel – mit dieser Berufung auf die ‚Unverfügbarkeit‘ einer konkreten Wertordnung erfüllt sich tatsächlich Max Webers Befürchtung, daß die Entformalisierung des Rechts für einströmende materiale und damit strittige, im Kern irrationale Wert­ orientierungen Tür und Tor öffnet. Für die Anwälte einer solchen naturrechtlichen bzw. kontextualistischen Wertejudikatur ist es kennzeichnend, dass sie die philosophischen Prämissen Max Webers unter anderen Vorzeichen teilen. Sie stellen Verfahren, abstrakte Grundsätze und konkrete Werte auf eine Ebene. Weil das sittlich Allgemeine immer schon in konkret-historische Handlungszusammenhänge eingelassen sei, könne es eine Begründung oder Abwägung von Prinzipien nach einem allgemeinen, Unparteilichkeit verbürgenden Verfahren nicht geben.“ (561) Das belegt nach Habermas auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, welches bei der Abwägung von Werten, zu denen es individuelle Rechte und kollektive Ziele aggregiert habe und die es als nicht weiter rationalisierbare Präferenzen behandle, ohne klare Kriterien vorgehe. Solche auf Norminhalte bezogenen Güter- und Wertethiken würden also den „rationalen Kern der gerichtlichen Verfahrenspraxis“ (562) verfehlen und könnten dem Pluralismus der modernen Gesellschaft nicht gerecht werden. Die Vorbehalte gegenüber der Art und Weise, wie Güter- und Werteabwägungen insbesondere bei den Verfassungsgerichten bisweilen durchgeführt und begründet werden, kann man durchaus nachvollziehen. Dass Grundrechtsnormen, wie sie in Verfassungstexten formuliert sind, nicht als klare Regeln rekon­ struiert werden können und Grundrechte gegen kollektive Ziele abzuwägen sind, scheint jedoch ebenso offensichtlich. Mit der grundsätzlichen Kritik, die Habermas im Haupttext (309–324) präzisiert und die den „deontologischen Sinn“ von Normen dem „teleologischen Sinn“ von Werten gegenüberstellt, dürften Juris-



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ten jedenfalls wenig anfangen können. Und auch wenn man sich in der Tat eine gewisse Rationalisierung der Abwägungen wünschen würde, auf dass diese ihren oftmals ausgeprägt intuitionistischen Charakter abstreifen (Somek 2000), ist schwer zu sehen, welche Alternative sich aus der Diskurstheorie ergibt (siehe Alexy 2000, 46–52). Vorerst bleibt es bei einem Versprechen: „Allein die prozeduralistisch angelegten Moral- und Gerechtigkeitstheorien versprechen ein unparteiliches Verfahren für die Begründung und Abwägung von Prinzipien.“ (562f.) Zwei Annahmen kennzeichnen also Habermas’ Projekt: erstens, dass als maßgeblicher Legitimitätsglaube der Rechtsunterworfenen lediglich die Einsicht in die Vernünftigkeit des Rechts gelten könne; und zweitens, dass die Vernünftigkeit des Rechts sich – angesichts der als „nachmetaphysische Konstellation“ beschriebenen Pluralität von Vorstellungen über das Wahre, Schöne und Gute – an nichts anderem entscheide als an der Vernünftigkeit der Verfahren der Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Nicht bloß die philosophische Ethik und die Rechtstheorie, sondern alle vernünftigen Subjekte hätten einen Paradigmenwechsel weg von substanzialistischen hin zu prozeduralistischen Normbegründungen zu vollziehen, wenn sie denn als vernünftig gelten wollten. Vernünftige Rechtsunterworfene halten demnach das positive Recht und die darauf gestützte politische Herrschaft im Wesentlichen aus denselben (moralischen) Gründen für legitim. Nur standhafte Fundamentalisten, so könnte man Habermas verstehen, würden sich dem Prozeduralismus verweigern und damit die „nachmetaphysische Konstellation“, in der sie sich befinden, verkennen (kritisch Larmore 1993, 325). Eine weniger starke und, wie mir scheint, plausiblere These (womöglich die, die Habermas tatsächlich vertritt) besagt, dass nicht notwendig unvernünftig ist, wer an metaphysischen und substanzialistischen Moralkonzeptionen festhält, sondern wer nicht mit Uneinigkeit rechnet oder daraus überhaupt keine Schlussfolgerungen zieht für die Legitimität von Zwangsausübung. Es liegt also durchaus nahe, einer normativen Rechts- und Politiktheorie für die moderne Gesellschaft eine wenigstens partiell prozeduralistische Fassung zu geben. Die Frage ist nur: Wie viel genau vermag welche Version des Prozeduralismus theoretisch und praktisch zu leisten? Habermas’ Favorit unter den prozeduralistischen Theorien, mithin diejenige, die für ihn den „moral point of view“ am angemessensten expliziert, ist, wenig überraschend, die von Karl-Otto Apel und ihm selbst vorgeschlagene. Ihr zufolge ist die Prüfung von Geltungsansprüchen im Rahmen rationaler Diskurse gefordert, an denen sich alle möglicherweise Betroffenen als Freie und Gleiche aktiv und passiv beteiligen können und in denen allein der Zwang des besseren Arguments den Ausschlag gibt. (Zwischen dem Moralprinzip und dem aus der Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform hervorgehenden Demokratieprinzip wird hier, anders als im Haupttext (138–143), noch nicht explizit

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unterschieden.) Die juristischen Entscheidungsverfahren wiederum müssen so institutionalisiert sein, dass sie „für moralische Diskurse durchlässig sind“ (565)  – allerdings ohne dass dadurch die Grenzen zwischen Recht und Moral verwischt würden. Sowohl für die Moral als auch für das Recht gelte, dass „die Rationalität der Verfahren die ‚Gültigkeit‘ der verfahrensmäßig erzielten Resultate verbürgen soll“ (565). Warum hier „Gültigkeit“ in Anführungszeichen gesetzt wird, ist nicht ganz klar – womöglich, weil „Gültigkeit“ für Habermas in Bezug auf Rechtsnormen etwas anderes bedeutet als in Bezug auf moralische Normen. Habermas könnte meinen, dass gültige Rechtsnormen legitime und somit Verbindlichkeit entfaltende, aber nicht unbedingt inhaltlich richtige Normen seien. Im Haupttext ist im Zusammenhang mit ordnungsgemäß zustande gekommenen Rechtsnormen denn auch von der „Vermutung der Vernünftigkeit“ (368) die Rede. Das klingt mehr nach einem guten Grund, solche Normen für legitim im Sinne von verbindlich zu halten, als nach einem zwingenden Grund, ihnen moralische Optimalität zuzuschreiben. Gültige Normen der Moral dagegen, so könnte man Habermas verstehen, seien auch inhaltlich richtig. Andererseits aber heißt es: „Wie immer die Prozedur aussieht, nach der wir prüfen wollen, ob eine Norm die zwanglose, d.  h. rational motivierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden könnte, sie garantiert weder Unfehlbarkeit, noch Eindeutigkeit, noch fristgerechtes Zustandekommen des Resultats. Eine autonome Moral verfügt nur über fallibilistische Verfahren der Normbegründung.“ (566) Bedeutet dies, dass auch in der Moral kein bestimmtes Verfahren die Richtigkeit einer Norm verbürgen kann, wenngleich es diese verbürgen soll? Oder ist mit „verbürgen“ (565) etwas anderes gemeint als mit „garantieren“? Jedenfalls aber kann demnach kein bestimmtes Verfahren die Richtigkeit einer Norm konstituieren. Bemerkenswert erscheint zudem, dass die juristischen Verfahren sich nach Habermas deutlich weiter den „Forderungen vollständiger Verfahrensrationalität [annähern]“ (565) als die moralischen Verfahren, „weil sie mit institutionellen, also unabhängigen Kriterien verknüpft sind, anhand derer sich aus der Perspektive eines Unbeteiligten feststellen läßt, ob eine Entscheidung regelkonform zustandegekommen ist oder nicht“ (565). Doch soll dies auch für jene Verfahren gelten, in denen rechtsanwendende Organe letzten Endes nach eigenem Ermessen Werte abwägen und Recht fortbilden? Zuvor stellt sich aber schon die Frage, ob der Vergleich zwischen juristischen Verfahren und den „Verfahren moralischer, rechtlich nicht geregelter Diskurse“ (565) ein glücklicher ist. Während es sich bei ersteren nämlich auch um empirische Gegebenheiten handelt, sind letztere wohl eher als Methoden zu verstehen. Nicht nur haben wir noch nie wirklich Sozialkontrakte in einem Rawls’schen Urzustand abgeschlossen, die rationale Konsensbildung über moralische Fragen im Sinne der Diskursethik ist, anders als



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das Schließen von Kompromissen, ebenfalls nicht gerade etwas, das wir täglich beobachten können. Was die Funktionalität des Rechts als solchen (und nicht bloß rechtlicher Verfahren) angeht, so erinnern Habermas’ Überlegungen an das, was Hart über die Vorzüge von Systemen gesagt hat, die, wie für Rechtssysteme charakteristisch, neben Primärregeln auch noch Sekundärregeln beinhalten (Hart 1997, Kap. V). Nach Habermas kompensieren konkrete zwangsbewehrte Rechtsnormen kognitive und motivationale Schwächen hochabstrakter moralischer Regeln (vgl. auch 147–151). Insbesondere dann, so möchte man ergänzen, wenn ein Problem die Struktur eines Gefangenendilemmas aufweist, ist es mit der richtigen Gesinnung üblicherweise nicht getan. Dass allseitige Kooperation für alle besser wäre, schafft noch kein hinreichendes Motiv für den Einzelnen zu kooperieren. Lauter rationale Egoisten müssen wir dabei gar nicht voraussetzen. Wenn viele Gesellschaftsmitglieder stärker egoistisch als moralisch motiviert sind, werden einzelne moralisch zur Kooperation Motivierte wenig bis nichts ausrichten. Ja, es ist sogar zweifelhaft, ob überhaupt noch eine moralische Pflicht zur Kooperation besteht, wenn man sich nicht darauf verlassen kann, dass hinreichend viele andere ebenfalls kooperieren. Rechtsnormen lösen also – und das ist die moralische Pointe – „das Problem der Zumutbarkeit einer anspruchsvollen universalistischen Moral. Zumutbar sind nämlich auch moralisch gut begründete Normen nur in dem Maße, wie diejenigen, die ihre Praxis danach einrichten, erwarten dürfen, daß auch alle anderen sich normenkonform verhalten.“ (566f.) Tatsächlich darf man annehmen, dass bestimmte moralische Pflichten vor der Institutionalisierung und Allokation von Rechtspflichten gar nicht existieren. Manchmal begründet nicht die Moral eine Konvention, sondern umgekehrt die Konvention moralische Pflichten. Erst mit der (rechtlichen) Konvention, sich im Straßenverkehr auf der rechten Seite zu halten, entsteht auch die moralische Pflicht, rechts zu fahren. Gleichwohl scheint sich mir aus einer Kompromissethik die im Großen und Ganzen geeignetere Theorie rationaler prozeduraler Legitimation des Rechts zu ergeben. Jedenfalls verdient es der Kompromiss, als wichtiger Teil einer solchen Theorie angesehen zu werden. Zumal Habermas selbst den „instrumentellen Aspekt des Rechts“ betont und feststellt: „Während Moralnormen stets Selbstzweck sind, dienen Rechtsnormen auch als Mittel für politische Ziele. Sie sind nämlich nicht nur wie die Moral für die unparteiische Beilegung von Handlungskonflikten da, sondern auch für die Umsetzung politischer Programme. Die kollektiven Zielsetzungen und implementierenden Maßnahmen der Politik verdanken der Rechtsform erst ihre bindende Kraft.“ (567) Dementsprechend sind es keineswegs nur moralische Diskurse, die im Rahmen rechtsförmiger Verfahren geführt werden, sondern eben auch, um Habermas’ Terminologie zu verwenden, pragmatische und ethische. So heißt es im Haupttext: „Aber die politische

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Gesetzgebung stützt sich nicht nur, und nicht einmal in erster Linie auf moralische Gründe, sondern auch auf Gründe anderer Art.“ (285) Hinzufügen könnte man, dass bei oder vor vielen Entscheidungen, auch über Verfahren selbst, dem Argumentieren eine weniger prominente Rolle zukommt als dem Verhandeln. Dies legt zumindest eine Abschwächung der Idee einer rationalen prozeduralen Begründung von Rechtsnormen nahe – eine Art nicht-idealen Prozeduralismus. Zudem sollten wir im Zusammenhang mit der Legitimation genereller Rechtsnormen mindestens zwischen zwei Fragen unterscheiden: 1) Begründen demokratische Verfahren insgesamt eine Vermutung der Vernünftigkeit? Es gibt in der Tat gute Gründe zur Annahme, dass Demokratie unter halbwegs günstigen sozialstrukturellen, institutionellen und kulturellen Bedingungen verlässlicher bzw. eher als andere Herrschaftsformen Gesetze hervorbringt, von denen man sagen kann, dass sie dem allgemeinen Interesse dienen (siehe Anderson 2007; Knight/ Johnson 2011). 2) Begründet die Tatsache, dass eine Norm angemessen öffentlich diskutiert und danach demokratisch beschlossen worden ist, für diejenigen, die unterlegen sind, eine Vernünftigkeitsvermutung in Bezug auf diese Norm? Zumindest nicht unbedingt, auch wenn die auf das Gesamtsystem bezogene Vermutung der Vernünftigkeit zur Legitimation der einzelnen Gesetze beiträgt. Doch selbst wenn die Vernünftigkeitsvermutung im Einzelfall nicht besteht, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Unterlegenen die jeweilige Norm nicht dennoch aus guten Gründen für hinreichend legitim, d. h. rechtsverbindlich, halten und ihr ihrerseits Legitimationskraft attestieren können. Eine Legitimitätskonzeption muss, um ihrerseits als vernünftig gelten zu können, keine rein epistemische sein. (Dass die meisten Menschen wohl über gar keine halbwegs präzise Legitimitätskonzeption, geschweige denn eine rationale, verfügen, sondern als Rechtsnormen ausgewiesene Normen einfach habituell für verbindlich halten, ob sie sie dann befolgen oder nicht, dürfte auch Habermas vollkommen klar sein und sollte in diesem Zusammenhang keinen Einwand begründen. Denn die Frage lautet ja, wie es möglich sei, dem Recht vernünftigerweise Legitimität und Legitimationskraft zuzuschreiben.) Schon das bloße Faktum, dass andere das System und dessen Verfahren oder einzelne Normen akzeptieren, kann bei der eigenen Beurteilung der Legitimität vernünftigerweise eine Rolle spielen – gerade für diejenigen, die an der moralischen Rationalität der Verfahren zweifeln bzw. den Verfahren nur deshalb Legitimationskraft zuschreiben, weil sich keine realisierbaren besseren Alternativen aufdrängen. Dies können sogar alle tun, und alle können wissen, dass dies alle tun. Dazu braucht es aber eine Einstellung, die sich nicht allein aus einer Einsicht in die Richtigkeit einer prozeduralistischen Moralkonzeption oder in die moralische Rationalität der existierenden Verfahren speist.



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Umgekehrt wiederum wird der Legitimitätsanspruch des Rechts in den Augen der Adressaten auch dann nicht eingelöst sein, wenn allzu viele Normen substanziell und eklatant ungerecht anmuten. Dabei handelt es sich freilich um ein Szenario, das unter der Bedingung vernünftiger demokratischer Verfahren in einer Gesellschaft von sich als frei und gleich Erlebenden für sehr unwahrscheinlich gehalten werden darf. Doch könnte man ebenso die Auffassung vertreten, dass einzelne extrem ungerechte, wiewohl ordnungsgemäß zustande gekommene Normen keinerlei Bindungskraft entfalten – zumindest dann, wenn sich in ihnen zusätzlich ein handfester Wertungswiderspruch offenbart, sie also mit den Grundwerten der ansonsten für legitim gehaltenen Rechtsordnung, zu denen auch die Rechtssicherheit zählt, manifest unvereinbar sind (siehe Hiebaum 2009). Aus der Perspektive der bloßen Beobachter stellen sich die Legitimitätsanforderungen, deren Erfüllung es erst erlaubt, von geltendem Recht zu sprechen, anspruchsloser dar. Hier kommt es lediglich auf die Überzeugungen und Einstellungen der beobachteten Rechtsunterworfenen an. Ob diese an sich simple Legitimitätsanforderung erfüllt ist, mag freilich oftmals schwer zu entscheiden sein (etwa bei Staaten an der Grenze zum „failing“). Aus der Perspektive des Gesetzgebers wiederum, der genuin rechtspolitischen Perspektive, erweisen sich die Legitimitätsanforderungen als deutlich anspruchsvoller (zu den unterschiedlichen Perspektiven der Rechtsbetrachtung Koller 2006, 192–195; zur Verschränkung der Perspektiven Hiebaum 2009, 403ff.). Womöglich sind sie noch anspruchsvoller als die prozeduralen Bedingungen, die Habermas’ Diskurstheorie postuliert  – oder, hinreichend konkretisiert als politische Konzeption, postulieren würde. Dementsprechend sind sie besonders augenfällig nicht nur Triebkraft, sondern auch Gegenstand des politischen Streits um das Recht. Doch insofern die auf moralisch rationale Verfahren abstellenden Legitimitätsanforderungen für die Teilnehmer (Rechtsanwender wie bloße Rechtsunterworfene) maßgeblich sein sollen, muten sie allzu stark an. Angesichts des Zustands der Demokratie in vielen politischen Systemen legen sie sogar den Schluss nahe, dass es wenig Grund gibt, dem Recht hic et nunc Verbindlichkeit zuzuschreiben. Nicht zuletzt durch wirtschaftliche Ungleichheit bedingte politische Ungleichheit, intransparentes Bargaining und „Experten“-Deliberation, proliferierende Public-Private-Partnerships sowie ein nicht selten beklagenswertes Niveau der öffentlichen Debatten (siehe nur Crouch 2008; 2011; Mair 2013) lassen ernsthafte Zweifel daran aufkommen, dass in den Prozessen der Rechtsetzung und Rechtsanwendung noch eine Rationalität am Werk ist, die für sich genommen schon über hinreichende Legitimationskraft verfügen würde. Habermas als politischem Beobachter und Gesellschaftskritiker sind diese Entwicklungen – die zu den im gegenständlichen Text konstatierten Entformalisierungstendenzen

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hinzukommen und seit den 1980er Jahren deutlich an Dynamik zugelegt haben – natürlich keineswegs unbekannt (siehe Habermas 2011; 2013). Manche gehen noch deutlich weiter und attestieren jeder normativen Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaats, d. h. jeder Analyse der normativen Voraussetzungen, die Rechtsadressaten immer schon machen würden, wenn sie sich als rechtlich gebunden betrachten, einen „ohnmächtigen Idealismus“ (570). Demnach ist es geradezu unmöglich, den eigenen Legitimitätsglauben sowie den anderer zugleich als normativ gehaltvoll, authentisch und rational begründet anzusehen. Fundamentalen Einwänden dieser Art tritt Habermas in der zweiten Vorlesung entgegen.

A.I.3 Die Autonomie des Rechts und der demokratische Rechtsstaat Zu Beginn der Vorlesung räumt Habermas selbst ein, die erste Vorlesung habe uns „mit dem Problem zurückgelassen, daß Maßstäbe einer außerordentlich anspruchsvollen Verfahrensrationalität ins Rechtsmedium einwandern“ (571). Womit sich die „realistische Gegenfrage“ stelle, „ob denn das Rechtssystem in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft eine derart verschärfte Spannung zwischen normativen Forderungen und funktionalen Erfordernissen überhaupt aushalten kann. Es drängt sich der Zweifel auf, ob nicht ein Recht, das in solcher Umgebung funktionieren muß, das idealistische Selbstverständnis einer moralischen Rechtfertigung aus Prinzipien nur noch als Ornament mit sich führt.“ (571f.) Für Habermas ist dieser Zweifel nicht berechtigt. Zur Begründung nimmt er wieder seine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann auf, nun mit dessen Rechtssoziologie bzw. Gesellschaftstheorie des Rechts, um danach die Entstehung des Problems rechts- und ideengeschichtlich nachzuzeichnen und am Ende jene Rechtstaatskonzeption zu skizzieren, die er im Haupttext weiter entwickelt. Luhmanns Theorie des Rechts als eines operativ geschlossenen, wiewohl kognitiv offenen Subsystems der Gesellschaft ist paradigmatisch für ein Normenverständnis, aus welchem das spezifisch Verpflichtende weitgehend getilgt ist. Für Luhmann sind Normen, auch Rechtsnormen, nichts weiter als ein Erwartungstypus, der sich durch Enttäuschungsresistenz auszeichne (Luhmann 1972; 1995). Das heißt, wer normativ erwartet, passt seine Erwartungen in Bezug auf das Verhalten anderer – anders als kognitiv Erwartende – zumindest nicht schon nach der ersten Enttäuschung an. „Ich erwarte, dass Person P Handlung H setzt“ kann demnach bedeuten, dass ich denke, P werde H setzen. Oder es bedeutet,



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dass ich denke, P solle H setzen. Im ersten Fall revidiere ich möglicherweise meine Erwartungen für die Zukunft, wenn P doch nicht H setzt. Im zweiten Fall dagegen reagiere ich auf die Enttäuschung meiner Erwartung mit Vorhaltungen oder sogar – wenn ich im rechtlichen Sinne erwartet habe – mit der Beschreitung des Rechtsweges. An der Erwartung selbst halte ich aber bis auf weiteres fest. Die Funktion des Rechtssystems besteht nach Luhmann in der Reduktion von Komplexität durch Stabilisierung generalisierter normativer Verhaltenserwartungen. Doch wie ist das möglich, wenn das Recht sich beliebig durch den politischen Gesetzgeber verändern lässt und sich mit zunehmender gesellschaftlicher Dynamik immer schneller verändern muss? Was bringt die Einzelnen dazu, ihre Erwartungen ständig mit der Gesetzeslage zu verändern, ohne bald nur noch kognitiv zu erwarten und sich im Rechtsverkehr gar nicht mehr anders als strategisch zu verhalten? Wie verträgt sich Flexibilität in den rechtlichen Erwartungen mit jener Einstellung, in der sich auch der Glaube an die Verbindlichkeit des Rechts offenbart? Zumal ohne einen weithin geteilten und zum Rechtsgehorsam beitragenden Legitimitätsglauben die Funktionstüchtigkeit des Rechts drastisch reduziert wäre. Auch Luhmann bietet uns eine Legitimationstheorie an, und auch seine Theorie stellt auf Verfahren ab. Allerdings begründen Verfahren bei Luhmann keinen rationalen Legitimitätsglauben, wie er Habermas vorschwebt. Sie schaffen lediglich den „Eindruck, daß die durch bindende Entscheidungen Enttäuschten sich nicht auf einen institutionalisierten Konsens berufen können, sondern lernen müssen. Die Rhetorik der Verfahren, der man sich durch Beteiligung implikativ unterwirft, verstärkt diesen Eindruck zur Norm.“ (Luhmann 1972, 264.) Rechtsanwender wiederum, so Habermas, würden sich der Luhmann’schen Theorie zufolge der Illusion hingeben, „nicht nach Belieben zu entscheiden“ (575). Tatsächlich wartet Luhmann an einigen Stellen mit einer funktionalistischen Charakterisierung von Argumentation auf, in der die Idee, dass Gründe so etwas wie eine rational motivierende Kraft aufweisen können und also ihrem Wesen nach dem Reich des Normativen zugehören, keine Rolle zu spielen scheint. Habermas greift eine typische Charakterisierung heraus: „Jedes Argument mindert den Überraschungswert weiterer Argumente und letztlich den Überraschungswert von Entscheidungen.“ (Luhmann 1986, 35). Am Ende bleibe der Schein, „als ob Gründe die Entscheidungen rechtfertigen und nicht Entscheidungen die Gründe“ (Luhmann 1986, 33). Für Habermas hat Luhmann damit die juristische Argumentation zu einem Selbstillusionierungsunternehmen erklärt. Ein ähnliche Tendenz weise die Critical-Legal-Studies-Bewegung in den USA auf, deren zentrale These lautet, dass es nicht Regeln und Prinzipien seien, die Entscheidungen determinieren, sondern politisch-ideologische Präferenzen und Macht. Doch ohne die in rechtliche Verfahren eingebauten Rationalitätsunterstel-

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lungen „verlöre […] auch jede Art von Rechtskritik ihren Boden“ (579). Andererseits spreche gerade diese Art der Rechtskritik gegen die These einer weitgehenden Systemautonomie des Rechts. In der Tat könne die Selbstreferenzialität des Rechts nicht ausschließen, „daß sich latente Machtstrukturen durchsetzen, sei es über die vom politischen Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsprogramme oder in Gestalt vorgeschobener Argumente, über die rechtlich unerhebliche Interessen in die Rechtsprechung Eingang finden. Offensichtlich trifft der Begriff der systemischen Autonomie, selbst soweit er einen empirischen Bezug hat, nicht die normative Intuition, die wir mit ‚Autonomie des Rechtsʻ verbinden. […] Max Weber hatte schon recht: nur Rücksichtnahme auf die dem Recht selbst innewohnende Rationalität kann die Unabhängigkeit des Rechts sichern. Weil aber das Recht auch intern mit der Politik auf der einen, Moral auf der anderen Seite in Beziehung steht, ist die Rationalität des Rechts nicht allein Sache des Rechts.“ (580) Gleichwohl ist es durchaus denkbar, dass Rationalitätsunterstellungen im Recht wirksam sind und die juristisch Argumentierenden ihre Praxis selbst so ähnlich begreifen wie Luhmann. Ja, man könnte sogar meinen, dass eine gewisse ironische oder gar zynische Distanz zum „Spiel“ und seinen Legitimitätsansprüchen notwendig ist, um dem Recht jenes Minimum an Effektivität zu sichern, ohne die wir uns um die Legitimität gar nicht zu kümmern bräuchten. Demnach würden juristisch Argumentierende einen Schein produzieren, den sie selbst als Schein durchschauen und der dennoch wünschenswerte Wirkungen zeitigt – so wie dies Heuchelei mitunter eben tut. Das muss Habermas aber gar nicht bestreiten. Zumal er die Rationalität des Rechts weniger in den einzelnen Akteuren verortet als in den Verfahren, die sie nötigen, wenigstens so zu tun, als ob. Worauf Habermas bestehen muss, ist lediglich, dass die soziale Praxis, die wir Recht nennen, nicht durchgängig, jederzeit und für alle Beteiligten ein Spiel sein könne, das allenfalls „heiligen Ernst“ (Johan Huizinga) produziere, aber von keinerlei moralischem Ernst gekennzeichnet sei. Und das wäre eine ausgesprochen plausible Annahme angesichts der Tatsache, dass das Recht nahezu sämtliche Lebensbereiche erfasst und bei ihm die für das Spiel wesentliche Unmöglichkeit der Skepsis gegenüber den Spielregeln (Huizinga 1987, 20) entfällt. Während sonstige Spiele unterbrochen sind, solange die Regeln diskutiert werden, ist die Diskussion über die „Spielregeln“ ein wesentlicher Bestandteil des Rechts – auch wenn nicht alle Regeln gleichzeitig zur Debatte stehen können. Was nach Stanley Cavell für Spiele im Allgemeinen gilt, gilt für das Recht also nur eingeschränkt: „It is as though within the prosecution of a game, we are set free to concentrate all of our consciousness and energy on the very human quests for utility and style: if the rules can be taken for granted, then we can give



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ourselves over totally to doing what will win, and win applause. (The idea that freedom is achieved through subjection to the law is fully true to the conduct in games.)“ (Cavell 1979, 308) Im Recht können die Regeln eben seltener als in Spielen „for granted“ genommen werden. Sie sind selbst zu einem guten Teil das Ergebnis der Interpretationen rechtsanwendender Organe und immer wieder Gegenstand juristischer Debatten. An der Autonomie des Rechts ist aber auch Habermas gelegen, zumal er, wie Weber, gewisse Entformalisierungstendenzen bedauert. Allerdings gibt er ihr eine moralische und demokratische Pointe: „Autonomie erwirbt ein Rechtssystem nicht für sich alleine. Autonom ist es nur in dem Maße, wie die für Gesetzgebung und Rechtssprechung [sic!] institutionalisierten Verfahren eine unparteiliche Meinungs- und Willensbildung garantieren und auf diesem Wege einer moralischen Verfahrensrationalität gleichermaßen in Recht und Politik Eingang verschaffen.“ (599) Die Autonomie des Rechts ist demzufolge wohl eine notwendig graduelle. Habermas erklärt dies freilich nicht anhand eines phänomenologisch-kulturtheoretischen Vergleichs mit Spielen, sondern im Wege einer Darstellung des Prozesses der Positivierung des Rechts sowie der Veränderung in der Beziehung von Recht, Politik und Moral. Mit Fortschreiten der historischen Entwicklung trete, zunehmend deutlicher, eine Spannung zutage zwischen der „Unverfügbarkeit des in der gerichtlichen Konfliktregelung vorausgesetzten Rechts [und] der Instrumentalität des für die Herrschaftsausübung in Dienst genommenen Rechts“ (582). Solange die sakrale Grundlage des Rechts unangefochten bleibe und das Gewohnheitsrecht fest im Alltag verankert sei, falle diese Spannung nicht auf. Doch „[i]n dem Maße, wie die religiösen Weltbilder privatisierten Glaubensmächten weichen und die gewohnheitsrechtlichen Überlieferungen auf dem Wege über den usus modernus vom gelehrten Recht absor­biert werden, muß die dreigliedrige Struktur des Rechtssystems [sakrales Recht, bürokratisches Recht, ungeschriebenes Gewohnheitsrecht] zerbrechen“ (583). Eine Zeitlang habe noch das klassische Vernunftrecht dem positiven Recht das benötigte Moment der Unverfügbarkeit gesichert. Aber bald sei klar geworden, „daß sich die Dynamik einer über Märkte integrierten Gesellschaft in den normativen Begriffen des Rechts nicht mehr einfangen und im Rahmen eines apriorisch entworfenen Rechtssystems erst recht nicht mehr stillstellen ließ“ (592). Geblieben sei jedoch die moralische Idee einer unparteilichen Urteils- und Willensbildung. Und diese müsse „im Inneren des positiven Rechts […] stabilisiert werden“ (594). Damit kommt Habermas zurück zu seiner prozeduralistischrekonstruktiven Legitimationstheorie und zum demokratietheoretischen Gehalt einer modernen Rechtsstaatskonzeption: „Im Gesetzgebungsverfahren kann eine ins positive Recht eingewanderte Moralität in der Weise zum Zuge kommen, daß

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die politischen Zielsetzungsdiskurse unter den Beschränkungen des Prinzips allgemeiner Zustimmungsfähigkeit, also jenes moralischen Gesichtspunktes stehen, den wir bei der Begründung von Normen beachten müssen. Bei der kontextsensiblen Anwendung von Normen kommt aber die Unparteilichkeit des Urteils nicht schon dadurch zum Zuge, daß wir uns fragen, was alle wollen könnten, sondern: ob wir alle relevanten Aspekte einer gegebenen Situation angemessen berücksichtigt haben.“ (597) Jetzt macht Habermas explizit, worum es ihm eigentlich geht, nämlich um einen „kritische[n] Maßstab für die Analyse der Verfassungswirklichkeit“ (598; vgl. auch 21). Das ist keineswegs nichts. Insbesondere bietet Habermas eine eigene Version der These, dass der juristische und der moralische Diskurs notwendig miteinander verwoben sind. Aber er gibt, wie ich meine, keine vollends befriedigende Antwort auf die Frage, wie das Recht, das wir kennen, zu seiner Geltung gelangt. Und die Geltung ist eine Voraussetzung dafür, dass wir uns auch dann noch auf ernsthafte juristische Diskurse einlassen, wenn uns das Recht in vielerlei Hinsicht defizient erscheint. Vor allem aber kennt sie, wie Habermas selbst sagt, anders als der Grad der Realisierung von Werten, kein Mehr oder Weniger. Allenfalls die moralischen Gründe, sich auch tatsächlich an das Recht zu halten, und die Legitimationskraft von positiven Rechtsnormen können in ihrer Stärke variieren.

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Larmore, C. 1993: Die Wurzeln radikaler Demokratie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41, 321–327. Luhmann, N. 1972: Rechtssoziologie 2, Hamburg. Luhmann, N. 1986: Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt/Main. Luhmann, N. 1995: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main. Mair, P. 2013: Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy, London – New York. Somek, A. 2000: Eine egalitäre Alternative zur Güterabwägung, in: B. Schilcher/P. Koller/B.-C. Funk (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien, 193–220. Weber, M. 1972: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen.

Hasso Hofmann

Anhang II und III Volkssouveränität als Verfahren (1988) Staatsbürgerschaft und nationale Identität (1990) A.II Über Volkssouveränität1 A.II.1 Volkssouveränität als Verfahren Am Vorabend der Feiern zum 200. Jahrestag der großen Französischen Revolution fragte Habermas, ob die Ideen-Revolution von 1789 für unseren politiktheoretischen Orientierungsbedarf noch unerfüllte normative Zukunftsaspekte hergibt. Die Antwort ist schon im Titel seines Vortrags von 1988 enthalten: „Volkssouveränität als Verfahren“ (600–631). Da die revolutionäre sozio-ökonomische Modernisierung sich längst verstetigt, der moderne Staatsapparat sich etabliert und der Nationalstaat sich gar schon überlebt zu haben scheint, kommt als unausgeschöpftes Potential der Französischen Revolution nach Habermas nur noch der universalistische Kern des Verfassungsstaates in Betracht: die Ideen von Demokratie und Menschenrechten (603). Was aber hat dann die Französische Revolution noch vor der Amerikanischen voraus? Es sei das Revolutionsbewusstsein als ein neues, der Zukunft zugewandtes Zeitbewusstsein, geprägt durch eine politische Praxis im Zeichen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und eine neue, vom „Vertrauen auf den vernünftigen Diskurs“ getragene Legitimitätsvorstellung (604f.). Indes hätten namentlich zwei Momente Glanz und Motivationskraft der revolutionären Ideen getrübt und geschwächt: die Spannung zwischen allgemeiner Vernunfteinsicht und souveräner Willensentscheidung wie auch der Widerspruch im Begriff der Volkssouveränität selbst. Denn das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgehen soll, ist ja kein handlungsfähiges Subjekt. Deshalb rieben sich in unserer komplexen Gesellschaft alle Versuche politischer Selbstorganisation „an den systemischen Imperativen eines ausdifferenzierten Wirtschafts- und Verwaltungssystems“ (607) auf. „Nicht zum Stillstand gekommen“ ist nach Habermas allein „die von der Französischen Revolution ausgelöste kulturelle Dynamik“ (608). Ihre Fernwirkung zeige sich in der „kulturellen Mobilisierung der Massen“ und in den

1 Das unter 1 bis 4 Folgende nach Hofmann 2014, 865–868.

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Ausdrucksformen und Lebensstilen einer neuen urbanen „Kulturgesellschaft“. Von daher überlegt er, wie eine komplementäre „radikal-demokratische Republik überhaupt gedacht werden müsste“ (609). Seine Vorstellung entwickelt Habermas aus den nachrevolutionären Kontroversen um Freiheit und Gleichheit im Streit zunächst von Liberalismus und radikaler Demokratie und dann von Sozialismus und Liberalismus (609–617). Damit will er „über das Juristische hinaus“ den normativen Gehalt jener „einzigartigen“ Revolution der Franzosen „in unsere Begriffe übersetzen“. Die erstgenannte Retrospektive soll demonstrieren, wie die normative Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit durch eine Umdeutung des Prinzips der Volkssouveränität im Sinne einer Prozeduralisierung aufgelöst werden kann, nämlich durch Verzicht auf die „konkretistische“ Lesart des Prinzips als des einheitlichen vernunftbestimmten Willens eines souveränen kollektiven Subjekts zugunsten eines Verfahrens der politischen Meinungs- und Willensbildung, das dank seiner Ausgestaltung vernünftige Ergebnisse erwarten lässt. Die zweite Rückschau gilt der sozialistischen Perspektive des Problems. Darin geht es nicht mehr um das Verhältnis von individueller Freiheit und demokratischer Gleichheit, sondern um die sozialen Folgen des privaten Verfügungsrechts über ökonomische Macht. Freiheit und Gleichheit bezeichnen nicht länger allein Organisationsprinzipien des Staates, sondern zielen auf die Ordnung der Gesellschaft im Ganzen. Bildet aber die Gesellschaft in der ganzen Vielfalt ihrer institutionalisierten und freien Kommunikationsformen das politisch gedachte „Volk“, so kann Habermas dessen radikaldemokratisch verstandene Souveränität nach etlichen theoriegeschichtlichen Schleifen des Gedankengangs gegen den „Konkretismus“ der herkömmlichen verfassungsrechtlichen Begriffe als gänzlich „entsubstantialisiert“, in „subjektlosen Kommunikationsformen“ buchstäblich „zerstreut“ (626), am Ende als pure „kulturalistische“ „Verfassungsdynamik“ vorstellen (629). Das entspricht der Kritik des Juristen Peter Häberle am „Dogma der Punktualität“ des einmaligen Aktes der Verfassunggebung. Auch er hebt dessen Prozesscharakter hervor und begreift ihn als „dauernden, evolutionären Vorgang“ (Häberle 1978, 24f.). Seine „kulturwissenschaftliche“ Betrachtung verschiebt den Schwerpunkt allerdings von der Normsetzung auf die Norminterpretation durch die bloß hermeneutisch gedachte „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Häberle 1998, 117ff.).



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A.II.2 Ein zukunftweisendes historisches Muster im deutschen Vormärz? Die von Habermas in Angriff genommene „Übersetzung“ der in der Französischen Revolution geprägten Begriffe in die der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats erscheint als eine begriffliche Entdifferenzierung. Von der verfassunggebenden Gewalt des souveränen Volkes im Gegensatz zu allen konstituierten Gewalten ist bei ihm nämlich eigens nicht mehr die Rede. Sieyes, der Protagonist der Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué wie der Repräsentation des Volkes, fällt dem Rückgang auf die fundamentaldemokratische Lehre zum Opfer. Habermas hält es stattdessen mit Rousseau und dem bedeutendsten Theoretiker der demokratischen Linken im Paulskirchenparlament, Julius Fröbel, insofern beide die Repräsentation des mündigen Volkes durch ein unabhängiges Parlament für unvereinbar ansehen mit Volkssouveränität und Demokratie. Den Vorkämpfer der unmittelbaren Demokratie aus dem Vormärz rückt Habermas dabei deswegen in den Vordergrund, weil Fröbel das Volk im Gegensatz zu Rousseau nicht als eine Art Verkörperung der Souveränität betrachtet und die Vernunft der vom Volk beschlossenen Gesetze nicht einfach durch deren formale Qualität garantiert sieht, insofern die Allgemeinheit der Abstimmenden und des Regelungsgegenstandes sie zum Ausdruck der volonté générale machen. Fröbel argumentiert dagegen in einer modernen Weise mit der Volkssouveränität als einem dynamischen, zukunftsoffenen Prinzip: als der bewegenden Kraft eines sittlichen und materiellen Fortschrittsprozesses. Damit tritt an die Stelle der abstrakten „Prinzipien des Staatsrechts“, die Rousseau auf der Ebene eines gedachten Naturzustandes entwickelt (und die folglich erst durch die mythische Figur eines charismatischen Gesetzgebers mit der politischen Realität vermittelt werden müssen), bei Fröbel der geschichtsphilosophische Gedanke einer „beständigen Kulturarbeit“ an den primitiven „historischen Friedensschlüssen kämpfender Teile des Volkes mittels immer neuer Abänderungs- und Zusatzverträge“ gemäß dem „fortschreitende[n] sittliche[n] Bewußtsein“ (Fröbel 1975b, 87ff.). Solche Entscheidungen könnten durch Abstimmungen „aus dem Prinzip der gleichen Geltung des persönlichen Willens aller und aus dem Glauben an die überzeugende Kraft der Wahrheit“ getroffen werden, wenn die Minderheit sich deswegen fügt, „weil es ihr noch nicht gelungen ist, die Mehrheit zu überzeugen“, und sie danach strebt, durch Überzeugungsarbeit selbst herrschende Partei zu werden. Statt eines charismatischen Gesetzgebers bedarf das Volk demnach der Bildung, beginnend schon mit einem staatlichen Volksschulsystem. Voraussetzung ist ferner, dass es „vollste Freiheit“ für jeden Einzelnen und – unbeschadet der praktischen Unterwerfung unter die jeweilige Mehrheit – „für alle die vollständige Anarchie der theoretischen Meinungsäußerung“ gibt – ergänzt um die „Freiheit der Auswanderung“ (Fröbel 1975b, 105, 107, 109).

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Für den Begriff der Volkssouveränität folgt daraus: Verfassunggebung und Verfassungsentwicklung werden ununterscheidbar, der Gegensatz von konstituierender und konstituierter Gewalt verschwindet; denn das in „Urversammlungen“ auftretende Volk ist immer schon eine irgendwie konstituierte Kraft mit konstituierender Gewalt. Die maßgebliche Unterscheidung ist jetzt die zwischen „Aufstellung und Fortbildung der Verfassung“ einerseits und der „Aufstellung der Spezialgesetze, welche aus den allgemeinen Grundsätzen der Verfassung folgen“ andererseits (Fröbel 1975b, 122).

A.II.3 Legale Revolution in Permanenz durch den Prozess der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung – Gesetzgebung im intellektuellen Belagerungszustand In dem nach Fröbel um die Verfassungsfragen geführten Wettkampf der Parteien sieht Habermas das Bemühen, den Rousseau’schen Akt des Contrat social in einem rein formalen, von allen substantiellen Festlegungen freien Rahmen zu einer legalen Revolution in Permanenz zu machen (615). Tatsächlich ist das die Formel, mit der Fröbel den Gefahren einer Revolution begegnet, die aus der Unterdrückung der Freiheit des Geistes folgt: „Das sicherste Mittel gegen die Gefahren der Revolution ist und bleibt das: – durch die theoretische Freiheit und die allgemeine Theilnahme an der Gesetzgebung den Parteien eine legale, in den Staatsorganismus eingereihte Existenz und Bewegung zu geben, und so die Revolution durch ihre Legalität und Permanenz unschädlich zu machen.“ (Fröbel 1975b, 292). Allerdings kann man nur im Blick auf diesen Wettkampf der Parteien, also auf den Bewegungsmechanismus des kulturellen Fortschritts mit Habermas sagen, dass Fröbels als „Verfassungsgrundsätze“ bezeichneten Wettbewerbsregeln „alles Substantielle [abstreifen], […] keine ‚natürlichen Rechte‘ [auszeichnen], sondern allein die Prozedur der Meinungs- und Willensbildung, die gleiche Freiheiten über allgemeine Kommunikations- und Teilnahmerechte sichert“ (615). Aufs Ganze gesehen kann jedoch keine Rede davon sein, dass Fröbel „streng nachmetaphysisch“ – soll heißen: allein auf Verfahrensrationalität bauend – argumentiert (615), dass die Menschenrechte bei ihm „nicht mit der Volkssouveränität (konkurrieren)“, „sondern mit den konstitutiven Bedingungen einer sich selbst beschränkenden Praxis öffentlich-diskursiver Willensbildung identisch [sind]“ (616). Denn Anfang und Ziel des kulturellen Fortschrittsprozesses sind bei Fröbel durchaus substantiell aus dem „Urrecht“ der individuellen Freiheit entwickelt. Von daher gelangte er nämlich zunächst zu einem grundlegenden Katalog der „allgemeinen natürlichen unveräußerlichen Menschenrechte“ einschließlich der heute sog. sozialen Grundrechte auf Nahrung, Gesundheit, Kleidung,



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Wohnung und Erziehung (Fröbel 1975a, 98ff., 146ff.). „Diese Rechte“, schreibt Fröbel, „sind in der unvollkommenen Gesellschaft nur in der Form halblauter Forderungen vorhanden, welche bald mehr bald minder Anerkennung finden. Der Entwicklungsgang des Menschengeschlechts muß aber dahin führen, daß endlich sich wahre und vollständige Rechtsgemeinschaften bilden, in denen alle Menschenrechte als positives öffentliches Recht anerkannt sind.“ (Ebd., 156) Fröbels Prozeduralisierung der Volkssouveränität hält sich demnach durchaus in einem festen, normativ aufgeladenen Rahmen. Aber richtig bleibt, dass sich der Schwerpunkt des Begriffs der Volkssouveränität mit Fröbel vom Urakt der Verfassunggebung auf den Prozess der Verfassungsentwicklung verschiebt und unter dem Postulat „vollständiger Anarchie der theoretischen Meinungsäußerung“ mit dem Gedanken des fortwährenden sittlichen Fortschritts verbindet. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit Habermas’ These von der „prozeduralisierten“, „entsubstantialisierten“, „subjektlos und anonym“ gewordenen, „intersubjektivistisch aufgelösten“, „verflüssigten“ Volkssouveränität – alles Attribuierungen von Habermas (624, 626). Fröbels Lehre ist Habermas noch zu institutionell gedacht. Zwar hat Fröbel komplizierte Systeme der Rückkoppelung der gesetzgebenden Versammlungen an die demokratischen Urversammlungen entworfen (Fröbel 1975b, 122ff., 127ff., 300ff.). Damit sind jedoch gewisse Einschränkungen der direktdemokratischen Willensbildung verbunden. Und vor allem: Auch jene Rückkopplungen sind institutionalisierte, auf Entscheidungen ausgerichtete Verfahren, und Fröbels Vorstellung einer legalen Revolution in Permanenz beruht auf der förmlichen Einbindung der streitenden Parteien in das verfassungsmäßige Gesetzgebungsverfahren (Fröbel 1975b, 292).

A.II.4 Über das Juristische hinaus Nach Habermas kann sich die „normative Erwartung vernünftiger Ergebnisse“ indes nur auf das „Zusammenspiel zwischen der institutionell verfassten politischen Willensbildung mit den spontanen, nicht-vermachteten Kommunikationsströmen einer nicht auf Beschlußfassung programmierten, in diesem Sinne nichtorganisierten Öffentlichkeit“ stützen (625; zum Folgenden 626–630). Sie übt ihre Macht „im Modus der Belagerung“ des politischen Systems aus und bedarf der Rückendeckung durch die politische Kultur einer „rationalisierten Lebenswelt“: eine, nach Habermas’ eigener Einschätzung, „unrealistische“, aber im Medium des demokratischen Rechtsstaats vielleicht doch realisierbare Voraussetzung. Dem naheliegenden Verdacht, dass „[e]in solches kulturalistisches Verständnis der Verfassungsdynamik […] die Souveränität des Volkes in die kulturelle Dynamik meinungsbildender Avantgarden verlagern soll“, sucht Habermas mit einer weite-

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ren unrealistischen Vorstellung zu begegnen, indem er die postulierte politische Kultur jener rationalisierten Lebenswelt als eine „egalitäre, von allen Bildungsprivilegien entblößte, auf ganzer Breite intellektuell gewordene politische Kultur“ bestimmt. Platon variierend könnte man sagen: Nicht die Könige müssen Philosophen oder die Philosophen Könige, sondern die Bürger müssen allesamt diskutierende Philosophen werden. Den Stachel der Transzendenz im Alltäglichen verspricht bei Habermas freilich nicht mehr die platonische Schau des Wesentlichen, sondern die „kritische Aneignung identitätsbildender religiöser Überlieferungen“ und die Auseinandersetzung mit der „Negativität der modernen Kunst“. Unter dem von ihm selbst bezeugten Einfluss juristischen Sachverstandes behandelt Habermas den Begriff der Volkssouveränität vier Jahre später in Faktizität und Geltung zunächst nüchterner und konventioneller. Erst unter dem Aspekt der Demokratietheorie (363ff.) nimmt Habermas den früheren Faden wieder auf, indem er der subjektphilosophischen Begriffsbildung, welche die Souveränität entweder „konkretistisch im Volk konzentriert“ oder mit dem abstrakten verfassungsstaatlichen Kompetenzsystem identifiziert, mit der formelhaften Wiederholung seiner intersubjektivistisch-anonymen Interpretation begegnet. Sie schreibt die Souveränität der „kommunikativ erzeugten Macht“ zu, wie diese „den Interaktionen zwischen rechtsstaatlich institutionalisierter Willensbildung und kulturell mobilisierten Öffentlichkeiten [entspringt], die ihrerseits in den Assoziationen einer von Staat und Ökonomie gleich weit entfernten Zivilgesellschaft eine Basis findet“ (365). Allerdings ist bei Habermas jetzt auch nicht mehr martialisch von der „Belagerung“ des politischen Systems als einer „Festung“ durch die „Macht“ der nicht-organisierten Öffentlichkeit die Rede, sondern – eher auf Häberles Ton gestimmt – von den „kulturell mobilisierten Öffentlichkeiten“, die das politische System als „Peripherie einschließen“ und „Impulse geben“. Auch werden als Basis entsprechend pluralistisch und fast schon konkretistisch statt der abstrakten politischen Kultur einer rationalisierten Lebenswelt die „Assoziationen“ einer Zivilgesellschaft genannt. Diese Assoziationen übernehmen jetzt in größerer Vielfalt die Funktion von Fröbels „Parteien“, und Zivilgesellschaft wird an Stelle der „legalen Revolution in Permanenz“ zum Code-Wort für den im Kontext der neuen urbanen Kulturgesellschaft wiederbelebten vagen Rousseauismus der Französischen Revolution.

A.II.5 Eine europarechtliche Kehre In seinen neueren demokratietheoretischen Studien zur Verfassungsentwicklung Europas (Habermas 2011; 2014) – deren Anfang Teil II des Essays „Staatsbürgerschaft und nationale Identität“ von 1990 dokumentiert – kehrt Habermas



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(mit Anleihen bei der älteren Bundesstaatslehre) zur traditionellen juristischen Begrifflichkeit zurück. Sie liegt seinem Versuch zu Grunde, gegen die undemokratische Verstärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit zu zeigen (Habermas 2014, 179ff.), „wie eine transnationale Demokratie ohne Vorrang der föderalen vor der nationalen Ebene möglich ist“. Dazu bedient er sich des „Gedankenexperiments“ eines fiktiven demokratischen Gründungsakts einer entwickelten EU mittels des Konzepts einer „an der Wurzel geteilten Volkssouveränität“ (170), also eines „doppelten Souveräns“: „Die konstituierende Gewalt soll sich derart aus der Gesamtheit der europäischen Bürger einerseits, der Summe der Bürger der beteiligten Nationalstaaten andererseits zusammensetzen, dass schon während des verfassunggebenden Prozesses die eine Seite der anderen mit dem Ziel des Ausgleichs der entsprechenden Interessenlagen ins Wort fallen kann.“ (180) Wie man sich das praktisch vorstellen soll, bleibt offen.

A.III Über Staatsbürgerschaft und nationale Identität Leitmotiv der drei Teile dieses zuerst 1991 erschienenen Textes ist der Begriff des „Verfassungspatriotismus“. Den Terminus hat Habermas bekanntlich von Dolf Sternberger (Sternberger 1990) übernommen, aber schärfer antinationalistisch akzentuiert, indem er die Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hervorhob (Habermas 1987). In der „postnationalen Konstellation“ geht es nach seiner Meinung nicht mehr um nationale Identitäten als Ausdruck von Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaften mit einem kulturellen Kern gemeinsamer Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen, sondern um Gemeinschaften eines konsentierten Verfahrens legitimer Rechtsetzung und Machtausübung; der Staatsbürgerstatus ist dementsprechend keine Frage der nationalen ethnischen Zugehörigkeit, sondern der republikanischen Teilhabe im Sinne Rousseaus an eben jenem Verfahren (Habermas 1991, 179). Nach aller akademischen Kritik schienen nun die politischen Ereignisse Realitätsbezug und Realitätstauglichkeit des Konzepts in Frage zu stellen: Die völkerrechtliche Fusion der beiden deutschen Staaten wurde als nationalstaatliche Wiedervereinigung verstanden; nach dem Zusammenbruch des sowjetisch beherrschten Ostblocks brachen heftige Nationalitätenkonflikte auf; die Fortschritte der Einigung Europas waren Werk der Regierungen, nicht einer demokratischen Bewegung, und die Einsicht wuchs, dass ein universell gewährtes Zuzugsrecht jeden partikulären Nationalstaat überfordern kann. Verteidigung tat Not – in nationaler (1), europäischer (2) und internationaler Perspektive (3).

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A.III.1 Vergangenheit und Zukunft des Nationalstaates 1. Der erste Abschnitt über „Vergangenheit und Zukunft des Nationalstaates“ beginnt mit einer These zur intellektuellen Situation Deutschlands 1990: In den Kontroversen über Form und Tempo der Vereinigung beider deutscher Staaten hätten sich in einer unklaren Weise zwei verschiedene Begriffe nationaler Einheit gestritten. Auf der einen Seite habe man die Nation als vorpolitische Schicksalsgemeinschaft gesehen, deren durch äußere Gewalt zerrissene Einheit wieder herzustellen war. Die andere Partei habe den Prozess als Wiederherstellung von Rechtsstaat und Demokratie auf einem seit 1933 unfreien Territorium begriffen. Mit diesem Gedanken einer bloß räumlichen Ausdehnung der westdeutschen Staatsbürger-Nation verschwinde aber die vorpolitisch-völkische Verklammerung von Staatsbürgerschaft und nationaler Identität und werde der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die klassische Form des Nationalstaats in der Entwicklung zu einer europäischen politischen Union auflöse. Daran knüpfen sich begriffsgeschichtliche Betrachtungen über die Entstehung des Nationalstaats und des Nationalbewusstseins, die Spiegelung dieser Entwicklung im Wandel des Begriffs der Nation und schließlich das Konzept der Staatsbürgerschaft. Damit ist der springende Punkt erreicht: die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Staatsbürger-Begriffs von der vorpolitisch-ethnisch bestimmten Identität einer Nation. Wichtigstes Ergebnis der historischen Rückschau ist für Habermas, dass die in der Französischen Revolution geborenen „Zwillinge“ von Nationalstaat und Demokratie (634), von ethnisch-kultureller Gemeinsamkeit und politischer Teilhabe, zwar in wechselseitiger Verstärkung historisch und darüber hinaus so­zial­ psychologisch zusammenhängen, begrifflich jedoch voneinander unabhängig sind (634–637). Man weiß ja, dass es zwischen nationaler Freiheit und politischer Freiheit der einzelnen Bürger keine notwendige Verbindung gibt (637). Beim Begriff der Staatsbürgerschaft – nicht nur in dem formalen juristischen Sinn der Staatsangehörigkeit als Organisationszugehörigkeit, sondern in der vollen Bedeutung eines durch Rechte und Pflichten definierten Status – unterscheidet Habermas zwei konträre Deutungen: eine von Locke ausgehende liberale, naturrechtlich-individualistische und instrumentalistische Interpretation und ein republikanisches, kommunitaristisch-ethisches Verständnis, das auf die ganzheitliche Sicht von Aristoteles zurückgeht (640), wonach das Ganze vor den Teilen ist. Habermas verteidigt seine These, dass „zwischen Republikanismus und Nationalismus nur ein geschichtlich kontingenter, kein begrifflicher Zusammenhang besteht“ (642), gegen die kommunitaristische Auffassung von patriotism als „a common identification with a historical community founded on certain values“ (Taylor 1989, 178). Hauptargument von Habermas: Die kommunitaristische Theorie zeige nur, dass die universalistischen Grundsätze des



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demokratischen Rechtsstaats „irgendeiner politisch-kulturellen Verankerung“, aber nicht begriffsnotwendig des Wurzelgrundes „gemeinsame[r] ethnische[r], sprachliche[r] und kulturelle[r] Herkunft“ bedürfen. Es genüge ein „Verfassungspatriotismus, der gleichzeitig den Sinn für die Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärft“ (642f.). Allerdings setzt dieser „Verfassungspatriotismus“ eine „liberale politische Kultur“ voraus. Sie bilde den notwendigen „Kontext“ für die Staatsbürgerrolle, deren rechtliche Institutionalisierung eben nur „so viel wert [ist], wie eine an politische Freiheit gewöhnte, in die Wir-Perspektive der Selbstbestimmungspraxis eingewöhnte Bevölkerung aus ihnen macht“ (642; Hervorh. i. O.). Am Schluss allerdings fehlt bei Habermas das entscheidende Stichwort „liberal“ wieder: „Es bleibt dabei: Die demokratische Staatsbürgerschaft braucht nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein; unangesehen der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen, verlangt sie aber die Sozialisation aller Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur.“ (643) Sie ermögliche es, dass die durch die nationale Geschichte geprägten Gesinnungen der Bürger mit den universalistischen Verfassungsgrundsätzen eine Verbindung eingehen (642). Aber doch nur, wenn sie liberal ist! 2. a) Was dieses Fazit für die eingangs erwähnten osteuropäischen Staaten mit ihren ethnischen Konflikten bedeutet, ob es wegen der fehlenden liberalen Tradition politischer Kultur als denkbarer interner Klammer überhaupt etwas für sie bedeutet, bleibt offen. Heute wird man wohl eher sagen müssen, dass jene westliche liberale politische Kultur fast grenzenloser gesellschaftlicher Spontaneität autoritären Herrschern als Feindbild dient, gegen das sie zur Legitimation ihrer Herrschaft partikular-nationale Mythen aufwärmen. b) In der von ihm formulierten Kontroverse – Wiederherstellung der Einheit einer durch äußere Gewalt zerrissenen nationalen Schicksalsgemeinschaft gegen die Vorstellung einer territorialen Ausdehnung der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung Westdeutschlands – rechnet sich Habermas fraglos den „vielen Intellektuellen“ zu, die die alte wie die neue Bundesrepublik als „eine Nation von Staatsbürgern“ begriffen und gerade deswegen das „demokratische Defizit“ der Vereinigung ohne jede Beteiligung des Volkes beklagten (633). Dementsprechend zeigten sie übrigens auch deutlich mehr demokratische, von nationalem Gemeinsinn allerdings nur schwer zu unterscheidende „brüderliche“ Solidarität mit den sog. Bürgerrechtlern der untergehenden DDR, hofften freilich damit zugleich auf eine Möglichkeit der ihnen in der alten Bundesrepublik verwehrten fortschrittlichen, auf mehr Sozialstaatlichkeit und Bürgerbeteiligung ausgerichtete Revision des Grundgesetzes. Durchgesetzt hat sich dagegen bekanntlich die Gegenseite mit ihrer konservativen Politik ökonomischer und administrativer Vereinigung ohne

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plebiszitäre Beteiligung der Staatsbürger. Dabei war freilich mehr und anderes im Spiel als der vorpolitisch-völkische Gedanke, die Einheit einer Schicksalsgemeinschaft wiederherzustellen. Konservative, die vordem gegen die „linke“ Idee eines Verfassungspatriotismus polemisiert hatten, traten jetzt als die eifrigsten Verfassungspatrioten auf und verteidigten den gouvernementalen Weg der Vereinigung als das – zumal im Hinblick auf die einmalige, kurze internationale Gunst der Stunde – einzig sichere Mittel, die freiheitlich-demokratische Ordnung des Bonner Grundgesetzes zu bewahren. Mochten sie dabei auch an die Erhaltung der westdeutschen Machtstrukturen denken: ihr fester Blick allein auf das Ergebnis machte sie zu Verfassungspatrioten. Vorpolitisch-völkisches Denken hätte ebenso wie die demokratische Idee der Staatsbürgernation eine neue Verfassunggebung durch das in Freiheit vereinte deutsche Volk verlangt (Art. 146 GG). Insofern verfehlt Habermas’ Vereinfachung der damaligen Lage die eigentliche historische Pointe. c) Indem Habermas sein „republikanisches Modell der Staatsbürgerschaft“ (641) gegen die ganzheitliche Vorstellung eines „mit Haut und Haaren“ in die Gemeinschaft integrierten Staatsbürgers durch stärkere Betonung des Freiheitsgedankens als bei den Kommunitaristen zu profilieren sucht, rückt seine Vorstellung in die Nähe der liberalen Tradition, wie sie von der von ihm beschworenen Kontrastfigur Locke ausgeht (640ff.). Diese besitzbürgerliche Akzentuierung wiederum verträgt sich jedoch wenig mit der Gründung der republikanischen Staatsbürgerschaft auf die Theorietradition von individueller und kollektiver „Selbstbestimmung“ und „Selbstgesetzgebung“ nach Rousseau und Kant (637f.). Erst der „Haupttext“ von Faktizität und Geltung sucht die beiden Positionen mit der Theorie der Gleichursprünglichkeit von (kollektiver) politischer und (individueller) privater Autonomie und der Verschränkung von Rechtsstaat und Demokratie auszubalancieren.

A.III.2 Nationalstaat und Demokratie im geeinten Europa 1. In diesem Teil des Essays geht es hauptsächlich um die „Chancen einer künftigen europäischen Staatsbürgerschaft“ (649). Dabei ist das Ziel nach dem Vorhergehenden klar: Aus den verschiedenen nationalgeschichtlich-nationalstaatlichen Versionen der zentralen Verfassungsprinzipien muss ein „europäischer Verfassungspatriotismus zusammenwachsen“ (651). Denn nur so könne „[a]uf dem dornigen Wege zur Europäischen Union“ (645) das Hindernis der Nationalstaaten überwunden werden, weil weniger deren Souveränitätsansprüche der Einigung im Wege stünden als der Umstand, dass die demokratischen Prozesse nur jeweils innerhalb der nationalen Grenzen „halbwegs“ funktionierten, „die



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wirksamen politischen Staatsbürgerrechte“ aber bisher nicht über die nationalstaatlichen Rahmen hinausgriffen (645). Als ein Aspekt der sozialen Integration sei die über die demokratischen Staatsbürgerrechte laufende politische Integration also hinter der kapitalistischen „Systemintegration“ mittels des Geldes zurückgeblieben. Das führe zu einem „vertikalen Gefälle“ zwischen einer systemischen Integration von Wirtschaft und Verwaltung auf supranationaler Ebene und einer nur auf nationalstaatlicher Ebene vollzogenen politischen Integration“ (644). Diese Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie lasse daran zweifeln, ob das republikanische Projekt des demokratisch-aktiven Staatsbürgers nicht „bestenfalls für die unterkomplexen Verhältnisse eines ethnisch homogenen und überschaubaren, noch durch Tradition und Sitte integrierten Gemeinwesen taugt“ (644). Die Frage ist also: Kann es eine europäische Staatsbürgerschaft überhaupt geben? (645) Aktuell werde die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß, in dem die Bürger von supranational beschlossenen Maßnahmen betroffen werden, und der geringen Möglichkeit aktiver politischer Teilnahme daran jedenfalls immer größer (646). Mit der rhetorischen Frage, ob damit nicht nur deutlicher die Entwicklung hervortritt, die in den Nationalstaaten „seit langem unaufhaltsam fortschreitet“, wendet sich der Text zunächst der Aushöhlung des herkömmlichen Staatsbürgerstatus durch die „Verselbständigung ökonomischer Imperative“ und die „Verstaatlichung der Politik“ zu. Er kritisiert die von T. H. Marshall (1950) am Beispiel Englands entwickelte Auffassung, wonach der volle Staatsbürgerstatus sich einem im Großen und Ganzen linear verlaufenden Prozess der „Inklusion“ verdanke, d. h. der schrittweisen Erstreckung von immer mehr staatlichen Berechtigungen auf immer weitere Bevölkerungskreise (646f.). Damit werde die zentrale Frage aktiver demokratischer Selbstbestimmung ausgeblendet. Denn liberale Freiheitsrechte und soziale Teilhaberechte könnten ja auch „paternalistisch verliehen“ und ganz und gar privatistisch genutzt werden (647f.). „Rechtsstaat und Sozialstaat sind im Prinzip auch ohne Demokratie möglich“ (647). Gegen das „Syndrom des staatsbürgerlichen Privatismus und die Ausnutzung der Staatsbürgerrolle aus der Interessenlage von Klienten“ (648) setzt Habermas sein „Modell deliberativer Politik“ (649), d.  h. einer erst nach öffentlicher Debatte entscheidenden Politik. Dazu wiederholt er in konzentrierter Weise, was er vordem unter dem Stichwort der „prozeduralisierten Volkssouveränität“ ausgeführt hatte. Nach dem Ende dieses Exkurses kehrt Habermas noch einmal zu dessen Ausgangspunkt zurück. Die geschichtliche Betrachtung zeige, dass die Ausbildung und Ausweitung der staatsbürgerlichen Rechte sich nicht allein durch Klassenkämpfe erklären ließe. Vielmehr trieben auch andere soziale Bewegungen wie Migrationen und Kriege die Entwicklung voran (650). Aus derartigen empirischen Befunden glaubt Habermas für die europäische Entwicklung vorsichtig eine

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günstige Prognose stellen zu können, weil hier sozial so viel in Bewegung ist. Er nennt die Vervielfachung der internationalen Kontakte durch den zu erwartenden Europäischen Binnenmarkt, die Steigerung der multikulturellen Vielfalt durch die Immigration aus Osteuropa und den Armutsregionen der Dritten Welt, die daraus erwachsenden Spannungen, die sozial und politisch mobilisierende Wirkung ihrer möglichen produktiven Verarbeitung, die wachsende Notwendigkeit europäisch koordinierter Lösungen, was auch die Kompetenzen des Europäischen Parlaments stärken könnte (650). Führe die Politik der EG in den Mitgliedsstaaten auch noch nicht zu grenzüberschreitenden „legitimitätswirksamen Kontroversen“, so könnte sich in Zukunft doch aus den verschiedenen nationalen Kulturen eine „europäische politische Kultur“ bilden (651; Hervorh. i. O.). Habermas setzt sie mit einem „europäischen Verfassungspatriotismus“ auf der Grundlage eines „politisch-kulturelle[n] Selbstverständnis[ses]“ gleich (ebd.). Aber woher sollte, fragt man sich, dieses gemeineuropäische Selbstverständnis kommen, wenn es im Kern – national wie supranational – immer um dieselben universalistischen Rechtsprinzipien geht? Worin soll der spezifisch europäische, politisch zur Einigung und einheitlichem Handeln motivierende Mehrwert jenseits der nationalen Kulturen liegen, wenn die in nationalen Verfassungen längst verbrieften universellen Prinzipien von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gleichzeitig in verschiedenen Sprachen sozusagen im Chor beschworen werden? Habermas stellt diese, nach seinen eigenen Prämissen des Verfassungspatriotismus zentrale Frage nicht ausdrücklich. Doch schließt er mit der Bemerkung, es bedürfe eines „neuen politischen Selbstbewusstseins, das der Rolle Europas in der Welt des 21. Jahrhunderts entspricht“ (651). Der Text endet hier mit einer (hegelischen) Geschichtsspekulation: Vielleicht falle Europa als Ganzem im ewig wechselnden Auf und Ab der alten Reiche und der neuzeitlichen Großmächte ausnahmsweise eine „zweite Chance“ zu. 2. Bei der Lektüre ist im Auge zu behalten, dass der Text ein Vierteljahrhundert alt ist. Inzwischen sind der Maastrichter Vertrag (1992), der Europäische Binnenmarkt (1993), die Europäische Währungsunion (1999) und der Vertrag von Nizza (2000) in Kraft getreten. Die Europäische Verfassung ist zwar an den negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert (2005), aber durch den Vertrag von Lissabon 2009 weitgehend ersetzt worden. Doch hat mit der starken Betonung des Vertragsprinzips der Einzelermächtigung das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem „Lissabon“-Urteil der schleichenden Entwicklung zu einer Art von europäischem Bundesstaat mittels immer großzügigerer Auslegung der Zuständigkeiten europäischer Organe ohne ausdrückliche Vertragsänderungen quasi aus der Ganzheit einer Verfassung nachdrücklich widersprochen, zudem die Souveränität der Nationalstaaten samt ihrer verfas-



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sunggebenden Gewalt wie das Fehlen eines die nationalstaatlichen Identifikationsmuster überschreitenden Identifikationsmusters hervorgehoben (Bundesverfassungsgericht 2009, 347ff., 369). In der Tat sind wir sehr weit davon entfernt, die Gemeinschaft der Unionsbürger als Produkt eines plebiscite de tous les jours im Sinne Renans begreifen zu können (Fassbender 2014, 823). Als Vorstudie zu Faktizität und Geltung zeigt sich unser Text, wenn es hier zutreffend (Hofmann 2001, 1) heißt, „Rechtsstaat und Sozialstaat [sind] im Prinzip auch ohne Demokratie möglich“ (647), wohingegen Habermas in diesem Werk begründen will, dass „im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik der Rechtsstaat ohne radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten ist“ (13). Entsprechend seiner seit Jahrzehnten bekundeten Hochschätzung des „europäischen Projekts“ hat Habermas Verlauf und Ergebnis der Europawahl 2014 begeistert begrüßt (Habermas 2014). Sieht er darin doch einen (bei der deutschen Wiedervereinigung ausgebliebenen) „Demokratisierungsschub“, weil Europa mit der Aufstellung von Spitzenkandidaten der großen Parteien und der Konfrontation der pro- und der antieuropäischen Kräfte in den „Strom der polarisierten Willensbildung hineingeraten“ sei. Daraus folge erstmals eine „tatsächliche Legitimation“, die er 1990 mangels grenzüberschreitender „legitimitätswirksamer Kontroversen“ noch vermisst hatte. Sie nötige den Rat, dem Parlament einen der Spitzenkandidaten für die Wahl zum Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, anderenfalls werde das „europäische Projekt mitten ins Herz [getroffen]“. Der Gedanke, dass das europäische Parlament den Spitzenkandidaten der Mehrheitsparteien als Wahlsieger der Volkswahl zum Regierungschef wählt, wie das so bei der Kanzlerwahl durch den Bundestag der Fall zu sein scheint, ist dem europäischen Vertragswerk allerdings fremd. Ein Mitglied des Bundesverfassungsgerichts hat dem auch sofort scharf widersprochen (Di Fabio 2014). Wenn der Rat dem Wunsch der Parlamentsmehrheit folgt, vollzieht er nicht den Willen einer durch Volkswahl legitimierten Mehrheitspartei, sondern den Wunsch einer Parteienfamilie, die als solche gar nicht zur Wahl durch ein supranationales Wahlvolk nach supranationalen Regeln gestanden hat, aus der Wahl mithin gar keine unmittelbare demokratische Legitimation ziehen kann. „[D]ie bloß deliberative Teilhabe der Bürger und ihrer gesellschaftlichen Organisationen an politischer Herrschaft […] [kann den] auf Wahlen und Abstimmungen zurückgehenden Legitimationszusammenhang nicht ersetzen.“ (Bundesverfassungsgericht 2009, 369) Die juristische Kritik operiert denn auch nicht mit dem vordergründigen Postulat der Demokratisierung der Europäischen Union durch Stärkung des Europäischen Parlaments. Sie trifft den Kern vielmehr mit der Rüge, dass sich das Gericht, befangen in einer „retrospektiven Staatslehre“, dem „evolutionären Konstitutionalisierungsprozeß Europas“ versagt habe (Häberle 2010, 335).

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A.III.3 Immigration und Wohlstandschauvinismus. Eine Debatte 1. Der 3. Teil des Essays verurteilt die Immigrationspolitik der europäischen Staaten, die sich „in der Wagenburg des Wohlstandschauvinismus gegen den Andrang von Immigrationswilligen und Asylsuchenden verschanzen“ (659). Zunächst folgert Habermas aus den Statistiken der europäischen Wanderungsbewegungen, dass Westeuropa von „Asylanten und Einwanderern überflutet“ werden wird, wenn es sich nicht um die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Armutsregionen bemüht, und spricht dann die rechtsradikalen Abwehrreaktionen gegen die „Überfremdung durch Ausländer“ an. Er deutet sie als „Kehrseite“ des „überall wachsenden Wohlstandschauvinismus“, d. h. der Betonung der eigenen Gemeinschaft angesichts der sozialen Folgeprobleme der Immigration. Als Beispiel dienen ihm nationalistische Strömungen in den neuen Bundesländern, wo die Menschen die neue Staatsbürgerschaft als Wohlstandsverheißung verstanden und mit der „ethnozentrischen Genugtuung (quittierten)“, in den ehemals sozialistischen Bruderländern „endlich nicht mehr als Deutsche zweiter Klasse behandelt zu werden“ (652). Die in der Überschrift angekündigte „Debatte“ betrifft die normative Frage, ob und mit welcher Begründung abgegrenzte soziale Gemeinschaften im Allgemeinen und Nationalstaaten im Besonderen zuzugswilligen Fremden den Schutz jener universellen Rechtsprinzipien wie der Menschenrechte, die den Kern ihrer eigenen, im Übrigen durch ihre je eigene Lebenskultur geprägten Ordnung ausmachen, versagen dürfen, um die eigene Lebensart zu bewahren. Habermas erörtert das Problem nicht – was sachlich nahe läge – als Problem einer liberalen Verfassungstheorie, sondern rekapituliert stattdessen eine v. a. von angelsächsischen Philosophen diskutierte moralphilosophische Frage der Reichweite jener special duties, die nur innerhalb einer Gemeinschaft bestehen (654). Damit wird das Rechtsproblem in die Frage einer Pflichtenethik umgeformt. Von Habermas nicht ausformuliert, könnte sie etwa lauten: Dürfen abgegrenzte soziale Gemeinschaften ihre Solidarpflichten, ihre sozialen „Grundpflichten“, wie die Aufklärer sagten, über ihre universellen moralischen Pflichten, über ihre „Menschen- oder Naturpflichten“ stellen, von denen die Aufklärer sprachen (Hofmann 1983, 59). Habermas rekapituliert diese Diskussion in fünf Schritten (655ff.): –– Der utilitaristische Ansatz versucht, jene speziellen Pflichten aus dem gegenseitigen Nutzen der Angehörige eines Gemeinwesens aus ihren reziproken Leistungen zu begründen, kann aber keine besonderen Pflichten gegenüber Leistungsschwachen (Alten, Kranken, Behinderten) oder Hilfsbedürftigen (Asylsuchenden) begründen. Fremden wäre der Zuzug also nur zu gestatten, wenn sie die sozialen Sicherungssysteme nicht belasten.



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–– Gegen dieses kontraintuitive Ergebnis relativiert ein anderes Modell die sozialen Grenzen einer Rechtsgemeinschaft als bloße Grenzen der zentralen Zuschreibung von Verantwortlichkeiten, die aber nicht zugleich unsere Verpflichtungen beschränken. –– Nach den von John Rawls entwickelten Kriterien für die Wahl der Gerechtigkeitskriterien hinter einem Schleier des Nichtwissens, was für die eigene Person von Vor- oder Nachteil ist, dürfte der Fall nicht einseitig aus der Perspektive eines Wohlstandsbürgers, sondern müsste auch aus der Perspektive eines Immigranten auf der Suche nach dem besseren Leben betrachtet werden. Zurückweisungen wären daher nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der ökonomischen Überlebensfähigkeit der Gesellschaft zu rechtfertigen, der Zuzug dürfte aber nicht von einem Bekenntnis zur „Kulturgemeinschaft“ abhängig gemacht werden. –– In Michael Walzers kommunitaristischer Sicht hat ein Gemeinwesen das Recht auf Selbstbehauptung der jeweils eigenen Lebensform, die den „politisch-kulturellen Kontext“ als Nährboden für die universalistischen Verfassungsgrundsätze bildet. –– Dieses kommunitaristische Argument kann in einer partikularistischen Weise so verstanden werden, dass die Staatsbürgerschaft mit bestimmten „historisch ausgeprägten kulturellen Identitäten“ verknüpft ist, kann indes nach Habermas auch universalistisch so gelesen werden, dass von den Immigranten nur Anpassung an die auf universalistischen Prinzipien beruhende rechtliche und politische Kultur verlangt werden kann, nicht aber die Aufgabe ihrer mitgebrachten kulturellen Lebensform im Ganzen. Das normative Endergebnis von Habermas’ Überlegungen besteht in dem Postulat einer „liberalen Immigrationspolitik“ ohne Privilegierung der eigenen kulturellen Lebensform (659). Und die von allen partikulären Prägungen abgehobene „demokratische Staatsbürgerschaft“ sieht Habermas – in der Ferne Kants „Ewigen Frieden“ vor Augen – auf dem Weg zu einem „Weltbürgerstatus“ (659f.). 2. Im Blick auf die heutige weltpolitische Lage wäre Spott über die Illusionen von 1990 wohlfeil. Tatsächlich hat aber schon Kant die Entstehung einer Weltöffentlichkeit erkannt, und Habermas hat durchaus recht, wenn er trotz aller Katastrophen und Störfälle einen (wenn auch noch etwas löcherigen) globalen Kommunikationszusammenhang konstatiert. Der Schwachpunkt seiner recht allgemein gehaltenen Argumentation liegt in der Annahme, die theoretische begriffliche Trennung von rechtlich-politischer Kultur universeller Prinzipien und partikulärer kultureller Lebensformen könne ohne weiteres auch in der Praxis vollzogen werden. Wie könnte ein Staat mit einer freiheitlich-demokratischen Verfassung, dessen Bestand auf einer freiheitlichen politischen Kultur beruht, die eigene,

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seine Existenz tragende kulturelle Lebensform ohne weiteres mit anderen kulturellen Lebensformen auf dieselbe Stufe der Beliebigkeit stellen? Wie sollte er der Entstehung sich gegen die liberale Gesellschaft abschottender Parallelgesellschaften wehren, ohne in deren Lebensform einzugreifen?

Literatur Bundesverfassungsgericht 2009: Urteil v. 30.6.2009, in: Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 123, 267–437. Di Fabio, U. 2014: Eine demokratische Zäsur? Wie Jürgen Habermas die Wirklichkeit der Europawahl auf den Kopf stellt, in: FAZ Nr. 132 v, 10. 6. 2014. Fassbender, B. 2014: Hybris und Überforderung, in Aktuelle Juristische Praxis (Zürich), 820–826. Fröbel, J. 1975a: System der sozialen Politik in 2 Teilen, Neudr. der Ausg. 1847, Teil 1, Aalen. Fröbel, J. 1975b: System der sozialen Politik in 2 Teilen, Neudr. der Ausg. 1847, Teil 2, Aalen. Habermas, J. 1987: Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität, in: ders., Kleine politische Schriften, Frankfurt/Main, 161–179. Habermas, J. 1991: Vergangenheit als Zukunft, Zürich. Habermas, J. 2011: Zur Verfassung Europas, Frankfurt/Main. Habermas, J. 2014: Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen. Eine Notiz aus Anlass der Frage nach der Legitimität der ungleichen Repräsentation der Bürger im Europäischen Parlament, in: Der Staat 53, 167–192. Habermas, J. 2014: Jürgen Habermas im Gespräch, in: FAZ NET, 29.05.2014. Häberle, P. 1978: Verfassunggebung und Verfassungsinterpretation, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht NF 97, 1–49. Häberle, P. 1998: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982), 2. Aufl., Berlin. Häberle, P. 2010: Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinerte Maastricht II – Entscheidung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 58, 317–336. Hofmann, H. 1983: Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 41, 42–86. Hofmann, H. 2001: Menschenrechte und Demokratie oder: Was man von Chrysipp lernen kann, in: JuristenZeitung 56, 1–8. Hofmann, H. 2014: Über Volkssouveränität. Eine begriffliche Sondierung, in: JuristenZeitung 69, 861–868. Marshall, T. H. 1950: Citizenship and Social Class, Cambridge, Mass. Sternberger, D. 1990: Verfassungspatriotismus (1979), in: ders., Schriften Bd. X, Frankfurt/ Main, 13–16. Taylor, Ch. 1989: Cross-Purposes: The Liberal-Communitarian Debate, in: N. L. Rosenblum (Hrsg.), Liberalism and the Moral Life, Cambridge, Mass. – London, 160–182, 279–281.

Auswahlbibliographie Für weitere Literaturhinweise siehe die ausführlichen Bibliographien in einigen der in Abschnitt 2 genannten Einführungs- oder Übersichtsbände (wie beispielsweise in Pinzani 2007 oder Brunkhorst/Kreide/Lafont 2009), vor allem aber die umfassende Literatur-Dokumentation des „Habermas Forum“ (www.habermasforum.dk).

1 Schriften von Jürgen Habermas (Auswahl: thematisch relevante Bücher und Aufsatzsammlungen, Erstauflagen) 1962: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin. 1968: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/Main. 1968: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main. 1973: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/Main. 1976: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt/Main. 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt/Main. 1983: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main. 1984: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main. 1988: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main. 1990: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, Leipzig. 1991: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main. 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main. 1996: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main. 1998: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main. 1999: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main. 2001: Zeit der Übergänge, Frankfurt/Main. 2003: Zeitdiagnosen, Frankfurt/Main. 2005: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/Main. 2009: Philosophische Texte, 5 Bde, Frankfurt/Main. 2011: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin.

2 Zum Werk von Habermas im Allgemeinen (Auswahl: Einführungen, Monographien und Sammelbände Baynes, K.: Habermas, London 2015. Benhabib, S.: Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie (amerikan. Orig. 1986), Frankfurt/Main 1992. Bernstein, R. J. (Hrsg.): Habermas and Modernity, Cambridge 1985. Brunkhorst, H.: Habermas, Stuttgart 2006, 2. Aufl. 2013.

202 

 Auswahlbibliographie

Brunkhorst, H./Kreide, R./Lafont, C. (Hrsg.): Habermas-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2009, 2. Aufl. 2015. Dews, P. (Hrsg.): Habermas. A Critical Reader, Oxford 1998. Finlayson, J. G.: Habermas. A Very Short Introduction, Oxford 2005. Funken, M. (Hrsg.): Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen, Darmstadt 2009. Greve, J.: Jürgen Habermas. Eine Einführung, Stuttgart 2009. Honneth, A./McCarthy, T./Offe, C./Wellmer, A. (Hrsg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main 1989. Ingram, D.: Habermas: Introduction and Analysis, Ithaca, NY 2010. Iser, M./Strecker, D.: Jürgen Habermas zur Einführung, Hamburg 2009, Neuaufl. 2016. McCarthy, T.: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas (amerikan. Orig. 1978), Frankfurt/Main 1980. Meehan, J. (Hrsg.): Feminists Read Habermas, New York/London 1995. Müller-Doohm, S. (Hrsg.): Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ‚Erkenntnis und Interesse‘, Frankfurt/Main 2000. Müller-Doohm, S.: Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014. Outhwaite, W.: Habermas. A Critical Introduction, Cambridge 1994, 2. Aufl. 2009. Pinzani, A.: Jürgen Habermas, München 2007. Rasmussen, D.: Reading Habermas, Oxford 1990. Rasmussen, D./Swindal, J. (Hrsg.), Jürgen Habermas, 4 Bde, London 2002. Reese-Schäfer, W.: Jürgen Habermas, Frankfurt/Main 1991, 3. Aufl. 2001. Römpp, G.: Habermas leicht gemacht. Eine Einführung in sein Denken, Köln/Weimar/Wien 2013. Specter, M. G.: Habermas. An Intellectual Biography, Cambridge 2010. Steinhoff, U.: The Philosophy of Jürgen Habermas. A Critical Introduction, Oxford 2009. White, S. K.: The Recent Work of Jürgen Habermas. Reason, Justice and Modernity, Cambridge 1988. White, S. K. (Hrsg.), The Cambridge Companion to Habermas, Cambridge 1995. Wiggershaus, R.: Jürgen Habermas, Reinbek bei Hamburg 2004. Wingert, L./Günther, K. (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/Main 2001.

3 Zur Theorie des kommunikativen Handelns, zur Sprachpragmatik und zur Diskursethik (Auswahl von Monographien und Sammelbänden) Alexy, R.: Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt/Main 1978. Baynes, K.: The Normative Grounds of Social Criticism. Kant, Rawls, and Habermas, Albany, NY 1992. Bernstein, J. M.: Recovering Ethical Life. Jürgen Habermas and the Future of Critical Theory, London 1995. Calhoun, C. (Hrsg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992. Cooke, M.: Language and Reason. A Study of Habermas’ Pragmatics, Cambridge, MA 1994. Crossley, N./Roberts, J. M. (Hrsg.): After Habermas. New Perspectives on the Public Sphere, Oxford 2004.



Auswahlbibliographie 

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Danielzyk, R./Volz, F. R. (Hrsg.): Vernunft der Moderne? Zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, Münster 1986. Forester, J. (Hrsg.): Critical Theory and Public Life, Cambridge, MA 1985. Gebauer, R.: Letzte Begründung. Eine Kritik der Diskursethik von Jürgen Habermas, München 1993. Gottschalk-Mazouz, N.: Diskursethik. Theorien – Entwicklungen – Perspektiven, Berlin 2000. Gottschalk-Mazouz, N. (Hrsg.): Perspektiven der Diskursethik, Würzburg 2004. Günther, K.: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt/ Main 1988. Harpes, J. P./Kuhlmann, W. (Hrsg.): Zur Relevanz der Diskursethik, Münster 1997. Heath, J.: Communicative Action and Rational Choice, Cambridge, MA 2001. Heming, R.: Öffentlichkeit, Diskurs und Gesellschaft. Zum analytischen Potential und zur Kritik des Begriffs der Öffentlichkeit bei Habermas, Wiesbaden 1997. Holub, R. C.: Jürgen Habermas. Critic in the Public Sphere, London 1991. Honneth, A./Joas, H. (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt/Main 1986. Johnson, P.: Jürgen Habermas. Rescuing the Public Sphere, London 2006. Koch, F.: Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns als Kritik von Geschichtsphilosophie, Frankfurt/Main. 1985. Lafont, C.: The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy, Cambridge, MA 1999. Owen, D.: Between Reason and History. Habermas and the Idea of Progress, Albany, NY 2002. Peters, B.: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt/Main 2007. Rehg, W.: Insight and Solidarity. The Discourse Ethics of Jürgen Habermas, Berkeley/Los Angeles 1994. Schönrich, G.: Bei Gelegenheit Diskurs. Von den Grenzen der Diskursethik und dem Preis der Letztbegründung, Frankfurt/Main 1993. Thomassen, N.: Communicative Ethics in Theory and Practice, Basingstoke 1992. Wellmer, A.: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt/Main 1986. Zucca, D.: Kommunikatives Handeln. Form und Würde moderner Weltgesellschaft, Baden-Baden 2015.

4 Zum politik-, rechts- und staatstheoretischen Denken von Habermas a) Monographien und Sammelbände (Auswahl) Alexy, R.: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main 1995. Baxter, H.: Habermas. The Discourse Theory of Law and Democracy, Stanford, CA 2011. Becker, H.: Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, Berlin 1994. Blaug, R.: Democracy, Real and Ideal. Discourse Ethics and Radical Politics, Albany, NY 1999. Brune, J. P.: Moral und Recht. Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas, Freiburg 2010. Cardozo Law Review: Symposium. Habermas on Law and Democracy: Critical Exchanges, Vol. 17, Issues 4–5, New York 1996.

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 Auswahlbibliographie

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Auswahlbibliographie 

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b) Ausgewählte Artikel in Zeitschriften und Sammelbänden Aboulafia, M.: Law Professors Read Habermas, in: Denver University Law Review 76, 1999, 943–953. Alexy, R.: Basic Rights and Democracy in Jürgen Habermas’s Procedural Paradigm of the Law, in: Ratio Juris 7, 1994, 227–238. Alexy, R.: Discourse Theory and Human Rights, in: Ratio Juris 9, 1996, 209–235. Alexy, R.: The Special Case Thesis, in: Ratio Juris 12, 1999, 374–384. Baxter, H.: Habermas’ Sociological Theory of Law and Democracy, in: Philosophy & Social Criticism 40, 2014, 225–234. Benhabib, S.: Ein deliberatives Modell demokratischer Legitimation, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, 1995, 3–29. Blanke, T.: Sanfte Nötigung, in: Kritische Justiz 27, 1994, 439–461. Bohman, J.: Citizenship and Norms of Publicity, in: Political Theory 27, 1999, 176–202. Cohen, J.: Reflections on Habermas on Democracy, in: Ratio Juris 12, 1999, 385–416. Cortina, A.: Communicative Democracy. A Version of Deliberative Democracy, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96, 2010, 133–150. Deflem, M.: Law in Habermas’s Theory of Communicative Action, in: Philosophy & Social Criticism 20, 1994, 1–20. Dews, P.: Faktizität, Geltung und Öffentlichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41, 1993, 359–364. Dreier, R.: Rechtsphilosophie und Diskurstheorie. Bemerkungen zu Habermas’ Faktizität und Geltung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 48, 1994, 90–103. Finnis, J.: Natural Law and the Ethics of Discourse, in: Ratio Juris 12, 1999, 354–373. Flynn, J.: System and Lifeworld in Habermas’ Theory of Democracy, in: Philosophy & Social Criticism 40, 2014, 205–214. Forst, R.: Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit. Rawls’ Politischer Liberalismus und Habermas’ Diskurstheorie in der Diskussion, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik. Festschrift für Ingeborg Maus, Frankfurt/Main 1999, 105–168. Gosepath, S.: The Place of Equality in Habermas’ und Dworkin’s Theories of Justice, in: European Journal of Philosophy 3, 1995, 21–35. Grimm, D.: Integration durch Verfassung. Absichten und Aussichten im europäischen Konstitutionalisierungsprozess, in: Leviathan 32, 2004, 448–463. Günther, K.: Diskurstheorie des Rechts oder liberales Naturrecht in diskursethischem Gewande?, in: Kritische Justiz 27, 1994, 470–487. Günther, K.: Legal Adjudication and Democracy. Some Remarks on Dworkin and Habermas, in: European Journal of Philosophy 3, 1995, 36–54. Günther, K.: Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Menschenrechte, in: W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt/ Main. 2008, 338–359. Höffe, O.: Eine Konversion der kritischen Theorie? Zu Habermas’ Rechts- und Staatstheorie, in: Rechtshistorisches Journal 12, 1993, 70–88. Hofmann, H.: Menschenrechte und Demokratie oder: Was man von Chrysipp lernen kann, in: JuristenZeitung 56, 2001, 1–8. Hofmann, H.: Über Volkssouveränität. Eine begriffliche Sondierung, in: JuristenZeitung 69, 2014, 861–868.

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 Auswahlbibliographie

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Personenregister Abendroth, W. 171 Ackerman, B. 113f. Adorno, T. W. 131, 135, 137 Alexy, R. 85, 88ff., 92–95, 173 Anderson, E. 176 Apel, K.-O. 173 Arendt, H. 75f., 80f., 143f. Aristoteles 41, 192 Austin, J. 69 Austin, J. L. 5f. Axelrod, R. 26

Engels, F. 126 Engländer, A. 60

Badiou, A. 146 Barak, A. 110 Benhabib, S. 138 Böckenförde, E.-W. 69, 104 Bohman, J. 145f. Bonaparte, L. 122 Brandom, R. 15 Brunkhorst, H. 74, 147 Buchanan, J. M. 30

Gaus, D. 125 Gabriel, M. 73 Gimmler, A. 149 Goerlich, H. 108 Goldmann, M. 39 Gordon, L. 161 Graeber, D. 149 Grimm, D. 104 Günther, K. 17, 60f., 89 Guizot, F. 128

Calhoun, C. 137 Canovan, M. 80 Cavell, S. 180f. Chomsky, N. 125, 127 Constant, B. 117 Crenshaw, K. 161 Crouch, C. 177 Darwall, S. 74 Denninger, E. 108 Dewey, J. 123f., 130f. Di Fabio, U. 197 Dreier, R. 14, 154, 166 Durkheim, E. 40 Dwars, I. 90 Dworkin, R. 45, 86–91, 109 Eberl, M. 101, 104f. Eder, K. 70 Ehrenreich, N. 163 Elster, J. 30, 140 Ely, J. 113f.

Fassbender, B. 197 Ferguson, A. 39f. Forsthoff, E. 108 Fraser, N. 135, 137f., 143, 147, 156, 161 Flügel-Martinsen, O. 145 Frege, G. 5 Fröbel, J. 129, 187–190 Fuller, L. 67

Häberle, P. 158, 186, 197 Han, B.-C. 146, 148 Hart, H. L. A. 40, 57, 86, 175 Heath, J. 25 Hegel, G. W. F. 14, 39, 43, 45f., 117, 120, 122, 124, 128, 141 Heidegger, M. 79, 146 Hesse, K. 103 Hiebaum, C. 177 Himma, K. E. 63 Hindrichs, G. 143 Hitler, A. 107 Hobbes, T. 39, 69, 128 Höffe, O. 14, 42, 45, 48, 153 Hofmann, H. 185, 198 Hogrebe, W. 127 Hohfeld, W. N. 54 Holzleithner, E. 154 Horkheimer, M. 135, 137 Huizinga, J. 180 Husserl, E. 5

210 

 Personenregister

Iser, M. 75, 135, 137f. Janssen, D. 149 Jellinek, G. 49 Jhering, R. v. 71 Johnson, J. 176 Kant, I. 10, 13, 30, 32, 43, 45f., 52, 56, 130, 194, 199 Kästner, E. 125 Kelsen, H. 40, 75, 86, 100, 130 Kies, R. 149 Kluge, A. 138 Knight, J. 176 Koller, P. 11, 25f., 30, 32, 177 Kreide, R. 135, 140 Laband, P. 107 Lafont, C. 61 Larmore, C. 173 Lenin, W. I. 131 Lenski, G. 25 Locke, J. 192, 194 Lieber, T. 58 Luhmann, N. 38, 40, 42, 46, 55, 70f., 178ff. Mair, P. 177 Malcom X 132 Mann, M. 25 Marchart, O. 145f. Marmor, A. 63 Marshall, T. H. 49, 195 Marx, K. 40, 55, 81, 104, 117–126, 128–131, 133, 141 Maus, I. 112, 130 Michelman, F. 113f. Mill, J. S. 40 Minow, M. 162 Mishchenko, K. 150 Möllers, C. 115, 128 Münker, S. 149 Nanz, P. 135, 137, 148 Negt, O. 138 Newton, H. 132 Nixon, R. 133

Pariser, E. 148 Parsons, T. 37f., 40, 46, 49, 130 Patberg, M. 39 Pauer-Studer, H. 73 Pavlakos, G. 94 Peirce, C. S. 23 Peters, B. 140f., 144 Piaget, J. 125 Platon 126, 131, 190 Pospísil, L. 28 Radbruch, G. 40, 85, 166 Rawls, J. 13, 38, 42–46, 133, 160, 168, 174, 199 Rehg, W. 145f. Riemann, B. 127 Roberts, S. 28 Rorty, R. 44, 117 Rothacker, E. 41 Rousseau, J.-J. 25, 52, 56, 123, 187f., 191, 194 Saar, M. 147 Savigny, F. C. v. 40 Savio, M. 132 Schäfer, A. 133 Scheuerman, W. 145 Schlink, B. 106 Schmitt, C. 105, 108, 128 Seale, B. 132 Searle, J. 5 Sieyes, E. J. 187 Simitis, S. 159 Smend, R. 130 Smith, A. 39f. Somek, A. 154, 173 Steffek, J. 148 Sternberger, D. 191 Strecker, D. 135, 137f. Sunstein, C. 113, 115 Taylor, C. 192 Taylor, M. 26 Thatcher, M. 118 Ullmann-Margalit, E. 26 Walzer, M. 199

 Weber, M. 37f., 40, 46, 48f., 129, 169–172, 180f. Wellmer, A. 59f. Wesche, T. 142 Wesel, U. 28 Widmann, A. 150

Personenregister  Wiethölter, R. 158 Willke, H. 140 Wittgenstein, L. 5 Wróbleswski, J. 85 Young, I. M. 160

 211

Sachregister Auslegung 86, 88, 91, 94, 99, 103, 105, 154, 181, 186, 190, 192, 196 – der Verfassung 103, 105–109, 112 Autonomie, private und öffentliche (politische, staatsbürgerliche) 15, 17, 19, 33f., 37, 51ff., 56, 58–61, 69, 108, 115, 137, 156–159, 164, 194 Bundesverfassungsgericht 100–111, 172, 196f. Critical Legal Studies 89, 179 Demokratie 14f., 17f., 34, 38, 41, 44, 49, 61, 79, 81f., 92, 99, 103, 107, 114, 117, 121ff., 125ff., 130–133, 135ff., 139, 142, 144ff., 150, 168f., 176f., 185ff., 191f., 194f., 197 – deliberative (deliberative Politik) 18, 61, 114, 117, 122f., 125, 131ff., 136, 139, 145f., 148, 150, 195, 197 Demokratieprinzip 17, 59, 62f., 66, 173 Demokratietheorie 14, 37, 114, 118, 139f., 145, 148, 150, 190 Digital divide 149 Diskurs – Anwendungsdiskurs 15, 17ff., 89, 109 – Begründungsdiskurs 17ff., 89, 165 – ethischer Diskurs (ethische Gründe) 9, 11, 17, 45, 59, 69f., 78f., 92f., 95f. 155, 175 – juristischer Diskurs (juristische Argumentation) 18, 39, 85, 88, 90ff., 94ff., 179, 181f. – moralischer Diskurs (moralische Gründe) 11ff., 17f., 50, 58f., 69f., 78, 92f., 95f., 173–176, 182. – pragmatischer Diskurs (pragmatische Gründe) 10f., 17, 59, 69, 78, 92f., 95f., 175 – praktischer Diskurs 10ff., 69, 91–96 Diskursethik 10–13, 34, 51, 135, 174 Diskursprinzip 12, 17, 58f., 62, 65f., 73, 88, 173

Entformalisierung des Rechts 107, 156, 169–172, 177, 181 Entwicklung, europäische 195 Ethik – ethische Diskurse, ethische Gründe, s. Diskurs – kognitivistische 11 – prozedurale 11, 173, 176 Feminismus 156, 160–163 Geltungsansprüche 3f., 6–10, 12, 21, 23f., 26f., 29, 31, 35, 45, 52, 58f., 65, 88f., 91, 94f., 110, 125f., 138, 172f. Gerechtigkeit 11, 34, 37, 42ff, 52, 70, 78, 80, 93, 95, 113f., 125, 127, 155, 157, 160, 166, 170, 199 – Gerechtigkeitstheorie 16, 37, 42–46, 50, 173 Gesetzesprüfung 18 (s. auch Normenkontrolle) Gesetzgebung 15–18, 30–33, 52f., 56f., 58–61, 66, 72, 74, 76f., 99f., 102, 105, 109, 115, 117, 119, 121f., 128, 130f., 133, 136, 140, 142, 145, 150, 154, 165f., 169f., 173, 176f., 181, 188f., 191 Gewaltenteilung 99, 101–103, 105, 107, 164 Grundrechte 19, 51, 87f., 100, 102–113, 141, 153, 155, 158, 167, 172, 188 Handeln – dramaturgisches 2f., 7 – kommunikatives 2f., 6–11, 13, 16, 23f., 27, 29, 33, 58, 60f. 128, 135, 146f. – konversationelles 7 – normenreguliertes 2, 7 – strategisches 2, 7, 9, 29f., 61f., 118 – teleologisches 2f. Hermeneutik 44, 86, 138 – juristische 138 Idealisierung, kontrafaktische 10, 22, 24, 27, 127 – ideale Sprechsituation 10, 12

 Identität, kollektive 57, 69, 79, 81, 190–193, 199 Institutionen, archaische 26ff., 35 Integration, soziale 14ff., 22f., 26–29, 32, 47, 57, 118, 129, 195 Interpretation, s. Auslegung Intersubjektivität 53, 73, 76, 79 Kapitalismus 49, 53, 55, 119, 122, 124, 157f., 166, 195 Kommunitarismus 15, 115, 192, 194, 199 Lebenswelt 3f., 18, 26–29, 35, 41, 50, 80, 135, 140f., 148, 154, 156f., 159, 189f. Legitimität 14ff., 18, 30–33, 37, 48, 52f., 56, 71f., 78, 100, 103f., 108, 113, 115, 136, 139, 142, 148, 150, 157f., 164, 166, 168, 170f., 173, 176–180, 185 Liberalismus 15, 42, 53, 61, 113, 117ff., 121, 137, 149, 170f., 186, 192ff., 198f. Macht – administrative 69, 74–79, 81, 143, 144 – kommunikative 69, 74–79, 81f., 129, 136, 138ff.,140, 143ff., 147, 150 – politische 70ff., 74, 76–77, 140, 143f. – soziale 71f. Machtkreislauf 77, 139, 141, 143, 157 Markt (marktförmige Ökonomie, Marktmechanismus) 52, 62, 104, 113, 145, 155 Marktgesellschaft 53f., 181 Materialisierung des Rechts, s. Entformalisierung Moral – moralischer Diskurs, s. Diskurs – moralische Normen/Prinzipien/ Standards 10–13, 17, 56–59, 63, 78, 87, 115, 170, 174f. – moralischer Standpunkt 12, 32, 42, 173 – und Recht 15ff., 31–34, 43, 46ff., 50, 55–59, 63f., 75, 77f., 87f., 92–96, 114, 169f., 172, 174f., 180ff. – Universalisierungsgrundsatz 12 Moralprinzip 12f., 17, 59, 173 Naturrecht 15, 56, 69, 72–75, 77, 87, 169, 172, 192

Sachregister 

 213

Neoliberalismus 133, 157 Normenkontrolle 101ff., 105 Öffentlichkeit – fragmentierte 148 – kritische 137, 148 – Medienöffentlichkeit 148 – Öffentlichkeitsgebot 137 – politische 139f., 148f. – Scheinöffentlichkeit 137 – transnationale 147 Privatautonomie 19, 51, 53, 56, 156f., 165, 170 Privatrecht 33, 47, 122, 155f. Rationalität – kommunikative, s. Vernunft, kommunikative – prozedurale 140, 174, 176ff., 180f., 188 – strategische, s. Vernunft, instrumentelle Rechtserzeugung, s. Gesetzgebung Rechtsetzung, s. Gesetzgebung Rechtsformalismus 169, 171 Rechtsparadigma – Begriff 19, 153f. – liberales 19, 90, 104, 106, 108, 112, 155–160, 167 – sozialstaatliches 19, 90, 104, 106, 108, 112, 155, 157–161, 167 – prozeduralistisches 19, 90, 130, 153, 157ff., 161f., 165, 167 Rechtspositivismus 15, 56, 63ff., 86f. 106f., 169, 171 Rechtsrealismus 86 Rechtsstaat 14, 17, 19, 37f.,44f., 49, 51f., 66, 69f., 73f., 76f., 79, 81, 99, 107, 121, 123, 131, 139, 142f., 153, 155, 163, 167, 178, 181, 187, 189, 192–195, 197 Republikanismus 113, 115, 117, 191f., 194f. Säkularisierung 63, 72 Sonderfallthese 18, 91f., 94ff. Soziale Medien 149 Sozialismus 14, 81, 118ff., 124, 128, 186 Spieltheorie 25, 43

214 

 Sachregister

Sprachtheorie – Bedeutungstheorie 5f. – Semantik 5 – Sprachpragmatik 1, 4f., 8f. – Sprechakttheorie 5f. Sprechsituation, ideale, s. Idealisierung Strafrecht 47f., 112, 170 Systemtheorie 18, 38–42, 140, 178 Verfahrensrationalität, s. Rationalität, prozedurale Verfassung 18, 55, 76, 87, 100f., 103–108, 113, 115, 120, 122, 128, 133, 141, 172, 188, 193, 196, 199 Verfassungsdynamik, kulturalistische 186 Verfassunggebung 53, 131, 139, 158, 186–189, 191, 194 Verfassungsgerichtsbarkeit 99ff., 103ff., 112–115 Verfassungspatriotismus 191, 193f., 196 Verfassungsrechtsprechung, s. Verfassungsgerichtsbarkeit Verfassungsstaat 44, 49, 108, 185, 190 Vernunft – instrumentelle 29, 120

Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Verhältnismäßigkeitsprüfung) 88, 93, 110ff. – kommunikative 16, 21f., 24–31, 33ff., 61, 117, 119, 121, 140, 148 Vernunftrecht 21, 36f., 40, 42f., 56, 72, 74f., 154, 181 Verständigung (Verständigungsprozesse) 3–8, 10, 13, 16, 21–27, 29f., 32, 35, 58, 60f., 73, 75–79, 146f. – rationales Einverständnis 2, 4, 7f., 25f., 91, 146 Volkssouveränität 17f., 69, 73f., 77, 79, 122, 130, 139, 142, 185–191, 195 – und Menschenrechte 1 7, 52, 56, 59, 66, 69 Werte 16, 18, 46, 78, 92, 138, 172, 174, 177, 182 – und Normen/Prinzipien 88, 93, 105f., 109ff., 172 – und Rechte 103, 105, 108f. Zivilgesellschaft 17,38, 74, 77, 119, 135, 141f., 144, 157, 159, 167, 190 Zivilrecht, s. Privatrecht

Hinweise zu den Autoren Robert Alexy ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie am Juristischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Veröffentlichungen (Auswahl): Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt/Main 1983 (Erstauflage 1978); Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 1992; Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Hamburg 1993; Theorie der Grundrechte, Frankfurt/Main 1994 (Erstauflage 1986); Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt/Main 1995; Elemente einer juristischen Begründungslehre (zusammen mit H.-J. Koch, L. Kuhlen und H. Rüßmann), Baden-Baden 2003. Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an der Universität Flensburg. Veröffentlichungen (Auswahl): Solidarity. From Civic Friendship to a Global Legal Community, Cambridge/London 2005; Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte – Kommentar, Frankfurt/Main 2007; Habermas-Handbuch. Werk und Wirkung (Hrsg. zusammen mit R. Kreide u. C. Lafont), Stuttgart/Weimar 2009; Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft, BadenBaden 2012; Das doppelte Gesicht Europas – Zwischen Kapitalismus und Demokratie, Berlin 2014; Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspectives, London 2014. Dieter Grimm ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt der Yale Law School; von 1987 bis 1999 Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Veröffentlichungen (Auswahl): Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/Main 1991; Die Zukunft der Verfassung II. Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin 2012; Das Öffentliche Recht vor der Frage nach seiner Identität, Tübingen 2012 (in spanischer Übersetzung Madrid 2015); Sovereignty, New York 2015; Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2016; Constitutionalism – Past, Present, Future, Oxford 2016. Klaus Günther ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie am Fachbereich Rechtswissenschaft und Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen (Auswahl): Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt/ Main 1988; Schuld und kommunikative Freiheit. Studien zur personalen Zurechnung strafbaren Unrechts im demokratischen Rechtsstaat; Frankfurt/Main 2005; Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa: Gerichte als Vormund der Demokratie? (Hrsg. zusammen mit G. Haller u. K. Neumann), Frankfurt/Main 2011; Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung (Hrsg. zusammen mit S. Kadelbach), Frankfurt/Main 2011. Christian Hiebaum ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie sowie Rechtssoziologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Veröffentlichungen (Aus­ wahl): Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität, Berlin 2004; Bekenntnis

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 Autorenhinweise

und Interesse. Essay über den Ernst in der Politik, Berlin 2008; Recht und Literatur im Zwischenraum. Aktuelle inter- und transdisziplinäre Zugänge (Hrsg. zusammen mit S. Knaller u. D. Pichler), Bielefeld 2015. Otfried Höffe ist emeritierter Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie und Herausgeber u.  a. der Reihen „Denker“ und „Klassiker Auslegen“. Veröffentlichungen (Auswahl): Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1995; Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2. Aufl., München 2002; Wirtschaftsbürger – Staatsbürger – Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München 2004; Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, 3. Aufl., Berlin 2008; Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, 6 Aufl., Frankfurt/Main 2008; Ist die Demokratie zukunftsfähig? Über moderne Politik, München 2009; Thomas Hobbes, München 2010; Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München 2012; Immanuel Kant, 8. Aufl., München 2014; Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert, Aristoteles, 4. Aufl., München 2014; Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München 2015. Hasso Hofmann ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964 (5. Aufl. Berlin 2010, it. 1999); Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1976 (4. Aufl. 2003, Nachdr. 2010; it. 2007); Legitimität und Rechtsgeltung. Verfassungstheoretische Bemerkungen zu einem Problem der Staatslehre und der Rechtsphilosophie, Berlin 1977; Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1982; Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000 (5. Aufl. 2011; span. 2002; it. 2003, 5. Aufl. 2007); Recht und Kultur. Drei Reden, Berlin 2009; Rechtsphilosophie nach 1945. Zur Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2012. Elisabeth Holzleithner ist Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Veröffentlichungen (Auswahl): Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies. Eine Einführung, Wien 2002; Gerechtigkeit, Wien 2009; zahlreiche Aufsätze zu Themen der politischen Philosophie, der Legal Gender und Queer Studies sowie zu Recht und (Populär-)Kultur. Weitere Informationen unter http://homepage.univie. ac.at/elisabeth.holzleithner/ Peter Koller ist emeritierter Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Veröffent­ lichungen (Auswahl): Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987; Theorie des Rechts, Wien 1992, 1997; Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart (Hrsg.), Wien 2001; Die globale Frage. Empirische Befunde und ethische Herausforderungen (Hrsg.), Wien 2006;



Autorenhinweise 

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zahlreiche Aufsätze zu Themen der Rechts- und Sozialphilosophie, der Ethik und der Rechtssoziologie. Regina Kreide ist Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen (Auswahl): Globale Politik und Menschenrechte. Macht und Ohnmacht eines politischen Instruments, Frankfurt/ New York 2008; Habermas-Handbuch. Werk und Wirkung (Hrsg. zusammen mit H. Brunkhorst u. C. Lafont), Stuttgart/Weimar 2009; Kritik und Widerstand. Feministische Praktiken in androzentrischen Zeiten (Hrsg. zusammen mit B. Bargetz, A. Fleschenberg, I. Kerner u. G. Ludwig), Opladen 2015; Transformations of Democracy. Crisis, Protest, Legitimation (Hrsg. zusammen mit R. Celikates u. T. Wesche), London 2015; Die verdrängte Demokratie. Aufsätze zur politischen Theorie, Baden-Baden 2016; Internationale Politische Theorie (Hrsg. zusammen mit A. Niederberger), Stuttgart 2016; Globale Gerechtigkeit?, Freiburg 2016 (im Erscheinen). Alexander Somek ist Professor für Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaft an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Global Affiliated Professor of Law am College of Law der University of Iowa. Veröffentlichungen (Auswahl): Rechtssystem und Republik. Über die politische Funktion des systematischen Rechtsdenkens, Wien – New York 1992; Rationalität und Diskriminierung. Zur Bindung des Gesetzgebers an das Gleichheitsrecht, Wien – New York 2001; Rechtliches Wissen, Frankfurt/Main 2006; Individualism. An Essay on the Authority of the European Union, Oxford 2008; Engineering Equality. An Essay on European Anti-Discrimination Law, Oxford 2011; The Cosmopolitan Constitution, Oxford 2014.