Jesus als historische Gestalt: Beiträge zur Jesusforschung. Zum 60. Geburtstag von Gerd Theißen 9783666538865, 3525538863, 9783525538869

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Jesus als historische Gestalt: Beiträge zur Jesusforschung. Zum 60. Geburtstag von Gerd Theißen
 9783666538865, 3525538863, 9783525538869

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V&R

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch und Matthias Köckert

Band 202

Vandenhoeck & Ruprecht

Gerd Theißen

Jesus als historische Gestalt Beiträge zur Jesusforschung

Zum 60. Geburtstag von Gerd Theißen herausgegeben von Annette Merz

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-53886-3

© 2003, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere flir Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Vorwort der Herausgeberin EINLEITUNG: D E R UMSTRITTENE JESUS

VII 1

Der umstrittene historische Jesus. Oder: Wie historisch ist der historische Jesus? (Gerd Theißen/Annette Merz)

3

I. D E R JÜDISCHE JESUS

33

Jesus im Judentum. Drei Versuche einer Ortsbestimmung

35

Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus

57

Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen

73

Frauen im Umfeld Jesu

91

Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der synoptischen Überlieferung

III

I I . D E R REBELLISCHE JESUS

133

Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution

135

Jünger als Gewalttäter (Mt 1 l,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität

153

Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung

169

VI

Inhalt

I I I . DER ESCHATOLOGISCHE JESUS

195

Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgescliichtliche Überlegungen zu einer

sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung

197

Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus (Gerd Theißen/Annette Merz)

229

Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu

255

I V . DER HISTORISCHE JESUS UND SEINE RELIGIÖSE BEDEUTUNG

283

Die Fremdheit des historischen Jesus. Fremdheitskonstruktionen in Jesusbildem

285

Jesus und seine historisch-kritischen Erforscher. Über die Menschlichkeit der Jesusforschung

295

Kann man historisch-kritisch von Jesus erzählen?

309

Historische Skepsis und Jesusforschung. Oder: Meine Versuche über Lessings garstigen breiten Graben zu springen

327

Stellenregister

365

Vorwort der Herausgeberin Der herannahende 60. Geburtstag von Gerd Theißen bot willkommene Gelegenheit, ihm die Verwirklichung eines schon länger gehegten Plans vorzuschlagen - die Veröffentlichung seiner neueren Aufsätze zum historischen Jesus, die seine vielbeachteten Buchveröffentlichungen, das Lehrbuch „Der historische Jesus" (1996, ^2001 zusammen mit Annette Merz) und den methodenkritischen Beitrag „Die Kriterienfrage in der Jesusforschung" (1997, zusammen mit Dagmar Winter), teils grundlegend vorbereiten, teils weiterfuhren. Ich hatte dabei zunächst an einen unveränderten Nachdruck wichtiger, z.T. an recht abgelegener Stelle publizierter Beiträge gedacht. Doch schon bei den ersten gemeinsamen Gesprächen steüte sich heraus, dass es angesichts der gegenwärtigen Dynamik in der Jesusforschung und der zahlreichen Reaktionen auf G. Theißens Beiträge zu ihr wünschenswert schien, die Aufsätze in unterschiedlichem, teilweise erheblichen Umfang zu überarbeiten, um der aktuellen Diskussionslage voll Rechnung zu tragen und auf neuere Literatur und kritische Anfragen reagieren zu können. Dies konnte natürlich nur der Autor selbst tun und so war die Vorbereitung dieses Bandes letztendlich fur den Jubilar mit erheblich mehr Arbeit verbunden, als dies billigerweise bei einem Geschenk der Fall sein sollte. Dafür, dass er sich dieser Mühe in der gewohnt zuverlässigen Weise unterzogen hat und für viele fachlich und menschlich wertvolle Gespräche, die die editorische Routine immer wieder zum Vergnügen werden ließen, gih ihm mein tiefempfundener Dank. Die Beiträge sprechen für sich selber und brauchen keine lange Einfuhrung. Über den Ort der Erstveröffentlichung und das Ausmaß der Überarbeitung gibt jeweils die erste Fußnote Auskunft. Drei bisher unveröffentlichte Aufsätze sind aufgenommen worden: „Das Doppelgebot der Liebe", „Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus" (zusammen mit A. Merz) und „Kann man historisch-kritisch von Jesus erzählen?" Die meisten Beiträge entstammen dem akademischen Kontext, sind zuerst in exegetischen Fachzeitschriften oder Festschriften für Kollegen in aller Welt erschienen. Einige haben jedoch einen anderen „Sitz im Leben", vermitteln exegetische Erkenntnisse an eine interessierte kritische Öffentlichkeit in Kirche und Gesellschaft. So gibt beispielsweise der Vortrag „Kann man historisch-kritisch von Jesus erzählen?" Einblick in die Entstehung von G. Theißens vielgelesenem Jesusroman „Der Schatten des Galiläers" und diskutiert die hinter der Abfassung stehenden historischkritischen Motive. Der Vortrag „Frauen im Umfeld Jesu" wurde anlässlich

vili

Vorwort

der Verleihung des Sexauer Gemeindepreises gehalten, über „die Menschlichkeit der Jesusforschung" sprach G. Theißen auf dem Katholikentag in Hamburg im Jahr 2000. Auch der einleitende Überblick über zentrale Fragen und Fortschritte heutiger Jesusforschung geht auf einen allgemeinverständlichen Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen zurück, er wurde jedoch stark überarbeitet. Die vier Hauptteile des Buches markieren vier Felder, auf denen heute die Diskussion um den historischen Jesus intensiv geführt wird. Dass Jesus als Jude nur im Bezugsrahmen des Judentums seiner Zeit verstanden werden kann, ist heute opinio communis. Umso wichtiger wird die Bestimmung seines konkreten Ortes im zunehmend differenzierter wahrgenommenen Spektrum jüdischer Strömungen. Die Aufsätze des ersten Teils diskutieren, wie dies methodisch kontrolliert zu bewerkstelligen ist, ob das Doppelgebot der Liebe wirklich keinen originären Platz im palästinischen Judentum des 1. Jh. hat, ob Jesus die Maxime, es gäbe nichts Äußeres, das einen Menschen unrein machen könnte, als gläubiger und praktizierender Jude vertreten haben kann, wie sein Verhalten in der Geschlechterfrage zu beurteilen ist und was ihn mit den Sadduzäem verbindet. Der politischen Dimension des Wirkens Jesu widmet sich der zweite Teil. Man meint gerade in der deutschsprachigen Jesusforschung gerne, mit der Feststellung, dass Jesus kein Revolutionär mit einem explizit politischen Programm gewesen ist, sei diese Frage erledigt. Dass dem keineswegs so ist, zeigen die unter den Titel „Der rebellische Jesus" gestellten Beiträge, die die politischen Strategien und Wirkungen Jesu herausarbeiten. Durch den bewussten Einsatz von Charisma zur Veränderung von gesellschaftlichen Werten, durch die Übernahme stigmatisierter Rollen (etwa in der Selbstbezeichnung als „Gewalttäter") und durch gezielte symbolpolitische Aktionen wirkte Jesus revolutionierend. Der dritte Teil widmet sich der heute wieder hochumstrittenen Frage nach den eschatologischen Überzeugungen Jesu. Angesichts der Herausforderung durch besonders im angloamerikanischen Raum beheimatete Versuche, zwischen dem das Endgericht ansagenden Täufer und den an das Endgericht glaubenden ersten Christen einen „noneschatological Jesus" plausibel zu machen, werden die Vorstellungen Jesu von Gottes Zukunft und von seiner „messianischen" Rolle im endzeitlichen Geschehen in engster Beziehung zu seinem Vorgänger Johannes und zu seinem Jüngerkreis untersucht. Gezeigt wird u.a., dass Entwicklungen, die man üblicherweise erst dem Urchristentum zuschreibt, wie die Verarbeitung der Parusieverzögerung und die Entstehung der Kirche, wurzeln in der Verarbeitung der Gerichtsverzö-

Vorwort

IX

gerung durch Jesus und in seiner Verbindung der Gottesherrschaft mit dem „messianischen Kollektiv" seiner Anhängerinnen und Anhänger. Methodische und hermeneutische Fragen stehen schließlich im Mittelpunkt des vierten Teils. Zwischen den Extremen einer überzogenen historischen Skepsis, die meint, man könne eigentlich gar nichts von Jesus sagen und alle Jesusbilder seien letztlich nichts als Widerschein gegenwärtiger Bedürfnisse, und einer buchstaben- oder auch methodengläubigen Zuversicht, ihn „dingfest" machen zu können, zeigen die Aufsätze, wie eine historisch-kritisch kontrollierte, „plausible" Annäherung an Jesus möglich ist und wie mit den unvermeidlichen historischen Unsicherheiten theologisch und menschlich fruchtbar umgegangen werden kann. Zum Schluss dieses Vorwortes bleibt, den Menschen und Institutionen zu danken, ohne die dieses Buch nicht hätte erscheinen können. Bei der redaktionellen Arbeit, der Umstellung auf die Neue Rechtschreibung, der Vereinheitlichung der Zitationen, der Überprüfung der Belege, dem Korrekturenlesen etc. haben mich in erster Linie Katja Linke, zeitweise auch Kristina Wiele und Tobias Walkling unterstützt, ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich dafür gedankt. Felix Alze-Plagge und Sebastian Kuhlmann waren immer zur Stelle, wenn computertechnische Hilfe benötigt wurde, auch ihnen sei herzlich gedankt. Den Herausgebern der Reihe FRLANT gilt Dank für die Aufnahme der Aufsatzsammlung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags für die kompetente Betreuung des Manuskripts. Druckkostenzuschüsse der Evangelischen Landeskirchen von Baden, Hessen-Nassau, der Pfalz und Lippe haben geholfen, das Buch fur mehr Leserinnen und Leser erschwinglich zu machen. Der Dank dafür sei verbunden mit dem Wunsch, dass es dazu beitragen möge, unter einer breiten Leserschaft das Wissen um den historischen Jesus zu vertiefen und der akademischen Jesusforschung neue Impulse zu vermitteln! Heidelberg, im März 2003

Annette Merz

EINLEITUNG: DER UMSTRITTENE JESUS

Der umstrittene historische Jesus. Oder: Wie historisch ist der historische Jesus?' (Gerd Theißen/Annette Merz) Historisch-kritische Jesusforschung begann in der Aufklärung, als sich menschliche Vernunft von staatlicher und kirchlicher Bevormundung emanzipierte. Mit ihr ist eine große Unruhe in die Theologie gekommen, die nie mehr aufhören wird. Historische Kritik an den eigenen Grundlagen vmrde zum Kriterium fur die Glaubwürdigkeit der Theologie in einer offenen Gesellschaft, die alle Traditionen und Ansprüche einer kritischen Überprüftmg unterzieht.^ Der Streit begann in Deutschland im 18. Jh. mit Hermann Samuel Reimarus, dem Hamburger Professor fur orientalische Sprachen (1694-1768). Im Grunde arbeiten wir uns noch heute an den Fragen ab, die er aufgeworfen hat. Reimaras wusste, dass seine Thesen hochbrisant waren, er hat sie selbst nur einem kleinen Kreis von Intellektuellen zugänglich gemacht. Erst nach seinem Tod hat Gotthold Ephraim Lessing ab 1774 einige Fragmente

' Erstveröffentlichung in: S. M. Daecke/P. R. Sahm (Hg.), Jesus von Nazareth und das Christentum. Braucht die pluralistische Gesellschaft ein neues Jesusbild? Neukirchen-Vluyn; Neukirchener 2000, 171-193. Der Aufsatz wurde fiir diese Veröffentlichung überarbeitet und erweitert. ^ Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung wird in drei Perioden eingeteilt; In der Zeit der „alten", liberalen Frage nach dem historischen Jesus suchte man nach dem „wahren" Jesus hinter dem kirchlichen Dogma mit dem Ziel christliche Identität auf diesen historischen Jesus zu bauen. Die klassische Darstellung dieser Bemühungen ist A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr 1906, die seit der zweiten Auflage 1913 unter dem Titel „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" erschien. Nach einer Phase der Skepsis begann in den 50er-Jahren des 20. Jh. die sog. „neue Frage" nach dem historischen Jesus, die nach einer Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem „kerygmatischen Christus" suchte, christliche Identität aber eindeutig im kerygmatischen Christus, d.h. in der kirchlichen Verkündigung von Jesus begründete. Einen Überblick über diese Phase gibt J. M. Robinson, A New Quest of the Historical Jesus, London; SCM Press 1959; deutsche, erweiterte Ausgabe: Kerygma und historischer Jesus, Zürich: Zwingli 1960. Seit den 80er-Jahren setzte eine sog. „third quest of the historical Jesus" ein, die Jesus konsequent in die religiöse und soziale Welt des Judentums einordnet, apokryphe und kanonische Quellen gleich behandelt und sich von der Frage nach einer christlichen Identität löst. Einen Überblick über diese Forschungsphase gibt M. J. Borg, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge; Trinity Press 1994. Eine knappe Skizze der verschiedenen Phasen der Jesusforschung fmdet sich in unserem Buch; G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht '2001, 2 1 - 3 3 . Eine breit angelegte Bestandsaufnahme gegenwärtiger Forschung ist; B. Chilton/C. A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus. Evaluations of the State of Current Research, NTTS 19, Leiden u.a.; Brill 1994.

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Einleitung

veröffentlicht ohne die Identität des Verfassers preiszugeben.^ Wir möchten zunächst fünf der von Reimarus erkannten Probleme skizzieren und dann versuchen die von ihm aufgeworfenen Fragen auf dem jetzigen Stand unseres Wissens und Irrens zu beantworten. Reimarus entdeckte, dass der von den Aposteln gepredigte Christus nicht der historische Jesus sein kann, sondern dass zwischen beiden unterschieden werden muss: „ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern."'* Unsere erste Frage lautet also: Wie zuverlässig sind die Quellen über Jesus? Wie können wir durch ihr vom Glauben gezeichnetes Bild von Jesus Christus zum historischen Jesus vordringen? Das ist unsere erste Variante der Frage: Wie historisch ist der „historische Jesus"? Nun zur zweiten Variante dieser Frage. Reimarus erkannte: Der historische Jesus unterschied sich vom Christus der Apostel unter anderem dadurch, dass er ganz aus dem Kontext des Judentums heraus zu verstehen ist. Da Jesus die Grundbegriffe seiner Botschaft nicht erklärt, sind sie - so Reimarus - „nach Jüdischer Redensart"' zu verstehen. Der Christus der Apostel aber ist die Gründungsgestalt des Christentums und wird in den Quellen vielfach „den Juden" entgegengesetzt. Unsere zweite Frage lautet daher: Wie jüdisch ist der historische Jesus? War er ein Jude, der seine jüdische Herkunft hinter sich gelassen hat? Oder lebte er aus den Traditionen der jüdischen Religion?^ Diese Frage vertiefen wir noch einmal in einer dritten Variante. Ein weiterer Unterschied zwischen dem historischen Jesus und dem Christus der Apostel bestand nach Reimarus darin, dass Jesus eine politische Botschaft hatte, die nach seinem Tod in eine geistliche Botschaft umgewandelt wurde. Jesus war ein Messiasanwärter, er verhieß ein weltliches Königreich, „das Reich Christi oder des Meßias, worauf die Juden so lange gewartet und gehoffet hatten"^ - also die Befreiung von den Römern. Die Apostel dagegen ^ Vgl. H. S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, G. Alexander (Hg.), 2 Bde., Frankfurt: Insel Verlag 1972. Das entscheidende Stück daraus wurde 1778 von G. E. Lessing herausgegeben: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger". Noch ein Fragment des Wolfenbütteischen Ungenannten, Braunschweig 1778. Das Fragment ist in Auszügen abgedruckt in: M. Baumotte (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten, Reader Theologie, Gütersloh: Mohn 1984, 11-21. „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger", § 3. ' „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger", § 4. ' Hinter dieser historischen Frage versteckt sich in theologischen Diskussionen oft unausgesprochen eine weit darüber hinausgehende Frage, die man vereinfacht so formulieren kann: War Jesus ein Produkt der Geschichte (wie alle Menschen) oder war er ein vom Himmel gefallener Komet, der allein aus der menschlichen Geschichte heraus gar nicht erklärt werden kann? ' „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger", § 4.

Der umstrittene historische Jesus

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verkündigten ihn als den Erlöser der Menschheit von Sünden. Daher lautet unsere dritte Frage: Wie politisch ist der historische Jesus? Eine wirklich „historische" Betrachtung seines Lebens kann ihn nicht von seinem politischen und sozialen Umfeld isolieren.* Die vierte Frage richtet sich auf die Zukunftserwartungen Jesu im Allgemeinen. Reimarus hat richtig gesehen, dass Jesus die Erftillung alter jüdischer Hoffnungen versprach: das Reich des Messias. Diese revolutionäre Eschatologie konnte Reimarus nicht teilen, wohl aber die ethische Verkündigung Jesu. Wenn Jesus zur Umkehr ruft und die Liebe Gottes und des Nächsten verlangt, so fand Reimarus darin die „Überzeugungen der vernünftigen Verehrer Gottes" wieder, die für alle Menschen gelten. Die Erwartung des Reich Gottes gah dagegen nur für die Juden.' Reimarus hatte damit eine weitere Frage gestellt: Wie eschatologisch ist der historische Jesus? Gibt es bei ihm neben der eschatologischen Verkündigung noch eine Botschaft, die ethisch ist und die aus weisheitlichen Traditionen stammt? Ist die eschatologische Seite seiner Botschaft das Vergängliche in ihr, seine weisheitliche Seite aber das Bleibende? Die ftinfte Frage knüpft an die von Reimarus beobachtete Diskrepanz zwischen politischer Botschaft Jesu und seiner Verkündigung als Erlöser der Menschheit an. Nach Reimarus hat Jesus sich die Rolle des Erlösers nicht zugeschrieben, sondern nur die Rolle des jüdischen Messias. Erst nach Ostern, als der politische Traum der Jünger zerbrochen war, hätten diese ' Die Frage kann mit historischem Interesse gestellt werden und lautet dann: Hat Jesus seine Ziele mit politischer Macht, d.h. auch gegen den Willen anderer, durchzusetzen versucht? Welche Mittel von Einflussnahme hat er verwandt? Nur seine charismatische Ausstrahlungskraft? Oder war er politisch nur im weiteren Sinne, insofern er eine Konzeption für ein neues Zusammenleben hatte? Vielleicht sogar eine Konzeption, die Politik und Religion unterschied und dem Kaiser geben wollte, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist? Dahinter steckt oft eine aktuelle Frage: Wie politisch sollen Christen sein? Wann und unter welchen Umständen muss Religion politisch sein? Wann und unter welchen Umständen müssen beide Bereiche strikt getrennt werden? ' Vgl. H. S. Reimarus, Apologie (s.o. Anm. 3), Bd. 2, 25-27: [2. Buch, 1. I. §6]: Jesus begegnet in „zweyerley Gestalt: einmal, sofern er eine allgemeine Religion prediget, und ein Lehrer des gantzen menschlichen Geschlechts ist; ... Jenes Theil seiner Lehre geht alle Nationen des Erdbodens zu allen Zeiten an, und ist so vortreflich und gläntzend, daß man nothwendig die gröste Hochachtung für seine Person und Vorschriften fassen muß, und daß auch die Feinde des Christenthums sich nicht haben erwehren können die Regeb der innigsten Ehrfurcht gegen Gott, der herzlichen Liebe gegen alle Menschen, selbst gegen die Feinde, und der Erstickung der Laster ... als den herrlichsten Abriß einer wahren lebendigen Religion zu preisen. Der andere Theil seines Vortrags ist bloß auf die Juden und deren väterliche Religion, Gebräuche und eingeführte Meynungen gerichtet." Dazu gehört die Ansage der Nähe des Himmelreiches, das „nicht den Heyden, nicht den Samaritern, nicht dem gantzen menschlichen Geschlecht, sondern nur ins besondere dem Volke Israel von ihm [Jesus] bestimmt" war. ... „Wir haben also vollkommenen Grund, ... das verkündigte nahe Himmeheich als eine besondere Hofhung Israels, d. i. der Juden, anzusehen, und mit den allgemeinen Vorschriften, welche auch allen übrigen Völkern und Menschen heilsam und nöhtig sind, nicht zu vermengen."

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Einleitung

ihm eine unpolitische Erlöserrolle zugeschrieben um sich nicht das Scheitern ihrer Hoffnungen eingestehen zu müssen (nach dem Motto: Da sie keine Lust hatten wieder Fischer zu werden, wurden sie lieber Apostel). Diese Rekonstruktion der Ereignisse ist sicher zu einfach. Jesus hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit eine entscheidende Rolle im Geschehen zwischen Gott und den Menschen zugeschrieben. Aber welche Vorstellungen er von seiner Rolle genau hatte, ist hochumstritten. Da man in der Theologie diese Rolle „christologisch" nennt (als Rolle des Christus, d.h. des Messias), lautet unsere fünfte Frage: Wie christologisch ist der historische Jesus? Mit dieser letzten Frage rühren wir an eine Dimension, die nicht mehr „nur" historisch ist.'" Es gibt eine weitere Grundfrage der historischen Jesusforschung, die erst nach H. S. Reimarus bewusst geworden ist: Wie fremd ist der historische Jesus! Oder umgekehrt formuliert: Wie sehr sind die historischen Rekonstruktionen seines Wirkens und seiner Verkündigung anachronistische „Modernisierungen" Jesu? Reimarus selbst war Deist, d.h. Anhänger einer Vemunftreligion; er war überzeugt, dass der Kem der Lehre Jesu dieser vernünftigen Religion entspreche, auch wenn er mit den Jesus zugeschriebenen politisch-messianischen Intentionen dessen Bild faktisch historisch „verfremdete". Aber erst nach einer längeren Phase historisch-kritischer Arbeit an der Jesusüberlieferung konnte die Gefahr der unbewussten „Modernisierung" Jesu in ihr bewusst werden, nämlich mit der sog. „konsequent-eschatologischen" Auffassung von Jesu Wirken: Wenn Jesus von Gottes Herrschaft spricht, meint er nicht ein immanent auf Erden sich verbreitendes Ideal ethischen Lebens, sondern eine kosmisch, in Katastrophen hereinbrechende neue Welt (J. Weiß)." In diesem Ausnahmezustand erkläre sich seine radikale Ethik als „Interimsethik", die nur im Kontext einer hochgespannten Naherwartung verständlich sei (A. Schweitzer).'^ Auch seine Exorzismen seien in diesem eschatologischen Kontext zu verstehen - als Gefechte zwischen der hereinbrechenden Königsherrschaft Gottes und der zusammenbrechenden Königsherrschaft des Satans. Eschatologie, Ethik und Wunder Jesu weisen jeweils in eine fremde und ganz andere Weh. A. Schweitzer hat fìir diese Erfahrung der Fremdheit Jesu beDie Frage lautet rein „historisch": Hat Jesus sich für den Messias gehalten? Hat er sich eine Rolle zugeschrieben, die der des Messias entsprach oder diese gar überbot? Oder wurde er von anderen dafür gehalten? Über solche historischen Fragen hinaus geht die Frage, ob er der erwartete Messias oder eine den Messias überbietende Erlösergestalt wirklich war und daher mit Recht bis heute als Erlöser verehrt wird. " J. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1892, ^1900 = 4 9 6 4 . A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr 1913, 640 = Tübingen: Mohr ' l 9 8 4 (UTB 1302), 628 u.ö. Nach dieser UTB-Ausgabe wird im Folgenden zitiert.

Der umstrittene historische Jesus

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eindruckende Worte gefunden: „Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den iiistorischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, daß sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen mußte. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befi-eite Pendel sich in seine ursprüngliche Lage zurückbewegt."'^

1. Wie zuverlässig sind die Quellen über Jesus? Oder: Wie historisch ist der historische Jesus? In den 60er-Jahren herrschte an den theologischen Fakultäten eine große Skepsis gegenüber dem Geschichtswert der Jesusüberlieferung. In Vorlesungen und Seminaren war es selbstverständlich die Worte und Erzählungen von Jesus als Zeugnisse urchristlichen Glaubens zu inteφretieren. Denn was auch immer in ihnen als historische Erinnerung nachwirkte, diese Erinnerung war im Lichte des Osterglaubens und der urchristlichen Theologie radikal umgeschmolzen. Man wunderte sich daher weniger darüber, wenn ein Jesuswort für unecht erklärt wurde, als darüber, wenn eins der Echtheit „verdächtigt" wurde. Wie kam es nun, dass auch historisch-kritisch eingestellte Forscher im Laufe der Zeit immer mehr Worte Jesu der Echtheit „verdächtigten"? Wir können diese Frage hier nur am Beispiel von zwei Problemkreisen erörtern:'''

A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (s.o. Anm. 12), 620f. Diese resignativ klingenden Worte muss man zusammen lesen mit den Schlussworten, die diese Fremdheit positiv deuten: „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er (sie!) in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist..." (ebd. S. 630). In unserem Buch: Der historische Jesus (s.o. Anm. 2), diskutieren wir S. 9 8 - 1 2 0 ausführlich „Dreizehn Einwände historischer Skepsis gegen die historische Auswertbarkeit der Jesusüberlieferung und Argumente zu ihrer Widerlegung".

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Einleitung

- am Beispiel der formgeschichtlichen Skepsis, die von einer weitgehenden Prägung der Überlieferungen durch ihren sozialen „Sitz im Leben" überzeugt ist, und - am Beispiel der traditionsgeschichtlichen Skepsis, die eine Pluralität von Jesusbildem im Urchristentum aufdeckt - in jeder Tradition ein anderes. Zunächst vier Ericenntnisse aus der sozialgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament, die unsere Einsicht in den „Sitz im Leben" der Jesusüberlieferung vertieft haben. Durch sie wurde die Formgeschichte fortgeführt, ihre Skepsis jedoch korrigiert. Die erste Erkenntnis: Was uns an sozialen Bedürfnissen der urchristlichen Gemeinden bekannt ist, hat oft nur wenig Niederschlag in der synoptischen Tradition geftmden. Jede soziale Gruppe muss Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit klar definieren. Im Urchristentum gab es darüber in den 40er-Jahren einen Streit: War die Beschneidung als Aufnahmekriterium notwendig oder nicht (Gal 2,1-10; Apg 15,1-29)? Diese Auseinandersetzung hat keine Spuren in der synoptischen Tradition hinterlassen. Nirgendwo finden wir ein Wort Jesu flir oder gegen die Beschneidung. Erst das EvThom bringt ein entsprechendes Jesuswort (Lg. 53). Ebenso wichtig ist flir jede soziale Gruppe die Definition und Legitimation von Autoritätsstrukturen. Schon in der ersten Generation hören wir von „Presbytern" (Apg 11,30 u.ö.) oder von „Episkopen und Diakonen" (Phil 1,1). Aber nirgendwo finden wir ein Jesuswort, das ihnen den Rücken stärkt. Kann die Prägung durch den „Sitz im Leben" wirklich so umfassend gewesen sein, wenn so elementare soziale Bedürfnisse die Traditionen nachweislich nicht geprägt haben? Die zweite Erkenntnis: Wenn man (in Übereinstimmung mit formgeschichtlichen Grundsätzen) nach den Autoritätsrollen fragt, die durch die Jesusüberlieferung legitimiert und gestärkt werden, so stößt man immer wieder auf wandernde Prediger und Missionare, die sein Wort verkündigten. Der „Sitz im Leben" vieler Worttraditionen ist ein urchristliches Wandercharismatikertum. Die wandernden Charismatiker setzten die Lebensweise Jesu fort, der als Wanderprediger durch Palästina zog. Sie konnten glaubhaft sein radikales Ethos der Distanz zu Familie, Besitz und Arbeit vertreten. Sie sind eine gewisse Garantie dafür, dass die Jesusüberlieferung im Geiste Jesu erhalten wurde" - nicht im Sinne einer wortwörtlichen Echtheit (der ipsissima verba), sondern der Echtheit ihrer Motive, Formen und Intentionen, d.h. im Sirme einer ipsissima vox.

" So die These in G. Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245-271 = ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen: Mohr M989, 79-105.

Der umstrittene historische Jesus

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Die dritte Erkenntnis: Sozialgeschichte hat zusatnmen mit Realgeschichte, Territorialgeschichte und Biblischer Archäologie die palästinische Umwelt Jesu erforscht. Je konkreter das Bild wird, das wir von dieser Umwelt haben, um so deutlicher wird: Die Jesusüberlieferung passt unwahrscheinlich gut in das Palästina der ersten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. hinein.'^ Jesus lässt sich historisch weit besser als „Produkt" der jüdischen Geschichte verständlich machen denn als Produkt urchristlicher Imagination. Kontrollierbar wird diese Prägung der Jesusüberlieferung durch Umwelt und Geschichte anhand anderer historischer Gestalten in der Jesusüberlieferung, bei denen wir auch über nicht-christliche Quellen (vor allem bei Josephus) verfügen. Hier können wir die Jesusüberlieferung mit den jeweils in sich sehr verschiedenen Überlieferungen von Johaimes dem Täufer, Herodes Antipas und Pontius Pilatus vergleichen.'^ In demselben Maße, wie wir bei Aussagen über diese Gestalten in der synoptischen Tradition einen Anhalt in der Geschichte annehmen dürfen, in demselben Maße ist dies für Aussagen über Jesus anzunehmen, wobei selbstverständlich hier wie dort „Dichtung" und Geschichte ineinander verwoben sind. Eine vierte Erkenntnis: Sozialgeschichte verfährt u.a. komparativ. So wurde die von Jesus ausgelöste „Bewegung" mit chiliastischen und millenaristischen Bewegungen in der Zeit der Kolonialisierung und Dekolonialisierung verglichen.'® Trotz aller Unterschiede kann man sagen: Hier wie dort entstehen in der Konfrontation zwischen einer imperialistischen mit einer einheimischen Kultur prophetische Bewegungen, die eine Wende aller Dinge in Aussicht stellen und dabei Traditionen der (unterlegenen) einheimischen Kultur revitalisieren. Alle diese prophetischen Bewegungen der Neuzeit sind von einer profilierten charismatischen Gestalt geprägt. Sollte das nicht auch bei der Jesusbewegung so gewesen sein?

" Vgl. G. Theißen: Lokalkolorit und Zeitgeschichte. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1989. " Johannes der Täufer (Jos Ant 18,116-119) war ein charismatischer jüdischer Prophet, der in Opposition zur politischen Machtelite stand, Herodes Antipas und Pontius Pilatus gehörten zu dieser Machtelite, der eine als einheimischer jüdischer Fürst, der andere als römischer Beamter. Sie werden bei Josephus und in den anderen Quellen aus jeweils sehr verschiedener „Perspektive" dargestellt - und trotzdem gibt es keine Zweifel an ihrer Geschichtlichkeit. " Der Vergleich wurde zum ersten Mal durchgeführt von J. G. Gager, Kingdom and Community. The Social World of Early Christianity, Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1975. Der systematischste Vergleich stammt von D. C. Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis: Fortress Press 1998. Vgl. femer G. Theißen, Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, EvTh 59 (1999) 402-415 = in diesem Band S. 197-228. Einen kritischen Überblick über die Diskussion gibt B. Holmberg, Sociology and the New Testament. An Appraisal, Minneapolis: Fortress Press 1990, 77-117, Kap. 3 „Early Christianity as a Millenarian Sect".

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Einleitung

Wenn man durch solche Überlegungen zu der Überzeugung gelangt, dass die (zweifellos vorhandene) soziale Prägung der Jesusüberlieferung nicht von vornherein gegen ihre historische Auswertbarkeit spricht, so bleibt das Argument, die Pluralität widersprüchlicher Jesusbilder in unseren Quellen erkläre sich nur dadurch, dass sich diese verschiedenen Jesusbilder weit von der Geschichte entfernt hätten. Dazu zwei Überlegungen. Die erste Überlegung: Wir können nie eine Quelle mit der historischen Wirklichkeit vergleichen, sondern immer nur mit anderen Quellen. Verschiedene Quellen sind für die historische Wissenschaft eine Chance - besonders dann, wenn sie untereinander genug Widersprüche enthalten um ihre Unabhängigkeit voneinander zu sichern, aber Übereinstimmungen genug um auf ein und dieselbe Wirklichkeit hin interpretierbar zu sein. Die zweite Überlegung wendet diesen ganz allgemeinen Grundsatz historischer Arbeit auf die Jesusüberlieferung an: Wir haben hier eine Fülle verschiedener Quellen, die widersprüchlich genug sind um prinzipiell unabhängig voneinander zu sein. In den Synoptikern sind dies nach derzeitigem Erkenntnisstand: Die Logienquelle, das MkEv, das mt und Ik Sondergut. Hinzu kommen (je nach Urteil über deren Unabhängigkeit von den synoptischen Evangelien) das Johannes- und das Thomasevangelium. Die Formgeschichte hat darüber hinaus unsere Zahl an Quellen im Grunde weiter vermehrt: Jede kleine Einheit gilt als potentiell unabhängige Überlieferung. Darüber hinaus wurden nicht-christliche Quellen neu bewertet." Je größer die Pluralität der Überlieferung und der Jesusbilder, um so mehr Gewicht haben die Übereinstimmungen zwischen diesen Überlieferungskomplexen (der sog. „Querschnittsbeweis")· Wenn sich aus ganz verschieden gefärbten Jesusbildem dennoch ein kohärentes Bild der historischen Gestalt hinter diesen Jesusbildem ergibt, so spricht das gegen eine radikale Skepsis. Fazit: Wir haben gewiss keinen Grund den Quellen naiv zu vertrauen. Aber auch keinen Grund ihre geschichtliche Auswertbarkeit prinzipiell in Frage zu stellen. Dass immer nur Wahrscheinlichkeitsurteile über geschichtliche Sachverhalte möglich sind, ist ohnehin klar. Eine wichtige Rolle beim Urteil über die historische Auswertbarkeit der " Das sog. Testimonium Flavianum (= Jos Ant 18,63-64) galt oft als Fälschung und 1тефо1аtion. Seitdem aber eine Variante dieses Testimonium Flavianum entdeckt wurde, die keine spezifisch christlichen Züge enthält (vgl. S. Pines, An Arabic Version of the Testimonium Flavianum and its Implications, Jerusalem: Israel's Academy of Sciences and Humanities 1971), sind die Chancen gestiegen, dass hinter Ant 18,63-64 eine von Josephus selbst formulierte summarische Darstellung Jesu steht. Vgl. unsere Darstellung der Probleme in: Der historische Jesus (s.o. Anm. 2), 74-82. Umgekehrt wuchs gegenüber den rabbinischen Erwähnungen Jesu die Skepsis. Vgl. J. Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, EdF 82, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978. Zu allen außerbiblischen Zeugnissen vgl. F. F. Bruce, Außerbiblische Zeugnisse über Jesus und das frühe Christentum, Gießen/Basel: Brunnen ^1992.

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Jesusüberlieferung spielen die Authentizitätskriterien der historischen Jesusforschung. Das sogenannte Differenzkriterium wurde in der Phase der „neuen Frage" nach dem historischen Jesus zum allgemeinen Konsens: „Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden karm, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat" (E. Käsemann).^" Entscheidend iur die Echtheit ist demnach der Unterschied zur Umwelt, und zwar nach zwei Seiten hin: zum Judentum und zum Urchristentum, wobei die Abhebung vom Judentum noch wichtiger ist, da bei der Unterscheidung Jesu vom Urchristentum gerade der Teil des Urchristentums hervorgehoben wird, in dem die jüdischen Traditionen am stärksten nachwirken: die Judenchristenheit. Dieses Kriterium kann die historische Wirklichkeit verzerren und ist u.E. neu zu formulieren. Es entstand im 19. Jh. auf dem Hintergrund des Ideals von der genialen Persönlichkeit, die 1. schöpferisch und innovativ ist, 2. gegen Regeln und Traditionen verstößt und sich 3. einfach und ursprünglich äußert. Jesus wurde im Lichte dieser apriorisch wirksamen Idee einer mit ihrer Umwelt in Spannung stehenden „schöpferischen Persönlichkeit" gesehen.^' Die erste methodisch reflektierte Formulierung eines Authentizitätskriteriums in der Jesusforschung durch P. W. Schmiedel (1901 und 1906) machte sich bewusst von dieser „heroischen Zeitidee" frei: Authentisch ist gerade das, was der „Heldenverehrung" Jesu in den Evangelien widerspricht. Denn so verfahre , jeder Geschichtsforscher auf einem außertheologischen Gebiet". „Lernt ein solcher eine Person der Geschichte zuerst aus einem Buche kennen, das von der Verehrung für seinen Helden durchdrungen ist wie die Evangelien fur Jesus, so hält er in erster Linie diejenigen Stellen des Buches für glaubhaft, die dieser Verehrung zuwiderlaufen."^^ Wenn man gegen die Tendenzen der Evangelien zur Verehrung Jesu ein historisches Jesusbild rekonstruiert, so gelangt man tendenziell zu einem

E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, ZThK 51 (1954) 125-153, S. 144; auch in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964, 187-214, dort S. 205 (Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert). Eine ausführliche Darstellung der Kriterienfrage findet sich in: G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg Schweiz/ Göttingen: UniversitätsverlagA/andenhoeck & Ruprecht 1997, dort auch im Anhang eine Quellensammlung zur Kriterienfrage, S. 270-316. Vgl. G. Theißen/D. Winter, Kriterienfrage, bes. 45-63. ^^ P. W. Schmiedel, Die Person Jesu im Streite der Meinungen der Gegenwart, PrM 10 (1906) 257-282, dort S. 260. P. W. Schmiedel hatte dies Kriterium zuerst in dem Artikel „Gospels" in: Encyclopaedia biblica, 1901, Sp. 1761-1898, dort Sp. 1872f, veröffentlicht.

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„menschlichen" Jesusbild, das ihn sehr viel weniger in Spannung mit seiner jüdischen Umwelt sieht. In Gegenreaktion zu dieser Tendenz (und zu P. W. Schmiedel) betonten daher einige Forscher um so mehr: Das historisch Echte mag das sein, was den Interessen des Urchristentums widerspricht; das Wesentliche aber, das, was an Jesus interessiert, könne nur das sein, was ihn vom Judentum unterscheide. H. Weinel hat dies 1910 prägnant zum Ausdruck gebracht. Zunächst stellt er fest, unecht sei das, was nur aus einem Interesse der Gemeinde herstanmien kann - zumal darm, wenn dies Interesse erst nach der Zeit Jesu aufgetaucht sein kann. Dann aber fährt er dort: „Das Wesentliche bestimmt sich ... nach einer ganz anderen Methode als das Echte (im Original gesperrt). Aus dem Echten, das auf die oben genannte Weise festgestelk ist, muß das Wesentliche noch erst ausgeschieden werden, und zwar nach dem Grundsatz: das Wesentliche ist das Originale (im Original gesperrt). Nicht, was Jesus mit seinem Volk und seiner Zeit geteilt hat - das ist natürlich gerade oft das Echte an der Überlieferung (sie!) - , sondern was ihn von seinem Volk und seiner Zeit unterschieden hat, das ist sein, das ist das Wesentliche an ihm und seiner Predigt."^^ Was als Kriterium für das „Wesentliche" (innerhalb einer sehr viel breiteren Menge von echten Jesusüberlieferungen) formuliert war, wurde erst ca. 40 Jahre später zum Kriterium fur das „Echte". Die historischen Authentizitätskriterien, die immanent eher eine Tendenz zur Einbettung Jesu in seine Umwelt haben, woirden dabei mit Hilfe des zweiseitigen Differenzkriteriums (als Differenz zu Urchristentum und Judentum) so umformuliert, dass sie von vornherein zu einem Garanten für die Unvergleichlichkeit Jesu in seiner Umwelt wurden. Historische Forschung wurde schon in ihrer Methodik zur ancilla theologiae. Dafür nahm man sogar eine gewisse Skepsis in Kauf: Lieber ganz wenig von Jesus wissen - dies aber als etwas Einzigartiges und Unvergleichliches glauben dürfen - als ihn in seine reale Umwelt einzubetten! Um diese „unhistorischen" Implikationen des traditionellen Differenzkriteriums aufzuheben wurde daher in den 90er-Jahren ein „historisches Plausibilitätskriterium" formuliert, unterschieden nach jüdischer Kontextplausibilität und urchristlicher Wirkungsplausibilität: In den Jesusüberlieferungen ist echt, „was als individuelle Erscheinung plausibel in seinen jüdischen Kontext eingeordnet werden kann und die christliche Wirkungsgeschichte Jesu im Urchristentum plausibel zu erklären vermag."^'*

" H. Weinel, Ist unsere Verkündigung von Jesus unhaltbar geworden? ZThK 20 (1910) 1-89, dort S. 35. G. Theißen/D. Winter, Kriterienfrage (s.o. Anm. 20), S. IX, vgl. femer S. 215-217.

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2. Wie jüdisch war der historische Jesus? Die Jesusforschung hat lange Zeit u.a. mit Hilfe des oben diskutierten Differenzkriteriums aus den Quellen heraus ein Bild von Jesus geschöpft, das ihn als den Überwinder des Judentums darsteüt.^' Dass dieses unhistorische Jesusbild an Boden verliert und die Kriterien zur Feststellung von authentischem Jesusgut differenzierter gehandhabt werden, beruht auf vertieften historischen Einsichten sowohl in die Pluralität des Judentums zur Zeit Jesu als auch in die Grundstruktur seiner Religion.^^ Hierzu haben nicht zuletzt Programmatisch geschieht dies in der Programmschrift der Jesusforschung in der Bultmannschule bei E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (s.o. Anm. 20): Jesus ist ein Jude, hat sich aber durch seine Gesetzesinteφretation in den Antithesen „aus dem Verband des Judentums gelöst". Man darf „ihn nicht der Darstellung spätjüdischer Frömmigkeit einordnen ... Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre." (206). Für E. Käsemann gab es im Neuen Testament noch eine zweite Front, den Doketismus. Gegen ihn halten die Evangelien am irdischen Jesus fest (196). Beide Abgrenzungen dienen dem christlichen Bekenntnis. „Denn seiner (sc. des historischen Jesu) Kontingenz entspricht diejenige des Glaubens, für den sich die Geschichte Jesu neu ereignet ..." (214). Es ist daher richtig zu sagen, dass die Bultmannschule in ihren Jesusdarstellungen „primär von dem theologischen Interesse bestimmt (war), christliche Identität durch Abgrenzung gegenüber dem Judentum zu begründen und durch Abgrenzung zu urchristlichen „Häresien" (wie Gnosis und Enthusiasmus) zu sichern." (G. Theißen/A. Merz, in: Der historische Jesus [s.o. Anm. 2], 28). Anders A. Lindemann, in: Zur Einführung. Die Frage nach dem historischen Jesus als historisches und theologisches Problem, in; U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-VIuyn: Neukirchener 2002, I 21, dort S. 14. Aufgrund eines Missverständnisses meint er, wir hätten der Bultmannschule unterstellt, sie hätte „die Berücksichtigung nicht-kanonischer Quellen wie beispielsweise des Thomasevangeliums zurückgewiesen" (Hervorhebung nicht im Original). Wir behaupten nur: Sie haben ,rechtgläubige' kanonische Quellen bevorzugt (a.a.O., 28). Das aber trifft zu. Bei E. Käsemann heißt es: „Der historische Jesus begegnet uns im NT, der einzigen wirklichen Urkunde über ihn ..." (194). Dass es bei einem Forschungsprogramm, das die Kontinuität zwischen historischem Jesus und kirchlichem Kerygma sichern will, theologische Gründe flir die Bevorzugung der kanonischen Quellen gibt, liegt auf der Hand. Erst einige Vertreter der third quest haben das Thomasevangelium als Quelle gleichgestellt. Im Übrigen teilen wir die Meinung, dass die synoptischen Quellen anderen vorzuziehen seien. Das neue Bild von der Pluralität des Judentums zur Zeit Jesu wurde durch die Entdeckung der Qumranschriften ungeheuer gefördert: Die essenische Gemeinschaft am Toten Meer hat ja nicht nur ihre eigenen Schriften gesammelt, sondern auch andere ansonsten verschollene Schriften. Vgl. als Einfllhrung: H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Herder Spektrum 4128, Freiburg u.a.: Herder ^1993; J. C. VanderKam, Einfllhrung in die Qumranforschung, UTB 1998, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. Das Bild des Judentums in Palästina wurde aber auch dadurch „bunter" und mannigfaltiger, dass der starke hellenistische Einfluss in diesem Lande bewusst wurde. Vgl. die klassische Darstellung von M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v.Chr., WUNT 10, Tübingen: Mohr 1969. Gleichzeitig mit dieser Entdeckung einer größeren Pluralität im Judentum wurde eine alle Varianten dieses Judentums umfassende Grundstruktur erkannt: Der „Bundesnomismus", der nichts anderes besagt, als dass auch das Judentum eine Gnadenreligion ist, in der die Erwählung der Forderung vorhergeht, der Bund dem Gesetz, der Indikativ dem Imperativ. Vgl. E. P. Sanders in seiner klassischen Dar-

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jüdische Historiker wichtige Beiträge geleistet?^ So verbreitet sich allmählich ein anderes Jesusbild, das die unbestreitbar vorhandenen Konflikte Jesu mit seinen Zeitgenossen nicht als Konflikte mit dem Judentum, sondern als Konflikte innerhalb des Judentums deutet. Dazu zunächst einige Beispiele: Sabbatkonflikte Jesu sind in den Quellen gut bezeugt. Immer geht es um die Frage, ob bestimmte Handlungen, wie Ährenraufen oder Heilen, am Sabbat erlaubt sind oder einen Verstoß gegen das Gebot darstellen den Sabbattag zu heiligen.^^ Die Sabbatkonflikte gehören in eine damals lebendige Diskussion um die richtige Auslegung des Sabbatgebots. In den Makkabäerkriegen (2. Jh. v.Chr.) hatte es noch Juden gegeben, die sich nicht verteidigten, als sie am Sabbat angegriffen wurden, nach IMakk 2,29-41 wurden 1000 Juden von ihren Feinden gnadenlos niedergemetzelt. Damals war beschlossen worden, dass man sich in Zukunft verteidigen würde. In bestimmten Ausnahmesituationen war also am Sabbat sogar das Töten in Notwehr erlaubt. Über die Frage, ob man einem Tier, das in eine Grube gefallen war, helfen dürfe oder nicht, gab es ganz verschiedene Ansichten, die Essener zum Beispiel verboten die Hilfe, die Pharisäer und auch Jesus ließen sie zu.^' Jesus hat nun im Wesentlichen die erlaubten Fälle der Lebensrettung am Sabbat ausgedehnt auf Fälle von Lebensfbrderung. Wenn er in Mk 3,4 provokativ fragt: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten?", dann spielt er möglicherweise auf die Erlaubnis an in Kriegszeiten zur Selbstverteidigung zu töten und schließt mit einer unter Rabbinen verbreiteten hermeneutischen Regel vom Kleineren aufs Größere: Wenn es schon erlaubt ist Böses zu tun, um wieviel mehr dann auch Gutes! Jesus erweist sich hier als ein liberaler jüdischer Rabbi, der den Sabbat als Gottes Gabe fur den Menschen und nicht den Menschen als Sklaven des Sabbats versteht.^"

Stellung; Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Pattems of Religion, London: SCM Press 1977; deutsch: Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, STUNT 17, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985. Eine zusammenfassende Darstellung des Judentums zur Zeit Jesu bietet E. P. Sanders in: Judaism. Practice and Belief 63 ВСЕ - 66 CE, London/Philadelphia: SCM Press 1992. " Vgl. z.B. J. Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre (hebr. 1907), Berlin: Jüdischer Verlag 1934; D. Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek: Rowohlt 1968; G. Vermes, Jesus the Jew. A Historian's Reading of the Gospel, London: Collins 1973; deutsch: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1993. Vgl. S. O. Back, Jesus of Nazareth and the Sabbath Commandment, Abo: Abo Akademi University Press 1995. Vgl. E. P. Sanders, Jewish Law from Jesus to the Mishnah. Five Studies, London/Philadelphia: SCM Press/Trinity Press 1990, 6-23. Vgl. die Rabbi Jonathan ben Joseph (um 140 n.Chr.) und Rabbi Schimon ben Menasja (um 180 n.Chr.) zugeschriebene Auslegung von Ex 31,14: „Euch ist der Sabbat übergeben, u. nicht

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Noch mehr als die Sabbatkonflikte gilt das Reinheitslogion in Mk 7,15 als Beweis dafür, dass Jesus die Reinheitsvorstellungen des Judentums hinter sich gelassen hat:^' „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was den Menschen unrein macht." Dies Wort wird in den Evangelien als „Rätselwort" bezeichnet, d.h. es galt als nicht so einfach zu verstehen. Nun ist einerseits nicht zu bestreiten, dass dieses Wort Gleichgültigkeit gegenüber Reinheitsfragen offenbart. Aber mit diesem Wort ist keinerlei Aufforderung verbunden die Reinheitsgebote nicht mehr zu beachten. Es wird lediglich festgestellt: An sich gibt es nichts Reines oder Unreines, ob man daraus irgendwelche Verhaltenskonsequenzen ableiten soll, bleibt offen und war deshalb im Urchristentum mit Recht umstritten. Rabbi Johanan ben Zakkai (gest. um 80) soll gesagt haben: „Bei eurem Leben, nicht der Tote verunreinigt und nicht das Wasser macht rein, aber es ist eine Verordnung des Heiligen, gesegnet ist er. Der Heilige, gesegnet ist er, sprach: Eine Satzung habe ich festgesetzt, eine Verordnung habe ich angeordnet; und dir ist nicht erlaubt, meine Verordnung zu übertreten."^^ Ob Jesus auch dieser Meinung war, dass die Reinheits-Halacha zwar sachlich nicht begründbar, aber trotzdem zu halten sei, wissen wir nicht, aber es ist möglich. Man kann auch vermuten, dass Jesu galiläische Herkunft für seine vergleichsweise laxe Einstellung zu Reinheitsfragen verantwortlich war. Die galiläische Reinheits-Halacha ist uns zwar kaum bekannt. Doch den Rabbinen galten später die galiläischen Juden als notorische Übertreter der Reinheitsgesetze. Auch Jesu Lebensstil als umherziehender Wanderprediger war vielleicht ein Grund die Reinheitsgebote großzügiger zu handhaben. Sicher aber ist, Jesus stellte sich mit der indikativischen Maxime, nichts sei an sich unrein, nicht außerhalb dessen, was im Rahmen des Judentums seiner Zeit gedacht und diskutiert werden konnte. Er formuliert keinen Imperativ: Esst unreine Speisen! Das finden wir erst in der Apg - in einer Vision, die dort Petrus hat: Schlachte und iss! (Apg 10,13ff). Sicher seid ihr dem Sabbat übergeben" (vgl. P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch Bd. 2, München: C. H. Beck 1924, 5). " So bes. E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (s.o. Anm. 20): Mk 7,15 treffe „Voraussetzungen und den Wortlaut der Thora und die Autorität des Moses selbst" (207). Jesus erschüttere damit „die Grundlagen des Spätjudentums" (208). Er habe sich „aus dem Verband des Judentums gelöst". „Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre." (206). Vgl. dagegen G. Theißen, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen in: K. Wengst, Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schräge, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1 9 9 8 , 2 3 5 - 2 5 1 , überarbeitete Fassung: in diesem Band S. 73-89. ' ' Übersetzung nach Pesiqta de Rav Kahana, ed. B. Mandelbaum Bd. 1, New York: Jewish Theological Seminary of America 1962, S. 74, Ζ. 10-12. Vgl. die abweichende Übersetzung nach Edition Buber = Pesiqta R. Kahana 40*· bei P. Billerbeck, Kommentar (s.o. Anm. 30) Bd. 1, 719.

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ist auch, dass Jesu liberale Ansichten auf massiven Widerstand in solchen jüdischen Kreisen stoßen mussten, in denen Reinheitsfragen Priorität besaßen, etwa bei den Pharisäern oder den Essenern. Aber heftige Kontroversen der verschiedenen Gruppen waren damals an der Tagesordnung. Zwei weitere Aspekte können wir nur summarisch nennen. „Folge du mir und lass die Toten ihre Toten begraben" (Mt 8,22); diese Forderung an einen Jünger, dessen Vater gestorben war, enthält einen krassen Verstoß gegen das Gebot der Elternliebe um der Nachfolge Jesu willen. Gefordert wird eine demonstrative prophetische Symbolhandlung, die aber keinesfalls das 4. (bzw. 5.) Gebot aufheben soll, sondern dessen Wichtigkeit und Unverletzbarkeit gerade voraussetzt: Der einmalige provokative Verstoß soll die alles übersteigende Wichtigkeit der Botschaft Jesu hervorheben. Selbst das Eltemgebot tritt zurück.^^ Auch Jesu symbolische Aktion gegen den Tempel (die sog. Tempelreinigung) und seine Tempelprophetie (Mk 11,15-18; 14,58) setzen bei aller Distanz eine große innere Bindung an den Tempel voraus. Tempelopposition hat es im Judentum immer gegeben, zur Jesu Zeit wurde sie vor allem von den Essenern geübt, auch bei ihnen gerade um der Heiligkeit des Tempels willen.^'' Jesu Konflikte sind also innerjüdische Konflikte. Aber auch positiv gilt: Jesu zentrale Botschaft von der Königsherrschaft Gottes schöpft aus jüdischen Traditionen. Seine Ethik ist über weite Strecken thoragebundene Ethik. Während in den eben besprochenen Streitfällen, die kultische und rituelle Fragen betreffen, eine deutliche Tendenz zur Normentschärfting sichtbar war, gibt es eine ganze Anzahl von Thoraauslegungen, die eine thoraverschärfende Tendenz erkennen lassen. So beim Wiederheiratsverbot, wo Jesus wie die Essener mit der Schöpfting gegen die Auflösung einer Ehe argumentiert, die durch die Heirat eines anderen Partners besiegelt wird. Schon wer seinen Mitmenschen zürnt, verstößt laut Jesus gegen das Dekalogverbot des Tötens. Das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 stellt er gleichberechtigt neben das Gebot der Gottesliebe und radikalisiert es auf dreifache Weise, als Liebe zum Feind (in der Bergpredigt: Mt 5,43-48), als ^^ Vgl. M. Hengel, Nachfolge und Charisma. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie zu Mt 8,21f. und Jesu Ruf in die Nachfolge, BZNW 34, Berlin: Töpelmann 1968. W. D. Davies/D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew Bd. 2, ICC, Edinburgh: Τ & Τ Clark 1991, 5 6 58, betrachten Mt 8,2 If mit Recht als Aufforderung zu einer Art prophetischer Symbolhandlung. Vgl. G. Theißen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetic im Spannungsfeld von Land und Stadt, ThZ 32 (1976) 144-158 = ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (s.o. Anm. 15), 142-159; H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag, Vandenhoeck & Ruprecht 1994, 144-156. Für E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London: SCM Press 1985, ist die „Tempelreinigung" der Schlüssel für einen Zugang zum historischen Jesus.

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Liebe zu den Fremden (im Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Lk 10,30-37) und als Liebe zu den Sündern (etwa in der Erzählung von der Salbung durch die Sünderin oder in der sprichwörtlichen Freundschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern; vgl. Lk 7,36-50; 7,34). Es sind meist ethische Normen im engeren Sinne, die Jesus verschärft, also tendenziell universale Normen. Salz der Erde und Licht der Welt sollen die Juden durch eine solch radikale Thoraerftillung werden - durch Erflillung ihrer ethischen Gebote sollen sie eine klare Identität im Gegenüber zur Außenwelt haben, nicht so sehr durch Erfüllung ihrer rituellen Gebote, die auch nach innen schnell ausgrenzend wirken konnten.^^ Jesus war also zunächst ein jüdischer Rabbi, der mit anderen Rabbinen über die Auslegung der Thora und das gottgemäße Leben diskutierte. Der Anspruch, unter den er sich selbst und seine Zuhörerinnen und Zuhörer stellte, war der Wille Gottes wie er sich in der Thora kundtut. Darin unterscheidet er sich in nichts von den Rabbinen seiner Zeit. Ungewöhnlich war allerdings die Souveränität, mit der Jesus seine Thoraauslegung vortrug. Daraufkommen wir später zurück. Eines der wichtigsten Ergebnisse von 200 Jahren historischer Jesusforschung ist, dass sie endlich auf breiter Front zu zeigen beginnt: Jesus gehört zwei Religionen an. Er war und blieb ein Jude, der an seiner jüdischen Identität nie gezweifelt hätte. Er ist zugleich zur Grundlage des Christentums geworden. Nun zur bereits angeschnittenen dritten Frage:

3. Wie politisch war der historische Jesus? Die Botschaft von Gottes ankommendem Königtum hat eine politische Komponente, denn wenn Gott herrschen sollte, setzte das unausgesprochen voraus, dass die Römer nicht mehr herrschten, die doch die Herren des Landes waren und Judäa z.Zt. Jesu durch ihre Präfekten regieren ließen. Aber die politische Fremdherrschaft war nur ein Teilaspekt eines umfassenderen Prozesses, der ein Überfremdungsgefiihl bei vielen Juden z.Zt. Jesu

Diese Deutang der Ethik Jesu als eine (liberale und radikale) Thoraethik ist nicht Allgemeingut der Forschung. Es gibt zweifellos neben der Thora noch andere Quellen der Ethik Jesu: weisheitliche Motive auf der einen Seite, prophetisch-eschatologische Motive auf der anderen Seite. Aber diese drei Quellen der Ethik Jesu, Thora, Weisheit und Prophetic, sind die Quellen jeder jüdischen Ethik zur Zeit Jesu. Wenn sie bei Jesus mehr in Spannung zueinander treten als sonst im Judentum, so werden damit latente Spannungen im Judentum manifest, nicht aber Spannungen mit dem Judentum. In diesem Sinne interpretieren wir die Ethik Jesu - weithin in ähnlicher Weise wie W. Schräge, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht ^1989, 23-122, jedoch ohne Jesus mit seinen radikalen Spitzenaussagen außerhalb des Judentums zu stellen (so W. Schräge, S. 71, zu Mk 7,15).

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hervorrief. Mit der Übernahme der Herrschaft im Osten durch die Römer ging nämlich auf kultureller Ebene ein weiterer Hellenisierungsschub einher. Griechische Sprache, hellenistische Lebensart und Kultur, vor allem aber eine synkretistische Religiosität überformten allerorten die einheimischen Traditionen. Besonders auf den Oberschichten lag ein Druck sich der im ganzen römischen Reich verbreiteten hellenistischen Einheitskultur zu öffnen. In Galiläa war es Herodes Antipas, der eine gezielte, wenn auch behutsame Hellenisierungspolitik betrieb. Hier trat Jesus auf. Unsere Frage ist nun: Wie politisch war Jesus?^® Definiert man politische Aktivität eng in dem Sinne, dass es um die Durchsetzung politischer Ambitionen gegen den Widerstand der Gegenseite geht, nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln, dann lautet das fast einhellige Urteil der historischen Forschung heute mit Recht: In diesem Sinne war Jesus nicht politisch aktiv. Er hat keinen Aufruhr geplant um das Volk von den Römern zu befreien. Er verkündigte, dass die Gottesherrschaft in Aufrichtung begriffen sei, aber er rechnete mit einer Zeit friedlicher Koexistenz zwischen Römerherrschaft und Gottesherrschaft und damit, dass Gott selbst es sein würde, der die Fremdherrscher vertreibt. Aber Jesus brachte durchaus Widerstand gegen die herrschenden politischen Verhältnisse zum Ausdruck, und zwar oft auf symbolische Weise. Er nutzte die Chancen von Symbolpolitik um gewalttätige politische Auseinandersetzungen zu entschärfen und zu vermeiden.^^ Wir bringen fìir Symbolpolitik in der damaligen Zeit einige Beispiele, zunächst nicht von Jesus selbst, sondern von Seiten der damals Herrschenden. Es scheint nämlich für die Zeit des Wirkens Jesu charakteristisch zu sein, dass auch die Herrschenden ihre Interessen nicht nur mit brutaler Gewak durchsetzten, sondern auch durch Symbole Politik machten. Betrachten wir zunächst Jesu Heimat im engeren Sinn, Galiläa.^^ Dort entfaltete Herodes Antipas, der römische Klientelfurst von Galiläa, eine

' ' Eine gute Darstellung der verschiedenen Deutungen Jesu als eines politischen Revolutionärs bietet: E. Bammel, The Revolution Theory from Reimarus to Brandon, in: E. Bammel/C. F. D. Moule (Hg.), Jesus and the Politics of His Day, Cambridge: Cambridge University Press 1984, 1168.

' ' Die folgenden Ausfllhrungen basieren auf Gedanken, die entwickelt wurden in: G. Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung, EvTh 57 (1997) 3 7 8 ^ 0 0 , vgl. in diesem Band S. 169-193; G. Theißen, Jésus et la crise sociale de son temps. Aspects socio-historiques de la recherche du Jésus historique, in: D. Marguerat/E. Norelli/J. M. Poffet (Hg.), Jésus de Nazareth. Nouvelles approches d'une énigme, MoBi 38, Genèves: Labor et Fides 1998, 125-155. Für alle Fragen, die Galiläa betreffen, vgl. S. Freyne, Galilee from Alexander the Great to Hadrian. 323 B.C.E. to 135 C.E. A Study of Second Temple Judaism, Wilmington: Glazier 1980; ders., Galilee, Jesus and the Gospels. Literary Approaches and Historical Investigations, Philadelphia: Fortress Press 1988; ders.. The Geography, Politics and Economics of Galilee and the Quest

D e r umstrittene historische J e s u s

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große Bautätigkeit. Zunächst ließ er die im sog. Räuberkrieg 4 v.Chr. völHg zerstörte Stadt Sepphoris, die übrigens nur 6 km von Nazareth entfernt liegt, zu einer blühenden hellenistischen Stadt ausbauen und machte sie zur Hauptstadt seines Landes. Er gab ihr den Namen autokratoris, das bedeutet in diesem Kontext wahrscheinlich „Stadt des Kaisers". Etwa im Jahr 19, damals war Jesus schon ein junger Mann, ließ Antipas sich am See Genezareth eine neue Hauptstadt bauen, ein gigantisches wirtschaftliches Unternehmen, das fur die jüdische Bevölkerung gleich in mehrfacher Hinsicht eine Provokation darstellte. Die Stadt entstand über einem jüdischen Friedhof, das heißt die Stadtgründung war verbunden mit einer Entweihung der ewigen Totenruhe und einer schwerwiegenden Verletzung jüdischer Reinheitsgebote (Jos Ant 18,36-38). Wer sich dort ansiedelte, demonstrierte seine Loyalität dem Herrscher gegenüber und mindestens Gleichgültigkeit, wenn nicht Illoyalität gegenüber jüdischen Traditionen, die vielen Zeitgenossen hochheilig waren. Antipas ließ seinen Palast mit Darstellungen von Tieren schmücken, was vielen Juden als ein Verstoß gegen das Bilderverbot galt. Diese Tierbilder wurden 50 Jahre später von der galiläischen Landbevölkerung zerstört, noch bevor die damit beauftragte amtliche Delegation aus Jerusalem es besorgen konnte, ein deutliches Zeichen, welch hohe symbolische Bedeutung sie hatten (Jos Vita 65f). Auch der Name der neuen Hauptstadt war ein Politikum: Sie hieß Tiberias nach dem amtierenden römischen Kaiser. Herodes Antipas beabsichtigte wohl mit der Stadtgründung ein vorsichtiges Heranftihren seiner Bevölkerung an die hellenistisch-römische Welt. Werfen wir nun einen Blick nach Judäa: Auch aus der Amtszeit des Pontius Pilatus sind Konflikte, in denen Symbole eine entscheidende Rolle spielten, bezeugt. So versuchte Pilatus militärische Standarten mit Kaiserbildem nach Jerusalem zu bringen; diese Entweihung der heiligen Stadt durch demonstrative Verletzung des Bilderverbots konnte nur durch massenhaften gewaltlosen Widerstand der jüdischen Bevölkerung beendet werden (Jos Ant 18,55-59). Pilatus ließ auch, soweit bekannt, als einziger der römischen Präfekten und Prokuratoren von Judäa Münzen prägen, die heidnische Kultgeräte zeigten. Es ist damit zu rechnen, dass die jüdische Bevölkerung sich davon provoziert fìihlte. Vielleicht verletzte Pilatus auch Reinheitsgebote beim Bau eines Aquädukts über einen Friedhof. Die Auseinandersetzung mit der hellenistischen Kultur und Religion und der römischen Herrschaft spielte sich also z.Zt. Jesu zu einem erheblichen Teil auf der symbolischen Ebene ab. Die Herrschenden versuchten mit Ak-

for the Historical Jesus, in: B. Chilton/C. A. Evans, Historical Jesus (s.o. Anm. 2), 75-121; ders., Galilee and Gospel. Collected Essays, WUNT 125, Tübingen: Mohr 2000.

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kulturationssymbolen die Integration der jüdischen Bevölkerung Palästinas in die hellenistisch-heidnische Kultur zu fördern, erreichten damit aber manchmal das Gegenteil. Der Widerstand in der Bevölkerung wuchs. Er entlud sich zur Zeit Jesu kaum in gewalttätigen Aktionen, dazu kam es erst Jahrzehnte später. Zunächst kam es zu prophetischen Gegenbewegungen, die sich ebenfalls symbolischer Handlungen bedienten. Man kann Johannes den Täufer so deuten. Aber auch etliche Verhaltensweisen Jesu sind als symbolische politische Aktionen zu verstehen. Er hat zwar nicht für die Errichtung der Königsherrschaft Gottes in Palästina gekämpft, aber er hat mit den Zwölfen ftir die Zukunft symbolisch eine Regierung eingesetzt! In Mt 19,28 heißt es, die Zwölf würden auf zwölf Thronen sitzen und über die zwölf Stämme des Volkes Israel herrschen (oder in einer anderen Übersetzung: sie richten, was aber auch eine herrscherliche Funktion ist). Die Einsetzung von zwölf aus dem einfachen Volk stammenden Repräsentanten der zwölf Stämme des Volkes Israel bringt klar die Opposition zu den Römern und den mit ihnen zusammenarbeitenden Mitgliedern der jüdischen Oberschicht zum Ausdruck. Möglicherweise ist der Einzug nach Jerusalem als Gegenbild zum Einzug des Präfekten in die Stadt zu den drei großen Festen inszeniert worden. Die Historizität der Einzugserzählung ist umstritten. Die Erzählung selbst betont auffällig, dass mit Jesus eine heimische Herrschaft kommt: die Herrschaft unseres Vaters David (Mk 11,10)! Auch die Wunder Jesu, genauer die Exorzismen, sind in diesen Zusammenhang einzuordnen. Es gab im damaligen Palästina nach Lage der biblischen und anderer Quellen auffallend viele Menschen, die nach heutiger Auffassung teils к0фегИсЬ krank, teils seelisch gestört waren, deren Symptome aber damals als „dämonische Besessenheit" diagnostiziert wurden. Jesus hatte ohne Zweifel die Fähigkeit solche Menschen zu heilen, indem er die Dämonen beschwor, bedrohte und vertrieb. Damit gab er die Menschen dem normalen Leben zurück. Es gibt ein Wort, das noch recht genau zeigt, wie Jesus selber diese Heilungen bewertete. Als nämlich einige behaupteten, er sei selbst besessen und treibe mit Hilfe des Anfuhrers der Dämonen die Dämonen aus, sagte er: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen" (Lk 11,20). Jesus fìihrt also die Vertreibung der Dämonen auf Gottes Kraft zurück, die durch ihn wirkt, und mit der Heilung jedes kranken Menschen gewinnt das Gottesreich Raum. Wer aber sind die Dämonen? Nach Meinung seiner Gegner ist Jesus von Beelzebul besessen, Baal Zebul aber ist ein Spottname ftir syrische Baal-Gottheiten bzw. musste jeden an die BaalGottheiten erinnern. Seinem eigenen Verständnis nach vertreibt Jesus natürlich genau das, womit ihn seine Gegner behaftet sehen, er verjagt also

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mit den Dämonen das ganze heidnische Unwesen!^' Eine Illustration bietet die Erzählung von der Heilung des Besessenen im Gebiet der Stadt Gerasa. Sie könnte in einem Punkt eine Auswirkung des historischen Jesus sein, auch wenn sie selbst legendarische Züge hat. Jesus fragt den Dämon direkt nach seinem Namen. Er antwortet nach Mk 5,9: „Legion heiße ich" und um diese politische Provokation nicht allzu deutlich werden zu lassen fugt er eine harmlose Erklärung hinzu: „denn wir sind viele". Daraufhin entspinnt sich ein höchst amüsanter, wenn auch fremdartiger Handel zwischen dem überlegenen Wundertäter und den unterlegenen Dämonen. Sie bitten darum in die am See weidende Schweineherde fahren zu dürfen, was Jesus dann auch erlaubt. Daraufhin wird der Mann geheilt und 2000 Schweine stürzen sich in den See Genezareth. Zur Deutung dieser Szene muss man natürlich bedenken, dass Schweine nach jüdischer Vorstellung unreine Tiere sind. Juden essen kein Schweinefleisch und halten keine Schweineherden. Die Anwesenheit der unreinen Tiere im heiligen Land und die Anwesenheit der römischen Legionen werden parallelisiert. Besonders pikant wird das dadurch, dass die seit 6 n.Chr. in Syrien stationierte 10. Legion u.a. einen Eber auf ihren Feldzeichen abgebildet hatte.'"' Die Heilung von Besessenen ist der Anfang vom Ende der Römerherrschaft. Die Exorzismen sind eine symbolische Austreibung des Fremden. Einmal ist Jesus ganz direkt aufgefordert worden zu einem hochbrisanten politischen Thema Stellung zu beziehen (Mk 12,13-17). Als er in Jerusalem gefragt wurde, „darf man dem Kaiser Steuern zahlen?", war das ein Versuch ihn entweder auf die Rolle eines gewalttätigen Widerstandskämpfers oder eines Kollaborateurs der Römer festzulegen. Denn zur Steuerverweigerung aufzurufen hieß die militärische Auseinandersetzung mit den Römern zu suchen, wie es z.B. 6 n.Chr. geschehen war, als Judäa unter direkte römische Verwaltung gestellt worden war und Quirinius den ersten römischen Zensus erhob. Damals hatte ein gewisser Judas Galilaios zur Steuerverweigerung aufgerufen mit dem theologischen Argument, Gott allein sei Herr des Landes und seiner Erträge und anderen Herren Steuern zu zahlen sei eine Verleugnung dieses Anspruchs Gottes und ein Verstoß gegen das erste Gebot.·" Wie nun Jesus, der doch die beginnende Aufrich" Zu dieser Deutung der Beelzebuldebatte vgl. A. Feldtkeller, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, NTOA 25, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1993, 105f. "" Vgl. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte (s.o. Anm. 16), 115-119. Das „Schwein" ist auch in den rabbinischen Schriften ein Symbol filr die Herrschaft Roms (so QohR 1,9; LevR 13,5). Vgl. G. Stemberger, Die römische Herrschaft im Urteil der Juden, EdF 195, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, I I 3 f . I I 5 f . 1 2 5 . "" Vgl. zur Bewegung des Judas Galilaios die noch immer grundlegende Darstellung von M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Merodes I.

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tung der Königsherrschaft Gottes predigte, sich zur Steuerfrage stellte, war eine legitime und zugleich äußerst gefährliche Frage. Einerseits konnte ihn die Antwort seine Glaubwürdigkeit kosten - die Frage konnte aufgeworfen werden: Stand flir ihn Gott wirklich im Zentrum? Andererseits war eine Eskalation der Gewah zu befürchten. Jesus entschärfte diesen Konflikt, indem er ihn von der direkt politischen Ebene wegholt und eine Symbolhandlung vollzieht. Er fordert die Fragesteller auf ihm einen Denar zu zeigen. Dann fragt er sie, wessen Bild und wessen Aufschrift die Münze trägt. Sie antworten „die des Kaisers". Jesu Aufforderung „gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" gibt den Fragesteilem die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zurück, sie vermeidet die direkte politische Konfi-ontation und bringt zugleich Widerstand zum Ausdruck, indem sie über die von der Fragestellung her notwendige Antwort hinaus festhält: Die Pflichten gegenüber Gott dürfen nicht von den Pflichten gegenüber dem Kaiser beeinträchtigt werden. Jesus ist also keineswegs unpolitisch gewesen, aber er hat keine direkten politischen Konfrontationen gesucht, sondern auf der Ebene der symbolisch ausgetragenen Konflikte seinen Beitrag geleistet. Er verbindet die Rolle eines Propheten, der im göttlichen Auftrag das Anbrechen des Reiches Gottes ansagt, mit der Rolle des charismatischen Wunderheilers, der das Reich Gottes in Heilungen sichtbar in Kraft setzt und seine Widersacher vertreibt. Als Prophet und Wundertäter vollzieht er symbolische Handlungen, die das Reich Gottes vor Augen stellen und alles überwinden, was ihm entgegensteht. Diese Handlungen vollzieht Jesus aus einem ungeheuer großen Vollmachtsbewusstsein heraus, das sich speist aus einem unmittelbaren Gottesverhältnis und der sicheren Erwartung, dass die von ihm angesagte Vollendung der Welt unmittelbar bevorsteht. Man spricht deshalb von einem eschatologischen Vollmachtsbewusstsein Jesu. Dies ist im Prinzip in der Forschung unbestritten. Aber unklar ist, worin die Eschatologie Jesu bestand. War das Gottesreich wirklich nur eine jenseitige Größe, die in diese Welt hereinbrechen sollte?

4. Wie eschatologisch war der historische Jesus? Seit J. Weiß und A. Schweitzer hatte sich eine eschatologische Sicht der Verkündigung Jesu durchgesetzt.'*^ Das Reich Gottes war nicht eine immanente Größe, die sich aus der Geschichte heraus und durch menschliches bis 70 n.Chr., AGJU 1, Leiden/Köln ^1976. " J. Weiß, Predigt (s.o. Anm. 11); A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (s.o. Anm. 12).

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Tun vollendet, sondern eine in diese Welt hereinbrechende fremde Macht, die als ein „Ganz Anderes" (als ein totaliter aliter) eine neue Wirklichkeit bringt. In der letzten Zeit wurde diesem eschatologischen Jesus ein „nichteschatologisches Jesusbild" entgegengesetzt. Jesus sei ein Weisheitslehrer gewesen, der paradoxe und subversive Einsichten verbreitet habe. Das Königreich Gottes sei das Königreich des Weisen, das überall beginnt, wo man Jesu Lebensform übernimmt.''^ Die These vom nicht-eschatologischen Lehrer kann auch abgewandelt werden: Jesus sei zwar am Anfang als Anhänger des Täufers ein Vertreter apokalyptischer Erwartungen gewesen, sei aber dann wieder in den großen Traditionsstrom der Weisheit als seine Heimat zurückgekehrt.'*'* Die Vertreter eines nicht-eschatologischen Jesus haben richtige Aspekte der Jesusüberlieferung erkannt, aber isolieren sie gegenüber anderen. Die Argumente fur eine eschatologische Auffassung der Jesusverkündigung sind u.E. überwältigend. Die Frage aber ist, wie die weisheitliche Überlieferung damit verbunden ist. Kontext- wie Wirkungsplausibilität sprechen eindeutig dafür Jesus eine eschatologische Verkündigung zuzuschreiben. Die Zeit war voll von eschatologischen Erwartungen. Kurz vor dem Auftreten Jesu wurde die ,Λ»sumptio Mosis" herausgegeben, eine Schrift, die den baldigen Ausbruch des Gottesreiches erwartet. Sie entstand ca. 10-25 n.Chr. zur Zeit der Herodessöhne, von denen sie erwartet, dass sie kürzer als ihr Vater regieren werden (AssMos 6,6f). Mit Johannes dem Täufer tritt ein eschatologischer Prophet auf. Jesus schließt sich ihm an. Die von Jesus überlieferten Worte über den Täufer zeugen von einer bleibenden Hochachtung. Jesus ruft eine Bewegung hervor, die voll von eschatologischen Erwartungen ist. Historisch ist weit plausibler, dass er selbst eschatologisch bewegt war. Man müsste ihn sonst in Diskontinuität zu der Bewegung sehen, aus der er hervorging (der Täuferbewegung) und zu der Bewegung, die er hervorrief (der Jesusbewegung).''' Berechtigt ist aber nach wie vor die Frage, ob nicht seine Eschatologie individuelle Elemente hatte, die ihn vom Täufer und vom frühen Urchristentum trennen. Wenn Jesus die „Königsherrschaft Gottes" predigte, brachte er keine Ein nicht-eschatologisches Jesusbild wird von einer Strömung innerhalb der „third quest" der Jesusforschung vertreten; M. J. Borg, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge: Trinity Press 1994, darin bes. Kap. 3: A Temperate Case for a Non-Eschatological Jesus, S. 4 7 - 6 8 ; Kap. 4: Jesus and Eschatology, S. 69-96; J. D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh: Τ & Τ Clark 1991; В. L. Mack, A Myth of Innocence. Mark and Christian Origins, Philadelphia: Fortress Press 1988. M. Ebner, Jesus - ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, HBS 15, Freiburg u.a.: Herder 1998. "" So mit Recht D. C. Allison, Jesus of Nazareth (s.o. Anm. 18), 40.

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neue Botschaft. Nirgendwo erklärt er, was „Königsherrschaft Gottes" bedeutet. Juden verstanden, was Jesus meinte. Er stimmte mit den Grundüberzeugungen des Judentums überein: Denn die Erwartung der Gottesherrschaft bringt einen dynamischen Monotheismus zum Ausdruck. Gott wird sich gegen alle bösen Mächte, die Dämonen in der Welt und die Sünde im Menschen, durchsetzen. Dann wird er allein die Welt regieren. Aber Jesus setzt eigene Akzente: 1. Wo sonst in jüdischen Texten von der „Königsherrschaft" Gottes die Rede ist, ist Gott immer auch der „König". Für Jesus aber ist er der „Vater" (Lk 11,2). Die Gottesherrschaft wird deshalb auch nicht als große Machtveranstaltung vorgestellt. Auch nicht als vollkommener Gottesdienst. Wir hören von keinen liturgischen Gesängen. Die Gottesherrschaft ist ein großes Familienfest: ein Gastmahl. 2. Die Königsherrschaft ist in anderen jüdischen Texten zukünftig, beginnt aber bei Jesus schon in der Gegenwart (Lk 11,20). Sie ist eng mit seinem Tun verbunden. Jesus bringt sie in seiner Person. Darum sind die Augen selig, die sehen, was die Jünger sehen, und die Ohren selig, weil sie hören, was die Jünger hören (Mt 13,16f). Sie erleben die Endzeit. 3. Die Gottesherrschaft bedeutet in anderen jüdischen Texten der damaligen Zeit meist Befi-eiung von Fremdherrschaft, bei Jesus aber werden gerade die Fremden in sie hinein strömen (Lk 13,29). Sie ist kein Triumph über die Feinde Israels, sondern Hoffnung für die Verlorenen in Israel, ftir Fremde und Ausländer! Sie gehört den Kindern und Armen (Mk 10,13-16; Lk 6,20). Jesus betont zwar die Gnade Gottes mehr als der Täufer. Das Gericht fehlt jedoch nicht. Nicht alle werden in das Reich Gottes kommen: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." (Mk 10,15). Das Heil begann für Jesus in Heilungen. Schon zu seinen Lebzeiten erzählte man von seinen Wundern mit vielen Übertreibungen. Sie haben einen historischen Kem. Denn nicht allen Charismatikem wurden damals Wunder angedichtet, weder dem Lehrer der Gerechtigkeit noch dem Täufer. Diese ftir Jesus charakteristischen Wunder verbreiteten die Gewissheit: Jetzt ist das Heil im Anbruch. Dieser Glaube beruhte auf einer ungeheuren symbolischen Überhöhung unscheinbarer Handlungen und Ereignisse in der Gegenwart: Wenn ein paar Menschen geheilt werden, einige mit Jesus Mahlgemeinschaft haben, einige Gleichnisse erzählt werden - dann soll die Gottesherrschaft anbrechen? Das Unglaubliche und Paradoxe hat Jesus selbst gemerkt. In seinen Wachstumsgleichnissen bringt er es zum Ausdruck: Die Gottesherrschaft ist wie ein Senfkorn, das zur großen Staude wird, und wie ein Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert (Lk 13,18-21). In winzigen Anfängen ist etwas verborgen, das alle Weh verändern wird.

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Die Besonderheiten dieser Eschatologie könnten sich daraus erklären, dass Jesus in ihr schon die Enttäuschungen mit Naherwartungen verarbeitet hat. Der Täufer hatte das unmittelbar hereinbrechende Gericht erwartet. Die Axt war schon an die Wurzel der Bäume gelegt. Aber der Täufer war inhaftiert und hingerichtet worden. Das Ende hatte sich nicht ereignet. Jesus hält an der Gerichtserwartung des Täufers fest: Eigentlich haben alle Menschen den Untergang verdient, wenn sie nicht umkehren (Lk 13,1-5). Aber Gott gibt ihnen noch einmal eine Chance. Jesus hat wahrscheinlich im Lichte seiner Gerichtserwartung jeden Tag als Gnade Gottes gedeutet, der den Menschen Zeit zur Umkehr lässt (Lk 13,6-9). Selbst in der Tatsache, dass die Sonne aufgeht, konnte er ein Zeichen der Güte Gottes sehen (Mt 5,4348). Vielleicht hat ihn deshalb der Prophet Jona interessiert (Lk 11,29-32). Denn auch dieser Prophet musste mit dem Nichteintreten einer Gerichtserwartung fertig werden! Jesus formuliert die eschatologische Erwartung so, dass sie mit Verzögerungen leben kann. Die klugen Mädchen stellen sich beim Warten auf den Bräutigam darauf ein, dass seine Ankunft länger dauert, als andere meinten (Mt 25,1-13)."^ Wenn Jesus sich darauf einstellte, dass es offen war, wann das Ende eintraf, obwohl Gott es in seiner Freiheit jederzeit herbeiführen konnte - dann macht es einen Sinn, dass er die breite Weisheitstradition aufgreift, die nicht mit einem unmittelbaren Weltende rechnet. Eschatologische Prophetic und weisheitliche Ethik bilden dann keinen Gegensatz in der Verkündigung Jesu. Vielmehr ist beides durch dieselbe Formensprache verbunden: 1. Die Gleichnisgattung verbindet bei Jesus prophetische und weisheitliche Züge. Einerseits handeln einige Gleichnisse eindeutig von der Gottesherrschaft: das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29), vom Senfkorn (Mk 4,30-32; Lk 13,18-19) und vom Sauerteig (Lk 13,20). Andererseits wird das Gleichnis vom großen Abendmahl mit Motiven der einladenden Weisheit gestaltet (Lk 14,15-24)."^ Die didaktische Funktion der Gleichnisse rückt sie in die Nähe weisheitlicher Belehrung. 2. Die Makarismen und Weherufe verbinden prophetische und weisheitliche Züge. Makarismen sind uns aus der Weisheit vertraut (vgl. Spr 28,14; Sir 34,17 U.Ö.), finden sich aber auch in Prophetie und Apokalyptik (Jes 32,20; 56,2; slavHen 42,6-14; 52). Weherufe sind prophetisch. Sie stimmen schon vorweg die Leichenklage an. In der Jesusüberlieferung haben sie manchmal stärker weisheitliche Züge, insofern sie keine Sanktionen androhen, sondern ein Verhalten anmahnen (vgl. Lk 11,42^7.52). 3. In der Spruchüberlieferung kombiniert Jesus oft weisheitliche und pro-

Vgl. „Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Jesus", in diesem Band: S. 229-253. P. V. Gemünden, Bemerkungen zur Weisheit, Vortrag, Universität Halle 15.4.2002.

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phetische Motive: Im Doppelspruch von Jona und der Königin des Südens wird ein exemplarischer Weiser, der König Salomo, mit einem exemplarischen Propheten, Jona, verbunden (Lk 11,29-32). Beides gehört zusammen. Die Spruchkomposition vom „Nicht-Sorgen" gehört zu den weisheitlichen Mahnungen. Die Mahnung sich die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel als Vorbild zu nehmen (also eine an der Natur orientierte Motivation) wird verbunden mit einer eschatologischen Motivation zuerst nach dem Reich Gottes zu suchen (Lk 12,22-31). Das Logion in Lk 11,49-51 wird der Weisheit in den Mund gelegt. Es deutet Propheten und Apostel als Boten der Weisheit, verbindet also ein Weisheitsmotiv mit der prophetischen Tradition. Es ist u.E. unangebracht Jesus als pointierten Weisheitslehrer gegen Jesus als eschatologischen Propheten auszuspielen. Jesus erwartete eine große Wende der Dinge. Aber er wertete damit die Gegenwart auf, indem er behauptete, diese Wende beginne schon hier und jetzt in seiner Verkündigung und seinem Wirken. Er selbst spielt in dieser Wende die entscheidende Rolle. Unklar aber ist, wie der historische Jesus diese seine besondere Rolle im Endgeschehen und sein besonderes Verhältnis zu Gott thematisiert und sprachlich zum Ausdruck gebracht hat. Damit sind wir bei unserer letzten Frage angekommen:

5. Wie christologisch war der historische Jesus? In den Evangelien wird Jesus als „Sohn Gottes", als „Menschensohn", als „Kyrios" und als „Christus", d.h. Messias, bezeichnet, als Messias wird er auch „Sohn Davids" genannt und von den Römern als „König der Juden" hingerichtet. Weil aber die Quellen, wie gezeigt, keine neutralen historischen Darstellungen, sondern Ausdruck des Glaubens der sie überliefernden Gemeinden sind, liegt gerade bei diesen Hoheitsbezeichnungen Jesu der Verdacht nahe, dass sie erst nachösterlich, d.h. im Lichte der Auferstehung, auf Jesus übertragen wurden und nicht sein eigenes Verständnis seiner Person und seiner Sendung wiedergeben, sondern Erlöserrollen, die im jüdischen und paganen Bereich bereitlagen. So hat besonders die deutsche Jesusforschung lange Zeit angenommen, dass Jesus selbst keinen der überlieferten christologischen Titel verwendet hat, dass ihm vielmehr alle zusammen mit den zu ihnen gehörenden Hoheits- und Erlöserrollen - unter dem Eindruck des Ostergeschehens beigelegt wurden. Der historische Jesus trat nach Ostern in die schon vorher existierenden Hoheitsrollen des „Menschensohns", des „Kyrios" und des „gnostischen Erlösers" oder einer jüdischen Engelgestalt ein.

Der umstrittene historische Jesus

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Inzwischen ist diese radikale Skepsis wieder auf dem Rückzug, denn sowohl die Einschätzung der Analogien als auch der Rolle des Ostergeschehens haben sich verändert. Zur Einschätzung der Analogien: Es galt lange als unkritisch, sich gegen die Deutung der urchristlichen Christologie von diesen Analogien her zu sträuben, als falsches Festhalten an einem „Besonderheitsanspruch" des Urchristentums. Heute fragt man eher, ob es nicht unkritisch ist, alle möglichen religionsgeschichtlichen Gestalten als Analogien zu Jesus und der Christologie zu deuten - und sie damit oft einer unkritischen interpretatio Christiana zu unterziehen. Auch das kann Ausdruck eines falschen Besonderheitsansprachs sein: als liefen insgeheim alle religionsgeschichtlichen Linien, Erlösererwartungen und Sehnsüchte auf diese eine Gestalt zu.''^ Heute werden Analogien prinzipiell um so eher als relevant betrachtet, je besser sie in das palästinisch-jüdische Milieu passen, in dem Jesus und seine ersten Anhängerinnen und Anhänger heimisch waren. Das lässt sich aus den Quellen am ehesten von der Messiaserwartung und von der Menschensohnvorstellung sagen. Damit steigt aber zugleich die Möglichkeit, dass auch Jesus selbst sich mit diesen Erwartungen auseinandersetzen musste oder sich mit ihnen identifiziert hat. Die Einschätzung der Rolle des Osterglaubens hat sich ebenfalls gewandelt. Wir sehen in Ostern nicht mehr so sehr ein ganz neue Hoheitsrollen stiftendes als vielmehr ein Hoheitsvorstellungen transformierendes Geschehen. Denn wir haben keine historischen Belege daftir, dass jemand, der vorher kein Messias oder „Menschensohn" war, durch Auferstehung dazu wird. Wahrscheinlicher ist, dass schon vorher mit Jesus ein Hoheitsanspruch verbunden war, der durch die Erscheinungen des am Kreuz Gestorbenen bestätigt und korrigiert, erneuert und überboten wurde. Was aber war das fur ein Hoheitsanspruch? Am ehesten ist er - zunächst unabhängig von der Titelfrage - in der soziologischen Kategorie des Charismatikers zu erfassen.'" Für Charismatiker ist charakteristisch, dass sie Ein gutes Beispiel ist die Diskussion der „sterbenden und auferstehenden Götter" in der Antilce. Als Beispiel fllr die neue kritische Einstellung sei auf die vorbildliche Studie hingewiesen von D. Zeller, Die Mysterienkulte und die paulinische Soteriologie (Röm 6,1-11)· Eine Fallstudie zum Synkretismus im Neuen Testament, in: H. P. Silier (Hg.), Suchbewegungen. Synkretismus kulturelle Identität und kirchliches Bekenntnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, 4 2 - 6 1 ; vgl. femer das hervorragende Lehrbuch von H. J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 2 Bde., Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1995/96. Die Kategorie des „Charismatikers" v ^ r d e schon bei R. Otto, Reich Gottes und Menschensohn, München: Beck 1934, 286 u. 296, auf Jesus angewandt. Systematisch als Beschreibung des „Typus", den Jesus verkörpert, wurde dieser Begriff aber erst in der soziologisch inspirierten Geschichtsschreibung des Urchristennims verwandt, vor allem von M. N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten, W U N T 45, Tübingen: Mohr 1987; H. Mödritzer, Stigma und Charisma (s.o. Anm. 34); vgl. G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus (s.o. Anm. 2), 175ff, 455ff.

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Autorität haben ohne dafür auf traditionelle Institutionen und Rollen zurückgreifen zu müssen. Allein durch ihr Charisma überzeugen sie und gewinnen Anhänger. Jesus war ein Charismatiker, der qua Charisma alle Rollen, in denen er wahrgenommen wurde, überschritt. Man kann sich das an der Lehrerrolle klar machen. Jesus wurde „Rabbi" genannt und hat mit anderen Schriftgelehrten disputiert. Aber da blieb ein Unterschied, den Mk 1,22 folgendermaßen beschreibt: „Und sie entsetzten sich über seine Lehre, denn er lehrte sie mit Vollmacht imd nicht wie die Schriftgelehrten." Jesus hatte bestimmt nicht, wie manche seiner Gesprächspartner, eine gründliche schriftgelehrte Ausbildung bei einem anerkannten Lehrer genossen, trotzdem trug er seine Auslegung des Willens Gottes souverän vor, im Bewusstsein seiner ihm von Gott verliehenen Vollmacht. Als Charismatiker entzieht sich Jesus also allen Rollenerwartungen und damit auch allen Hoheitstiteln, in denen solche Rollenerwartungen zum Ausdruck gebracht werden. Aber er wurde von anderen (und wohl schon zu Lebzeiten) entsprechend solcher Rollenerwartungen gedeutet. Besonders brisant war die Erwartung eines königlichen Messias, in der religiöse und politische Erwartungen verbunden waren. Es war diese im Volk lebendige Erwartung eines Messias, der im göttlichen Auftrag Israel von der Fremdherrschaft befreit, die Jesus wohl das Leben gekostet hat, denn er ist als „König der Juden" gekreuzigt worden, d.h. als gescheiterter Messiasprätendent. Das heißt aber nicht, dass Jesus sich mit dieser Rolle identifiziert hat. Sicher ist nur: Er hat sich vor Pilatus nicht deutlich von ihr distanziert. Wahrscheinlich wurde sie, sei es von Anhängern, sei es von Gegnern, an ihn herangetragen. Jesus selber hat sich eher spröde dazu verhalten, mit der schon besprochenen Einsetzung der Zwölf als Richter über die Stämme Israels übertrug er eine traditionelle Aufgabe des Messias seinen Jüngern. Man kann also sagen, dass er die Messiasidee „demokratisiert" hat, dass er ein „messianisches Kollektiv" eingesetzt hat. Er vertrat einen „Gruppenmessianismus".'" Wenn er andere zu „Messiassen" einsetzte, ist er selbst natürlich mehr als ein Messias. Die letztendliche Durchsetzung der Herrschaft Gottes hat Jesus ohnehin von Gott selbst erwartet, nicht von menschlichen militärischen Aktionen. Sein eigener Beitrag - die Predigt, die Wundertätigkeit, die sonstigen Zeichenhandlungen - zeigt ein messianisches Selbstverständnis, das aber wohl ohne Messiastitel auskam.''

Vgl. G. ТЬеШеп, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, JBTh 7 (1992) 101-123; vgl. die erweiterte Fassung in diesem Band S. 255-281. " Vgl. das Plädoyer für einen messianischen Anspruch Jesu bei M. Hengel/A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen: Mohr 2001. Sie verstehen unter dem Messias primär den eschatologischen Heilbringer und Erlöser und messen dem Titel „Messias" nicht die entscheidende Bedeutung zu.

D e r umstrittene h i s t o r i s c h e Jesus

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Wenn Jesus überhaupt einen Ausdruck zur Beschreibung seines Wesens und Auftrags verwendet hat, dann war es wohl der rätselhafteste von allen: der Ausdruck „Menschensohn". Nun bedeutet bar nascha, Sohn des Menschen, zunächst im aramäischen Alltagssprachgebrauch lediglich „Mensch", sei es im generellen Sinn („der Mensch überhaupt"), im indefiniten Sinn („irgendein Mensch") oder, was umstritten ist, im umschreibenden Sinn als Bezeichnung des Sprechers selbst, „ich". Ein Wort wie Mt 8,20: „Die Füchse haben ihre Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege", ist also zunächst wohl nur eine für uns ungewohnte Umschreibung in der dritten Person, die sachlich nichts anderes meint als: „aber ich habe nichts, wo ich mein Haupt hinlegen kann". Allerdings wird diese alltagssprachliche Verwendung im Rahmen der Jesusüberlieferung dadurch mit titularer Würde aufgeladen, dass häufig vom „Menschensohn" als einer in Zukunft mit den Wolken des Himmels kommenden Richtergestalt gesprochen wird. Worte dieser Kategorie erinnern sehr stark an eine Vision aus dem Danielbuch, wo am Ende der Tage die Herrschaft einem himmlischen Wesen übertragen wird, das mit den Wolken des Himmels kommt und aussieht „wie ein Menschensohn". Wie sich der alltagssprachliche und der visionssprachliche Ausdruck „Menschensohn" in der Jesusüberlieferung zueinander verhalten, ist ein Dauerproblem der Forschung und wird weiterhin ein Dauerproblem bleiben. Wir können hier nur skizzieren, welche Lösung wir gegenwärtig favorisieren. Jesus hat, das ist sicher, häufig den Ausdruck Menschensohn benutzt. Möglicherweise, und dafür gibt es Indizien, hat er diesen Ausdruck Menschensohn den an ihn herangetragenen messianischen Erwartungen entgegengesetzt und ihn dabei auf sich bezogen. Als Petrus ihm sagt: „Du bist der Christus (also der Messias)", antwortet Jesus mit der Ankündigung, dass der Menschensohn leiden muss, was Petrus entsetzt zurückweist, weil es zur gängigen Messiasvorstellung nicht passt. Diese Szene ist in der vorliegenden Form zwar nachösterlich, aber die unterschiedlichen mit den Titeln verbundenen Akzente und die Tatsache, dass der Messiastitel von außen an Jesus herangetragen wurde, während er selbst sich als Menschensohn verstand, könnten historisch sein. So kam es zu einer messianischen Aufladung eines Ausdrucks, der ursprünglich Jesus in seiner Menschlichkeit bezeichnete. Spätestens nach Ostern (vielleicht aber schon bei Jesus selbst) wurde der Menschensohn Jesus mit der himmlischen Richtergestalt des Menschensohns, die in jüdischer Tradition nur „wie ein Mensch" aussah, verschmolzen."

Die Literatur zu den christologischen Titeln ist endlos. Deshalb sei hier nur auf die letzte zusammenfassende Arbeit hingewiesen: M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, G N T 11,

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Einleitung 6. Zusammenfassung

Fassen wir die Antworten auf die fünf an Reimarus gewonnenen Fragen kurz zusammen, dann können wir auf dem Stand unseres jetzigen Wissens und Irrens sagen: Die Quellen sind für den historischen Jesus auswertbar, Jesus selbst war sehr viel jüdischer, sehr viel politischer, sehr viel gegenwartsorientierter und in seiner Art sehr viel „messianischer" als die deutschsprachige historische Jesusforschung in der vergangenen Generation annahm. Mit anderen Worten: Er war doch wohl ein wenig „historischer" als viele meinen. Es ist dabei keineswegs so, dass die Theologie ein überwältigendes Interesse daran hat das Historische an Jesus so stark herauszustellen. Im Gegenteil, es gibt auch ein Interesse daran seine historischen Konturen undeutlich werden zu lassen - und damit auch das Jüdische, Politische und Widerspenstige an ihm. Auf dem Boden historischer Skepsis lassen sich vorzüglich dogmatische „Christrosen" züchten (H. Conzelmann). Historische Forschung hat nicht die Aufgabe irgendjemanden von der Gegenwartsrelevanz ihrer Resultate zu überzeugen. Aber auch nicht die Auflage nur irrelevante Ergebnisse zu bringen. Darum fragen wir zuletzt: Was könnte uns heute an diesem historischen Jesus interessieren? Gehen wir nochmals an den letzten vier Fragen entlang, so kann man vielleicht die folgenden Überlegimgen anstellen und dabei indirekt auch die sechste Grundfrage beantworten, wie fremd bzw. wie nah uns der historische Jesus ist."

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, die mit Recht davon ausgeht, dass das Bild Jesu im Neuen Testament nur unzureichend von den Titeln allein her erfasst werden kann. ' ' Wir können diese Frage nicht in allen wichtigen Aspekten behandehi. Vor allem möchten wir betonen, dass wir nicht der Meinung sind, cluistliche Identität heute beziehe sich ausschließlich auf den „historischen Jesus". Auch das Verhältnis von historischem Jesus und kerygmatischem Christus und ihrer unlösbaren Verbindung im Glauben der Christen kann hier nicht dargestellt und diskutiert werden. Der „historische Jesus" ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des christlichen Glaubens. In diesem Punkt beruhen die Ausführungen von R. Zimmermann, Jenseits von Historie und Kerygma. Zum Ansatz einer wirkungsästhetischen Christologie des Neuen Testaments, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus (s.o. Anm. 25), 153-188, auf einer oberflächlichen Lektüre unseres Jesusbuches: Der historische Jesus ist für uns nicht die Basis der Christologie (S. 164). Wir haben vielmehr betont, dass die nachösterliche Christologie einen „Mehrwert" gegenüber dem vorösterlichen Selbstverständnis Jesu hat (G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus [s.o. Anm. 2], 447). Ausdrücklich sagen wir: „Alles, was Jesus vorher implizit oder explizit über sich gesagt hatte, alles, was andere von ihm erhofft oder befurchtet hatten, mußte im Lichte von Kreuz und Ostern neu formuliert werden." (ebd. S. 487). Für diesen nachösterlichen Christus ist jedoch der Rückbezug auf den irdischen Jesus konstitutiv. Denn dieser Rückverweis ist in den urchristlichen Texten enthalten. Sie verweisen auf eine Realität außerhalb der Texte, die diesen Texten vorgegeben ist. Historische Forschung kann diesen Rückbezug im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsurteilen plausibel machen. Die „hohe" Christologie erhält dadurch ein menschliches Antlitz. Bei der Suche nach diesem menschlichen Antlitz der Christologie sind Kontextplausibilität und Wirkungsplausibilität zugleich zu bedenken. Zur Kontextplausibilität gehört

Der umstrittene historische Jesus

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Jesus war erstens ein Jude, in dem das Judentum eine Gestalt annahm, in der es bald auch Nicht-Juden zugänglich wurde. Christen können ihn keineswegs exklusiv für sich beanspruchen. Gerade daher ist er in der Gegenwart wichtig: Er verbindet zwei Religionen. Man kann es als Auftrag an Christen in der Gegenwart verstehen beginnend mit dem Judentum, ihrer Mutterreligion, nach dem zu suchen, was Religionen verbindet und versöhnt, anstatt nach dem, was sie trennt und durch Abgrenzung fanatisiert. Jesus war zweitens eine politische Gestalt, aber er übte keine direkte Machtpolitik, sondern Politik durch symbolische Aktionen. Er entdeckte, dass sie militante Politik ersetzen kann. Dazu nur als Nebenbemerkung: Symbolpolitik ist nicht an sich gut. Sie kann auch fanatisieren. Aber sie ist eine Chance militante Aktionen durch gewaltlose zu ersetzen. Jesus mischte sich in politische Auseinandersetzungen ein, indem er sich demonstrativer Symbole bediente und durch begrenzte Regelverletzungen Botschaften sandte. Auch das karm fiir uns Christen heute eine bleibende Veφflichtung sein: nicht etwa der korrupten und menschenverachtenden Politik den Rücken zu kehren, sondern einzutreten fiir eine gewaltlose Politik, die phantasievoll wirkmächtige Symbole findet und sie in den Dienst der Menschen und der Zukunft der Welt stellt. Jesus war drittens ein eschatologischer Prophet, der Zukunftserwartungen mit Gegenwartserfahrungen verband: Die große Zukunft sollte schon jetzt in der Gegenwart beginnen. Damit antwortete Jesus auf ein allgemeines menschliches Dilemma: Wir opfern entweder die Gegenwart der Zukunft oder die Zukunft der Gegenwart. Jesus fand eine Antwort in der Beziehung zu Gott: Gott ist zugleich fem und nah, zukünftig und gegenwärtig. Die Verbindung zwischen Feme und Nähe, Zukunft und Gegenwart geschieht bei Jesus durch zeichenhafte Vergegenwärtigung: Er brachte Gottes Zukunft (die Gottesherrschaft) durch symbolische Handlungen und Gleichnisse in die Gegenwart. Das gegenwärtig Leben wurde so zum Gleichnis Gottes. Jesus stellte Menschen mit prophetischer Unbedingtheit vor das Angesicht Gottes - und verband diesen Emst mit dem poetischem Spiel der Gleichnisse und Symbole. Was können wir daraus lernen? Auch wenn wir nie endgültig Gerechigkeit, Frieden und Liebe verwirklichen, können wir im Leben deren reale Gleichnisse schaffen. So wie Jesus zum „Gleichnis Jesu Individualität in einem bestimmten Kontext (aber nicht seine methodisch nie nachweisbare Singularität). Zur Wirkungsgeschichte Jesu gehört die Entstehung einer Gruppe, die bald den Rahmen des Judentums verlassen wird. Insofern hat ein mit den Kriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität erhobenes Jesusbild den Bruch mit dem Judentum im späteren Urchristentum durchaus im Blick (anders R. Zimmermann, S. 161). Einigkeit besteht darin, dass die metaphorische Christologie des JohEv ein Höhepunkt urchristlicher Theologie ist. Vgl. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh: Kaiser 2000, '2002, 255-280.

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Einleitung

Gottes" wurde, erhält menschliches Leben ein Maximum an Sinn, wenn es gleichnishaft auf Gott weist, mag es auch äußerlich scheitern. Jesus war viertens ein Mensch, der die Erwartungen an Erlöser und religiöse Autoritäten humanisierte und demokratisierte. Den Messiastitel bildete er im Sinne eines Gruppeimiessianismus um. Er selbst hat wohl nur einen Begriff mit messianischer Würde aufgeladen: die Bezeichnung für jeden oder fur einen Menschen: den Menschensohn. Er ist heute dadurch nach wie vor Ausgangspunkt einer Humanisierung der Religion. Diese Humanisierung der Religion ist ein noch unvollendetes Projekt. Das gilt auch für die Humanisierung des Christentums. Wer sich in diesem Projekt engagieren will, hat einen großen Verbündeten: Jesus von Nazareth - den jüdischen Lehrer und Charismatiker, den staatliche Behörden als den „König der Juden" hinrichten ließen - und der trotzdem nach wie vor in den Herzen vieler Menschen lebendig ist.^"*

Solche hermeneutischen Überlegungen sind u.E. nach Abschluss der historischen Arbeit legitim. Sie dürfen auch als vorgängiges Interesse zu historischen Fragen motivieren. Heuristisch und applikativ haben sie einen hohen Wert, bei der Durchführung der Forschung selbst aber müssen sie zurücktreten. Sie dürfen nicht die Ergebnisse bestimmen. Die Ergebnisse lassen sich immer auch im Rahmen einer anderen Theologie oder Philosophie hermeneutisch reflektieren. Historische Arbeit und hermeneutische Reflexion hängen zwar zusammen, determinieren sich aber nicht gegenseitig: Bei gleichen hermeneutischen Interessen kann man zu verschiedenen historischen Ergebnissen kommen, die gleichen historischen Ergebnisse kann man hermeneutisch verschieden verarbeiten. Wir sind iinmer wieder erstaunt, mit welcher Unbefangenheit ideologische Motive unterstellt und historische Überlegungen dadurch abgewertet werden, werm wir Ergebnisse historischer Jesusforschung im Sinne unseres Christentums inteφretieren, das von einer Liebe zum Judentum bestimmt ist, soziale Verantwortung übernehmen will und den Dialog mit Gott auch in einer säkularen Welt sucht.

I. DER JÜDISCHE JESUS

Jesus im Judentum. Drei Versuche einer Ortsbestimmung' Ein Ergebnis von zweihundert Jahren historisch-kritischer Jesusforschung ist die Erkenntnis: Jesus gehört ins Judentum/ Er wurde erst nach seinem Tode zum Gründer des Christentums. Seine Person verbindet zwei Religionen. Umstritten ist nicht, ob er (geschichtlich und religiös) ein Jude war, sondern wo er im Judentum seinen Ort hat:^ Haben ihn fremde Einflüsse wie der Kynismus geprägt?'* Stand er also am Rande des Judentums?' Oder gehörte er in dessen Mitte? Wollte er es aus seiner Mitte heraus wiederherstellen?^ Oder zielte seine Botschaft auf eine Verwandlung des Judentums?' War er insgesamt eher ein Repräsentant des allgemeinen Judentums (common Judaism)^ oder gehörte er einer bestimmten Gruppe im Judentum an? ' Dieser Aufsatz ist Gerhard Rau zum 65. Geburtstag gewidmet. Er erscliien zuerst in: Kirche und Israel 14 (1999) 93-109 und wurde überarbeitet und erweitert. ^ Das war schon immer die Meinung der größten Vertreter der historisch-kritischen Jesusforschung: H. S. Reimarus (1694-1768), D. F. Strauß (1808-1874), R. Bultmann (1884-1976). Aber oft sah man es anders - besonders in der Schule R. Bultmanns, die in diesem Punkte ihrem Lehrer bewusst widersprach, weil sie nach einer Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem christlichen Glauben suchte und diese vor allem dort fand, wo sie eine Diskontinuität mit dem Judentum feststellte. Ich zitiere als ein Beispiel fiir viele: F. Hahn, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus. Zur Methodik und Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, QD 63, Freiburg u.a.: Herder 1974, 11-77: „An Jesu provokatorischem Verhalten am Sabbat, an seiner Ignorierung der rituellen Reinheitsforderungen, an seinem Verhalten gegenüber der (sie!) aufgrund von Gesetzesbestimmungen aus der Gemeinschaft ausgeschlossenen Kranken, an seiner Gemeinschaft mit denen, die das Gesetz nicht beachteten, zeigt sich, daß er nicht bereit war, als Jude jüdisch zu leben im Sinne des damaligen jüdischen Selbstverständnisses, gleich welcher Schattierung." (S. 43) ^ Einen guten Einblick in die Diskussion geben J. H. Charlesworth (Hg.), Jesus' Jewishness. Exploring the Place of Jesus within Early Judaism, New York: Crossroad 1991, darin bes. D. J. Harrington, The Jewishness of Jesus. Facing Some Problems, S. 123-136; T. Holmén, The Jewishness of Jesus in the ,Third Quest', in: M. Labahn/A. Schmidt, Jesus, Mark and Q. The Teaching of Jesus and its Earliest Records, JNTSS 214, Sheffield: Sheffield Academic Press 2001, 143-162. " J. D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh: T & Τ Clark 1991. ' Vgl. J. P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Vol. 1 : The Roots of the Problem and the Person, New York: Doubleday '1991; Vol. 2: Mentor, Message, and Miracles, New York: Doubleday 1994; Vol. 3 : Companions and Competitors, New York: Doubleday 2001. ' E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London: SCM Press 1985, ' 1991 : Jesus vertrat eine „restauration eschatology": die Hoffnung auf Wiederherstellung Israels, in dessen Mitte ein neuer Tempel stehen sollte. ' J. Riehes, Jesus and the Transformation of Judaism, London: Darton, Longman & Todd 1980. ' Der Begriff des „allgemeinen Judentums" wurde von E. P. Sanders geprägt. Vgl. ders., Judaism. Practice and Belief 63 ВСЕ - 66 CE, London/Philadelphia: SCM Press 1992, 47: „Within Palestine,,normal' or ,common' Judaism was what the priests and the people agreed on."

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Der jüdische Jesus

War er etwa ein Wundercharismatiker, wie sie für Galiläa typisch waren?' Oder ein Pharisäer, vielleicht ein Hillelit, der in Konflikt mit den Schammaiten geriet?'" Oder ein antirömischer Oppositioneller - sei es, dass er direkten politischen Widerstand wie die „Zeloten" übte," sei es, dass er in einem allgemeineren Sinne sozial-radikal war?'^ Wie kann man die Frage nach dem Ort Jesu im Judentum methodisch kontrolliert beantworten? Das erste Problem ist: Es ist umstritten, ob die Überlieferungen von Jesus, auf die wir uns im Folgenden stützen, jeweils authentisch sind. Manche gelten mit mehr, andere mit weniger großer Wahrscheinlichkeit als authentisch. Um trotz dieser Unsicherheit zu tragbaren Ergebnissen zu kommen mache ich zwei Vorschläge. - Der erste Vorschlag: Wenn man zeigen will, dass Jesus seinen Ort im Judentum hat, sollte man alle Überlieferungen, die für die gegenteilige These sprechen, aus methodischen Gründen für echt ansehen, auch wenn gute Gründe für deren Unechtheit sprechen. Kann man nachweisen, dass die eigene These auch unter Annahme der Echtheit dieser Überlieferungen hahbar ist - so ist sie erst recht überzeugend, wenn sie unecht wären. - Der zweite Vorschlag: Wir können die Frage offen halten, ob eine Überlieferung echt oder unecht ist, indem wir sie der Jesusbewegung zuschreiben - d.h. entweder Jesus oder seinen Anhängern oder beiden. Wenn wir unsere These, dass Jesus ins Judentum gehört, auch auf seine Nachfolger (d.h. auf die von ihnen geprägten Jesustraditionen) ausdehnen können, dann dürfen wir schließen: Wenn selbst seine Nachfolger, die sich später im Laufe eines Jahrhunderts vom Judentum entfernten, mit den zur Diskussion stehenden Traditionen das Judentum nicht verließen, dann muss Jesus erst recht ins Judentum gehören. Meine beiden Vorschläge ermöglichen es die Echtheitsfrage offen zu halten und dennoch die Frage zu diskutieren: Wo hat Jesus seinen Ort im Judentum? Noch wichtiger ist ein zweites Problem: Wie können wir bestimmen, was damals „Judentum" war und wo Jesus in ihm seinen Ort hat?'^ Das Juden' G. Vennes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1993 (engl,: Jesus the Jew. A Historian's Reading of the Gospel, London: Collins 1973). Ähnlich К. Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1999, bes. 44-57 - jedoch nicht für den historischen Jesus, sondern fflr dessen Darstellung in den Evangelien. H. Falk, Jesus the Pharisee. A New Look at the Jewishness of Jesus, New York: Paulist Press 1985: Jesus war ein Hillelit, der auf der Grundlage der sieben noachidischen Gebote ein für Heiden offenes Judentum vertrat. " S. G. F. Brandon, Jesus and the Zealots. A Study of the Political Factor in Primitive Christianity, Manchester: Manchester UP 1967. " R. A. Horsley, Jesus and the Spiral of Violence. Popular Jewish Resistance in Roman Palestine, San Francisco u.a.; Нафег & Row 1987. Die Frage ist: Wie können wir uns dabei von theologischen Identitätsfragen frei machen, die

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tum des zweiten Tempels war keine Einheit. Die moderne Forschung hat es in viele „Judentümer" aufgelöst. Je pluralistischer das Judentum aber gesehen wird, um so weniger ist damit gesagt, dass Jesus ein Jude war. Im Zweifelsfall gehört jeder in gleicher Weise zum Judentum, der sich damals als Jude verstand, - dann ist die Frage, ob Jesus ins Zentrum oder an den Rand des Judentums gehört, kaum zu beantworten. Oder man definiert das damalige Judentum durch Merkmale, in denen man sein „Wesen" sieht, daim kann man Nähe und Feme zu ihm bestimmen.''* Dabei kann man den falschen Schein eines unveränderlichen „Wesens" vermeiden, indem man Merkmale als „Familienähnlichkeiten" (im Sinne von L. Wittgenstein) versteht: Sie verbinden einige Mitglieder, andere nicht, erlauben aber eine Zuordnung der Mitglieder zu einer einzigen Familie. Sie können sich im Laufe der Zeit wandeln. Aber dennoch kann sich durch alle Gruppen hindurch und im Wandel der Zeit eine „Kernfamilie" herauskristallisieren, die durch mehr Merkmale verbunden wird als alle anderen." Und es können Untergruppierungen erkennbar werden, denen die einzelnen Mitglieder mehr oder weniger deutlich angehören. Wenn man mit dieser Erwartung das Judentum der damaligen Zeit betrachtet, ergeben sich m.E. drei methodische Verfahren um Jesus in ihm einzuordnen: (1) ein Strukturvergleich, (2) ein Gruppenvergleich und (3) ein Formenvergleich zwischen Judentum und Jesusüberlieferungen. 1. Was ist ein Strukturvergleichi Man bestimmt die wesentlichen Merkmale des Judentums und deren Verhältnis zueinander und fragt, ob die Jesusüber-

oft in die Jesusforschung hinein schlagen. Einige Exegeten glauben, man müsse zeigen, dass Jesus in einem Exodus aus dem Judentum begriffen sei. Nur dann könne man die Trennung seiner Nachfolger vom Judentum historisch erklären (das ist eine respektable historische Überlegung) - vor allem aber meinen sie: Nur dann könne Jesus Grundlage christlicher Identität sein (das ist eine theologische Wertung). Auch wenn man solche theologischen Wertungen in ihrem Kontext filr legitim hält, dürfen sie nicht die historische Forschung präjudizieren. T. Holmén, The Jewishness of Jesus (s.o. Anm. 3), 152ff, kritisiert mit Recht, dass die Einordnung Jesu ins Judentum in der Jesusforschung der „Third Quest" nichtssagend wird, wenn man das damalige Judentum in heterogene Gruppen auflöst. Jedoch haben einzelne Forscher wie z.B. E. P. Sanders sehr klar gesagt, was sie unter „Judentum" verstehen. Man kann die Unklarheiten einer ganzen Forschungssituation mit vielen Forschermeinungen nicht einzelnen Forschem unterstellen. " L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp 1984, 277f Den Gedanken einer Kernfamilie entnehme ich M. Leiner, Mythos. Bedeutungsdimensionen eines unscharfen Begriffs, in: V. Hömer/M. Leiner (Hg.), Die Wirklichkeit des Mythos. Eine theologische Spurensuche, Gütersloh: Kaiser 1998, 30-56. Dabei handelt es sich um einen Vergleich zwischen dem Ganzen und einem Teil. Die Frage ist: Ob ein Teil des Judentums (die Jesusbewegung) von denselben Strukturen bestimmt ist wie das Judentum insgesamt, ob die Jesusbewegung somit in die Mannigfaltigkeit jüdischer Gruppen eingeordnet werden kann und ob sie die entscheidenden religiösen Ausdrucksformen der jüdischen Religion teilt.

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lieferung dem entspricht.'^ Dazu muss man in einer Definition die „wesentlichen" Überzeugungen und Merkmale des damaligen Judentums festlegen. Auch wenn man das Judentum durch „Familienähnlichkeiten" definiert, hat das Verfahren einen Mangel: Wenn etwas in der Jesusüberlieferung nicht in die vorgeschlagene Definition des Judentums passt, kann man immer sagen: Die Definition war zu eng; wir müssen sie um eben jene Merkmale erweitem, die wir in der Jesusüberlieferung finden. Hält man trotzdem an ihr fest, so operiert man vielleicht unhistorisch mit einem „Wesen" des Judentums, das es so nicht gibt. Differenzierungen im Judentum bleiben ohnehin außer Betracht. Sie kommen bei den anderen Verfahren in den Blick: 2. Was ist ein Gruppenvergleichl Im Judentum lassen sich zur Zeit Jesu verschiedene Gruppen erkennen: Sadduzäer und Pharisäer, Essener und Anhänger des Judas Galilaios,'® Täufer und Zeichenpropheten. Wir können unter ihnen ältere und jüngere unterscheiden. Wir können konkrete Merkmale benennen, welche die verschiedenen Gruppen verbinden und unterscheiden. Durch solche Gemeinsamkeiten entstehen „Familienähnlichkeiten" über eine engere „Kemfamilie" hinaus, auch wenn die Merkmale nicht alle Gruppen umfassen. Der Vorteil dieses Verfahrens ist: Wir können ohne eine globale Definition des Judentums arbeiten und trotzdem die Nähe und Feme Jesu zu bestimmten Gruppen im Judentum feststellen." 3. Was ist ein Vergleich der Formen! Jede Religion hat verschiedene Ausdrucksformen: eine Grunderzählung (oder einen Mythos), eine rituelle Zeichensprache und ethische Normen. Die narrative Grunderzählung hat im Judentum die Gestalt einer heilsgeschichtlichen Erzählung (oder Story) angenommen. Die rituellen Ausdrucksformen haben im Tempel ihr Zentrum und durchdringen das ganze Leben von Juden. Das Ethos spielt eine ebenso bedeutende Rolle wie das Rituelle. Wir können untersuchen, wie Jesus in seiner Verkündigung zu den verschiedenen Ausdrucksformen des Judentums steht, ob er sie benutzt, abändert oder kritisiert. Dabei sind rituelle Fragen entscheidend. In der Religionsgeschichte schaffen heilige Orte, Schriften und Handlungen Gemeinschaft. Sie verbinden Menschen als identity markers - und trennen sie als boundary markers.^" Religions- und Kir" Einen solchen Strukturvergleich hat T. Holmén, Jesus and Jewish Covenant Thinking, Biblical Inteφretation Series 55, Leiden u.a.: Brill 2001, vorgelegt: Er bestimmt das Judentum mit E. P. Sanders als „Bundesnomismus" und lässt am Ende offen, ob Jesus einen „neuen Bund" verwirklichen wollte oder ob er den Bundesnomismus grundsätzlich verlassen hat. Seinem Selbstverständnis nach war und blieb er ein Jude. " Die Bezeichnung „Zeloten" ist einseitig, da Josephus erst eine im jüdischen Krieg auftauchende, in der Regel mit dem Tempel verbundene Gruppe „Zeloten" nennt. " Solch ein Gruppen vergleich wurde von G. Baumbach, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdischen Gruppenbildungen, AVTRW 54, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1971, durchgeführt. ^^ Zu dieser Unterscheidung vgl. die Aufsätze zu Paulus bei J. D. G. Dunn, Jesus, Paul and the

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chenspaltungen bahnen sich fast immer in rituellen Unterschieden an, d.h. in den sichtbaren und sozial kontrollierbaren Ausdrucksformen. Die Trennung der Samaritaner von den anderen Juden war durch verschiedene Kultorte bedingt und wurde sekundär durch den Kanon gefestigt. Die Absonderung der Essener von den anderen Juden war durch rituelle Fragen bedingt^' und wurde durch verschiedene Kalender zementiert. Die soziale Bedeutung der Riten war damaligen Juden bewusst. Philo von Alexandrien wirft Allegoristen, welche die jüdischen Riten spirituell verstehen wollten ohne sie zu praktizieren, vor, sie lebten „so, als wären sie in der Einsamkeit für sich, oder als wären sie köφerlose Seelen geworden, als v^ßten sie nichts von Stadt, Dorf, Haus, überhaupt von menschlicher Gesellschaft ..." (Migr 90). Distanz zu Riten bedeutet Distanz zu der Gemeinschaft, welche die Riten vollzieht. Die Chance zu fruchtbaren Ergebnissen zu gelangen liegt vor allem in der Pluralität der Vorgehensweisen. Konvergieren die Ergebnisse, so bestätigen sie sich gegenseitig.

1. Jesus und die „Grundstruktur" jüdischer Religion: ein Strukturvergleich Das Judentum der Zeit Jesu lässt sich durch zwei (oder drei) Grundaxiome definieren: Erstens durch den Monotheismus, den Glauben an den einen und einzigen Gott, zweitens durch den Bundesnomismus,^^ den Glauben an das singuläre Verhältnis Gottes zu einem einzigen Volk, ein Verhältnis, das durch Erwählung und Gesetz bestimmt ist. Möglicherweise gehören noch weitere Grundüberzeugungen zu ihm. Aber unumstritten ist, dass wir mit diesen beiden wesentliche Merkmale des Judentums erfassen. Lässt sich Jesus in dieses Judentum einordnen? Seine Verkündigung der Königsherrschaft Gottes ist radikaler Monotheismus. Der eine und einzige Gott wird endlich überall zur Geltung kommen und allen bösen Mächten ein Ende bereiten. Teilt er den jüdischen Bundesnomismus? In jedem Fall vertritt er eine „Restaurations-Eschatologie". Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk soll erneuert werden. Der Tempel soll einem neuen Tempel weichen, Law. Studies in Mark and Galatians, London: SPCK 1990. Vgl. den Brief des Lehrers der Gerechtigkeit an den Hohepriester: 4Q394-99 = 4QMMT, in: J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer II, UTB 1863, München/Basel: Ernst Reinhardt 1995,361-376. ^^ Die Charakterisierung des Judentums durch das Stichwort „Bundesnomismus" {covenantal nomism) geht zurück auf E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, STUNT 17, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985.

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die zwölf Stämme Israels sollen gesammelt werden. Israel wird wiederhergestellt. Aber äußert er sich nicht kritisch zu den beiden Voraussetzungen des Bundesnomismus - zur Erwählung und zur Thora? Schweigt er nicht auffällig über die Erwählung Israels? Hatte nicht schon der Täufer gesagt: Gott kann auch aus Steinen Kinder Abrahams erwecken (Mt 3,9 par)? Und hat Jesus nicht erwartet, dass die Heiden einst aus allen Himmelsrichtungen in die Gottesherrschaft strömen, während seine jüdischen Zeitgenossen ausgeschlossen werden (Mt 8,1 If par)? Ist beides nicht eine Erschütterung des Erwählungsglaubens? Aber niemand zweifelt daran, dass der Täufer ins Judentum gehört. Das wäre so absurd, wie den Propheten Amos nicht fflr einen Propheten des Judentums zu halten. Und wie ist es mit der Thora? Sagt nicht ein rätselhaftes Logion in seiner rekonstruierten Urform: „Die Thora und die Propheten gelten bis zu Johannes dem Täufer. Dann aber wird die Gottesherrschaft vergewaltigt und Gewalttäter erobern sie" (Mt ll,12f/Lk 16,16)? Oder wird hier nur zum Ausdruck gebracht: Die Zeit der Erwartung ist vorbei und die Zeit der Erfüllung ereignet sich in paradoxer Form? Gerade durch Gewalttäter geschieht die Erfüllung aller Geschichte: Ihnen gehört die Gottesherrschaft. Mit den „Gewalttätern" meinte Jesus m.E. sich selbst und seine Anhänger. Aber das ist umstritten.^^ Wir sollten in den Jesusüberlieferungen eine Spannung zum Bundesnomismus einräumen. Jesus spricht nie vom Bund. Nur einmal begegnet das Stichwort „Neuer Bund" in den Abendmahlsworten. Diese Aussage ist ganz isoliert. Sie ist nicht leicht interpretierbar. Eine klare Aussage Jesu über den Bund haben wir in ihr nicht. Vielleicht gibt es aber einen Weg indirekt weiter zu kommen (T. Holmén):^'* Zum Bundesnomismus gehört die Suche danach, wie man den Willen Gottes konkret erfüllen kann: die Wegsuche nach der Thoraerfullung {path searching). Dabei kristallisieren sich Vgl. G. Theißen, Jünger als Gewalttäter (Mt ll,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität, in: StTh 49 (1995) 183-200 = Mighty Minorities, FS J. Jervell, Oslo u.a.: Scandinavian University Press, 1995, 183-200; in diesem Band: S. 153-168. T. Holmén (s.o. Anm. 17), Jesus and Jewish Covenant Thinking. T. Holmén bestimmt Jesu Haltung zum „path-searching" verschieden: „Jesus did not participate in covenant path searching" (S. 333). Dann aber spricht er von „Jesus' rejection of covenant path searching" (S. 339). Das ist etwas sehr Verschiedenes. „Wegsuche" definiert er sehr eng: „Path searching thus denotes the way or means of contemplating, discussion and expounding individual issues and topics, the various practices and beliefs of the Jewish faith, in order to find out how to keep faithful to them and, together with that, faithful to the covenant itself." (S. 48). Wenn man die Zielsetzung der Wegsuche hier nur ein wenig anders bestimmt - dass sie dazu dient Gottes Willen zu erfüllen - , so wäre Jesus intensiv an ihr beteiligt. Jesus will z.B. das Reinheitsgebot der Thora erfüllen, aber nicht durch Einhaltung äußerer Speisegesetze, sondern durch einen vertieften Begriff von (ethischer) „Reinheit".

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im damaligen Judentum bestimmte „Wegzeichen" {path marker) heraus, an denen man die Loyalität zum Bund erkennen kann: Sabbat, Zehnt, Reinheitsgebote und der Tempel. Stand Jesus diesen Bereichen nicht eher indifferent gegenüber? Hat er sich an der „Wegsuche" nicht beteiligt, die sonst alle Gruppen im Judentums intensiv betrieben, mochten sie dabei auch sehr verschiedener Meinung sein? Dagegen sei betont: An Jesu grundsätzlicher Absicht Gottes Willen in der Thora zu erfüllen ist nicht zu zweifeln. Seine Freiheit ihr gegenüber galt nur der konkreten Form, in der sich Thoragehorsam realisierte, also gerade der „Wegsuche". Sie zeigte sich besonders bei rituellen Fragen, die Juden im Alltag sichtbar machten und sie von anderen unterschieden. Sie zeigte sich aber auch in ethischen Fragen. Denn Jesus formulierte auch hier keine Halacha, die sagt, wie man die Thora erfüllen soll.^^ Verwarf er deshalb etwa die „Wegsuche" seiner jüdischen Zeitgenossen?^^ Diese Frage lässt sich klar verneinen: Jesus suchte m.E. mit Hilfe weisheitlicher Reflexion und paradoxer Formulierungen danach, wie man Gottes Willen erfüllen soll. Er formulierte Einlassworte um zu sagen, wie man in die Gottesherrschaft hineingehen kann. Er entwarf einen Weg zum Leben durch wenige ethische Forderungen: durch das Doppelgebot der Liebe, die sozialen Dekaloggebote, die Treue zum Ehepartner, die Aufrichtigkeit des Wortes, den Verzicht auf Verurteilung des Mitmenschen. Trug er damit nicht profiliert zur „Wegsuche" bei? Freilich tat er es in anderer Weise als sonstige Lehrer seiner Zeit: nicht in schriftgelehrter Art und nicht durch einen Beitrag zur Halacha, also nicht durch Auslegung des alttestamentlichen Gesetzes. Wenn einer engagiert war in der „Wegsuche" nach dem Leben, so Jesus! Wir müssen die weisheitliche ethische Reflexion als ein wesentliches Merkmal des Judentums in unsere Definition aufhehmen auch wenn sich nicht alle Juden an ihr beteiligten. Sie tritt bei Jesus an die Stelle der halachischen Thoraauslegung. Wenn man das Judentum Jesu als einen weisheitlichen liberalisierten „Bundesnomismus" definiert, gibt es keinen Grund zu zweifeln, dass Jesus ins Judentum gehört. Wir sollten dabei unsere Definition des Judentums durch „wesentliche" Merkmale (im Sinne von Familienähnlichkeiten) noch Schon U. Luz, in: U. Luz/R. Smend, Gesetz, Biblische Konfrontationen, Kohlhammer Taschenbücher 1015, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1981, hat das sehr gut auf den Begriff gebracht: Wir finden bei Jesus ein grundsätzliches Ja zum Gesetz (S. 59-61), verbunden mit einem Desinteresse an der Halacha für das Volk Israel (S. 61-64). Vielleicht hat Jesus mit seinem Ehescheidungs- und Schwurverbot doch punktuell eine Halacha formuliert. Mit dieser Distanz zur konkreten Halacha steht er jedoch nicht allein im Judentum. Auch von dem galiläischen Wundercharismatiker Chanina ben Dosa ist keine Halacha überliefert. ^^ T. Holmén, Jesus and Jewish Covenantal Thinking (s.o. Anm. 17), 339, spricht von „Jesus' rejection of covenant path searching". Vorher hatte er immer nur von seiner Nichtbeteiligung an ihr gesprochen.

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durch ein drittes Merkmal ergänzen: durch die Prophetie. Die Thora gab dem Judentum Stabilität, die Prophetie Flexibilität. Mit Johannes dem Täufer und den vielen Zeichenpropheten des 1. Jh. war das prophetische Element des Judentums neu hervor getreten.^^ Selbst Josephus trat als Prophet auf, als er Vespasian die Kaiserwürde prophezeite und messianische Erwartungen auf ihn übertrug (Jos Bell 3,399-407). Das prophetische Element kann mit traditionellen Annahmen in Spannung treten. Das können wir bei Josephus beobachten, wenn er messianische Erwartungen gegen ihren Sinn uminterpretiert. Niemand würde Josephus deswegen aus dem Judentum ausschließen. Vorläufiges Fazit: Jesus bewegt sich im Rahmen eines durch Monotheismus und Bundesnomismus geprägten Judentums: Jesus wollte mit seiner Verkündigung die Herrschaft des einen und einzigen Gottes durchsetzen! Seine Verkündigung blieb auf Israel ausgerichtet. Er radikalisierte den Monotheismus und liberalisierte den Bundesnomismus durch Weisheit und Prophetie. Sowohl in der Weisheit wie in der Prophetie fand er Wege, in denen Gottes Wille über die Thora und ihre schriftgelehrte Auslegung hinaus vermittelt wurde.^® Im Mittelpunkt seiner „Wegsuche" nach Thoraerfullung stand das Doppelgebot der Liebe. Aber man muss zugeben: Alle Definitionen vom Judentum sind strittig. Man kann immer sagen, es sei nur eine Frage der Definition, ob Jesus ins Judentum gehört oder nicht. Der folgende Vergleich Jesu mit verschiedenen jüdischen Gruppen ist jedoch von solch einer globalen Definition des Judentums unabhängig. Diese Auffassung ist nicht mit der klassischen „Propheten-Anschluß-Theorie" zu verwechsein, die K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh: Mohn 1970, 35, so bestimmt hat: „Jesus von Nazareth, vielleicht schon Johannes der Täufer, knüpfen über 5 Jahrhunderte Verfall hinweg bei den großen Profeten an, deren Reihe mit Deuterojesaja endete." Nicht Jesus allein, sondern das ganze Judentum seiner Zeit erlebte eine Renaissance der Prophetie. Jesus wird mit dieser neuen Propheten-Anschluss-Theorie also nicht aus dem Judentum ausgegrenzt, sondern in das zeitgenössische Judentum eingeordnet. Neben ihm ist nicht nur Johannes der Täufer ein Zeichen der wieder auflebenden Prophetie, sondern z.B. auch der samaritanische Prophet, der in den 30er-Jahren auftrat, Theudas in den 40er-Jahren, der Ägypter, der viele in die Wüste führte in den 50er-Jahren. Auch der Unheilsprophet Jesus, Sohn des Ananias, ist hier zu nennen, der in den 60er-Jahren in Jerusalem auftrat. Schließlich ist Josephus selbst zu nennen, der Ende der 60er-Jahre dem Vespasian die Weltherrschaft prophezeite. Daneben traten nach dem Zeugnis des Josephus noch viele weiteren Propheten auf. Auch die urchristlichen Propheten gehören in diesen Kontext - etwa der Prophet Agabus, der eine große Hungersnot prophezeite. Diesen Gedanken haben wir ausgeführt in G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht '2001, 350: Jesu Ethik hat „ihr inhaltliches Zentrum in der frei interpretierten Thora, ihren motivierenden Rahmen in Weisheit und Eschatologie." Es macht wenig Sinn zwischen Weisheit und Prophetie eine Alternative zu sehen - und eine angeblich nicht-eschatologische Weisheit gegen eine (sekundäre) eschatologische Prophetie auszuspielen!

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2. Jesus und die jüdischen Gruppen seiner Zeit: ein Gruppenvergleich Wir können unter den vielen jüdischen Gruppen der Zeit Jesu die älteren religiösen Gruppen von den jüngeren unterscheiden.^' Zu den älteren gehören die Sadduzäer, Essener und Pharisäer, die in der Hasmonäerzeit entstanden. Zu den jüngeren gehören die Anhänger des Judas Galilaios, die Täufer, die Zeichenpropheten, die sich erst in der Zeit der römischen Herrschaft bildeten. Konsens ist, dass diese Gruppen ins Judentum gehören. Was Jesus mit ihnen verbindet, ordnet auch ilm ins Judentum ein. Der folgende Vergleich muss sich auf Stichworte beschränken.

21. Die jüdischen Gruppen aus hasmonäischer Zeit 1. Die Sadduzäer waren eine konservative religiöse Gruppe mit Anhängern unter der Priesteraristokratie, die neuen Entwicklungen im Judentum skeptisch gegenüberstanden.^" Sie lehnten die mündliche Tradition und den eschatologischen Glauben an die Auferstehung ab. Jesus teilte mit ihnen die Ablehnung der „Vätertraditionen". Wenn er sie in Mk 7, Iff als Menschensatzung kritisierte, benutzte er wahrscheinlich sadduzäische Argumente. Auch in der Betonung des freien Willens und der persönlichen Verantwortung könnte man Gemeinsamkeiten finden. Andererseits trennt Jesus und die Sadduzäer die Eschatologie - Jesus verteidigte gegenüber den Sadduzäem den Auferstehungsglauben. 2. Essener: Die Essener^' trennten sich vom übrigen Judentum durch eine straff organisierte Gemeinschaft mit eigener Hierarchie, eigenem Kalender, eigenen Festen und eigenen Riten, insbesondere durch wiederholte Waschungen, durch die sie ihre priesterliche Reinheit immer wieder neu her" Gute Überblicke über die verschiedenen Grappen des Judentums geben J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels, Die neue Echter Bibel Erg.Bd. 3 zum AT, Würzburg: Echter 1990; E. P. Sanders, Judaism. Practice and Belief 63 ВСЕ 66 CE, London/Philadelphia: SCM Press 1992; G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 1991. Einen knappen Überblick geben G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus (s.o. Anm 28), 125-146. G. Theißen, Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der Jesusüberlieferung, in: Tro og historie, FS N. Hyldahl, Forum for bibelsk eksegese 7, Kabenhavn: Museum Tusculanums Forlag 1996,224-245; in diesem Band 111-131. " Zur Beziehung zwischen Essenern und Jesus vgl. H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Herder Spektrum 4128, Freiburg u.a.: Herder 1993, 314ff. Einen Überblick über die Beziehungen der Qumranschriften zum N T gibt J. C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung, U T B 1998, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998 und H. J. Fabry, Qumran und das frühe Christentum, in: S. Talmon, Die Schriftrollen von Qumran. Zur aufregenden Geschichte ihrer Erforschung und Deutung, Regensburg: Pustet 1998, 71-105.

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Stellten. Ihre Gemeinschaft war für sie Ersatz für den Tempel, der für sie verunreinigt war, weil illegitime Hohepriester über ihn herrschten. Sie bildeten eine konservative rituelle Gegengesellschaft. Auch Jesus kritisierte den Tempel, aber er kritisierte nicht die Priestergenealogie, sondern das ökonomische Treiben am Tempel. Er teilte nicht die rituelle Sonderwelt der Essener, sondern teilte Kalender und Feste mit allen Juden. 3. Pharisäer. Die Pharisäer^^ vertraten gegenüber den Sadduzäem eine volksnahe Religiosität: Ihr Kanon war um Propheten und Schriften erweitert, sie glaubten an die Auferstehung, vertraten einen ethischen Synergismus, der den Vorrang Gottes anerkannte. Der Glaube an die Auferstehung und die Intention Gottes Willen im ganzen Leben zur Geltung zu bringen verband Jesus mit den Pharisäern. Von den Pharisäern trennte ihn dagegen deren rituelle Orthopraxie, mit der sie den Alltag heiligen wollten, so dass jedes Haus und jede Familie in erhöhtem Maße heilig und rein sein sollte.^^ In Fragen der Sabbatheiligung und der Reinheitsregeln war er „liberaler" als sie. Ihrer Heiligung der Familie setzte er sogar eine ausgesprochen familienkritische Haltung entgegen - man kann fragen, ob die Jesusbewegung nicht Kritik an ihrer familienkritischen Haltung zurückwies, wenn sie ihrerseits die Korbanpraxis der Pharisäer kritisierte (Mk 7,6-13). Eine Tabelle soll die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Jesus und den älteren Gruppen zusammenstellen: Ältere Gruppen aus hasmonäischer Zeit

Gemeinsamkeiten

Unterschiede

Sadduzäer Konservativismus der herrschenden Eliten: - Ablehnung der Auferstehung - Ablehnung der mündlichen Tradition

Kritik der (mündlichen) Vätertraditionen

Glaube an die Auferstehung (Mk 12,18-27)

" Die Diskussion um die Pharisäer ist im Flusse. Zwei Veröffentlichungen vermitteln einen guten Einblick in die Debatte; P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M. Hengel/U. Meckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen: Mohr 1991, 125-175; M. Hengel/R. Deines, E. P. Sanders' „Common Judaism", Jesus, and the Pharisees, JThS 46 (1995) 1-70. Oft hat man vermutet, Pharisäer hätten versucht die Heiligkeit von Priestern im alltäglichen Leben zu praktizieren. Aber sie strebten wahrscheinlich nur nach einem erhöhten Maß von Reinheit unterhalb des Niveaus von Priestern, aber oberhalb der normalen Anforderungen. So E. P. Sanders, Judaism (s.o. Anm. 8), 438-440. In dieser Weise wollten sie etwas von der gesteigerten Remheit und Heiligkeit des Tempels im alltäglichen Leben realisieren. Denn der Tempel war das Zentrum der Heiligkeit.

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Pharisäer Religiöse Reformgruppen in der normalen Geseilsciiaft - Glaube an die Auferstehung - Geltung der Vätertraditionen Sadduzäer: Konservatismus der herrschenden Priester: - Identifikation mit dem Tempel und seinem Kalender - Die traditionellen Reinheitsriten gelten als ausreichend Essener: Konservatismus gegenkultureller Priester: - Ablehnung des Tempels und seines Kalenders - Besondere Reinheitsnonnen und -riten

Glaube an die Auferstehung Kritik der Vätertraditionen

Leben nach dem allgemeinen jüdischen Kalender Keine besonderen Reinheitsriten (anders der Täufer)

Opposition zum Tempel (Mk 11,15-19) Ein neuer Begriff von Reinheit (Mk 7,15)

Eine Tempelopposition findet sich auch bei Jesus

Jesus lebt nach dem normalen Festkalender Rituelle Reinheit ist etwas Indifferentes (Mk 7,15)

Betrachten wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Jesus und den älteren jüdischen Gruppen. Was die Sadduzäer angeht, so kann man sagen: Es ist möglich, dass Jesus (oder die Jesustradition) sadduzäische Argumente gegen die pharisäische Berufung auf die Vätertraditionen benutzt - und umgekehrt pharisäische Argumente gegen die sadduzäische Leugnung der Auferstehung (vgl. Mk 12,26 mit 4Makk 7,19). Er steht in der Mitte zwischen beiden „Parteien". Was die Essener angeht, so teilt er ihre Opposition gegen den Tempel und deren Priesterschaft, aber er lebt deshalb nicht in einer gegenkulturellen Gemeinschaft mit eigenem Festkalender. Er folgt dem von den herrschenden Priestern festgelegten Kalender. Wieder kann man sagen: Er steht in der Mitte zwischen Essenern und Sadduzäem. Gehört er vielleicht mehr ins Zentrum des Judentums, als man üblicherweise annimmt? Bildet er nicht die „goldene Mitte" zwischen zwei extremen Strömungen? Ist er vielleicht ein Repräsentant des „allgemeinen Judentums" {common Judaism)"?

2.2. Die Gruppen aus herodäischer Zeit Ein Vergleich mit den jüngeren jüdischen Gruppen ergibt ein anderes Bild. Was unterscheidet diese Gruppen von den älteren? Sie sammeln sich um charismatische Gestalten, die wir oft mit Namen kennen: um Judas Galilaios, Johannes den Täufer, Jesus von Nazareth, Theudas usw. Die Gründer

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der älteren Gruppen bleiben dagegen anonym oder sind völlig unbekannt. Wichtiger aber ist ein zweiter Unterschied: Die jüngeren Gruppen repräsentieren eine gewisse Radikalisierung des Judentums. Jüngere Gruppen aus römischer Zeit Jvidas Galilaios und seine Anhänger: - Basierend auf theokratischem Radikalismus: Gott oder Kaiser - eine politische Radikalisierung: Widerstand gegen die Fremden

Ähnlichkeiten mit der Jesusbewegung

Theokratischer Radikalismus: Gott soll allein herrschen;

Unterschiede zur Jesusbewegung

aber keine politische Radikalisierung, sondern soziale: Gott oder Mammon (keine Alternative „Gott - Kaiser")

Johannes der Täufer und seine Anhänger: - Basierend auf ethischem Ra- Ethischer Radikalismus: dikalismus: Umkehr Umkehr und Nachfolge; - eine rituelle Radikalisierung: Taufe

aber keine rituelle Forderung bei Jesus: keine Taufe zu Jesu Lebzeiten

Zeichenpropheten und ihre Anhänger: - Basierend auf soteriologischem Radikalismus: Naherwartung eines Wunders - eine nativistische Radikalisierung: Befreiung von den Feinden

aber kein nativistischer Radikalismus: Die Fremden strömen einst in die Gottesherrschaft

Soteriologischer Radikalismus: Naherwartung des Reiches Gottes;

1. Judas Galilaios und seine Anhänger: Die (oft „Zeloten" genannten) Anhänger des Judas Galilaios sind eine politische Radikalisierung der Pharisäer, die sich in Reaktion auf die Römerherrschaft bildete.^'* Mit Jesus verbindet sie die radikaltheokratische Überzeugung: Gott allein soll herrschen. Alle Gegenmächte sollen verschwinden. Jesus trennt von ihnen, dass er die Der Gründer Judas Galilaios tritt zusammen mit einem Pharisäer Sadduk auf (Jos Ant 18,4.10). Er teilt mit den Pharisäern den Synergismus. Gott und Mensch wirken zusanunen zu ihrem Heil - wobei er diesen Synergismus aktivistisch zuspitzte: Nur wenn die Menschen selbst etwas zu ihrer Befreiung tun, wird ihnen Gott beistehen (Ant 18,5). Die Anhänger des Judas Galilaios werden traditionell „Zeloten" genannt, obwohl Josephus diesen Begriff fiir eine kleine Gruppe reserviert, die während des jüdischen Krieges den Tempel verteidigte - beseelt vom „Eifer" (= Zelos) für den Tempel. „Zeloten" im engeren Sinne meint nur diese vom Eifer für den Tempel ergriffene Gruppe, „Zeloten" im weiteren Sinne die ganze durch Judas Galilaios inspirierte Widerstandsbewegung. In diesem weiteren Sinne wird der Begriff in dem noch immer grundlegenden Buch von M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Merodes I. bis 70 n.Chr., AGJU 1, Leiden/Köln: Brill ^1976, gebraucht.

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politische Konsequenz ablehnt, man müsse deswegen die Steuerzahlung einstellen. Die im politischen Bereich zurückgewiesene Alternative (Gott oder der Kaiser) kehrt jedoch bei Jesus im ethischen Bereich als Entscheidung zwischen Gott und dem Mammon wieder. Man kann nicht zwei Herren zugleich dienen (Mt 6,24 par). Hinter der Alternative „Gott oder Kaiser" bzw. „Gott oder Mammon" steht derselbe radikaltheokratische Geist. Dort fuhrt er zu politischer, hier zu ethischer (oder sozialer) Radikalität. 2. Johannes der Täufer und seine Anhänger: Während die „Zeloten" eine politische Radikalisierung des Pharisäismus darstellen, ist die Täuferbewegung eine rituelle Radikalisierung des Judentums.^' Nicht innerhalb des bisherigen rituellen Systems, sondern durch radikale Umkehr, symbolisiert durch den Ritus der einmaligen Taufe, ist Sündenvergebung zu erlangen. Jesus teilt mit dem Täufer die ethische Umkehrforderung (freilich ohne asketische Züge). In seiner Ethik hat er wahrscheinlich mehr vom Täufer übernommen, als für uns erkennbar ist. Jesus trennt jedoch die ethische Umkehrforderung des Täufers von der rituellen Taufforderung. Er verlangt Umkehr ohne zu taufen und die Taufe zu fordern. Er selbst hat in der entscheidenden Zeit seines öffentlichen Wirkens nicht getauft (Joh 3,22 dürfte eine Rückprojektion aus späterer Zeit sein, wie der Kommentar in 4,2 andeutet). 3. Die Zeichenpropheten und ihre Anhänger: Die Zeichenpropheten^^ stellen eine soteriologische Radikalisierung des Judentums dar. Mehrfach begegnen im 1. Jh. n.Chr. Propheten, die ihren Anhängern ein Wunder verheißen und mit ihnen zum Ort des angekündigten Wunders aufl^rechen. Wir finden hier prophetische Charismatiker mit einer akuten Naherwartung und mit Anhängern, die manchmal sogar Haus und Hof verlassen. Auch das Stichwort „Nachfolgen" (¿ττεσθαι, άκολουθάν) begegnet (Jos Ant 20,188). Diese Propheten kündigen die Befreiung von den Fremdherrschem an: Sie hoffen auf eine neue Landnahme, einen neuen Exodus, eine Wiederholung des Wunders von Jericho an den Mauern Jerusalems. Ihre Kritik und Aggression richtet sich gegen die Fremden. Jesus kündigt dagegen einen neuen Tempel an, also eine Erneuerung von innen her. Er ruft zur Umkehr. Seine Kritik wendet sich nach innen gegen die Einheimischen. Seine Anhänger ruft er zur Nachfolge. Die provokativen Akte, die er von ihnen verlangt, erinnern an prophetische Symbolhandlungen: Ein Anhänger soll seinen to-

" Einen noch immer informativen Vergleich zwischen Jesus und Johannes dem Täufer bietet J. Becker, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1972. " P. W. Barnett, The Jewish Sign Prophets - A.D. 4 0 - 7 0 . Their Intentions and Origin, N T S 2 7 ( 1 9 8 1 ) 6 7 9 - 6 9 7 . Informativ ist das ältere Werk von R. Meyer, Der Prophet aus Galiläa, Leipzig: Lunkenbein 1940.

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ten Vater nicht begraben. Bei ihrer Mission sollen sie niemand grüßen, bei Abweisung den Staub von den Schuhen schütteln, usw. Betrachten wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den jüngeren jüdischen Gruppen und der Jesusbewegung: Was Judas Galilaios angeht, so teilt Jesus mit ihm das radikaltheokratische Axiom: Gott soll alleine regieren. Aber er konkretisiert dies Axiom nicht auf dem politischen Gebiet. Das von Jesus verkündigte Gottesreich ist Befreiung von der Herrschaft des Satans und seiner Dämonen (Mt 12,22-30 parr). Die entscheidende Alternative lautet: Gott oder der Mammon, nicht: Gott oder der Kaiser. Was die Bewegung des Täufers angeht, so teilt er ihren Ruf zur Umkehr angesichts einer schon hereinbrechenden eschatologischen Wende. Aber Jesus verbindet seinen Ruf zur Umkehr nicht mit der Aufforderung zur Taufe. Wenn er wirklich der Meinung war, dass nur aus dem Innern kommende Dinge den Menschen verunreinigen können, so hätte eine Taufe wenig Sinn. Was die Zeichenpropheten und ihre Anhänger angeht, so teilt Jesus mit ihnen die Erwartung einer baldigen Rettung. Aber alle Zeichenpropheten haben eine nativistische Tendenz. Die erwarteten Wunder sind Zeichen der Befreiung von den Fremden. Jesus erwartet dagegen, dass auch Heiden von überall in die Gottesherrschaft strömen werden um dort mit Abraham, Isaak und Jakob zu speisen (Mt 8,1 If). Unser bisheriges Resultat ist nicht eindeutig: Im Vergleich zu den älteren Gruppen, Sadduzäem, Pharisäern und Essenern, vertritt Jesus eine mittlere Position. Hier bildet er die „goldene Mitte" zwischen den Extremen. Im Vergleich zu den jüngeren Bewegungen teilt er deren Radikalismus, lehnt aber konkrete Formen des politischen, ritualistischen und nativistischen Radikalismus ab. Er teilt wohl die Radikalität im Prinzipiellen, nicht aber in den konkreten Konsequenzen. Das heißt: Er nimmt auch innerhalb dieser sich radikalisierenden Strömungen im Judentum eine vergleichsweise moderate Haltung ein. Daher ist es kein Widerspruch, wenn man feststellt: Auf der einen Seite scheint Jesus tief im allgemeinen Judentum zwischen radikaleren Flügeln beheimatet zu sein, auf der anderen hat er Anteil an einer Radikalisierung des Judentums unter römischer Herrschaft. Denn auch hier ist sein Radikalismus „lebbarer" als der manch anderer jüdischen Gruppen. Wir kommen auf dieses Problem noch einmal zurück.

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3. Jesus und die Ausdrucksformen der jüdischen Religion: ein Formenvergleich Auch ein Vergleich der verschiedenen Ausdrucksformen von Religion hat den Vorteil, dass man nicht pauschal das Judentum mit dem einen Juden Jesus vergleicht, sondern in der jüdischen Religion verschiedene Aspekte unterscheidet und Jesu Haltung zu ihnen differenziert beschreibt. Die wichtigsten Ausdrucksformen sind: Mythos, Ritus und Ethos. 3.1. Die Grunderzählung des Judentums (sein „ Mythos ") Der zentrale Inhalt der Verkündigung Jesu ist ein Endzeitmythos. Es ist die Predigt von der Gottesherrschaft. Dieser Endzeitmythos ist eine mythische Dramatisierung des ersten Gebots: Der eine und einzige Gott wird sich gegen alle anderen Mächte durchsetzen - nur dass an die Stelle des Exodus aus Ägypten der Exodus aus den bedrückenden Verhältnissen der Gegenwart getreten ist. Jesus braucht nicht zu erklären, was die Gottesherrschaft ist. Lebendige Mythen, mögen sie logisch noch so widersprüchlich sein, bringen den Konsens einer Gesellschaft zum Ausdruck. Innerhalb dieses Konsenses gibt es bei den Aussagen über die Gottesherrschaft bei Jesus zwei besondere Merkmale: - Gegenwart und Zukunft sind in den Aussagen über die basileia in eigentümlicher Weise verbunden. Die basileia ist zukünftig und bricht doch zugleich in die Gegenwart. Bisher fehlen uns eindeutige Analogien zu diesem Bewusstsein erflillter Gegenwart, auch wenn die Aussagen der Jesusüberlieferung in diesem Punkte mehrdeutig sind. - Der Gegensatz zwischen Israel und den Völkern tritt zurück. In den Texten des Judentums ist die Hoffnung auf die Herrschaft Gottes oft mit einer Hoffnung auf Überlegenheit über die Heiden verbunden. Die basileia, von der Jesus predigt, wird dagegen ftir alle Heiden (und Juden?) offen sein, die von Ost und West, Süd und Nord herbei strömen. Mit all dem bleibt Jesus im Rahmen des Judentums. Der von Jesus vertretene Endzeitmythos ist radikalisierter Monotheismus: Gottes Herrschaft " Wir finden in den USA neuerdings wieder einen Versuch Jesus eine futurische Eschatologie abzusprechen (so bei J. D. Crossan, s.o. Anm. 4). Sie passt nicht zum kynischen Jesus, dem Vertreter paradoxer Lebensweisheit. Ein bedenkenswertes Plädoyer für solch einen nichteschatologischen Jesus gibt M. J. Borg, A Temperate Case for a Non-Eschatological Jesus, in: ders., Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge: Trinity Press 1996, 47-68. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder scharfsinnige Versuche die Eschatologie Jesu als rein futurische Naherwartung zu 1тефге11егеп. So zuletzt A. Scriba, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung, angekündigt für BWANT 145, Stuttgart: Kohlhanmier 2002. Die Deutung auf eine doppelte Eschatologie, die präsentische und futurische Züge verbindet, ist noch immer die wahrscheinlichste.

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wird sich gegen alle Mächte durchsetzen und sie wird von allen Menschen, von Juden und Heiden, anerkannt werden. Beide Motive des Monotheismus werden zum Zuge kommen: Gott wird allein herrschen - und er wird von allen anerkannt werden. 3.2. Die rituelle Welt des Judentums Rituelle Fragen sind die deutlichsten sozialen Signale für Nähe und Feme, Zugehörigkeit und Abgrenzung. Wir können dabei zwischen rituell heiligen Orten (d.h. den Orten, an denen die wichtigen Gemeinschaftsriten stattfinden) unterscheiden, zwischen rituell heiligen Schriften (d.h. den Schriften, die bei Gottesdiensten gebraucht wurden) und den Riten i.e.S., die im Judentum mehr als in anderen Religionen das ganze Leben durchziehen und heiligen: Sabbat und Reinheitsriten. 1. Heilige Orte: Das Judentum des zweiten Tempels kannte vor allem zwei institutionelle Orte, an denen Gottesdienst gefeiert wurde: den Tempel und die Synagoge. Der Tempel stand eindeutig im Zentrum, die Synagoge mit ihrem Wortgottesdienst hatte aber an Gewicht gewonnen. Daneben muss man noch einen dritten Ort nennen: das Haus und die Familie als Ort des alltäglichen Gottesdienstes. - Die Pharisäer (imd wohl auch andere) waren bestrebt ein wenig von der Heiligkeit des Tempels auf das Haus als Ort der Familie zu übertragen. Das Haus wird gegenüber dem Tempel aufgewertet. Zum Haus und zur Familie finden wir bei Jesus dagegen kritische Worte. Der Ruf in die Nachfolge kann Bruch mit der Familie bedeuten (Mt 8,2 If). - Wir finden bei Jesus ebenfalls eine Opposition gegen den Tempel Entweder wollte er den Opferhandel beenden und durch iQmçQÎreinigung Missstände beseitigen oder er wollte die Opfer abschaffen und durch Reform den Tempel in eine Synagoge verwandeln oder er wollte als Prophet die Tempeizerstörung ankündigen.^^ Vielleicht erwartete er, dass in der Gottesherrschaft das Familienmahl mit den Patriarchen den Tempel ersetzen oder ein neuer Tempel an seine Stelle treten werde. - Wir finden bei Jesus eine Bindung an die Synagoge. Immer wieder hören wir, dass Jesus in Synagogen lehrt. Für einen Wanderprediger war das die

" Die „Tempelreinigung" war wahrscheinlich eine prophetische Symbolhandlung, welche die Weissagung der Zerstörung des Tempels inszenieren soll. Da aber Jesus wahrscheinlich gleichzeitig einen „neuen Tempel" erwartet, könnten in den Traum von einem neuen Tempel reformerische Impulse eingegangen sein - nur dass diese Reform von Gottes Eingreifen erwartet wird: Im neuen Tempel wird es wahrscheinlich keinen Opferhandel und keine Opfer mehr geben.

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einfachste Art Zuhörer zu finden. Entscheidend für Jesus war das Hören des Wortes in der Synagoge (und im Freien). Der Opposition gegen Tempel (und „Haus") steht bei Jesus also eine Bindung an die Synagoge (und die Öffentlichkeit der Straße) gegenüber. Bei ihm treten damit zwei sich ergänzende Institutionen - Synagoge und Tempel - in Konkurrenz zueinander. Vielleicht äußert sich hier eine Laienreligiosität, die in der Synagoge ihren „Sitz im Leben" hat und von dieser Basis her gegen eine priesterliche Tempelfrömmigkeit protestiert. Nun war die Synagoge zweifellos eine der lebendigsten Erscheinungen des Judentums. Gehört also nicht auch Jesus mitten in dies lebendige Judentum hinein? 2. Heilige Schriften: Konsens bestand bei allen jüdischen Gruppen darüber, dass der Pentateuch das Zentrum der heiligen Schriften bildete. Die meisten Juden erkannten darüber hinaus die Propheten und die Schriften (die ketubim) an. Bei den Sadduzäem reduzierte sich diese gemeinsame Basis auf den Pentateuch. Bei den Pharisäern weitete sie sich dagegen aus, indem sie auch den mündlichen Vätertraditionen normative Geltung zuschrieben. Jesus lehnte die normative Geltung der Vätertraditionen ab und distanzierte sich damit von den Pharisäern. Er bejahte mit dem sonstigen Judentum die übrigen Schriften und distanzierte sich damit von den Sadduzäem. Alle drei Kanonteile waren in seinem Wirken lebendig: thora, nebiim, ketubim. Er lehrte Gottes Gebote so vollmächtig wie Mose. Er trat als Prophet Israels auf Er wirkte als Weisheitslehrer. Aber er war kein Schriftgelehrter. Er gehörte zur mündlichen Kultur. Er zitierte die Schrift nur selten - wenn auch häufiger als der Weisheitslehrer Jesus Sirach, der seine Weisheit mit der Thora identifizierte, aber nirgendwo ein Thorazitat bringt. Und doch war Jesu Leben durch und durch auf die Schrift bezogen. Sie war in seinem Leben präsent wie sie bei den einfachen Menschen in Israel präsent war: in mündlicher Form. Er las weniger die Schrift als dass er sie lebte. 3. Heilige Handlungen: Als rituelle identity markers galten im Altertum für Juden: die Beschneidung, die Sabbatgebote und die Reinheits- und Speisegebote. Im Allgemeinen sind die Sabbatkonflikte Jesu und das Reinheitslogion in Mk 7,15 die wichtigsten Argumente um Jesus in einen grundsätzlichen Gegensatz zum Judentum zu stellen. Allgemein wird jedoch zugestanden, dass er das Beschneidungsgebot nie in Frage gestellt, ja in den überlieferten Worten nie thematisiert hat (EvThom 53 ist eine Ausnahme). Was die Sabbatkonflikte^^ angeht, so gab es im damaligen Judentum eine

Vgl. S. O. Back, Jesus of Nazareth and the Sabbath Commandment, Abo: Abo Akademi University Press 1995.

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lebhafte Diskussion darüber, was am Sabbat erlaubt ist und was nicht. So durfte man sich seit den Makkabäerkriegen am Sabbat verteidigen - nachdem einmal 1.000 Juden am Sabbat niedergemetzelt worden waren, weil sie auf Gegenwehr verzichtet hatten (vgl. IMakk 2,29-41). In bestimmten Ausnahmesituation war also das Töten in Notwehr erlaubt. Wenn Jesus in Mk 3,4 fragt: „Ist es erlaubt am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu töten?" - dann schließt er vom Kleineren auf das Größere: Wenn es schon erlaubt ist Böses zu tun, um wie vielmehr dann das Gute! Damit bleibt er im Rahmen der jüdischen Diskussion über den Sabbat. Noch mehr als die Sabbatkonflikte gilt das Reinheitslogion in Mk 7,15'*° als Beweis dafür, dass Jesus mit der Thora gebrochen habe: „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hereinkommt, das ihn verunreinigen könnte, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was ihn verunreinigt." Aber mit diesem Wort ist keine Aufforderung verbunden die Reinheitsgebote nicht zu beachten. Es fehlt jede Imperativische Forderung. Als im nachösterlichen Urchristentum die Reinheitsgebote praktisch außer Kraft gesetzt wurden, begründete man diese Entscheidung mit Geschichten von Offenbarungen, die einen Imperativ enthalten: Petrus sieht in Apg 10,9-16 in einer Vision unreine Tiere und erhält die Aufforderung: „Schlachte und iss!" Erst jetzt wird aus einer gnomischen Maxime eine Verhaltensvorschrift. Und erst solche konkreten Vorschriften fiir sichtbares Verhalten sprengen eine Gemeinschaft. Zweifellos zeugt Mk 7,15 von einer großen Distanz zu Reinheitsfragen. Sie überrascht bei einem Schüler Johannes des Täufers. Finden wir beim Täufer doch eine verschärfte Sensibilität ftir Reinheit und Unreinheit. Nur deswegen verlangt er von allen die erneute Reinigung durch eine Wassertaufe. Die pharisäische Sorge um Reinheit wird beim Täufer radikalisiert. Durch die Taufe sonderten sich die Täufergruppen (und Essener) rituell von den anderen Juden ab. Jesus schließt sich dieser Separationstendenz nicht an. Er tauft nicht. Er ist in dieser Hinsicht mehr ins Judentum integriert als der Täufer (und die Essener). Nun zweifelt niemand daran, dass Johannes der Täufer und die Essener ins Judentum gehören. Um wie viel mehr muss Jesus im Vergleich zu ihnen mitten ins Judentum gestellt werden!

Vgl. G. Theißen, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: K. Wengst, Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schräge, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1998,235-251; überarbeitete Fassung: in diesem Band S. 73-89.

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3.3. Das Ethos des Judentums Zweifellos gehört Jesus mit seiner Ethik ins Judentum. Nur sein Radikalismus ist ungewöhnlich: seine Nachfolgeethik mit der Forderung mit der Familie zu brechen, seinen Besitz zu verschenken und auf Sicherheit zu verzichten. Sitz im Leben dieses Wanderradikalismus ist ein devianter Lebensstil, fur den es im Judentum kaum Analogien gibt, wohl aber unter den kynischen Wandeφhilosophen in der paganen Gesellschaft. Manche seiner radikalen Forderungen sind ein Bruch von Thorageboten, andere deren Verschärfung. Zunächst ein Beispiel für einen demonstrativen Bruch im Bereich der Familienethik. Die Thora sagt: Du sollst Vater und Mutter ehren! Ein Nachfolgewilliger aber will zuerst seinen toten Vater begraben, ehe er Jesus auf seinen Wanderungen folgt. Jesus sagt ihm: „Folge mir nach und lass die Toten die Toten begraben!" (Mt 8,21 f)· Das ist ein pietätloser Verstoß gegen das 4. (oder 5.) Gebot. Man kann ihn aber auch als symbolische Handlung verstehen. So wie Hosea eine Ehebrecherin heiraten sollte, nicht um Ehebruch zu legalisieren, sondern um seine Botschaft von Gottes Liebe einem ehebrecherischen Volk zu vermitteln, so soll der Nachfolger Jesu eine Botschaft zum Ausdruck bringen: Mit Jesus ist eine unbedingt verpflichtende Person erschienen, die selbst das Eltemgebot außer Kraft setzt. Die von ihm verkörperte Herrschaft Gottes hat absoluten Vorrang. Das Wort ist zu einem Menschen gesprochen, der Jesus auf seinen Wanderungen nachfolgen will. Der Sitz im Leben des Wanderradikalismus ist unverkennbar. Nun ein Beispiel ftir eine Verschärfting. Diese finden wir in der Sexualethik, im Bereich des 6. (oder 7.) Gebots: Die Thora erlaubt nach Dtn 24 die Ehescheidung. Eine Jesusüberlieferung verbietet solch eine Scheidung, nicht aber die Trennung. Vorausgesetzt wird, dass die Ehe über die Trennung hinweg bestehen bleibt. Erst mit der Wiederheirat wird sie gebrochen. Den Ehebruch aber lässt ein anderes Jesuswort schon mit dem sexuellen Begehren einer fremden Frau beginnen (Mt 5,27f). Hier liegt zweifellos kein Bruch der Thora vor, sondern deren Verschärfung. Denn wer diese Gebote Jesu erftillt - kein Begehren einer fremden Frau, keine Ehescheidung - , der verstößt nicht gegen die Thora. Auch diese Verschärfling eines Thoragebots könnte mit der Existenzform des Wanderradikalismus zusammenhängen: Die Jünger haben manchmal auch ihre Frauen verlassen (vgl. Lk 14,26). Das war erlaubt. Ihre Ehen blieben bestehen. Sie wurden aber gebrochen, wenn sie an einem anderen Ort neu heirateten. Es gibt nur eine Gruppe außerhalb des Judentums, mit der Jesus und seine Bewegung hinsichtlich ihres Wanderradikalismus sachlich verglichen werden kann: die Kyniker. Bei den Instruktionen ftir die Aussendung seiner

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Nachfolger könnte Jesus versucht haben kynische Wanderphilosophen bewusst zu überbieten: Wenn sich die Kyniker durch Stab und Rucksack auszeichneten, so verbot Jesus seinen Jüngern gerade diese Merkmale eines Kynikers. Die Nachfolgeexistenz wird bevvoisst von den Kynikem abgehoben. Wieder kommen wir zu einem gemischten Ergebnis: Auf der einen Seite ist Jesus tief im Judentum verwurzelt. Er teilt seine grundlegenden Überzeugungen. Seine Zentralbotschaft vom kommenden Gottesreich ist ein radikalisierter eschatologischer Monotheismus. Hinsichtlich der rituellen Zeichensprache ist Jesus gerade aufgrund seiner „Liberalität" mehr ins Judentum integriert als die Essener oder Johannes der Täufer. Sein Wanderradikalismus aber ist eine Lebensform am Rande des Judentums: eine Lebensform für Außenseiter. Natürlich wäre es schon ein wertvolles Resultat, wenn wir sagen köimten: Jesus ist weder ein marginaler oder radikaler Jude noch ein Vertreter des allgemeinen Judentums. Er ist in gewisser Weise all das in einer Person. In mancher Hinsicht steht er im Zentrum des Judentums, in anderer an seinem Rand. Aber befriedigender wäre es, wenn wir eine umfassende Inteφretation bieten könnten. Der Schlüssel zu solch einer umfassenden Interpretation ist die Analogie zu den Kynikem. Sie ist in ganz anderer Weise aufschlussreich, als wenn man Jesus zu einer Art jüdischem Kyniker machen wollte."" Kyniker sind in der paganen antiken Welt von ihrem Lebensstil her Außenseiter, weim auch in abgestuftem Maße. Es gab wandernde Kyniker und sesshafte Kyniker wie Demonax, beide mit verschiedenem Grad von Nähe zum alltäglichen Leben. Aber beide repräsentieren eine Außenseiterexistenz, in der sie gerade das leben, was Menschen im Zentrum dieser Gesellschaft anstrebten: das Vertrauen in die B^aft menschlicher Vernunft, das Ringen um die Autarkie des Menschen, die konsequente Unterscheidung von Bedürfnissen, die von Natur bestehen, und Konventionen, von denen man sich frei machen kann. Die Kyniker sind nur in ihrem Lebensstil marginal, nicht aber in ihren Die Analogien zwischen Jesus und den Kynikem sind in jedem Fall sachlich und sozialgeschichtlich aufschlussreich. Daraufhabe ich 1973 hingewiesen, vgl. G. Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245-271 = ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen: Mohr 1979, 2. erw. Aufl. 1983, M989, 79-105, S. 89f Die These, dass Jesus ein kynischer Jude war, wurde entwickelt von: F. G. Downing, Cynics and Christians, NTS 30 (1984) 584-593; ders. Christ and the Cynics, JSOT Manuals 4, Sheffield: JSOT Press 1988; ders., The Jewish Cynic Jesus, in: M. Labahn/A. Schmidt, Jesus, Mark and Q. The Teaching of Jesus and its Earliest Records, JNTSS 214, Sheffield: Sheffield Academic Press 2001, 184-214. Unabhängig davon entwarf B. L. Mack, A Myth of Innocence, Mark and Christian Origins, Philadelphia: Fortress Press 1988; ders.. The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco: HarperSanPrancisco 1993 das Bild eines vom Kynismus beeinflussten Jesus. Die bekannteste Deutung Jesu als jüdischer Kyniker aber stammt wohl von J. D. Crossan, The Historical Jesus (s.o. Anm. 4).

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Überzeugungen. Im Gegenteil: Die marginale Lebensweise ermöglichte es ihnen grundlegende Axiome antiker Ethik konsequenter zu praktizieren als sie es innerhalb eines normalen Lebens hätten tun können, das zu vielen Kompromissen nötigt. Übertragen wir das auf Jesus und seine Bewegung, so heißt das: Auch die Jesusbewegung stand hinsichtlich ihres Lebensstils am Rande des Judentums, konnte aber in dieser Randlage Grundüberzeugungen des Judentums klarer und „extremer" vertreten als im normalen Leben. Es ist kein Widerspruch, wenn sie in allen anderen Fragen mitten ins Judentum einzuordnen ist. Am Ende seien die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammengefasst. Der Strukturvergleich ergab: Aufgrund seiner theologischen Grundüberzeugungen gehört Jesus ins Judentum. Seine Predigt von der Gottesherrschaft ist radikalisierter Monotheismus. Er vertritt einen liberalisierten Bundesnomismus. Wo diese Freiheit gegenüber dessen normativen Traditionen bei ihm hervortritt, folgt er weisheitlichen Traditionen und seiner prophetischen Vollmacht. In der prophetischen Tradition können auch Erwählung und Gesetz durch neue Handlungen und Offenbarungen Gottes überholt werden. Alle Spannungen zu jüdischen Traditionen sind daher Spannungen im Judentum, aber kein Bruch mit ihm. Der Gruppenvergleich ergab bei den älteren aus der Hasmonäerzeit stammenden Gruppen, dass Jesus im Vergleich zu ihnen die „goldene Mitte" zwischen einander entgegengesetzten Positionen vertritt. Charakteristisch für ihn sind moderate Positionen. Vergleicht man Jesus dagegen mit den jüngeren Gruppen aus römischer Zeit, so teilt er die allgemeine Radikalisierung, die sich in ihnen bemerkbar macht - weicht aber durch moderatere praktische Konsequenzen von verwandten Gruppen seiner Zeit ab: Es gibt keine religiöse Verpflichtung zur Steuerverweigerung; es gibt keine Notwendigkeit sich taufen zu lassen; es gibt keine Heilserwartung, die sich grundsätzlich gegen die Heiden richtet, sondern diese sind in seine Heilserwartung eingeschlossen. Sein grundsätzlicher Radikalismus steht in Spannung zu seiner moderaten Praxis. Aber auch das ist keine Spannung mit dem Judentum, sondern im Judentum. Auch der Formenvergleich führte zu einem differenzierten Ergebnis: Aufgrund der Predigt von der Gottesherrschaft gehört Jesus mitten ins Judentum. Durch seine Einstellung zu rituellen Fragen unterscheidet er sich von Essenern und Täufern, die sich vom sonstigen Judentum durch neue Riten deutlicher abgrenzten als er. Aufgrund seines Wanderradikalismus aber steht er am Rande des Judentums. Man kann unser Ergebnisse auf folgende Formel bringen: Jesus ist ein Jude, der durch Lebensstil und ethischen Radikalismus am Rande des Judentums steht, aber hinsichtlich seiner Grundüberzeugungen in dessen

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Zentrum gehört. Ein Lebensstil am Rande des Judentums ermöglichte es ihm jüdische Grundüberzeugungen klarer und kompromissloser zu leben als andere - vor allem die radikaltheokratische Erwartung der Herrschaft des einen und einzigen Gottes. Eine Analogie zu ihm sind die Kyniker, nicht weil Jesus von ihnen beeinflusst war, sondern weil auch sie durch ihren marginalen Lebensstil Grundüberzeugungen der antiken Ethik kompromissloser verkörpern konnten als „normal" lebende Menschen. Jesus war ein Außenseiter, der die Mitte verköφerte. Er war ein Vertreter der „radikalen Mitte" im Judentum. Dass er voll ins Judentum hineingehört, ist eines der wichtigsten Ergebnisse historischer Jesusforschung. Die zentrale Bezugsgestalt des Christentums gehört daher zwei Religionen an: Er war ein Jude und wurde durch Inteφretationen seines Geschicks in nachösterlicher Zeit zur Grundlage des Christentums. Er verbindet zwei Religionen - und darin liegt eine große Chance. Es ist unsere Aufgabe sie zu nutzen.

Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus Das Johannesevangelium nennt das Liebesgebot ein „neues Gebot" (Joh 13,34). Der Leser hat den Eindruck, Jesus habe es formuliert.' Aber selbst in den joh Gemeinden gab es eine Diskussion darüber, ob es wirklich neu war. IJoh 2,7 bezeichnet es als ein „neues" und „altes" Gebot, weil es die Gemeinde von Anfang an hatte (vgl. 2Joh 5). In Wirklichkeit ist es noch älter als die Gemeinde. Es stammt aus dem Alten Testament (Lev 19,18). Weder Paulus noch die synoptischen Evangelien machen daraus einen Hehl. Für Paulus ist es die Erfüllung des Gesetzes (Rom 13,8-10; Gal 5,14); und in den synoptischen Evangelien zitiert es Jesus durch Kombination von Dtn 6,4 und Lev 19,18; ein Schriftgelehrter stimmt ihm spontan zu (Mk 12,28-34). Man hat nicht den Eindruck, dass Jesus ihm etwas völlig Neues mitteilt. Die moderne Exegese glaubt freilich weder dem JohEv noch den Synoptikern in diesem Punkte. Sie geht einen Mittelweg. Sie betont einerseits, dass das Liebesgebot aus dem Judentum stammt. Christen hätten es nicht erfunden. Aber es gehöre auch nicht zur ältesten Jesusüberlieferung, sondern sei in ihr eine sekundäre Bildung.^ Erst nachträglich sei es in die Jesusüberlieferung eingedrungen, als Christen mit dem griechischen Kanon der zwei Tugenden^ außerhalb Palästinas konfrontiert vmrden. Erst im hellenistischen Judentum finden wir nämlich Zusammenfassungen der Tora in zwei Prinzipien. Erst dort habe das Urchristentum sein Ethos im Doppelge' Vielleicht meint das JohEv nur, dass Jesus in seiner öffentlichen Verkündigung das „Gebot" überbracht hat das Leben zu offenbaren (Joh 12,490- Jetzt, in der Stunde des Abschieds, gibt er darüber hinaus ein neues Gebot für die Zeit nach seinem Tod. In jedem Fall war die Aussage des JohEv missverständlich. Denn wirklich neu ist in diesem Liebesgebot allenfalls die Begründung: Die Christen sollen einander lieben wie Christus sie vorher geliebt hat. Diese Liebe zeigt Jesus im JohEv durch Hingabe seines Lebens (Joh 15,13). Daher kann jetzt erst, in der Abschiedsstunde, ein Liebesgebot in Kraft treten, das sich auf diesen Tod bezieht. ^ Mit sehr fundierten Argumenten findet sich diese Skepsis bei C. Burchard, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: E. Lohse u.a. (Hg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, FS J. Jeremias, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, 39-62 = C. Burchard, Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, WUNT 107, Tübingen: Mohr 1998, 3-26; K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament Bd. I, WMANT 40, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1972, 142-176, und M. Ebersohn, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg: Elwert 1993, bes. 179-181, begründet. Alle ordnen Mk 12,28ff einem hellenistischen Urchristentum außerhalb Palästinas zu. ' Vgl. A. Dihle, Der Kanon der zwei Tugenden, Köln u.a.: Westdt. Verlag 1968. Vgl. K. Berger, Gesetzesauslegung (s.o. Anm. 2), 143-151.

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bot der Liebe summiert und Jesus in den Mund gelegt. Ein Indiz für diese späte Entstehung sei, dass es in der ältesten Fassung mit dem schema, dem Bekenntnis Israels zum einen und einzigen Gott, verbunden ist (Mk 12,29). Das weise auf die Diaspora als Sitz im Leben und auf eine Konfrontation mit dem Heidentum. Es ist also weder eine uralte Gemeindetradition, die dieses „von Anfang an" hatte, noch eine originäre urchristliche Gemeindebildung. Als Doppelgebot der Liebe habe es vielmehr eine Vorgeschichte im hellenistischen Judentum, nicht aber im palästinischen Judentum, das allein der Mutterboden Jesu gewesen sein könne. Es stamme daher nicht von Jesus. Im Folgenden soll dagegen gezeigt werden, dass Jesus das Doppelgebot der Liebe in seiner Verkündigung vertreten hat und dass er es aus seiner jüdischen Tradition übernommen hat. Im Zentrum seiner ethischen Verkündigung steht das Liebesgebot - und seine Ethik ist durch und durch jüdische Ethik.

1. Zur Charakterisierung des doppelten Liebesgebots in der Jesusüberlieferung Die Jesusüberlieferung kombiniert zwei alttestamentliche Zitate: Dtn 6,4 und Lev 19,18. Beide werden aufgrund des in ihnen vorkommenden Wortes „Liebe" aufeinander bezogen und nach der Auslegungsregel der „gleichen Entscheidung" {¿zerah sawah) fur gleichwertig erklärt. Ihre Zuordnung ist nichts Neues im Judentum. Das zeigen sowohl Analogien in den TestXII'' als auch die synoptischen Texte: Der Schriftgelehrte wiederholt die Summierung der Thora durch Jesus im Doppelgebot der Liebe mit eigenen Worten (Mk 12,33). Die Perikope setzt voraus, dass ihm die Zusammenstellung dieser beiden Gebote vertraut ist - und er in der Sache nichts Fremdes darbietet. In der Ik Version formuliert er das Doppelgebot der Liebe sogar spontan als seine Antwort auf die Frage, was der Mensch zur Erlangung des ewigen Lebens tun kann (Lk 10,27). Eine unbefangene Lektüre zeigt: Hier wird kein „neues Gebot" formuliert, sondern ein Wertkonsens auf dem Boden der gemeinsamen Thora festgestellt.^ Innerhalb dieses Konsenses und auf dem Hintergrund einer gemeinsamen Tradition zeigt die Jesusüberlieferung freilich kleine Besonderheiten, die bemerkenswert sind. " Vgl. Testiss 5,2; 7,6 (v.l.); TestSeb 5,1; TestDan 5,3; TestBenj 3,1-3. ' Anders M. Ebersohn, Nächstenliebegebot (s.o. Anm.2), bes. 169-173: Er möchte Mk 12,2834 als ein Streitgespräch ¡п1ефге11егеп, bei dem freilich weniger der Schriftgelehrte Jesus angreift, sondern Jesus seinem Gesprächspartner eine „Falle" stellt (S. 172) und ihn aufs „Glatteis" (S. 173) führt. Der Schriftgelehrte wird dazu verführt gerade das zu formulieren, worin das Christentum über das Judentum hinausgeht: die Vereinigung beider Gebote zu einem Doppelgebot und dessen kultkritische Anwendung.

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1. Das explizite Zitat des Alten Testaments. Die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe werden explizit als alttestamentliche Gebote zitiert. Es heißt also nicht wie in den TestXII: „Liebt den Herrn und den Nächsten ..." (Testiss 5,2), sondern: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften." Und daneben wird explizit ein zweites Zitat gestellt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" Die Bezugnahme auf die Thora (auf Dtn 6,4 und Lev 19,18) geschieht deutlicher als in der weisheitlichen Paränese der TestXII, wo das Thoragebot vom Sinai schon aus erzählerischen Gründen nicht vorausgesetzt werden kann: Die Patriarchen konnten es ja noch nicht kennen.^ Während die Grundsatzformulierungen des Diasporajudentums an allgemeine antike Ideen anknüpfen, bezieht sich Jesus auf die eigene jüdische Tradition. 2. Die Nummerierung der beiden Gebote als „erstes" und „zweites" Gebot ist ebenso singulär wie ihre explizite Gleichstellung im MtEv, die über die mk Vorlage hinaus geht (Mt 22,39). Eine solche Nummerierung finden wir sonst nur bei Dekaloggeboten. Wenn vom „ersten Gebot" in anderen jüdischen Texten die Rede ist, ist die Veφflichtung zum Monotheismus (also das „erste" unter den zehn Geboten) gemeint. Wenn die Liebe zu Gott in die Rolle des „ersten Gebots" einrückt, so wird damit deutlich: Nicht der Monotheismus an sich, sondern eine mit ihm verbundene ganzheitliche Gottesbeziehung, die sich im ganzen Leben auswirkt, ist entscheidend. Monotheisten waren ja auch viele Heiden. Ein konsequent aus der Beziehung zu dem einen und einzigen Gott gestaltetes Leben aber betrachteten Juden als ihr besonderes Kennzeichen. Gelegentlich wird das Eltemgebot explizit als zweites Gebot hinzugefugt (so bei Josephus Ap 2,206). Wenn das zweite hervorgehobene Gebot bei Jesus nicht das Eltemgebot ist, so ist das kein Zufall: Die familienkritischen Tendenzen in der Jesusüberlieferung würden zu solch einer Auszeichnung des Eltemgebots nicht passen.^ 3. Die Trennung der beiden Gebote. Sie werden in den synoptischen Texten nur im Munde des jüdischen Schriftstellers verschmolzen. Von der Liebe ist bei ihm in Form eines Hauptverbs mit zwei Objekten - Gott und Nächster ' Um so bemerkenswerter ist, dass auch in TestXII der Bezug auf das Gebot Gottes (anachronistisch) vorausgesetzt wird: Der Gesetzeslose „will nämlich seine (= Gottes) Gesetzesworte über die Liebe zum Nächsten nicht hören, und (darum) sündigt er gegen Gott" (TestGad 4,2). „Der Geist der Liebe jedoch wirkt in Langmut zusammen mit dem Gesetz Gottes zur Rettung des Menschen" (TestGad 4,7). Hier liegen intertextuelle Bezüge zu Lev 19,18 vor! ' Umgekehrt hatten Diasporajuden ein Motiv gerade Gottesfurcht und Eltemrespekt zu betonen. Antijüdische Polemik warf ihnen vor, sie veranlassten Proselyten als erstes „die Götter zu verachten, das Vaterland zu verleugnen, ihre Eltern, Kinder und Geschwister gering zu schätzen" (Tac Hist V,5,2, übers. }. Borst).

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die Rede, in Mk 12,33 mit einer Wiederholung des Verbs „lieben", in Lk 10,27 ohne eine solche Wiederholung. Mk 12,32f: „Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften,

Lk 10, 27: „Du sollst den Herrn, deinen Gott,

lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, und deinen Nächsten wie dich selbst." das ist mehr als alle Brandopfer und Schiachtopfer." Die Verschmelzung der beiden Gebote in den TestXII geht noch weiter: Die Qualifizierung der Gottesliebe als ganzheitlicher Hingabe mit allen Vermögen des Menschen wird auf die Nächstenliebe übertragen (TestDan 5,3; Testiss 7,6 v.l.). „Den Herrn liebte ich und ebenso jeden Menschen mit aller meiner Kraft (Testiss 7,6 v.l.). Beide Gebote beeinflussen sich sprachlich gegenseitig. Die Unterscheidung zwischen der Gottesliebe mit umfassender Hingabe und der Nächstenliebe, die in der Liebe zu sich selbst ihr Maß hat, ist in der urchristlichen Überlieferung deutlicher erhalten als in den anderen jüdischen Analogien, obwohl das kaum mit Absicht geschah. 4. Der kognitive Abent bei der Gottesliebe. Bei den Aussagen über die Vermögen des Menschen, die in der Liebe zu Gott aktiviert werden, findet sich eine Ausweitung über die bekannten Parallelen im hebr. AT und der LXX (καρδία, ψυχή, δύναμις) hinaus. Sie betrifft in verschiedenen Variationen die kognitive Fähigkeit des Menschen, wie eine Synopse der verschiedenen „Vermögenslisten" zeigt: Mt 22,37 Mk 12,30 Mk 12,33 καρδία καρδία καρδία (Herz) ψυχή ψυχή (Seele) σύνεσις (Verständnis) διάνοια (Verstand) διάνοια 1σχύ£ (Kraft) ισχύς

Lk 10,27 καρδία ψυχή ισχύς διάνοια

In Mk 12,30 lesen wir von vier Vermögen des Menschen: Herz, Seele, Verstand (διάνοια) und Kraft. Der „Verstand" ist gegenüber der Tradition neu hinzugekommen.' Mt verkürzt entsprechend der atl. Tradition auf drei Glie-

' Der Schriftgelehrte verkürzt dagegen in seiner Antwort Mk 12,33 wieder auf drei Glieder (entspricht also in der Dreierzahl dem atl. Text). Er fasst die beiden mittleren Glieder, Seele und Verstand, mit dem Begriff „Verständnis" (oùi'eoiç) zusammen.

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der, streicht aber nicht den „Verstand", sondern das letzte Glied der mk Reihe, die „Kraft" (Mt 22,37). Lk bringt dagegen alle vier Vermögen, die ersten drei in der alttestamentlichen Reihenfolge, und betont den „Verstand", indem er ihn an die letzte Stelle setzt. Das Besondere der Jesusüberlieferung, also die Betonung des kognitiven Vermögens, bleibt in allen Variationen erhalten. Da die Antwort des Schriftgelehrten im MkEv als „verständig" (νουνίχώς 12,34) charakterisiert wird, weil er die Gottes- und Nächstenliebe den kultischen Opfern überordnet, darf man die Gottesverehrung mit Verstand wohl mit dieser kritischen Haltung zum Opferkult in Verbindung bringen: Es geht wie in Rom 12,1 und TestLev 3,6 um den „vernünftigen Gottesdienst" ohne Opfer. Die Hinzufügung des vierten Vermögens „Verstand" könnte daher kritisch gemeint sein. Eine vergleichbare Kjitik kultischer Pflichten fehlt in anderen jüdischen Parallelen. In jedem Fall aber ist der Appell an die „Einsicht" charakteristisch fur das Judentum der damaligen Zeit: Es stand auf dem Boden der alttestamentlichen Thora, wollte diese aber als einsichtige Tradition verstehen.

2. Die Authentizität des Doppelgebots der Liebe Die Besonderheiten der Jesusüberlieferung sind m. E. groß genug um sie als eine individuelle Prägung im Strom der jüdischen Tradition erkennen zu lassen. Die Überlieferung kann aus dem jüdischen Kontext plausibel abgeleitet werden. Genau so wichtig aber ist: Auch der Traditionsbefund im Urchristentum lässt sich als Auswirkung der Verkündigung Jesu verständlich machen. Das Liebesgebot ist breit belegt und enthält in Mk 12,28-34 zugleich einige tendenzwidrige Elemente. Kontext- und Wirkungsplausibilität sprechen beide für eine Herkunft von Jesus.^ Wir beginnen mit der Wirkungsgeschichte.

2. l. Wirkungsplausibilität Die Überlieferung ist mehrfach bezeugt. Eine Besonderheit ist, dass sie als Jesuswort, als Gotteswort und als anonyme Tradition begegnet. Die Offenheit der Zuschreibung erklärt sich z.T. daraus, dass das Logion im Munde Jesu als Schriftzitat begegnet, d.h. es ist auch in seinem Munde unmittelbares „Gotteswort". Die Belege in Form eines Schriftzitats sind daher im folgenden Überblick eigens durch Hinweis auf das AT markiert.

' Zu Kontext- und Wirkungsplausibilität als Kriterien vgl. G. Theißen, Historische Skepsis und Jesusforschung, in diesem Band S. 327-363, bes. 33Iff.

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Das Gebot der Nächstenliebe

Jesuswort:

Mk 12,28-34 (AT) Mt 5,43; 19,19 (AT) Mt 22,34-^0/Lk 10,25-27 (AT) NazEv 16 (AT) Just Dial 93,2 EvThom 25; HebrEv 6

Gotteswort:

lJoh4,20

Gal 5,14; Rom 13,8-10 (AT) Jak 2,8 (AT)

anonyme Tradition:

Did 1,2

Bam 19,5

In den synoptischen Evangelien sind Mt und Lk sicher von Mk 12,28-34 abhängig. Ob sie gleichzeitig eine unabhängige Überlieferung bezeugen, die ihre minor agreements erklären kann, ist umstritten. Eine Notwendigkeit solch eine Parallelüberlieferung anzunehmen gibt es nicht." Jedoch gibt es einige Überlieferungen des doppelten Liebesgebotes, die unabhängig voneinander und von den synoptischen Evangelien sein könnten. Das gih für Did 1,2: „Das nun ist der Weg des Lebens: Erstens sollst du Gott lieben, der dich geschaffen hat, zweitens deinen Nächsten wie dich selbst! Und alles, von dem du nicht willst, dass es dir geschehe, sollst auch du keinem anderen tun."

Die Fassung der Didache entstand vielleicht durch Ergänzung eines die Zwei-Wege-Lehre einleitenden Gebotes Gott zu lieben. Die Parallele in Barn 19,2 beginnt nämlich: „Du sollst den lieben, der dich geschaffen, den fürchten, der dich gebildet, den preisen, der dich vom Tod erlöst hat!" Ein Bearbeiter fügte vielleicht zur Gottesliebe die ihm aus der Jesusüberlieferung vertraute Nächstenliebe hinzu." Die Verschmelzung beider Gebote zu einem Doppelgebot ist weiter fortgeschritten als in den Synoptikern, der erzählerische Rahmen fehlt, die Totalität der Gottesliebe (nach Dtn 6,4) wird nicht hervorgehoben. Das Doppelgebot der Liebe könnte femer in 1 Joh 4,20f vorausgesetzt sein:'^

Vgl. besonders J. Kiilunen, Das Doppelgebot der Liebe in synoptischer Sicht. Ein redaktionskritischer Versuch über Mk 12,28-34 und die Parallelen, AASF В 250, Helsinki: Suomalainen tiedeakatemia 1989; M. Ebersohn, Nächstenliebegebot (s.o. Anm. 2), 144-155. " Vgl. K. Niederwinimer, Die Didache, KAY 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, 89-93 (mit Synopse). " So R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe, HThK 13,3, Freiburg u.a.: Herder "1970, 250f: IJoh kann sich hier nicht auf das „neue Gebot" in Joh 13,34 (wie in 2,7f) beziehen, da es ihm um die Verknüpfung der Liebe zu Gott mit der Liebe zum Bruder geht. Es handeh sich um einen „Kommentar zu dem von Jesus verkündeten Doppelgebot" (S. 251).

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„Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe."

Das Gebot ist ein Gebot Gottes. Gemeint ist wahrscheinlich eine Verbindung von Dtn 6,4 und Lev 19,18 wie sie in der Jesusüberlieferung bezeugt ist. Die Abwandlung der Nächstenliebe zur Bruderliebe ist nicht nur spezifisch johanneisch, sie findet sich auch im Nächstenliebegebot in EvThom 25: „Jesus sprach: Liebe deinen Bruder wie deine Seele, bewahre ihn wie deinen Augapfel." Direkt als Jesusüberlieferung kennt schließlich Justin das Doppelgebot der Liebe (Dial 93,2): „Darin scheint mir unser Herr und Heiland Jesus Christus recht zu haben, der gesagt hat, dass alle Forderungen der Gerechtigkeit und Frömmigkeit mit der Beachtung zweier Gebote erfüllt werden. Diese aber lauten: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst."

Justin kannte die synoptischen Evangelien, könnte aber auch noch unabhängige Jesusüberlieferungen verwertet haben. Die drei- bzw. viergliedrige Formel „von ganzem Herzen..." wird bei ihm verkürzt - vielleicht als Angleichung an das kurze Nächstenliebegebot. Sie findet sich aber auch unabhängig davon in Just Apol 1,16,6. Der Befund lässt vorläufig folgenden Rückschluss zu: Das Urchristentum kannte das Liebesgebot in zwei Formen (als Doppelgebot und Nächstenliebegebot). Es schreibt beide Formen Jesus zu. Die breite Streuung weist auf eine alte Tradition. Könnte sie dennoch erst im Urchristentum entstanden sein? Dagegen sprechen einige tendenzwidrige Elemente in der Überlieferung: Der „verständige" Schriftgelehrte in Mk 12,28-34 entspricht nicht dem Stereotyp vom Schriftgelehrten in den Evangelien. Er formuliert einen Konsens zwischen Jesus und sich, der kaum in einer Zeit entstanden ist, als die Wege von Juden und Christen auseinander gingen. Wenn sich Jesus dabei mit Dtn 6,4 explizit an Juden wendet: „Höre Israel...", so passt das kaum in eine Gemeinde, die sich mit ihrer Heidenmission an alle Völker wandte. Die Antwort des Schriftgelehrten enthält dazu Elemente, die fìir eine Christologie sehr spröde sind. Zunächst wiederholt er mit leichter Verkürzung die Worte Jesu: „Es gibt nur einen (KYRIOS)" - wie aus Mk 12,29 und Dtn 6,4 zu ergänzen ist. Dann aber fligt er zu Jesu Worten hinzu: „Und es

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gibt keinen anderen außer ihm". Kann eine Gemeinde solche Sätze hervorbringen, die Jesus als K Y R I O S neben dem einen Herrn verehrt?'^ Folgt im MkEv vielleicht deswegen nach der Lehre über das Doppelgebot der Liebe im sog. Davidssohngespräch eine Lehre über Jesus als K Y R I O S um durch Schriftzitate abzusichern, dass es doch einen K Y R I O S neben dem einen Gott geben darf (Mk 12,35-37)? In unserer Perikope ist schließlich nichts von der „Christologisierung" der Liebe zu spüren, wie sie im „neuen Gebot" in Joh 13,33f vollzogen wird. Das doppelte Gebot einer Liebe des Menschen zu Gott und seinem Nächsten wird im JohEv in der Tat ein „neues Gebot": einerseits eine Aussage über die Liebe Gottes zum Menschen, andererseits über die Liebe der Christen untereinander (Joh 13,33f). Das Gebot meint in beiden Fällen eine Liebe, die durch Christus vermittelt wird oder sich an ihm orientiert. Unser vorläufiges Fazit ist: Die breit bezeugte Überlieferung, die in ihrer ältesten Form (im MkEv) in deutlicher Spannung zu urchristlichen Tendenzen steht, dürfte im Kem auf Jesus zurückgehen.

2.2. Kontextplaiisibilität Femer ist zu zeigen, dass das Jesuswort in den Kontext des Lebens Jesu passt, d.h. im palästinischen Judentum im 1. Jh. n.Chr. gut vorstellbar ist und innerhalb dieses Kontextes eine individuelle Prägung zeigt. Wenig überzeugend ist das Argument gegen eine Lokalisierung des Liebesgebots in Palästina, dass das Nächstenliebegebot in Mk 12,28-34 mit dem Bekenntnis zum Monotheismus verbunden ist und in eine Umgebung weise, in der man sich vom Polytheismus der Umwelt abgrenzen musste. Das Bekenntnis zum Monotheismus, das schema, wurde auch von Juden in Palästina täglich zwei Mal gesprochen. Polytheismus begegnete dort in Gestalt von Römern und Syrern. Auch wurde der Monotheismus von der Steuerverweigerungskampagne des Judas Galilaios forciert vertreten:''' Aus dem Bekenntnis zum einen und einzigen Gott schloss er auf eine Unvereinbarkeit mit der Loyalität gegenüber dem Kaiser (Jos Ant 18,23). Emster zu nehmen ist dagegen das Argument, dass das Doppelgebot der Liebe eher aus dem hellenistischen Judentum ableitbar ist als aus dem palästinischen: Nur dort (bei Philo) finden wir eine Summierung der Thora in zwei (bzw. vier) Grundgeboten (SpecLeg 2,63). Nur dort ist die Auseinandersetzung mit dem Monotheismus akut.'' Dorthin weisen vielleicht die Ist das der Grund, warum Mt und Lk übereinstimmend das monotheistische Bekenntnis Mk 12,29 (= Dtn 6,4) und die Antwort des Schriftgelehrten Mk 12,32 weglassen? " Vgl. M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Merodes I. bis 70 n.Chr., AGAJU 1, Leiden/Köln: Brill ^1976, 102f. " G. Bomkamm, Das Doppelgebot der Liebe, in: Geschichte und Glaube I, Ges. Aufs. Bd. 3,

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nächsten Analogien zum Doppelgebot der Liebe in den TestXII. Nun ist die Gegenüberstellung von hellenistischem und palästinischem Judentum in dieser Form nicht mehr vertretbar. Aber das ist kein durchschlagendes Argument, denn es ist nach wie vor sinnvoll Belege aus dem (hellenistischen) Judentum in Palästina und in der Diaspora zu unterscheiden. Auch die folgende Argumentation wird das tun. Man kann nämlich zeigen, dass eine Entstehung des Doppelgebots der Liebe in der Diaspora aus vier Gründen eher unwahrscheinlich ist: 1. Die Nächstenliebe wird weder von Philo noch von Josephus als jüdisches Gebot hervorgehoben. 2. Die Belege für eine Hervorhebung des Nächstenliebegebots finden sich dagegen in eindeutig palästinischen Traditionen: bei Sir, in den Jub und in den Qumrantexten. 3. In der Diaspora hat man in der Regel zwei Dekaloggebote als die wichtigsten Gebote herausgehoben: die Gottesverehrung und das Elterngebot. 4. Wo im Diasporajudentum Zusammenfassungen der Thora in „Prinzipien vorliegen, handelt es sich nicht um das „Doppelgebot" der Liebe, sondern um längere Gebotsreihen. Alle vier Behauptungen seien nun im Einzelnen belegt, ad (1) Das Fehlen des Begriffs „Nächstenliebe" bei den jüdisch-hellenistischen Autoren Philo und Josephus ist in der Tat ein auffälliger Sachverhalt:'^ Philo schreibt einen Traktat über die Menschenliebe (die „Philanthropie"), zu der das Gesetz verpflichtet ohne das Gebot der NächstenMeht zu erwähnen (Virt 51-174). Er bezieht sich einmal sogar auf Lev 19,33f: Proselyten solle man „nicht nur wie Freunde und Verwandte, sondern wie sich selbst" lieben - nämlich wie den eigenen Leib und die eigene Seele (Virt 103f). Der Begriff des „Nächsten" fehlt. Er begegnet nur einmal beim Gebot dem zusammengebrochenen Esel des Feindes zu helfen (Virt 103f, vgl. Ex 23,5). Josephus gibt zwei Mal eine zusammenfassende Darstellung der Thora (Ant 4,176-301; Ap 2,190-219). In beiden fehlt das Nächstenliebegebot. Rücksicht auf Feinde und Tiere fasst er unter dem Begriff der „Sanftmut" und „Philanthropie" zusammen (Ap 2,213). Beide, Philo und Josephus, benutzen also den Begriff „Philanthropie" um das prosoziale

BEvTh 48, München: Kaiser 1968, 37-45, hält das Doppelgebot der Liebe zwar filr eine authentische Jesusüberlieferung, aber ohne die Einleitung des sch'ma, die er auf eine nachträgliche Hellenisierung zurückfflhrt (bes. S. 3 8 ^ 0 ) . " Der Begriff der Nächstenliebe fehlt nicht grundsätzlich bei jüdisch-hellenistischen Schriftsteilem. Ich nenne ein Beispiel: Der Enkel des Jesus Skach führt ihn in seine Übersetzung neu ein. Im hebräischen Urtext lesen wir Sir 13,19: „Jedes Fleisch liebt sein Gleiches und jeder Mensch den ihm Gleichgestellten". Daraus wird in der Lxx-Übersetzung: „Jedes Lebewesen liebt das, was ihm gleich ist, und jeder Mensch seinen Nächsten."

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Verhalten zu bezeichnen, das die Thora verlangt.'^ Beide charakterisieren mit diesem Begriff das Ethos des ganzen Vollces, obwohl er ursprünglich eine Tugend von Königen und Herrschern meint.'® Warum waren sie gegenüber dem Wort „Nächstenliebe" und „Nächster" so zurückhaltend? War „Nächstenliebe" für ein hellenistisches Publikum zu sehr mit räumlicher und ethnischer Nähe verbunden? Fürchteten Philo und Josephus durch Betonung der Nächstenliebe vielleicht jenes antijüdische Vorurteil zu bestätigen, dass es unter Juden „unerschütterlich treuen Zusammenhalt und hilfsbereites Mitleid" gebe, gegenüber anderen aber „feindseligen Hass" {apud ipsos fides obstinata, misericordia in promptu, adversus omnes alios hostile odium·. Tac Hist V,5,l)? In Widerlegung antijüdischer Vorurteile betont Josephus in der Tat, dass die Philanthropie seines Volkes nicht auf Volksangehörige beschränkt ist: „Ich meine nämlich, es ist offensichtlich, daß wir im Hinblick auf Frömmigkeit und Gemeinschaft untereinander und die allgemeine Philanthropie ... die bestgeeigneten Gesetze haben" (Ap 2,146). Die Philanthropie ist hier auf alle Menschen bezogen (sie ist eine προς την καθόλου φιλανθρωττίαν) und wird von den Verpflichtungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft (von den Pflichten der κοινωνία) unterschieden: Dieser apologetische Hintergrund wurde vielleicht durch ein schichtspezifisches Moment verstärkt. Charakteristisch fiir die Oberschicht im Imperium romanum war, dass sie überregionale Kontakte und Beziehungen pflegte. Philo und Josephus sind dafür gute Beispiele. Die „Nächstenliebe" aber wies auf Beziehungen zum unmittelbaren Nachbarn. Vielleicht war sie auch im Judentum eher Ausdruck der Nachbarschaftsethik des einfachen Volkes als ein Oberschichtideal. ad (2) Aufforderungen zur Nächstenliebe begegnen dagegen häufig in jüdischen Schriften aus dem palästinischen Raum. Die Mahnung zur Bruderliebe hat in testamentarischen Verftigungen einen natürlichen Ort. Im Buch Tobit mahnt der alte Tobit vor seinem Tod seinen Sohn, seine Brüder zu lieben (Tob 4,13). In den Jubiläen mahnt der sterbende Abraham zur Nächstenliebe (Jub 20,2); Rebekka und Isaak versuchen vor ihrem Tod vergeblich die Brüder Jakob und Esaù zur Bruderliebe zu verpflichten (Jub 35,20ff; 36,4). Die Qumrantexte enthalten Mahnungen zur Bruderliebe (CD 6,207,4; vgl. IQS 8,2) und lehnen sich dabei unverkennbar an Lev 19,18 an. Als die international verbreitete Goldene Regel auch ins Judentum eindringt, verbindet sie sich in palästinischen Traditionen mit der Nächstenliebe," so " Vgl. K. Berger, Gesetzesauslegung (s.o. Anm. 2), 123-125. " Vgl. C. Spicq, La philanthropie hellénistique, vertu divine et royale, StTh 12 (1958) 1 6 9 191; E. Plümacher, Art. φίλαι-θρωπία, EWNT^ III (1992) 1015. Als Tugend eines Herrschers erscheint die „Philanthropie" z.B. 2Makk 14,9; Arist 290. " Vgl. M. Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, ThR 52

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z.B. im hebräischen Text von Sir 31,15 „Erweise Freundschaft deinem Nächsten wie dir selbst, und alles, was du hassest, bedenke!" oder im Targum Pseudo-Jonathan zu Lev 19,18: „Und du sollst ihn, deinen Gefährten lieben, denn (etwas) von (dem), was du für dich hasst, sollst du ihm nicht antun." ad (3) Wenn jüdische Autoren in der Diaspora zwei Gebote der biblischen Überlieferung als Grundtugenden herausstellen, so wählen sie mit Vorliebe das erste und fünfte Dekaloggebot. Philo fordert: „Ehre nächst Gott Vater und Mutter!" (SpecLeg 2,235). Er begründet die Hervorhebung des Eltemgebots damit, dass es im Dekalog zwischen den Veφflichtungen gegenüber Gott und den Mitmenschen steht, da die Eltern als Geber des Lebens zwischen Gott und Menschen stehen (SpecLeg 2,224f). Für Josephus gilt dasselbe: Wahre Gottesverehrung ist das erste Gebot (Ap 2,190): „Die Ehrung der Eltern aber hat es (= das Gesetz) nach der Ehrung Gottes an die zweite Stelle gesetzt" (Ap 2,206). Zu dieser Zusammenstellung der beiden Gebote finden sich weitere Parallelen bei Pseudo-Phokylides: „Vor allen Dingen ehre du Gott, sodann deine Eltern!" (PsPhok 8). Die sibyllinischen Orakel stellen Juden als Menschen dar, die „allein den immer herrschenden Unsterblichen ehren und sodann die Eltern" (Sib 3,593f). Der Aristeasbrief hebt die Gottesverehrung als oberstes Gebot hervor (Arist 132) und nennt das Elterngebot ebenfalls ein großes Gebot (έντολή μεγίστη; Arist 228). Eine Nebeneinanderstellung von Elterngebot und Gottesverehrung findet sich (in dieser Reihenfolge) ebenfalls in der griechischen Übersetzung von Sir 7,27-30. Beide Gebote werden parallelisiert: „Von ganzem Herzen ehre deinen Vater ..." (Sir 7,27) und: „Von deinem ganzen Herzen fürchte Gott ..." (Sir 7,29). Da V. 27f nur in der griechischen Übersetzung enthalten ist, dürfte die Aussage zum Vater eine bewusste Erweiterung im griechischen Text sein.^" Woher stammt die Verbindung gerade dieser beiden Gebote? Philo könnte vom stoischen Gedanken beeinflusst sein, dass die Eltern als Geber des Lebens Abbilder der Götter sind.^' Aber die Hervorhebung gerade des ersten und fünften Gebots lässt sich auch aus innerjüdischen Voraus(1987) 327-400, dort 390-395. In den christlichen Traditionen wird diese Verbindung von Nächstenliebegebot und Goldener Regel weitergeführt: In der Ik Feldrede erscheint die Goldene Regel mitten im Feindesliebegebot (Lk 6,31). In der Didache folgt sie ihm als der zweiten Maxime auf dem Weg zum Leben (Did 1,2). Und in der Epistula Apostolorum lesen wir: „Liebet eure Feinde, und was ihr nicht wollt, das man euch tue, das tut auch ihr keinem andern" (EpAp 18). Auch Justin erläutert in Dial 93,2f das Nächstenliebegebot durch die Goldene Regel. Im MtEv sind beide Grundsatzformulierungen zwar getrennt, werden jedoch als Zusammenfassungen von „Gesetz und Propheten" sachlich eng aufeinander bezogen (Mt 7,12; 22,40). Das wäre ein analoger Prozess wie in Sir 13,14f, wo in der griechischen Oberlieferung sekundär die Gottesliebe vor die Nächstenliebe eingeschaltet wird. Vgl. H. V. Arnim, Hierokles ethische Elementarlehre, Berliner Klassikertexte Heft IV, Berlin: Weidmann 1906, 50f; K. Berger, Gesetzesauslegung (s.o. Anm. 2), 284ff.

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Setzungen heraus verständlich machen: Das erste Gebot leitet die religiösen, das Eltemgebot die sozialen Pflichten des Dekalogs ein. Das erste Gebot erinnert in der Präambel an die Herausfuhrung aus Ägypten. Das Eltemgebot verheißt langes Leben im Land Israel. Auch der Epheserbrief hebt es als das erste Gebot heraus, das eine Verheißung hat (Eph 6,2). Diese beiden Gebote sind also mit den Grunddaten der Geschichte Israels verbunden, mit dem Exodus aus Ägypten und der Landnahme. ad (4) Nun wird immer wieder angeführt, dass wir nur bei Philo eine Zusammenfassung der Prinzipien der Thora finden. Philo spricht vom Synagogengottesdienst, an dem die Juden jeden Sabbat ihre „Philosophie" studieren und sich in ihr unterweisen lassen. Ihre Philosophie fasst er so zusammen: „Und es gibt so zu sagen zwei Grundlehren, denen die zahllosen Einzellehren und Sätze untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Menschenliebe und Gerechtigkeit, jedes dieser beiden zerfällt wieder in vielfache, durchwegs rühmenswerte Unterarten" (SpecLeg 2,63). Philo folgt hier einer allgemeinen antiken Tradition zwei Hauptgruppen von Pflichten zu unterscheiden: die Pflichten gegenüber den Göttern und den Menschen. Wenn er aus diesen zwei Grundprinzipien vier Tugenden macht: ευσέβεια, όσιότης, φιλανθρωπία und δικαιοσύνη, so ist das möglicherweise ein Versuch in Analogie zu den vier Kardinaltugenden der paganen Philosophie vier Grundwerte der jüdischen Religion zu formulieren. Auf jeden Fall löst er die zwei Grundgebote in mehrere Forderungen auf. Er wählt nicht den Begriff „Liebe". Dort wo wir aber die Gottes- und Nächstenliebe uiunittelbar nebeneinander finden - in den Testamenten der XII Patriarchen - sind wir keineswegs sicher, dass es sich um Diasporaschriften handelt. Sie könnten auch in Palästina entstanden sein. Fragmente wurden in Qumran geflmden.^^ Wir sind nicht einmal sicher, ob die weisheitlich-paränetischen Abschnitte, die das doppelte Liebesgebot enthalten, zur ältesten Schicht gehören, die in die Zeit vor das Neue Testament zurückführt. Selbst wenn man aber eine Entstehung der TestXII in der Diaspora und in vorchristlicher Zeit aimimmt, muss man anerkennen, dass in ihnen die Mahnungen zur Nächstenliebe immer neben anderen Geboten stehen und insofern relativiert werden. Teils stehen sie in betonter Stellung am Anfang paränetischer Reihen (TestSim 4,7; TestSeb 8,5; TestBenj 3,1-3), teils an ihrem Ende (TestRub 6,9; Testlss 7,6; TestDan 5,Iff), teils bilden sie am Anfang und Ende einen Rahmen (vgl. TestGad 6,Iff mit 7,7). Kurz: Entweder finden wir eine Re-

" Es handelt sich außer beim Testament Levi (1Q21·, 4Q213-214; 4Q540; 4Q541) nur um unbedeutende Fragmente: zum Testament des Josef 4Q539; zum Testament des Juda 3Q07, zum Testament Naphthali 4Q215. Das Liebesgebot ist in ihnen nicht belegt.

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duktion auf zwei Gebote (wie bei Philo), dann aber ist nicht von Liebe die Rede. Oder es ist von Gottes- und Nächstenliebe die Rede (wie in den TestXII), dann aber fehlt die Konzentration auf zwei Gebote. Unser Fazit ist: Wirkungs- und Kontextplausibilität sprechen dafür, dass Jesus selbst das Doppelgebot der Liebe gelehrt hat. Es ist ungewöhnlich breit in der urchristlichen Überlieferung bezeugt. Wenn es auf Jesus zurückginge, wäre das verständlich. Hinzu kommt, dass es in seiner ältesten Gestalt bei Mk mit tendenzspröden Akzenten verbunden ist: Das mk Doppelgebot der Liebe kann keine urchristliche Schöpfung sein, da sein Monotheismus die Verehrung Jesu als Herrn neben Gott ausschließt und das positive Bild vom Schriftgelehrten in eine Zeit vor die grundsätzlichen Spannungen zwischen Christen und Juden weist. Es handelt sich um eine alte Tradition. Wenn sie im 1. Jh.n.Chr. die Thora in (Gottes- und) Nächstenliebe zusammenfasst, so geschah das eher in Palästina als in der Diaspora. Außerhalb Palästinas sprach man von „Philanthropie". Als die beiden wichtigsten Gebote galten dort die Verehrung Gottes und der Eltern. Für Palästina gibt es dagegen mehrere Belege, welche die Nächstenliebe - sei es als letzte testamentarische Mahnung, sei es durch Verbindung mit der goldenen Regel - besonders hervorheben. Hier ist es prinzipiell denkbar, dass jemand aus zwei Bibelzitaten das Doppelgebot der Liebe zusammenstellt. So wie es in der Jesusüberlieferung vorliegt, hat es auf jeden Fall individuelle Akzente gegenüber allen jüdischen Vorgängern, so dass das Kriterium kontextuell gebundener Individualität bestens erfüllt wird: Nirgendwo sonst werden die beiden atl. Bezugstexte explizit zitiert, nummeriert und dadurch deutlich getrennt. Nur in der Jesusüberlieferung wird die „Vernunft" betont.^^ Aber vielleicht können wir noch einen Schritt weiter kommen bei der Suche nach dem Ursprung des doppelten Liebesgebots.

" Charakteristisch ist femer die Struktur der Antwort Jesu auf die Frage nach dem größten Gebot. Eigentlich wäre diese Frage mit dem Bekenntnis zum Monotheismus und Dtn 6,4 voll beantwortet. Ungefragt fügt Jesus eine überschießende Antwort hinzu: das Nächstenliebegebot. Das erinnert in der Struktur an das Streitgespräch über die Steuer. Gefragt ist, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen. Mit der Antwort: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist", wäre diese Frage beantwortet. In dem überschießenden Teil liegt auch hier die Pointe: und gebt Gott, was Gottes ist" (Mk 12,17). Vergleichbar ist ferner das Streitgespräch über die Auferstehung (Mk 12,18-27). Gefragt ist, wem eine Frau, die in Leviratsehe nacheinander mit fünf Brüdern verheiratet gewesen war, im Jenseits angehören werde. Die Antwort ist, dass Geschlechtsunterschiede bei der Auferstehung wegfallen werden. Ungefragt fügt Jesus auch hier eine Aussage über Gott hinzu: Die Fragesteller verkennen die Macht Gottes, wenn sie an der Auferstehung zweifeln. Denn der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist ein Gott der Lebenden. Beim Streitgespräch über die Steuern und die Auferstehung wird ungefragt jeweils ein Hinweis auf Göll hinzugefügt. Bei der Frage nach dem höchsten Gebot steht die Aussage über Gott am Anfang. Ungefragt wird das Gebot der Nächslenliebe hinzugefügt. Auf ihm liegt daher ein deutlicher Akzent.

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3. D a s Doppelgebot der Liebe - eine Tradition Johannes des Täufers? Die synoptischen Evangelien legen eindeutig den Schluss nahe: Jesus hat das (Doppel-) Gebot der Liebe nicht erfunden. Der Schriftgelehrte in Lk 10,25-28 kennt es unabhängig von ihm, in Mk 12,28-34 stimmt er ihm spontan zu. Im Urchristentum wird es unter Jesu Namen, aber auch anonym überliefert. Ich rechne damit, dass Jesus es schon in seiner Tradition gefunden hat. Konkret vermute ich, dass entweder Johannes der Täufer selbst das Doppelgebot der Liebe schon lehrte oder zwei grundlegende Gebote kannte, die Jesus als Doppelgebot der Liebe variiert oder konkretisiert hat. Die ethische Verkündigung des Täufers ist uns weitgehend verloren. Vieles dürfte als Jesuswort erhalten worden sein. Die Existenz einer sehr viel breiteren ethischen Lehre des Johannes dürfen wir aber als sicher postulieren. So legt Lk dem Täufer die sog. Standespredigt in den Mund (Lk 3,10-14), ergänzt also die Forderung angesichts des Gerichts zu Gott umzukehren durch ethische Mahnungen. Das stimmt im Prinzip mit dem Bericht des Josephus über Johannes den Täufer überein. Danach bestand die Predigt des Täufers im Einschärfen der „Frömmigkeit gegenüber Gott" und der „Gerechtigkeit untereinander" (Jos Ant 18,117): Kieívei γαρ δή τούτον Ηρώδης άγαθόν ανδρα και τοις Ίουδαίοι,ς κ€λ6ύοντα άρετήν έπασκοΰσιν καΐ τά ιτρός αλλήλους δικαιοσύνη και προς τον θών euoeßeia χρωμένοις βαπτισμω συνιέναι·

Diesen nämlich tötete Heredes, obwohl er ein Mann von guter Gesinnung war und die Juden dazu aufforderte, (zunächst) Tugend zu üben und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu praktizieren und (dann) zur Taufe zu kommen.

ουτω γαρ δή και την βάιττισιν άποδ€κτήν αύτώ φαν6ΐσθαι μη έττί τίνων άμαρτάδων παραιτήσει χρωμένων, άλλ' έφ' άγνεία τοΟ σώματος, axe δή και της ψυχής δικαιοσύνη προεκκεκαθαρμένης.

Denn so schien ihm [Gott] die Taufe wirklieh angenehm zu sein, wenn sie sie nicht zur Abbitte fur irgendwelche Sünden, sondem zur Reinigung des Leibes ausübten, zumal auch die Seele durch (ein Leben in) Gerechtigkeit vorher bereits gereinigt sei.

Das Nebeneinander von „Frömmigkeit" und „Gerechtigkeit" variiert die uns vertraute Formel von den Grundpflichten gegenüber Gott und den Menschen. Es handelt sich um eine hellenistische Formel. Aber der durchgehend hellenistisch gefärbte Bericht über den Täufer enthält zweifellos historische Information. Denn die Aussage des Josephus, dass der Täufer „Gerechtigkeit" lehrte, wird nicht nur durch die lk Standespredigt bestätigt, sondern findet auch ein Echo im MtEv. Mt bringt sieben Mal den Begriff

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„Gerechtigkeit", davon fünf Mal in der Bergpredigt als Zusammenfassung der Forderungen Jesu, zwei Mal jedoch außerhalb der Bergpredigt - und in diesen beiden Fällen verbindet er den Begriff mit dem Täufer. Der mt Jesus lässt sich von ihm taufen, damit alle Gerechtigkeit erfüllt werde (Mt 3,15). Er betont, dass der Täufer „auf dem Weg der Gerechtigkeit" kam (Mt 21,32). Man kann also nicht von vornherein sagen, dass Josephus mit der hellenistischen Doppelformel von der „Gerechtigkeit und Frömmigkeit" etwas in den Täufer hineinlegt, was in dessen Leben nicht enthalten war. Auffällig ist femer, dass ihn Mk in der Geschichte von seiner Hinrichtung als „gerechten und heiligen Mann" (αι^δρα δίκαιον και αγιον) charakterisiert (Mk 6,20) - also mit einer Doppelformel, die inhaltlich mit „gerecht und fromm" (δίκαιος καΐ εύσίβής) eng verwandt ist. Was Josephus über die „Gerechtigkeitspredigt" des Täufers sagt, kann man daher nicht als Erfindung abtun. Achtet man nun bei Josephus selbst auf die Kombination von „Frömmigkeit und Gerechtigkeit", so wird man feststellen, dass er sehr häufig Menschen mit diesen Attributen charakterisiert,^'' dass aber der Täufer allen gegenüber ein Proprium hat: Er ist nicht nur fromm und gerecht, er lehrt Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Diese Lehre kann man deshalb nicht einfach als schematische Darstellung des Josephus relativieren, der den Täufer den ihm vertrauten Kanon der zwei Tugenden lehren lässt. Einmal können wir йЬефгй?еп, was hinter der Doppelformel „Frömmigkeit und Gerechtigkeit" stehen könnte. Im Blick auf den Eintrittseid der Essener benutzt Josephus nämlich diese hellenistische Formel: „Bevor er (der Novize) jedoch die gemeinsame Speise anrührt, schwört er ihnen furchtbare Eide, erstlich die Gottheit zu verehren (6ύσ€βήσ€ΐν), dann das, was den Menschen gegenüber gerecht ist (δίκαια), zu bewahren ..." (Bell 2,139). Damit trifft Josephus das, was nach IQS 1,3 ff die Grundveφflichtung im essenischen Bund ist: „alles zu lieben, was er (= Gott) erwählt hat, und alles zu hassen, was er verworfen hat; sich femzuhalten von allem Bösen, aber

^^ Bei David und Salomo begegnet die Trias Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit (Ant 6,160; 7,338). In der Regel aber finden wir nur die beiden ersten Tugenden. Salomo ist fromm und gerecht (7,356.374), ebenso Asa (8,314), Josaphat (8,394; 9,16), Jotham (9,236), Hezekia (9,260), Josia (10,50), Antipater (14,283). Der Essener Menahem empfiehlt die Gerechtigkeit dem Merodes - als Frömmigkeit gegenüber Gott und Billigkeit gegenüber den Menschen (15,375). Sein Tempelbau ist davon motiviert (15,384). Fromme und Gerechte werden durch Frieden und Ordnung belohnt (7,341; vgl, ferner 8,121.280.300; 12,56; 14,315; 15,182). Und in den jüdischen Sitten entspricht alles der Frömmigkeit und Gerechtigkeit (16,42). Auch die Essener entsprechen diesem Bild (Bell 2,139). Nirgendwo tritt aber bei Josephus jemand auf um Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu lehren - mit Ausnahme des Täufers. So C. Park, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth. Eine sozio-redaktionelle Untersuchung zu ihrem Bild bei Josephus und Lukas, Diss, theol. Heidelberg 1997, 20f.

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anzuhangen allen guten Werken; und Treue, Gerechtigkeit und Recht zu tun im Lande". Hinter der Formel eüoeßeioa und δικαιοσύνη bei der Charakterisierung der Täufeφredigt steht ziemlich sicher eine sehr viel reichhaltigere ethische Verkündigung des Täufers als sie uns überliefert ist. Teile von ihr werden uns indirekt in der Lehre Jesu erhalten sein. Könnte daher nicht schon der Täufer die Grundlagen dafür gelegt haben in zwei Geboten die Thora zusammenzufassen? Setzt Jesus nur seine Lehre fort?^' Nachdenklich sollte auf jeden Fall machen, dass Justin das Doppelgebot der Liebe mit denselben Stichworten einfflhrt, mit denen Josephus die Predigt des Täufers zusammenfasst: „Darin scheint mir unser Herr und Heiland Jesus Christus recht zu haben, der gesagt hat, daß alle Forderangen der Gerechtigkeit (δικαιοσύνην) und Frömmigkeit (eüoeßeiav) mit der Beachtung zweier Gebote erfüllt werden. Dieselben lauten aber: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Kraft und den Nächsten wie dich selbst." (Dial 93,2). Ein wenig später fasst er das Doppelgebot der Liebe (in seinen beiden Teilen!) noch einmal als „Gerechtigkeit" zusammen (Dial 93,3). Die Frömmigkeit kann also ggf auch unter diesem Oberbegriff subsumiert werden. Natürlich bleibt es eine Vermutung, dass sich hinter der Zusammenfassung der Lehre des Täufers durch „Frömmigkeit" und „Gerechtigkeit" wie bei Justin das Doppelgebot der Liebe verbirgt. Wir können nur so viel sagen: Ziemlich sicher hat der Täufer eine Zusammenfassung der ethischen Forderungen Gottes in zwei grundsätzlichen Geboten vertreten. Das lässt sich aus dem Bericht des Josephus erschließen. Es ist möglich, dass es sich dabei um das doppelte Liebesgebot handelte, aber es könnte auch sein, dass Jesus die Lehre seines Meisters in diesem Sinne weiter entwickelt hat. Da in Jesusüberliefemngen das Doppelgebot der Liebe schon als bekannt vorausgesetzt wird, neige ich dazu es dem Täufer zuzutrauen. Nach all diesen Überlegungen darf man als Ergebnis festhalten: Auch wenn es in historischen Fragen immer nur Wahrscheinlichkeitsurteile gibt, so ist es nach allem wahrscheinlicher, dass Jesus selbst das Doppelgebot der Liebe formuliert hat, als dass es in einer urchristlichen Gemeinde entstand. Jesus setzt damit eine jüdische Tradition fort. Er bringt kein neues Gebot. Er formuliert ein altes Gebot in neuer Weise.

Ich bin sicher, dass uns unter den Worten und Gedanken Jesu viele Worte und Gedanken des Täufers - für uns unerkennbar - erhalten sind. Wenn der Täufer z.B. sagt, dass Gott dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken kann (Mt 3,9), dann ist die Vorstellung, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ein Gott der Lebendigen ist, eine Fortführung dieses Gedankens (vgl. Mk 12,18-27).

Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen' Beschneidung, Sabbat und Speisegebote sind soziale und religiöse Identitätsmerionale des Judentums.^ Wer, wie die Anhänger Jesu im 1. Jh., aufhört sie zu praktizieren, vertritt entweder ein anderes Konzept jüdischer Identität oder verlässt das Judentum. Bis heute ist umstritten, ob dieser Exodus aus dem Judentum schon mit Jesus beginnt oder durch ihn zumindest vorbereitet wurde. Entscheidend ist dabei, was die Jesusüberlieferung zu den Identitätsmerkmalen des Judentums sagt. Sie kennt kein kritisches Wort zur Beschneidung. Der historische Jesus hat sie nie in Frage gestellt; erst der „apokryphe" Jesus des Thomasevangeliums kritisiert sie (EvThom 53). Die Sabbatkonflikte können nicht als grundsätzliche Infragestellung des Sabbats interpretiert werden; bei ihnen geht es um die Frage, ob allgemein zugestandene Ausnahmeregeln extensiv verstanden werden können. Nur bei den Speisegeboten verfögten die ersten Christen über eine alte Jesustradition, Mk 7,15, die man als grundsätzliche Kritik an den levitischen Reinheitsgesetzen und an der Unterscheidung von reinen und unreinen Speisen verstehen konnte - und im Urchristentum auch so verstanden hat. Das zeigt die Auslegung, die der mk Jesus ihr gibt und die als Reinerklärung aller Speisen gilt (Mk 7,19). Das Reinheitslogion Mk 7,15 hat daher immer eine besondere Rolle gespieh, wenn es darum geht die Trennung von Juden und Christen im 1. Jh. historisch zu erklären. Nicht nur die ersten Christen sahen in diesem Logion einen Bruch mit einer jüdischen Grundüberzeugung, sondern auch moderne Exegeten. Hier ' Ich grüße mit diesem Aufsatz W. Schräge, einen meiner Lehrer im Neuen Testament, zu dessen Vorlesung über das MkEv ich einmal ein begleitendes Tutorium veranstaltete. Seit jenen Zeiten hat mir das „radikale" Verständnis von Mk 7,15 mehr eingeleuchtet als alle Abmilderungsversuche. Auch W. Schräge, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 5., neubearb. und erv»'. Aufl., (2. Aufl. dieser neuen Fassung) 1989, 71, vertritt es bis heute. Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch an ihm festzuhalten und dennoch keine falschen Gegensätze zwischen Christentum und Judentum zu konstruieren. Für Hilfe bei der Fertigstellung und Korrektur der Zitate danke ich Aimette Weißenrieder und Alexandra Podraza. Der Aufsatz erschien zum ersten Mal in: K. Wengst, Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schräge, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1998, 235-251 und wurde überarbeitet und ergänzt. ^ Für die uns besonders interessierenden Speisegebote vgl. Dan l,8ff; Tob 1,1 Off; IMakk l,48.62f; 2Makk 6,18ίΤ. Für die daraus sich ergebenden Kommunikationshindemisse zwischen Juden und Heiden vgl. Arist 139ff; Tac Hist V,4f; Jub 16. Zum allgemeinen Verständnis der Reinheitsgesetze vgl. D. P. Wright, Art. Unclean and Clean (ОТ), ABD VI (1992) 729-741, und H. Hübner, Art. Unclean and Clean (NT), ebd. 741-745.

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wird aus dieser Kritik sogar ein Bruch mit dem Judentum überhaupt. Als Emst Käsemann mit seinem Vortrag „Das Problem des historischen Jesus" 1953 die „neue Frage" in der Jesusforschung einleitete, war das Reinheitslogion neben den Antithesen und den Sabbatkonflikten ein Grundpfeiler seiner Anschauung, dass schon bei Jesus ein Exodus aus dem Judentum beginne. Das Wort entsprach in idealer Weise seinen Authentizitätskriterien. Es ließ sich nicht aus dem Judentum ableiten und wurde im Judenchristentum (hier: bei Mt) eher relativierend interpretiert. Zum „Streit um das Reinheitsgesetz" schreibt er: „Wieder hat Matthäus offensichtlich gemeint, Jesu Angriff gähe nur dem Rabbinat und Pharisäismus mit ihren Verschärftmgen der Thoraforderung. Aber wer bestreitet, daß die Unreinheit von außen auf den Menschen eindringt, trifft die Voraussetzungen und den Wortlaut der Thora und die Autorität des Moses selbst. Er trifft darüber hinaus die Voraussetzungen des gesamten antiken Kultwesens mit seiner Opfer- und Sühnepraxis."^ Die sich hier äußernde Souveränität Jesu erschüttere „die Grundlagen des Spätjudentums" und verursache darum „entscheidend seinen Tod" - gemeint ist wohl Jesu Tod (nicht der des Spätjudentums).'' Wir sehen heute eine Tragik darin, dass Theologen wie E. Käsemann, die vorbildlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus widerstanden haben, theologisch einen Antijudaismus vertraten. Jesus steht ftir ihn nicht nur zu einigen jüdischen Traditionen in Sparmung, er zerbricht die Sphäre „spätjüdischer Frömmigkeit".' Dieser Antijudaismus wird nur wenig dadurch gemildert, dass mit dem „antiken Kultwesen" jede Religion kritisiert wird (und auch das Christentum, sofern es an allgemeinen religiösen Strukturen teilhat).^ Inzwischen hat sich die Jesusforschung von dem Leitgedanken der „neuen Frage" gelöst durch historische Forschung nachweisen zu müssen, dass ^ E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964, 187-214, dort S. 207. " E. Käsemann, Problem (s.o. Anm. 3), 208. ^ Bei E. Käsemann, Problem (s.o. Anm. 3), 208, steht ein Satz, den ich in der ersten Fassung dieses Aufsatzes wohl dahingehend missverstanden habe, dass Jesus den Tod des Spätjudentums verursacht habe: „Jesus hat mit einer unerhörten Souveränität am Wortlaut der Tora und der Autorität des Mose vorübergehen können. Diese Souveränität erschüttert nicht nur die Grundlagen des Spätjudentums und verursacht darum entscheidend seinen Tod, sondern hebt darüber hinaus die Weltanschauung der Antike mit ihrer Antithese von kultisch und profan und ihrer Dämonologie aus den Angeln." Den Akkusativ „seinen Tod" habe ich in der ersten Veröffentlichung dieses Aufsatzes auf das „Spätjudentum" bezogen. Der Satz ist grammatisch nicht eindeutig. Aufgrund eines Hinweises von D. Zeller möchte ich ihn aber heute eher auf Jesus beziehen. Es könnte sein, dass ich dem von mir geschätzten E. Käsemann zu Unrecht den Gedanken vom „Tod des Spätjudentums" zugeschrieben habe, was ich bedaure. ' Auch diese Verallgemeinerung der Kritik am Judentum, welche die eigene Religion mit einbezieht, kann theologisch und ethisch problematisch sein: Was in der eigenen Religion kritikwürdig ist, gilt als Ausdruck einer jüdischen Grundhaltung.

Das Reinheitslogion Mk 7,15

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mit Jesus implizit das Christentum begonnen und das Judentum verlassen wurde. Die sog. „dritte Frage" nach dem historischen Jesus hat sich von solchen Legitimationsproblemen christlichen Glaubens emanzipiert und ordnet Jesus entschieden in seinen historischen Kontext ein - und das heißt: ins Judentum. Hinsichtlich des Reinheitslogions gelangt man dabei zu folgender Alternative: Auf der einen Seite wird das Reinheitslogion relativierend gedeutet; es sage nicht, dass es keine äußere Reinheit gebe, sondern dass innere wichtiger als äußere Reinheit sei.^ Oder es wird als eine rhetorische Hyperbel verstanden, die nicht grundsätzlich gemeint sei.^ In dieser Weise relativiert kann das Wort analog Mt 23,25f im Sinne eines Vorrangs des Inneren vor dem Äußeren verstanden und dem historischen Jesus (oder einer jüdischhellenistische Traditionen aufnehmenden urchristlichen Gemeinde)' zugeschrieben werden. Auf der anderen Seite wird das Reinheitslogion radikal, d.h. als grundsätzliche Aufhebung des Reinheitsgedankens, verstanden. Dann muss es dem historischen Jesus abgesprochen werden und einer gesetzeskritischen Strömung im Urchristentum zwischen Jesus und Paulus zugeschrieben werden.'" Ein wichtiges Argument gegen die Authentizität ist dabei die Überlegung: Hätte Jesus selbst eine so eindeutige Stellungnahme zur Reinheitsfrage hinterlassen, so wäre der Streit um Reinheitsfragen im nachösterlichen Urchristentum unverständlich. Die Wirkungsgeschichte des Logions spielt hier eine entscheidende Rolle. Wir finden somit heute (einschließlich der älteren Auslegungstradition, die E. Käsemann vertritt) vier Positionen vor, die in folgender Tabelle zusammengestellt sind: ' Vgl. die Auslegung von R. P. Booth, Jesus and the Laws of Purity. Tradition History and Legal History in Mark 7, JSNTS 13, Sheffield: JSOT Press 1986; T, Holmén, Jesus and Jewish Covenant Thinking, Biblical 1тефге1а11оп Series 55, Leiden u.a.: Brill 2 0 0 1 , 2 3 7 - 2 4 9 . Martin Ebner, Jesus - ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, HBS 15, Freiburg u.a.: Herder 1998, 217-248, denkt an den Gegensatz von Unreinheit durch Essen und durch Sprechen und formalisiert diesen Gegensatz zu Unreinheit durch passives Berührtwerden und aktives Tun (242). ' So U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1/2, Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn: Benziger/Neukirchener 1990, 424: Mk 7,15 ist im Munde Jesu „eine zugespitzte rhetorische Formulierung". ' So K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament Bd. I, WMANT 40, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1972, 461-507, bes. 476ff: Viele Parallelen im hellenistischen Judentum zeigen, „daß die christliche Gemeinde eindeutig an jüdisch-hellenistischer Tradition partizipiert" (477). So in zwei scharfsinnigen Essays H. Räisänen, Zur Herkunft von Markus 7,15, in: ders., The Torah and Christ. Essays in German und English on the Problem of the Law in Early Christianity, SESJ 45, Helsinki: Kirjapaino Raamattutalo 1986, 209-218; ders., Jesus and the Food Laws. Reflections on Mark 7,15, in: ders., Torah, 219-241.

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radikales Verständnis relativierendes Verständnis =jüdisch = unjüdisch authentisches Jesuswort

E. Käsemann u.a.

R. P. Booth u.a.

urchristliche Gemeindebildung

H. Räisänen u.a.

K. Berger

Im Folgenden soll die Prämisse aller drei Positionen in Frage gestellt werden. Diese Prämisse lautet: Ein radikales Verständnis ist dem historischen Jesus nicht zuzutrauen, wenn er historisch in den Rahmen des Judentums eingeordnet werden soll, zumal die Wirkungsgeschichte zeigte: Das Urchristentum verfugte nicht über eine eindeutige Stellungnahme Jesu zu Reinheitsfragen; nur daher waren sie umstritten. Oder umgekehrt: Ist das Reinheitslogion in seinem radikalen Sinn authentisch, dann gehört Jesus nicht ins Judentum hinein und die Wirkungsgeschichte zeigte, dass Jesus in seiner Radikalität nicht von allen seinen Anhängern verstanden wurde. Demgegenüber soll gezeigt werden: (1) Ein radikales Verständnis des Logions ist das wahrscheinlichste. Es erklärt (2) am besten die urchristliche Wirkungsgeschichte imd ist (3) im jüdischen Kontext des Wirkens Jesu vorstellbar.

1. Das radikale Verständnis des Reinheitslogions Das relativierende Verständnis von Mk 7,15 versteht das Verhältnis von negativer und positiver Hälfte des Logions im Sinne einer gradualistischen Steigerung. Sinngemäß sage das Logion: „Nicht nur, was in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern noch mehr, was aus ihm herauskommt."" Um solch ein Verständnis sprachlich plausibel zu machen nimmt man eine „weiche" semitische Negation'^ in der ersten Logienhälfte an nach dem Modell von Mk 9,37: „Wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat." Natürlich ist hier vorausgesetzt, dass Jesus in Gestah des schutzbedürftigen Kindes aufgenommen wird. Dann aber wird diese Aussage überboten: Mit Jesus nimmt man sogar Gott selbst auf. Prinzipiell ist also ein solches weiches Verständnis von „nicht... sondern" (ού ... άλλά) im MkEv denkbar. Nur schließt die genaue Formulierung in Mk 7,15 ein solches Verständnis aus. Es steht dort ja nicht: „Nicht was in den Menschen hineinkommt, macht unrein", sondern: gibt nichts, das von außen in den Menschen hineinkommt, das ihn unrein " Vgl. R. P. Booth, Jesus (s.o. Anm. 7), 69-71; S. Westerholm, Jesus and Scribal Authority, CB.NT 10, Lund: Gleerup 1978, 83. Vgl. H. Kruse, Die „Dialektische Negation" als semitisches Idiom, VT 4 (1954) 385-400.

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machen kann.''" Es wird nicht nur faktische Verunreinigung in Abrede gestellt, sondern die Möglichkeit von Verunreinigung durch äußere Dinge überhaupt (ού δύναται). Die Negation ist eindeutig: Es gibt überhaupt nichts, was verunreinigen kann (ουδέν έστιν). Zur Veranschaulichung greifen wir noch einmal auf unser Beispiel in Mk 9,37 zurück. Stünde dort: „Es gibt niemanden, der mich aufnehmen kann ...", so wäre in der Tat geleugnet, dass man Jesus - in welcher Gestalt auch immer - aufnehmen kann. Die einzige Näherbestimmung der verunreinigenden Dinge liegt in 7,15 darin, dass sie in den Menschen hineinkommen. Der vorhergehende Kontext hatte das Problem der Reinigung von Händen vor dem Essen angesprochen. Das Logion passt schlecht zu diesem Problem. Denn Wasser, mit dem man Hände wäscht, kommt nicht in den Menschen hinein. Es bleibt ihm äußerlich - ein Zeichen dafür, dass der ursprüngliche Sinn des Logions unabhängig vom vorhergehenden Kontext bestimmt werden muss. Was in den Menschen hineinkommt, sind im Grunde nur Speisen.'^ Auf sie zielt die Deutung im folgenden Kontext. Das Logion sagt ursprünglich in seiner ersten (negativen) Hälfte: Es gibt grundsätzlich keine Speisen, die den Menschen verunreinigen können. W. G. Kümmel, Äußere und innere Reinheit des Menschen bei Jesus (1973), in: Heilsgeschehen und Geschichte II, MThSt 16, Maiburg: Elwert, 1978, 117-129, bestreitet die Beziehung von Mk 7,15 nur auf Speisen durch einen Rückschluss von V. 15b auf 15a: Aus dem Innern des Menschen gehen gewiss nicht nur Worte durch den Mund hinaus, sondern aus ihm stammen alle Gedanken und Taten. Daher sei der Sinn von Mk 7,15, „daß keine von außen kommenden Einwirkungen auf den Menschen ihn vor Gott unrein machen können, dass aber sehr wohl menschliche Worte und Taten ihn vor Gott unrein tnachen" (S. 133). Aber der Text spricht nicht von Einwirkungen auf den Menschen, sondem von etwas, das in den Menschen hinein kommt. Und das gilt nur für Speisen. So mit Recht H. Räisänen, Torah (s.o. Anm. 10), 223. Das Logion wählt mit άσπορΕύίοθαι. (Hineinfahren) einen merkwürdigen Begriff um die Einnahme von Speisen zu bezeichnen. Nach Mk 4,19 fahren die „Sorgen der Welt und der betrügerische Reichtum und die Begierden" in den Menschen hinein; nach Herrn mand 12,5,4 ist es der Teufel selbst, der in die Menschen „hmeinfährt" (ίΙσπορβυΜθαι), nach Mk 5,12 sind es Dämonen, die in ihn hineinkommen (cloeXetii'). Weist die ungewöhnliche Wortwahl auf die Vorstellung, dass mit den Speisen dämonische Macht in die Menschen hineingelangen kann? Vgl. O. Böcher, Art. Dämonen I und IV, TRE 8 (1981) 270-274.279^286; dort S. 281: Dämonen dringen durch die Körperöfibungen (also u.a. beim Essen) in den Menschen ein. Besonders Fleisch und Wein gelten als dämonisch infiziert und infizierend. Falls in Mk 7,15 dämonische Assoziationen vorliegen, könnte man das Logion mit der exorzistischen Vollmacht Jesu in Verbindung bringen: Dämonen sind „unreine Geister" (vgl. Mk 1,23.27; 3,11.30 u.ö.). Vor Jesus flieht mit ihnen das „Unreine" schlechthin. - Unbefriedigend ist die Streichung von ίίσπορίυόμίνοί' elç αύτόν und έκπορΕυόμίΐΌ in Mk 7,15 durch W. Paschen, Rein und Unrein, StANT 24, München: Kösel 1970, 174, weil sie „ohne sachlichen Verlust und fast ohne grammatischen Ersatz" ausgeschieden werden können. Aber die Streichung fuhrt zur sachUchen Bedeutungsveränderung. Die Begrenzung des Unreinen (vermutlich auf Speisen) wird aufgehoben. Und grammatisch erwartet man nach τα €κ τοΟ άι^ρώττου ein Verb der Bewegung. Vgl. R. P. Booth, Jesus (s.o. Anm. 7), 46.71. - Es würde sich an der oben gegebenen 1п1ефге1а11оп nichts ändern, wenn man mit M. Ebner, Jesus, 217-220, in Mk 7,18-20 die gegenüber Mk 7,15 ursprünglichere Fassung des Logions sieht. Aber sollte die ursprünglichere Fassung wirklich in der

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Aber woran ist in der zweiten, positiven Hälfte des Logions gedacht, wenn es heißt: „Was aus dem Menschen herausfährt, das verunreinigt den Menschen"?" Auch hier ist die genaue Formulierung zu beachten. Sie ist nicht in jeder Hinsicht parallel zur ersten Hälfte des Logions. Es heißt nicht: „Nur was von innen aus dem Menschen herauskommt, kann ihn verunreinigen". Vielmehr wird als Faktum festgestellt: „Was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, was den Menschen unrein macht." Bezieht man diese Worte (wie im folgenden Kontext) auf innere Gedanken, Pläne und Handlungen, so kommt man in Verlegenheit. Gibt es denn nur böse Worte und unreine Gedanken, die aus dem Menschen herauskommen? Solch ein pessimistisches Menschenbild passt wenig zu den anderen Worten der Jesusüberlieferung. In ihr kann ein guter Menschen durchaus Gutes hervorbringen (Mt 12,35). Nach Mk 7,15 ist das aus dem Menschen Herauskommende aber schlechthin und nicht nur möglicherweise unrein. Ist also ursprünglich an Ausscheidungen gedacht, die in jedem Fall unrein sind (und die in der folgenden Deutung ja auch genannt werden)? Hat das Logion einmal sagen wollen: Alle Speisen, gleichgültig ob rein oder unrein, werden zu unreinen Ausscheidungen?'^ Es wäre durchaus denkbar, dass Jesus mit solch einem drastischen Spruch den Unterschied zwischen rein und unrein problematisiert hat. Ein solch kühnes Bild passt gut zu anderen provokativen Bildern: von den Gewalttätern, die die Gottesherrschaft erobern (Mt 11,12), vom Attentäter, der als Vorbild gepriesen wird (EvThom 98), vom ungetreuen Verwalter, der seinen Herrn betrügt (Lk 16,Iff), vom Kamel, das durch kein Nadelöhr kommt (Mk 10,25). Entscheidend für uns ist in jedem Fall: Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Bild. Das griechische Wort flir „herauskommen" ursprünglichere Fassung wirklich in der Auslegung zu einer sekundären Variante des Logions erhalten sein? " Unverkennbar ist, dass 7,15a wörtlich zu verstehen ist, 7,15b dagegen metaphorisch. Das ist kein Grund V. 15b als sekundär vom ursprünglichen Logion zu trennen. Gegen H. Merkel, Markus 7,15 - das Jesuswort über die innere Verunreinigung, ZRGG 20 (1968) 340-363. So spricht das Logion vom Lohn der Nachfolge in der ersten Hälfte in wörtlichem Sinne von Familiengliedern (Mk 10,29), in der zweiten Hälfte aber in übertragenem Sinne (10,30). Vgl. femer den Spruch vom Schätzesammeln (Mt 6,19-21 par), evtl. auch vom Auge (Mt 6,22f par). So W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus, ÖTbK 2,1, Gütersloh/Würzburg: Mohn/Echter 1979, 342-344: Nicht kultische, sondern natürliche Unreinheit sei gemeint, „daß nicht die genossenen Speisen, sondern Ausscheidungen der Verdauungsorgane den Menschen beschmutzen" (S. 344). Aber kultische und natürliche Unreinheit sind nicht scharf zu trennen. Nach Dtn 23,12ff soll die Notdurft außerhalb des Lagers verrichtet werden, damit das Lager selbst heilig bleibt. Die Terminologie kultischer Unreinheit wird zwar nicht auf die Exkremente angewandt, diese werden aber durch den Kontext (Dtn 23,9-11) in den Bereich des kultisch Unreinen hineingezogen. Dass natürliche und kultische Unreinheit zumindest assoziativ verbunden sind, ist Voraussetzung dafür Mk 7,15 bildlich aufzufassen: Die natürlichen Exkremente werden zum Bild für den moralischen Unrat, den der Mensch aus sich heraus entlässt.

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(έκιτορ6ύ€σθαι) ist im Zusammenhang mit Кофег und Leib mehrdeutig. Es kann in der L x x sowohl für etwas stehen, das in leibücher Form den Körper verlässt (hebr.yöja, vgl. Num 12,12; Hi 38,8.29; 41,11.12)'^ als auch für Worte, die den Mund verlassen (vgl. Num 32,24; Dtn 8,3; 23,24; Ps 88,34 Lxx). Die Worte stehen dabei für mehr: Aus dem Munde der Weisheit gehen Gerechtigkeit, Recht und Barmherzigkeit hervor (Spr 3,16a nur in der Lxx). Doppeldeutig ist Sir 28,12: Die Rede ist von Streit und Kontrolle des Zorns. Dafür wird das Bild benutzt: „Bläsest du auf einen Funken, so brennt er, speist du darauf, so erlischt er, und beides kommt aus deinem Munde hervor" (και άμφότβρα 4κ του στόματος σου εκπορεύεται). Im Bild ist Luft und Speichel gemeint, der Sache nach aber Streitsucht und Konfliktbegrenzung - beides vermittelt durch Worte. Auch die wenigen Belege im Urchristentum für übertragenes έκπορεύεσθαι weisen meist auf Worte (vgl. Mt 4,4 = Dtn 8,3; Lk 4,22; Eph 4,29; Herrn mand 3,1). Es ist daher nicht überraschend, wenn in einer Variante des Reinheitslogions der „Mund" explizit hinzugefügt wird: Was in den Menschen hinein- und herauskommt, geht durch den Mund (vgl. Mt 15,11; EvThom 14).'^ Damit wird das drastische Bild von den Ausscheidungen, das gleichzeitig für allen anderen moralischen Unrat transparent ist, ausgeschlossen. Im MkEv aber liegt (noch) dies Bild vor: Einerseits wird das Reinheitslogion in der folgenden Auslegung ein Rätselspruch (eine παραβολή) genannt; wo Mk diesen Begriff sonst verwendet, handelt es sich um bildliche Elemente und Gleichnisse (vgl. 3,23; 4,2ff; 12,1.12; 13,28). Andererseits knüpft die Auslegung in Mk sowohl an die wörtliche Bedeutung an, die an Exkremente denken lässt, als auch an die übertragene Bedeutung, die auf unmoralische Intentionen zielt. Der Sinn des Logions ist also zweifellos radikal. Aber könnte dieser radikale Sinn nicht durch Gebrauch des Logions gemildert sein? So wäre vorstellbar, dass es ein Wort für Wandercharismatiker war, nicht aber für alle Menschen: Sie sollen unbesorgt um Reinheitsfragen das essen, was man

" Vgl. femer (mit anderer hebr. Vokabel als Entsprechung zu έκπορεΰίσθαι) L x x IKön 22,35; Hi 3,16. Gemeint ist die Fehlgeburt (Num 12,12; Hi 3,16) oder die Geburt überhaupt als Bild für Entstehungsprozesse (Hi 38,8.29) oder das feuerspeiende Untier (Hi 38,10ff). " Es handelt sich möglicherweise um eine unabhängige Überlieferungsvariante - vor allem dann, wenn man das EvThom als von den Synoptikern unabhängig einschätzt. Insgesamt aber dürfte Mk 7,15 wegen der anstößigen Assoziation mit Exkrementen ursprünglicher als Mt 15,11 und EvThom 14 sein. Anders J. D. G. Dürrn, Jesus and Ritual Purity. A study o f the n-adition history o f Mk 7,15, in: À cause de l'Évangile. Études sur les synoptiques et les Actes, FS J. Dupont, L D 123, Paris: Cerf 1985, 2 5 1 - 2 7 6 , der in Mk 7,15 eine sekundär radikalisierte Fassung eines Jesuslogions sieht, das ursprünglicher in Mt 15,11 und EvThom 14 erhalten ist.

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ihnen vorsetzt." In solch einem Kontext begegnet das Reinheitslogion im EvThom: „Und wenn ihr hineingeht in irgend ein Land und wandert in den Gegenden und man euch aufnimmt, esst das, was man euch vorsetzen wird. Die, weiche krank sind unter ihnen, heilt. Denn was hineingehen wird in euren Mund, wird euch nicht beflecken; aber das, was herausgeht aus eurem Mund, das ist es, was euch beflecken wird." (EvThom 14)

Ein vergleichbarer Sitz im Leben wird durch die Aussendungsrede im LkEv nahegelegt (= Q?). Dort heißt es: „Und weim ihr in eine Stadt kommt, und sie euch aufnehmen, dann esst, was euch vorgesetzt wird ..." (Lk 10,8). Sollte das Logion also einmal Skrupel vertreiben, die wandernde Charismatiker sich nicht erlauben kormten, wenn sie sich von Ort zu Ort „durchbettelten"? Vielleicht kann man noch einen Schritt weitergehen: In der lk Aussendungsrede wird den Jüngern der Friedensgruß aufgetragen. Er teilt den Häusern eine positive numinose Qualität mit, wenn sie in ihnen aufgenommen werden. Zu dieser fast magischen Ausstrahlungskraft gehört, dass alles, was sie essen, rein ist bzw. auf seine Reinheit nicht йЬефгйй werden muss. Die ICraft des Friedens teilt sich allem im Haus mit. Wir hätten hier die Vorstellung einer „offensiven Reinheit",^" die davon ausgeht, dass nicht Unreinheit ansteckt, sondern Reinheit, die sich als geheimnisvolle Kraft ausbreitet. Jedoch lässt sich das nur aus der Kombination von Logien in der lk Aussendungsrede herauslesen. Direkt belegt ist dieser Gedanke nicht. Daher sei noch auf einen weiteren Weg gewiesen, den in Mk 7,15 enthaltenen Grundsatz mit einer mitten im Judentum lebbaren Praxis (sei es von Wandercharismatikem oder von ortsfesten Christen) zu vermitteln. Das Logion ist indikativisch formuliert. Es handelt sich nicht um ein Mahnwort, das sagt, dies dürfe man tun, jenes aber nicht.^' Die Sentenz trifft nur eine " An Wandercharismatiker als „Sitz im Leben" von Mk 7,15 denkt M. Ebner, Jesus (s.o. Anm. 7), 247. Vgl. K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988) 231-262. Anders W. D. Davies/D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew Bd. 2, ICC, Edinburgh: Τ & Τ Clark 1991, 529: „We would like to suggest that Mk 7.15 was composed as a moral pronouncement or exhortation, not halakah." Es geht aber nicht um den Unterschied zwischen einer rechtlichen und moralischen Norm, sondern zwischen einer normativen Mahnung und einer kognitiven Einsicht, die in die Form einer Sentenz gekleidet wird. Der Tendenz nach fragen W. D. Davies/D. C. Allison jedoch genau in die richtige Richtung. Vor allem M. Ebner, Jesus (s.o. Anm. 7), 217-248, hat den offenen, weisheitlichen Charakter von Mk 7,15 herausgearbeitet, der dazu führt, dass man das Logion erst in einem bestimmten (sozialen und literarischen) Kontext auf

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Feststellung über den Ursprung von Unreinheit. Die Folgerung, dass man alle Speisen essen darf, ist zwar möglich, aber nicht zwingend. Wer Mk 7,15 ernst nimmt, kann Speisegebote zwar nicht mehr deshalb einhalten, weil sie Reinheit garantieren. Aber er kann sie aus einem anderen Grunde respektieren: aus Gewohnheit, aus Achtung vor einer Tradition oder aus Anpassung um kein Ärgernis zu geben oder weil sie auf einen tieferen Sinn weisen. Vergleichbar wäre die Einstellung zur Reinheit in der Heilung des Aussätzigen. Jesus erklärt ihn für rein (Mk 1,41). Dennoch soll er sich noch einmal vom Priester für rein erklären lassen (1,44). Trotz schon erfolgter Reinerklärung wird die Tradition respektiert. Vergleichbar ist ferner die Einstellung zur Tempelsteuer: Nach Mt 17,24-27 wissen sich die Jesusanhänger grundsätzlich frei von ihr, zahlen aber dennoch um keinen Anstoß zu geben. Ebenso könnte auch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Reinheitsgedanken mit einer praktischen Respektierung von Reinheitsnormen koexistieren. Die Debatte um die Reinheit im Urchristentum lässt sich unter dieser Voraussetzung m.E. gut verständlich machen. Das fuhrt zu unserem zweiten Thema, der Wirkungsgeschichte des Reinheitslogions.

2. Die Wirkungsgeschichte des Reinheitslogions Das MkEv selbst lässt uns einen Blick in die Wirkungsgeschichte des Reinheitslogions tun. Es erscheint hier als ein auslegungsbedürftiger Rätselspruch, als eine παροφολή, die Jesus in einer geheimen Lehre im Hause fur seine Jünger auflösen muss. Das MkEv betrachtet also das Logion keineswegs als eindeutig. Seine Bildlichkeit muss in direkte Sprache, seine indikativisch formulierte Einsicht in praktische Folgerungen umgesetzt werden. Wahrscheinlich ist die Hausbelehrung ein Indiz dafür, dass sie umstritten waren. Denn auch sonst behandelt Mk in solch kurzen Hausbelehrungen umstrittene Themen: neben der im Urchristentum nachweislich virulenten Speisefrage (vgl. Gal 2,1 Iff) das Thema der Rangordnung in der Gemeinde (Mk 9,33-37), das Thema der Ehescheidung (Mk 10,10-12) und der Exorzismen (9,28f).^^ Interessant ist, dass auch die zusätzliche Lehre Jesu bei Mk noch keine letzte Klarheit bringt. Erst ein Erzählerkommentar stellt einkonkrete Verhaltensweisen hin auslegen kann. ^^ Vgl. G. Theißen, Die pragmatische Bedeutung der Geheimnismotive im Markusevangelium. Ein wissenssoziologischer Versuch, in; H. G. Kippenberg/G. G. Stroumsa, Secrecy and Concealment. Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions, Leiden u.a.: Brill 1995, 225-245, bes. 239ff. Die Belehrung im Haus erinnert an Mt 17,24ίΤ. Wahrscheinlich soll sie im MkEv Probleme benermen, die man möglichst nicht in der Öffentlichkeit offensiv vertritt oder bekannt werden lässt, seien es abweichende Normen in Speise- und Ehefragen, seien es interne Defizite wie Rangstreit und Grenzen der prinzipiell beanspruchten exorzistischen Vollmacht.

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deutig klar: Indem Jesus dies lehrte, „erklärte er alle Speisen für rein" (Mk 7Д9). Das MtEv ist offensichtlich anderer Meinung. Denn es lässt diesen entscheidenden Satz weg (vgl. Mt 15,17) und bezieht das Logion am Ende seiner geheimen Auslegung explizit auf das Problem des Händewaschens (15,20). Nun ist ihm durchaus bewusst, dass die Dinge, die in den Menschen hineinkommen, Speisen sind (15,17), ja es verstärkt diese Beziehung zu Speisen durch Einigung des Stichwortes „Mund" in beide Hälften des Logions (15,11).^^ Jedoch gibt er dies Logion in einer Form wieder, in der es eher als eine weiche Form von Negation verstanden werden kann:^"* „ N i c h t w a s z u m M u n d hineingeht, m a c h t d e n M e n s c h e n unrein, s o n d e r n (in v i e l g r ö ß e r e m M a ß e ) w a s a u s d e m M u n d h e r a u s k o m m t , m a c h t d e n M e n s c h e n unrein."

Es entfallen gerade jene Formulierungen von Mk 7,15, die den radikalen Sinn des Logions sicherstellen: gibt nichts, was in den Menschen von außen hineinkommen kann, was ihn verunreinigen kann." Wenn man bedenkt, dass in der mt Gemeinde noch viele Judenchristen lebten, die das Gesetz besser als Pharisäer und Schriftgelehrte erfüllen wollten, wäre die abmildernde Reaktion des Mt verständlich. Das Wort wird bei Mt in seiner indikativischen Grundsätzlichkeit gelassen, jedoch so, dass es gradualistisch verstanden werden kann: Man soll mehr noch als auf äußere Reinheit auf die innere achten. Es ließe sich also analog Mt 23,23 verstehen: „Dies sollte man tun und jenes nicht lassen". Sachlich wäre dasselbe gemeint wie in Mt 23,25: Zunächst muss das Innere gereinigt werden, dann wird das Äußere auch rein. Das LkEv hat zu unserem Logion keine Parallele. Die ganze Perikope ist der sog. großen Lücke zum Opfer gefallen. Möglicherweise sind diese Weglassungen aber kein Zufall. Das LkEv legt Wert darauf, dass Jesus nicht radikal mit der kultischen Tradition seines Volkes gebrochen hat. Wir finden in ihm keine Weissagung Jesu gegen den Tempel; erst Stephanus kritisiert den Tempel (Apg 6,14). Dem entspricht, dass Jesus keine Kritik an den Reinheitsgeboten äußert; erst in nachösterlicher Zeit werden sie durch eine Offenbarung an Petrus aufgehoben (Apg 10/11). Nun wird gerade die Petrusvision der Apg gegen die Authentizität des Reinheitslogions ange-

^^ Die Deutung des «ктореисч/ auf das Ausscheiden von Exlcrementen ist daher bei Mt ausgeschlossen. In der Auslegung des Wortes durch den mt Jesus in Mt 15,17 nennt dieser zwar die Exkremente, wählt aber für deren Ausscheidung jetzt bewusst ein anderes Wort: εκβάλλεται anstatt έκπορίΰίται (in Mk 7,19). ^^ Skeptisch gegenüber dieser Möglichkeit ist U. Luz, Matthäus Π (s.o. Anm. 8), 424f.

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führt. Zeige sie doch, so legendarisch sie auch sein mag, dass erst nach Ostern die Reinheitsfrage umstritten wurde und erst in diesem Kontext ein Logion wie Mk 7,15 nötig wurde.^' Aber man kann auch anders urteilen. Die Petrusvision ist mit einer Audition verbunden: Drei Mal erklingt die göttliche Stimme. Drei Mal formuliert sie einen eindeutigen Imperativ angesichts der in der Vision gezeigten unreinen Tiere: „Schlachte und iss!" (Apg 10,13; 11,7), dazu die Mahnung: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten" (Apg 10,15; 11,9). Im Unterschied zum Reinheitslogion, das mit seiner indikativischen Formulierung offen lässt, was konkret getan werden soll, finden wir hier eine klare Handlungsanweisung. Der Schritt zu dieser Handlungsanweisung könnte historisch in der Tat mit charismatischen Phänomenen, Eingebungen, Träumen und Ekstasen begründet worden sein. Aber eine solche charismatische Entscheidungsfindung wird leichter verständlich, wenn sie eine auslegungsbedürftige Jesustradition über die Reinheitsfrage voraussetzt. Schließlich ist noch ein Blick auf Röm 14,14 zu werfen, wo Paulus versichert: „Ich weiß und bin gewiss in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich selbst; nur für den, der es für unrein hält, ist es unrein". Hier könnte ein Nachklang von Mk 7,15 vorliegen. Dafür spricht die explizite Berufung auf den „Herrn Jesus", auch wenn damit eine Gewissheit gemeint sein könnte, die Paulus erst im Umgang mit dem Erhöhten erhalten hat.^^ Außerdem ist die Wiederkehr des seltenen Wortstammes κοινός in Mk 7,15 und Röm 14,14 auffällig. Für uns ist eine sachliche Feststellung wichtiger: Auch in Röm 14,14 begegnet eine Stellungnahme zur Reinheitsfrage in indikativischer Form, die offen lässt, was konkret aus ihr folgt. Denn Paulus kann mit derselben Maxime sowohl das Verhalten der „Starken" begründen als auch das Verhalten der „Schwachen" respektieren. Eine für alle verbind" U. Luz (in R. Smend/U. Luz, Gesetz, Biblische Konfrontationen, Kohlhammer Taschenbücher 1015, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1981, 61) formuliert das Problem so: „Ich kann mir die langen und schmerzhaften Kämpfe um die Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen und die doch sehr verschiedenen urchristlichen Positionen gegenüber dem Ritualgesetz nicht denken, wenn bereits Jesus dieses Problem grundsätzlich und eindeutig gelöst hätte. Die Corneliusgeschichte, insbesondere die Petrus vision von Apg 10, deutet an, daß die grundsätzliche Freiheit vom Reinheitsgesetz erst nachösterlich erreicht worden ist." H. Räisänen, Torah (s.o. Anm. 10), 234, schreibt dem „Argument der fehlenden Wirkungsgeschichte von Mk 7,15, das entscheidende Gewicht flir die Annahme der Unechtheit des Logions zu, das er im radikalen Sirme interpretiert. Für T. Holmén, Jesus and Jewish Covenant Thinking (s.o. Anm. 7), 243f, ist die Wirkungsgeschichte umgekehrt der entscheidende Grund ftir die Authentizität des Logions bei einer „relativen" Auffassung von dessen Inhalt: Es habe Unsicherheit mit sich gebracht, wieweit Jesus die Reinheitsgebote abgewertet hatte. Diese Unsicherheit musste durch eine sekundäre Inteφretation in Mk 7,19b beseitigt werden. " Skeptisch gegen eine Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 äußert sich H. Räisänen, Torah (s.o. Anm. 10), 214f Die Röm 14,14 verwandten Beteuerungsformeln in Gal 5,10; Phil 1,25; 2,24; Röm 8,38; 15,14 lassen keine Beziehung zu einem Herrenwort erkennen.

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liehe Mahnung versueht er aus seinem Grundsatz nicht abzuleiten. Gegenüber Mk 7,15f hat sich der Akzent jedoch inhaltlich verlagert. Mk denkt an die Irrelevanz kuhischer Reinheit verglichen mit ethischer Reinheit, wie der Lasterkatalog in seiner Auslegung zeigt. In Rom 14,14 wird dagegen die kultische Reinheit subjektiviert. Sie ist keine objektive Qualität, sondern eine subjektiv zugeschriebene Eigenschaft und gih nur für den, der diese Zuschreibung vollzieht. Ein Kontrast zur ethischen Reinheit wie in Mk 7,15ffist nicht im Blick Die Wirkungsgeschichte zeigt insgesamt: Wo das Logion (oder ein sachlich vergleichbarer Satz wie Rom 14,14) im Indikativ bekannt ist, da lässt es offen, was konkret aus ihm zu folgern ist. Erst eine zusätzliche Auslegung (so im MkEv und im Rom) oder eine eigene Offenbarung mit explizitem Imperativ (so die Apg) präzisieren, was mit der grundsätzlichen Problematisierung des Reinheitsgedankens praktisch gemeint sein könnte. Daraus folgt: Die Existenz eines (echten?) Jesuswortes mit einer grundsätzlichen Problematisierung (im Indikativ) verträgt sich ausgezeichnet mit dem Streit im Urchristentum (um die konkreten Imperative), ja, es erklärt ihn geschichtlich befriedigender als wenn man diesen Streit ohne Vorgabe einer auslegungsbedürftigen Tradition erklären wollte. Das Logion Mk 7,15 passt also ausgezeichnet zu seiner Wirkungsgeschichte im Urchristentum. Aber lässt es sich auch in einem genuin jüdischen Kontext plausibel machen? Erst dann können wir sicher sein, dass es auf Jesus zurückgeht.

3. Der jüdische Kontext des Reinheitslogions Ist einem galiläischen Juden im 1. Jh. eine so kritische Einstellung zum Reinheitsgedanken zuzutrauen, wie sie in Mk 7,15 bezeugt ist? Für das Diasporajudentum sind vergleichbare kritische Stimmen belegt. Ps.-Phokylides deutet die Heiligung als einen ethischen Vorgang in einem etwas mehrdeutigen Spruch: „(Rituelle) Heiligungen bedeuten die Heiligung der Seele, nicht des Körpers" (PsPhok 228), zumal wenn man die Fortsetzung hinzunimmt: „Diese sind die Geheimnisse (Mysterien) der rechten Lebensweise ..." (229)." Philo^® kommentiert Num 19,22: „Und alles, was der Unreine berührt, wird unrein" mit folgenden Worten: „Dieser Spruch scheint eine allgemeine Lehre zu verkünden, er bezieht sich nicht bloß auf das Körperli-

Zu den Auslegungsproblemen vgl. J. Thomas, Der jüdische Phokylides. Formgeschichtliche Zugänge zu Pseudo-Pholö'lides und Vergleich mit der neutestamentlichen Paränese, NTOA 23, Freiburg Schweiz/Göttingen: UniversitätsverlagA'andenhoeck & Ruprecht 1992, 195-199. Zu Philo und weiteren jüdisch-hellenistischen Parallelen vgl. vor allem K. Berger, Gesetzesauslegung (s.o. Anm. 9), 465ff.

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che, sondern geht auch auf die Beschaffenheit und Eigentümlichkeit der Seele ein. Denn unrein ist recht eigentlich der Ungerechte und Gottlose, der weder vor Menschlichem noch vor Göttlichem Scheu empfindet ..." (SpecLeg 3,208f). Einmal zitiert Philo sogar einen Gedanken Piatos (aus dem Tim 75d), der durch die Gegenüberstellung von vergänglichen Dingen, die in den Menschen hineinkommen, und unvergänglichen Gedanken, die herauskommen, eine enge Parallele zu Mk 7,15 bildet.^' Er spricht vom Mund, „durch den, wie Plato sagt, der Einzug der vergänglichen und der Auszug der unvergänglichen Dinge erfolgt; hineingehen in ihn Speisen und Gertränke, die vergänglichen Nahrungsmittel des vergänglichen Körpers, herauskommen die vernünftigen Reden als unsterbliche Gesetze der unsterblichen Seele, durch die das vernünftige Leben geleitet wird." Ob das ursprüngliche Logion in Mk 7,15 in beiden Teilen an den Mund dachte oder im zweiten Teil an die Ausscheidungsorgane, ist offen. Anders die mt Bearbeitung (Mt 15,11), die daher von Gedankentraditionen, wie sie bei Philo erscheinen, geformt sein könnte. Aber mk und mt Fassung unterschieden sich von Philo übereinstimmend in einem entscheidenden Punkt: Philo spricht an dieser Stelle nicht von reinen und unreinen Dinge. Er relativiert die Reinheitsvorstellung daiur an anderer Stelle (s.o.). Parallel zu diesen Aussagen aus der Diaspora finden wir auch im jüdischen Stammland Stimmen, die einen Vorrang der ethischen Reinheit vor den äußerlichen Reinigungsriten betonen. In der Gemeinderegel von Qumran wird über den, der in die Gemeinde eintritt, gesagt: „Durch heiligen Geist ... wird er gereinigt von allen seinen Verschuldungen" (IQS 3,7f). Erst danach ist von ritueller Reinigung die Rede. Denn die Reinigung durch den Geist der Heiligkeit, der Redlichkeit und Demut geschieht um das Fleisch „zu besprengen mit Reinigungswasser und sich zu heiligen durch Wasser seiner Reinheit" (IQS 3,9). Ein Ringen um verschiedene Reinheitskonzeptionen ist auch durch die Assumptio Mosis belegt. In dieser kurz vor dem Auftreten des Täufers und Jesu entstandenen oder neu überarbeiteten Schrift wird gegen gottlose Menschen polemisiert, die einerseits Unreines (im eigentlichen Sinne) tun, andererseits auf Reinheit (im kuhischen Sinne) insistieren: „Und ihre Hände und ihre Gedanken werden Unreines treiben, und ihr Mund wird große Dinge sprechen, und sie werden femer sagen: ,Rühr (mich) nicht an, damit du mich nicht unrein machst an dem Ort, an dem ...!'" Könnte Jesus gegen solche Menschen polemisiert haben, die in verwerflicher Art reden, aber auf äußerer Reinheit insistieren?^" Mk 7,15 Vgl. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum I (1752) = Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1962, 422 (zu Mt 15,11). Zu dieser Stelle als Analogie zu Mk 7,15 ausftlhrlich M. Ebner, Jesus (s.o. Anm. 7), 235237, der femer auf Jes 65,2-5 und Hag 2,11-14 hinweist.

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wirkt wie eine direkte Kritik solch eines Verhaltens, ist aber - wie weisheitliche Sprüche auch sonst - ganz allgemein gedacht. Auch Johannes der Täufer ist im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung um Reinheitsfragen zu sehen. Die Wassertaufe allein ist bei ihm nicht ausreichend um Sündenvergebung zu bewirken. Vorausgesetzt ist vielmehr ein Sündenbekenntnis (wohl vor dem Eintauchen oder Übergossenwerden) und eine Umkehr, die sich in Taten (nach der Taufe) bewähren soll (vgl. Mt 3,5ff). In seiner Darstellung des Täufers hat Josephus den Anteil der ethischen Lebensgestaltung im Blick auf hellenistische Leser wahrscheinlich bewusst hervorgehoben, aber im Kem hat er einen historischen Zug der Joharmestaufe getroffen: Er betont, dass die Taufe des Johannes nur zur Reinigung des Leibes dient, die Seele sei schon vorher durch Gerechtigkeit gereinigt worden (Ant 18,117). Nach ihm gehen die Taten der Umkehr der Wassertaufe voraus. Selbst wenn jemand das Zeugnis des Josephus für Johannes den Täufer in diesem Punkte als unhistorisch ablehnen sollte, so hat es doch als Zeugnis für Josephus - und damit für einen aus Judäa stammenden Juden - sein volles Gewicht. Jesus ist ein „Schüler" Johannes des Täufers. Er übernimmt aus seiner Predigt den Ruf zur Umkehr (vgl. Lk 13,1-5; Mt 11,20-24), nicht aber die Taufe.^' Diese bleibt exklusiv mit der Person des Johannes verbunden. Wahrscheinlich ist sie als eine prophetische Symbolhandlung aufzufassen, mit der der Täufer seine Botschaft vom hereinbrechenden Gericht und der Notwendigkeit der Umkehr den Menschen einprägte. Ganz gewiss wollte er keinen dauerhaften neuen Ritus einfuhren. Prophetische Symbolhandlungen aber sind immer an den jeweiligen Propheten und seine Botschaft gebunden. Das ist ein Grund dafür, warum Jesus nicht taufte, hätte aber eine Übernahme des Taufritus durch Jesus nicht ausgeschlossen - zumal nach dem Tode des Täufers. Wenn Jesus nicht tauft, so hat das auch innere Gründe: Der Täufer erwartete so unmittelbar das Ende, dass keine Zeit mehr für ein Leben mit „Früchten der Umkehr" blieb. Die Taufe ist in dieser Situation ein symbolischer Ersatzakt, der die Ernsthaftigkeit der Umkehr bezeugen soll. Bei Jesus aber lässt Gott dem Menschen zur Umkehr Zeit (vgl. Lk 13,6-9). Er akzeptiert die Umkehr des Sünders auch ohne ein begleitendes religiöses Ritual. Er kann daher auf die Taufe verzichten. Diesem Unterschied zwischen Jesus und dem Täufer entspricht der Inhalt des Reinheits-

" Der Hinweis auf die Tauftätigkeit Jesu in Joh 3,22 wird in 4,2 zurückgenommen. Falls er auf einen historischen Sachverhalt verweist (gerade weil er in das allgemeine Bild von Jesus wenig passt), könnte Jesus allenfalls am Anfang seines Wirkens getauft haben. Die breite Überlieferung von ihm weiß davon nichts. Aber ebenso wahrscheinlich ist, dass die nachösterliche Tauftätigkeit der Christen in Joh 3,22 zurückprojiziert wurde - genauso wie der Synagogenausschluss in Joh 9,22 und 12,42 in das Leben Jesu zurückprojiziert wird (vgl. Joh 16,2).

Das Reinheitslogion Mie 7,15

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logions. Wer Мк 7,15 formuliert hat, muss in der inneren Umkehr das Entscheidende sehen und kann auf jeden begleitenden äußeren Reinigungsakt verzichten. Er muss deswegen nicht andere Reinigungsriten verachten. Jesus hat sich ja selbst taufen lassen und die Taufe des Täufers anerkannt. Wir hören jedoch nichts von Reinigungsriten, denen er sich selbst und seine Jünger unterzogen hätten - etwa in der Woche vor dem letzten Passafest, aus der die Evangelien mehrere Überlieferungen bringen. Diese Woche diente im damaligen Judentum u. a. dazu die vorgeschriebenen Reinigungen zu vollziehen. Nach einer apokryphen Überlieferung hat Jesus sogar bewTAsst auf solche Reinigungen verzichtet (P.Ox. 840).^^ Man könnte solch eine apokryphe Überlieferung ganz übergehen, wenn nicht auch das JohEv betonte, dass die Jünger ohnehin schon rein sind (Joh 13,1-11); es weiß etwas von den Reinheitsanforderungen für das Passafest (Joh 18,28), schließt aber besondere Reinheitsriten für die Jünger durch Joh 13,10 aus. In den Synoptikern greift das Vollmachtsgespräch im Tempel vielleicht nicht zufällig auf die Taufe des Johannes zurück. Musste Jesus unter Hinweis auf diese Taufe Reinheit für sich beanspruchen (vgl. Mk 11,2733)? Unwahrscheinlicher ist m.E., dass man das Schweigen der Überlieferung über die üblichen Reinigungsriten dadurch erklären kann, dass sie als selbstverständlich vorausgesetzt sind.^^ Wenn Jesus die Taufe Johannes des Täufers anerkennt, so deshalb, weil er sie als Teil von dessen prophetischer Botschaft anerkennt. Nicht weil Wasser reinigt, war sie notwendig, sondern weil Johannes ein von Gott gesandter Prophet war. Deswegen ist die Taufe göttlich legitimiert und vom Himmel (Mk ll,30f). Wenn man nun diese Legitimation eines Reinigungsritus durch prophetische Botschaft durch Legitimation mit Hilfe der Tora ersetzt, so haben wir genau jene Reinheitsvorstellung, die uns für Jochanan ben Zakkai - allerdings in sehr späten Midraschim - belegt ist: „(Bei) eurem Leben! Der Tote verunreinigt nicht, und das Wasser reinigt nicht. Sondern die Anweisung des Heiligen, gesegnet ist er, ist es. Der Heilige, gesegnet ist er, sprach: Eine Vorschrift habe ich vorgeschrieben, eine Anweisung habe ich angewiesen. Und dir ist nicht erlaubt, meine Anweisung zu übertreten. Dies ist die Anweisung der Thora (Num 19,1)." (Pesiqta 40*').^'' Das Reinheitsverständnis Jochanan ben Zakkais ist dem Jesu (und " Vgl. W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Tübingen: Mohr 'l987, 81f; P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/New York: de Gruyter 1975, 639-641. '' Anders E. P. Sanders, The Historical Figure of Jesus, London/New York: Penguin Press 1993,250fr. " Pesiqta de Rav Kahana, ed. B. Mandelbaum Bd. 1, New York 1962, S. 74, Z. 10-12. Vgl. die Übersetzung nach der Edition Buber = Pesiqta R. Kahana 40'' bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch Bd. I., München: C. H. Beck 1922, 719. Die

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des Täufers) verwandt. Variabel ist nur, dass einmal der Gehorsam gegenüber einer prophetischen Botschaft, das andere Mal der Gehorsam gegenüber der Thora zu einer Verinnerlichung des Reinheitsgedankens flihrt: Entscheidend ist in jedem Fall der Wille des Menschen. Unser Fazit ist daher: Das Reinheitslogion Mk 7,15 passt ausgezeichnet in das Judentum des 1. Jh. n.Chr. Es dürfte von Jesus selbst stammen. Jüdische Kontextplausibilität und christliche Wirkungsplausibilität machen es wahrscheinlich.^' Innerhalb eines jüdischen Kontextes ist es plausibel, dass Jesus als Schüler Johannes des Täufers den dinglichen Reinheitsgedanken grundsätzlich in Frage stellt ohne zum Bruch mit traditioneller Reinheitspraxis aufzufordern. Es ist ebenso plausibel, dass der reinheitskritische Grundsatz Jesu im Urchristentum zur Aufhebung konkreter Reinheitsregeln führte, als es um die Aufnahme von Heiden in die Gemeinde ging. Darüber hinaus können wir den Übergang von Jesus zum Urchristentum (im Sinne einer Gesamtplausibilität dieser historischen Entwicklung) verständlich machen: Schon Jesus erwartete eine eschatologische Mahlgemeinschaft zwischen Heiden und den Patriarchen Israels. Aus allen Himmelsrichtungen werden einmal die Heiden (zusammen mit den zerstreuten Juden?) in die Gottesherrschaft strömen um mit Abraham, Isaak und Jakob dort zu speisen (Mt 8,11 f par).^^ Von trennenden Speise- und Reinheitsregeln hören wir in diesem Zusammenhang nichts. Sie spielen keine Rolle mehr. In der Gottesherrschaft werden Juden nicht mehr separati epulis - getrennt bei den Mahlzeiten - sein (Tac Hist V,5,2). Nach Ostern verwandelten einige Christen das, was bei Tradition ist häufig bezeugt. Vgl. die Zusammenstellung aller Texte bei J. Neusner, Development of a Legend. Studies in the Traditions Concerning Yohanan ben Zakkai, SPB 16, Leiden: Brill 1970, 169f, 172f, 177f Die älteste Bezeugung ist Tanchuma Chukat 26 (5. Jh. η. Chr), Pesiqta R. Kahana ДО"" (ca. 700 oder 800 n.Chr.); vgl. ferner: Pesiqta Rabbati 14 (ca. 845); Numeri Rabban 19,8 (ca. 900). Die Überlieferung ist im Wesentlichen dieselbe in allen Varianten. Für unsere Fragestellung ist interessant, dass R. Jochanan ben Zakkaj immer von einem Heiden gefragt wird, der die Reinigungswirkung der Asche einer roten Kuh flir Aberglauben hält. Er erhält eine Antwort, die auf exorzistische Analogien verweist: Unreinheit sei wie ein Dämon, der durch äußere Mittel vertrieben wird. Die Schüler des R. Jochanan ben Zakkaj aber geben sich mit dieser Antwort nicht zufrieden - mit Recht. Denn in einer esoterischen Lehre gibt der Meister offen zu: Reinheit an sich gibt es nicht. Die Remheitszeremonie basiert auf einem sachlich nicht begründbaren Willen Gottes. Deutet sich damit nicht das an, was auch bei Mk (und Jesus?) vorliegen könnte: Dass Reinheitsvorstellungen in einer esoterischen und geheimen Lehre stark relativiert werden können, während sie nach außen hin respektiert werden? " Zu den Kriterien historischer Jesusforschung vgl. G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg Schweiz/Göttingen: UniversitätsverlagA'andenhoeck & Ruprecht 1997. Zu Mt 8 , n f vgl. D. Zeller, Das Logion Mt 8,llf/Lk 13,28fund das Motiv der ,Völkerwallfahrt', BZ 15 (1971) 222-237; 16 (1972) 84-93. Ferner G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1989,46-49.

Das Reinheitslogion Mk 7,15

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Jesus Gegenstand eschatologischer Erwartung war, in gegenwärtige Praxis. Sie warteten nicht mehr auf das Eingreifen Gottes, der Heiden und Juden wunderbar zusammenfuhren werde. Sie machten sich selbst auf um aktiv Heiden für den Glauben an Gott und seine Verheißungen zu gewinnen. Sie trieben Mission. Sie träumten nicht mehr nur von einer zukünftigen Überwindung sozialer und ritueller Grenzen in einer neuen Welt, sondern begannen, schon in der Gegenwart diese Grenzen zu überschreiten: Juden und Heiden kamen bei ihren Mahlzeiten zusammen. Sie folgten damit einem Impuls, der auf den historischen Jesus zurückging (Mt 8,llf). Sie entwickelten ihn eigenständig weiter, nachdem die Ostergeschehnisse ihnen den Glauben gegeben hatten: Was Jesus als entscheidendes Eingreifen Gottes erwartet hatte, war jetzt in anderer Weise in Erfüllung gegangen. Was die messianischen Juden, die wir heute „Christen" nennen, von den anderen Juden unterschied, war also der Glaube an die in der Gegenwart beginnende Erfüllung der Verheißungen und konkrete Verhaltensfolgerungen aus dieser Gewissheit - nämlich die Aufgabe von rituellen Merkmalen jüdischer Identität, vor allem der Beschneidung und der Speise- und Reinheitsgebote." Zurück zu unserer Ausgangsfrage. Die Jesusforschung erhält heute Antrieb aus einer inneren Spannung, die sowohl forschungs- als theologiegeschichtlich begründet ist. Historische wie theologische Gründe sprechen dafür Jesus konsequent ins Judentum einzuordnen, oft mit der Tendenz im Gegenzug zu den antijudaiistischen Traditionen der Jesusforschung die Radikalität seiner Worte und seines Wirkens abzuschwächen. Dabei wird manchmal undeutlich, dass Jesus ein radikaler Jude war. Radikales Judentum ist ebenso Judentum wie viele anderen Formen des Judentums. Zur Radikalität Jesu gehört auch die Skepsis gegenüber dem Reinheitsgedanken. Seine Kritik an ihm ist keine Aufkündigung jüdischer Identität, sondern gehört zu deren Neuformulierung. Auch die nachösterlichen Diskussionen über die praktischen Konsequenzen aus der grundsätzlichen Einsicht Jesu sind innerjüdische Diskussionen. Schon bald aber spaltete sich die biblische Religion in zwei verschiedene Religionen. Beide entwickelten ein vertieftes ReinheitsVerständnis. Es ist verschieden, aber man kann nicht sagen, das eine sei wertvoller als das andere.

' ' Der Gedanke einer endzeitiichen Aufhebung der Reinheitsgebote ist dem Judentum nicht ganz fremd. In MidrTeh 146,4 (zu Ps 146,7) wird ausgeführt, dass Gott die Reinheitsgebote nur erließ um die Menschen zu prüfen: „Um zu sehen, wer sein Wort annehmen würde und wer nicht. Einst aber wird er das, was er verboten hat (zu essen), erlauben." Vgl. dazu P. Schäfer, Die Torah der messianischen Zeit, ZNW 65 (1974) 27-42, bes. 3 8 ^ 2 . Wir finden hier dasselbe Bewusstsein wie schon bei R. Jochanan ben Zakkkai. Die Reinheitsgebote sind sachlich nicht begründbar, darüber hinaus aber wird mit ihrer Aufhebung in der Endzeit gerechnet.

Frauen im Umfeld Jesu' Wenn man sich heute mit dem Thema „Frauen im Umfeld Jesu" beschäftigt, spürt man zwei entgegengesetzte Erwartungen. Da ist zunächst die Hoffnung, dass Jesus viel positiver zur Selbständigkeit von Frauen eingestellt war als die Kirche, die sich auf ihn beruft. Man möchte bei Jesus Spuren einer Befreiungsgeschichte für Frauen entdecken - vorausgesetzt, man (oder: frau) liest die Quellentexte kritisch. Der Verdacht ist ja nicht ganz unberechtigt, dass Frauen in unseren Texten oft benachteiligt werden oder sogar verschwunden sind - unsichtbar gemacht durch die Quellen selbst, die meist von Männern geschrieben wurden. Und noch einmal unsichtbar gemacht durch Ausleger, die bisher in der Regel Männer waren.^ Diese positive Erwartung steht im Gegensatz zu einer zweiten (meist weniger ausgeprägten) Erwartung. Nach ihr soll die Forschung weniger die in den Quellen verschwundene Befreiungsgeschichte von Frauen als ihre Leidensgeschichte aufdecken. Dazu gehört auch jene Leidensgeschichte, die in ganz selbstverständlichen Zurücksetzungen besteht, z.B. dass sie auch dort nicht erwähnt werden, wo sie sicher beteiligt waren. Solche alltägliche Diskriminierung wird in den Quellen weder zum Thema gemacht noch als Problem empfunden, sie wird einfach vorausgesetzt. Wenn wir selbst bei Jesus diskriminierende Selbstverständlichkeiten feststellen müssten, obwohl seine ganze Botschaft Zuwendung und Hilfe für Diskriminierte war, wie groß muss die verborgene Leidensgeschichte von Frauen sein! An sie zu erinnern, sie aufzudecken wäre dann die menschliche Pflicht der historischen Wissenschaft und der Bibelauslegung. Wir sollten beide Erwartungen in uns aktivieren. Denn alles in der Geschichte hat zwei Seiten. Wir sollten offen sein für Erkenntnisse, die unseren Erwartungen und Wertungen entgegenlaufen - aber auch offen für Ent-

' Die folgenden Überlegungen wurden am 28.11.1993 in Sexau als Dank fur die Verleihung des Sexauer Gemeindepreises für Theologie vorgetragen und aisammen mit einer Predigt über Apk 5 , 1 - 1 0 im Selbstverlag der Gemeinde ohne Anmerkungen publiziert (Frauen im Umfeld Jesu. Sexauer Gemeindepreis fllr Theologie, Heft 11, Sexau 1993, 1-23). Filr die Veröffentlichung in diesem Band wurde der Haupttext geringfügig überarbeitet. Die Fußnoten und die kleingedruckten Exkurse im Text wurden von Annette Merz hinzugefügt. ^ Die androzentrische Geschichtsschreibung des fnlhen Christentums und die androzentrische Auslegungsgeschichte nötigen also zu einer „Hermeneutik des Verdachts", auf deren Grundlage dann eine feministische Geschichtsschreibung möglich wird, die Frauen als Subjekte historischer Entwicklungen ernst nimmt. Den ersten umfassenden Entwurf dazu legte vor; E. Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis ... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München u.a.: Kaiser 1988.

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deckungen, die uns bestärken. Anders gesagt: für gute und für schlechte Botschaften. Die „schlechte" Botschaft vorweg: In der Jesusüberlieferung finden wir manchmal einen ganz ungebrochenen Patriarchalismus. Jesus beruft aus seinen Anhängern einen Kreis von zwölf Jüngern, die für die zwölf Stämme Israels stehen. Alle Namenslisten der Jünger enthalten nur Männemamen. Keine Frau ist dabei. Keine Debora, keine Mirjam, keine Ruth. Natürlich war es angesichts der zwölf „Patriarchen" kaum anders zu erwarten. Die zwölf Stammväter Israels waren ja Männer. Also mussten die zwölf Jünger, die Stammväter eines erneuerten Israels, auch Männer sein. Die Aufgabe, die Jesus den Zwölfen zugedacht hat - mit ihm in der Endzeit Israel zu richten (Mt 19,28) - , war nach damaligem Verständnis eine männliche Aufgabe. Eins ist auf jeden Fall also sicher: Jesus war entgegen anders lautenden Gerüchten nicht der erste Feminist.^ Naiv patriarchalisch sind auch die Evangelienschreiber. Mk erzählt vom letzten Mahl Jesu und setzt selbstverständlich voraus, dass nur die zwölf männlichen Jünger dabei waren (Mk 14,17) - und das, obwohl er das letzte Mahl Jesu als Passamahl darstellt: Das Passa wurde in der Familie gefeiert. Frauen und Kinder waren bei ihm anwesend. Erstaunlich auch, dass Mk das letzte Mahl nicht so schildert, wie in seiner Gemeinde das Abendmahl gefeiert wurde: Selbstverständlich nahmen Frauen und Männer dort am Abendmahl teil. Es kann also kein Zweifel sein: Sowohl Jesus als auch die Evangelisten, die die Überlieferungen von ihm niederschrieben, lebten in einer patriarchalischen Welt, d.h. in einer Welt, in der Männer herrschten - in der Religion, in der Bildung wie im Recht. Nehmen wir die Religion: Frauen durften nur den Vorhof des Tempels betreten. Näher zum Heiligtum lag der Vorhof der Männer, am nächsten der Hof, den nur die Priester betreten durften. ' Vgl. L. Swidler, Der umstrittene Jesus, Stuttgart: Quell Verlag 1991, 77-106 unter der Kapitelüberschrift: Jesus, Feminist und androgyn: Ein integrierter Mensch. Swidler führt Gedanken der Psychoanalytikerin Hanna Wolf (Jesus der Mann, Stuttgart: Radius Verlag 1975) weiter; seine Darstellung benutzt, obwohl er andere Autoren S. 69-73 heftig ftlr eine von Wolf unkritisch übernommene antijudaistische Grundhaltung kritisiert, das Judentum der Zeit Jesu als dunkle patriarchale Folie, vor der Jesus umso heller leuchtet. Diese hochproblematische, aber gängige Praxis ist besonders in feministischer Literatur intensiv kritisiert worden, vgl. z.B. J. Plaskow, Feministischer Antijudaismus und der christliche Gott, Kirche und Israel 1 (1990) 9-25; E. Valtink, Christologie-Verzicht in der feministischen Theologie - Eine Falle für AntiJudaismus. Über die Fragwürdigkeit (feministisch-)theologischer Versuche, die Einzigartigkeit Jesu historisch zu untermauern, in: R. Jost/E. Vakink (Hg.), Ihr aber, ftir wen haltet ihr mich? Auf dem Weg zu einer feministisch-befi-eiungstheologischen Revision von Christologie, Gütersloh 1996, 78-101; R. S. Kraemer, Jewish Women and Christian Origins: Some Caveats, in: R. S. Kraemer/M. R. d'Angelo (Hg.), Women & Christian Origins, Oxford u.a.: Oxford University Press 1999, 35-^9.

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Nehmen wir die Bildung: Weisheitslehrer und Schriftgelehrte wandten sich nur an Männer. Frauen studierten nicht in Gelehrtenschulen die Thora, das Gesetz Gottes. Rabbinen hatten keine Schülerinnen. Nehmen wir das Recht: Frauen hatten vor Gericht kein Zeugnisrecht. Nach der vorherrschenden (aber nicht unumstrittenen) Meinung konnten sie nicht die Initiative zur Scheidung ergreifen. Nun aber die „gute" Nachricht. Zur Zeit Jesu erhielt diese patriarchalische Welt Risse. Besonders deutlich in der Oberschicht, also dort, wo auch der Einfluss des Auslands, der griechischen und römischen Kultur stärker spürbar war. Dort, wo man „modern" war oder „modern" sein wollte. Zwar ist es keineswegs so, dass in der griechisch-römischen Welt eine einheitliche und unumstrittene Tendenz herrschte, die darauf zielte Frauen sukzessive mehr Rechte und Freiheiten einzuräumen. Nachzuweisen ist aber, dass sich im hellenistischen Zeitalter die Möglichkeiten von Frauen erweiterten am wirtschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen und als Rechtssubjekte aufzutreten. Dies führte dazu, dass das Spektrum der Ansichten über die für Frauen angemessene Rolle in Familie und Gesellschaft breiter und die öffentliche Diskussion darüber höchst lebhaft gefuhrt wurde. Ohne dass dies an Einzelheiten vorgeführt werden kann, darf festgehalten werden, dass das Judentum aus der dominanten hellenistischen Kultur sowohl Impulse empfangen konnte, die auf ein streng hierarchisches Verhältnis der Geschlechter, eine für Frauen besonders restriktive Sexualmoral und misogyne anthropologische Grundüberzeugungen hin drängten, als auch Impulse, die auf mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern in allen Lebensbereichen hinzielten. Unsere Quellen lassen deutlich erkennen, dass die jüdische Oberschicht am allgemeinen Streit der Meinungen partizipierte.''

Wo aber lassen sich die erweiterten Möglichkeiten von Frauen zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben im Judentum der Zeit Jesu greifen? Zu spüren war eine Aufwertung der Frau in der Religion: Das damalige Judentum hatte neben dem Opfergottesdienst im Tempel eine neue Form des Gottesdienstes entwickelt: den Wortgottesdienst in den Synagogen. Aus der Diaspora sind uns „Synagogenvorsteherinnen" und Inhaberinnen anderer synagogaler Ämter inschriftlich bezeugt. Damals konnten Frauen an einigen Orten jüdische Gemeinden leiten, was voraussetzte, dass sie auch in der

^ A. Standhartinger, Das Frauenbild im Judentum der hellenistischen Zeit. Ein Beitrag anhand von , Joseph und Aseneth', AGAJU 26, Leiden u.a.: Brill 1995, 59-76, ordnet die jüdische Diskussion um die Rolle der Frau (und die Frauenbilder in jüdischer Literatur) in den vielstimmigen gesamtantiken Diskurs ein. Einen Überblick über die ganze Breite jüdischer Idealvorstellungen von Frauen in hellenistischer Zeit (von der misogynen Konzeption eines Jesus Sirach bis hin zu den als prophetische Autoritäten auftretenden Töchtern im Testament des Hiob) bietet der von A.-J. Levine herausgegebene Sammelband „Women Like This". New Perspectives on Jewish Women in the Greco-Roman World, Atlanta: Scholars Press 1991.

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Auslegung der Schrift bewandert waren.' Dass es sich um bloße Ehrenämter handelte, ist unwahrscheinlich.^ Was die Bildung angeht, so partizipierten Frauen an der zunehmenden Lese- und Schreibfähigkeit der Bevölkerung und gebildete Frauen aus der Oberschicht koimten als Förderer gebildeter Menschen auftreten.^ Die jüdische Königin Berenike rettete zwei Mal dem zum Tode verurteilten Justus von Tiberias das Leben, einem nach den Idealen griechischer Bildung erzogenen Juden, der in griechischer Sprache mehrere Werke geschrieben hatte (Jos Vita 341-43; 355; 410). Was die Rechtsstellung angeht, so ist von mehreren Herodäerinnen bezeugt, dass sie die Initiative zur Ehescheidung ergriffen.® Josephus, ein jüdischer Schriftsteller aus dem 1. Jh. n.Chr., verurteilt das zwar als Angriff auf die traditionellen Gesetze. Aber ihm ging es nicht besser: In seiner Biographie lässt er durchblicken, dass seine erste Frau ihn verlassen hatte (Vita 415). Jüdische Frauen konnten damals einer Rechtstradition folgen, der zufolge auch sie das Scheidungsrecht hatten.' ' Das detaillierteste Beispiel für Jüdinnen, die ihr ganzes Leben dem Schriftstudium widmeten, bieten die von Philo in der Schrift De vita contemplativa beschriebenen Therapeutinnen. Auch das Urchristentum profitierte von der synagogalen Schulung von Frauen, denn woher sonst besaß z.B. die Jüdin Priska, die laut Apg 18,26 den rhetorisch geschulten und schriftbewanderten Apollo in der christlichen Lehre unterwies, die dazu nötigen Fähigkeiten und Kenntnisse? ' Dass die Inteφretation der zahlreichen weiblichen Amtsbezeichnungen in jüdischen Inschriften als Ehrentitel ebenso wie die These von der räumlichen Separation von Frauen in der antiken Synagoge unhaltbar sind, zeigte zuerst umfassend B. J. Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue (BJSt 36), Chico: Scholars Press 1982. Da das Ausüben von politischen wie religiösen Ämtern in der Antike oft mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden war, konnten besonders reiche Frauen von hohem gesellschaftlichem Status in jüdischen Gemeinden z.T. bedeutenden Einfluss gewinnen, wobei große regionale und lokale Unterschiede zu beobachten sind. Vgl. P. R. Trebilco, Jewish Communities in Asia Minor, MSSNTS 69, Cambridge: Cambridge University Press 1991, bes. 104-126 („The prominence of women in Asia Minor"); R. S. Kraemer, Her Share of the Blessings: Women's Religions among Pagans, Jews and Christians in the GrecoRoman World, Oxford u.a.; Oxford University Press 1992. ' Die zunehmende literarische Bildung von Frauen lässt es als wahrscheinlich erscheinen, dass sie auch als Autorinnen profane wie religiöse Literatur verfasst haben. Vgl. Mary R. Lefkowitz, Did Ancient Women Write Novels? in: „Women Like This" (s.o. Anm. 4), 199-219; R. S. Kraemer, Women's Authorship of Jewish and Christian Literature in the Greco-Roman Period, in: „Women Like This" (s.o. Anm. 4), 221-242. ' Vgl. Ant 15,259f (Salome), Ant 20,141-143 (Drusilla) und Ant 18,I09ff 136 (Herodias). ' Diese Sicht wurde in Deutschland zuerst vertreten von B. Brooten, Konnten Frauen im alten Judentum die Scheidung betreiben? Überlegungen zu Mk 10,11-12 und 1 Kor 7,10-11, EvTh 43 (1983) 65-80. Eine ausfiihrliche Besprechung aller Quellen, die das Scheidungsrecht jüdischer Frauen belegen, bietet M. Fander, Die Stellung der Frau im Markusevangelium (MthA 8), Münster: Telos-Verlag 1989, 200-257. Den abschließenden Beweis für das weibliche Scheidungsrecht könnte der Scheidebrief der Schelamzion an ihren Mann Eleazar aus dem Jahr 135 n.Chr. liefern, der vor 1956 im Nahal Se'elim gefunden, aber erst 1995 publiziert vrarde. Einige Wissenschaftler bestreiten, dass es sich um einen Scheidebrief handelt, doch die Argumente dafür sind weitaus überzeugender, vgl. T. Ilan, Integrating Women into Second Temple History, TSAJ 76, Tübingen:

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Es gab also eine gewisse Emanzipationstendenz, greifbar wird sie in den antiken Quellen vor allem in der Oberschicht. Wenn wir in der Jesusüberlieferung einige Züge entdecken, die auf eine größere Selbständigkeit von Frauen zielen, so entspricht das Tendenzen im damaligen Judentum - vor allem in den besser gestellten Kreisen. Das Besondere bei Jesus ist: Er verbreitet diese Emanzipationstendenz auch in der Unterschicht, unter kleinen Leuten. Im Folgenden möchte ich einige Beobachtungen zur Wort- wie zur Erzählüberlieferung von Jesus zusammentragen, die diese emanzipatorische Tendenz zeigen. Die Unterscheidung von Wort- und Erzählüberlieferung ist dabei wichtig: Worte Jesu beanspruchten von Jesus selbst zu stammen. Erzählungen über ihn bestehen immer aus Texten, die andere über Jesus formuliert haben. Wir sind bei beiden, bei Erzählungen wie bei Worten, mit Recht oft unsicher, ob etwas auf Jesus zurückgeht oder nicht. Zeigen sich aber übereinstimmende Tendenzen in beiden Überlieferungsformen, so ist die Chance groß, dass die Texte auf den historischen Jesus zurückgehen. Nach der Besprechung von Wort- und Erzählüberlieferung von Jesus möchte ich am Ende zu erklären versuchen, wie es bei Jesus zu solch einer emanzipatorischen Tendenz mitten in einer patriarchalischen Welt kommen konnte. Wir werden dabei seine Lebensform und sein Gottesverständnis betrachten.

1. Frauen in der Wortüberlieferung von Jesus Zur Wortüberlieferung möchte ich eine formale und eine inhaltliche Beobachtung mitteilen. In formaler Hinsicht finden wir in den Worten Jesu häufig Doppelsprüche, in denen jeweils männliche und weibliche Themen nebeneinandergestellt werden. Man kann hier von „geschlechtssymmetrischen Paarbildungen" reden. Was den inhaltlichen Aspekt angeht, so finden wir dagegen eine asymmetrische Sexualethik: Strenge Mahnungen bei männlicher Sexualität, Toleranz bei weiblicher Sexualität.

Mohr 1999, 2 5 3 - 2 6 2 („A Divorce Bill? Notes on Papyrus X H e v / S e 13"). Für L. Schottroff, \Уап0ефгорЬе11ппеп. Eine feministische Analyse der Logienquelle, EvTh 51 ( 1 9 9 1 ) 3 3 2 - 3 4 4 und dies., Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Güterloh: Gütersloher Verlagshaus 1994, 122ff, ist die „Paarigkeit" von Männer- und Frauenarbeit ein theologisch bedeutsamer Zug der Verkündigung Jesu, der in deutlicher Spannung zur sonstigen androzentrischen Tendenz insbesondere der Logienquelle steht. Anders W. E. Amai, Gendered Couplets in Q and Legal Formulations: From Rhetoric to Social History, JBL 116 ( 1 9 9 7 ) 7 5 - 9 4 ; Hier schlage sich eine legalistische Tendenz der (männlichen) Tradenten von Q nieder, die ein "neues Gesetz" für die galiläische Gesellschaft schaffen wollten; "regulatory language" sei traditionell genderspezifisch ausgerichtet (vgl. z.B. IKor 7 , 1 - 1 6 ) .

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1.1. Formale Aspekte der Wortüberlieferung Bei Lk und Mt steht das Gleichnispaar vom Senfkorn und Sauerteig (Lk 13,18-19/20-21 par). Das Senfkorn wird von einem „Mann" gesät. Im griechischen Text steht άνθρωπος (also wörtlich: ein „Mensch"). Aber das bedeutet oft schlicht „Mann", besonders wenn ein solcher άνθρωπος neben einer Frau erwähnt wird. Und das ist hier der Fall: Das Gleichnis vom Sauerteig spricht von einer Frau. Es zeigt gute Kenntnisse von Frauenarbeit. Viele mäimliche Ausleger haben in der angeblich rätselhaften Aussage, dass die Frau den Sauerteig „verbarg" einen Hinweis auf das verborgene Gottesreich sehen wollen. Dabei handeh es sich um einen alltäglichen Vorgang: Der Teig wurde durch ein Brett oder Tuch abgedeckt, bis er ganz durchzogen war." Ein zweites geschlechtssymmetrisches Paar sind die beiden Gleichnisse vom verlorenen Schaf und verlorenen Groschen (Lk 15,3-7/8-10). Der Hirte, der das verlorene Schaf sucht, ist ein Mann. Er wirkt „draußen", wo nach antiker Vorstellung der primäre Lebensraum des Mannes war. Ihm wird die Frau gegenübergestellt, die „drinnen", in ihrem Haus, nach dem verlorenen Groschen sucht. Die Symmetrie zwischen Mann und Frau zeigt sich auch darin, dass der Hirte seine Freunde zu einem Fest zusammenruft, die Frau dagegen ihre Freundinnen. Noch bei zwei weiteren Gleichnissen habe ich den Eindruck, dass sie geschlechtssymmetrische Entsprechungen sind. Jedoch stehen sie nicht unmittelbar nebeneinander. Es handelt sich um das Gleichnis vom bittenden Freund, der nachts seinen Freund weckt und dank seiner „Unverschämtheit" zum Ziel kommt (Lk 11,5-8), und um das Gleichnis von der bittenden Witwe, die durch ihre Zudringlichkeit den Richter dazu bewegt ihr Recht zu schaffen (Lk 18,1-8). Nebeneinander finden wir also: einen unverschämt bittenden Mann und eine unverschämt bittende Frau. Derselbe Gedanke wird an einem Mann und an einer Frau veranschaulicht. Neben solchen Gleichnispaaren finden wir Doppelbeispiele aus der alttestamentlichen Geschichte. So vergleicht Jesus die Wirkung seiner Predigt einerseits mit der Predigt des Jona, andererseits mit der Weisheit des Salomo (Mt 12,41-42). Jona konnte die Niniviten zur Umkehr bewegen. Dabei wird ausdrücklich gesagt, dass es sich in Ninive um Männer handelte. Salomo zog die Königin des Südens an, die von weither kam um seine Weisheit zu hören. Mit den Niniviten auf der einen und der Königin des Südens auf der anderen Seite stehen Männer und eine Frau als Hörer der Predigt nebeneinander. Wenn nun Jesus sagt, hier ist mehr als Jona, mehr als Salo" Vgl. zur Auslegung des Gleichnisses in sozialgeschichtlich-feministischer Perspektive L. Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern (s.o. Anm. 10), 120-137.

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mo, so können wir daraus schließen: Seine Predigt zog Männer und Frauen an. Er brachte einen Umkehrruf für Männer, er bot Weisheit für Frauen, und zwar nicht nur für Königinnen, sondern für einfache Frauen im Volk! Ein weiteres geschlechtssymmetrisches Beispielpaar ist in der Antrittsrede Jesu in Nazareth enthalten (Lk 4,25-27). Um zu zeigen, dass der Prophet Anerkennung außerhalb seiner Vaterstadt findet, weist Jesus auf Elia, der zur Witwe von Sarepta gesandt wurde um sie vom Hungertod zu erretten und ihren Sohn aufzuerwecken, sowie auf Elisa, der den Syrer Naeman heilte. Wieder begegnen nebeneinander eine Frau und ein Mann - jetzt nicht als Hörer der Botschaft, sondern als Adressaten von Wundertaten. Am interessantesten für uns sind Spruchpaare, die eine - nach damaliger Anschauung - männliche und weibliche Tätigkeit nebeneinander stellen. Das erste Spruchpaar handelt vom plötzlich hereinbrechenden Gericht. Es kommt so plötzlich, dass es mitten durch Häuser und Familien hindurchgeht. Bei Matthäus lautet dieser Doppelspruch: Dann werden zwei auf dem Felde sein; der eine wird angenommen, der andere wird preisgegeben. Zwei (Frauen) werden mahlen mit der Mühle; die eine wird angenommen, die andere wird preisgegeben. (Mt 2 4 , 4 0 - 4 1 )

Hier finden wir wieder das vertraute Schema: Der Mann ist für die Welt „draußen" verantwortlich, die Frau für die Hauswirtschaft „drinnen". Enthüllend ist die Variante dieses Spruchs bei Lk. Hier sind die Männer nämlich drinnen im Haus, die Frauen dagegen draußen an der Mühle. Und was tun die Männer im Haus? Sie schlafen - während die Frauen an der Mühle schon arbeiten. Die Lastenverteilung ist sehr asymmetrisch (vgl. Lk 17,34f). Im Bildwort von der Unvereinbarkeit von Neuem und Altem könnten ebenfalls eine weibliche und eine männliche Tätigkeit nebeneinander erwähnt sein: „Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuch auf ein altes Kleid; sonst reißt der neue Lappen vom alten ab und der Riss wird ärger. Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; sondern man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen." (Mk 2 , 2 1 - 2 2 ) Eine alternative Deutung von Lk 17,34f, die an der geschlechtsspezifischen Asymmetrie allerdings nichts ändert, bietet J. Kloppenborg, Symbolic Eschatology and the Apocalypticisms of Q, HTR 80 (1987) 287-306, 302 Anm. 57: Kontrastiert werden Männer, die (liegend) ein Mahl genießen, und arbeitende Frauen.

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Jedoch ist hier die Unterscheidung nicht ganz so deutlich. Grammatisch wird nicht differenziert. Aber bei der Arbeit mit Textilien musste damals eher an Frauen, beim Wein dagegen kann an Männer gedacht sein. Ein wenig deutlicher dürfte diese Unterscheidung bei der Mahnung zum Nicht-Sorgen sein: „Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?... Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen." (Mt 6 , 2 5 - 2 9 )

„Spinnen" ist in der Antike eindeutig eine Frauenarbeit. Die Herstellung von Kleidung ist Frauensache. Zwar wird der König Salomo mit seinen Prachtkleidem genannt. Aber kein Mensch wird auf die Idee kommen, er habe sie selbst hergestellt. Im Unterschied zu dieser Textilarbeit ist das Säen und Ernten eher Männerarbeit, auch wenn Frauen gewiss mitgearbeitet haben.'^ Was können wir aus all diesen geschlechtssymmetrischen Paarbildungen erschließen? Ganz gewiss dies: Dass Jesus Männer und Frauen als Hörer gehabt hat. Diese Feststellung wirkt trivial. Aber sie ist es nicht. Die Weisheitslehrer des damaligen Judentums wie z.B. Jesus Sirach wandten sich mit ihren Sprüchen nur an junge Männer. Die Rabbinen scharten im Allgemeinen''' nur männliche Schüler um sich. ' ' Vgl. schon das atl. Buch Ruth. Die antiken Belege finden sich gesammelt bei W. Scheidel, Feldarbeit von Frauen in der antiken Landwirtschaft, Gymnasium 97(1990) 4 0 5 ^ 3 1 . " Auch die rabbinischen Schriften diskutieren allerdings gelegentlich die Frage, ob Frauen die Thora lernen sollen und überliefern eine Reihe von Traditionen über gebildete Frauen (wie Beruriah oder Yalta), die mit ihrer Schlagfertigkeit und Gelehrsamkeit manchen Rabbi in den Schatten gestellt haben sollen. Inwieweit sich hieraus historisch verwertbare Daten ergeben, sei es über einzehie historisch greifbare Frauen, sei es über gebildete Frauen in rabbinischen Zirkehi, ist sehr umstritten, vgl. v.a. die Arbeiten von Tal Ilan, Mine and Yours Are Hers. Retrieving Women's History from Rabbinic Literatur, AGAJU 41, Leiden u.a.: Brill 1997, dies.. Integrating Women (s.o. Anm. 9). Für die Zeit Jesu sind die rabbinischen Quellen nur mit großer Vorsicht auszuwerten.

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Es ist allerdings schwer festzustellen, welche Rolle Frauen in den zur Zeit Jesu aktiven religiösen jüdischen Gruppen spielten. Ein entscheidender Grund dafür ist der androzentrische Charakter der Sprache, in der die Quellen verfasst sind. Die männliche Form kann, insbesondere im Plural, rein männliche oder gemischtgeschlechtliche Gruppen beschreiben. So ist man auf die wenigen Fälle angewiesen, in denen Frauen explizit erwähnt werden, um Rückschlüsse auf ihre Anwesenheit und ihren Beitrag zu ziehen, und kommt oft über Vermutungen nicht hinaus. Genauso wie die Bezeichnung „Jünger" in den Evangelien angesichts gelegentlicher Erwähnungen von weiblichen Nachfolgern Jesu an den meisten Stellen angemessener mit „Jüngerinnen und Jünger" zu übersetzen ist, muss man sich fragen, ob es unter den Pharisäern auch Pharisäerinnen, unter den Essenern auch Essenerinnen, und in der Widerstandsbewegung neben Kämpfern auch Kämpferinnen gab, wie neuere Forschungen nahe zu legen scheinen.'^

Jesus hebt sich nicht dadurch von seinen Zeitgenossen ab, dass er auch Frauen für seine Form des jüdischen Glaubens zu gewinnen suchte, sondern dadurch, dass er die Anwesenheit von Frauen bei der Gestaltung seiner Lehre berücksichtigt. Frauenarbeit wird als gleich wichtiger Beitrag zur Lebenserhaltung wahrgenommen und thematisiert. Nirgendwo sonst finden wir in der jüdischen Weisheitsüberlieferung eine vergleichbare symmetrische Behandlung eines Frauen- und Männerthemas in Doppelsprüchen oder Doppelbildern. In prophetischer Überlieferung finden wir gelegentlich ein Wort an Frauen - so im Gerichtswort des Amos gegen die feinen Damen in Samarien (Am 4,1-3). Aber es kommt nicht zu Paarbildungen. Frauen gehörten also zu den Zuhörern Jesu. Und Jesus war das so wichtig, dass er sie oft in eigenen Bildern und Sprüchen anspricht - neben Bildern und Sprüchen für Männer. Dabei müssen wir zwei Kreise unter den Zuhörern und Zuhörerinnen unterscheiden: Einerseits Nachfolger, die mit Jesus durch die Lande zogen und Haus und Heimat verlassen hatten. Andererseits lokalansässige Sympathisanten, die ihm dort zuhörten, wo er gerade war - die aber nicht ständig mit ihm umherzogen. Aus der Mahnung zum Nicht-Sorgen kann man m.E. erschließen, dass Jesus auch wandernde Nachfolgerinnen voraussetzt: Denn diejenigen, die nicht säen, ernten und " Eine gute Übersicht über den Stand der Erforschung des antiken Judentums von Frauen gibt R. S. Kraemer, Jewish Women and Women's Judaism(s) at the Beginning of Christianity, in: R. S. Kraemer/M. R. d'Angelo (Hg.), Women & Christian Origins (s.o. Anm. 3), 50-79. Sie behandelt neben den „klassischen" jüdischen Gruppen und Parteien - Pharisäer(innen), Sadduzäern, Essener(innen), Herodäer(innen), Therapeut(inn)en, anti-römischen Parteigänger(innen), proto-rabbinischen Gruppen - auch Einzelpersonen wie Berenike und Babatha, aus deren Leben wir durch antike Geschichtsschreiber bzw. einen zufälligen umfangreichen Dokumentenfimd (das sog. Babatha-Archiv aus der jüdischen Wüste) so gut informiert sind, dass Rahmenbedingungen jüdischen Frauenlebens greifbar werden. Weitere Themen sind Ausdrucksformen des Judentums in Tempel, Synagoge und häuslicher Frömmigkeit. Vgl. außerdem die Arbeiten von T. Ilan, Integrating Women (s.o. Anm. 9) und dies., Jewish Women in Greco-Roman Palestine: An Inquiry into Image and Status, TSAJ 44, Tübingen: Mohr 1995.

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spinnen, können kaum lokalansässige Menschen sein, die einer geregelten Arbeit nachgingen. Hier handelt es sich um heimatlose „Vögel", die unter freiem Himmel lebten. Diese wandernden Nachfolger werden zwar mehrheitlich Männer gewesen sein. Aber auch Frauen dürften zu ihnen gehört haben, z.B. Maria Magdalena, auch an missionierende Ehepaare, die zur Zeit des Paulus sicher bezeugt sind, ist wahrscheinlich zu denken.'® Zeugen dieser Praxis der Berufung von Ehepaaren in die Nachfolge durch Jesus sind vielleicht die Notiz von der Aussendung zu zwei und zwei (Mk 6,7; vgl. Lk 10,1), sowie ein weiteres geschlechtssymmetrisch zu verstehendes Logion, dessen rekonstruierte Urform wohl folgendermaßen gelautet hat: Wer nicht hasst Vater oder Mutter, kann nicht mein Jünger sein. Wer nicht hasst Sohn oder Tochter, kann nicht mein Jünger sein, (vgl. Lk 14,26/Mt 10,37) M. Ebner hat die These vertreten, dass es sich hierbei um einen geschlechtssymmetrisch formulierten Nachfolgeruf an Ehepaare handelt, in dessen erster Hälfte die Aufgaben des Mannes beschrieben werden (die Gewährleistung der Versorgung der alten Eltern) und dessen zweite Hälfte mit der Kinderbetreuung die hauptsächliche Beschäftigung der Frauen in den Blick nimmt."

Während Frauen unter den wandernden Nachfolgern eher in der Minderzahl waren, werden sie unter den lokalansässigen Sympathisanten in den Ortsgemeinden dagegen oft eine wichtigere Rolle als die Männer gespielt haben.'"

1.2. Inhaltliche Aspekte der Jesusüberlieferung Jesus hat Frauen in seiner Lehre nicht nur formal, sondern auch inhaltlich berücksichtigt. Erst wenn man das beachtet, kann man einen scheinbaren Widerspruch in seinen Aussagen verstehen. Dazu sei kurz auf einen Grund-

" Missionierende Ehepaare sind Petrus und seine Frau, weitere namentlich nicht genannte Apostel und Brüder des Herrn mit ihren Ehefrauen (IKor 9,5), Priska und Aquila (Röm 16,3f), das Apostelehepaar Andronikus und Junia (Röm 16,7), vielleicht auch Philologus und Julia (Röm 16,15). Es scheint, dass manchmal auch je zwei Frauen ein missionierendes Paar gebildet haben, z.B. Tryphäna und Ttyphosa (Röm 16,12) und Euodia und Syntyche (Phil 4,2f). Vgl. M. R. d'Angelo, Women Partners in the New Testament, JFSR 6 (1990) 65-86 und E. Schüssler-Fiorenza, Gedächtnis (s.o. Anm. 2), 217-222. " M. Ebner, Jesus - ein Weisheitslehrer? HBS 15, Freiburg u.a.: Herder 1998, 105-110. " Zu den sesshaften Sympathisantinnen Jesu vgl. M. Fander, Stellung der Frau (s.o. Anm. 9), 17-34.316-320. Fander hält die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29-31) für die Gründungslegende einer sich um eine Frau gruppierenden Gemeinde.

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zug seiner Ethik, d.h. seinen Forderungen und Mahnungen, aufmerksam gemacht, über den allgemeiner Konsens besteht. Wir finden bei Jesus nebeneinander Rigorismus und Toleranz, d.h. er ist in mancher Hinsicht strenger oder rigoroser als seine Zeitgenossen, in anderer Hinsicht liberaler oder toleranter. Verglichen mit der „Thora", d.h. den in den Mosebüchem fixierten Geboten, kann man bei ihm sowohl von Thoraverschärfiing als auch von einer Thoraentschärfimg sprechen. Zwischen diesen entgegengesetzten Tendenzen besteht kein Widerspruch, sofern es sich um verschiedene Verhaltensbereiche handelt. Jesus verschärft Gebote, die wir zu den ethischen Geboten im engeren Sinne zählen: Er fordert eine hohe Kontrolle der Aggressivität, der Sexualität, der Wahrhaftigkeit, des Besitzstrebens. Bei all dem handelt es sich um universale ethische Normen, die sich der Tendenz nach bei allen Völkern finden. Jesus entschärft dagegen rituelle Normen, d.h. Gebote aus religiösen Traditionen, die für Juden charakteristisch waren wie z.B. die Sabbat- oder die Reinheitsgebote. Er entschärfte Normen, die Juden von Heiden trennen. Er verschärfte Normen, die Juden und Heiden gemeinsam haben. Bei den trennenden Geboten war er „liberal", bei den verbindenden „rigoros". Im Falle der Sexualität aber - und nur in diesem Bereich - finden wir gleichzeitig Normverschärfung und Normentschärfung, moralische Strenge und Toleranz. Zwei Worte zeigen eine ausgesprochene moralische Strenge. Das erste ist die zweite Antithese der Bergpredigt Mt 5,27f, einer Verschärümg des Ehebruchverbots: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen." Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen."

Menschliche Lebenserfahrung sagt: Diese Gebotsverschärfung überfordert den Menschen. Erotisches Angesprochensein durch eine Frau stellt sich unwillkürlich ein - auch ohne Kontrolle durch unser Ich. Insofern wären alle Männer (und wohl auch alle Menschen) Ehebrecher. Und in der Tat wird die Normverschärfung nicht in Form eines Imperativs formuliert. Es heißt nicht: „Du sollst eine Frau nicht begehren!", sondern wir begegnen einer Feststellung oder einem Schuldspruch: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen!" Diese Feststellung trifft eindeutig nur Männer. Das zweite Wort mit einer strengen Sexualmoral ist das sogenannte Eunuchenwort, das nur in Mt 19,10-12 überliefert ist. Manche wollen es des-

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wegen einer asketischen Strömung im Heimatland des Matthäusevangelisten, in Syrien, zuschreiben. Dann hätte es Jesus nicht gesprochen. Aber das ist nicht sicher. Im mt Kontext zielt es auf Ehelosigkeit. Nach der Perikope von der Ehescheidung sagen nämlich die Jünger: „Steht die Sache eines Mannes mit seiner Frau so, dann ist's nicht gut zu heiraten. Er sprach aber zu ihnen: Dies Wort fassen nicht alle, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn einige sind Eunuchen von Geburt an, andere sind Eunuchen, die von Menschen zu Eunuchen gemacht wurden. Und andere sind Eunuchen, die haben sich selbst zu Eunuchen wegen der Herrschaft der Himmel gemacht."

Angesichts der allgemein verbreiteten negativen Abwertung von Eunuchen handelt es sich um ein kühnes Wort. Jesus widerspricht hier einer bis heute verbreiteten Abwertung eines Lebens ohne Sexualität. Vielleicht wurden seine Jünger als „Eunuchen" beschimpft. Entzogen sie sich doch der Ehe, wenn sie mit Jesus heimatlos durch die Lande zogen! Hat Jesus vielleicht ihre (in solch einer Wanderexistenz begründete) „Ehelosigkeit" verteidigt?" Auch mit dem Eunuchenwort sind auf jeden Fall nur Männer angesprochen! Neben diese Aussagen mit strenger Sexualmoral treten nun andere tolerante Jesusüberlieferungen. An erster Stelle ist hier ein sogenanntes Einlasswort zu nennen, d.h. ein Wort, das festlegt, wer ins Himmelreich hineinkommt. „Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht, aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, so dass ihr ihm dann auch geglaubt hättet." (Mt21,31b-32)

Paulus spricht da ganz anders: Für ihn ist klar, dass Hurer, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe usw. nicht das Reich Gottes ererben werden (IKor 6,9f). Und man hat fast den Eindruck, als müsse er eine allzu weitherzige Aussage Jesu korrigieren. Auch wenn der Unterschied sachlich nicht so groß ist: Das Jesuswort vom Einlass der Huren in die Gottesherrschaft setzt voraus, dass diese auf die Umkehrpredigt hin tatsächlich umgekehrt sind. Sie werden deshalb vor den Frommen in die Gottesherrschaft kommen. Paulus setzt in seiner Gemeinde voraus, dass es dort " So der plausible Vorschlag von J. Blinzler, ΕίσΙν fùiOuxci, Z N W 4 8 ( 1 9 5 7 ) 2 5 4 - 2 7 0 .

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viele gibt, die einmal Hurer, Götzendiener und Ehebrecher waren (vgl. IKor 6,11), die also schon umgekehrt sind. Dennoch sind die Akzente verschieden. Jesus sagt: Die Huren werden vor euch Frommen in die Gottesherrschaft kommen. Paulus: Hurer bleiben von ihr ausgeschlossen. Wichtiger ist fìir uns ein anderer kleiner Unterschied: Jesus spricht nebeneinander von Zöllnern (also Männern) und Prostituierten (also Frauen; im griechischen Text steht die feminine Form). Paulus dagegen spricht von Hurem. Er benutzt die männliche Form πόρνοι, nicht πόρναι. Die erstaunlich weitherzige Aussage über Menschen mit sexuellem Fehlverhalten (denn als solches galt natürlich „Hurerei") bezieht sich bei Jesus eindeutig auf Frauen. Das wird durch die Erzählüberlieferung bestätigt. In der Jesusüberlieferung finden sich zwei Geschichten von Frauen, denen sexuelle Verfehlungen vorgeworfen werden. Die schönste ist die Perikope von der Ehebrecherin, die, auf frischer Tat ertappt, gesteinigt werden soll. Jesus rettet ihr das Leben, indem er sagt: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein (Joh 8,111). Die Geschichte von der „großen Sünderin" im LkEv (Lk 7,36-50) zielt m.E. in ähnliche Richtung. Jesus lässt diese Frau nah an sich heran, lässt es zu, dass sie seine Füße wäscht und küsst - zum Entsetzen seiner Umgebung. Er wertet ihre Zuwendung als Zeichen von Liebe, die Folge von Vergebung ist. Es ist nicht schwer den scheinbaren Widerspruch zwischen den strengen und toleranten Worten und Überlieferungen aufzulösen: Die rigoristischen Gebote wenden sich an Männer. Nur sie können gemeint sein, wenn es heißt: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." Nur Männer können sich durch den Eunuchenspruch angesprochen fühlen. Von ihnen fordert Jesus eine größere Kontrolle ihrer Sexualität. Die Überlieferungen mit sexualtoleranter Einstellung beziehen sich dagegen auf Frauen. Sie werden durch Jesus geschützt und gegenüber ihrer Umwelt verteidigt. Wenn die sexualethischen Aussagen deshalb in diesem Bereich eine etwas entgegengesetzte Tendenz haben, so ist das nur auf den ersten Blick asymmetrisch. Der Sache nach wird so Symmetrie hergestellt. Denn es wird auch damals so gewesen sein wie heute: Männliche Sexualität hat Kontrolle nötiger als weibliche Sexualität. In manchen Texten der damaligen Zeit wird das ganz anders dargestellt. Da erscheinen Frauen als Verführerinnen, die man für männliches Fehlverhalten verantwortlich macht. Im Testament Rubens ist z.B. die Warnung vor „Hurerei" gleichzeitig eine Warnung vor Frauen (TestRub 5). Die Verant-

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wortung für männliches Fehlverhalten wird Frauen zugeschoben?® In der Jesusüberlieferung finden wir jedoch ein klares Gebot an Männer selbst die Verantwortung für ihre Sexualität zu übernehmen - auch für das innere Begehren. Es passt zu dieser Tendenz in der Jesusüberlieferung, dass die Ehe als unauflöslich gilt. In der Oberschicht hatte sich ein anderes Verhaltensmuster durchgesetzt: Hier war die Ehe für beide Seiten auflösbar.^' Wenn Jesus dagegen die Ehescheidung ablehnt, so hat er dabei die einseitige Ehescheidung durch den Mann vor Augen. Betrachten wir kurz das Streitgespräch über die Ehescheidung in Mk 10,2-9: Jesus wird nämlich gefragt, ob ein Mann (hier steht άνήρ, was eindeutig Mann bedeutet) seine Frau wegschicken darf. Darauf antwortet er, dass Gott am Anfang Mann und Frau schuf. Sie gehören zusammen. Deswegen verlasse der Mann (hier steht jetzt άνθρωπος, ein Wort, das Mensch bedeutet, oft aber den Mann meint) seine Eltern um der Frau anzuhangen. Beide sind ein Fleisch. Die Pointe am Ende wird überall übersetzt: Was Gott zusammengefugt hat, soll der Mensch nicht trennen. Wo hier „Mensch" in der Übersetzung steht, steht im Griechischen aber άνθρωπος, also das Wort, das unmittelbar vorher noch „Mann" bedeutet. Daher liegt es viel näher zu übersetzen: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mann nicht scheiden." Nur nach dem Scheidungsrecht des Mannes war ja gefragt worden. Erst eine später angehängte Lehre im Haus klärt die Jünger (sachlich mit Recht auf): Daraus folgt, dass weder ein Mann seine Frau noch eine Frau ihren Mann wegschicken darf (Mk 10,1 If).^^ Auch in der Ehescheidungsperikope wird m.E. männliches Verhalten stärker normiert und kritisiert: Dem Mann wird verboten seine Frau wegzuschicken - das ist die Pointe! Denn hier gab es zweifellos patriarchalischen Missbrauch.

2. Frauen in der Erzählüberlieferung von Jesus Wir haben bisher weitgehend Jesusworte ausgewertet, aber auch schon Erzählüberlieferungen herangezogen. Unsere Frage ist: Finden wir in der Erzählüberlieferung von Jesus weitere Bestätigungen dieser - im Rahmen eiVgl. R. Kirchhoff, Die Testamente der zwölf Patriarchen. Über Techniken männlicher Machtausübung, in: L. SchottrofE'M.-T. Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998,474^82. S.o. Anm. 8-9. " Der Text lässt theoretisch (aber nur theoretisch) die Möglichkeit offen, dass Ehescheidungen im gegenseitigen Einverständnis anders zu bewerten sind. Aber das liegt nicht im Bereich dessen, was hier reflektiert wird.

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ner patriarchalischen Weit - erstaunlich positiven Einstellung zu Frauen? Ich erinnere daran: Erzählungen sind immer von anderen formuliert. Auch wenn sie historische Ereignisse wiedergeben, so sind sie doch „Gemeindeschöpfungen", d.h. nicht von Jesus geschaffene Texte, sondern von seinen Anhängern über ihn formulierte Geschichten. Wir erfahren aus ihnen, was den Erzählern an Jesus auffiel und was sie ihm zutrauten. Daher kann man mit Verschiebungen gegenüber der Wortüberlieferung rechnen. Trotzdem sind die Frauengestalten auch in der Erzählüberlieferung bemerkenswert. Dies Bemerkenswerte kann man in einer negativen und einer positiven Feststellung festhalten. Die negative Feststellung sagt: Es gibt kaum eine Erzählung in der Jesusüberlieferung, in denen Frauen in eindeutigen Frauenrollen auftreten also in der Sorge für Hauswirtschaft und Kinder. In der Wortüberlieferung ist diese Rolle durchaus vorhanden. Man denke an die Frau und den verlorenen Groschen, an den Sauerteig, an ihre Arbeit an der Mühle. Innerhalb der Erzählüberlieferung könnte man allenfalls auf die Schwiegermutter des Petrus weisen. Nach ihrer Heilung von einer Fieberkrankheit bedient sie Jesus und vier Jünger (Mk 1,29-30). Das dürfte eine typisch weibliche Tätigkeit sein. „Dienen" und „Dienst" begegnen auch sonst im Zusammenhang mit Frauen (vgl. Lk 10,40; 8,3/Mk 15,41). Die positive Feststellung sagt: Es gibt einige Erzählungen, in denen Frauen die Grenzen ihrer traditionellen Frauenrolle verlassen, ja sogar Verhaltensweisen übernehmen, die sonst Männern zugeschrieben werden. Das erste Beispiel ist die Salbung von Bethanien in der mk und mt Version (Mk 14,3-9 par). Hier salbt eine unbekannte Frau Jesu Haupt mit einem kostbaren Öl, während sie bei Lk und Joh nur die Füße salbt. Man kann solch eine Salbung des Kopfes als Akt der Gastfreundschaft betrachten, wie er z.B. in Lk 7,46 angemahnt wird. Jesus inteφretiert ihn hier neu als vorweggenommene Totensalbung. Jedoch könnte man in der Salbung des Haupts auch eine Königssalbung sehen: Jesus wird von einer Frau zum Messias gesalbt. Wenigstens wird im AT der König durch Salbung des Hauptes eingesetzt (vgl. ISam 10,1 u.ö.). Dass auch im MkEv an eine Messiassalbung gedacht sein könnte, geht m.E. aus zwei Zügen hervor: - Die Salbung des Haupts durch eine Frau steht innerhalb der Passionsgeschichte in Kontrast zur Verspottung des Haupts durch eine Dornenkrone: Diese Verspottung durch die Soldaten aber meint die messianische Würde Jesu. Die Soldaten machen sich über den Königsanspruch Jesu lustig. Ihre Domenkrone parodiert eine Königskrone. Die salbende Frau ist ein Kontrastbild. Sie bejaht Jesu Königtum. - Der Mk-Evangelist betont nur bei dieser Geschichte ausdrücklich, dass sie Bestandteil des Evangeliums (εύαγγέλιον) sein werde. Der Begriff „Evan-

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gelium" ist aber bei ihm per definitionem die Proklamation einer Königsherrschaft - zunächst der Königsherrschaft Gottes (Mk 1,14f), dann aber auch Proklamation der Herrschaft dessen, der diese Königsherrschaft herbeiftihrt. Falls das richtig gesehen ist, würde die salbende Frau in einer Rolle auftreten, die im Alten Testament Männern vorbehalten ist: in der Rolle des Samuel OSam 10,1; 16,13), des Priesters Zadok (IKön 1,39) und des Propheten Elisa (2Kön 9,3-6)?^ Das zweite Beispiel ist die Geschichte von der syrophönikischen Frau, die der hellenisierten Oberschicht Phönikiens angehört (Mk 7,24-30). Sie kommt verzweifelt zu Jesus um Heilung ñir ihre besessene Tochter zu erbitten, wird aber von ihm als Fremde abgewiesen. Durch eine schlagfertige Antwort kann sie Jesus dennoch für ihre Bitte gewinnen. Bei Mk erkennt Jesus diese Frau mit den Worten an: „Um dieses Wortes willen geh hin, der böse Geist ist von deiner Tochter ausgefahren" (Mk 7,29). Man könnte auch sagen: Um dieses „Arguments" willen geh hin. Im Griechischen steht dort λόγος. Auf jeden Fall erkennt hier Jesus die schlagfertige und überlegene Reaktion der Frau an. Er lässt sich von einer Frau belehren und gibt nach. Typischem Rollenklischee entspricht das nicht.^'' Das dritte Beispiel ist die Geschichte von Maria und Martha in Lk 10,38-42. Jesus wird in einem Dorf von Martha in ihr Haus aufgenommen und bewirtet. Im Haus lebt noch eine Schwester Maria. Diese hört Jesus bei seiner Lehre zu - anstatt der Schwester bei der Hausarbeit zu helfen. Martha kritisiert das. Sie bittet Jesus um moralische Unterstützung. Aber der lehnt ab. Maria habe das Bessere gewählt. Maria hat die typische Rolle einer Frau verlassen. Diese Rolle erwartet von ihr: Sie muss zunächst ihren Haushalt versorgen. Alles andere ist sekundär. Maria aber sitzt stattdessen Jesus zu Füßen und hört seiner Lehre zu - so wie die Schüler der Rabbinen ihrem Meister zu Füßen sitzen. Sie tritt in die Rolle des Schülers. Bildung und Lehre, hier: religiöse Bildung und Lehre sind ihr wichtiger als der Haushalt. Wenn man bedenkt, dass damals auch in der gebildeten römischhellenistischen Welt die Frage diskutiert wurde, ob man Frauen an philosophischer Bildung beteiligen soll, merkt man: Hier werden traditionelle Rollenverteilungen aufgelöst. Was der römische Ritter und Philosoph Musoni" Die Deutung als Messiassalbung wird u.a. auch vertreten von E. Schüssler-Fiorenza, Gedächtnis (s.o. Anm. 2), 203f und von M. Fander, Stellung (s.o. Anm. 9), 118-134. Heftige Kritik an ihr findet sich bei H. Weder, Kritik am Verdacht. Eine neutestamentliche Erprobung der neueren Hermeneutik des Verdachts, ZThK 93 (1996) 59-83, S. 70: „... in der Erzählung selbst gibt es keinerlei Hinweise auf eine solche Deutung." " Vgl. S. A. Strube, „Wegen dieses Wortes ...". Feministische und nichtfeministische Exegese im Vergleich am Beispiel der Auslegungen zu Mk 7,24-30, Theologische Frauenforschung in Europa 3, Münster u.a.: Lit 2000.

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US - ein Oberschichtangehöriger - befürwortete, die philosophische Bildung von Frauen, wird hier auf einem viel schlichteren sozialen Niveau unter einfachen Menschen verwirklicht: nicht durch Philosophie, sondern durch die Verkündigung Jesu.^^

3. Erklärungen für das Bild von Frauen und Männern in der Jesusüberlieferung Wir können nun eine Erklärung des Gesamtbefunds versuchen. Der Befund ist: In Wort- und Erzählüberlieferung Jesu treten Frauen in ungewöhnlicher Weise hervor. In der Wortüberlieferung treten sie mit gleichem Gewicht neben Männer. In der Erzählüberlieferung treten sie manchmal auch in die Rolle von Männern. Wie ist diese Relativierung von Geschlechtsrollen in der Verkündigung Jesu zu erklären?

3.1. Der Lebensstil Jesu und seiner Nachfolger: Eine Erklärung

sozialgeschichtliche

Ich beginne mit einer sozialgeschichtlichen Erklärung, einer Erklärung aus der besonderen Situation und dem besonderen Lebensstil der Gruppe um Jesus heraus. Dabei kombiniere ich eine Annahme über die Lebensweise dieser kleinen Gruppe mit einer Annahme über Prozesse in der Gesamtgesellschaft im damaligen Palästina. Von der Gruppe um Jesus gilt: Es war eine Schar heimatloser Wanderprediger, die ohne Verpflichtungen durch Beruf und Familie am Rande der Gesellschaft ein riskantes Wanderleben führten - und das alles um der nahen Gottesherrschaft willen, durch die sie aus den Bindungen des Alltags herausgerissen worden waren. In solch einer Gruppe, die jenseits der normalen Spielregeln des Alltags lebte, konnten sich eingefahrene Rollenmuster auflösen, Abgrenzungen im Verhalten zwischen Mann und Frau konnten hier in Frage gestellt werden. Hier, am Rande der Gesellschaft, verblasste mancher sozialer Anpassungsdruck.^^ Vgl. zu Musonius W. Klassen, Musonius Rufus, Jesus and Paul: Three First-Century Feminists, in: P. Richardson/J. Hurd, From Jesus to Paul. Studies in Honor of F. W. Beare, Ontario: Wilfred Laurier University Press 1984, 185-206. In diesem Zusammenhang ist auch die offene Mahlpraxis der Jesusgruppe zu erwähnen: Frauen nahmen selbstverständlich teil, was auch von einigen anderen religiösen und philosophischen Gruppierungen (z.B. von Epikuräem und Kynikem) praktiziert und von konservativen Zeitgenossen als unmoralisch abqualifiziert wurde. Vgl. K. E. Corley, Private Women, Public Meals: Social Conflict in the Synoptic Tradition, Peabody, MA: Hendrickson 1993. Dazu passt die Beobachtung R. S. Kraemers, Jewish Women (s.o. Anm. 3), 44fF, dass die

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Diese Gruppe steht jedoch nicht nur am Rande der Gesellschaft. Sie steht in Opposition zu ihrer Oberschicht. Diese Opposition gegen die Oberschicht zeigt sich in direkter Kritik - etwa der herodäischen Herrscher, der Schriftgelehrten, der Reichen. Sie zeigt sich aber auch darin, dass man Privilegien der Oberschicht für sich beansprucht und in neuer Weise kleinen Leuten zugänglich macht. Ich darf das kurz illustrieren: Friedenstiften war eine Tätigkeit von Fürsten. Jesus sagt: Ihr alle seid Friedensstifter. Freiheit von materiellen Sorgen war ein Privileg der Reichen. Jesus sagt: Ihr könnt alle fi-ei werden von Sorgen durch Vertrauen in Gott. Weisheit und Bildung war ein Vorrecht der Oberschicht. Jesus aber sagt: Ihr könnt alle „weise" werden, wenn ihr von mir lernt. Und dasselbe gilt von Emanzipationstendenzen von Frauen. In der damaligen Oberschicht gab es zweifellos solche Emanzipationstendenzen. Wenn formal vergleichbare Tendenzen in der Jesusbewegung auftauchen, so handelt es sich um eine Übernahme von Oberschichtwerten durch die Unterschicht. Jesus sagt einfachen Frauen, die ihm in Galiläa zuhörten: Ihr könnt alle werden wie die Königin des Südens. Solch eine sozialgeschichtliche Erklärung hat ihre Grenzen. Sie betrifft nur einen Außenaspekt. Sie zeigt, es gibt in manchen Gruppen unter bestimmten Bedingungen eine größere Chance Verhalten und Einstellung zu verändern als anderswo. Über die Inhalte dieser Veränderungen ist damit noch nicht viel gesagt. Die können in verschiedene Richtung gehen. Die Frage bleibt: Warum finden wir bei Jesus eine Richtung, die Frauen größere Selbständigkeit gibt - und das mitten in einer patriarchalischen Weh?

3.2. Das Gottesbild

Jesu: Eine theologische

Erklärung

Für mich ist das Gottesverständnis Jesu eine Antwort auf diese Frage. Von Gott können wir nur in Bildern sprechen. Auch Jesus sprach in Bildern von ihm. Einige dieser Bilder entfaltete er zu kleinen Geschichten - zu Gleichnissen. Drei Bilder sind ftir uns hier wichtig: Das Bild von der Königsherrschaft Gottes, von Gott als Vater und von der Weisheit Gottes. Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes. Jesus weiß, dass Gott nahe ist. Welt und Menschen werden sich verändern und sollen sich verändern. Obwohl die kommende und schon jetzt beginnende Königsherrschaft Gottes für ihn zentral ist, spricht er fast nie von Gott als „König". D.h. Gott tritt in seiner „Königsherrschaft" nicht als König auf Was aber ist Gott dann? An die Stelle des Königsbildes

namentlich bekannten Frauen der frühen palästinischen Jesusbewegung allesamt keine Repräsentantinnen einer weiblichen „Normalbiographie" zu sein scheinen: es fehlen unter den Jesusanhängern verheiratete Frauen mit Kindern.

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treten wohl bewusst zwei andere Bilder: das eine ist ein männliches, das andere ein weibliches Bild. Das männliche Bild ist das von Gott als Vater. Gott kommt als Vater zur Herrschaft. Deshalb lautet das Vaterunser bei Jesus: „Unser Vater ... Deine Königsherrschaft komme!" (Mt 6,9f) Jesus gibt den Menschen das Vertrauen, dass in Gottes Herrschaft kein fremder König, sondern ihr eigener Vater zur Macht kommt. Und das heißt: Dass sie von Jesus lernen können: Sie alle gehören zur Königsfamilie. Der kleinste und geringste Mensch wird in seiner Nachfolge zum Königssohn und zur Königstochter. Der kleinste und geringste Mensch kann erhobenen Hauptes leben. Denn alle, Männer und Frauen, dürfen wissen: Ihr Vater ist Herrscher über die Welt und der Weltenherrscher selbst ist ihr Vater. Das weibliche Bild ist: Gott ist Weisheit.^^ Im damaligen Judentum hatte man die Vorstellung entwickeh, dass Gott eine gütige Seite hat. Man spricht von ihr wie von einer Frau Gottes. Diese gütige Seite Gottes ist seine Weisheit. Durch sie hat Gott die Welt geschaffen. Auch von ihr redet Jesus. Etwa wenn er die Ablehnung des Täufers und seine eigene Ablehnung als „Fresser und Weinsäufer" mit den Worten kommentiert: Die Weisheit Gottes erhielt Recht durch ihre Kinder, d.h. durch die Anhänger des Täufers und Jesus (Lk 7,35 vgl. Mt 11,19). Das Gottesbild Jesu vereinigt also männliche und weibliche Züge. Und das Christentum hat diese Verbindung männlicher und weiblicher Züge nie völlig vergessen. Sie begegnet uns in dem Kirchenlied „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte ...". In ihm heißt es in der fiinften Strophe: „Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her." Und die sechste Strophe ergänzt: Der Schöpfer „neiget die Vateraugen denen zu, die sonsten nirgends finden Ruh". Dies Kirchenlied steht damit in einer alten biblischen Tradition. Auch wenn wir die weiblichen Bilder oft zurückgedrängt haben, so sind sie doch vorhanden. Sie gehen auf Jesus selbst zurück. Denken Sie nur an das Doppelgleichnis vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen. Die Liebe Gottes zu den Verlorenen wird hier sowohl mit dem männlichen Bild des Hirten, der sein verlorenes Schaf sucht, als auch mit dem weiblichen Bild der Frau, die ihren verlorenen Groschen sucht, veranschaulicht. Beide Bilder bezeugen die Gnade Gottes. Wenn man nun die männlichen Vaterbilder und die weiblichen Weisheitsbilder bei Jesus näher vergleicht, macht man eine interessante Entdeckung. Im Bild vom Vater treten oft die weichen und mütterlichen Züge hervor. Gott erhört als Vater die Bitten der Menschen (Lk 11,11-13), er Eine kurze Einführung und weiterführende Literatur zur Weisheit bietet S. Schroer, Art. Weisheit/Sophia, in: E. Gössmann u.a. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. vollst. Überarb. u. grundl. erw. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2 0 0 2 , 5 7 2 - 5 7 4 .

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sorgt für sie (Lk 12,29-32) und vergibt ihnen als Vater ihre Schuld (Lk 15,11-32). Er ist kein strenger Vater, sondern ein mütterlicher Vater. Umgekehrt gilt: Die weiblichen Weisheitsaussagen von Gott sind oft mit einem harten Konflikt zwischen Gott und Mensch verbunden. Die Weisheit sendet ihre Boten, Johannes den Täufer und Jesus. Beide werden abgelehnt. Der eine als Asket, der andere als Fresser und Weinsäufer (Lk 7,31-35 par). Die Weisheit Gottes hat schon immer Propheten und Apostel gesandt. Aber sie wurden misshandelt und getötet. Deshalb wird diesem Geschlecht ein strenges Gericht angekündigt (Lk 11,49-51 par). Die Weisheit wirbt um die Menschen wie eine Henne ihre Küken unter ihren Flügeln sammeh - aber vergeblich. Ihre Gesandten werden gesteinigt (Lk 13,34-35). Die Weisheit Gottes erscheint hier gewiss als mütterliche Liebe - aber als eine Liebe, die den Konflikt riskiert; als eine Liebe, die abgelehnt wird; als eine Liebe, die sogar in Gerichtsdrohung umschlagen kann. Das Gottesbild Jesu vereinigt also männliche und weibliche Züge. Gott ist „Vater" und „Mutter" (oder Weisheit). Aber Gott hat als Vater mütterliche Züge, als Weisheit väterliche Züge. Wenn der Mensch als Mann und Frau Gottes Ebenbild ist, dann dürfen wir uns durchaus fragen: Wäre es nicht im Sinne dieses Tausches männlicher und weiblicher Züge im Gottesbild, wenn Männer sich als Ebenbilder Gottes etwas mehr um mütterliche Verhaltensweisen bemühten - und Frauen etwas mehr um jene konfliktfreudigen Verhaltensweisen, die traditionell als „männlich" gelten? Vor allem aber sollten wir wissen: So wie Gott mehr ist als die männlichen oder weiblichen Bilder von ihm, so gilt auch von seinem Ebenbild, dem Menschen: Er ist mehr als das, was die oft so zeitbedingten Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit ihm zuschreiben. Wir sollten keinen Menschen auf feste Bilder festlegen. Denn man kann sich letztlich vom Menschen so wenig ein Bild machen wie von Gott selbst. Wo das zur festen Überzeugung wird, da wird es immer wieder geschehen, dass Frauen in die Rolle von Männern und Männer in die Rolle von Frauen eintreten, — so wie es im Umfeld Jesu ansatzweise geschehen ist.

Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der synoptischen Überlieferung' Was haben Jesus und die Sadduzäer gemeinsam? Eine erste Antwort lautet: Gemeinsam haben sie, dass wir von beiden wenig wissen.^ Fast alles ist umstritten, bei den Sadduzäem noch mehr als bei Jesus. Keine jüdische Schrift lässt sich sicher den Sadduzäem zuordnen. Wir sind ausschließlich auf Aussagen anderer über sie angewiesen. Zunächst auf Aussagen des Josephus,^ der möglicherweise aus einer sadduzäischen Familie stammte, sich selbst aber einen Pharisäer nennt; er ist also Partei. Femer auf spärliche Notizen in den urchristlichen Schriften,'' die von Spannungen zwischen der Gemeinde und Sadduzäem zeugen, also keine objektive Quelle darstellen. Schließlich auf Aussagen in den rabbinischen Schriften,^ für die die Sadduzäer Häretiker sind. Trotzdem darf man sagen: Wenn wir Josephus nicht ' Mit diesem Aufsatz grüße ich Niels Hyldahl zu seinem 65. Geburtstag - verbunden mit einem herzlichen Dank fur die gemeinsame Zeit am Institut for Bibelsk Eksegese an der Universität Kopenhagen 1978-1980. Er erschien zuerst in: Tro og historie, FS N. Hyldahl, Forum for bibelsk eksegese 7, Kebenhavn: Museum Tusculanums Forlag 1996, 224-245. Er wurde für diese Ausgabe nur leicht überarbeitet. ^ Überblick über das Wenige, was wir wissen, bieten: H.-F. Weiß, Art. Sadduzäer, TRE 29 (1998) 589-594; С. Burchard, Art. Sadduzäer, PRESuppl. 15 (1978) 466-478; F. Böhl, Art. Sadduzäer, NHL 3 (2001) Sp. 399-400. ' Jos Bell 2,164-6; Ant I3,171-3.297f; 18,16f; 20,199. Vgl. dazu die Interpretationen und Analysen von J. Le Moyne, Les Sadducéens, EtB, Paris: Gabalda 1972, 27-62; J. Neusner, From Politics to Piety. The Emergence of Pharisaic Judaism, Englewood Cliffs: Prentice Hall 1973; E. Main, Les Sadducéens vus par Flavius Josèphe, RB 97 0 9 9 0 ) 161-206; G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 1991, 10-23; S. Mason, Flavius Josephus and the Pharisees. A Composition-Critical Study, StPB 39, Leiden: Brill 1991; P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M. Hengel/U. Heckel, Paulus und das antike Judentum, W U N T 58, Tübingen 1991, 125-175. ^ Mk 12,18-27 parr; Mt 3,7; 16,1.6.12; Apg 4,1; 5,17; 23,6-8. Vgl. dazu J. Le Moyne, Sadducéens (s.o. Anm. 3), 121-135; G. Stemberger (s.o. Anm. 3), 24-39. ^ Vgl. die Textsammlung bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, IV, München: C. H. Beck 1928 = 1975, 339-352. Analysen dazu u.a. von J. Le Moyne, Sadducéens (s.o. Anm. 3), 95-119; G. Stemberger, 4 0 - 6 4 (s.o. Anm. 3); J. Lightstone, Sadducees versus Pharisees. The Tannaitic Sources, in: J. Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and other Greco-Roman Cults. Judaism before 70, FS M. Smith, Bd. Ill, Leiden 1975, 206-217. Dabei zeigt sich eine zunehmende Skepsis gegenüber der historischen Auswertbarkeit der rabbinischen Texte. Häufig vMirden erst sekundär Vertreter häretischer Meinungen mit den Sadduzäem identifiziert (vgl. Le Moyne, Sadducéens [s.o. Armi. 3], 95ff). Wo jedoch Aussagen bei Josephus, im NT und in den rabbinischen Texten konvergieren, dürften sie m.E. historisch auswertbar sein. Darüber hinaus kann man Informationen verwerten, die zwar nicht in mehreren Textkomplexen zu finden sind, aber sachlich gut zu mehrfach bezeugten Informationen passen.

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von vornherein misstrauen und seine Aussagen im Lichte der anderen Quellen kritisch überprüfen, so können wir von ihnen mehr als „nichts" aussagen. Mehr als nichts wissen wir auch von Jesus, auch wenn es sehr schwierig ist dies „Mehr" konsensfahig zu definieren. Daher wähle ich im Titel dieses Aufsatzes nicht „Jesus", sondern die „Jesustradition" als Vergleichspunkt. Das ermöglicht es Traditionen über Jesus unabhängig von ihrer umstrittenen Echtheit heranzuziehen. Was haben also Jesus und die Sadduzäer gemeinsam? Meine zweite Antwort entspricht einem breiten Konsens: Sie haben wenig gemeinsam; im Gegenteil, sie stehen in Gegensatz zueinander. Auf der einen Seite der Prediger und Charismatiker aus dem Volk. Auf der anderen Seite eine mit der Aristokratie verbundene konservative theologische Richtung, von der Josephus sagt, sie fände nur bei den Reichen (Ant 13,298) und Hochstehenden (Ant 18,17) Unterstützung.® Auf der einen Seite der Kritiker des Tempels, der dem Tempel den Untergang weissagte. Auf der anderen Seite eine mit dem Tempel und dessen Priestern eng verbundene Gruppe.' Darauf weist schon die Bedeutung des Namens „Sadduzäer", der wahrscheinlich von dem Priester „Zadok" aus der Zeit Davids abgeleitet ist.' ' Diese soziale Zuordnung der Sadduzäer wird durch alle drei Textkomplexe bestätigt. Sadduzäer erscheinen in Apg 4,1; 5,17; 23,6-8 als Mitglieder des Synhedriums und der jüdischen Oberschicht. Ein rabbinischer Beleg hebt ihren Luxus hervor: „Und sie (die Sadduzäer und Boethosäer) bedienten sich silberner und goldener Geräte alle Tage, nicht weil ihr Sinn hochmütig bei ihnen war, sondern die Sadduzäer sagten: Diese Überlieferung ist in der Hand der Pharisäer, dass sie (die Sadduzäer) sich quälten in dieser Welt und in der zukünftigen Welt gar nichts hätten" (ARN A5 zit. n. P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, IV,I, Münschen: C. H. Beck 1928 (=1975), 343). Beim Subjekt des letzten Nebensatzes könnte auch an die Pharisäer gedacht sein; sie härmen sich in dieser Welt ab und haben in der zukünftigen nichts davon. B. Wander, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jahrhundert n.Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Hinrichtung Jesu und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, TANZ 16, Tübingen/Basel: Francke 1994, 110, gibt gegen eine Zuordnung der Sadduzäer zu den Oberschichten zu bedenken, dass sie nach Ant 18,17 nur unfreiwillig ein Amt übernehmen. Aber dieser Unwille der Sadduzäer bezieht sich nicht auf die vorher erwähnte Übernahme von Ämtern, sondern auf den danach erwähnten Zwang in diesen Ämtern der pharisäischen Halacha folgen zu müssen! ' Sadduzäische Hohepriester sind belegt durch Josephus Ant 20,199f und bYom 19b. Das NT lässt zumindest auf eine Nähe zwischen Hohepriestern und Sadduzäem schließen (Apg 4,1; 5,17). Der wichtigste Streitpunkt zwischen Sadduzäem und Pharisäern sind in den rabbinischen Quellen Fragen von Reinheit und Unreinheit (vgl. G. G. Porton, Art. Sadducees, ABD V (1992) 892-895, dort S. 893), ein Interesse, das vor allem Priester vertraten, aber von den Pharisäern für das ganze Volk geltend gemacht wurde. ' Zum Namen „Sadduzäer" vgl. J. Le Moyne, Sadducéens (s.o Anm. 3), 155-163. Wahrscheinlich handeh es sich um eine Selbstbezeichnung der „Sadduzäer", nicht um einen Spottnamen, der ihnen von außen zugeschrieben wurde, während sie in Wirklichkeit das Gegenteil von dem waren, was der Name sagt. Ein Spottname müsste etwas Negatives anklingen lassen. Aber sowohl der Eigenname Zadok als auch der Stamm p i s (= gerecht) waren positiv konnotiert. Die Deutung als

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Auf der einen Seite ein eschatologischer Prediger, der das nahe Reich Gottes verkündigte und (gegen die Sadduzäer) den Auferstehungsglauben verteidigte (Mk 12,18-27). Auf der anderen Seite eine Gruppe, die nach Josephus jede individuelle Eschatologie ablehnte: Die Seele sterbe mit dem Кофег. Die Sadduzäer kannten keine Auferstehung.' Auf der einen Seite schließlich ein Exorzist, der Menschen von Dämonen befreite. Auf der anderen Seite eine Gruppe, die nach Apg 23,8 den Glauben an Engel und Geister ablehnte.'" Dies Bild eines durchgehenden Gegensatzes wird durch die geschichtlichen Ereignisse bestätigt; Nach Apg 4,1 gehören die Sadduzäer zu den Gegnern der ersten Christen. Paulus gewinnt nach Apg 23,6-10 die Pharisäer für sich, bringt aber die Sadduzäer gegen sich auf. Der Herrenbruder Jakobus wird von einem sadduzäischen Hohepriester hingerichtet (Ant 20,199ff)." Die Proteste gegen diese Hinrichtung kommen ziemlich sicher aus dem pharisäischen Lager. Man kann von diesen Indizien aus der frühen Urchristentumsgeschichte wohl auf den ersten Konflikt zurückschließen, der am Anfang des Urchristentums stand: Sadduzäer dürften die entscheidenden Gegner Jesu in seinen letzten Tagen gewesen sein.'^ Was haben also Jesus und die Sadduzäer gemeinsam? Ich möchte hier eine dritte Antwort versuchen, die darauf hinausläuft, dass es verborgene Beziehungen zwischen Sadduzäismus und Jesusbewegung gab - so wie wir in der Geschichte hin und wieder latente Ähnlichkeiten zwischen Gegnern Spottnamen vertraten J. Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald: Bamberg 1874, 94, und G. Hölscher, Der Sadduzäismus. Eine kritische Untersuchung zur späteren jüdischen Religionsgeschichte, Leipzig: Hinrichs 1906, 106f. ' Hinsichtlich der Leugnung der Auferstehung konvergieren die drei Quellenkomplexe für die Sadduzäer: Josephus Ant 18,16f; NT: Mk 12,18-27 parr; Apg 23,6-8; rabbinische Schriften ARN A5; bSan 90b-91a u.ö. Wahrscheinlich vertraten die Sadduzäer den alttestamentlichen Glauben an die Scheol; vgl. J. Le Moyne, Sadducéens (s.o. Anm. 3), 167-175. Dazu haben wir leider nur den Beleg in Apg 23,8, aber er passt sachlich gut zu anderen, sicher bezeugten Merkmalen. Wer nicht an die Auferstehung glaubt, wird auch gegenüber anderen „pneumatischen Existenzformen" wie Engeln und Geistern siceptisch sein. Jos Ant 18,16 schreibt den Sadduzäem die Überzeugung zu, dass die Seele mit dem Körper zugrunde gehe. Zumindest „Totengeister" wären dann nicht denkbar. " Beide Ereignisse sind m.E. in einem Zusammenhang zu sehen: In beiden Fällen reagieren Sadduzäer und Pharisäer entgegengesetzt auf zwei Führer des Urchristentums, Paulus und Jakobus. Das öffentliche Aufsehen um Paulus hat wahrscheinlich wieder die Aufmerksamkeit auf die Christen gelenkt und ihren Ruf als „Gesetzesbrecher" erneuert. Mit Jakobus werden andere Christen hingerichtet aufgrund der Anklage, sie hätten etwas gegen die Gesetze getan (Jos Ant 20,200). " Vgl. G. Baumbach, Das Sadduzäerverständnis bei Josephus Flavius und im Neuen Testament, Kairos 13 (1971) 17-37, 28.34ff; K. Müller, Jesus und die Sadduzäer, in: Biblische Randbemerkungen, FS R. Schnackenburg, [Würzburg]: Echter-Verlag 1974, 3 - 2 4 , dort S. 19ff. B. Wander (s.o. Anm. 6), 104АГ, möchte stärker zwischen den Sadduzäem und dem Jerusalemer Adel differenzieren, sieht aber ebenfalls in beiden die Hauptgegner Jesu und der Christen in Palästina.

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feststellen können, die hinter den manifesten Konflikten verborgen sind. Manchmal kann man aufgrund solcher latenten Beziehungen die manifesten Konflikte besser verstehen. Drei verborgene Beziehungen lassen sich feststellen. Es gibt geschichtliche Zusammenhänge zwischen Sadduzäismus und dem Galiläer Jesus. Es gibt strukturelle Ähnlichkeiten zwischen seiner Lehre und der der Sadduzäer. Und es gibt inhaltliche Berührungspunkte gerade dort, wo Jesus pharisäische Lehren teilt, sich aber in einigen Akzenten von ihnen unterscheidet.

1. Geschichtliche Zusammenhänge zwischen Jesus und dem Sadduzäismus Um die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen Jesus und dem Sadduzäismus aufzuspüren müssen wir weit in die Geschichte zurückgreifen. Josephus erwähnt die Sadduzäer als eine der drei Religionsparteien (αιρέσεις) der Juden zum ersten Mal in der Zeit des zweiten Makkabäers Jonathan (161-142 v.Chr.).'^ Er lässt sie aber erst unter Johannes Hyrkan (135/4-104

" Der Ursprung der Sadduzäer liegt im Dunkeln. Die folgende Hypothese lehnt sich eng an N. Hyldahl, The History of Early Christianity, Studies in the Religion and History of Early Christianity, Vol. 3, Frankfurt a. M. u.a.: Lang 1997 (= dän.: Den aeldste kristendoms historie, Kobenhavn: Museum Tusculanums Forlag 1993, ^994), 45-52, bes. 50, an. Nachdem in der Zeit der hellenistischen Reform und des gegen sie gerichteten Makkabäeraufstands ein Teil der zadokidischen Priester nach Ägypten ausgewandert war um dort den Tempel in Leontopolis zu gründen, ein anderer Teil der „Söhne Zadoks" mit dem Lehrer der Gerechtigkeit den essenischen Bund (auch als Ersatz für den Tempel) gegründet hatte, blieben am Jerusalemer Heiligtum nur jene Zadokiden zurück, die der gemäßigten Reformpartei des Jason angehörten. Diese Zadokiden waren durch die Reform nicht kompromittiert, im Gegenteil: Das Religionsedikt Antiochus IV. Epiphanes hatte sich gerade gegen sie gerichtet, nachdem sie sich in Jerusalem vorübergehend gegen die radikalen Hellenisten um Menelaos durchgesetzt hatten (vgl. N. Hyldahl, History, 24ff). Aus ihren Reihen stammt der auch von den chassidim akzeptierte Hohepriester Alkimos. Der Usuφation des Hohepriesteramtes durch den Hasmonäer Jonathan müssen sie anfangs ablehnend gegenübergestanden haben. Später aber - unter Johannes Hyrkan? - haben sie die Legitimität der hasmonäischen Hohepriester anerkannt. Die Grundlage fflr diese Legitimierung der Hasmonäer finden wir in IChr 24. Hier werden die Nachkommen Aarons in zwei Geschlechter eingeteilt: das Geschlecht Ithamars und Zadoks. Die Familie Jojarib, aus der die Hasmonäer stammten (vgl. IMakk 2,1), wird dem Geschlecht Ithamars zugeordnet, steht aber in der Aufzählung der Familien an der Spitze. Ausdrücklich wird nun betont, es gäbe „Oberste im Heiligtum und Oberste vor Gott unter den Söhnen Eleasar und unter den Söhnen Ithamar." (IChr 24,5). Entweder hatte die Familie Jojarib schon vor dem Makkabäeraufstand eine so hohe Stellung, dass ihr Zugriff auf das Hohepriesteramt als legitim anerkannt werden konnte - IChr 24 spiegelt dann vormakkabäische Verhältnisse - oder aber IChr 24 wurde erst in der Zeit hasmonäischer Priesterherrschaft prohasmonäisch überarbeitet. Zwar erkannten die Sadduzäer nur die Gesetze des Mose an. Aber sie scheinen auch andere Schriften als eine Art „Apokryphen" geschätzt zu haben. Die Söhne Aarons, Ithamar und Eleazar, waren ohnehin im Pentateuch erwähnt (vgl. Lev 10,12ff).

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V.Chr.) aktiv hervortreten.''* Er berichtet, Johannes Hyrkan habe sich zunächst auf die Pharisäer gestützt, sei dann aber zu den Sadduzäem übergewechselt. Die Überlieferung lässt dabei einen außen- und einen innenpolitischen Grund für diesen Wechsel erkennen: Zeitlich wird dieser Wechsel mit den militärischen Erfolgen des Ethnarchen, insbesondere seiner Eroberung Samariens (Ant 13,275ff), in Zusammenhang gebracht. Diese Erfolge hätten den Neid der Juden geweckt. Der gilt somit als die eigentliche Ursache des Konflikts. Der unmittelbare Grund und Anlass aber ist die Kritik eines Pharisäers an der Legitimität seines Hohepriestertums und die Aufforderung an ihn auf das Hohepriestertum zu verzichten und sich damit zu begnügen über das Volk zu herrschen (Ant 13,288-298). Diese Kritik soll bei einem Gastmahl des Johannes Hyrkan mit den Pharisäern laut geworden sein.'^ Eine vergleichbare Geschichte wird in der rabbinischen Tradition von einem Nachfolger des Johannes Hyrkan, von König Alexander Jannäus, erzählt (bQuid 66a); viele Forscher neigen heute dazu diese zeitlich spätere Ansetzung eines Wechsels der Hasmonäer von den Pharisäern zu den Sadduzäem für historisch zu halten,'^ m.E. zu unrecht. Denn dieser Wechsel lässt sich besser in der Regierungszeit des Johannes Hyrkan vorstellen als in der des Alexander Jannäus. Zunächst zum innenpolitischen Aspekt dieses Wechsels: Im Jahre 141 Zu Johannes Hyrkan vgl. E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.-A.D. 135), Vol. 3, I, rev. G. Vermes/F. Millar/M. Goodman, Edinburgh: T & T Clark 1986, 200-215. " Die Kritik an Johannes Hyrkan argumentiert damit, dass seine Mutter unter der Regierung des Antiochus Epiphanes Kriegsgefangene gewesen sei (Ant 13,292). Da man davon ausging, dass Kriegsgefangene vergewaltigt worden waren, war damit seine priesterliche Herkunft zweifelhaft. Die legendarische Überlieferung argumentiert also nicht damit, dass die Hasmonäer (als NichtZadokiden) kein Anrecht auf das Hohepriesteramt gehabt hätten, sondern es wird - unter der Voraussetzung, dass sie dies Recht haben - bestritten, dass Johannes Hyrkans Herkunft aus dieser Familie sicher war. Wahrscheinlich berief man sich auf Lev 21,14 um den Sohn einer Kriegsgefangenen als Hohepriester zu disqualifizieren. " So E. Main (s.o. Anm. 3), 190-202; G. Stemberger, (s.o. Anm. 3), 98ff; P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus (s.o. Anm. 3), 138; noch sekptischer bezüglich der historischen Auswertbarkeit ist E. Bammel, Sadduzäer und Sadokiden, EThL 55 (1979) 107-115, dort 1 lOf Beide Berichte stimmen in dem Vorwurf gegen den jeweiligen Hasmonäerftlrsten überein, dass seine Mutter Kriegsgefangene war. In beiden Fällen finden wir einen chronologisch auswertbaren Hinweis. Nach Ant 13,292 soll die Mutter unter Antiochus Epiphanes (175-164 v.Chr.) gefangen gewesen sein, nach bQuid 66a war sie Kriegsgefangene in Modein, was wahrscheinlich auf den makkabäischen Aufruhr zu beziehen ist, der in Modein 168 (167?) v.Chr. ausbrach. Diese Spur weist also ins 2. Jh. v.Chr. Da Alexander Jarmäus (bei Josephus und in der rabbinischen Überlieferung) insgesamt ein sehr viel schlechteres Bild hinterließ als Johannes Hyrkan, ist es wahrscheinlich, dass Jannäus sekundär die Geschichte vom Konflikt mit den Pharisäern an sich zog. Manche Inkonsequenzen im Bericht des Josephus, die man gegen dessen Historizität angeführt hat, erklären sich zudem aus einer Spannung zwischen einer übernommenen Tradition vom Bankett des Johannes Hyrkan, die pharisäerfreundlich war, und der redaktionellen Rahmung und Bearbeitung durch Josephus (vgl. S. Mason, Flavius Josephus [s.o. Anm. 3], 213-245).

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V.Chr. hatte der Vorgänger des Johannes Hyrkan, der Hasmonäer Simon, sich in einem Staatsvertrag mit dem jüdischen Volk das doppelte Amt des „Volksfuhrers" (Ethnarchen) und „Hohepriesters" übertragen lassen - jedoch mit einem Vorbehalt: Diese Regelung solle gelten, „bis ihnen Gott einen rechten Propheten erwecken würde" (IMakk 14,41, vgl. 4,46). Die Herrschaft der Hasmonäer war also mit einem eschatologischen Vorbehalt versehen. Johannes Hyrkan versuchte diesen eschatologischen Vorbehalt zu beseitigen. Er beanspruchte nach Josephus nicht nur zwei, sondern drei Ämter, das des Ethnarchen, des Hohepriesters und des Propheten (Bell 1,68; Ant 13,299). Das heißt, er selbst beanspruchte entweder der kommende Prophet zu sein oder Teile seiner Funktion zu übernehmen.'' Für solch einen religiösen Anspruch aber konnte er sich kaum auf die eschatologisch denkenden Pharisäer stützen, eher auf die Sadduzäer, die eine Eschatologie ablehnten. In jedem Fall brauchte er eine theologische Begründung für seinen expandierten innenpolitischen Machtanspruch, der ein ausgesprochen religiöses Amt, das des Propheten, zu seinen beiden anderen Ämtern hinzu beanspruchte. Dazu war er auf Schriftgelehrte und Theologen angewiesen. Verständlich ist die Gegenreaktion einiger Pharisäer. Sie bestritten sein Recht auf religiöse Ämter überhaupt - auch auf das Hohepriesteramt. Sie verlangten, er solle sich mit seinem weltlichen Amt begnügen. Bei dem späteren König Alexander Jannäus lagen die Dinge anders: Er hat den Kurs einer innenpolitischen Machtausweitung weiter verfolgt. Als erster Hasmonäer beanspruchte er (oder sein Vorgänger Aristobulos?) den Königstitel ftir sich und erhob damit einen säkularen Machtanspruch. Dazu brauchte er vor allem Truppen," weniger Schriftgelehrte. Die Debatte unter theologischen Schulen und Religionsparteien über die religiöse Legitimität der Herrschaft der Hasmonäer passt m.E. besser in die Zeit des Johannes Hyrkan. Dasselbe gilt fiir die außenpolitische Situation. Johannes Hyrkan hatte begonnen das alte Israel wiederherzustellen. Er eroberte Idumäa und fflhrte dort die Beschneidung wieder ein. Vor allem aber vereinigte er Samarien mit Judäa. Er zerstörte den samaritanischen Tempel auf dem Garizim, ftihrte also das Gebot der Kultzentralisation konsequent durch. Für sein religionspolitisches Programm einer Wiederherstellung des alten Israels (d.h. der Sammlung aller in Palästina wohnenden Juden in einem politisch unabhängigen Staat) brauchte er eine theologische Grundlage, die das allen monotheistischen Gruppen Gemeinsame betonte, also ein Programm, das frei war " Von Johannes Hyrkan werden in der Tat Prophezeiungen überliefert. Nach Ant 13,282 prophezeit er den Sieg seiner Söhne über Antiochos Kyziicenos, nach Bell 1,69 (vgl. Ant 13,300) weissagte er das Ende seiner beiden ältesten Söhne. " Johannes Hyrkan war der erste Hasmonäer, der seine Kriege mit Söldnern führte und sich dadurch eine eigene Machtbasis unabhängig vom Volk schuf (Ant 13,249).

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von den religiösen Sonderentwicklungen, die in Judäa stattgefunden hatten, an denen aber die anderen jüdischen Gruppen - besonders in Samarien und Galiläa - nicht teilgenommen hatten. Gleichzeitig aber brauchte er ein Programm, das auf einem einzigen kultischen Zentrum insistierte. Beides konnten ihm die Sadduzäer bieten. Sie waren eng mit priesterlichen Familien verbunden. Ein Interesse am Tempel - und insbesondere an ihrem Tempel in Jerusalem als einzig legitimer Kultstätte - kann man unterstellen. Sie lehnten die religiösen Neuentwicklungen ab, die in der Makkabäerzeit sichtbar geworden waren und von den Pharisäern vertreten wurden: Die Eschatologie, die Dämonenlehre, einen zunehmenden Determinismus. Vor allem aber berührte sich ihre Hochschätzung des Pentateuchs mit dem auf den Pentateuch beschränkten samaritanischen Kanon - und zwar ganz unabhängig davon, ob sie nicht auch andere Schriften gewissermaßen als Apokryphen schätzten!'' Natürlich kann man mit Recht fragen: Was hat das alles mit Jesus zu tun? Die verborgene Verbindung zu Jesus tritt hervor, wenn man bedenkt: Im Zuge des hasmonäischen Programms einer Vereinigung aller Juden in einem politisch unabhängigen Staat wurde damals auch Galiläa erobert entweder unter Johaimes Hyrkan, spätestens aber unter seinen Söhnen.^" " Die Sadduzäer erkannten nach einigen Kirchenvätern nur den Pentateuch an. Hippolyt Ref IX,29,4 verbindet das mit ihrem Erfolg bei den Samariem: „Die Lehre der Sadduzäer ist in Samaria sehr verbreitet. Auch sie halten sich an die Vorschriften des Gesetzes ... Auf die Propheten halten sie nichts, auch nicht auf irgendwelche andere Weise, das Gesetz Mosis allein ausgenommen; sie kommentieren es aber nicht. Das sind die Anschauungen der Sadduzäer". Auch Orígenes Cels 1,49 verbindet beide Gruppen; „Wenn nun auch die Samaritaner oder Sadduzäer, die die Bücher nur des Mose anerkennen ..." (beide Texte bei J. Zangenberg, ΣΑΜΑΡΕΙΑ. Antike Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner in deutscher Übersetzung, T A N Z 15, Tübingen/Basel: Francke 1994, 250.252). Haben die Kirchenväter das aus Josephus erschlossen? Aus Josephus geht aber streng genommen nur die obligatorische Verbindlichkeit ausschließlich von Mosegeboten hervor, nicht aber die Beschränkung auf den Pentateuch (vgl. Ant 13,297). Andererseits weisen Beobachtungen in allen drei Quellenkomplexen auf einen Vorrang des Pentateuchs: Für die rabbinischen Schriften gilt: „Les prophètes et les écrits ... ne sont jamais cités par les Sadducéens dans leurs argumentations scripturaires, telles que nous le livrent la tradition rabbinique" (J. Le Moyne, Sadducéens [s.o. Anm. 3], 359). Wenn Sadduzäer einmal unter Berufiing auf das Buch Hiob (7,9) die Auferstehung leugnen (vgl. J. Le Moyne, Sadducéens (s.o. Anm. 3), 173 Anm. 4; 3 5 9 0 , könnten sie von den Prämissen ihrer Gegner her argumentieren. Im NT argumentiert Jesus für die Auferstehung nur mit einer Pentateuchstelle in Mk 12,26 - nicht etwa mit Dan 12,2. Auch er diskutiert hier von den Prämissen seiner Gegner her. Die bei Josephus belegte Hochschätzung ausschließlich der Gesetze des Mose (Ant 13,297) könnte für einen kanonischen Vorrang der fünf Bücher Mose sprechen. Andere Bücher mochten als eine Art „Apokryphen" geschätzt worden sein. Ähnlich schätzten die Samaritaner j a auch das Buch Josua, obwohl es nicht zu ihrem Kanon gehörte! Die Quellen schweigen über die Rückeroberung Galiläas - vielleicht weil hier keine dramatischen Kämpfe und Eroberungen stattfanden, sondern weil sich die jüdische Bevölkerung ohne große Kämpfe dem hasmonäischen Reich anschloss. Ein Hinweis könnte die Rückkehr von Antigonus von einem Feldzug zur Regierungszeit des Aristobulos (104-103 v.Chr.) sein (Ant 13,304),

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Galiläa erlebte seine politische Reintegration in ein jüdisches Gemeinwesen in einer Zeit, als der Sadduzäismus herrschte. Dieser war in Galiläa mit der Erfahrung der Befreiung von Fremdherrschaft verbunden. Musste er nicht dort positiver als anderswo erlebt werden?^' Aber wie lässt sich solch eine allgemeine Möglichkeit wahrscheinlich machen? Hingewiesen sei auf zwei Sachverhalte: Einerseits auf geschichtliche Ereignisse, die einen Rückhalt hasmonäisch-sadduzäischer Kreise in Galiläa vermuten lassen. Andererseits auf Indizien fur eine spezifisch galiläische Halacha, die der sadduzäischen nahe steht. Nach der Blütezeit des Sadduzäismus unter den Hasmonäem Johannes Hyrkan, Aristobulos und Alexander Jannäus erleben wir seit der Regierungszeit der Königin Alexandra Salome (76-67 v.Chr.) den Aufstieg der Pharisäer - verbunden mit dem Niedergang der hasmonäischen Macht und dem Emporkommen der herodäischen Dynastie. Es kann kein Zufall sein, dass der Aufstieg der Herodäer in Galiläa auf Widerstand stieß. Herodes musste sich in seiner Jugend als Statthalter dort mit dem „Räuberführer" Hezekias herumschlagen.^^ Er ließ ihn (ohne Gerichtsverfahren) hinrichten. Die darauf folgenden Ereignisse zeigen, dass dieser Hezekias kein einfacher Räuber war, sondern in der Jerusalemer Aristokratie Unterstützung besaß. Herodes wurde nämlich vor das Synhedrium zitiert. Er erschien dort mit Leibwache und in vollem Amtsornat und schüchterte so das Synhedrium ein. Nur ein Schriftgelehrter, der Pharisäer „Sameas" (wahrscheinlich Schammai) wagte gegen ihn zu sprechen (vgl. Ant 14,172-177). Er soll den vor Herodes zurückschreckenden Mitgliedern des Synhedriums damals geweissagt haben, Herodes werde sie alle töten (vgl. Ant 14,172ff). Später riet er (zusammen mit einem anderen Pharisäer Pollion), dem Herodes die Tore von Jerusalem zu öffnen und wurde deshalb zusammen mit Pollion bei einem Blutbad, das Herodes unter seinen Feinden im Synhedrium anrichtete, verschont (Ant 14,175; vgl. 15,6). Dies Blutbad traf wahrscheinlich vor allem Sadduzäer.^^ bei dem er offensichtlich von Galiläa her kommt, denn nach Bell 1,76 hat er sich dort mit „vortrefflichen Waffen und kriegerischem Schmuck" ausgerüstet. Aristobulos selbst erobert Ituräa und zwingt die dortige Bevölkerung die Beschneidung zu übernehmen oder zu emigrieren (Ant 13,318). Zu dieser Zeit muss Galiläa zum Hasmonäerreich gehören. Alexander Jannäus wurde m Galiläa erzogen (Ant 13,322), ein kleines Indiz dafür, dass die Hasmonäer hier einen starken Rückhalt hatten. Vgl. A. Schallt, König Herodes. Der Mann und sein Werk, SJ 4, Berlin: de Gruyter 1969, 41 ; „Galiläa scheint die Hochburg der Hasmonäer im allgemeinen und der Söhne des Jannäus im besonderen gewesen zu sein. Hatten doch die Hasmonäer die Juden Galiläas von der Fremdherrschaft befreit, eine Großtat, die die Galiläer gewiss nicht vergessen hatten und ihnen mit unwandelbarer Treue vergalten." " Vgl. zum Folgenden A. Schallt, König Herodes (s.o. Anm. 21), 40ff. " Das Blutbad traf die Aristokratie, vgl. A. Schallt, König Herodes 98-101 (s.o. Anm. 21).

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Diesen Ereignissen aus der Anfangszeit des Herodes korrespondieren Ereignisse nach seinem Tod. Unmittelbar nach seinem Tod kam es nämlich zu verschiedenen Aufständen im Lande - u. a. in Galiläa unter einem Sohn des von Herodes hingerichteten sog. „Räuberiuhrers" Hezekias. Auch hier kann man Nachwirkungen des hasmonäischen Widerstandes gegen die Herodäer vermuten. Für uns ist interessant: Der antiherodäische Widerstand vor und nach der Regierungszeit des Herodes hat jedes Mal ein lokales Zentrum in Galiläa, nämlich Sepphoris. Sepphoris war zwischen 40 und 37 v.Chr. von einer Garnison des Hasmonäers Antigonos besetzt, die vor Herodes floh (Bell l,304f; Ant 14,413-7). Dasselbe Sepphoris wurde die Basis des Aufstands unter Judas, dem Sohn des Hezekias 4 v.Chr.^'' In der Umgebung von Sepphoris aber lag Nazareth! Der antiherodäische Widerstand in Galiläa ist freilich nur ein indirektes Indiz fur sadduzäische Mentalität in Galiläa. Vorausgesetzt ist eine Verbindung von hasmonäischen und sadduzäischen Interessen. Wichtiger noch ist, dass die in Galiläa geltende Halacha nach S. Freyne in zwei Punkten der sadduzäischen Tradition nahe steht:^' 1) Die Bezahlung der jährlichen Tempelsteuer von einem halben Schekel galt bei den Sadduzäem als freiwillige, nicht also obligatorische Veφflichtung (bMen Eine andere Überlieferung sagt nun, dass die Galiläer die Hebe (terumah) der Tempelkammer nicht kannten (mNed 11,4). Diese Hebe wird mit der Tempelsteuer identifiziert (mSheq II,lf; 111Д). In Galiläa folgte man also in diesem Punkte einer großzügigeren Tradition. Die Nähe zur sadduzäischen Tradition ist unverkennbar. Unverkennbar aber auch, dass der Galiläer Jesus in Mt 17,24-27 genau diese Tradition vertritt: Die Tempelsteuer ist keine Veφflichtung, sondern eine freiwillige Gabe. Man Weil aber der Pharisäer Sameas verschont wurde und viele Sadduzäer im Synhedrium saßen, kann man mit G. Baumbach, Sadduzäerverständnis (s.o. Anm. 13), 19 (vgl. ders.. Der sadduzäische Konservativismus, in; J. Maier/J. Schreiner (Hg.), Literatur und Religion des Frühjudentums, Würzburg/Gütersloh: Echter 1973, 201-213, dort: S. 206) vermuten, dass Herodes vor allem das sadduzäisch gesonnene Synhedrium ausschalten wollte. ^^ S. Freyne, Galilee from Alexander the Great to Hadrian. 323 B.C.E. to 135 C.E. A Study of Second Temple Judaism, Wilmington: Glazier 1980, 67, sieht das so: „There is little doubt that a certain segment of the population was decidedly pro-Hasmonaean and anti-Herodian, but the impression is that this group is rather localized - around Sepphoris and in the caves of Arbela in the west." " Vgl. S. Freyne, Galilee (s.o. Anm. 24), 277ff. Nach mSheq 1 , 3 ^ bezahlten einige Priester nicht die Tempelsteuer. Die Sadduzäer legitimierten das vielleicht, indem sie die Steuer als freiwillige Abgabe deklarierten. Sie konnten sich darauf sttltzen, dass der Pentateuch keine jährlich zu zahlende Tempelsteuer kennt (vgl. Ex 30,1116). Erst Neh 10,33-34 wird sie eingeführt. Vgl. J. Le Moyne, Sadducéens (s.o. Anm. 3), 198.289. Ferner J. Liver, The Half-Shekel Offering in Biblical and Post-Biblical Literature, HThR 56 (1963) 173-198 und S. Mandell, Who Paid the Temple Tax when the Jews were under Roman Rule? HThR 77 (1984) 223-232.

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kann sie als Anpassung an die geltenden (pharisäischen) Regeln zahlen um Anstoß zu vermeiden.^' 2) Auch die Zehntzahlung scheint in Galiläa nicht streng gehandhabt worden zu sein. Priester erhielten ihn zwar in Galiläa, wie Josephus selbst bezeugt (Vita 63.80). Aber die anderen Zehntzahlungen wurden vernachlässigt. So wurde der alle drei Jahre nur zu zahlende dritte Zehnt für die Armen angemahnt - freilich nicht nur in Galiläa (vgl. bSan 1 Ib). Hängt das mit der Abschaffung des Zehntgelübdes durch den Hohepriester Johannes (= Johannes Hyrkan?) zusammen (vgl. mMaas Sch V,15; mSot IX, 10)? Dann könnten auch hier sadduzäische Traditionen vorliegen.^® Das Zehntgelübde war eine Verlegenheit, weil man gelobte den Zehnten an die I^eviten zu zahlen (vgl. Dtn 26,13-15) - obwohl Priester die Empfänger waren. Es war im Interesse der Priester jede Unklarheit über den legitimen Adressaten zu beseitigen. Unverkennbar ist auf jeden Fall: Auch die Jesusüberlieferung relativiert die Zehntzahlung (Mt 23,23). Natürlich darf man aus solchen (möglichen) Berührungen zwischen sadduzäischen und galiläischen Traditionen nicht gleich schließen, die galiläische Praxis sei sadduzäisch. Die Sadduzäer vertraten ja in vielen Fällen nur die älteren Traditionen, die u.U. schon immer in Galiläa galten. Aber durch die Reintegration Galiläas unter den sadduzäisch ausgerichteten Hasmonäem dürften diese Traditionen verstärkt und gefestigt worden sein - falls sie nicht überhaupt erst damals durchgesetzt wurden. S. Freyne spricht auf jeden Fall von einer „Sadducean domination of the ethos there".^' Umgekehrt darf man schlussfolgern: Der Pharisäismus war in Galiläa eine vergleichsweise jüngere Erscheinung, die sich gegen lokale Mentalitäten durchsetzen musste. Es kann kein Zweifel sein, dass im ältesten Evangelium Pharisäer einerseits mit der neuen Dynastie der Herodäer verbunden sind - die Herodianer und Pharisäer planen gemeinsam Jesu Tod (Mk 3,6; vgl. 12,13); andererseits Pharisäer durch Schriftgelehrte aus Jerusalem unterstützt werden (Mk 7,1-5). D.h. sie treten in Verbindung mit nicht aus Galiläa stammenden Autoritäten auf. Gewiss wird es zur Zeit Jesu schon lokale Pharisäer in Galiläa gegeben haben. Auch das MkEv setzt sie voraus. Aber sie trafen im Land möglicherweise nicht nur bei Jesus auf Reserve. Wenn Jesus sie kritisiert, entsprach das vielleicht einer lokalen Mentalität. " Auch U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1/2, Zürich u.a./Neukirchen-VIuyn: Benziger/Neukirchener 1990,529-531, bes. 531, meint eine Beziehung zwischen dieser Jesustradition und den Sadduzäem feststellen zu können. Zur Zeit Jesu habe man sich „durchaus noch an die alte Meinung der Sadduzäer erinnert". Vgl. S. Freyne, Galilee (s.o. Anm. 24), 28 Iff, der S. 286 fragt: „Could it be that the restauration of the avowal or confession in Jerusalem ... was not recognized in Galilee where Sadducean or priestly custom dominated the religious life?" S. Freyne, Galilee (s.o. Anm. 24), 322.

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Diese lokale Mentalität (auf dem Lande) war zwar nicht unbedingt sadduzäisch. Aber sie berührt sich 1. an einigen Punkten mit sadduzäischer Tradition und war 2. durch die Vereinigung Galiläas mit Judäa unter sadduzäischer Ägide verstärkt und befestigt worden. In einem zweiten Gedankengang fragen wir über solche geschichtlichen Zusammenhänge hinaus nach strukturellen Übereinstimmungen zwischen sadduzäischer Lehre und einigen Zügen der Verkündigung Jesu. 2. Strukturelle Ähnlichkeit zwischen Jesustradition und dem Sadduzäismus Zwischen der Verkündigung Jesu und der sadduzäischen Lehre gibt es m.E drei strukturelle Ähnlichkeiten: 1. Die Ablehnung der Väterüberlieferungen wenn sie dem in der Schrift offenbarten Willen Gottes widersprechen. 2 Eine Streitkultur, die es ermöglicht auch religiösen Autoritäten zu wider sprechen. 3. Eine Bereitschaft zur öffentlichen Anpassung an geltende Nor men trotz innerer reservatio mentalis. Ob diese drei Punkte inhaltlich zu sammenhängen und eine gemeinsame Interpretation ermöglichen, wird am Ende dieses Abschnitts zu untersuchen sein.

2.1. Die Kritik an der Väterüberlieferung Der Wechsel des Johannes Hyrkan von den Pharisäern zu den Sadduzäem bedeutet nach Josephus, dass die von den Pharisäern eingeführten Gebote aufgehoben wurden. In einer Art Fußnote trägt Josephus nach, was es mit diesen Geboten auf sich hat (Ant 13,297f): „Jetzt möchte ich erklären, dass die Pharisäer dem Volk gewisse Gebote aus der Traditionskette der Väter überlieferten (νόμινά TIW παρέδοσαν δήμω οΐ ΦαρισαΙοι €κ πατέρων διαδοχής), die nicht in den Gesetzen des Moses geschrieben sind, und deswegen verwirft die Gruppe der Sadduzäer diese (Gebote), indem sie sagt, daß nur jene Gebote als gültig anzusehen seien, die geschrieben sind, die aus der Tradition der Väter (έκ παραδόσεως πατέρων) müssten jedoch nicht gehalten werden."

Bei der Auslegung dieser Stelle sind zwei Fragen umstritten, einmal die Frage: Geht es hier um den Gegensatz zwischen schriftlicher Thora und mündlicher Überlieferung oder werden hier Mose- und Vätergebote kontrastiert, ohne dass die Vätergebote mündlich vorliegen müssten?^" Die zweiJ. Neusner, The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70, Bd. 3, Leiden u.a.: Brill 1971, 165: „Guided by Josephus and the Gospels, we should have concluded the Pharisees claimed

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te Frage ist: Lehnten die Sadduzäer die Vätergebote und Väterüberlieferungen einfach ab oder gestanden sie ihnen ein relatives Recht zu? Die Fragen werden nicht zuletzt deshalb aufgeworfen, weil wir überzeugt sind, dass auch die Sadduzäer ihre eigenen Überlieferungen neben dem Pentateuch hatten. Und ferner, dass diese sadduzäische Überlieferung wohl auch schriftlich formuliert werden konnte. So vermuten wir, dass uns Teile der sadduzäischen Halacha in den Qumranschriften erhalten sind. Liest man die Josephusstelle unbefangen, so ist m.E. eindeutig: Josephus denkt an den Gegensatz von schriftlicher Mosethora und mündlichen Väterüberlieferungen. Denn er gebraucht ftir letztere nebeneinander den Begriff paradosis pateron (für das Überlieferte) und diadoche pateron (für den Prozess der Überlieferung). Er sagt: Die Vätertraditionen sind uns durch eine sukzessive Traditionskette von Vätern überliefert worden. Solch eine Traditionskette ist Kennzeichen mündlicher Überlieferung, die von Generation zu Generation tradiert werden muss. Schriftliche Überlieferung muss zwar durch Abschrift erneuert werden, hat aber generationsüberdauemden Charakter. Die genaue Formulierung bei Josephus schließt dabei nicht aus, dass die mündliche Tradition am Ende verschriftlicht wurde. Denn die Väterüberlieferungen stammen nach Josephus „aus" der Traditionskette der Väter (4K πατέρων διαδοχής). In jedem Fall aber sind sie zunächst mündlich überliefert worden.^' Auch ihre Geltung wird m.E. klar definiert. Für die Sadduzäer sind nur „die geschriebenen Gesetze gültig, die aus der Tradition der Väter müssen dagegen nicht gehalten werden". Vätertraditionen werden also nicht gänzlich abgelehnt. Ihre Existenz wird bejaht, ihre Geltung relativiert: Sie sind nicht obligatorisch.^^ Josephus sagt dies aus Anlass der Abschaffung pharisäischer Gesetze durch Johannes Hyrkan. Seine grundsätzlichen Aussagen passen nicht ganz in diesen Kontext. Denn von Hyrkan heißt es, er habe die pharisäischen Gesetze nicht nur aufgehoben, er habe ihre Befolgung sogar bestraft! Das aber ist etwas anderes als die Erftillung pharisäischer Gesetze they possessed traditions from olden times. We should not have supposed such traditions were alleged to have been orally formulated and transmitted." Ebenso S. Mason, Flavius Josephus (s.o. Anm. 3), 240ff. Für eine Unterscheidung zwischen schriftlicher Thora und mündlicher Überlieferung treten dagegen ein: J. M. Baumgarten, The Unwritten Law in the Pre-Rabbinic Period, JSJ 3 (1972) 7-29, 12ff; P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus (s.o. Anm. 3), 136f ' ' Für eine Unterscheidung schriftlicher Thora und mündlicher Tradition spricht auch Philo, SpecLeg IV, 150, wo er zur Einhaltung von Vätersitten mahnt, die man nicht deshalb missachten solle, „weil sie nicht schriftlich überliefert sind". Dabei handelt es sich um rechtsähnliche Traditionen. Denn er spricht in diesem Zusammenhang von „ungeschriebenen Gesetzen". Vgl. J. Le Moyne, Sadducéens (s.o. Anm. 3), 375: Neben dem Pentateuch gab es sadduzäische Traditionen. „Mais, du fait qu'elles ne faisaient pas partie intégrante de la Tora, les Sadducéens pensaient qu'elles n'étaient pas absolument obligatoires". S. 372 fmdet sich eine Liste sadduzäischer halachischer Traditionen, die nicht durch den Pentateuch gedeckt waren.

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freizustellen. Letzteres spiegelt wahrscheinlich die sadduzäische Haltung wieder, so wie sie Josephus vertraut war. Dass die Pharisäer Väterüberlieferungen hoch schätzten, wissen wir aus dem NT. Der Pharisäer Paulus nennt sich einen „Eiferer" für die „Satzungen der Väter" (Gal 1,14). Jesus wendet sich gegen die „Satzungen der Ältesten" (Mk 7,5). Der Gegensatz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit spielt bei ihm keine Rolle. Darin unterscheidet er sich von den Sadduzäem. Verständlicherweise! Denn Jesus lehrte selbst in mündlicher Form und schrieb seiner mündlichen Lehre eine große Autorität zu. Darin war er den Pharisäern vergleichbar. Weim er aber den Willen Gottes in der Thora des Mose gegen die (späteren) Überlieferungen der Alten ausspielt, so greift er ein Argumentationsmuster auf, das sadduzäische Kreise in Auseinandersetzung mit pharisäischen Schriftgelehrten entwickelt hatten. Es ist daher sowohl religionsgeschichtlich wie theologisch falsch zu behaupten, dass Jesus mit diesem Traditionsverständnis „dem Judentum die Wurzel abschnitt".^^ Die Sadduzäer waren selbstverständlich Juden. Man kann darüber hinaus fragen, ob die Jesusüberlieferung in Mk 7,1-15 zwar formal eine sadduzäische Argumentationsfigur aufgriff, inhaltlich aber sadduzäische Positionen angriff. Haben die Sadduzäer das rituelle Händewaschen befürwortet?^'' Haben sie die Korbanpraxis gutgeheißen? Möglich ist es. Aber wir wissen es nicht. Sicher ist nur: Jesus oder seine Anhänger haben über derartige Fragen heftige Dispute gefuhrt. Das fuhrt zum zweiten Punkt:

2.2. Die Streitkultur im Sadduzäismus und bei Jesus Die jüdischen Weisen haben eine bewundernswerte Streitkultur entwickelt. Die Rabbinen finden im Disput die wahre Auslegung der Thora. Auch die abgelehnten Meinungen werden tradiert. Man spürt eine Freude am Streit. Josephus spricht hier den Sadduzäem eine besondere Bedeutung zu: In seiner Schilderung der jüdischen Schulen in Ant 18 berichtet er über alles hinaus, was er bisher über sie berichtet hat: „ S i e (die S a d d u z ä e r ) aciiten darauf, nichts anderes als die G e s e t z e e i n z u halten; d e n n sie halten e s für e i n e T u g e n d , g e g e n die Lehrer der W e i s h e i t ,

" So W. G. Kümmel, Jesus und der jüdische Traditionsgedanke (1932), in: ders.. Heilsgeschehen und Geschichte, Ges. Aufsätze 1933-1964, MThSt 3, Marburg: Elwert 1965, 15-35, dort S. 35. A. I. Baumgarten, The Pharisaic Paradosis, HThR 80 (1987) 63-77, dort S. 72, vermutet, dass die Polemik In Mt 15 und Mk 7 „is not original to Jesus or his followers but is an anti-Pharisaic commonplace repeated by them". Möglicherwelse seien derartige Angriffe gegen die Pharisäer zuerst von Sadduzäem gemacht worden (vgl. ebd. 72 Anm. 33). So die (unbeweisbare) Vermutung von G. Baumbach, Sadduzäerverständnis (s.o. Anm. 12), 32.

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Der jüdische Jesus der sie folgen, zu disputieren. Nur wenige Männer erreicht diese Lehre; diese aber sind die ersten an Würde." (Ant 18,16)

Josephus sieht einen Zusammenhang zwischen der ausschließlichen Orientierang der Sadduzäer an den Gesetzen (des Mose) und ihrer Neigung zum Widerspruch gegen ihre Lehrer. Beide Feststellungen werden durch ein begründendes „denn" (γάρ) verbunden: Wenn die Mosegebote allem vorgeordnet sind, muss man auch die Auslegungen und Traditionen der Lehrer daran messen und kritisieren. Das Gegenteil behauptet er von den Pharisäern. Über sie schreibt er: „Den im Alter Vorgerückten erweisen sie Ehre und lassen sich nicht frech zum Widerspruch gegenüber dem, was sie lehren, hinreißen" (Ant 18,12). So weit wird das Binnenverhältnis von Sadduzäem bzw. Pharisäern untereinander charakterisiert. Mit Blick auf die Außenbeziehungen macht Josephus dieselbe Aussage aber auch über die Sadduzäer: „Und die Verkehrsformen mit den Volksgenossen (sind) schroff wie mit Fremden" (Bell 2,166). Dass wir bei Jesus selbst eine große innere Freiheit gegenüber seinem „Lehrer", Johannes dem Täufer, finden, ist bekannt: Der Täufer und seine Schüler fasteten; Jesus erklärt das Fasten in der Gegenwart fur unmöglich (Mk 2,18f). Der Täufer trat als Asket auf Jesus identifiziert sich demonstrativ mit der üblen Nachrede gegen ihn, er sei ein Fresser und Weinsäufer (Mt 11,19). Der Täufer war größer als jeder Prophet - und doch geringer als der kleinste in der Gottesherrschaft (Mt 11,11). Aber nicht diese Abhebung vom Täufer ist die entscheidende Analogie zur Streitkultur der Sadduzäer. Etwas von diesem Geist des Streits finden wir in den Weherufen und Streitgesprächen. Jesus greift hier oft in schroffen Tönen seine Gegner an. Das ist eher Geist vom rauhen Geist der Sadduzäer als pharisäische Mentalität.^' Und manches Argument, das er hier bringt, könnte aus der Polemik zwischen den schriftgelehrten Schulen stammen!

2.3. Die Anpassung an öffentlich geltende Normen Etwas in Spannung mit der Unerbittlichkeit, mit der die Sadduzäer ihre Lehre vertreten, steht ihre Bereitschaft zur Anpassung an andere Normen. Josephus schrieb über die soziale Reichweite ihrer Lehre: „Nur wenige Männer erreicht diese Lehre; diese aber sind die ersten an Würde. Dennoch können sie sozusagen nichts tun; denn wenn immer sie ein Amt erlangen, müssen sie sich wider Willen und unter Zwang dem

" Besonders in Lk ll,37ff: Jesus wird von einem Pharisäer zum Mahl geladen und „unterhält" die Teilnehmer durch eine Kette von Weherufen gegen Pharisäer und Gesetzeslehrer.

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f u g e n , w a s der Pharisäer sagt, w e i l d i e V o l k s m e n g e s i e s o n s t nicht d u l d e n würde." (Ant 18,17)

An anderer Stelle hat Josephus schon die „Reichen" als die Anhänger der Sadduzäer bezeichnet (Ant 13,298). Man darf deshalb nicht einfach alle Reichen und Amtsinhaber für Sadduzäer halten. Wenn das Volk die Anhängerschaft der Pharisäer bildet, so bestimmt nicht, weil das ganze Volk aus Pharisäern besteht. Wenn entsprechend die Reichen und Ranghohen die Anhängerschaft der Sadduzäer bilden, so gehören nicht alle zu den sadduzäischen Weisen und Schriftgelehrten. Charakteristisch ist: In ihrer Amtsftihrung müssen sich (wenigstens zur Zeit des Josephus) die Sadduzäer an die Normen der Pharisäer anpassen.^^ Das ist keine Heuchelei. Denn wahrscheinlich lehnten die Sadduzäer die verschiedenen Vätertraditionen nicht ganz ab. Sie stellten ihre Erfiillung ins Belieben des Einzelnen. Sie waren nicht obligatorisch. Bei solch einer Einstellung aber konnten sie ohne sich selbst zu widersprechen einzelne Traditionen befolgen ohne sie innerlich zu bejahen. Daraus spricht eine innere Freiheit - nicht nur Anpassungszwang, den Josephus ihnen aus der Perspektive einer anderen religiösen Schule unterstellt. Eine solche Freiheit zur äußeren Anpassung finden wir auch in manchen Jesustraditionen. In diesem Falle sogar in einer Jesustradition, die eine den Sadduzäem nahestehende Position zur Tempelsteuer vertritt. Auf die Frage nach der Tempelsteuer antwortet Jesus im Schutze des Hauses, also nicht in der Öffentlichkeit (Mt 17,25-27): „ W a s m e i n s t du, S i m o n ? V o n w e m n e h m e n die K ö n i g e a u f Erden Z o l l o d e r Steuern: v o n ihren Kindern oder v o n d e n F r e m d e n ? A l s er antwortete: V o n d e n F r e m d e n , sprach J e s u s z u ihm: S o sind die K i n d e r frei. D a m i t w i r ihnen aber k e i n e n A n s t o ß g e b e n , g e h hin an den S e e ...".

Es folgt der Auftrag zum Fischen und eine dabei wunderbar gefundene

Auch die rabbinischen Schriften bestätigen dies Verhaltensmerkmal der Sadduzäer. Ein sadduzäischer Hohepriester, der entgegen der pharisäischen Halacha beim Versöhnungstag das Räucherwerk schon vor dem Eintritt ins Allerheiligste anzündet, wird von seinem Vater getadelt; „Mein Sohn, sind wir auch Saduzäer (sie), so haben wir dennoch die Pharisäer zu fürchten" (bYom 19b). Im Hintergrund dieser rituellen Streitfrage steht eine verschiedene Vorstellung von der Gegenwart Gottes (vgl. J. Z. Lauterbach, A significant Controversy between the Sadducees and the Pharisees, HUCA 4 (1927) 173-205; J. Le Moyne, Sadducéens [s.o. Aran. 3], 249-263), J. Mason, Flavius Josephus (s.o. Anm. 3), 342-356, interpretiert auch die autobiographische Aussage des Josephus in Vita 12 in diesem Sinne: „Als ich öffentlich zu wirken begann, schloss ich mich der Schule der Pharisäer an". Um in einem Amt öffentlich tätig werden zu können habe Josephus die pharisäischen Normen einhalten müssen. Das sage aber nichts über seine irmere Haltung. In Wirklichkeit habe Josephus die Pharisäer verachtet, so dass die abfölligen Urteile über sie, die meist einer Quelle (z.B. Nikolaus von Damaskus) zugeschrieben werden, subjektiv authentische Aussagen des Josephus seien.

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Drachme als Tempelsteuer zu zahlen. Ich erinnere daran: Auch die Sadduzäer lehnten obligatorische Tempelsteuem ab. Sie sollten freiwillig sein. Jesus vertritt hier ihren Standpunkt, passt sich aber äußerlich der vorherrschenden Lehre an, die alle Juden zur Tempelsteuerzahlung уефА1сЬ1е1е. Solch eine bewusste Distanzierung zwischen der inneren Einstellung und dem äußeren Verhalten finden wir in ganz anderer Weise in den Frönunigkeitsregeln der Bergpredigt: Im Verborgenen soll man Almosen geben, beten und fasten - unabhängig von der Sozialkontrolle der Umwelt.^' Betrachtet man die drei besprochenen Strukturmerkmale sadduzäischer Lehre (wie sie von Josephus dargestellt wird), so wird man die Zuordnung dieser Lehre zu den Oberschichten plausibel finden: Wir finden eine Freiheit gegenüber der Tradition, gegenüber den Autoritäten und gegenüber der sozialen Umwelt - drei Züge, die wir mutatis mutandis auch in der Jesustradition wiederfmden. Diese strukturelle Nähe zwischen Sadduzäismus und Jesustradition steht freilich in Spannung zu inhaltlichen Unterschieden in der Lehre. Jesus und das frühe Urchristentum stehen insgesamt den Pharisäern näher als den Sadduzäem. Das Ik Doppelwerk lässt daran keinen Zweifel. Oder gibt es trotz dieses allgemeinen Gegensatzes zum Sadduzäismus inhahliche Berührungspunkte? Das ist der InhaU unseres dritten Teils:

3. Theologische Berührungspunkte zwischen Sadduzäismus und der Jesustradition Aus Josephus und der Apg zusammen können wir drei Merkmale sadduzäischer Theologie erkennen: Es handelt sich in der Anthropologie um die Ablehnung eines Determinismus, in der Eschatologie um die Ablehnung des Glaubens an die Auferstehung, in der Dämonologie um die Ablehnung von Dämonen. Diese drei Lehren dürften eng miteinander zusammenhängen. In der Anthropologie wird der freie Wille des Menschen und seine Verantwortung fìir sein Geschick betont. Der Mensch ist dem Tun-ErgehenZusammenhang unterworfen. Das Tun liegt in der Hand des Menschen, das Ergehen indirekt aufgrund dieses Zusammenhangs. Eine göttliche Vorherbestimmung muss konsequenterweise geleugnet werden. Sie würde den Menschen von der Verantwortung für sein Geschick entlasten. Die Eschatologie hängt mit diesem Glauben an einen immanenten Tun-Ergehen-Zusam' ' Auch in Mk 1,40-45 kann man solch eine äußere Anpassung an die geltenden Normen sehen. Jesus hat den Aussätzigen schon für rein erklärt. Er sagte zu ihm: „Sei rein!" - nicht etwa nur: „Sei gesund!" Dennoch schickt er ihn zum Priester zur offiziellen Reinheitserklärung (vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der Evangelien, StNT 8, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1974, '1998, 148).

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menhang zusammen. Mit der Auferstehung und der Unsterblichkeit werden Lohn und Strafe im Jenseits abgelehnt: Denn schon in diesem Leben soll der gut handelnde Mensch Erfüllung finden, der böse dagegen bestraft werden. Die Ablehnung jeder Dämonologie ist eine konsequente Folgerung: Wenn eine Existenzform von Personen außerhalb ihrer leiblichen Existenz nicht vorstellbar ist, so wird man sich auch Geister und Dämonen nur schwer vorstellen können. Insgesamt stand die Jesusbewegung den Gegenpositionen nahe: Sie vertraute auf Gottes rettenden Willen, das Kommen seiner basileia - erst in ihr werden die Hungrigen satt, die Trauemden getröstet. Erst in ihr wird ethische Rationalität hergestellt. Sie erwartete die Auferstehung der Toten. Im Sadduzäergespräch wird dieser Standpunkt betont dem sadduzäischen entgegengesetzt. Schließlich sieht die Jesusüberlieferung überall Dämonen am Werk. Der Gegensatz zum Sadduzäismus in diesen drei Punkten aber erscheint in einem anderen Licht, wenn man auf einige Akzente in der Jesusüberlieferung achtet.

5.1. Die Anthropologie oder die Lehre vom freien Willen^^ Nach Josephus leugneten die Sadduzäer das Schicksal (d.h. die göttliche Vorherbestimmung alles Geschehens) und vertraten das Primat des freien Willens. Die Essener seien dagegen Deterministen und führten alles auf Gottes Vorsehung zurück. In der Mitte befänden sich die Pharisäer, die der Meinung sind, „dass manches, doch nicht alles, Werk des Schicksals sei, manches aber stehe in unserer eigenen Macht, ob es geschehe oder nicht eintrete" (Ant

13,172).

An anderer Stelle schreibt er ihnen jedoch die Meinung zu, sie schrieben alles dem Schicksal oder Gott zu ohne den menschlichen Willen auszuschließen (Ant 18,13). Kurz: Sie vertreten einen Synergismus göttlichen und menschlichen Willens, aber mit einem Vorrang des göttlichen vor dem menschlichen Willen. Jesus müsste man in die Nähe des Pharisäismus rücken. Aber er betont die Verantwortung des Menschen stärker als die Pharisäer. Zwar wird das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat meist als ein Beleg für die Allwirksamkeit Gottes angeführt: Gott wird ganz allein (automate) ohne Zutun des Menschen sein Reich herbeiführen. Man kann es aber auch anders lesen: Gott streut den Samen auf die Erde. Er gibt den Anstoß. Aber die Erde, der Mensch, muss dann allein, d.h. spontan und frei-

Vgl. zur Kontroverse über diesen Punkt L. Wächter, Die unterschiedliche Haltung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener zur Heimarmene nach dem Bericht des Josephus, ZRGG 21 (1969) 97-114.

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willig, die Frucht hervorbringen. Gott setzt gerade auf seine Selbsttätigkeit. Das Gleichnis spricht von der Kooperation zweier Größen - und betont dabei die Selbsttätigkeit des Landes.^' Nehmen wir einen ganz anderen Überlieferungskomplex: In den Wundergeschichten strömen hilfesuchende Menschen zu Jesus um von ihm Heilung und Hilfe zu erlangen. Sie vertrauen auf seine überlegene Macht. Jesus aber korrigiert sie manchmal, wenn er den Geheilten oder den an ihrer Stelle Bittenden sagt: „Dein Glaube hat dich gerettet" (vgl. Mk 5,34; 10,52 u.ö.).'"' Diese Geschichten vollziehen eine Kausalattribution der Heilung, die den Erwartungen der Menschen direkt widerspricht. Jesus versichert ihnen: Nicht er oder Gottes Kraft habe die Kranken geheilt, sondern die Kraft ihres Glaubens.

3.2. Die Eschatologie und die Gegenwart der basileia Anders als die Sadduzäer hofften Jesus und seine Anhänger auf eine wunderbare Verwandlung der Welt, bei der auch die Toten wieder zum Leben neu geschaffen werden. Aber diese Erwartung ist nicht rein fiiturisch: Zur Zukunfts- tritt bei Jesus eine Gegenwartseschatologie, nach welcher die Gottesherrschaft schon in der Gegenwart beginnt. Diese Gegenwartseschatologie äußert sich einerseits in Form eines Brftillungsbewusstseins - Propheten und Könige haben sich danach gesehnt zu erleben, was diese Generation erlebt (Lk 10,23f par). Andererseits im Bewusstsein einer grundsätzlichen Überwindung des Bösen: Der Satan ist schon vom Himmel gefallen (Lk 10,18). Er ist schon gefesselt (Mk 3,27). Die Dämonen sind schon auf der Flucht. Schon darin wird die Gottesherrschaft realisiert. Schließlich finden wir Aussagen vom unscheinbaren Beginn der Gottesherrschaft - schon jetzt. Nicht so, dass man sie sehen und beobachten könnte. Aber trotzdem ist sie „mitten unter euch" (Lk 17,21). Trotzdem gibt es Gewalttäter, die sie schon Jetzt an sich reißen (Mt 1 l,12f). Trotzdem gibt es den kleinen Samen, aus dem einmal die Ernte oder eine große Senfstaude hervorgehen wird (Mk 4,26-34). Dies Anbruchsbewusstsein ist ein Proprium der Verkündigung Jesu. Er bleibt damit innerhalb der eschatologischen Gedankenwelt, die er mit den Pharisäern teilt - jedoch nähert ihn dieser besondere Zug, diese Ergänzung der ftiturischen Eschatologie durch eine Gegenwartseschatologie, den Sadduzäem an. Vergleichbar ist hier wie dort die Aufwertung der Gegenwart! In der Gegenwart geschieht das Entscheidende. ' ' Ausführlicher dazu G. Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde. Naiver Synergismus in Mk 4,26-29? ZNW 85 (1994) 167-182. „Glauben" und „Wollen" können gelegentlich in synoptischen Wundertexten fast synonym auftreten (vgl. Mt 15,28).

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3.3. Die Dämonologie Die Dämonologie von Sadduzäem und Pharisäern ist uns nur zufällig durch Apg 23,6-8 bezeugt. Die Auferstehungsbotschaft des Paulus spaltet dort das Synhedrium zwischen Sadduzäem und Pharisäern. Letztere glauben wie Paulus an die Auferstehung und an die Möglichkeit einer nicht-leiblichen Existenz von Menschen, Dämonen und Engeln. Auch hier besteht kein Zweifel: Jesus teilt die Gedankenwelt der Pharisäer. Jedoch tritt er mit dem Bewusstsein auf, dass in seiner Gegenwart die Dämonen fliehen (Mt 12,28 / Lk 11,20). Der Satan und sein Reich gehen prinzipiell zu Ende. Die Welt ist bald wieder dämonen- und satansfrei - nicht in dem Sinne, dass es dämonische Mächte nie gab oder nicht gibt, sondern in dem Sinne, dass sie keine Macht mehr ausüben werden. Auch hier ist unverkennbar: Das, worin sich Jesus von seinen ihm nahe stehenden (pharisäischen) Zeitgenossen unterscheidet, nähert ihn an die Sadduzäer an. Am Ende steht auch bei ihm eine vom Wirken dämonischer Kräfte befreite Welt. Und sie beginnt schon jetzt. Jesus, seine Anhänger und die ihm zugeschriebenen Traditionen teilen zweifellos die volksnahen pharisäischen Vorstellungen vom Menschen, von der Zukunft und von der Welt überhaupt.'" Aber wir finden Akzente, die mit Tendenzen der sadduzäischen Theologie konvergieren: Was ftir die Sadduzäer schon mit der Schöpfimg gegeben war - freier Wille, die unendliche Bedeutung der Gegenwart, eine dämonenfreie Welt - , das musste hier erst in einer in eschatologischem Wandel begriffenen Welt verwirklicht werden. Der formalen Anknüpfiing an die Argumentationsmuster der Sadduzäer entspricht also auch eine gewisse inhaltliche Tendenz - nicht in den Vorstellungen selbst, sondern in deren Abwandlung.

4. Sadduzäismus und Jesustradition in sozialgeschichtlicher Sicht Zum Abschluss ein Versuch den Gesamtbeftmd zu inteφretieren. Jesus hat als Galiläer eine geschichtlich bedingte Nähe zu einigen sadduzäischen Positionen. Aber dieser in der Vergangenheit wurzelnde geschichtliche Zusammenhang erklärt nicht alles. Die strukturellen Übereinstimmungen und die Modifikation nicht-sadduzäischer Überzeugungen in Richtung auf sadduzäische Positionen lassen sich nicht aus der Vergangenheit allein, sondern nur durch einen auch in der Gegenwart existierenden Bezug zum Sadduzäismus erklären. Hier könnte m.E. eine sozialgeschichtliche Deutung weiterfiihren. Vgl. das Plädoyer fiir eine theologische Nähe von Jesus und den Pharisäern bei K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988) 231-262.

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Der Sadduzäismus уегкофеЛ eine Oberschichtmentalität. Und das sozialgeschichtlich zu klärende Faktum ist: Wie gerät solche Oberschichtmentalität auch in Traditionen, die ins einfache Volk weisen? Dabei geht es nicht nur um traditionsgeschichtliche Zusammenhänge, also um die Frage, ob Elemente der Oberschichtkultur ins Volk absinken - als „gesunkenes Kulturgut". Es geht um ein der Oberschichtmentalität vergleichbares aristokratisches Bewusstsein, das wir in der Jesustradition finden - um den Anspruch das „Salz der Erde" und das „Licht der Welt" zu sein; um das Bewusstsein die anderen zu überbieten - nicht nur das von der Thora gebotene Gute zu tun, sondern das Bessere; um die Forderung nicht nur die sozialen Dekaloggebote zu erfüllen, sondern darüber hinaus dem Ruf in die radikale Nachfolge zu folgen; um das Gebot nicht nur die Freunde und Nahestehenden zu lieben, sondern das „Besondere" zu tun: den Feind zu lieben. In einem Wort: nicht nur die Gerechtigkeit, sondern die bessere Gerechtigkeit zu verwirklichen, wie der Matthäus-Evangelist es formuliert hat (Mt 5,20). Ein solches Ethos ist in jedem Fall aristokratisch, gleichgültig woher die Inhalte seiner Normen und Werte stammen! Das Rätsel der Jesustradition ist: Ein solches aristokratisches Ethos finden wir hier bei kleinen Leuten. Wir finden dabei nicht nur den formalen Anspruch das Besondere zu tun. Wir finden auch inhaltliche Werte, die mit Macht, Besitz und Bildung (oder Weisheit) verbunden sind und die hier in einer Weise neu formuliert werden, in der sie allen zugänglich werden: In der Königsherrschaft Gottes gehört die Macht nicht den Herrschern, sondern den Armen und den Kindern (Lk 6,20; Mk 10,14). Die Nachfolger Jesu werden in ihm einst die Regierung Israels bilden (Lk 22,28-30 par). Sie werden zur Macht kommen! Der Besitz im Himmel gehört denen, die Jesus nachfolgen und in ihrer Freiheit von Sorgen an einer Lebensfülle teilhaben, die königlicher Art ist: Auch Salomo war nicht besser gekleidet als die Lilien auf dem Felde, die sie sich zum Vorbild nehmen sollen (Lk 12,22-31 par). Die Weisheit des Königs Salomo wird jetzt durch die größere Weisheit Jesu überboten (Mt 12,42 par). Die Adressaten dieser Weisheit aber, die einfachen Menschen Galiläas und Judäas, rücken in die Rolle der Königin des Südens, die von weit her kam um Salomos Weisheit kennen zu lernen. Gleichzeitig mit dieser Inanspruchnahme aristokratischer Einstellungen zu Macht, Besitz und Bildung werden die traditionellen Macht-, Besitz- und Bildungseliten schroff kritisiert. Kritisiert werden die Könige und Fürsten, die ihre Völker unterdrücken (Mk 10,42-44). Kritisiert werden die Reichen, die keine Chance im Königreich Gottes haben (Mk 10,23-25). Kritisiert werden die Schriftgelehrten, die die Gottesherrschaft vor den Menschen verschließen (Lk 11,52 par). Die Oberschichten werden also nachgeahmt.

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ohne dass sie bewundert werden. Im Gegenteil: die von ihnen vertretenen Werte werden gegen sie aktiviert, sie selbst aber abgelehnt. Die ambivalente Beziehung zu den Sadduzäem und der sadduzäischen Tradition kann die geschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit fur solch eine „Wertrevolution" aufzeigen:'*^ Die alte jüdische Oberschicht war bei der Integration Palästinas in das Imperium romanum unter Druck geraten. Ein Teil von ihr hatte erbitterten Widerstand geleistet - vor allem Anhänger der Hasmonäer und sadduzäische Kreise, und das nicht zuletzt in Galiläa. Durch solche Umschichtungsprozesse konnten Teile der Oberschicht in engen Kontakt mit dem Volk geraten, um dessen Unterstützung sie sich jetzt bemühen mussten. Wir finden hier also kein abgesunkenes Kulturgut, sondern eine mit Macht und Gewah verdrängte Elite, die wieder engen Kontakt mit dem Volk aufnahm. Nicht zum ersten Mal hatten Teile der jüdischen Eliten gemeinsame Sache mit dem Volk gemacht, besonders in Zeiten der Bedrohung von außen. Ich vermute, hier liegen die allgemeinen Voraussetzungen fur die Übernahme von aristokratischen Einstellungen im einfachen Volk. Aber das allein erklärt nicht alles. Es muss jemand auftreten und in solch einem Spannungsfeld den Menschen sagen: Ihr seid das „Salz der Erde", ihr seid das „Licht der Welt" und so das uralte israelitische Bewusstsein der Erwählung revitalisieren: Mit diesem Volk hat Gott etwas ganz Besonderes vor - nicht nur mit seinen Eliten, sondern mit allen. Jesus von Nazareth war dieser jüdische Prophet. Er geriet mit seiner Verkündigung in einen Gegensatz zu den jüdischen Oberschichten, besonders zu den Sadduzäem - nicht nur deshalb, weil er ihnen entgegengesetzte Positionen vertrat, sondern auch, weil er sie mit einem konkurrierenden aristokratischen Anspruch vertrat. Daher die latente Ähnlichkeit mit einer Gruppe, mit der er manifest in Konflikt stand. Er provozierte sie dadurch, dass er Freiheiten für das Volk beanspruchte, die für sie selbstverständlich waren. Er verkörperte eine Vollmacht (έξουσία), die sie irritierte, weil hier im einfachen Volk jemand mit königlichem Bewusstsein auftrat. Seit jener Zeit bis heute aber geht von dieser Gestalt eine Ausstrahlungskraft aus, die immer wieder einfachen Menschen das Bewusstsein gab: Ihr seid „Könige", ihr seid ausgewählt fur eine große Aufgabe, ihr seid das „Salz der Erde" und das „Licht der Welt".

Ausfiihrlicher dazu G. Theißen, Jesusbewegimg als charismatische Wertrevolution, NTS 35 (1989) 343-360, in diesem Band S. 135-151.

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Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution' Hatte die Jesusbewegung revolutionäre Züge? Eine Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was wir unter „Revolution" verstehen. Der im Folgenden verwandte übertragene Begriff von „Revolution" setzt zwei allgemeine (etwas triviale) Annahmen über die Geschichte voraus: Erstens: Geschichte lässt sich als Verteilungskampf um Lebenschancen begreifen. Dieser Verteilungskampf geht nicht nur zwischen Individuen vor sich, sondern auch zwischen sozialen Gruppen und Klassen.^ Gerungen wird um die Verteilung von Macht, Reichtum, Bildung und Prestige. Zweitens: Jeder Verteilungskampf ist mit einem Legitimationskampf verbunden, in dem Ansprüche begründet, verteidigt oder angefochten werden. Es ist ein Kampf darum, was als wertvoll gilt. In vorindustriellen Gesellschaften geschieht dieser Legitimationskampf mit Hilfe religiöser Überzeugungen und Symbole. Revolutionen lassen sich dann als sprunghafte Änderungen im Verteilungs- und Legitimationskampf verstehen, in denen die Struktur der Verteilung geändert wird, ohne dass die geltenden sozialen und kulturellen Spielregeln des Verteilungskampfes eingehalten werden. Eine Revolution innerhalb des Legitimationskampfes soll im Folgenden eine „Wertrevolution" genannt werden.^ ' „Main paper", vorgetragen auf der SNTS 10 August 1988 in Cambridge. Ich danke meinen Kollegen ftlr eine anregende Diskussion. Der Erstabdruck in NTS 35 (1989) 343-360 wird hier im Wesentlichen unverändert wiedergegeben. ^ Der Begriff „Verteilungskampf' ist sehr viel allgemeiner als der Begriff „Klassenkampf'. Er umfasst auch Konflikte zwischen Nationen und Konkurrenz in derselben Schicht. Aber er kann natürlich auch das umfassen, was marxistische Gesellschaftsanalyse als „Klassenkampf' bezeichnet. Über ein konsensfähiges Bild der römisch-hellenistischen Gesellschaft als Ganzes verfugen wir nicht. Zur Debatte darüber vgl. G. Alföldy, Die römische Gesellschaft - Struktur und Eigenart (1976), in; ders., Die römische Gesellschaft, Wiesbaden: Franz Steiner 1986, 4 2 - 6 8 mit der Stellungnahme zur von G. Alfbidys Entwurf ausgelösten Diskussion S. 6 9 - 8 1 . Entscheidend ist, dass von einer sozialen Dichotomie von Ober- und Unterschichten in Übereinstimmung mit vielen antiken Zeugnissen ausgegangen werden kann (vgl. S. 78-81). ' Der Begriff „Wert" gehört zu den soziologischen Grundbegriffen, der kaum definiert werden karm, ohne dass in der Definition Elemente des zu definierenden Begriffs auftauchen. J. Friedrichs, Werte und soziales Handeln. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie, Tübingen: Mohr 1968, 113, definiert etwa: „Werte sind bewußte oder unbewußte Vorstellungen des Gewünschten, die sich in Präferenzen bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen niederschlagen." Für unsere Untersuchung ist wichtig, dass Werte diachronisch wie synchronisch variieren: 1. Es gibt einen „Wertwandel", der sich manchmal in sprunghaften Änderungen vollzieht. 2. „Werte", d.h. „Vorstellungen des Gewünschten" sind in den verschiedenen Gruppen und Schichten der Gesellschaft verschieden. Eine „Wertrevolution" ist eine sprunghafte Änderung im Wertwandel, bei dem Werte privilegierter Gruppen von denen angeeignet werden, die von ihnen bisher ausgeschlossen waren.

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Geschieht sie innerhalb des Verteilungskampfes selbst, ist sie eine Machtrevolution. Wertrevolutionen gehen Machtrevolutionen in der Regel voraus: Ehe ein System von einer Revolution hinweggefegt wird, hat es meist vorher seine Legitimation verloren. Nach diesen Vorklärungen sei vorweg die These des Vortrags skizziert. Sie umfasst zwei Teilthesen. Die erste lautet: Die Jesusbewegung vollzog im Vorschatten des Reiches Gottes eine Wertrevolution, d.h. eine Aneignung von Einstellungen und Normen der Oberschicht durch kleine Leute und Außenseiter. Aristokratische Tugenden im Umgang mit Macht, Besitz und Bildung wurden so umformuliert, dass sie einfachen Menschen zugänglich wurden. Die eigentliche Machtrevolution wurde von Gott erwartet: In seinem Reich sollten die Armen, Hungernden und Leidenden zu ihrem Recht kommen. Die zweite Hälfte der These lautet: Diese Wertrevolution war charismatisch, d.h. die Überzeugung von der großen Wende wurde durch außeralltägliche Wunder und Offenbarungen legitimiert und ihre Realisierung durch ebenso außeralltägliche Mittel, durch Gebet, Wunderkraft und Gottes Handeln, erhofft. Charisma war nicht nur Anerkennungsmacht, sondern auch Durchsetzungsmacht, die ohne Zwang wirksam wird. Wenn nun die Jesusbewegung in dem eben skizzierten Sinne eine Wertrevolution war, stellt sich die Frage: Hatten sich in der damaligen jüdischpalästinischen Gesellschaft Werte und Normen von Ober- und Unterschicht so sehr auseinanderentwickelt, dass ihre „revolutionäre" Neuverteilung notwendig wurde? Diese Frage lässt sich m.E. bejahen: Eine schmale, mit dem herodäischen Fürstenhaus verbundene Aristokratie entfremdete sich in wachsendem Maße vom Volk, indem sie Normen und Verhaltensweisen der hellenistisch-römischen Welt übernahm, einheimische Normen aber missachtete. Bei Herodes Antipas lässt sich dieser Entfi-emdungsprozess an drei Punkten belegen:"* Er baute ca. 19 n.Chr. die neue Hauptstadt Tiberias an einer Stelle, wo früher ein Friedhof war. Das war nach jüdischem Gesetz verboten. Die Stadt galt daher als „unrein", ihre Bevölkerung als Volk dubioser Herkunft: Wer siedelt schon gern in einer unreinen Stadt? (Jos Ant 18,37-38). In Tiberias ließ Herodes Antipas femer in seinem neu errichteten Palast Tierbilder aufstellen. Das war ein Verstoß gegen das Bilderverbot. Diese Bilder waren ein Ärgernis fiir das Volk. Am Anfang des jüdischen Krieges wurden sie von Aufständischen aus Tiberias zerstört. Sie kamen damit einer

" Vgl. zu den einzelnen Punkten H. W. Hoehner, Herod Antipas. A Contemporary of Jesus Christ, Cambridge: University Press 1972.

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Gesandtschaft aus Jerusalem zuvor, die ebenfalls den Auftrag hatte sie zu beseitigen (Jos Vita 65ff). Antipas übertrat schließlich die traditionellen Ehegesetze: Er heiratete die geschiedene Frau seines Bruders, Herodias. Diese wiederum insistierte auf seiner vorherigen Scheidung von seiner ersten Frau, d.h. sie weigerte sich in einen Harem einzutreten (Jos Ant 18,110). Damit setzte sie m.E. „fortschrittlichere" Normen in ihrem Lande durch. Aber es gab Proteste. Der Täufer war deren Sprachrohr. Wahrscheinlich hat der Täufer mit seiner Kritik an der Ehe des Antipas eine im Volk weit verbreitete Stimmung artikuliert, die sich nicht nur gegen die Eheschließung des Landesfürsten wandte, sondern gegen die immer wieder erkennbare Distanzierung der Herodäer von der einheimischen Kultur. Die Ehekritik allein war freilich brisant genug.' Schon ein Bruder des Antipas, der Ethnarch Archelaos, hatte gegen die traditionellen Ehegesetze verstoßen. Auch das war im Volk kritisiert worden (Jos Ant 17,349-353). Archelaos hatte bald danach seine Herrschaft aufgrund allgemeiner Klagen über sein Regime verloren. Sein Schicksal stand Antipas und seinen Kritikern vor Augen. Es ist daher historisch glaubwürdig, wenn Josephus die Hiiu-ichtung des Täufers politisch motiviert sein lässt: Antipas meinte einer Rebellion zuvorkommen zu müssen (Jos Ant 18,118). Die Täuferbewegung hat unverkennbar einen oppositionellen Zug: Sie konfrontierte die herrschende Schicht mit den traditionellen Normen. Die Jesusbewegung ist aus ihr hervorgegangen. Hier finden wir eine etwas andere Reaktion auf das Auseinanderdriften von Ober- und Unterschichtwerten: Hier werden traditionelle Verhaltensweisen der Oberschicht so umformuliert, dass sie für das Volk zugänglich werden. Das soll an den drei zentralen Themen jedes geschichtlichen Verteilungskampfes gezeigt werden: an Macht, Reichtum und Bildung. In der Jesusüberlieferung werden nämlich mit Macht, Reichtum und Bildung verbundene Verhaltensweisen fur Menschen zugänglich gemacht, die ohne Macht, ohne Reichtum und ohne Bildung waren. Was Königen und Mächtigen vorbehalten war, sollte in veränderter Form von kleinen Leuten praktiziert werden. Man kann das zunächst daran zeigen, dass in der Jesusüberlieferung der Königstitel mit kleinen Leuten assoziiert wird, und zwar gerade bei den Themen Macht, Reichtum und Bildung. Die Macht der Könige zeigt sich darin, dass sie Zwangsabgaben, Steuern und Zoll eintreiben können. Eine Jesusüberlieferung benutzt das Bild von Königssöhnen um die Freiheit der Jünger von der Tempelsteuer zu begrün' Vgl. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Freiburg Schweiz/Göttingen; Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1989, 85-102.

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den. Jesus fragt: „Die Könige der Erde - von wem nehmen sie Zoll und Steuer? Von ihren Söhnen oder von den Fremden?" (Mt 17,25). Als Königssöhne sind die Jünger frei von Abgaben. Könige verfugen femer über Reichtum. Die Jünger ziehen ohne Besitz mit Jesus durch die Lande. Gott sorgt für sie wie iur Lilien auf dem Felde. Nicht einmal König Salomo war so prächtig gekleidet wie diese Lilien. Die Jünger sind mehr wert als Lilien, mehr wert als König Salomo (Mt 6,2534). Ihnen wird kontrafaktisch ein königliches Bewusstsein zugesprochen. Schließlich wird Königen Weisheit zugeschrieben. König Salomo galt als der Weise schlechthin. Unter den Anhängern Jesu gab es keine große Gelehrsamkeit. Dennoch versichert ihnen Jesus, dass sie Zugang zu einer Weisheit haben, die größer ist als die des Königs Salomo: Sie sind besser dran als die Königin des Südens. „Sie kam vom Ende der Erde, um Salomos Weisheit zu hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo" (Mt 12,42). Die mehr oder weniger assoziative Übertragung des Königstitels auf „kleine Leute" legt die Frage nahe, ob wir nicht auch sonst abgesunkene Fragmente des antiken Herrscherideals und aristokratischer Wertvorstellungen in Jesusworten finden, und zwar in einer Weise, die sie für herrschaftsfeme Kreise annehmbar machte.® Exkurs: Die folgenden Belege lassen sich in verschiedener Weise auswerten und einordnen. Mit ihnen soll eine so große inhahliche oder formale Analogie zwischen Wertvorstellungen der herrschenden Oberschicht und entsprechenden Vorstellungen der Jesusbewegung nachgewiesen werden, dass ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen ihnen wahrscheinlich wird. Dieser geschichüiche Zusammenhang kann im Einzelnen verschieden bestimmt werden: 1. Überlieferungen der Jesusbewegung sind in den Traditionen des Volkes verwurzelt und zeigen entstehungsgeschichtlich keinen Zusammenhang mit jenen Oberschichtwerten, denen sie an die Seite gestellt werden können. Eine „Wertrevolution" liegt dann vor, wenn sie mit aristokratischem Ansprach vertreten werden - etwa mit dem Bewusstsein „Salz der Erde" und „Licht der Welt" zu sein (Mt 5,13-16). Einfache Menschen beanspruchen in diesem Augenblick: Auch wir haben jene Werte, die bei Mächtigen, Reichen und Gebildeten zu finden sind. Der wertrevolutionäre Akt vollzieht sich in der Übemahme des aristokratischen Ansprachs, während die ethischen Inhalte aus der Tradition des Volkes bzw. der allgemeinen ethischen Kultur stammen können. ^ Wenn im Folgenden - besonders bei mit Macht verbundenen Verhaltensweisen - Beziehungen zum Königsideal gesucht werden, so geht es doch allgemein um Wertvorstellungen der herrschenden Schicht. Aussagen über Herrscher lassen sich eindeutig auf eine soziale Oberschicht beziehen. Der Nachweis, dass ein Wert „sozial oben" anzusiedeln ist, ist hier besonders leicht zu fflhren.

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2. Analogien zwischen Oberschichtwerten und Jesusüberlieferungen können dadurch zustande kommen, dass ethische Überlieferungen des Volkes durch Konfrontation und Auseinandersetzung mit Oberschichtvorstellungen umgeformt werden. Die Konfrontation mit der herrschenden Schicht dient in diesem Fall als Katalysator um Volksüberlieferungen unter dem Eindruck konkurrierender Oberschichtwerte neu zu gestalten. Diese Möglichkeit liegt besonders dort nahe, wo oberschichtanaloge Werte in der Jesusbewegung mit Kritik am Verhalten der Oberschicht verbunden werden, d.h. wo eine bewusste Auseinandersetzung mit ihren Werten und Normen stattgefunden hat - und der Anspruch erhoben wird, dass man die oberschichtanalogen Werte in anderer Weise realisiert als in der Oberschicht. Auch in diesem Fall wird ein wertrevolutionärer Impuls sichtbar. 3. Analoge Wertvorstellimgen in Oberschicht und Jesusbewegung können schließlich dadurch erklärt werden, dass Vorstellungen aus der Oberschicht nach unten gedrungen sind. Besonders aufschlussreich ist der Fall, wo aristokratische Wertvorstellungen das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung sind und zuerst in der Oberschichtkultur begegnen um dann „von unten" angeeignet zu werden. Nun geschieht in der Geschichte fast ununterbrochen ein geräuschloser „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten": Das Volk ahmt immer wieder Verhalten und Einstellungen der Aristokratie nach. Diese „Nachahmung" kann wertrevolutionäre Züge bekommen, werui sie über eine wachsende soziale Distanz hinweg geschieht, z.B. wenn Werte angeeignet werden, die in der Oberschicht als Mittel der sozialen Abgrenzung gegen andere dienen. Wenn sie kontrafaktisch einfachen Menschen zugesprochen werden, werden soziale Grenzen durchbrochen. Wir können in den meisten Fällen offen lassen, wie die geschichtliche Vermittlung von Oberschichtwerten und Vorstellungen der Jesusbewegung konkret geschah. Man kann den wertrevolutionären Charakter der Jesusüberlieferung in deren Verbindung mit einem aristokratischen Anspruch sehen oder in der oppositionellen Revitalisierung allgemein verbreiteter ethischer Traditionen oder in der Aneignung bisher unzugänglicher Wertvorstellungen - in jedem Fall geschieht ein „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten". Da er, wie im Folgenden zu zeigen ist, immer mit einer deutlichen Kritik an der Oberschicht verbunden ist, hat er m. E. immer wertrevolutionären Charakter.

1. Verhaltensweisen, die mit Macht verbunden sind Wir werfen zunächst einen Blick auf Verhaltensweisen, die mit Macht verbunden sind. Macht hat sich immer mit göttlichem Glanz zu umgeben versucht. Im alten Israel galten Könige (wie sonst im Orient) als „Söhne Gottes" (vgl. Ps 2,7). Hellenistische Herrscher ließen sich als epiphane Götter verehren. Im biblischen Traditionsbereich wird der Titel „Gottessohn" auf das Volk (Hos 2,1; 11,1; Weish 18,13) und den Weisen (Sir 4,1 Of; Weish

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2,18; 5,5) übertragen ohne dabei seinen hoheitlichen Klang zu verlieren. In dieser Tradition steht die Jesusbewegung, wenn sie den Sohn-Gottes-Titel zweimal auf kleine Leute anwendest: einmal im Wort von den Friedensstiftern: „Selig sind, die Frieden machen, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden." (Mt 5,9). Femer im Wort von der Feindesliebe: „Liebet eure Feinde und bittet fur die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln seid!" (Mt 5,44^5). Beide hier geforderten Verhaltensweisen, Friedenstiften und Großzügigkeit gegenüber den Feinden, sind als Aufgaben von Fürsten nachweisbar. Zunächst das Friedenstiften.^ In Athen begrüßte man den kriegerischen König Demetrios Poliorketes im Jahre 291/290 v.Chr. mit den Worten: „Du Sohn des mächtigen Gottes . . ." und bat ihn: „Zuerst schaff Frieden, Liebster, denn Herr bist du" (FGrH II A 76, F. 13). Dio Cassius nennt Caesar „Friedensstifter": ειρηνοποιός (vgl. 44,49,2).* Augustus gilt in der Inschrift von Priene als „Heiland" und „Gott", der „den Kriegen ein Ende macht und den Frieden ordnet" (OGIS II, 458). Das Ideal des friedenstiftenden Herrschers wird in der Zeit der pax romana immer mehr entwickelt. Auch wenn Friedenstiften nur die Kehrseite erfolgreicher Kriegfìihrung war und insofern das alte Ideal vom kriegerischen König fortgesetzt wird, so finden wir in unserer Zeit doch eindeutig neue Akzente. Die Frage ist: Konnten Fragmente solch eines Herrscherideals bis in die Winkel Galiläas dringen? Sicher sind sie bis ins Diasporajudentum gedrungen. Philo spricht vom Kaiser als „Friedenswächter" (LegGai 147) und beschreibt in überschwänglichen Worten seine friedenstiftende Macht (LegGai 143-147). Aber auch das palästinische Judentum kennt die Verknüpfijng von Herrschaft und Friedenstiften. Das Ideal vom messianischen König ist eng mit dem Friedensgedanken verbunden (Jes 9,2-7; Sach 9,9f). Dieselbe Verbindung begegnet aber auch unabhängig von diesen Traditionen: Nach erfolgreicher Bekämpfting von Aufständischen in Galiläa feierte man den jungen Herodes in Stadt und Dorf, „weil er Frieden und Sicherheit geschaffen hatte" (Jos Ant 14,160 vgl. 15,348). Zwei Menschenalter später verkündigte eine Bewegung unter der galiläischen Bevölkerung: Friedenstiften mache zu „Söhnen Gottes". Dass hier ein kritisch angeeignetes Echo antiker Herrscherideologie vorliegt, ist m.E. möglich, ja wahrscheinlich.

' Die folgende These wurde schon von H. Windisch, Friedensbringer - Gottessöhne. Eine religionsgeschichtliche Interpretation der 7. Seligpreisung, ZNW 24 (1925) 240-60, vertreten, fand aber keine Zustimmung. ' Ebenso wird Commodus 6ΐρηΐΌΐιοι.ός της οικουμένης genannt (Dio Cass 73,15,5). Gewiss schreibt Dio Cassius erst in nachneutestamentlicher Zeit. Die pax-Propaganda ist jedoch älter, wie die oben zitierte Inschrift von Priene zeigt.

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Das gilt auch für die Aufforderung zur Feindesiiebe.' Großzügiger Umgang mit Feinden ist eine Herrschertugend, aber keine selbstverständliche. Plutarch überliefert den Ausspruch des spartanischen Königs Aristón (ca. 560-510 v.Chr.): Jemand lobte den von Kleomenes berichteten Grundsatz, der gefragt, was ein guter König tun müsse, gesagt hatte: „Den Freunden Gutes tun, den Feinden Böses tun!" Da antwortete er: „Wieviel besser ist es, Freund, den Freunden Gutes zu tun, die Feinde aber zu Freunden zu machen" (Plut Mor 2 1 8 A = Lakonische Sprüche, Aristón §1).'°

Wir erkennen in dieser Überlieferung die Ablösung eines älteren Königsideals durch ein neues, humanes Leitbild. An solche hellenistischen Vorbilder knüpft die Propaganda der dementia Caesaris an. Auch Caesar war sich dessen bewusst, dass er ein für seine Umgebung neues Herrscherideal vertrat. An Cicero schrieb er, seine dementia stelle eine nova ratio vincendi dar, mit der er seine Herrschaft zu sichern suchte (vgl. Cic Att 9,7C.l). Demonstrativ verzieh er seinen Feinden. Seine Nachfolger setzten diese propagandistisch wirkungsvolle Tradition fort." Auch hier stellt sich die Frage: Konnte solche Herrscheφropaganda bis nach Galiläa dringen? Für das Diasporajudentum ist ihr Einfluss auf jeden Fall bezeugt. Der Aristeasbrief stellt die „Milde" (die ётпеСкеьа) des Herrschers als zentrale Tugend heraus und verbindet sie mit dem Gedanken der imitatio dei. Weil Gott die Welt gütig und ohne Zorn regiert, soll auch der König seine Untertanen ohne Zorn regieren (Arist 254). Weil Gott gütig ist, soll er die Schuldigen nicht so streng bestrafen, wie sie es verdienen (Arist 188). Er soll barmherzig sein, da auch Gott barmherzig ist (Arist 208). Dies Herrscherideal hat bis nach Palästina gewirkt. Josephus berichtet von Agrippa I., dass er sich mit seinem Kritiker Simon überraschend versöhnt habe. Dieser Simon hatte den Ausschluss Agrippas vom Kult gefordert und damit die Legitimität seines Königtums in Frage gestellt. Agrippa stellte ihn zur Rede und

' Die folgenden Gedanken sind angeregt durch L. Schottroff, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition. Mt 5,38-48; Lk 6,27-36, in: Jesus in Historie und Theologie, FS H. Conzelmann, Tübingen: Mohr 1975, 197-221. Zum antiken Herrscherideal der dementia vgl. T. Adam, dementia Principis, KiHiSt 11, Stuttgart: Klett 1970. Die Fortsetzung lautet: „Dieser nach allgemeiner Meinung von Sokrates stammende Grundsatz wird auch Aristón zugeschrieben." Es handelt sich also nicht nur um eine Formulierung des Königsideals, sondern um eine allgemeine Maxime, die sich so jedoch nicht in der sokratischen Überlieferung findet (vgl. jedoch Plato, Pol 335B ff; Kriton 49A ff; Gorgias 469A-B und 475 B D). Eben diese Maxime gehört nach Seneca (Ira 11,34,4) zur politischen Weisheit der Römer: aus Feinden Bundesgenossen zu machen. Zur oben zitierten Plutarchüberlieferung vgl. K. Berger/C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, NTD Textreihe 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, Nr, 142, S. 97. " Vgl. zu ihr K. Winkler, Art. dementia, RAC III (1957) 206-231.

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entließ ihn, nachdem er um Verzeihung gebeten hatte, sogar mit einem Geschenk. „Denn er hielt Sanftmut ñir einen königlicheren Zug als Zorn, und er war der Meinung, daß Milde (έττιείκεια) den Großen besser stünde als Heftigkeit" (Jos Ant 19,334). Wenn Jesus diejenigen, die ihre Feinde lieben, Söhne Gottes nennt, so mutet er kleinen Leuten ein herrschaftliches Verhalten zu. Der aristokratische Charakter seiner Forderung geht daraus hervor, dass er die Feindesliebe betont vom üblichen Verhalten abhebt. Denn Liebe auf Gegenseitigkeit üben auch „Zöllner", „Heiden" und „Sünder" (vgl. Mt 5,46f; Lk 6,32-34). Wer anders als sie seine Feinde liebt, wird dagegen ein „Sohn" des himmlischen Vaters. Eine bewusste Beziehung auf das antike Herrscherideal ist nicht ausgeschlossen. Denn dass es in der Jesusbewegung eine kritische Auseinandersetzung mit ihm gegeben hat, zeigt die vehemente Kritik an ihm in Mk 10,42-44: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein."

Verbindet man diese Kritik an politischer Machtausübung mit der Forderung, dass die Nachfolger Jesu genau das tun sollen, was eigentlich Herrscher tun sollten - Frieden schaffen und Feinde versöhnen - , so kann man in der Tat von einer Wertrevolution sprechen: Herrschaftsfeme, ja noch mehr: verfolgte und marginalisierte Menschen beanspruchen zu realisieren, was die Propaganda der Herrscher immer nur verheißen hat.

2. Verhaltensweisen, die mit Besitz verbunden sind Vergleichbares lässt sich bei Verhaltensweisen beobachten, die mit Besitz verbunden sind. Freigebigkeit, έλευθεριότης und liberalitas, sind ursprünglich aristokratische Tugenden.'^ Aristoteles verteidigt mit Hinweis auf sie Klassenunterschiede gegen die Idee der Besitzgemeinschaft. Denn Freigebigkeit könne man nur zeigen, „wenn man eigenes Vermögen besitzt und frei darüber verftigen kann" (Pol 1263b ). Aus der aristokratischen Standesethik gelangte das Ideal der liberalitas in das antike Herrscherideal: Der König muss sich durch Wohltaten und Freigebigkeit auszeichnen. In der römischen Aristokratie muss sich eine solche liberalitas erst gegen altrömische Tugenden der Sparsamkeit durchsetzen. Für Caesar ist sie eins seiner wichtigsten Mittel Loyalität zu schaffen (vgl. Cic Att 9,7C.l). Die kleinen Fürsten ahmten ihn nach. So auch die Herodäer (vgl. Jos Ant 15,308-311). " Grundlegend H. Kloft, Liberalitas Principis, Köln/Wien: Böhlau 1970.

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Dasselbe Ideal begegnet im Übrigen auch in der frühjüdischen Literatur. Hier ist z.B. Hiob zu einem König geworden, der sich durch seine unermessliche Freigebigkeit gegenüber Waisen, Witwen und Armen auszeichnet (Testlob 9,2 ff; 10,1-3). In der Jesusüberlieferung (aber auch in anderen antiken Überlieferungen) gih nun die Gabe der Armen mehr als die Gabe der Reichen. Das ist die Pointe in der Geschichte vom „Scherflein der Witwe". Die Reichen, die viel in den Opferkasten legen, geben in Wirklichkeit weniger als die arme Frau. „Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte." (Mk 12,44) Die arme Spenderin aus der Unterschicht wird hier über die Spender aus der Oberschicht gestellt. Die Witwe realisiert die aristokratische Tugend des Schenkens: Sie trägt mit ihrer Spende zu einer öffentlichen Aufgabe bei, zur Erhaltung des Tempelkults. Von einer Spende fur die Armen ist nicht die Rede.'^ Eine besondere Form der liberalitas ist der Schuldenerlass. Er ist das Privileg des ganz Reichen, wie im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23-34). Diesem Schalksknecht wird eine unvorstellbar große Summe vom König erlassen, aber er treibt unbarmherzig eine geringfügige Summe von seinem Mitknecht ein. Ein antiker Leser wird dies Gleichnis kaum lesen können ohne auch an den Erlass materieller Schuld zu denken. Die Anhänger Jesu sollen sich die Großzügigkeit des Königs zum Vorbild nehmen, wenn sie Schulden anderer Menschen eintreiben und erlassen. Lukas konkretisiert das in der Feldrede: „Liebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft." (Lk 6,35) Großzügig weggeben zu können, fällt denen, die ihren Besitz ererbt haben, leichter, als denen, die ihn mit Mühen erworben haben. Diese Beobachtung macht schon Aristoteles (EthNic IV 1120b). Auch der „Reichtum" der Jünger war mühelos erworben, wenn auch nicht vom irdischen Vater, so doch vom himmlischen Vater. Denn der gab ihnen Nahrung und Kleidung so wie er die Vögel unter dem Himmel nährt und die Lilien kleidet (Mt 6,25-32). Erst dieser geschenkte Reichtum macht von Sorgen frei. Hier wird wieder Habenichtsen kontrafaktisch ein aristokratisches Bewusst-

" Die mannigfachen Analogien in der Antike können hier nicht behandelt werden: Sie mahnen meist dazu eine Gabe in Entsprechung zum Vermögen des Spenders zu werten und dabei die moralische Qualität des Spenders zu berücksichtigen. In Mk 12,41-44 wird dagegen die Unverhältnismäßigkeit der Gabe betont. Die Witwe gibt alles! Die moralische Qualität der Spender spielt keine Rolle, nur ihr Sozialstatus wird betont. Von den antiken Parallelen seien genannt: (1) Aussagen über Gaben an die Götter: Xenoph Mem 1,3,3; Eur Danae frg. 327; Porphyr Abst 11,17; Jos Ant 6,149; Epigramm des lulianos Anth Graec VI,25,8; LevR 3,5; 2) Zwischenmenschliche Gaben: Aristot EthNic IV,2,1120b; Tob 4,6-8; Sen Ben 1,7,1; I,8f.

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sein zugesprochen: Sie sollen trotz Besitzlosigkeit wie die Reichen frei von materiellen Sorgen sein und aus der Fülle wegschenken! Halten wir fest: In der Jesusüberlieferung wird kleinen Leuten im Umgang mit Besitz eine Freiheit und Souveränität zugemutet, die wir eher in Oberschichten vermuten: Freigebigkeit bei Spenden, Großzügigkeit beim Schuldenerlass, Freiheit von Sorgen. Zugleich werden die Reichen scharf kritisiert. Es gibt wenig Trost iur sie im Neuen Testament. Denn sie haben keine Chance in der Gottesherrschaft. Nur so kann der Spruch verstanden werden: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme." (Mk 10,25). Aufschlussreich ist ein kleiner Zug in den drei alten Seligpreisungen aus Q. Wenn wir dort lesen, dass die Hungernden satt und die Trauemden getröstet werden sollen, so erwarten wir eigentlich bei den Armen die Verheißung, dass sie reich werden. Aber diese Verheißung fehlt. Der Begriff des Reichtums war vielleicht zu negativ besetzt um in diesem Zusammenhang als Verheißung auftreten zu können.''* So lesen wir denn: „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer." (Lk 6,20)

3. Verhaltensweisen, die mit Bildung verbunden sind Wir kommen schließlich zu Verhaltensweisen und Einstellungen, die mit Bildung und Weisheit verbunden sind. Weisheit und gehobener Sozialstatus gehören eng zusammen. Auch dort, wo die Bildungsvermittler niedrigen Status haben, verhalten sie sich schichtorientiert: Sie orientieren sich an der Oberschicht. In der jüdischen Literatur finden wir die schichtspezifische Bindung der Weisheit am klarsten bei Jesus Sirach ausgesprochen. Vom Weisen sagt er: „Der kann den Fürsten dienen und vor den Herren erscheinen." (Sir 39,4). Weise kann bei Jesus Sirach nur sein, wer keine körperliche Arbeit tun muss (38,25). Von der Weisheit ausgeschlossen sind daher alle, die mit der Hand arbeiten: der Bauer, der τέκτων, der Maler, der Schmied und Töpfer. Denn der Bauer, der den Pflug in die Erde drückt und der Schmied, der am Feuer schwitzt, haben den Kopf für höhere Gedanken nicht frei. Jesus gehört damit selbst zu den von der Weisheit ausgeschlossenen Handarbeitern: Er ist ein τέκτων (Mk 6,3). Seine Zeitgenossen spüren, dass bei ihm die Weisheit Statusgrenzen überwindet. Denn sie rufen:''

Er hätte hier - ohne weiteren Zusatz - nicht metaphorisch verstanden werden können (wie in Mt 6,19-21, wo nicht von „Reichtum", sondern von einem „Schatz" die Rede ist). " So mit Recht D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen: Mohr 1987, 107, dem ich diese Beobachtung verdanke.

J e s u s b e w e g u n g als c h a r i s m a t i s c h e W e r t r e v o l u t i o n

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W o h e r hat er d a s ? W a s ist d a s für e i n e W e i s h e i t , d i e i h m g e g e b e n ist? U n d s o l c h e m ä c h t i g e n Taten, d i e durch s e i n e H ä n d e g e s c h e h e n ? Ist er nicht der Z i m m e r m a n n (ó τ ί κ τ ω ν ) , M a r i a s S o h n ... (Mk 6,2f )

Dieser Weisheitslehrer aus dem Volk wendet sich dazu an alle mit der Hand Arbeitenden, die Jesus Sirach von der Weisheit ausschließen will. Jesus lädt sie ein seine Weisheit zu hören. Der sogenannte „Heilandsruf Jesu" in Mt 1 l,28f ist nichts anderes als der Ruf der Weisheit. Er lautet:'^ K o m m t her z u mir, ihr A r b e i t e n d e n und B e l a s t e t e n , und ich g e b e e u c h R u h e . N e h m t mein Joch auf euch u n d lernt v o n mir, d e n n ich bin sanft und d e m ü t i g v o n H e r z e n und ihr w e r d e t R u h e finden für eure S e e l e n . (Mt l l , 2 8 f )

Dieser Heilandsruf hat so viele Parallelen bei Jesus Sirach, dass hier wie dort dieselbe Topik vorliegen muss. Man vergleiche nur das Werben der Weisheit in Jesus Sirach: „Kommt her zu mir, die ihr meiner begehrt . . ." (24,19 LXX); „Nähert euch mir, ihr Ungebildeten . . ." (51,23 Lxx). „Seht mit euren Augen, dass ich wenig Arbeit gehabt habe und viel Ruhe für mich gefunden habe" (51,27 Lxx). „Euren Nacken beugt unter ihr Joch und tragt ihre Last" (51,26 Lxx). Zweifellos: Es ist hier wie dort derselbe Ruf der Weisheit. Bei Jesus Sirach wendet er sich bevorzugt an die Oberschicht bzw. an Menschen mit dem Ideal keine Arbeit leisten zu müssen und daher weise werden zu können." Bei Jesus dagegen wendet er sich an „Arbeitende und Belastete". Die Jesusbewegung ist dabei in eine allgemeine Tendenz im Judentum einzureihen Schriftgelehrsamkeit und Erwerbstätigkeit zu verbinden. Die Weisheit der Jesusbewegung für einfache Menschen ist in ihren Gleichnissen enthalten. Vergleicht man die Gleichnisse mit der antiken Fabelliteratur, einer Gattung, die auch jedermann zugänglich war, so fallt in " Der Spruch wird meist im religiösen Sinn gedeutet. Das „Joch" sei das Joch des Gesetzes und seiner pharisäischen Auslegung. Dagegen mit Recht K. Wengst, Demut - Solidarität der Gedemütigten, München: Kaiser 1987, 69-78. " Man kann bei Jesus Sirach zwei „Bildungsebenen" unterscheiden: Die Weisheit der Schriftgelehrten, die mit Handarbeit unvereinbar ist, und eine Weisheit ftlr Laien. H. Stadelmann, Ben Sira als Schriftgelehrter. Eine Untersuchung zum Berufsbild des vor-makkabäischen Sofer unter Berücksichtigung seines Verhälmisses zu Priester-, Propheten- und Weisheitslehrertum, W U N T II, 6, Tübingen: Mohr 1980, 293-309, spricht von einem „Volksbildungsideal Ben Siras". Schon bei Jesus Sirach wird also die Statusbindung der Weisheit relativiert, aber es besteht kein Zweifel daran, wo er die eigentliche Weisheit sucht.

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den Fabeln eine ausgesprochen defensive Lebensmoral auf: Wir blicken in eine Welt des Fressens und Gefressenwerdens, in der man aufpassen muss nicht zu den Opfern zu gehören. Die Gleichnisse Jesu strahlen dagegen eine andere Haltung zum Leben aus: Hier finden wir oft eine ausgesprochene Risikofreudigkeit. Der Mensch soll seinen ganzen Besitz hingeben um die eine kostbare Perle und den einen Schatz zu erlangen (Mt 13,44^6). Er soll das ganze ihm anvertraute Geld riskieren um es zu vermehren. Wenn er es defensiv vergräbt, verfehlt er seine Pflicht (Mt 25,14-30). Er wird dafür gelobt, dass er eigenmächtig die Schuldforderungen seines Herrn herabsetzt (Lk 16,1-9). Auf der anderen Seite aber schärfen die Gleichnisse ein ungeheures Verantwortungsbewusstsein ein: Jederzeit kann der Herr zurückkehren und Rechenschaft verlangen! Verantwortlich und gleichzeitig risikobereit zu handeln - beides zu verbinden, das ist kein Zeichen einer eingeschränkten Unterschichtmentalität. Eine solche Haltung finden wir am ehesten bei aristokratischen Gruppen." Verbunden mit dieser Weisheit fur die „Nichtweisen" ist in der Jesusüberlieferung eine schroffe Kritik an den Gebildeten und Gelehrten, die wohl prinzipiell den Schlüssel zur Erkeimtnis haben, aber ihn dazu benutzen die Wahrheit für andere zu verschließen und unzugänglich zu machen (Lk 11,52). Wieder finden wir den Anspruch: Worin die herrschenden Bildungsschichten versagten, eben darin sieht die Jesusbewegung ihre Aufgabe. Die Weisheit wird aufgeschlossen fur die, die von ihr ausgeschlossen waren. Fassen wir unsere Ergebnisse vorläufig zusammen: Die Jesusbewegung steht zwar am Rande der Gesellschaft, aber sie greift nach Werten, die im Zentrum dieser Gesellschaft in der Oberschicht verankert waren. Kontrafaktisch beansprucht sie für sich die königliche Tugend der dementia, die Freigebigkeit der Reichen, die Weisheit der gebildeten Kreise - und das in bewusstem Kontrast zu den „Herrschenden der Völker", den „Reichen" und den „Schriftgelehrten". Die angeführten Belege für diese Wertrevolution sind innerhalb der Jesusüberlieferung nicht Randerscheinungen, sondern ergeben sich aus dem Zentrum, aus der Verkündigung der Königsherrschaft Gottes. Das Bild von der „Königsherrschaft Gottes" ist eine politische Metapher. Gott wird bald alle Macht ausüben. In seinem Machtbereich werden die zur Geltung kommen, die einen negativen Status in der Gegenwart haben. Daher wird die

" Die aristokratische Souveränität der Güte tritt auch im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg hervor (Mt 20,1-16). Der Weinbergbesitzer beruft sich für seine Güte auf seine Freiheit: „Habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist?" (20,15). Ich verdanke diesen Hinweis H. Köster.

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„Königsherrschaft Gottes" kontrafaktisch mit herrschaftsfernen Gruppen verbunden: - Jesus spricht den Armen einen neuen Status zu: Glücklich sind sie, denn ihnen gehört die Gottesherrschaft (Mt 5,3). - Jesus spricht Kindern entscheidende Bedeutung zu. Ihnen gehört die Gottesherrschaft. Wer sie nicht wie ein Kind annimmt, kommt nicht in sie hinein (Mk 10,13-16). - Ausländer erhalten kontrafaktisch einen positiven Status in der Gottesherrschaft: Sie werden mit Abraham, Isaak und Jakob dort zu Tische liegen, während die „Söhne der Gottesherrschaft" ausgeschlossen werden (Mt 8,llf). Immer wieder zeigt sich: Kontrafaktische Statuszuteilung ist ein Grundzug der Jesusüberlieferung: Denen wird ein neuer Status zugeschrieben, die hier einen Mangel an Status haben. Es kommt so zu einem Abwärtstransfer von Oberschichtwerten, die dabei transformiert und neu formuliert werden. Sie werden „von unten" neu angeeignet. Auch wenn die Jesusbewegung die bestehenden Verhältnisse nicht verändern will (es fehlt ihr jedes politische Handlungsprogramm), so delegitimiert sie doch bestehende Herrschaft, vorgefimdene Besitzverteilung und überlieferte Weisheitsansprüche. Anders ausgedrückt: Auch wenn sie keine Machtrevolution plant, so vollzieht sie doch eine Wertrevolution. Um den Unterschied zwischen einer politischen Revolution und einer Wertrevolution genauer herauszuarbeiten müssen wir den charismatischen Charakter dieser Wertrevolution näher bestimmen. Charisma ist die Chance aufgrund außeralltäglicher Kraft, die sich z.B. in Wundem und Offenbarungen äußern kann, Anerkennung zu finden." Diese Anerkennung ist vom bestehenden Regelsystem der Gesellschaft unabhängig und auf deren Machtmittel nicht angewiesen. Sie ist frei von Zwang. Charisma ist in traditionalen Gesellschaften die entscheidende Kraft der Erneuerung, eine wahrhaft revolutionäre Kraft. Denn Charisma begegnet häufig bei Menschen und Gruppen, die nach dem geltenden Regelsystem sozialmoralisch geächtet und stigmatisiert sind: Die freiwillige Bejahung stigmatisierter Außenseiterrollen ist ein Weg, das geltende Wertsystem in Frage zu stellen. Charisma und Stigma gehören zusammen. So die These des Soziologen Wolfgang Lipp, die m.E. mit Erfolg von M. N. Ebertz auf die Jesusbewegung angewandt wurde.^^ " Der Begriff des Charisma stammt aus der Herrschaftssoziologie M. Webers. Eine klare Analyse findet sich bei W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen: Mohr 1979, Kap. 5, bes. 180 ff. ^^ Den Zusammenhang von Charisma mit sozial geächteten Außenseiterrollen hat W. Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Schriften zur Kultursoziologie I, Berlin:

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Exkurs: Die soziologische Erkenntnis, dass Selbststigmatisierung eine wertverändemde, charismatische Strategie sein kann, erinnert an F. Nietzsches Analyse des jüdischchristlichen Ethos als „Sklavenaufstand der Moral":^' Gut imd Böse hätten ursprünglich aristokratischen Schichten zur Differenzierung zwischen ihrem Lebensstil und dem des einfachen Volkes gedient. In der biblischen Tradition sei hier eine Umwertung geschehen. Aus Ressentiment gegen die ihm unzugänglichen Werte der herrschenden Schicht habe das Volk diese abgewertet und den eigenen Lebensstil zur Tugend erhoben: Die Armen wurden zu „Gerechten", die Abhängigen zu „Demütigen". Während F. Nietzsche diese „Umwertung der Werte" negativ beurteilt, hat W. Lipp in ihr eine positive Kraft gesehen,^^ besonders dort, wo „Selbststigmatisierung" auf freiwilliger Übernahme stigmatisierter Außenseiterrollen beruht, also nicht als Ressentiment von Menschen erklärt werden kann, die keine Alternative haben. Das hier vorgelegte Konzept einer „Wertrevolution" geht nur an einem Punkte über W. Lipp and M. N. Ebertz hinaus. In ihrem Konzept ist m.E. eine Schwäche enthalten. Sie müssen erklären, wie es zu der Umwertung der bisher sozialmoralisch geächteten Verhaltensweisen und Rollen kommt. Dass die herrschenden Werte als repressiv erfahren werden, erklärt noch nicht, dass man deren Gegenteil als positiv erlebt. Die Umwertung wird m.E. verständlicher, wetm die bisherigen Außenseitergruppen in plausibler Weise den Anspruch vertreten körmen viel vorbildlicher als die herrschenden Kreise jene Werte zu realisieren, welche diese zu realisieren vorgeben. Erst dies Bewusstsein die Werte der Oberschicht in anderer (und besserer) Form zu realisieren verleiht Selbstbewusstsein, Überlegenheitsgefühl und Durchschlagskraft. Diese positive Aneignung von Oberschichtwerten wird hier Wertrevolution genannt. Auch sie ist eine Art „Sklavenaufstand der Moral", aber sie wertet die Oberschichtwerte nicht nur aufgrund von Ressentiments ab. Vielmehr bejaht sie diese prinzipiell um sie in veränderter Form für alle fhichtbar zu machen. Dass dabei gleichzeitig ihre „aristokratische" Form scharfer Kritik unterzogen und negativ abgewertet wird, sei nicht bestritten.

Dietrich Reimer 1985 herausgearbeitet. Vgl. zusammenfassend ders., Charisma - Social Deviation, Leadership and Cultural Change. A Sociology of Deviance Approach, The Annual Review of the Social Sciences of Religion 1 (1977) 59-72. Auf die Jesusbewegung wurde diese Theorie (aufgrund von Hinweisen bei W. Lipp) angewandt von M. N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 45, Tübingen: Mohr 1987. Die Differenzierung zwischen Herren- und Sklavenmoral begegnet zuerst in F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphor. 260, die Idee vom „Sklaven-Aufstand in der Moral" als einer „Umkehrung der Werthe" ebendort Aphor. 195. Entfaltet wird er in „Zur Genealogie der Moral", Erste Abhandlung bes. Aphor. 7 ff. Vgl. F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe VI,2, G. CoIliM. Montinari (Hg.), Berlin: de Gruyter 1968,218-22; 118f; 280ff. ^^ W. Lipp, Stigma und Charisma (s.o. Anm. 20), nimmt zwar mehrfach auf F. Nietzsche Bezug (vgl. Index), nie aber auf dessen These vom „Sklaven-Aufstand in der Moral". Dasselbe gilt von M. N. Ebertz, Charisma (s.o. Anm. 20).

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Mit all diesen Überlegungen haben wir aber noch nicht den Unterschied zu einer politischen Bewegung herausgearbeitet. Denn auch politische Revolutionäre sind Charismatiker, auch sie sind oft ehemalige Außenseiter. Charismatiker können nach politischer Macht greifen, zu diesem Zweck Anhänger sammein und zur Gewaltanwendung motivieren. Auch die Richter des alten Israel waren Charismatiker. Das Eigentümliche der Jesusbewegung liegt m. E. weniger in den Zielen dieser charismatischen Bewegung als in den Strategien. Denn die Zukunftsträume der Jesusbewegung sind nicht ganz so spirituell wie die Aussagen modemer Theologen zum Eschaton: Die Jünger hoffen die Herrschaft über Israel zu erlangen und die zwölf Stämme zu richten (Lk 22,29f par). Sie hoffen darauf in der Gottesherrschaft zu essen und zu trinken (Mt 8,Ilf; Mk 14,25). Den Armen, den Hungernden und Leidenden soll es gut gehen. Die Unterschiede zu einer politischen Bewegung liegen vielmehr in der Durchsetzungsstrategie: Die Jesusbewegung verzichtet auf jedes Handlungsprogramm die Gesellschaft auch gegen Widerstand umzuformen. Das Reich Gottes soll wie „von selbst" kommen - so wie der Samen von selbst zur Frucht wird. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,2629) schließt zwar menschliche Aktivität nicht völlig aus. Hätte man das zum Ausdruck bringen wollen, so hätte das Wachsen von Naturpflanzen als Bild ftir das Kommen des Reiches Gottes näher gelegen - und nicht das Bild von KuItuφflanzen, bei denen menschliche Aktivität beteiligt ist. Aber trotz menschlicher Beteiligung konmit das Entscheidende von selbst. Was kann der Mensch da noch tun? Drei Antworten finden wir in der Jesusüberlieferung. 1. Der Mensch kann beten: „Dein Reich komme!" Damit wird anerkannt, dass nicht er, sondern Gott die große Wende herbeiführt. Man muss aber dabei bedenken, dass das Gebet in der Jesusbewegung eine wunderbar wirkende Kraft hat. Es kann Berge versetzen (Mk 11,22-25). Es hat charismatische Wirksamkeit. Menschen vollziehen das Gebet. 2. Das Reich Gottes kommt als Wunder, aber es kommt auch in Wundem. Jesus sagt: „Wenn ich aber die bösen Geister durch den Geist (oder den Finger) Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen." (Mt 12,28 par) Wenn die ausgesandten Jünger Kranke heilen, so ist dort das Reich Gottes nahe (Lk 10,9). Auch hier darf man nicht vergessen: Wunder geschehen in der Kraft Gottes, aber Menschen vollziehen sie. 3. Der Mensch kann umkehren. Wenn das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist, so kann er sich auf diese Nähe durch ethische und religiöse Umkehr einstellen. Auch hier ist der Mensch nicht souverän. Umkehr ist eine von außen angebotene Chance, die der Mensch sich nicht selbst ver-

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schaffen kann. Aber sie vollzieht sich durch den Menschen selbst, in seinem ethischen Tun. In der Jesusbewegung ist ein großer Traum lebendig: So zwanglos wie Charisma Anerkennung findet (oft gegen die Zwangsmittel der Gesellschaft), so zwanglos soll sich jene Wende durchsetzen, in der die neuen Werte realisiert werden. Wunder dienten in anderen revolutionären Bewegungen der Antike als Anerkennungscharisma. So beim Aufstand des Sklavenkönigs Eunus auf Sizilien, der sich durch ein Feuerwunder legitimierte (Diod Sic XXXIV,2,5ff), seine Ziele aber politisch und militärisch durchzusetzen versuchte. So auch bei der Usurpation der Kaiserwürde durch Vespasian. Auch er verschaffte sich charismatische Legitimation durch Wunderheilungen und Orakel (Suet Vesp 7). Aber seine reale Machtbasis waren seine Legionen. Wunder haben in der Jesusbewegung eine viel größere Bedeutung. Sie sollen nicht nur Anerkennung verschaffen, sie dienen der Durchsetzung des Neuen. Man erwartet das Kommen des Reiches Gottes in ebenso müheloser Form, in ebenso gewaltfreier Weise und in ebenso außeralltäglicher Gestalt wie Wunder geschahen und erlebt wurden. Wahrscheinlich waren Wunder eine der Erfahrungen, welche diese Erwartung einer gewaltfreien Veränderung plausibel machten. Wundercharisma wurde in der Jesusbewegung aus einer Anerkennungsmacht zur Durchsetzungsmacht. Wir stellen abschließend die Frage: War der Jesusbewegung bewusst, dass sich in ihr eine Art „Revolution" vollzog, eine „Wertrevolution", wie wir gesagt haben? Es gibt ein Wort, das in diesem Sinne deutbar ist: der sogenannte „Stürmerspruch". In der Logienquelle hatte er wahrscheinlich folgende Gestalt: D a s G e s e t z und die Propheten (sind) bis Johannes. V o n da an leidet die Gottesherrschaft G e w a l t , und G e w a l t t ä t e r erbeuten sie. ( v g l . L k 1 6 , 1 6 und M t 1 1 , 1 2 f )

Dies Wort Jesu hat schon viel exegetische Gewah erlitten; und kein Exeget hat es bisher hermeneutisch erobern können.^^ Und ich bin mir nicht sicher, ob es mir gelingt. Aber die wahrscheinlichste Lösung der mannigfachen Probleme scheint mir in seiner Deutung auf die Jesusbewegung selbst zu liegen. Drei Argumente sprechen dafür: 1. Alle anderen Deutungen müssen die Zusatzannahme machen, dass

Vgl. die Forschungsgeschichte bei P. S. Cameron, Violence and the Kingdom. The Interpretation of Matthew 11,12, ANTJ 5, Frankfurt u.a.: Lang 1984; ausführlich zu diesem Logion: G. Theißen, Jünger als Gewalttäter (Mt ll,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität, StTh 49 (1995) 183-200 = Mighty Minorities, FS J. Jervell, Oslo u.a.: Scandinavian University Press, 1995, 183-200 (in diesem Band S. 153-168).

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άρπάζουσιν konativ zu verstehen ist, d.h. dass die Gewalttäter die Gottesherrschaft nur zu erbeuten versuchen, es aber nicht tatsächlich tun. Nur von Anhängern Jesu kann man sagen, dass sie in den Besitz der Gottesherrschaft gelangen. 2. Diese Deutung stimmt ungezwungen zur Datierung des Auftretens der „Gewalttäter" seit Johannes dem Täufer. Alle anderen möglichen Gruppen - Dämonen, Machthaber und Widerstandskämpfer - existierten schon vorher und man muss Zusatzannahmen machen um die Datierung plausibel zu machen. 3. Die aggressive Metaphorik entspricht anderen Jesusüberlieferungen, z.B. dem Bildwort vom Starken (Mk 3,27 parr), dem Gleichnis vom Attentäter (EvThom 98) und dem Wort vom Krieg in den Familien (Mt 10,34-36 par). Auch in diesen Worten begegnen „gewalttätige" Bilder als Metaphern fiir Jesus und seine Anhänger. So verstanden, kann man mit Hilfe des Stürmerspruchs den Charakter der Jesusbewegung als einer charismatischen Wertrevolution gut illustrieren. Die Gegenwart ist Erftillungszeit, die über Gesetz und Propheten hinausgeht. Was jetzt geschieht, geht auf Gottes Handeln zurück, der die neue Zeit herbeigefiihrt hat. Die neue Bewegung schreibt sich dabei eine sozial geächtete Rolle zu: Sie nennt sich eine Bewegung von „Gewalttätern", d.h. von Menschen, die gegen die elementarsten sozialen Regeln verstoßen. In dieser metaphorischen Selbstbezeichnung vollzieht sie eine bewusste „Selbststigmatisierung": Sie stellt sich zu denen, die außerhalb des geltenden Normensystems der Gesellschaft stehen. Aber gerade diese Außenseiter haben eine Chance die Gottesherrschaft in Besitz zu nehmen. Innerhalb des Bildes sind dabei wahrscheinlich Gegner vorausgesetzt, denen die Gottesherrschaft entrissen werden muss. Ein Raub setzt ein Dreierverhältnis von „Räubern", „Beraubten" und „Beute" voraus. Bei den Gegnern kann an Dämonen, Machthaber oder Schriftgelehrte gedacht sein. Diese werden nicht als „Gewalttäter" kritisiert, sondern von diesen erfolgreich besiegt. Die Gewalttäter sind dabei ganz gewiss keine Revolutionäre im wörtlichen Sinne. Die zelotischen Widerstandskämpfer haben vielleicht als Bildspender gedient, kommen aber eben deshalb als Bildempfänger nicht in Frage. Gemeint sind Jesus und seine Anhänger. Sie sind „Revolutionäre" im übertragenen Sinne. Sie sind Partisanen Gottes, der bald sein Reich realisieren wird. Wir alle wissen: Das Reich Gottes ist damals nicht gekommen. Aber hinzuzuftigen ist: Die im Vorgriff auf dies Reich Gottes geschehene Wertrevolution hat die Geschichte verändert und ist noch nicht zu Ende.

Jünger als Gewalttäter (Mt 1 l,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität' Wie können Minoritäten auf die Gesamtgeselischaft einwirken? Wie können sie aus der Position der Ohnmacht heraus Macht ausüben? In direkter Konfrontation mit den Mächtigen müssen sie meist unterliegen. Aber ihnen bleibt ein anderer Weg. Minoritäten können durch Selbststigmatisierung, d.h. durch die demonstrative Übernahme sozialmoralisch verachteter Außenseiterrollen, bestehende Werte und Normen erschüttern.^ Sie können durch ihr abweichendes Verhalten die Frage aufwerfen, ob sie, die nach den gehenden Werten und Normen verurteilt werden, nicht in Wirklichkeit einen positiven Wert haben, wohingegen die Normen, die sie verurteilen, fragwürdig sind. In Zeiten der Umorientierung können Minoritäten auf diesem Wege neue Werte oder Wertinterpretationen zur Geltung bringen. Ihr Stigma kaim in Charisma umschlagen, ihr Defizit an Wert in die Fähigkeit Werte neu zu inteφretieren, neu zu definieren und durchzusetzen. Die Jesusbewegung war eine Minorität mit sozial abweichendem Verhalten. Wir finden in ihren Überlieferungen oft die demonstrative Uminteφretation von Stigmata in Vorzüge. Angesichts der hereinbrechenden Gottesherrschaft werden die Armen glücklich gepriesen (Mt 5,3), wird den Kranken und Behinderten frohe Botschaft gebracht (Mt 11,2-6) und den Sanftmütigen das Land zugesprochen (Mt 5,5). Lässt sich auch der viel umrätselte Stürmerspruch als solch eine demonstrative Umwertung verstehen? Die Antwort ist nicht leicht. Denn bei der Auslegung des Stürmerspruchs ist fast alles umstritten, insbesondere aber das, was in unserem

' Mit diesem Aufsatz gratuliere ich Jacob Jervell zu seinem 70. Geburtstag am 21. Mai 1995, er erschien zuerst in Mighty Minorities, FS J. Jervell, Oslo u.a.: Scandinavian University Press, 1995 (= StTh 49), 183-200 und wurde für diese Veröffentlichung im Wesentlichen weitgehend unverändert übernommen. ^ Das zugrunde liegende Konzept eines grundlegenden Zusammenhangs von Stigma und Charisma stammt von dem Soziologen W. Lipp. Vgl. dessen zusammenfassende Darstellung in: Charisma - Schuld und Gnade. Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama, in: W. Gebhardt/A. Zingerle/M. N. Ebertz (Hg.), Charisma. Theorie - Religion - Politik, Materiale Soziologie T B 3, Berlin/New York: de Gruyter 1993, 15-32. Zur Anwendung auf das Urchristentum vgl. M. N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, W U N T 45, Tübingen: Mohr 1987 und H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck und Ruprecht 1994.

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Zusammenhang entscheidend ist: die in ihm zum Ausdruck kommende Wertung.^ Ein gewisser Konsens besteht nur hinsichtlich der Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung des Spruches in Q. Die Ik Version gilt allgemein als sekundäre Erleichterung: In ihr wird die Gottesherrschaft „verkündigt" und (nicht so direkt wie bei Mt) mit „Gewalttat" in Verbindung gebracht. Mt bringt hier die schwierigere Version. Umgekehrt wird oft damit gerechnet, dass die Ik Reihenfolge der beiden Spruchhälften ursprünglicher ist:'* Mtll,12f

Aber von den Tagen Johannes des Täufers bis heute leidet das Himmelreich Gewalt, und Gewalttäter reißen es an sich. Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis hin zu Johannes.

Lk 16,16 Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt und jedermann drängt mit Gewalt hinein.

Die Umstellung bot Mt die Gelegenheit mit der Zeitbestimmung „von den Tagen Johannes des Täufers" an den vorhergehenden V. 11 anzuknüpfen, der den Täufer aus allen Menschen hervorhebt; der Täufer steht sowohl am Ende der vergangenen Zeit wie am Beginn der Gottesherrschaft. Das entspricht mt Theologie, die den Täufer als Vorläufer Jesu sieht, ihn aber zugleich an Jesus angleicht und beide die „Himmelsherrschaft" verkündigen lässt (Mt 3,2; 4,17). Die nachgestellte Spruchhälfte formuliert Mt in demselben Sinne um: „Propheten und Gesetz" (in dieser Reihenfolge) prophezeien auf den Täufer hin. Beide gehen dem Täufer voraus. Beide sind als Prophetic weiterhin gültig, so dass ein antinomistisches Verständnis des Spruches ausgeschlossen ist; auch das geschieht in Übereinstimmung mit mt Theologie, die in Jesus den Erföller des Gesetzes sieht (Mt 5,17-20). In Lk 16,16 liegt die Zäsur dagegen eher zwischen Täufer und Jesus. Das widerspricht lk Theologie, obwohl man das lange anders gesehen hat.^ Denn ' Einen ausführlichen Forschungsbericht bringt P. S. Cameron, Violence and Kingdom. The Interpretation of Matthew 11,12, ANTJ 5, Frankfurt u.a.: Lang 1984,4-213. Im Folgenden weise ich innerhalb der forschungsgeschichtlichen Übersicht manchmal auf dies Werk zurück ohne die referierten Arbeiten voll bibliographisch aufzufuhren. Das ist kein allgemeiner Konsens. J. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1892, ^ 9 0 0 = 'l964, 192-197 und P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster: Aschendorff 1972; M982, 51-60, verteidigen die mt Reihenfolge als ursprünglicher. ^ Vor allem H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen; Mohr 1954; '1977, 16f20, wollte in Lk 16,16 einen Beleg fiir seine These finden, dass Lk den Täufer scharf von der Zeit Jesu abgrenzt.

Jünger als Gewalttäter

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Lk parallelisiert beide Gestalten in den Kindheitsgeschichten und fasst sie in der Apg zusammen (Apg 10,37-^1). Die ursprüngliche Fassung des Stürmerspruchs hätte dann in Q so gelautet, wie er fast wörtlich bei Justin (Dial 51,3) erhalten ist.^ ö νόμος καΐ ol προφήται εως Ίοχίννου άιτο τότε ή βασιλεία τοΟ θίοΟ βιάζεται καΐ βιασται άρπάζουσιν αυτήν.

Unabhängig davon aber ist die Deutung des Stürmerspruchs stark umstritten. Die entscheidenden Probleme ergeben sich daraus, dass 1. βιάζ6ται sowohl als Medium wie als Passiv gedeutet werden kann,' dass 2. die βιασται in bonam partem oder in malam partem inteφretiert werden können' und dass es 3. mehrere Möglichkeiten gibt sie auf konkrete geschichtliche Gruppen zu deuten. Die folgende Übersicht soll die wichtigsten Alternativen verdeutlichen. Das Wort kann in der vermuteten Q-Fassung in vierfacher Weise verstanden werden:

r

Das Gesetz und die Propheten (sind) bis Johannes Von da ab

wird die Gottesherrschaft vergewaltigt (Passiv) I und feindliche Gewalttäter erbeuten sie {in malam partem).^

I und entschlossene Rebellen erbeuten sie (\n bonam partem)}"

I

setzt sich die Gottesherrschaft gewaltsam durch (Medium) I und feindliche Gewalttäter erbeuten sie {\n malam partem)}^

г und entschlossene Rebellen erbeuten sie (in bonam partem).'^

' Nach P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 199, ist diese Rekonstruktion „the most widely held opinion". Unabhängig von ihm gelangt auch D. Kosch, Die Gottesherrschaft im Zeichen des Widerspruchs. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung von Lk 16,16/Mt 1 l,12f bei Jesus, Q und Lukas, EHS XXIII, 257, Bern u.a.: Lang 1985, 18 u.ö., zu demselben Ergebnis. Vgl. u.a. A. Polag, Fragmenta Q. Textheft zur Logienquelle, Neukirchen-Vluyn; Neukirchener 1979, 74; S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich: Theologischer Verlag 1972, 262; J. Gnilka, Das Matthäusevangelium, HThK I, 1, Freiburg u.a.: Herder 1986, 413. Eine andere Rekonstruktion legt B. D. Chilton, God in Strength. Jesus' Announcement of the Kingdom, SNTU B, 1, Freistadt: Plöchl 1979, 205-230, vor. Er ersetzt die dritte Zeile durch die lk Version και πάς ά ς αύτην- βιάζεται. Jedoch ist die mt Fassung eindeutig die lectio diñicilior. ' Die Deutung als Passiv dominiert in der alten Kirche, die mediale Deutung begegnet zuerst bei Melanchthon, dann bei J. A. Bengel, H. E. G. Paulus, Th. Zahn, A. v. Harnack, R. Otto u.a.; vgl. P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 55f.66-^8.122f.l23ff. ' Die Deutung in bonam partem ist die allgemein herrschende bei den Kirchenvätern. Erst bei Karlstadt begegnet die Deutung in malam partem (P. S. Cameron, Violence [s.o. Anm. 3], 48ff). Sie wird von Alexander Schweizer 1836 neu begründet (ebd. 77ff s.u. Anm. 9) und hat seitdem die Überhand erhalten. ' Die Deutung „Passiv + in malam partem" wird vertreten von A. Schweizer, Ob in der Stelle Matth. xi,12 ein Lob oder ein Tadel erhalten sei? ThStKr 9 (1836) 90-122; G. Schrenk, Art. βιάζομαι, ThWNT I (1957) 608-^13; P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 214ff.

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Der rebellische Jesus

Bei der inhaltlichen Deutung der „Gewalttäter" bzw. „Rebellen" lassen sich weiterhin drei Grundtypen unterscheiden: Die Gewalttäter gelten 1. als Feinde der Gottesherrschaft, 2. als Konkurrenten der Jesusbewegung oder 3. als Anhänger Jesu. Da jeweils politische oder nicht-politische Motive unterstellt werden können, erhalten wir sechs Deutungen, die in verschiedenen Varianten vertreten werden: Zunächst seien die Deutungen in malam partem zusammengestellt, bei denen der Stürmerspruch als Kritik und Tadel verstanden wird: Die „Gewalttäter" sind

mit politischer Motivation

ohne politische Motivation

Feinde der Gottesherrschaft

antiherodianische Deutung: Sie sind Machthaber Palästinas.'^

antidämonische Deutung: Sie sind Dämonen und der Satan.''*

Die Deutung „Passiv + in bonam partem" war in der patristisclien Exegese vorherrschend was zeigt, dass sie nicht nur sprachlich möglich ist, sondern griechischem Sprachverständnis nahe lag. Dabei fassten die Kirchenväter durchaus negativ auf, verstanden aber den gesamten Spruch positiv, da βιάζω z.B. ein Bild flir asketische Selbstdisziplin war. Unter den modernen Exegeten trat, W. Haupt, Worte Jesu und Gemeindeüberlieferung. Eine Untersuchung zur Quellengeschichte der Synopse, Leipzig: Hinrichs 1913, 84flF, für diese Deutung ein: Heiden haben sich an die Stelle Israels in die Gottesherrschaft hineingedrängt. " Die Deutung „Medium + in malam partem" wird selten vertreten, so von O. Betz, Jesu Heiliger Krieg, NT 2 (1958) 116-137 und D. Kosch, Gottesherrschaft (s.o. Anm. 7), 23-27. Die meisten Exegeten, die ein mediales Verständnis von ριάζ€ται haben, deuten die „Gewalttäter" in bonam partem. Für die Deutung „Medium + in bonam partem" treten ein: A. v. Hamack, Zwei Worte Jesu (Mt 6,13 = Luk 11,4; Mt 1 l,12f = Luk 16,16), Sitzungsberichte der Berliner Akademie 53 (1907) 942-957; R. Otto, Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch, München: Beck 1934, 84ff; E. Percy, Die Botschaft Jesu. Eine traditionskritische und exegetische Untersuchung, Lund: Gleerup 1953, 191-202; B. D. Chilton, God in Strength, 219f und G. Häfiier, Gewalt gegen die Basileia? Zum Problem der Auslegung des , Stürmerspruches' Mt 11,12, ZNW 83 (1992)21-51. " P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 64f70, nennt A. Calmet (1726) und C. G. Bretschneider (1824) als Vorläufer der antiherodianischen Deutung: Sie erwähnen die Gefangenschaft des Täufers als Beispiel ftlr Gewalttat gegen das Gottesreich. A. Schlatter, Johannes der Täufer, W. Michaelis (Hg.), Basel: Reinhardt 1956, 66-75, verttat diese Deutung in seiner unveröffentlichten Dissertation. G. Schrenk, ThWNT I, 610, trat ftlr sie ein. Ihr wichtigster Vertreter ist z.Zt. P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 244, der in Lk 16,15b-18 eine antiherodäische Spruchsammlung sieht: V.15b spiele auf Gewalttat und Ehescheidung des Herodes Antipas an, V.16b kritisiere sein Vorgehen gegen den Täufer, V.18 seine Ehescheidung. Das Problem bleibt: Warum redet Jesus von dem Gottesreich, wenn er dessen Repräsentanten meint? Und warum redet er von mehreren „Gewalttätern", wenn er Herodes Antipas treffen will? Unmöglich ist die antiherodäische Deutung nicht, aber sie ist auf Zusatzannahmen angewiesen. " Die antidämonische Deutung vrarde durch M. Dibelius, Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer, FRLANT 15, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1911, 23fr, begründet. Ähnlich R. Otto, Reich Gottes (s.o. Aran. 12), 84ff. O. Betz, Jesu heiliger Krieg (s.o. Anm. 11), 116ff, kombiniert die antidämonische Deutung mit der Beziehung auf politische Machthaber: Hinter den feindlichen irdischen Herrschern stehe letztlich der Satan. Zustimmend M. Hengel, Die

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Jünger als Gewalttäter

Die „Gewalttäter" sind

mit politischer Motivation

ohne politische Motivation

Konkurrenten um die Gottesherrschaft

antizelotische Deutung: Sie

antipharisäische Deutung: Sie sind Schriftgelehrte w i e

sind Widerstandskämpfer.''

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in Mt 2 3 , 1 3 . " Anhänger Jesu mit falscher Einstellung

antimessianische Deutung: Sie wollen Jesus als irdisehen König (Joh 6,15).'^

gegen Antinomisten: Sie sind gesetzesfreie Anhänger Jesu."

Interessant ist, dass sich bei einer Interpretation in bonam partem der Deutungsspielraum sofort einengt. Sieht man von der Deutung auf Täufer und Jesus selbst ab," so wären immer Anhänger Jesu gemeint. Unterschiede erZeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr., AGJU 1, Leiden/Köln: Brill 1961; ^1976, 345. Das Problem dieser Deunmg ist die Datierung „seit den Tagen des Johannes": Dämonen waren schon vor dem Auftreten des Täufers aktiv. Man muss die Zusatzannahme machen, dass sie seitdem erst gegen die Gottesherrschaft aktiv werden konnten. " Die antizelotische Deutung wurde von A. Schweizer 1836 begründet (vgl. P. S. Cameron, Violence [s.o. Anm. 3], 77-86). Er sah die Schwierigkeit, dass der zelotische Widerstand gegen die Gottesherrschaft nicht mit dem Täufer begann, sondern mit Judas Galilaeus. Er nahm daher an, Jesus habe die zelotische Partei nicht zu weiteren Gewalttaten provozieren wollen, daher habe er verhüllt gesprochen. Die antizelotische Deutung wurde von J. Weiß, Predigt (s.o. Anm. 4), 192197, erneuert und wird in der Gegenwart vor allem von P. Hoffrnann, Logienquelle (s.o. Anm. 4), 66-79, im Zusammenhang mit einer antizelotischen Deutung der ganzen Logienquelle vertreten. Auch hier passt die Datierung „seit den Tagen des Johannes" nicht. Nur mit Hilfe von Zusatzannahmen lässt sich diese Deutung durchftlhren. " P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 70f, nennt als ersten Vertreter dieser antipharisäischen Deutung M. Schneckenburger (1832), der in Mt 23,13 den Typos des „Gewalttäters" von Mt 1 l,12f vorgebildet sieht. Ein prominenter Vertreter dieser Deutung war nach P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 97, ferner A. Hilgenfeld (1854). Wenn die Schriftgelehrten den Zugang zur Gottesherrschaft versperren, so sind freilich nicht sie die „Gewalttäter", sondern diejenigen, die sich gegen ihren Widerstand den Weg zur Gottesherrschaft bahnen. " Auch diese „antimessianische" Deutung hat eine lange Vorgeschichte. P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 69f nennt als ersten Vertreter J. C. R. Eckermann (1806), der Joh 6,15 als Hintergrund von Mt 1 l,12f auffasst. Es ist die erste Deutung, die eine bewusste „Beschleunigung" des Kommens der Gottesherrschaft annimmt und nicht an Feinde, sondern fehlgeleitete Anhänger Jesu denkt. Auch A. Schweizer (1836) und B. Weiß (1883) verweisen in diesem Sinne auf Joh 6,15 (vgl. P. S. Cameron, Violence, 83.112f). In der Gegenwart wird diese Deutung vor allem von P. W. Bamett, Who were the ,biastai' (Matthew 11,12-13), RTR 36 (1977) 65-70 vertreten. Schwierig bleibt: Die „Vergewaltigung" bezieht sich auf die Gottesherrschaft, nicht auf Jesus; und sie erstreckt sich über eine längere Zeit und nicht auf die siniativ begrenzte Konfrontation Jesu mit Messiaserwartungen. " Die Deutung gegen „Antinomisten" wurde im 19. Jahrhundert von F. F. Zyro, Erklärung von Matth. 11,12, ThStKr 33 (1860) 3 9 8 ^ 1 0 und: Neue Auslegung der Stelle Matth. 11,12, ThStKr 46 (1873) 663-704 (dazu P. S. Cameron, Violence [s.o. Anm. 3], 99-106), vertreten. Sie ist vom Ik Kontext von Lk 16,16 inspiriert und wurde erst sekundär auf Mt 1 l,12f ausgedehnt: Die Gewalttäter wollen ohne Gesetz und Buße ins Gottesreich gelangen und mit Mose nichts zu tun haben! " J. P. Lange, Das Evangelium nach Matthäus, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing 1857,

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Der rebellische Jesus

geben sich dadurch, dass verschiedene Verhaltenszüge bei ihnen im Blick sein können: so können Zöllner und Sünder gemeint sein, deren unrechtmäßiges Eindringen in die Gottesherrschaft verteidigt wird;^° oder die Schar der Jesusanhänger, die durch ihre Umkehr das Gottesreich herbeizwingen will;^' oder Asketen, die durch Selbstüberwindung in die Gottesherrschaft eindringen.^^ Extensional, d.h. dem Umfang nach, umfasst der Begriff βικσταί hier immer in etwa dieselbe Gruppe, intensional jedoch verschiedene Aspekte. Die Fülle möglicher Deutungen lässt sich m.E. eingrenzen, wenn man einige Kriterien berücksichtigt: (1) Die Interpretation des Stürmerspruchs muss die Aussage verständlich machen, dass die Gewalttäter die Gottesherrschaft tatsächlich „erbeuten"; sein Verständnis im Sirme eines Versuchs sie zu erbeuten basiert dagegen auf einer zusätzlichen Annahme. (2) Die Interpretation muss plausibel machen, dass die Tätigkeit der βιασταί erst mit dem Auftreten des Täufers datiert wird. Nimmt man ftir die Zeit vorher wohl ihre Existenz, fur die Zeit seit seinem Auftreten aber erst ihre Wirksamkeit an, so führt man eine rechtfertigungsbedürftige Zusatzannahme ein. (3) Die Inteφretation muss berücksichtigen, dass es sich um einen metaphorischen Ausdruck handelt. Die Verknüpfimg von Gottesherrschaft und βιασταί verbindet semantisch inkongruente Wörter. Wie jede Metapher muss sie im Rahmen des ganzen Bildfeldes gedeutet werden, d.h. im Zusammenhang anderer rebellischer Metaphern in der Jesusbewegung.

""iSTS z.St., denkt an Johannes und Jesus selbst als „Gewalttäter", die das Himmelreich erobern: „Christus der Bringer des Himmelreichs von dem Jenseits aus ist zugleich der Eroberer des Himmelreichs von dem Diesseits aus" (zit. n. P. S. Cameron, Violence [s.o. Anm. 3], 98). ^^ F. Danker, Luke 16,16 - An Opposition Logion, JBL 77 (1958) 231-243, vertritt die These, Jesus zitiere in Lk 16,16 seine Gegner mit dem Vorwurf, dass Zöllner und Sünder die Gottesherrschaft vergewaltigen: Bei Jesus steht sie für alle offen. W. Stenger, Art. βιάζομαι,, EWNT^ I (1992) 518-522 und J. Schlosser, Le règne de Dieu dans les dits de Jésus, EtB, Paris: Gabalda 1980, 509-539, halten das für ein mögliches Verständnis des Wortes im Munde Jesu. Diese ,heilsaktivistische' Deutung des Stürmerspruchs führt P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 92f, auf C. H. Weisse zurück: Jesus spreche von dem durch ihn geschehenen Herabziehen des Himmelreichs auf die Erde als einer Gewalttat, die er und seine Jünger am Himmelreich verüben. A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr 1906, 354 = Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr 'l966, 415, hat diese Deutung nur geringfügig modifiziert: Nicht Jesus und der Täufer arbeiten am Kommen des Reiches, „sondern die Schar der Büßenden ringt es Gott ab." (vgl. dazu P. S. Cameron, Violence [s.o. Anm. 3], 120-122). Zu den rabbinischen Parallelen, die eine Einflussnahme des Menschen auf das Kommen der Endzeit bezeugen, vgl. D. Daube, Violence to the Kingdom, in: ders.. The New Testament and Rabbinic Judaism, Jordan Lectures in Comparative Religion 2, London: The Athlone Press 1956, 285-300. ^^ Das war die gängige Auslegung bei den griechischen Kirchenvätern, vgl. P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 4-16.

Jünger als Gewalttäter

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ad 1) Der Stürmerspruch sagt, dass die „Gewalttäter" die Gottesherrschaft erbeuten. Sie haben Erfolg. Ihr Handeln wird mit άρπάζειν beschrieben und nicht mit μέλλουσιν ... άρπάζειν (wie in Joh 6,15). „Erbeuten" ist effektiv gemeint. Ein konatives Verständnis ist zwar nicht ausgeschlossen, bedarf aber zusätzlicher Argumente um als notwendig zu erscheinen.^^ Bei einem effektiven „Erbeuten" würden alle Inteφretationen in malam partem entfallen. Denn diese behaupten, dass Feinde, Konkurrenten oder Anhänger die Gottesherrschaft tatsächlich überwältigen, obwohl sie deren Intentionen entgegenarbeiten. Der Stürmerspruch würde von einer Niederlage Gottes sprechen. Das ist unwahrscheinlich.^" Anders steht es mit dem Verständnis von βιάζειν. Dies Wort lässt sich auch konativ als Versuch eines gewaltsamen Zwingens oder Drängens deuten. Das zeigen einige Belege bei Josephus (Ant 16,37; Bell 3,423; 5,59).^' So verstanden würden die beiden Hälften des Stürmerspruchs nicht in einer Tautologie bestehen: Die Gottesherrschaft wird vielmehr zunächst mit Gewalt bekämpft (ohne dass dies notwendigerweise schon den Erfolg dieser Gewalttat einschließt); Gewalttäter erbeuten sie dann (und haben dabei Erfolg). Es handelt sich um einen typischen synthetischen Parallelismus, der im zweiten Glied weiterfuhrt, was im ersten gesagt ist.^^ ^^ Die Schwierigkeiten einer konativen Bedeutang des „Erbeutens" betont mit Recht G. Häfher, Gewalt (s.o. Anm. 12), 4Iff. ^^ Am unwahrscheinlichsten ist die Deutung, nach der die Gottesherrschaft bei ihrer gewaltsamen Selbstdurchsetzung (βιάζεται = Medium) auf gewaltsamen Widerstand stoße (βιοσται = in malam partem). Genau diese „antithetische" Deutung vertritt D. Kosch, Gottesherrschaft (s.o. Anm. 6), 23-27. Entweder gelangt man dabei in einen Widerspruch: Beide Seiten des Konflikts scheinen sich durchzusetzen. Oder man muss das „Gewaltausüben" der Gottesherrschaft als missglückten Versuch, ihren „Raub" durch die Gewalttäter aber als erfolgreiches Handeln bzw. umgekehrt das Rauben als missglückten Versuch, das Sich-Durchsetzen der Gottesherrschaft aber als effektiv auffassen. Alle drei Auffassungen machen Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass man bei einem antithetischen Verhälmis der beiden „gewalttätigen" Vorgänge ein adversatives 6c oder άλλά anstelle eines καί erwarten würde. D. Kosch, Gottesherrschaft, 26 Anm. 62, verweist zwar (wie schon andere vor ihm) auf einen adversativen Gebrauch des καί. Da aber die beiden Gliedsätze ohnehin durch βιάζεται und βιασταί verbunden sind, wäre im Stürmerspruch eine eindeutig adversative Konjunktion am Platz. Vgl. femer die Einwände von G. Häfiier, Gewalt (s.o. Anm. 12), 43ff, gegen ein antithetisches Verständnis des Stürmerspruchs. " E. Moore, BIAZO, ΑΡΠΑΖΟ and Cognates in Josephus, NTS 21 (1975) 519-543, betom S. 534 den konativen Sinn von βιάζω: „The context of the two words often shows that an attempt is being made to force people or things, against their will or nature." Gegen ein passivisches Verständnis von βιάζεται wird immer wieder eingewandt, es entstünde eine Tautologie (z.B. bei D. Kosch, Gottesherrschaft [s.o. Anm. 6], 23-27). Es entsteht jedoch ein filr unsere Überlieferung charakteristischer Parallelismus membrorum, der entweder als synonymer oder synthetischer Parallelismus aufgefasst werden kann. So mit Recht R. Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich. Eine biblisch-theologische Studie, Freiburg: Herder 1959; ^1961, 89. Das Nazaräerevangelium hat später diesen Parallelismus als synonymen verstanden. In ihm steht: „Das Himmelreich" wird geraubt (διαρπάζεται). Vgl. W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I, Tübingen: Mohr ^1987, 134; K. Aland, Synopsis Quattuor Evangeliorum,

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Der rebellische Jesus

ad 2) Die meisten Deutungen der „Gewalttäter" sind mit der ausdrücklichen Datierung ihres Wirkens „von den Tagen des Täufers an" nicht vereinbar.^' Machthaber regierten nicht erst seit Johannes dem Täufer über Palästina. Dämonen gab es seit eh und je. Die Widerstandsbewegung gegen die Römer formte sich schon im Jahre 6 n.Chr. und hat Wurzeln, die bis in die Makkabäerzeit zurückreichen. Der Spruch lässt sich am unbefangensten deuten, wenn man ihn auf eine Bewegung bezieht, die erst seit den Tagen des Täufers wirksam war - also auf die Täufer- und Jesusbewegung selbst. Bei jedem anderen Verständnis muss man die Zusatzannahme machen, dass die Gewalttäter zwar vor dem Täufer existierten, aber erst seit den Tagen des Täufers die Gottesherrschaft bekämpfen konnten. Das ist nicht unmöglich. Andere Worte der Jesusüberlieferung rechnen jedoch mit einer bis auf die Schöpfung zurückgehenden Feindschaft der Menschen gegen Gott: Von Abel bis zum letzten umgebrachten Propheten wird ein großer Unheilszusammenhang gesehen (Lk 11,49-52). Schon die alten Propheten wurden verfolgt (Lk ll,47f). Ein Geschichtsbild, nach dem die Feindschaft gegen Gott erst seit dem Täufer in ein von der vorhergehenden Epoche klar unterschiedenes Stadium getreten sei, wird durch andere Aussagen nicht bestätigt. Wohl aber ein Geschichtsbild, nach dem in der Gegenwart eine alles Vorherige überbietende Heilszeit begonnen hat (vgl. Mt 12,41f; 13,16f). Nun hat K. Syreeni eine bestechende neue Deutung des Stürmerspruchs vorgeschlagen, die genau diesem deuteronomistischen Geschichtsbild einer kontinuierlichen Feindschaft Israels gegen Gott entspricht.^® Der Stürmerspruch lautet nach seiner Deutung sinngemäß: „Das Gesetz und die Propheten (wurden) bis Johaimes (vergewaltigt), von jetzt ab wird (auch) der Gottesherrschaft Gewah angetan ..." Aber darf man stillschweigend im ersten Satz dasselbe Verb wie im zweiten ergänzen, wenn dabei ein Tempus-

Stattgart: Württembergische Bibelanstalt "1997 (2. korr. Dr.), 151. Die Datierung ist selbst nicht eindeutig: άπό in der Wendung „seit den Tagen des Johannes" (Mt 11,12) und „seit dann" (Lk 16,16) kann exklusiv und inklusiv verstanden werden, d.h. so, dass Johannes selbst noch eingeschlossen wird oder ausgeschlossen ist. W. G. Kümmel, „Das Gesetz und die Propheten gehen bis Johannes" - Lukas 16,16 im Zusammenhang der heilsgeschichtlichen Theologie der Lukasschriften, in: O. Böcher/K. Haacker (Hg.), Verborum Veritas, FS G. Stählin, Wuppertal: Brockhaus 1970, 89-102, hat wohl recht, wenn er vom Sprachgebrauch her keine Möglichkeit sieht Johannes aus- oder einzuschließen. Johannes ist auf jeden Fall ein Wendepunkt in der Geschichte. Die verschiedene Anordnung der Sätze ftlhrt bei Mt dazu, dass er eher als Ausgangspunkt einer neuen Bewegung erscheint, bei Lk eher als Endpunkt einer Epoche. Vielleicht wird in Mt ll,12f sogar eine Dreiteilung anvisiert: 1. die Zeit bis Johannes, 2. die Zeit der „Gewalttäter" bis jetzt und 3. eine neue Zeit - nach der vorhergehenden Krise. K. Syreeni, The Making of the Sermon on the Mount, AASF 44, Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia 1987, 190: „... as the law was forsaken and the prophets were mistreated then, so even now the message of God's kingdom is facing the resistance and rejection of unrepentant Israel."

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und Numeraswechsel übersprungen wird? Müsste man vor ή βασιλεία nicht ein steigerndes καί erwarten, das deutlich macht, jetzt wird auch der Gottesherrschaft Gewalt angetan? Gegen diese Deutung spricht schließlich: Sowohl Mt als auch Lk setzen voraus, dass das Verb des zweiten Satzes etwas Neues bezeichnet. Es ist als βιάζεσθαι neu gegenüber dem προφητεύει,ν zur Zeit von Propheten und Gesetz (Mt 11,13). Es ist als εύαγγελίζεσθαι der Gottesherrschaft neu gegenüber der Zeit vorher (Lk 16,16). Neu ist also nicht nur das Objekt des βιάζεσθαι, sondern auch der mit diesem Verb bezeichnete Vorgang selbst. ad 3) Der Stürmerspruch hat eine metaphorische Struktur: Wenn „Gewalttäter" die Gottesherrschaft „vergewaltigen" und „erbeuten", dann werden semantisch inkongruente Vorstellungen verbunden: Die „Gottesherrschaft" ist (wörtlich verstanden) mächtiger als jede andere Herrschaft und kann daher nur in einem bildlichen Sinne „erbeutet" und „vergewaltigt" werden. Entsprechend ist zwischen Bildspender und Bildempfänger zu unterscheiden. So ist möglich, dass die Widerstandsbewegung als Bildspender Anschauungsmaterial ftir die Usuφation der Gottesherrschaft geliefert hat aber eben als Bildspender, nicht als Bildempfänger, auf den sich die metaphorische Aussage bezieht.^' Femer ist die Variation des Bildes zu beachten: „Gewalt" zufügen setzt eine zweipolige Beziehung voraus - einen, der Gewalt ausübt, und einen, der sie erleidet. Die Fortfiihrung des Bildes durch „erbeuten" ftihrt eine dreipolige Beziehung ein: Ein Gewalttäter nimmt einer anderen Person etwas weg. Diese dreipolige Struktur ist im Bildwort vom Starken enthalten: „Niemand kann in das Haus des Starken hineingehen und ihm den Hausrat rauben (διαρπάσαι), wenn er nicht zuvor den Starken bindet; erst dann wird er sein Haus ausrauben (διαρπάσαι)" (Mk 3,27 vgl. Mt 12,29/Lk 11,21). Das Bild vom Erbeuten und Rauben der Gottesherrschaft ist also fur „Personen" und „Mächte" offen, denen die Gottesherrschaft gegen ihren Willen entrissen werden muss: Hier könnte an den Satan und die Dämonen gedacht sein, gegen die die Gottesherrschaft realisiert wird (Mt 12,28). Es könnten aber auch politische Machthaber gemeint sein oder Schriftgelehrte, die andere daran hindern zur Gottesherrschaft zu

" Vgl. etwa die Beschreibung des Judas, Sohn des Hezekias, in Josephus Ant 17,272: Er ist durch ζηλύίοΕί ßaoLXeiou τιμής gekennzeichnet, will das Königtum aber nicht durch Praxis der Tugend, sondern durch Misshandlung anderer (durch ußpiCeii') erlangen. Gerade weil die sogenannte „zelotische" Bewegung Anschauungshintergrund des Bildspenders ist, kann sie kaum gleichzeitig als Bildempfänger gemeint sein. Möglich ist jedoch, dass die Jesusbewegung von Sympathisanten der Widerstandsbewegung kritisiert wurde und der Stürmerspruch solche Kritik mit der Behauptung konterte: Wir sind die wahre Widerstandsbewegung, welche die Gottesherrschaft auch mit „außernormalen" Mitteln zugänglich macht. Aber das ist nur eine vage Möglichkeit, nicht mehr.

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gelangen (Mt 23,13)! Eben deswegen wäre bei den „Gewalttätern" nicht an feindliche Gegenspieler der Gottesherrschaft gedacht, sondern an Menschen, die gegen den Widerstand dieser Gegenspieler „gewaltsam" in die Gottesherrschaft eindringen. Dass man in der Jesusüberlieferung mit solchen kühnen Bildern rechnen muss, zeigen die Bildworte vom Starken (Mk 3,27 parr), vom Attentäter (EvThom 98),^° vom Krieg in den Familien (Mt 10,34-36 par), von den „Menschenfischem" (Mk 1,17) und den „Eunuchen" (Mt 19,12). Wo selbst ein „Mord" (EvThom 98) zum Bild fiir positiv bewertetes Handeln der Jünger werden konnte, dürfte eine „Rebellion" als positives Bild nicht undenkbar sein. Der Stürmerspruch ist also mit großer Wahrscheinlichkeit zunächst einmal positiv zu verstehen: Die „Gewalttäter" sind Anhänger Jesu (und des Täufers), die in einem übertragenen Sinne eine „Rebellion" durchführen, welche sie in den Besitz der Gottesherrschaft versetzt.^' Seine in der Exegese vorherrschende negative Deutung enthält aber ein Wahrheitselement. Denn hier werden zweifellos negativ konnotierte Begriffe auf die Jesusbewegung übertragen. Diese bezeichnet sich selbst als Gruppe von „Gewalttätern" und „Rebellen", die sich in illegitimer Weise in den Besitz der Herrschaft Gottes setzt. Es handelt sich um einen selbststigmatisierenden Zug im Selbstbild der Jesusbewegung. Durch bewusste Übernahme einer „negativen" Rolle wird Entstigmatisierung proklamiert: Die vermeintlichen Gewalttäter und Rebellen sind die wahren Besitzer der Herrschaft Gottes. Die hier vorgetragene Deutung ist also weder ausschließlich eine Deutung in bonam partem noch in malam partem, sondern kombiniert beide Möglichkeiten: Ein negativ besetzter Begriff wird bewoisst aufgegriffen und positiv umgeprägt. Eine solche Deutung wird dem ambivalenten sprachlichen Beftmd m.E. gerechter als einseitig positive oder negative Deutungen: βιάζεσθαι hat in der Lxx einerseits negative Bedeutung - bezogen auf Vergewaltigung (Dtn 22,25.28; Est 7,8), das Durchbrechen eines Tores (2Makk 14,41) oder den Zwang unreine Speisen zu essen (4Makk 11,25). AndererEvThom 98: „Jesus sprach: Das Reich des Vaters gleicht einem Mann, der vorhatte zu töten einen mächtigen Marm. Er zog aus der Scheide das Schwert in seinem Hause. Er durchbohrte die Wand, um zu wissen, ob seine Hand stark sein werde. Dann tötete er den Mächtigen." Zu diesem Gleichnis vgl. E. Haenchen, Die Botschaft des Thomas-Evangeliums, Berlin: Töpelmann 1961, 59f. Hier geht es wohl um eine Aufforderung zur Selbstprüfong angesichts der Forderung rückhaltloser Selbsthingabe. Diese Deutung setzt die von C. H. Weisse (1838) begonnene Auslegung fort, die vor allem durch Albert Schweitzer verbreitet wurde (vgl. Anm. 21). Entscheidend ist die positive Auffassung der „Gewalttäter", sekundär wichtig ist, ob βιάζετει medial oder passivisch verstanden wird. Das passivische Verständnis scheint mir ungezwungener zu sein. Jedoch ist auch das Verständnis des Stürmerspruchs mit medialem βίάζίχαι bei T. Zahn, A. v. Hamack, R. Otto, J. Schmid (vgl. jeweils die Besprechung bei P. S. Cameron, Violence (s.o. Anm. 3), 122ff.l60ff) mit dem oben entfalteten Gedanken verträglich.

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seits ist eine positive Bedeutung häufig belegt, oft im Sinne eines eindringlichen Werbens angesichts von Widerstand. So dringt z.B. Jakob in Esaù um ihn mit sich zu versöhnen (Gen 33,11). Manoah versucht den Engel zum Bleiben zu bewegen (Ri 13,15.16 Alexandrinus). Dieser positive Sinn von βιάζεσθαι herrscht in der LXX sogar vor (vgl. u.a. Ri 19,7; 2Sam 13,25.27). Er ist in Gestalt des Kompositums παραβιάζεσθαι auch dem NT nicht fremd (vgl. Lk 24,29; Apg 16,15).^^ Eine Schwierigkeit bleibt: In Mt 11,12 par wird von einem βιάζέσθαι gegenüber der Gottesherrschaft gesprochen. Ist eine solche kühne Aussage ein „freundliches Überwinden göttlichen Willens" - in der Antike denkbar? Zwei Belege seien daftir angefiihrt. Clemens von Alexandrien inteφretiert Mt 11,12 in folgender Weise: „Dies ist die einzige gute Gewah (βία), Gott Gewalt anzutun (βιάζεσθαι) und von Gott das Leben an sich zu reißen (άρπάσαι). Er, der die kennt, die gewaltsam oder besser: die beharrlich aushalten, weicht. Denn Gott freut sich, in dieser Weise überwunden zu werden" (QuisDivSalv 21,3). Nun ist Clemens vom neutestamentlichen Sprachgebrauch beeinflusst. Jedoch geht er über ihn hinaus: Nicht nur die Gottesherrschaft, sondern Gott selbst wird quasi „bekämpft". Aber auch ein heidnischer Schriftsteller, Eunapius, kann von einem έκβιάζίσθαι, der Götter sprechen.^^ Er berichtet von der These des neuplatonischen Philosophen Maximus, man müsse die Götter nötigen (έκβιάζίσθαι) einem ein wohlwollendes Orakel zu geben (vitae sophistarum 477). Beide Belege zeigen: Es ist in der Antike nicht undenkbar auch gegenüber den Göttern oder Gott von einem βιάζεσθαι zu sprechen. Dennoch bleibt ein βιάζεσθαι Gottes oder der Gottesherrschaft eine kühne Aussage. Die negativen Konnotationen der Begriffe βιάζεσθαι, βιασταί und άρπάζειν können ja nicht geleugnet werden, am wenigsten dort, wo sie kombiniert begegnen.^'* Nur so viel soll behauptet werden: Eine paradoxe Umwertung solch eines gewalttätigen Vorgehens gegen die Gottesherrschaft ist von der Wortbedeutung her möglich. Sie lässt sowohl eine negative wie eine positive Tönung von βιάζεσθαι zu. " Vgl. die ausführliche Untersuchung von G. Häftier, Gewalt (s.o. Anm. 12), 26-37, der als Ergebnis formuliert: „In welchem Sinn Mt 11,12 zu deuten ist, ob in bonam oder in malam partem, kann nicht durch die immer wieder behauptete Eindeutigkeit der die Aussage tragenden Vokabeln entschieden werden. Auch wenn man von einem überwiegend negativen Sprachgebrauch von βία, βιάζομαι und άρττάζω in der griechischen Literatur ausgehen kann, so hat sich doch gezeigt, daß dies nicht die einzig mögliche Verwendungsweise der fraglichen Wörter ist. Im Falle von βιάζομαι konnte in der Lxx der Sinn einer Gewalthandlung nicht einmal als vorherrschend belegt werden...", S. 37 (Wörter sind im Original gesperrt). '' Ich verdanke den Hinweis auf diesen Beleg dem jungen griechischen Patristiker Konstantinos Bosinis. Vgl. Plut Mor 203 С (Reg. et Imp. Apophthegmata): τοίχ; στρατιώτας ... βιάζίσθαι.

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Wie aber ist eine solche Aussage historisch möglich? Hier liegt das große Problem: Die im Stürmerspruch angesprochene „Gewalt" richtet sich gegen die Gottesherrschaft. Es wird zwar nicht direkt gesagt, dass sie sich damit auch gegen Gesetz und Propheten richtet. Aber da deren Wirksamkeit durch die einbrechende Gottesherrschaft begrenzt wird, kann man den Gedanken nicht femhalten, dass auch Gesetz und Propheten von diesen „Gewalttätern" nicht respektiert werden. Auch die Wortwahl legt das nahe. Die Wendung βιάζίσθαι τους νόμους kann bei Josephus die Verletzung des mosaischen Gesetzes bedeuten (Ant 4,143).^' Wenn Julius Cäsar vorgeworfen wird, er habe die republikanische Verfassung zerstört, so wird er charakterisiert als ein διαβιασάμ6νος τον κόσμον των νόμων - als einer, der Recht und Ordnung vergewaltigte (Ant 19,173). Auch im Stürmerspruch liegen solche Assoziationen nahe: Gesetz und Propheten^^ gelten in der Zeit der hereinbrechenden Gottesherrschaft nicht mehr so, wie sie früher gegolten haben - zumindest nicht ftir einige „Gewalttäter", die das Gottesreich an sich reißen.^' Die Schwierigkeit solch einen Spruch historisch verständlich zu machen liegt darin, dass wir ihn aus jüdischen Voraussetzungen heraus erklären müssen - und nicht aus den Voraussetzungen des späteren Heidenchristentums, das sich von der Thora gelöst hatte. Ist der Spruch ein Indiz daftir, dass schon in der frühen Jesusbewegung, ja bei Jesus selbst, ein Exodus aus dem Judentum begonnen hatte? Denn die Thora ist die Grundlage jüdischer Identität. Wer sie verlässt, verlässt das Judentum. Spricht aber nicht alles daftir, dass Jesus im Rahmen des Judentums gewirkt hat? Nicht das Gesetz selbst, nur das Gesetzesverständnis war zu seiner Zeit umstritten! Nun muss man bedenken, dass der Vorwurf der „Gesetzlosigkeit" ein innerjüdischer Vorwurf sein kann. Auch die Jesusbewegung wirft Pharisäern

" Vgl. dieselbe Wendung bei Thuc 8,53,2. ' ' „Gesetz und Propheten" bezeichnen hier nicht zwei Teile des Schriftkanons, sondern die Gesamtheit des Willens Gottes; vgl. Jos Ant 9,281; Lk 16,31; NazEv 16: feci legem et prophetas. Weitere Belege bei K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament Bd. 1, WMANT 40, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1972, Exkurs: Der Ausdruck „Gesetz und Propheten", 209-227. " E. P. Sanders, The Historical Figure of Jesus, London/New York: Penguin Press 1993, 206f unterscheidet sieben Möglichkeiten, von einem Gesetz abzuweichen: (1) Ein Gesetz gilt als falsch und wird nicht eingehalten. (2) Es gilt als falsch, wird aber bis zu seiner Aufhebung eingehalten. (3) Es gilt grundsätzlich, aber wird unter bestimmten Bedingungen übertreten. (4) Es wird so in1ефге11ег1, dass es de facto geändert wird. (5) Man entzieht sich ihm ohne es direkt zu brechen. (6) Man häh es für nicht weitreichend genug und plädiert für seine Verschärfung. (7) Einige praktizieren es und beachten dabei verschärfende Normen. Die Kategorie von Gesetzesübertretung, die in der Jesusbewegung bezeugt ist, fälh m.E. unter Nr. 3: In einer Interims-Situation angesichts des Endes und in Gegenwart des Repräsentanten der Gottesherrschaft werden einige Normen nicht praktiziert ohne deswegen grundsätzlich aufgehoben zu werden.

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und Schriftgelehrten ανομία vor (vgl. Mt 23,28). Der Vorwurf meint nicht, dass sie das Gesetz ablehnen; er setzt nur ein anderes Gesetzesverständnis und eine andere Gesetzespraxis bei den Kritisierten voraus. Es ist möglich, dass man einen solchen Vorwurf auch gegen Jesus und seine Bewegung erhoben hat. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden: einerseits der Inteφretationshorizont, innerhalb dessen man mögliche „Verletzungen" des Gesetzes bei der Jesusbewegung wahrgenommen hat; andererseits die konkreten Verhaltensweisen, die Anlass zu diesem Vorwurf gegeben haben. Zwischen beiden kann eine große Diskrepanz bestehen: Was für die einen im Rahmen ihres Gesamtverständnisses ihrer normativen Tradition eine liberale Handhabung des Gesetzes ist, ist für die anderen dessen Auflösung oder wird polemisch als dessen Auflösung gebrandmarkt. Was den Interpretationshorizont angeht, so werden die „Gesetzesverletzungen" im Stürmerspruch in einem eschatologischen Rahmen gesehen. Es sind nicht irgendwelche Verstöße, sondern Verstöße in der Endzeit angesichts der hereinbrechenden Gottesherrschaft. Entsprechende Befiirchtungen fur die Endzeit sind im Judentum gut belegt: In der Endzeit wird es zum großen Abfall vom Gesetz kommen. So sieht es etwa Jub 23,16f:^® „Und in diesem Geschlecht werden die Kinder ihre Väter und ihre Alten schelten wegen der Sünde und wegen der Ungerechtigkeit und wegen der Rede ihres Mundes und wegen der großen Bosheiten, die sie tun werden, und wegen des Aufgebens der Ordnung, die der Herr zwischen ihnen und sich festgesetzt hat, daß sie bewahrten und täten all sein Gebot und seine Ordnung und seine Satzung und daß sie nicht abwichen nach links und nach rechts, so daß alle böse handeln. Und jeder Mund pflegt Sünde zu reden, und all ihr Werk ist Unreinheit und Abscheulichkeit, und alle ihre Wege sind Befleckung und Unreinheit und Verdorbenheit."

Vergleichbare Warnungen vor Irrlehrem und Verführern in der Endzeit begegnen auch in AssMos 7; syrApkBar 48,38; Sib 3,68ff; ApkEl 21,13ff Solche Warnungen können sich gelegentlich auf Menschen beziehen, die Gesetz und Propheten verachten. So heißt es in TestLev 16,2: „Und das Gesetz werdet ihr entstellen und die Worte der Propheten verachten. Ihr werdet die gerechten Männer verfolgen und die Frommen hassen ..." Das alles wird fur eine Zeit von 70 Wochen geweissagt, also fur eine längere Zeit; aber es kaim im Kontext auf die Endzeit bezogen werden (vgl. TestLev 14,1: „Ich, meine Kinder, erkannte, daß ihr am Ende gegen den Herrn sün-

" Die Weissagung ist (für uns erkennbar) ein vaticinium ex evenlu auf die Apostasie der radikalen hellenistischen Reformer in Jerusalem Anfang des 2. Jh. v.Chr.; vgl. K. Berger, Das Buch der Jubiläen, JSHRZ 11,3, Gütersloh: Mohn 1981, 442f Im I. Jh. vor und nach der Zeitenwende aber wurde dergleichen natürlich als echte Weissagung gelesen.

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digen werdet ,..").^' In den Qumranschriften begegnen uns Irrlehrer der Endzeit sogar als „Gewalttätige" (als D'snr). Zu Hab 1,5 heißt es: „Und ebenso bezieht sich die Deutung des Wortes (auf alle Ab)trünnigen am Ende der Tage. Sie sind die Gewalt(tätigen am B)unde, die nicht glauben, wenn sie alles hören, das kom(men wird über) das letzte Geschlecht ..." (IQpHab 2,5ff). Auch an anderen Stellen werden Gegner der Gemeinde als „Gewalttätige" angegriffen (vgl. 4QpPs 37 2,12-14; 4,13-14)."° Man kann daher sagen: Es ist ein verbreiteter Topos, dass sich in der Krisenzeit vor dem endgültigen Eintreten des Heils die Ordnung auflösen wird. Das katm u. a. auch so dargestellt werden, dass Gesetz und Propheten nicht mehr gelten und Menschen mit abweichender Gesetzesauffassung als „Gewalttäter" diffamiert werden. Unsere nächste Frage ist: Konnte das Verhalten der Jesusbewegung solche Befürchtungen und Diffamierungen aktivieren? Unbestreitbar ist: Jesus hat nirgendwo grundsätzlich die Thora aufgehoben. Aber ebenso deutlich ist: In ungrundsätzlicher Weise werden in der auf ihn zurückgehenden Überlieferung Thoragebote missachtet - ungrundsätzlich deshalb, weil diese Suspendierung von Thorageboten an seine Gegenwart und Sendung gebunden war und nur für seine Nachfolger galt. Die Aufforderung an einen Nachfolger sich um das Begräbnis des Vaters nicht zu kümmern ist ein Verstoß gegen das Eltemgebot (vgl. Mt 8,21f/Lk 9,59f). Der Spruch über innere und äußere Reinheit (Mk 7,15) ist mit den Reinheitsgeboten unvereinbar (vgl. Lev Uff). Die Sabbatkonflikte Jesu lassen sich zwar als eine liberale Inteφretation des Sabbatgebots inteφretieren; aber wahrscheinlich haben die Zeitgenossen der Jesusbewegung sie als dessen Bruch erlebt (vgl. Mk 2,23-28; 3,1-6). Die Ablehnung des Fastens in Gegenwart Jesu (Mk 2,18f) widerspricht dem Fastengebot am Versöhnungstag (Lev 16,29-31), darüber hinaus aber der jüdischen Lebensform mit ihren vielen Fastentagen wie sie sich aufgrund der mündlichen Thora entwickelt hat. In der Jesusbewegung wird diese liberale Gesetzespraxis durch ein eschatologisches Erfüllungsbewusstsein motiviert. Weil jetzt Freudenzeit ist, ist Fasten unmöglich (Mk 2,18f). Weil der Blick auf das Reich Gottes gerichtet ist, kann man radikal mit der Vergangenheit - und auch mit seiner Familie - brechen (so in einem nur bei Lk überlieferten Logion, Lk 9,6 If, das die vorhergehenden NachIn der Textfamilie ρ wird die Beziehung zwischen TestLev 14, Iff und 16, Iff noch deutlicher. An beiden Stellen wird hier als Quellenangabe der Abfallsschilderang eine Schrift Henochs genannt; vgl. J. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen, JSHRZ 111,1, Gütersloh: Mohn 1974, 56-58. Vgl. B. E. Thiering, Are the .Violent Men' False Teachers? NT 21 (1979) 293-297. Gegen einen direkten Rückschluss von diesen Qumranbelegen auf Mt l l , 1 2 f par spricht, dass das Verb βιάζΕσθαι in der L x x nirgendwo ein Verb mit dem Stamm p u wiedergibt.

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folgeworte sachlich richtig inteφretiert). Bei der liberalen Sabbatpraxis und der neuen Reinheitsvorstellung könnte der Gedanke einer Wiederherstellung der Schöpfung eine Rolle spielen. Mk 2,28 bezieht sich auf die Schöpfting von Mensch und Sabbat zurück: Der Mensch ist vor dem Sabbat geschaffen und ihm übergeordnet. Wenn Gott bei der Schöpfung alles für „gut" erklärt hat, so kann die Unterscheidung von rein und unrein in Lev 11 nur sekundär sein. Dies Erfüllungsbewusstsein führt im Stürmerspruch dazu, dass eine von Gesetz und Propheten bestimmte Zeit von der neuen Zeit der Gottesherrschaft unterschieden wird. Solche Periodisierungen sind im Judentum denkbar. Im babylonischen Talmud finden wir sie in bSan 97a/b; bAZ 9a: „In der Schule des Elia wird gelehrt: 6000 Jahre wird die Welt bestehen, (nämlich) 2000 Jahre Chaos, 2000 Jahre Torah, 2000 Jahre messianische Zeit; doch wegen unserer vielen Sünden sind schon manche von diesen verstrichen." Hier wird nicht die Aufhebung der Torah in der messianischen Zeit gelehrt.'" Voraussetzung für deren Kommen ist vielmehr torahgemäßes Handeln: Wegen der Sünden Israels ist der Messias noch nicht gekommen, obwohl er eigentlich hätte kommen müssen. Wenn sein Kommen aber an die Erfüllung des Gesetzes gebunden ist, so kann der Messias nicht im Gegensatz zum Gesetz stehen. Er kann nur als Erfüllung des Gesetzes verstanden sein - als sein wahrer Inteφret oder als seine endzeitliche Verwirklichung. Ähnlich hat wohl auch die Jesusbewegung im Stürmerspruch die Zeit der basileia gedeutet: In der liberalen Gesetzespraxis Jesu und seiner Anhänger kommen Gesetz und Propheten zur Erfüllung. Andere aber haben das ganz anders erlebt. Wenn eine eschatologische Bewegung mit intensiver Naherwartung in Palästina mit „liberalen" Verhaltensweisen auftritt, muss sie fast notwendig die Befürchtung auslösen, jetzt sei die Endzeit da, in der sich die traditionellen Normen und Sitten auflösen; nicht Gott, sondern „Söhne der Gesetzlosigkeit" seien hier am Werk."*^ Dagegen könnte der Stürmerspruch gerichtet sein. Er sagt: Wer im Verhalten der Jesusbewegung nur „Gesetzlosigkeit" sieht, ist im Unrecht. Denn die vermeintlich „Gesetzlosen" erobern die Gottesherrschaft. Wenn demonstrativ behauptet wird, Menschen, die das Gesetz verletzen, erobern die basileia, so wird damit die These verfochten: Das „liberale" Gesetzesverständnis dieser Menschen ist das wahre Gesetzesverständnis, ihre Praxis die wahre Gesetzespraxis - nicht aber das Gesetzesverständnis und die Gesetzespraxis ihrer Gegner. Denn nur Vertreter des wahren GesetzesverVgl. dazu grundlegend P. Schäfer, Die Torah der messianischen Zeit, ZNW 65 (1974) 2 7 ^ 2 (daraus auch die obige Übersetzung von bAZ 9a). " Man erwartete in der Tat in der Endzeit einen „Sohn der Gesetzlosiglceit", den Antichristen (vgl. ApkEI 3I,15ff; 2Thess 2,3).

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ständnisses können die Gottesherrschaft erobern. Nur wer den Willen Gottes in Gesetz und Propheten erfüllt, kann sie besitzen. Das ist die unausgesprochene Prämisse des Stürmerspruchs. Der Stürmerspruch greift einen Vorwurf auf (oder antizipiert ihn), der Jesus und seine Anhänger als „Gewalttäter" gegen den Willen Gottes brandmarkt. Innerhalb des Judentums ist dieser Vorwurf ein Stigmatisierungsversuch. Der Stürmerspruch übernimmt diese Stigmatisierung und wertet sie um. Er sagt: In der Tat sind jetzt Menschen am Werk, die in den Augen ihrer Gegner gesetzlos handeln - gewalttätig und mit Raub. Aber ihr Handeln ist in Wirklichkeit positiv zu werten. Sie erobern mit Gewalt die Gottesherrschaft. Ihr Stigma ist ihr Charisma, ihr Defizit ihr Vorzug, ihre vermeintliche Gesetzlosigkeit ihre Heilsnähe. Eine diskriminierte Minorität bekennt sich demonstrativ zu ihrer Außenseiterrolle und erschüttert damit das Wertgefiige der Majorität nachhaltiger als durch direkte ICritik. Sie bedient sich derselben paradoxen Strategie wie werm sie sich demonstrativ den „Menschenfischem" (Mk 1,17)"^ oder den „Eunuchen" (Mt 19,12) zuordnet. Mit selbststigmatisierenden Etiketten provoziert sie die geltende Wertordnung und ihre Interpretation. In diesem Zusammenhang kötmte zum ersten Mal der Gedanke geäußert worden sein, dass die von der Thora bestimmte Epoche durch eine andere abgelöst wird, die sie überbietet: durch die Zeit der Gottesherrschaft. Wahrscheinlich gehen dieser Gedanke und der Stürmerspruch auf Jesus selbst zurück.'*'' Aber erst später entfaltete er - nicht ohne tragische Auswirkungen - eine Dynamik, durch die Juden und Christen immer mehr voneinander getrennt wurden. Der Gedanke einer Erftillung und Überbietung der Thora in der Gottesherrschaft wurde dabei in die Vorstellung verwandelt, die Thora sei überholt. Aus dem Streit um das wahre Gesetzesverständnis wurde ein Streit um das Gesetz selbst.

" Vgl. H. Mödritzer, Stigma und Charisma (s.o. Anm. 2), 102ff; M. Hengel, Nachfolge und Charisma. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie zu Mt 8,21 f. und Jesu Ruf in die Nachfolge, BZNW 34, Berlin: Töpelmann 1968, 86f Das Logion wird meist ftlr authentisch gehalten: Das nachösterliche Urchristentum hätte die entscheidende Wende kaum mit Johannes dem Täufer, sondern mit Jesus selbst datiert. Das Logion ist auch sonst voll von Tendenzwidrigkeit: Die militant wirkenden Metaphern, nach denen die Jesusbewegung als Rebellion missverstanden werden konnten, passen nicht zur apologetischen Tendenz Jesus und seine Anhänger als politisch harmlos darzustellen. Umgekehrt passt das Logion gut in einen jüdischen Kontext und zeigt in ihm als individuellen Akzent eine präsentische Auffassung der Gottesherrschaft - also ein Proprium der Jesusüberlieferung im Rahmen der jüdischen Eschatologie.

Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung' Bei der sozialgeschichtlichen Deutung Jesu und seiner Bewegung gibt es eine Alternative, die man plakativ mit den Begriffen „Krisendeutung" und „Friedensdeutung" bezeichnen kann. Die Krisendeutung sagt: Das Wirken des jüdischen Charismatikers Jesu sei nur im Zusammenhang mit einer sozialen Krise seiner Zeit zu verstehen, teils als deren Ausdruck, teils als Antwort auf sie.^ Die „Friedensdeutung" sagt dagegen: Zeit und Umfeld Jesu waren vergleichsweise spannungs- und konfliktarm. Die friedliche Botschaft Jesu erkläre sich aus solch einem spannungs- und konfliktfreien Raum besser als aus einer sozialen Krise heraus.^ Im Folgenden soll eine Synthese zwischen Krisen- und Friedensdeutung versucht werden - freilich mit einem Vorrang der Krisendeutung. Ich wähle damit die Variante einer sozialgeschichtlichen Deutung der Erscheinung Jesu, die theologisch am meisten Unbehagen bereitet, ohne dass ich solch ein Unbehagen für ein Indiz historischer Wahrheit halte. Nach einem Exkurs über einige theoretische ' Mit diesem Aufsatz grüße ich Hartwig Thyen zum 70. Geburtstag mit Dank filr lange Jahre gemeinsamen Lebens in unserer Fakultät. Der Aufsatz ist die gekürzte und überarbeitete Fassung von: Jésus et la crise sociale de son temps. Aspects socio-historiques de la recherche du Jésus historique, in: D. Marguerat/E. Norelli/J. M. Poffet (Hg.), Jésus de Nazareth. Nouvelles approches d'une énigme, MoBi 38, Genèves: Labor et Fides 1998, 125-155; in deutscher Sprache erschien er zuerst in EvTh 57 (1997) 378-400. Für diese Veröffentlichung wurde er im Wesentlichen unverändert übernommen. ^ Vertreter einer Krisendeutung sind u.a. R. A. Horsley, Jesus and the Spiral of Violence. Popular Jewish Resistance in Roman Palestine, San Francisco u.a.: Н а ф е г & Row 1987; E./W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1995, 95-216. ' Bei der Zurückweisung von Krisendeutungen wird meist differenziert: Im Blick auf das ganze palästinische Judentum spricht sich E. P. Sanders, Judaism. Practice and Belief 63 B C E - 6 6 CE, London/Philadelphia: SCM Press 1992, bes. 157-169, zwar gegen eine Krisendeutung aus: „In historical perspective, however, the social and economic situation was not very remarkable ... what was peculiar to the situation was not taxation and a hard-pressed peasantry, but the Jewish combination of theology and patriotism" (168f). Aber er will im Grunde nur theologische und politische Faktoren für krisenhafte Phänomene geltend machen, nicht aber soziale und ökonomische Gründe. Andere nehmen lokale und chronologische Differenzierungen vor. S. Freyne, Galilee, Jesus and the Gospels. Literary Approaches and Historical Investigations, Philadelphia: Fortress Press 1988, bes. 135-175, unterscheidet zwischen dem relativ ruhigen Galiläa und den Unruhen in Judäa in dieser Zeit (vgl. z.B. S. 162). T. E. Schmidt, Hostility to Wealth in the Synoptic Gospels, JSNT. S 15, Sheffield: JSOT Press 1987, 11-30, unterscheidet chronologisch: „Evidence of general economic conditions in Palestine between AD 10 and 60 does not reveal a bad or worsening level of prosperity" (S. 30). Wie man sieht, arbeitet eine „Friedensdeutung" immer mit chronologischen, lokalen oder faktoriellen Differenzierungen, die ein Zugeständnis an die Krisendeutung sind. Umgekehrt sollte eine Krisendeutung auch das particulum veri der Friedensdeutung anerkennen.

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Voraussetzungen einer Krisendeutung geht es im ersten Teil darum die geschichtliche Situation abwechselnd aus der Perspektive einer Friedens- und einer Krisendeutung zu beschreiben. Ein zweiter Teil soll versuchen die zuvor beschriebene Situation mit Hilfe sozialgeschichtlicher Faktoren zu erklären. Exkurs zu theoretischen Fragen einer Krisendeutung des Auftretens Jesu und der Jesusbewegung: Unter „Krise" verstehen wir im allgemeinen Sprachgebrauch eine gefährliche Situation und einen Wendepunkt innerhalb einer Entwicklung, sei es zum Guten, sei es zum Bösen. Sozialgeschichtlich geht es in einer Krise immer um den Bestand eines Systems oder wichtiger Strukturen und Teile eines Systems.'* Eine Krisendeutung des Auftretens Jesu und der Jesusbewegung besagt demnach: Ein soziales System, in dem sich Jesus bewegte, befand sich damals in einer Krise, in der es als Ganzes oder in Teilen gefährdet war. Konkret heißt das: Es gab im ersten Jh. entweder eine Krise des Judentimis oder eine Krise des römischen Reichs in einem seiner Teilbereiche, als es das jüdische Palästina zu integrieren versuchte. Wenn wir nach Zusammenhängen zwischen einer solchen Krise und Jesus von Nazareth suchen, sind vier Klarstellungen notwendig: 1. Zum Verhältnis von Krise und sozialem Wandel: Sozialer Wandel ist nicht mit Verelendung identisch. Sozialer Wandel geschieht auch, wenn es „aufwärts geht". Eine Krise katm sich also genauso gut bei einem Aufschwung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens einstellen wie bei einer Verschlechterung. Wenn „Aspirationen" wachsen, nicht aber mit legalen Mitteln für alle erreichbar sind, kann es zu einer Zerrüttung traditioneller Moral kommen, indem man in wachsendem Maße illegale Mittel wähU. Das ist der klassische Fall von „Anomie".' Eine bCrisendeutung der Jesusbewegung ist also nicht an die Annahme einer Verelendung großer Bevölkerungsgruppen gebunden. Vorausgesetzt werden nur Veränderungen überhaupt - Veränderungen durch Aufstieg oder Abstieg, reale oder drohende Veränderungen, die als Verunsicherung erlebt werden!^ Nach B. Schäfers, Art. Krise, in: ders. (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, UTB 1416, Opladen: Leske & Budrich 1986, 167-169, sind Krisen Situationen, die den Fortbestand von Systemen oder wichtiger System-Strukturen in einer begrenzten Zeit in Frage stellen (s. dort S. 168). Vgl. ferner G. Schnurr, Art. Krise, in: TRE 20 (1990) 61-65. ' „Anomie", ein auf den französischen Soziologen E. Durkheim (1858-1917) zurückgehender Begriff, meint „eine gesamtgesellschaftliche Situation ..., in welcher herrschende Normen auf breiter Front ins Wanken geraten, bestehende Werte und Orientierungen an Verbindlichkeit verlieren, die Gruppenmoral eine starke Erschütterung erfthrt und die soziale Kontrolle weitgehend unterminiert wird". So F. Kandil, Art. Anomie, in: B. Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, 18-20, dort S. 18f ' Die Krisendeutung der Jesusbewegung, die ich in: G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, TEH 194, München: Kaiser 1977 "1985 = KT 35, Gütersloh: Kaiser '1997, skizziert habe, unterscheidet sich von anderen Krisendeutungen darin, dass sie nicht an eine Verelendung großer Massen gebunden ist, sondern an Auf- und Abstiegsprozesse, die traditionelle Werte und Normen erschüttern (vgl. S. 46).

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2. Zum Verhältnis von Krise und Charisma: Eine Krisendeutung der Jesusbewegung impliziert auch nicht unbedingt die Vorstellung, dass es auf der einen Seite eine Krise als Herausforderung gab, auf der anderen Seite einen Charismatiker mit einer Antwort auf sie, die neue „systemverändemde" Wege eröffnete um die Krise zu meistern. Seine „Antwort" kann verschiedener Art sein. Er kann das traditionelle Wertgefiige bestätigen, er kann es aber auch „umbauen". Er kann Traditionen neu beleben oder provokativ beseitigen.' Wir dürfen deshalb nicht jeden Charismatiker in der Weise deuten, dass er den Rahmen seiner Gemeinschaft und Gesellschaft grundsätzlich verlassen habe. Auch bei Jesus wäre das eine Fehldeutung. Man darf den späteren Exodus der Christen aus dem Judentum nicht in sein Auftreten zurückprojizieren. 3. Zum Verhältnis von sozialer und religiöser Krise: Wenn wir die Krise des Judentums als soziale iCrise analysieren, so wird die religiöse und politische Mentalität der Menschen nicht ausgeklammert. Im Gegenteil: Nie wirken soziale, politische und ökonomische Faktoren „an sich" auf das Verhalten von Menschen ein, sondern sie wirken immer nur so wie sie gedeutet werden. Eine soziale Krise wird erst zu einer Krise, wenn sie als Krise erlebt und gedeutet wird. Zur Krise gehört immer ein Krisenbewusstsein - und das konnte sich in einer ganz und gar von der Religion bestimmten Gemeinschaft wie der des Judentums nur in religiösen Bildern und Symbolen ausdrücken. ^ 4. Zum Verhältnis von Krise, Charismatikertum und sozialer Bewegung: Bisher wurde nebeneinander von Jesus und der Jesusbewegung gesprochen und der Charismatiker mit seiner charismatischen Bewegung zusammengefasst. Eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise kann beides nicht trennen. Ein Charismatiker gewinnt seine Autorität (d.h. sein Charisma) nur in Interaktion mit seinen Anhängern. Er ist nicht als Individuum interessant, sondern als Zentrum einer Bewegung. Umgekehrt bedeutet das auch: Eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise

' Die provokative Übernahme stigmatisierter Außenseiterrollen und die demonstrative Umwertung stigmatisierender Werte ist eine der Grundsituationen, in denen Charismatiker ihren Einfluss gewinnen. Vgl. W. Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Schriften zur Kultursoziologie 1, Berlin: Dietrich Reimer 1985; W. Gebhardt/A. Zingerle/M. N. Ebertz (Hg.), Charisma. Theorie-Religion-Politik. Materiale Soziologie TB 3, Berlin/New York: de Gruyter 1993. Zur Anwendung des Konzepts der Selbststigmatisierung auf die Jesusbewegung vgl. M. N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 45, Tübingen: Mohr 1987; H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1994. ' Eine rein religionsgeschichtliche Deutung der Krise des Judentums um die Zeitenwende fflhrt oft zu einer verzerrten Wahrnehmung des Judentums - besonders dann, wenn die Entstehung von Jesusbewegung und Urchristentum als eine erfolgreiche Bewältigung der religiösen Krise und Defizite gedeutet wird. Sieht man in der Krise des Judentums dagegen zunächst eine soziale Krise, so kann die jüdische Religion sehr viel positiver bewertet werden, weil aus ihr Impulse kommen um die Krise zu artikulieren, zu bearbeiten und zu überwinden. Eine solche Verbindung einer sozialen Krisendeutung mit einer großen Wertschätzung der jüdischen Religion kann man bei E./W. Stegemarm, Urchristliche Sozialgeschichte (s.o. Anm. 2), feststellen.

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kann zur Jesusforschung beitragen, insofern man von der charismatischen Bewegung auf den Charismatiker in ihrem Zentrum zurückschließen kann. '

1. Jesus und seine Bewegung im Lichte von Friedens- und Krisendeutungen Zurück zur Frage: Ist das Auftreten Jesu im Zusammenhang mit einer sozialen iCrise des Judentums zu verstehen oder von den friedlichen Verhältnissen in seiner Zeit geprägt? Die Antwort lautet zunächst: Das hängt von der Perspektive ab, die wir wählen. Vorweg seien vier mögliche Perspektiven genaimt. Jedes Mal fallt die Antwort auf unsere Frage anders aus: Wählen wir eine Weitwinkelperspektive, mit der wir die ganze Prinzipatszeit in den Blick nehmen, so entstand das Urchristentum in einer vergleichsweise stabilen Zeit. Wählen wir dagegen eine Ausschnittsperspektive, mit der wir speziell das Judentum in der Zeit von Pompeius bis Hadrian betrachten, so ist diese Zeit für das Judentum eine Krisenzeit. Das verändert sich noch einmal bei einer Nahperspektive, bei der wir uns auf die Zeit der römischen Präfekten in Judäa (ca. 6-37 n.Chr.) und auf Galiläa unter der Herrschaft des Herodes Antipas (4 v.-39 n.Chr.) konzentrieren. Hier treffen wir auf erstaunlich stabile Verhältnisse. Zuletzt nehmen wir eine Mikroperspektive ein, bei der man auch Latentes und Verborgenes sichtbar machen kann. Dann zeigt sich: Unter einer Oberfläche von Ruhe gab es damals viele Spannungen. Krisen- und Friedensdeutungen sind also eine Frage der Perspektive.

1.1. Die Prinzipatszeit - Sozialgeschichte in Weitwinkelperspektive Die Zeit des Prinzipats von Augustus bis Commodus gilt mit Recht als eine Epoche unwahrscheinlicher Stabilität in der europäischen Geschichte. Mit Ausnahme der Kriege nach Neros Tod 68 n.Chr. gab es keine Bürgerkriege. Im Schutze der römischen Legionen entstand in Städten und Dörfern ein ziviles Leben. Die Oberschichten der verschiedenen Völker, die meist mit Zwang ins römische Reich integriert worden waren, verbanden ihre Interessen allmählich immer mehr mit den Interessen des Reiches.'" Es entstand

' Für eine Darstellimg Jesu als Charismatiker in einem Beziehungsnetz zu Anhängern und Gegnern vgl. G. Theißen/A. Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht '2001. Die im Folgenden vertretene These symbolpolitischer Konflikte bei Jesus und in seiner Umwelt geht über unsere Darstellung in diesem Buch hinaus. Vgl. G. Alföldy, Römische Sozialgeschichte, Wissenschaftliche Paperbacks Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Wiesbaden: Steiner '1984, 85: Neu innerhalb der Prinzipatszeit ist die „He-

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eine überregionale Kultur, im Westen an die lateinische, im Osten an die griechische Sprache gebunden. In dieser Zeit wurde das Urchristentum geprägt - eine relativ „friedliche" Religion mit einer inneren Distanz zu militärischem Zwang und ökonomischer Härte. Die Nächstenliebe war in dieser Religion ein zentraler Wert. Man fragt sich daher mit Recht: Konnte solch eine Religion vielleicht nur in einer vergleichsweise stabilen Zeit entstehen? Aber dieser Eindruck ändert sich sofort, wenn wir einen Ausschnitt aus diesem großen Bild genauer betrachten:

1.2. Das Judentum während der Prinzipatszeit - Sozialgeschichte aus einer Teilperspektive. Die Integrationskraft des Imperium romanum stieß bei einem Volk an ihre Grenzen: bei den Juden. Es war zwar nichts Ungewöhnliches, dass es bei der Integration neuer Provinzen - oder genauer: bei der Unterwerfung fremder Völker - Schwierigkeiten gab. Singulär aber war, dass sich diese Integrationsschwierigkeiten über fast 200 Jahre erstreckten und im Grunde nie überwunden wurden. Seit Pompeius 63 v. Chr. Jerusalem eroberte, können wir eine Dauerkrise des Judentums beobachten, die sich periodisch in akuten Krisen und Kriegen zuspitzte. Ich nenne die wichtigsten Krisen: - Der Parthereinfall 41 v.Chr., den der letzte Hasmonäer Antigonos I. dazu nutzt um gegen den Willen der Römer König und Hoheφriester zu werden. - Der „Räuberkrieg", d.h. die Aufstände nach dem Tod des Herodes, bei dem zwei Königsprätendenten, Athronges und Simon, und ein charismatischer Führer in Galiläa namens Judas das Land in einen Krieg stürzen (4 v.Chr.). - Die Steuerverweigerungskampagne des Judas Galilaios (6 n.Chr.), die dem Widerstand gegen die Römer eine lange nachwirkende ideologische Begründung gab. - Die Caligulakrise (39/40 n.Chr.), ausgelöst durch den Versuch des römischen Kaisers Gaius Caligula im Jerusalemer Tempel sein Standbild aufzustellen. Ein Krieg wird mit Mühe verhindert - nicht zuletzt durch die Ermordung des Kaisers im Januar 41. - Der 1. jüdisch-römische Krieg 66-74, der mit dem Vertust des Tempels (70 n.Chr.) und der an ihn gebundenen Autonomie des Judentums endet: Juden werden seitdem durch eine Sondersteuer deklassiert. - Jüdische Aufstände im ganzen Orient in den Jahren 115/117. Seitdem verstummt das einst blühende Judentum in Ägypten. rausbildung einer weitgehend homogenen Reichsaristokratie und die starke Vereinheitlichung der lokalen Eliten."

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- Der Bar-Kochba-Krieg 132-135, der zum Verlust der Stadt Jerusalem fuhrt: Aelia Capitolina wird eine heidnische Stadt, die kein Jude betreten darf. Aus der Perspektive des Althistorikers A. Heuss ergibt sich folgendes Bild: „Der Frieden des römischen Kaiserreiches, nach innen in geradezu „idealer" Vollständigkeit verwirklicht, schlug bei den Beziehungen des römischen Staates zu den Juden in den blutigsten Kampf um."" Gerade diese Zeit einer Integrationskrise des Judentums aber ist die Zeit des Auftretens Jesu und die Entstehungszeit des Urchristentums! Nun ist das nur ein chronologischer Zusammenhang. Was gleichzeitig geschieht, muss nicht kausal miteinander verflochten sein. Aber es gibt über die rein chronologische Parallelität hinaus verstehbare Zusammenhänge zwischen religiösen Überzeugungen der Jesusbewegung und dieser Krise. Ich skizziere zwei Zusammenhänge: 1.2.1. Die Erwartung des Messias Aus christlicher Perspektive hat man sich die jüdische Religion zur Zeit Jesu oft so vorgestellt, als habe in ihrem Zentrum die Erwartung des Messias gestanden. Aber das ist eine interpretatio Christiana des Judentums. „Der Messias" im Singular, also eine zukünftige königliche Heilsgestalt, begegnet zum ersten Mal in PsSal 17 und 18, in jener Sammlung jüdischer Psalmen, die das Wirken und Geschick des Pompeius widerspiegelt und auf den Verlust der Selbständigkeit unter den letzten Hasmonäem reagiert. Anders ausgedrückt: Erst mit der Zwangsintegration des palästinischen Judentums in das römische Reich blüht - aufgrund älterer Traditionen - jene Messiaserwartung auf, die im Neuen Testament vorausgesetzt wird. J. H. Charlesworth betont ihren Zusammenhang mit der politischen und sozialen Krise des Judentums: Die messianischen Erwartungen „are sociological deposits of a time of crises." Messianische Erwartungen stehen wahrscheinlich hinter den Unruhen nach dem Tod des Herodes. Josephus benutzt in diesem Zusammenhang

" A. Heuss, Römische Geschichte, Braunschweig: Westermann ^971, 387. J. H. Charlesworth, From Messianology to Christology: Problems and Prospects, in: ders. (Hg.), The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, Minneapolis: Fortress Press 1992, 3-35, dort S. 24. Mit Recht betont er den unsystematischen Charakter jüdischen Messiasglaubens in den Bilderreden des äth Henochs, im 4Esr und syr Baruch und - ohne den Begriff des Messias - in anderen zeitgenössischen Schriften wie z.B. bei Philo. Er sieht sogar zwischen diesem unsystematischen Charakter und der politischen Situation einen Zusammenhang: Die messianischen Erwartungen sind „sociological deposits of a time of crises. The apparent chaotic thought is actually the necessarily unsystematic expression of Jews subjugated to the experienced evilness of a conquering nation." (S. 24). Zum Messiasglauben vgl. ferner die Beiträge in: J. Baldermann u.a. (Hg.), Der Messias, JBTh 8, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1993.

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zwar den Terminus Messias nicht. Wohl aber sagt er, das Volk der Juden habe sich nach einem einheimischen König gesehnt (Ant 17,277). Deswegen hätten Königsprätendenten wie Athronges und Simon auftreten und Anhänger um sich sanmieln können. Nur in einer Strömung des Judentums wurde damals die Messiaserwartung zum Zentrum des Glaubens: in Jesusbewegung und Urchristentum. Umstritten ist, ob und wie der historische Jesus mit dieser Erwartung verbunden war. Er hat m.E. nicht den Anspruch erhoben der Messias zu sein. Wahrscheinlich wurde er aber mit messianischen Erwartungen konfrontiert. Gegenüber seinen Jüngern hat er sich von ihnen vielleicht distanziert,'^ gegenüber Pilatus sicher nicht. Sonst wäre er nicht als „König der Juden" hingerichtet worden. D.h. eine aus der Integrationskrise des Judentums hervorgegangene bzw. in ihr erneuerte Erwartung sahen seine Anhänger in Jesus erfüllt. Sie ging in anderer Weise in Erfüllung als erwartet, nämlich in Gestalt eines leidenden Messias. Ein von den Römern gekreuzigter Messias wurde zum Zentrum einer neuen Religion. Diese durch das Kreuz modifizierte Messiaserwartung war nicht nur aus der Krise des Judentums geboren, sie symbolisierte in sich diese Krise: den Konflikt zwischen messianischem Glauben und Imperium romanum. Denn der Messias war ein gekreuzigter Messias, das Kreuz eine römische Todesstrafe. 1.2.2. Die radikaltheokratische Erwartung Die messianische Hoffnung war nur eine Variante eschatologischer Erwartungen, die aus der Krise des Judentums hervorging. Eine andere Variante war die radikaltheokratische Hoffnung auf die Herrschaft Gottes, die sich mit einer messianischen Gestalt verbinden konnte, prinzipiell aber unabhängig von ihr war. Diese Erwartung ist gerade ftir Galiläa bezeugt. Schon bei den Unruhen nach dem Tode des Herodes tritt in Galiläa kein Königsprätendent auf, sondern Judas, Sohn des Hezekias, von dem es in Bell 2,56 heißt, er habe alle angegriffen, die nach der Herrschaft s t r e b t e n . Z e h n Jahre später wird in den südlichen Teilen des Landes, in Samarien und Judäa,

Das wäre dann der Fall, falls es einmal eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Messiasbekeruitnis des Petrus (Mk 8,29) und dem Satanswort als Antwort Jesu darauf (Mk 8,33) gegeben haben sollte - so wie Petrusbekenntnis und Satanswort in Joh 6,66-71 aufeinander folgen, wenn auch in anderer Weise. Die Zurückweisung bezöge sich nicht direkt auf den Titel „Messias", sondern auf die menschliche Gesinnung, die in diesem Bekenntnis zum Ausdruck kommt. Jesus hat darüber hinaus die traditionelle Messiaserwartung in einen Gruppermiessianismus verwandelt. Vgl. 0 . Theißen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, JBTh 7 (1992) 101-123, in diesem Band: S. 255-281. " In der Parallelstelle Ant 17,272 wird ihm zwar „Streben nach königlichem Rang" (ζήλωσις βαοιλίΐου τιμής) zugeschrieben, aber auch hier setzt er sich anders als Simon und Athronges kein Diadem auf

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der Herodessohn Archelaos abgesetzt. Diese Landesteile kommen unter direkte römische Verwaltung. Die Steuern müssen von da ab direkt an die Römer gezahlt werden. Dagegen wandte sich eine neue Oppositionsbewegung, angeführt von einem Galiläer Judas und einem Pharisäer Sadduk (Ant 18,4). Judas könnte mit Judas, dem Sohn des Hezekias, identisch sein. Sicher ist das nicht. Auf jeden Fall setzte dieser Judas den Widerstand gegen alle menschlichen Herrscher fort. Er vertrat den radikaltheokratischen Gedanken, dass die Erträge des Landes allein Jahwe gehörten - und jede Steuerzahlung an die Römer ein Verstoß gegen das erste Gebot sei. Diese Steuerfrage war auch zur Zeit Jesu virulent. Jesus wurde mit ihr konfrontiert. Er gab keine eindeutige Antwort: Steuerzahlung an den Kaiser ist Pflicht, aber ungefragt fügte er hinzu: Die Pflichten gegenüber Gott dürfen davon nicht berührt werden. Jesus lehnte die radikaltheokratische Alternative Gott oder Kaiser im politischen Bereich ab (Mk 12,13-17 parr), vertrat sie aber im ökonomischen Bereich als Alternative zwischen Gott und dem Mammon (Mt 6,24 par). Auch hier finden wir also einen Zusammenhang zwischen der Integrationskrise des Judentums und der Verkündigung Jesu. Eine aus dieser Krise hervorgegangene oder in ihr neu belebte eschatologische Erwartung lebt in den theologischen Überzeugungen der Jesusbewegung weiter. Die bisherige Zuordnung Jesu zu dieser Integrationskrise des Judentums ist noch immer sehr grob - schon deshalb, weil wir für diese Integrationskrise einen Zeitraum von ca. 200 Jahren ins Auge gefasst haben. Schaut man konkret die Zeit Jesu und den Ort seines Wirkens an, so können begründete Zweifel an der verbreiteten Krisendeutung der Jesusbewegung kommen.

1.3. Die Präfektenzeit und Galiläa - Sozialgeschichte in Nahperspektive Die Präfektenzeit (6-37 n.Chr.) begann mit den oben skizzierten Turbulenzen um Judas Galilaios. Aber schon bald muss sich die Lage stabilisiert haben. Tacitus geht über diese Zeit mit der summarischen Bemerkung hinweg: sub Tiberio guies (Hist V,9,2). In der Tat fällt auf, dass gerade zur Zeit des Tiberius die Präfekten und die jüdischen Hohepriester außergewöhnlich lange regiert haben. Das erlaubt die Vermutung: Es muss zu einem Ausgleich zwischen Präfekten und Hohepriester und zu einer relativen Stabilität gekommen sein. Konnten die Zeitgenossen damals nicht mit Recht die Erwartung haben, dass das jüdische Palästina im Rahmen des Römischen Reichs - wie so viele andere Provinzen - seinen Ort finden und von der pax romana profitieren werde? Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie vor einer langen Phase ständig anwachsender Spannungen standen!

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Ähnliches gilt für Galiläa. Hier regierte Merodes Antipas ununterbrochen von 4 v.Chr. bis 39 n.Chr. - also insgesamt 43 Jahre, eine unwahrscheinlich lange Zeit.'' Angenommen, wir könnten für Judäa einige Konflikte und Spannungen zur Zeit des Pilatus'^ nachweisen - dürften wir dies Bild ungeprüft auf Galiläa übertragen? Mit Blick auf den konkreten zeitlichen und räumlichen Rahmen Jesu liegt somit eine Friedensdeutung der Jesusbewegung nahe. Manches, was als Zeichen einer Krise gesehen werden kann, lässt sich auch anders deuten: So kann man das Wandercharismatikertum der Jesusbewegung als Variante sozialer Entwurzelung deuten. Aber man kann auch so argumentieren: Wenn viele Wandercharismatiker im Lande Unterkunft und Verpflegung finden, so sei das Zeichen eines bescheidenen Überflusses. Ein Land könne sich so anspruchsvolle charismatische Bettler wie die Jünger Jesu nur leisten, wenn die Not nicht am allergrößten ist!

1.4. Die Präfektenzeit genauer betrachtet ~ Sozialgeschichte in Mikroperspektive Jesu Auftreten fällt nicht zufällig in eine Stabilitätsphase zwischen zwei Krisenzeiten: dem „Räuberkrieg" und Judas Galilaios auf der einen, der Caligulakrise auf der anderen Seite. Es ist die Zeit, in der Judäa von Präfekten regiert wird. Diese Phase von Stabilität lässt sich auch als Zeit latenter Spannungen deuten. In der Präfektenzeit traten sie weniger als gewaltsame Konflikte an die Oberfläche denn als symbolische und religiöse Konflikte, hinter denen ein soziales Problem stand: eine wachsende Spannung zwischen (lokaler und imperialer) Oberschicht und dem Volk in Judäa und Samarien. Unsere These lautet: Es ist ein Merkmal der Jesuszeit, dass Spannungen, die vorher und nachher in gewalttätige Konflikte umschlugen, als symbolpolitsche Konflikte ausgetragen wurden.'^ Wir besprechen zunächst " Vgl. S. Freyne, Galilee, Jesus and the Gospels (s.o. Anm. 3), 155f: „... it seemed that the reign of Antipas did bring stability to Galilean life in economic as well as political terms." Entscheidend sei für die Beurteilung der Situation „differentiating Galilean conditions under Antipas from those in Judea under the early procurators" (S. 156). " Vgl. D. R. Schwartz, Art. Pontius Pilate, ABD 5 (1992) 396-401; J. P. Lemonon, Pilate et le gouvernement de la Judée. Textes et monuments, EtB, Paris: Gabalda 1981. " Die Bedeutung „symbolischer Politik" wird in der gegenwärtigen Soziologie und Politologie neu gewürdigt. Vgl. A. Dömer, Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen: Westdt. Verlag 1995. Wenn man unter „symbolischem Kapital" (P. Bourdieu) Prestige versteht, das aus dem Besitz von ökonomischem und kulturellem Kapital resultiert, verbunden mit der Ausstrahlungskraft von Lebensstil, Sprache, Ästhetik und Charisma, so kann man mit A. Dömer „symbolische Politik" definieren als „den sich unterschiedlicher semiotischer Medien bedienenden strategischen Einsatz von symbolischem Kapital, um wiederum symbolisches Kapital zu akkumulieren, d.h. die Benennungs-

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die Symptome der wachsenden Entfremdung und Spannung zwischen herrschender Schicht und Volk, danach interpretieren wir die Propheten der Präfektenzeit als Antwort auf diese Entfremdung. Beide Seiten machen dabei mit Symbolen Politik, teils bewusst, teils unbeabsichtigt. 1.4.1. Symptome von Entfremdung und Spannung Merodes Antipas unternahm in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit Schritte, die man als Versuch deuten kann eine traditionsfreie Herrschaft zu begründen.'* Er entfernte sich dabei mehr von den jüdischen Traditionen, als das die Hasmonäer getan hatten. Ca. 19 n.Chr. verlegte er seine Hauptstadt von Sepphoris nach Tiberias," und zwar an eine Stelle, wo vorher ein Friedhof gewesen war (Ant 18,36-38). Die Stadt galt deshalb als unrein. Warum riskierte er diesen willkürlichen Akt, der sich gewiss hätte vermeiden lassen? Möglicherweise wollte er in seiner neuen Hauptstadt Menschen um sich sammeln, die die Loyalität ihm gegenüber über die Loyalität gegenüber jüdischen Traditionen gestellt hatten.^" Die Absicht der neuen

macht der eigenen Position im jeweiligen Feld zu steigern; symbolische Bedürfhisse in einem politischen Gemeinwesen oder in einer politischen TeiDcultur nach Orientierung, Sinn, Identität etc. zu bedienen; symbolisches Kapital in politische Macht zu konvertieren und auf diesem Wege eine Legitimation oder Delegitimation bestehender Verhältnisse, eine Integration in die Gemeinschaft oder eine Mobilisierung gegen dieselbe zu erreichen." (S. 57). " Vgl. dazu H. G. Kippenberg, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa. Eine religionssoziologische Studie zum Verhältnis von Tradition und gesellschaftlicher Entwicklung, Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht ^1982, bes. 106-137: „Die Progression einer traditionsfreien Herrschaft in Judäa und des Widerstandes gegen sie (142 v. - 135 n.Chr.)." " Die Gründung der beiden Hauptstädte Sepphoris und Tiberias ist unter kulturellen, ökonomischen, politischen und militärischen Aspekten aufschlussreich: (1) Kulturell zeigt sie eine zunehmende Hellenisierung Palästinas. Das betont vor allem M. Hengel, The ,Hellenization' of Judaea in the First Century after Christ, London/Philadelphia: SCM Press/Trinity Press 1989, 38f. (2) Ökonomisch dokumentiert sie einen Wandel, insofern mit Städten der Anteil des „Marktes" und damit der Geldwirtschaft und des Handels zunimmt. Dies hält S. Freyne, The Geography, Politics and Economics of Galilee and the Quest for the Historical Jesus, in: B. Chilton/C. A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus. Evaluating the State of Current Research, NTTS 19, Leiden u.a.: Brill 1994, 75-121, flir den entscheidenden strukturellen Wandel in Galiläa. (3) Politisch vollzog sich eine einschneidende Veränderung. Bisher wurde Galiläa meist von „fernen" Herrschern von Jerusalem her regiert. Mit Herodes Antipas aber war politische Herrschaft unmittelbar präsent. So R. A. Horsley, Galilee. History, Politics, People, Valley Forge: Trinity Press 1995, 158-185. (4) Militärisch war Tiberias insofern günstig, als hier der See Genezareth einen Fluchtweg in andere Territorien (das Gebiet des Philippus und der Dekapolis) ermöglichte. Jedoch kann der militärische Aspekt nicht der entscheidende gewesen sein: Während Sepphoris eine befestigte Akropolis hatte (Vita 376) und befestigt war (Ant 18,27), war Tiberias ohne Stadtmauern. E. P. Sanders, Judaism (s.o. Anm. 3), 243, vermutet, dass Antipas vielleicht verhindern wollte, dass ihm Priester in die neue Hauptstadt folgten. Man kann diesen Gedanken verallgemeinem: Im Grunde schreckte Antipas auf diese Weise alle „frommen" Juden ab und verlangte von ihnen einen etwas makabren Loyalitätstest. Er war nicht der einzige in Galiläa, der so verfuhr. Auch Jesus von Nazareth verlangte von einem seiner Nachfolger die Sorge um das Begräbnis des Vaters

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Stadtgründung geht aus der Namensgebung^' hervor: Wenn Merodes Antipas die neue Hauptstadt dem regierenden Kaiser widmet, so ist das Ziel seiner Stadtgründung zweifellos die Fortsetzung einer Integrationspolitik: Galiläa sollte fest in das römische Reich eingegliedert werden. In Tiberias baute Herodes Antipas einen Palast, der Tierbilder enthielt (Vita 65) - ein eindeutiger Verstoß gegen das Bilderverbot, das damals noch streng gehandhabt wurde. Wir wissen von diesen Tierbildem nur deshalb, weil eine aufgebrachte Volksmenge sie am Anfang des jüdischen Krieges zerstörte. Sie müssen schon vorher bei der galiläischen Landbevölkerung verhasst gewesen sein.^^ Hinzu kam, dass Herodes Antipas gegen jüdische Ehegesetze verstieß, als er die Frau seines Bruders heiratete! Das war gewiss kein Element seiner allgemeinen Politik, sondern hatte persönliche Gründe. Aber seine Ehe hat im Volk den Eindruck verstärken müssen, dass er sich von den jüdischen Normen entfemt.^^ Etwa gleichzeitig beobachten wir bei Pilatus im südlichen Judäa und in Samarien vergleichbare Tendenzen: Eine in symbolischen Handlungen sich vollziehende Politik, die auf eine Integration des Judentums in das imperium romanum zielt. An erster Stelle sind die Münzprägungen des Pilatus zu nennen. Alle Präfekten vor ihm (und die Prokuratoren nach ihm) vermieden anderen zu überlassen und ihm nachzufolgen (Mt 8,2If par). Hier wie dort wird der Verstoß gegen die Pietät gegenüber Toten zum Loyalitätstest. Wahrscheinlich hatte Herodes Antipas schon die Neugründung von Sepphoris dem Kaiser widmen wollen. Er nannte sie nämlich autokratoris, was entweder „Stadt des Kaisers" oder „Hauptstadt" bedeutet (Ant 18,27). Dieser neue Name hat sich nicht durchgesetzt - ein Zeichen dafür, dass Antipas Sepphoris nicht ganz so traditionslos vorfand wie seine zweite Hauptstadt Tiberias, vielleicht auch ein Zeichen dafär, dass er sich in der alten Stadt Sepphoris nicht in dem Maße durchsetzen konnte, wie er es wollte - beides wohl auch Motive für die Gründung von Tiberias. ^^ E. P. Sanders, Judaism (s.o. Anm. 3), 243, sieht in diesen Tierbildern keinen demonstrativen Akt des Antipas: „He may have thought that his palace was his private business; he did not put offensive images on his coins..." Aber er musste damit rechnen, dass diese Bilder in der Öffentlichkeit bekannt wurden. Am Anfang des jüdischen Kriegs waren sie auf jeden Fall selbst in Jerusalem ein Ärgernis. Josephus wird mit einer Gesandtschaft betraut um sie zu zerstören. Eine Gruppe aus dem Volk von Tiberias aber kommt ihm zuvor (Vita 65f). 66 n.Chr. waren sie sicher eine öffentliche Angelegenheit. Die Tierbilder im Palast waren so wenig eine rein „private" Angelegenheit wie die Schilder mit einer Inschrift des Kaisers in der Herodesburg in Jerusalem, die Pilatus dort hatte anbringen lassen: „Sie trugen keine figürliche Darstellung oder sonst etwas Verbotenes, nur eine kurze Inschrift, die zweierlei nannte, den Namen des Weihenden und, wann sie geweiht waren. Als aber die Menge das bemerkte - denn die Sache war schon Stadtgespräch wählte sie zu ihren Sprechern die vier Söhne des Königs ..." (Philo LegGai 299f). Es kam zu Protesten. Die Jerusalemer empfanden die Schilder als Provokation. Selbst wenn Herodes Antipas seine Tierbilder nicht als Provokation gedacht hatte, so mussten sie doch so verstanden werden. " Auch Josephus tadelt die Ehepolitik der Herodäer: Herodias habe bewusst die väterlichen Normen erschüttern wollen, als sie noch zu Lebzeiten ihres (ehemaligen) Mannes dessen Bruder heiratete (Ant 18,136). Vgl. zu den Hintergründen der Eheschließung G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg Schweiz/Göttingen: UniversitätsverlagA'andenhoeck & Ruprecht 1989, 85-102.

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es auf ihren Münzen Symbole darzustellen, die das religiöse Empfinden der Juden verletzen konnten. Nur Pilatus stellte auf ihnen eindeutig heidnische Kultsymbole dar, ein simpulum, d.h. ein heidnisches Dankopfergerät und den Augurenstab.^'* Pilatus hat femer versucht Kaiserbilder in Jerusalem einzuführen. Josephus und Philo berichten von einem vergleichbaren Zwischenfall, der eine von ikonischen Bildern (Josephus), der andere von anikonischen Schildern (Philo).^' Lang anhaltende Proteste der jüdischen Bevölkerung zwangen Pilatus dazu auf sein Vorhaben zu verzichten. Berichtet wird schließlich noch von einem Konflikt wegen eines Aquädukts. Pilatus benutzte zu seiner Finanzierung Geld aus dem Tempelschatz. Möglicherweise führte der Aquädukt über einen Friedhof, denn nach Ant 18,38 richtete sich der Protest der Juden nicht gegen die Benutzung des Tempelgeldes, sondern gegen die Arbeiten mit dem Wasser; und eines der Aquädukte aus damaliger Zeit berührte einen Friedhof ^^ In jedem Fall kollidierte auch hier der römische Präfekt mit religiösen Normen. Fazit: Die zweite Hälfte der Präfektenzeit war eine Zeit, in der mit Akkulturationssymbolen Politik gemacht wurde - eine Politik, die auf eine vorsichtige Integration des jüdischen Palästinas in die hellenistisch-heidnische Kultur zielte. Die Machthaber wollten dabei wahrscheinlich nicht immer bewusst provozieren. Aber sie erregten faktisch Unmut. Symbolpolitische Integrationsversuche missrieten zu symbolpolitischen Konflikten. Sie zeigen, dass es unter einer ruhigen Oberfläche gärte. Das Bild einer stabilen Zeit erhält zusätzliche Risse, wenn man zu den schon genannten Spannungen folgende Daten hinzufugt - zunächst für Ga-

Vor allem E. Stauffer, Zur Münzprägung und Judenpolitik des Pontius Pilatus, La Nouvelle Clio 1/2 (1949/50) 495-514, interpretierte die Münzprägungen des Pilatus als bewusste Provokation. Ebenso Y. Meshorer, Jewish Coins of the Second Temple Period, Tel-Aviv: Am Hassefer 1967, 105f. Dagegen könnte man einwenden, dass Pilatus keine Menschen (wie den Kaiser) auf seinen Münzen hat darstellen lassen. Vgl. die ausgeglichene Diskussion bei J. P. Lemonon, Pilate et le gouvernement de la Judée (s.o. Anm. 16), 110-115. " Es könnte sich um dasselbe Ereignis handeln. Philo hat vielleicht ein Interesse zu zeigen: Tiberius, der die anikonischen Schilder wieder entfernen ließ (vgl. LegGai 305), hat die Heiligkeit der Stadt selbst bei bildlosen Symbolen respektiert - um wie viel mehr sollte Gaius Caligula das Heiligtum von ikonischen Statuen verschonen! D. R. Schwartz, Josephus and Philo on Pontius Pilate, The Jerusalem Cathedra 3 (1983) 26-45; ders., Art. Pontius Pilate, ABD 5 (1992) 399. Aber es könnte sich auch um zwei verschiedene Ereignisse handeln: Anlass, Ort, Form des Protestes werden bei Josephus (Ant 18,55-59; Bell 2,169-177) und Philo (LegGai 299-305) verschieden dargestellt. So E. M. Smallwood, The Jews under Roman Rule, Leiden 1976, 166. So D. R. Schwarz, Art. Pontius Pilate, ABD 5 (1995) 399 mit Berufimg auf J. Patrich, A Sadducean Halakha and the Jerusalem Aqueduct, The Jerusalem Cathedra 2 (1982) 25-39. Falls diese These stimmt, könnte man fast von einer konzertierten symbolpolitischen Konfrontation in Galiläa und in Judäa sprechen: Sowohl Antipas als auch Pilatus respektierten nicht das Tabu der Totenruhe! Aber es handelt sich wohl um zufällige Übereinstimmungen.

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liläa unter Herodes Antipas, dann för Judäa und Samarien unter Pontius Pilatus:" Die Regierung des Antipas war keineswegs so sicher, wie es seine lange Regierungszeit suggeriert. Als Archelaos abgesetzt wurde, war nach Strabo (Geogr XVI, 46) auch die Herrschaft seiner Brüder gefährdet; nur mit Mühe hätten Antipas und Philippus in ihre Tetrarchien aus Rom zurückkehren können. Die Assumptio Mosis (6,7) rechnet mit einer kurzen Regierungszeit der beiden Herodessöhne. Wenn dazu noch ein oppositioneller Prophet wie Johannes der Täufer auftritt, dann sind das Symptome von Instabilität. Dazu kommt, dass Herodes Antipas auch in seiner eigenen Familie Gegner hatte: Sein Neffe Agrippa, dem er großzügig geholfen hatte, ging nach Rom um ihn dort anzuklagen (Bell 2,178) - zunächst unter Tiberius ohne Erfolg, unter Gaius Caligula dann mit Erfolg: Antipas wurde abgesetzt und nach Gallien verbannt (Bell 2,183). Auch bei Pilatus wäre es verfehlt, von einer stabilen Zeit zu sprechen. Er ist der einzige Präfekt, den Philo namentlich erwähnt. Summarisch berichtet er von seiner „Bestechlichkeit, seiner Gewalttätigkeit, seinen Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, fortgesetzten Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren sowie seiner unaufhörlichen und unerträglichen Grausamkeit" (LegGai 302). Lk 1 3 , l f hat zufällig die Erinnerung an ein Massaker unter galiläischen Pilgern aufbewahrt. Die Jesusüberlieferung hält es für möglich, dass es allen Juden so gehen wird wie den galiläischen Pilgern, wenn sie nicht umkehren. Das ist nur plausibel, wenn die Herrschaft des Pilatus so erlebt wiirde, wie Philo sie dargestellt hat: als eine Zeit brutaler Übergriffe. In der Passionsgeschichte erfahren wir ferner von einem „Aufstand", bei dem u.a. Barabbas inhaftiert wurde (Mk 15,7). Wenn Pilatus schließlich nach seinem brutalen Vorgehen gegen einen samaritanischen Propheten und dessen Anhänger vom syrischen Legaten abgesetzt wird, so kann die Bilanz seiner Regierung in den Augen dieses Legaten kaum positiv gewesen sein. L4.2. Die Propheten der Präfektenzeit Auf die Politik der Akkulturationssymbole reagierten oppositionelle Bewegungen im Volk, deren Sprachrohr und Kristallisationspunkt Propheten waren. Drei Propheten sind uns aus der Präfektenzeit bekannt. Alle treten erst in der zweiten Hälfte dieser Zeit auf - also erst, nachdem die Politik der ^^ Gegen geographische Differenzierungen zwischen einem ruhigen Galiläa und einem unruhigen Judäa zur Zeit Jesu ist zu betonen: Symbolpolitische Konflikte und realpolitische Indizien filr eine latente Instabilität lassen sich filr beide Teile Palästinas nachweisen. Hinzuzunehmen sind noch die Indizien für eine „Steuerproblematik", die im zweiten Teil zusammengestellt sind. Der entscheidende Unterschied zwischen den Landesteilen war, dass Judäa direkt, Galiläa indirekt (durch einen Klientelfilrsten) von den Römern regiert wurde.

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Akkulturation durch Symbole eingesetzt hatte: Johannes der Täufer, Jesus von Nazareth und ein anonymer samaritanischer Prophet. Wir können hier nicht ausfuhrlich die Botschaft dieser Propheten der Präfektenzeit^® analysieren. Einige Hinweise müssen genügen. Im Zentrum der Verkündigung des Täufers^' steht ein Reinigungsritus: die Taufe zur Vergebung der Sünden. Diese Taufe kann man als Antwort auf eine Unreinheit auffassen, von der er das ganze Land und alle Israeliten bedroht sieht: Weil das Land unrein ist, muss ein Neuanfang in der Wüste gemacht werden - jenseits des bewohnten Landes! Weil alle Israeliten von ihr bedroht sind, müssen alle umkehren und sich taufen lassen! Diese Verkündigung der Taufe ist beim Täufer mit direkter Kritik an den herodäischen Herrschern und mit indirekter Kritik am Jemsalemer Tempel verbunden. Direkte Kritik an den herodäischen Herrschern ist die Kritik an der Ehepolitik des Herodes Antipas. Der Täufer kritisiert hier die Übertretung jüdischer Gesetze. Und er steht nicht allein damit. Auch Josephus missbilligte die Umstände der Eheschließung mit Herodias (Ant 18,136). Indirekt kritisiert der Täufer den Jerusalemer Tempel. Die Verkündigung einer Sündenvergebung durch eine Taufe ist ein indirektes Misstrauensvotum gegen den Tempel. Denn im Tempel gab es Opfer und Sühnemöglichkeiten - sowohl für die Sünden des ganzen Volkes wie des Einzelnen. Hier gab es Reinigungsriten. Wer mit prophetischem Pathos dagegen die Devise ausgab: Nur durch die Taufe sei die Reinheit Israels wiederherzustellen, nur sie bringe Sündenvergebung und rette im Gericht, der brachte damit zum Ausdruck, dass er die Riten des Tempels fur ineffektiv hielt. Über das Ende des Täufers haben wir verschiedene Berichte in den synoptischen Evangelien und bei Josephus. Die politische Motivation, die Josephus dem Herodes Antipas unterstellt, lässt sich sachlich mit dem vereinbaren, was wir aus den Evangelien hören. Das kann hier nicht ausgeführt werden. Für uns ist entscheidend: Dass Antipas mit Recht prophetische Kritik furchten musste und diese politisch destabilisierend wirkte, wird indirekt von der Assumptio Mosis bestätigt. Die Assumptio Mosis ist wahrscheinlich eine aus der Makkabäerzeit stammende Schrift, die in der Präfektenzeit neu herausgegeben wurde.^° Wir können sie recht gut datieren, da sie vorDie Propheten der Prokuratorenzeit lassen sicli m.E. von denen der Präfektenzeit gut unterscheiden: Erstere zielen auf eine innere Erneuerung der jüdischen bzw. samaritanischen Gemeinschaft, letztere verheißen Befreiung von der Fremdherrschaft. Zu den Propheten vgl. R. Meyer, Der Prophet aus Galiläa, Leipzig: Lunkenbein 1940, bes. 82ff.l08ff; P. W. Bamett, The Jewish Sign Prophets - A.D. 40-70. Their Intentions and Origin, NTS 27 (1981) 679-697. Ich verzichte zu Johannes dem Täufer auf Literaturangaben und weise auf unsere Darstellung G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus (s.o. Anm. 9), S. 184-198, hin. Vgl. J. F. Priest, Art. Moses, Testament of, ABD 4 (1992) 920-922.

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aussagt: Die Söhne des Herodes würden kürzer als ihr Vater regieren (AssMos 6,7). Hier dürfte vorausgesetzt sein, dass Archelaos schon nach kurzer Zeit abgesetzt wurde (6 n.Chr.), die anderen Herodessöhne, Antipas und Philippus, dagegen noch regierten. Aber das baldige Ende ihrer Herrschaft wird erwartet. Wenn solche schriftliche Prophetien im Land kursierten, dass die beiden noch regierenden Herodessöhne bald ihre Herrschaft verlieren werden, dann kann man ahnen, wie wenig stabil die Lage war. Die Furcht des Herodes Antipas vor einem Umsturz war nicht unberechtigt. Nach der Hinrichtung des Täufers trat bald ein neuer Prophet auf: Jesus von Nazareth. Er setzte den Akkulturationssymbolen der Zeit nicht die Taufe entgegen, sondern (neben anderen Symbolhandlungen) den Exorzismus. Durch ihn vertrieb er die unreinen Geister. Das ist eine andere Art Unreinheit zu bekämpfen als die Taufe. Wenn er beschuldigt wird, er handle in seinen Exorzismen in Wirklichkeit im Namen Beelzebuls, so wird er mit einer heidnischen Gottheit assoziiert: baal zebul, dem Spottnamen für eine der Baal-Gottheiten in Syrien. Seinem Selbstverständnis nach verhält er sich genau umgekehrt: Er treibt mit seinen Exorzismen „Beelzebul" aus nämlich alles heidnische Unwesen.^' Die Exorzismen lassen sich als ein symbolischer Protest verstehen: Das Land ist von unreinen Geistern bedroht. Sie bemächtigen sich der Menschen und entfremden sie von sich selbst. Bedrohungsängste angesichts von fremder kultureller, religiöser und militärischer Macht schlagen sich hier nieder (und haben wohl damals zu echten dämonischen Symptombildungen gefiihrt). Wenn die Tradenten der Exorzismen einen dieser Dämonen „Legion" nennen, ihn also direkt mit den römischen Soldaten (und mit unreinen Schweinen) assoziieren, dann bestätigt das den Zusammenhang von Dämonenglaube, Exorzismen und der allgemeinen sozialen Situation im Lande.^^ Wie beim Täufer finden wir auch bei Jesus Kjitik an den Mächtigen, jedoch in anderer Weise. Der Täufer verband direkte Kritik an den Fürsten mit indirekter Kritik am Tempel. Bei Jesus verhält es sich umgekehrt: Die herodäischen Fürsten kritisiert er indirekt, den Tempel greift er direkt an. Indirekte Kritik könnte man in seinen Worten zur Ehescheidung sehen, besonders dann, wenn man die zweiseitige Formulierung nicht fiir eine sekundäre Anpassung an hellenistische Rechtsverhältnisse außerhalb Palästinas hält. Denn auch in Palästina könnte es eine Rechtstradition gegeben

" Zur Beelzebul-Kontroverse und dieser Deutung von Mk 3,22ff vgl. A. Feldtkeller, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, N T O A 25, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1993, 105f. " Zu dieser Deutung des Exorzismus am See vgl. G. Theißen, Lokalkolorit (s.o. Anm. 23), 115-118.

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haben, die der Frau die Möglichkeit zur Ehescheidung einräumt,^^ vor allem aber: Eben dies hatte Herodias getan. Sie war bei ihrer Scheidung von ihrem ersten Mann aktiv gewesen. Jesus erwähnt das herodäische Fürstenpaar zwar mit keinem Wort. Aber wenn er ganz allgemein formuliert, dass weder Mann noch Frau die Ehe auflösen sollen, so könnten seine Hörer auch an Herodias gedacht haben - und Jesus hat das möglicherweise sogar intendiert.'' Direkte Kritik übt Jesus dagegen am Tempel. Die symbolische Zeichenhandlung der Tempelreinigung und die Tempelprophetie gehören zusammen; eins inteφretiert das andere. Wie immer man die Botschaft im Einzelnen deutet: Eine Kritik am bestehenden Tempel ist sie in jedem Fall. Er soll verschwinden um einem neuen, von Gott wunderbar errichteten Tempel Platz zu machen.'^ Neben den Exorzismen und der Tempelreinigung haben noch weitere Handlungen Jesu eine symbolpolitische Dimension, die manchmal stärker, manchmal schwächer ausgeprägt ist.'^ Deutlich erkennbar ist die politische Dimension im Streitgespräch über die Steuer (Mk 12,13-17). Jesus gibt auf die Frage nach der Legitimität der Steuern keine direkte Antwort, sondern greift auf die Münzen des Kaisers zurück: Sie zeigen dessen Bild und enthalten eine Legende, die sie als Besitz des Kaisers ausweisen.'^ Erst nach " Vgl. M. Fander, Die Stellung der Frau im Markusevangelium. Unter besonderer Berücksichtigung kultur- und religionsgeschichtlicher Hintergründe, MThA 8, Altenberge: Telos 1989, 2 0 0 257: Ein guter Überblick über die Forschungen zum Eherecht! Eine solche antiherodianische Deutung vertritt P. S. Cameron, Violence and Kingdom. The Interpretation of Matthew 11,12, ANTJ 5, Frankfurt u.a.: Lang 1984, 244, für die kleine Spruchsammlung in Lk 16,15b-18 (= Q): V. 15b spiele auf Ungesetzlichkeiten des Merodes Antipas an, V.16 meine ursprünglich die Gewalttat gegen den Täufer, das Ehescheidungslogion V.18 wende sich gegen seine Scheidung von seiner ersten Frau. " Zur Tempelreinigung vgl. E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London: SCM Press 1985, 6 1 76; H. Mödritzer, Stigma und Charisma (s.o. Anm. 7), 144-156; T. Söding, Die Tempelaktion Jesu. Redaktionskritik-Überlieferungsgeschichte - historische Rückfrage, TThZ 101 (1992) 36-64. Grundlegend zu den Symbolhandlungen Jesu ist H. Schürmann, Die Symbolhandlungen Jesu als eschatologische Erfüllungszeichen. Eine Rückfrage nach dem historischen Jesus, BiLe 11 (1970) 29-41.73-78 = dass, in: K. Scholtissek (Hg.), Jesus. Gestalt und Geheimnis, Paderborn: Bonifatius 1994, 136-156 (mit Nachträgen). Schürmann grenzt den Begriff Symbolhandlungen auf die Handlungen ein, „in denen der tiefere und allgemeingültige Sinn Primärfunktion ist" (S. 140). Sofern das Wort Jesu, seine Heilungen und Exorzismen auch „reale Zeichen" sind, wären sie keine Symbolhandlungen, weil sie „ihren primären Sinn in jener Verkündigung, im Heilen und Exorzieren selbst" haben (S. 140). M. Trautmann, Zeichenhafte Handlungen Jesu. Ein Beitrag zur Frage nach dem geschichtlichen Jesus, Fzb 37, Würzburg: Echter 1980, legt dagegen einen weiteren Begriff zugrunde, der auch manche Heilung und die Exorzismen umfasst. Dass einige der Symbolhandlungen Jesu (unabhängig davon, ob ihre Zeichenhaftigkeit primäre oder sekundäre Funktion ist) auch symbolpolitische Bedeutung haben, wurde weder von H. Schürmann noch M. Trautmann beachtet. " Vgl. die Beschreibung der Münze bei J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/2, Zürich u.a./Neukirchen-VIuyn: Benzinger/Neukirchener 1979, 153: Die verbreitetste Münzprä-

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diesem Rückgriff auf ein „Symbol" kaiserlicher Herrschaft gibt er eine Antwort, welche den Fragestellern^^ die Verantwortung für ihr Verhalten zuschiebt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist."^' Der Umweg über eine kleine symbolische Handlung - das Herbeischaffen der Münze, die Deutung ihrer Symbolik - zeigt im Kleinen, was für alle symbolpolitischen Konflikte der Zeit giU: Sie entlasten von der direkten Konfrontation und sind ein Ersatz für jene direkten Konflikte, die etwa bei Judas Galilaios mit der Steuerfrage verbunden sind. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass Jesus indirekt auf eine symbolpolitische Handlung des Pilatus reagiert: Dieser hatte am Anfang seiner Regierungzeit versucht Standarten mit Kaiserbildem heimlich nach Jerusalem zu bringen (Bell 2,169ff; Ant 18,55ff). Die Proteste zielten darauf diese wieder dorthin zu bringen, wohin sie gehörten: nach Caesarea zu den römischen Kohorten. Könnte im Hintergrund der Argumentation von Mk 12,13-17 daher nicht der Gedanke stehen: Wenn Juden die Entfernung der Kaiserbilder aus dem heiligen Land forderten, müssen sie dann nicht ebenso zur Rückgabe der Kaisermünzen an den Kaiser bereit sein?'*" Auf den Standarten wie auf den Münzen wurde der Kaiser dargestellt und mit göttlicher Aura umgeben!

gung „zeigt auf der einen Seite das Brustbild des Kaisers mit Lorbeerkranz (Symbol seiner göttlichen Würde). Die Umschrift lautet: Tiberius Caesar Divi Augusti Filius Augustus (Kaiser Tiberius, des göttlichen Augustus anbetungswürdiger Sohn). Auf der Rückseite wird die Titulatur fortgesetzt: Pontifex Maximus (= oberster Priester), und sieht man die Kaiserinmutter Livia, sitzend auf einem Götterthron, in der Rechten das olympische Langzepter, in der Linken den Ölzweig, der sie charakterisiert als Inkarnation des himmlischen Friedens". " Wenn in Mk 12,13 Pharisäer und Herodianer als Fragesteller begegnen, so passt das zu den historischen Verhältnissen. Die Steuerverweigerungskampagne des Jahres 6 n.Chr. wurde von Judas Galilaios und einem Pharisäer (!) Sadduk ins Leben gerufen (Ant 18,4). Die Herodianer hatten ein Interesse an dieser Debatte: Solange es eher akzeptiert wurde, dass die Steuern erst an die herodäischen Fürsten gezahlt wurden um dann als deren persönlicher Tribut an Rom weitergegeben zu werden, waren sie für die Römer von Vorteil: Sie funktionierten als religiöse „Geldwaschanlage". Wenn sie im MkEv einerseits bei einem Sabbatkonflikt, andererseits bei der Steuerfrage erscheinen, so entspricht das der Funktion der Herodäer: Vertrautheit und Respekt vor den einheimischen religiösen Traditionen (wie dem Sabbat) sollten sie mit Loyalität gegenüber den Römern (die sich vor allem in der Steuerzahlung zeigt) verbinden. " Da die Aufforderung Gott das ihm Schuldige zu geben über das hinausgeht, was eine Antwort verlangt, liegt hierauf ein besonderer Akzent. Die Alternative „Kaiser oder Gott" weist m.E. in vorösterliche Zeit. Denn nachösterlich stellte sich eher die Alternative: „Kaiser oder Christus" (vgl. Apg 17,7; Apk 12-13). Das EvThom 100 fügt diese christologische Alternative hinzu: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, gebt Gott, was Gottes ist, und das, was mein ist, gebt es mir!" Das Verb άποδίδωμι enthält als Wort nicht das Element der Rückzahlung (vgl. nur Mt 20,8; Röm 13,7 U.Ö.), erst der Kontext lässt daran denken: Jesus hatte ausdrücklich gefragt: Wessen Bild und Legende steht auf den Münzen? Dadurch wird daran erinnert: Die Münzen wurden vom Kaiser geprägt und sind sein Eigentum!

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Eine weitere symbolpolitische Handlung Jesu war die Ernennung der Zwölf.'" Mt 19,28-30 par spricht ausdrücklich von ihrer Herrschaft über die zwölf Stämme Israels. Daran ändert sich auch nichts wenn man κρίνειν mit „richten" (und nicht mit „herrschen") übersetzt; denn Richten ist eine herrschaftliche Funktion. Jesus bringt mit der Emermung der Zwölf in zweifacher Weise eine Opposition zum Ausdruck. Einerseits ist die Erinnerung an zwölf Stämme und zwölf Fürsten als Leitbild einer Verfassung Israels'* zu seiner Zeit nur in oppositionellen Gruppen wie den Essenern lebendig, während das real existierende Israel von einem Hohepriester geleitet wurde: Die Stämmeverfassung wirkte in der realen Verfassung kaum nach. Andererseits ernannte Jesus zu Fürsten und Richtern dieser zwölf Stämme einfache Menschen aus dem Volk. Sie übernehmen Funktionen, die nach PsSal 17,26 der königliche Messias übernehmen sollte. Die Zwölf bilden ein messianisches Kollektiv. Die oft auf eine einzige Gestalt ausgerichtete Messiaserwartung wird im Sinne eines Gruppenmessianismus umgeformt.'*^ Eine symbolpolitische Handlung ist schließlich der Einzug in Jerusalem - unabhängig davon, ob wir ihn späterer christlicher Phantasie verdanken oder der Erirmerung an ein historisches Ereignis.'*'' Derm in jedem Fall wird hier ein Gegenbild zum Einzug des Präfekten inszeniert: Zu den großen Festen kam er mit seinen Kohorten von Caesarea vom Westen her nach Jerusalem um für Ruhe und Ordnung zu sorgen und so die Fremdherrschaft der Römer zu stabilisieren (Bell 2,224).'" Wenn demgegenüber Jesus von Osten her seinen Einzug in Jerusalem hält und dabei Erwartungen einer kommenden „Königsherrschaft unseres Vaters David" weckt, so steht beides in Kontrast zueinander. Die Erzählung könnte auf eine historische Erinnerung zurückgehen. Einige Erweiterungen sind noch erkennbar: die wunderbare Auffindung des Reittiers, die in Joh 12,12-19 fehlt, das Zitat von Sach 9,9, das nach Joh 12,16 erst nachösterlich verstanden wurde, die Verwandlung einer Erwartung der „Königsherrschaft unseres Vaters Davids" in Dass die Erwählung der Zwölf eine Symbolhandlung ist, sieht auch M. Trautmann, Zeichenhafte Handlungen (s.o. Anm. 36), 167 ff. Vgl. W. Horbury, The Twelve and the Phylarchs, NTS 32 (1986) 503-527. Vgl. G. Theißen, Gruppenmessianismus, in diesem Band S. 255ff "" Zum Einzug als Symbolhandlung vgl. M. Trautmarm, Zeichenhafte Handlungen (s.o. Anm. 36), 347fr. Leider wird uns nirgendwo ein solcher „Einzug" geschildert. Josephus deutet einen solchen beim Kommen des Florus in einer kritischen Situation an: „Das Volk kam den Soldaten des Statthalters, um dessen Verlangen nach Rache im voraus zu mäßigen, mit Heilrufen entgegen und traf Anstalten, den Florus selbst untertänig zu empfangen ..." (Bell 2,297). Auch der Königsprätendent Menahem zog wohl demonstrativ in Jerusalem ein. Nachdem er sich mit Waffen und einer Leibwache versehen hat, „kam er wie ein König nach Jerusalem zurück" (Bell 2,434). Demonstrativ ist auch sein Weg zum Tempel, „als er stolz und im Schmuck königlicher Kleidung zum Gebet hinaufschritt, wobei ihm eine Schar bewaffneter Eiferer folgte." (Bell 2,444).

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die Akklamation eines „Königs", die einer christologischen Konzentration entspricht (vgl. Lk 19,38; Joh 12,13). Es besteht kein Zweifel: Jesus konnte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten „Gleichnisse" formulieren. Er beherrschte die Sprache symbolischer Handlungen; und einige dieser Handlungen haben einen symbolpolitischen Charakter. Nur wenige Jahre nach Jesu Tod tritt in Samarien ein dritter Prophet auf. Mit Jesus verbindet ihn die Tempelthematik - natürlich jetzt in einer spezifisch samaritanischen Variante. Josephus schreibt über ihn: „Auch das Volk der Samaritaner war nicht frei von Aufruhr. Ein Mann sammelte sie nämlich zusammen, der sich aus Lügen nichts machte und alles unternahm, um die Gunst des Volkes zu erlangen, und befahl ihnen, sich auf dem Berg Garizim einzufinden, der ihnen als heiliger Berg gilt. Er versprach, er werde ihnen in ihrer Anwesenheit die heiligen Geräte zeigen, die Mose vergraben hatte, wo er sie deponiert hatte." (Ant 18,85)

Bevor die Menge den Berg Garizim besteigen kann, lässt Pilatus sie niedermachen. Auf Proteste der Samaritaner hin wird er vom syrischen Legaten Vitellius abgesetzt und nach Rom geschickt. Der samaritanische Prophet muss längere Zeit seine Botschaft verkündigt haben - nur deswegen konnte Pilatus davon erfahren haben und mit einer Truppenabteilung eingreifen. Auch muss er eine große Resonanz unter den Samaritanem gefiinden haben. Eine samaritanische βουλή (Ant 18,88), also ein offizielles Repräsentationsorgan der Samaritaner, protestiert gegen das blutige Vorgehen des Pilatus. So wie wir bei Johannes dem Täufer eine Wüstentypologie finden, bei Jesus eine Typologie des neuen Tempels, so hier eine Mosetypologie: Der samaritanische Prophet will direkt an das Werk des Mose anknüpfen. Der Fund der verschollenen heiligen Tempelgeräte soll die Heiligkeit des Garizim erweisen. Dieser Prophet beansprucht der zu sein, den die samaritanische Frau in Joh 4 erwartet: der Prophet, der endgültig die Frage nach dem legitimen Kultort entscheiden wird. Fassen wir ein erstes Ergebnis zusammen: In der Präfektenzeit beobachten wir auf Seiten der herrschenden Schicht (sowohl bei Herodäem wie bei Pontius Pilatus) eine Politik der Akkulturationssymbolik. Behutsam sollen Juden an die allgemeinen Symbole der römisch-hellenistischen Welt herangeführt werden: an heidnische Kultsymbole und Kaiserbilder. Sie sollen eine größere Toleranz gegenüber Reinheitsfragen lernen. Eine bewusste Provokation des Volkes muss man in dieser Politik nicht in jedem Einzelfall sehen, aber sie wirkte faktisch als Provokation. Die Herrscher werden über die heftigen Reaktionen, die sie manchmal hervorriefen, überrascht gewesen sein.

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Auf der anderen Seite treten prophetische Oppositionsbewegungen auf, die eine Gegensymbolik in den Mittelpunkt stellen: Die Taufe als Reinigung von allen Sünden (einschließlich der Sünde durch heidnische Befleckung), der Exorzismus als Austreibung des Unreinen, von dem man sich bedroht fühlt, oder die Restauration verschollener Kultsymbole - als Suche nach einer bedrohten kultischen Identität. Natürlich gibt es keinen direkten Zusanunenhang zwischen den Symbolen auf der einen und der anderen Seite. Die Suche nach den samaritanischen Kultgeräten hat nicht direkt damit zu tun, dass Pilatus auf einigen seiner Münzen heidnische Kultgeräte abbildete. Die Verletzung von Reinheitsgeboten durch Herodes Antipas hat keinen direkten Zusammenhang mit dem Reinheitsritus des Johannes. Der Übergriff des Pilatus auf den Tempelschatz hat nicht direkt mit der Kritik des Tempels als Ort des Opferhandels durch Jesus zu tun. Aber ein indirekter Zusammenhang dürfte zwischen dieser allgemeinen Politik auf der einen und den Propheten auf der anderen Seite bestehen: eine Interaktion zwischen der (möglicherweise fahrlässigen) Infragestellung jüdischer Identität und Symbolik - und der Revitalisierung jüdischer bzw. samaritanischer Identität durch ganz andere Symbole. Wir können damit die Ausgangsfrage in folgendem Sinne beantworten: Die Jesusbewegung erschließt sich durch eine Krisendeutung - nicht nur im Blick auf die 200 Jahre dauernde chronische Krise des Judentums bei seiner Integration ins römische Reich, sondern auch im Blick auf eine konkrete (aber oft latente) Krise zur Präfektenzeit. Methodisch gingen wir dabei von chronologischen Zusammenhängen zwischen Krisenerscheinungen und religiösen Bewegungen aus. Diese chronologischen Zusammenhänge Verden dann durch inhaltliche Zusammenhänge verständlich gemacht: erstens durch das Aufblühen der Messiaserwartung, zweitens durch das Aufkommen radikaltheokratischer Gedanken und drittens durch den Konflikt zwischen Akkulturationssymbolik und einer oppositionellen Gegensymbolik. Während die Widerstandsbewegung am Anfang des Jahrhunderts mit militärischen Aktionen vorging, beobachten wir zur Jesuszeit eine deutliche Verlagerung auf symbolpolitische Konflikte. Die „Entmilitarisierung" der Konflikte ist ganz gewiss auch Antwort auf eine einsetzende Stabilisierung in der Präfektenzeit. Diese vergleichsweise friedliche Zeit hat eine vergleichsweise friedliche Antwort auf die Krise des Judentums möglich gemacht."*® Eigentlich war der Weg frei zu einer politischen Integration des Nafflrlich gab es auch vorher und nachher symbolpolitische Konflikte, sie schlugen jedoch schnell in manifeste Gewalttätigkeit um. Charakteristisch ist die Entfernung des Goldenen Adlers über dem Tempeltor gegen Ende der Regierungszeit des Herodes (Bell l,648fï), also vor der Präfektenzeit. Herodes lässt die Anstifter und Aktiven hinrichten. Die Erbitterung darüber ist ein Motiv für die gewalttätigen Unruhen nach seinem Tod (Bell 2,4ff). Den Umschlag von symbolpo-

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Judentums ins römische Reich bei vorbehaltloser Respektierung seiner religiösen Sonderrolle durch die Römer. Dass diese Chance verspielt wurde, hat viele Ursachen, die wir nur flüchtig im Folgenden skizzieren können.

2. Überlegungen zu den Ursachen der Krise Generell gesprochen sind die Schwierigkeiten der Integration des Judentums in das Imperium Romanum darin begründet, dass die Widersprüche zwischen den religiösen Traditionen des Judentums und den sozialen Prozessen während der frühen Prinzipatszeit immer größer wurden. Die religiösen Traditionen waren in der vorherliegenden Geschichtsphase - aufgrund des erfolgreichen Makkabäeraufstands - revitalisiert worden. Angesichts neuer Probleme in der römisch-hellenistischen Zeit wurden sie nicht etwa „hermeneutisch" entschärft, sondern verschärften jene kognitiven Spannungen, die zu einer „anomischen Situation" führten. Das Problem wurde dabei vom Volk anders erlebt als von der Aristokratie.

2.1. Das Volk Von ihren eigenen Traditionen her besaßen Juden eine Land- und Besitztheologie, die schon immer in Spannung zu den realen Verhältnissen stand. Das Land gehörte Jahwe. Es war heiliges Land. Es war Israel zur Nutzung gegeben, und zwar so, dass jeder Israelit genug zur Erhaltung seiner Familie besaß. Das Ideal war, dass jeder unter seinem eigenen „Weinstock und Feigenbaum" saß - wie es IMakk 14,12 in einem Loblied auf Simon heißt. Diese religiöse Land- und Besitztheologie stand in Spannung zu zwei anderen Formen der Besitzlegitimation, die den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung trugen. Land wurde entweder aufgrund politischer Macht beansprucht - als speergewonnenes Land, das dem König gehörte; so sahen es die hellenistischen Herrscher. Oder sein Besitz wurde ökonomisch begründet: es war erworbenes Land, vrarde dann nicht als anvertrautes Gut zum Lebensunterhalt verstanden, sondern als Wirtschaftsobjekt.'*^ Sitz im Leben der alten jüdischen Land- und Besitztheologie waren die freien Kleinbauern. Ihre Zahl war in Israel im Unterschied zum umliegen-

litischer Provokation zum militanten Protest kann man femer am Ende der Präfektenzeit beobachten: Die Zerstörung eines Kaiseraltars in Jamnia ist Anlass fflr eine Krise, die in einem großen Blutbad geendet wäre, wenn es die Ermordung des Gaius Caligula im Januar 41 nicht verhindert hätte (vgl. Philo LegGai 199ff). " Vgl. D. A. Fiensy, The Social History of Palestine in the Herodlan Period, Lewiston u.a.: Mellen 1991.

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den Land immer etwas größer gewesen. Selbst Außenstehenden fiel das auf, wie der Bericht des Hekataios von Abdera ca. 300 v.Chr. über das Judentum zeigt (bei Diod Sic XL,3,7) Die Zahl der freien Kleinbauern, zu denen nach Hegesipp auch die Familie Jesu gehörte (vgl. Eus HistEccl 111,20,1-6), mochte geringer geworden sein. Aber diese Kleinbauern hatten als Träger und Adressat dieser religiösen Tradition ihr Gewicht - nicht zuletzt dadurch, dass auch die Pächter, Tagelöhner und (auf Zeit) versklavten Israeliten in solch einem freien Kleinbauemtum die ihnen von Gott zugedachte Rolle sahen. Für all diese Schichten - gewiss mehr als 90% der Bevölkerung - waren der Lebensunterhalt und die Steuern alles, was sie erwirtschafteten. Sie waren daher immer von Verschuldung bedroht. Die Steuerfrage war für sie eine Existenzfrage. Es gibt m.E. Indizien dafür, dass diese Steuerfrage in der uns interessierenden Zeit nicht zur Ruhe gekommen ist. Diese Indizien seien noch einmal in chronologischer Reihenfolge (und ein wenig ergänzt) zusammengestellt: - Die Steuerverweigerungskampagne des Judas Galilaios 6 n.Chr. hatte die israelitische Land- und Besitztheologie aktualisiert und verschärft. Gott gehört das Land. Daher sind die Juden nur ihm Abgaben schuldig. Steuern an den Kaiser können dann als Verstoß gegen das erste Gebot inteφretiert werden. Judas Galilaios fand mit seinen Argumenten Resonanz. - Circa 17 n.Chr. baten die Provinzen Syrien und Judäa Kaiser Tiberius um Reduktion der Steuern, da sie von den Lasten erschöpft seien (Tac Aim II, 42). Dieser Vorgang zeigt: Es gab nicht nur ideologisch hochgespielte SteuефгоЬ1ете, sondern reale Probleme, die in Syrien alle trafen - Juden wie Nicht-Juden. - In den 20er-Jahren muss sich Jesus von Nazareth mit der Steuerfrage auseinandersetzen. Die Diskussion um ihre Legitimität hält an. Und man darf schließen: Das zugrunde liegende Problem besteht weiter. - In der Caligulakrise 39/40 n.Chr. argumentiert die Aristokratie in Tiberias, die mit dem syrischen Legaten Petronius verhandelt: Wenn das protestierende Volk nicht bald nach Hause geschickt würde um seine landwirtschaftliche Arbeit auszuftihren, dann wöirden sie kein Geld fiir die Steuern erwirtschaften und die Räuberei werde zunehmen. Ein solches Argument setzt eine lange Erfahrung voraus. Es muss nicht ausführlich begründet werden. Für Josephus ist es in sich plausibel (vgl. Ant 18,274).''^ Man könnte noch einen weiteren Punlct anffihren: Als nach 44 n.Chr. (also nach dem Tod Agrippa I.) dessen ganzes Herrschaftsgebiet Teil der syrischen Provinz wird, wird auch Galiläa zum ersten Mal direkt von den Römern regiert. Zwei Söhne des Judas Galilaios treten damals auf und werden von dem Prokurator Tiberius Alexander gekreuzigt (Ant 20,102). Wir können nur vermuten: Sie vertreten dieselbe Botschaft wie ihr Vater und diese Botschaft war wieder aktuell geworden, weil wie im Jahre 6 n.Chr. Teile des jüdischen Landes zum ersten Mal die Steuern

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Fazit: Im Volk wurden die Steuern als Last empfiinden und gleichzeitig wurde nachhaltig ihre Legitimität in Frage gestellt. Zwischen der jüdischen Land- und Besitztheologie und den realen Verhältnissen taten sich große kognitive Dissonanzen auf. Das musste entweder die Orientierung an den überlieferten Traditionen und Werten verunsichern - oder zur Empörung über die Verhältnisse führen. Entscheidend ist bei all dem nicht das objektive Ausmaß der Belastung, sondern die subjektiv erfahrene Diskrepanz zwischen religiös fundierten Aspirationen und den tatsächlichen Verhältnissen. In solch eine Situation sprachen die Seligpreisungen hinein: Selig sind die Armen, denn ihnen gehört die Gottesherrschaft, d.h. sie werden einmal nicht mehr „arm" sein, was mehr als nur ökonomischen Mangel meint, sondern Ohnmacht sich gegen die Kränkung von Rechten durchsetzen zu können. In solch eine Situation hinein wurde gesagt: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben!

2.2. Die

Aristokratie

Ein unzufriedenes Volk, das in einer anomischen Situation lebt, kann lange unter Kontrolle gehalten werden, wenn die herrschende Klasse es mit einem „Mix" aus harter Repression und wohltätiger Bevormundung unterdrückt und sich in der Notwendigkeit und Legitimität ihres Vorgehens einig ist. Die Integrationskrise des Judentums ist m.E. ein Zeichen dafiir, dass die jüdische Aristokratie dazu nicht in der Lage war - was keinesfalls gegen sie spricht. Was aber war das Problem?"' Auch die Aristokratie erfiihr eine Diskrepanz zwischen der religiösen Tradition und ihrer eigenen sozialen Lage, freilich in anderer Weise als das einfache Volk. Für die Aristokratie hatte die religiöse Tradition zwei Seiten. Auf der einen Seite war sie die Grundlage all ihrer Privilegien, vor allem die Grundlage des Tempelkults. Die priesterliche Aristokratie hatte daher ein begründetes Interesse daran religiöse Traditionen aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite aber konnte die Aristokratie die religiöse Tradition als Hindernis erfahren. Sie verhinderte genau das, was fiir die Integration direkt an die Römer zahlen müssen. Für den Verfasser des Ik Doppelwerkes war vielleicht das Auftreten dieser Söhne des Judas Galilaios der eigentliche „Aufruhr". So könnte sich seine chronologische Fehlleistung erklären: Er nennt in Apg 5,36f zunächst Theudas, der ca. 44/45 n.Chr. auftrat (vgl. Ant 20,97f), danach erst Judas Galilaios, der schon ca. 6 n.Chr. wirkte. Nach Theudas traten in Wirklichkeit ca. 46/48 die beiden Söhne des Judas Galilaios, Jakobus und Simon, auf und wurden gekreuzigt (Ant 20,102). Lk lässt anstatt der Söhne den Vater auftreten. Die Verwechslung wäre verständlich, wenn es bei Vater und Söhnen immer um dasselbe Thema ging: die Steuerzahlung. Vgl. zum Folgenden vor allem M. Goodman, The Ruling Class of Judea. The Origins of the Jewish Revolt against Rome A.D. 66-70, Cambridge: Cambridge University Press 1987.

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aller Völker ins imperium romanum der entscheidende Punkt war: die Verwandlung von Provinzialaristokratien in eine Reichsaristokratie. Konkret geschah Integration u.a. durch Eintritt in die Militärlaufbahn. Provinziale dienten in den Auxiliartruppen. Mit dem Ende ihres Dienstes erhielten sie das römische Bürgerrecht. Oberschichtmitglieder aus den Provinzen konnten bis in die Kommandoebene aufsteigen und damit selbst Mitglied der imperialen Herrschaftselite werden. All das war gewiss ein über 200 Jahre hin sich erstreckender Prozess. Aber er begarm schon fhih mit der Einbeziehung einer Provinz in das römische Reich. Juden aber war dieser Weg der Integration von vornherein verschlossen. Aufgrund ihrer Religion - u.a. wegen ihrer Sabbatpflichten und der Ablehnung heidnischer Riten - kamen sie für den Militärdienst nicht in Frage. Es gehörte zu ihren Privilegien dazu nicht verpflichtet zu sein. Aber dies hatte auch einen Nachteil: Junge, ehrgeizige Juden konnten keine „Aspirationen" entwickeln, die ihre Interessen und die der römischen Herrscher unmittelbar zur Deckung brachten! Eine Ausnahme ist Tiberius Alexander, der Neffe Philos. Er brachte es in seiner Laufbahn bis zum Prokurator von Judäa und zum Präfekten von Ägypten - einer der begehrtesten Beamtenposten im römischen Reich, der auch Nicht-Senatoren zugänglich war. Aber diese Ausnahme bestätigt die Regel. Tiberius Alexander war ein Apostat. Nur die Abwendung von seiner jüdischen Religion ermöglichte seine Karriere. Die jüdische Aristokratie hatte daher von vornherein zwei in Spannung stehende Optionen: Einerseits Akkulturation an die hellenistisch-römische Welt um die sich dort bietenden Chancen zu nutzen. Die Herodäer und ihre Anhänger standen für diese Möglichkeit. Andererseits konnten sie sich als Bewahrer der jüdischen Traditionen verstehen um im eigenen Volk Rückhalt zu haben. Die verschiedenen Optionen koimten in Krisenzeiten zur Spaltung der Aristokratie fuhren. Im Konfliktfall konnte sich ein Teil der Aristokratie mit dem Volk verbünden, der andere aber mit den Römern. Das geschah 66 n.Chr., als ein Teil der jungen Aristokratie die Opfer für den Kaiser und die Steuerzahlung einstellte und sich mit einer breiter gewordenen Widerstandsbewegung verband. Damals brach der erste jüdische Krieg aus, der mit der Zerstörung des Tempels zu einer Katastrophe führte. Fazit: Weil die lokale Aristokratie im jüdischen Palästina aufgrund der jüdischen Religion weniger Chancen zur Integration in die römische Oberschicht hatte als vergleichbare Aristokratien in anderen Völkern, konnte sich die jüdische Aristokratie spalten und dadurch als Ordnungsmacht versagen. In dieser Situation wirkte Jesus von Nazareth, m. E. kein „marginaler Jude", sondern ein Jude, dessen Überzeugungen ebenso ins Zentrum des Judentums gehören wie sein Konflikt mit dem Tempel ins Zentrum des Juden-

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turns weist. Er verkündigte die Gottesherrschaft, die bald sich durchsetzende Macht des einen und einzigen Gottes, die verborgen schon in der Gegenwart wirksam war. Er legte dessen Thora in einer freien Weise aus, einerseits als Verschärfung ihrer ethischen Gebote, andererseits als (geringfügige und dennoch fur manche anstößige) Relativierung ritueller Gebote. Er tat Wunder, in denen das Heil schon in der Gegenwart begann. Er erzählte Gleichnisse, die nicht nur die Schriftgelehrten, sondern das ganze Volk verstanden. Er gab seinen Handlungen oft eine zeichenhafte Bedeutung und mischte sich mit ihnen in die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit ein. Wollte man ihn zwischen Aristokratie und Volk einordnen, so müsste man sagen, was aber hier nicht ausgeführt werden kann:'" Er formulierte viele Werte und Überzeugungen der Oberschicht so, dass sie für alle zugänglich wurden. Er gab kleinen Leuten das Bewusstsein eine Elite zu sein: das Salz der Erde und das Licht der Welt. Ohne die Krise des Judentums bei seiner Integration ins römische Reich kann dieser Jesus von Nazareth geschichtlich nicht verstanden werden. Es gibt viele Zusammenhänge zwischen dieser Krise und seinem Wirken. Umstritten wird bleiben, ob er ein Ausdruck dieser Krise war und sie verschärft hat - gab er doch Anlass dazu, dass sich nach seinem Tod die biblische Religion spaltete. Oder ob sein Wirken eine überzeugende Antwort auf diese Krise war, indem er eine neue Interpretation jüdischer Identität entwickelte und die Spannungen zwischen Juden und Heiden entschärfte. Charismatiker sind immer umstritten. Jesus war es von Anfang an. Schon die Zeitgenossen fragten: War in ihm die Macht des Satans wirksam oder die Macht Gottes? Diese Frage kann keine sozialgeschichtliche Analyse beantworten.

Vgl. G. Theißen, Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, NTS 35 (1989) 343360; in diesem Band: S, 135-151; ders., Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der synoptischen Überlieferung, in: Tro og historie, FS N. Hyldahl, Forum for bibelsk eksegese 7, Kabenhaven: Museum Tusculanums Forlag 1996, 224-245; in diesem Band: S. 111-131.

III. DER ESCHATOLOGISCHE JESUS

Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung' Wie viel Motivation zum Handeln und Hoffen liegt darin, wenn eine Generation sich sagen kann: Mit uns beginnt die neue Welt! Die Weltgeschichte hat auf diesen Augenblick gewartet! Selig sind die Augen und Ohren, die sehen und hören, was ihr seht und hört! „Umbruchs- und Aufbruchsbewegungen" dieser Art begegnen in der ganzen Religionsgeschichte, die meisten von ihnen jedoch im christlichen Umfeld? Das Christentum selbst ging aus solch einer Aufbruchsbewegung hervor, die seit einiger Zeit mit „millenaristischen Bewegungen" in anderen Kulturen verglichen wird.^ Gemeinsamkeiten sind: 1. Ein Konflikt zwischen zwei Kulturen, von denen eine politisch überlegen ist. Die mit der neuen Kultur sich verbreitenden Lebenschancen sind fiir die Unterworfenen in höchst ungleichem Maße zugänglich. ' Dieser Aufsatz basiert auf einem Referat, das auf dem Treffen der Theologischen Fakultäten Straßburg und Heidelberg in Straßburg am 24.10.1998 gehalten wurde. Er erschien in der Zeitschrift Evangelische Theologie 59 (1999) 402-415 und wurde für diese Aufsatzsammlung überarbeitet und stark erweitert, insbesondere um die Abschnitte 2. und 5. ^ K. Burridge, Art. Messias/Messianische Bewegungen IV. Neuzeit, TRE 22 (1992) 635-638, dort S. 635: „Die Uberwiegende Mehrheit, möglicherweise bis zu 90%, der Bewegungen des Messianismus oder des Milleniarismus sind in einem christlichen Umfeld entstanden." Zwei Schreibweisen kursieren im Englischen: millenarism und millenarianism als Substantive, millennial und millenarian als Adjektive. Nach S. Thrupp (Hg.), Millennial Dreams in Action. Essays in Comparative Study, CSSH.S 2, The Hague: Mouton 1962, 11-27, ist „millenarian" der aus dem 17. Jahrhundert stammende Begriff (S. 11). ' Die ersten Deutungen des Urchristentums als millenaristische Bewegung stammen von J. G. Gager, Kingdom and Community. The Social World of Early Christianity, Englewood Cliffs: Prentice Hall 1975, 19-65. Übersetzt ins Deutsche als: Das Ende der Zeit und die Entstehung von Gemeinschaften, in: W. A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums. Ausgewählte Beiträge zum fHihchristlichen Gemeinschaftsleben in seiner gesellschaftlichen Umwelt, ThB 62, München: Kaiser 1979, 88-130, und S. R. Isenberg, Millenarism in Greco-Roman Palestine, Religion 4 (1974) 26-46. Eine umfassende Deutung der Verkündigung Jesu legte D. C. Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis: Fortress Press 1998, als eine Alternative zu deren „nicht-eschatologischen" Inteφretation vor. Mein Aufsatz entstand ohne Kenntnis dieses grundlegenden Buches. Das millenaristische Iπteφretationsmodell wurde auch auf Paulus und seine Gemeinden angewandt von W. A. Meeks, Social Functions of Apocalyptic Language in Pauline Christianity, in D. Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Proceedings of the International Colloquium on Apocalypticism Uppsala, August 12-17, 1979, 1983, 687-705, und R. Jewett, The Thessalonian Correspondence: Pauline Rhetoric and Millenarian Piety, Philadelphia: Fortress Press 1986. Eine kritische Würdigung dieser Versuche findet sich bei B. Holmberg, Sociology and the New Testament. An Appraisal, Minneapolis: Fortress Press 1990, 77-117.

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Der eschatologische Jesus

2. Eine Revitalisierung einheimischer Traditionen und Riten - oft in Verbindung mit Elementen der überlegenen Kultur, die aber als „Beiträge der eignen Kultur" beansprucht werden. Millenaristische Bewegungen entstehen dabei meist in Kulturen, die eine Hoffhung auf einen grundlegenden Wandel der Dinge kennen.'* 3. Die Dominanz eines charismatischen Führers, der sich auf übernatürliche Offenbarung beruft oder durch außemormale Fähigkeiten Loyalität beansprucht. Im Folgenden soll die Einordnung des Urchristentums unter die „millenaristischen Bewegungen" йЬефгйп werden. Wir beginnen (1.) mit einem Überblick über die verschiedenen Begriffe, die das Urchristentum, spätere Reformbewegungen in der Kirche und prophetische Bewegungen in der Dritten Welt als millenaristische Bewegungen charakterisieren, sowie (2.) über typische Merkmale, die man bei diesen Bewegungen finden kann. In einem dritten Teil (3.) sollen einige millenaristische Bewegungen vorgestellt werden - einerseits drei neuzeitliche Bewegungen in der Dritten Welt, andererseits die Jesusbewegung im antiken Palästina. Danach sollen (4.) beide Phänomene mit Hilfe sozialanthropologischer Forschung^ verglichen werden um zu prüfen, ob ihr Vergleich einen Erkenntnisgewinn bringt oder nicht. Am Ende kehren wir dann (5.) zu der Frage zurück: War Jesus ein millenaristischer Prophet?

1. Begriffe fur Umbruchsbewegungen und die Bedeutung von „Millenarismus" Einige Begriffe stammen aus der biblischen Tradition, andere wurden im Blick auf andere Kulturen geprägt. Wir besprechen zunächst die „biblischen", dann die „ethnologischen" Begriffe. Vgl. N. Cohn, Medieval Millenarism: Its Bearing on the Comparative Study of Millenarian Movements, in: S. Thrupp (Hg.), Millennial Dreams in Action (s.o. Anm. 2), 31-43: „Many traditional religious world-views include a promise of a fiiture age of bliss to be enjoyed by the faithful. This traditional promise provides the indispensable basis for a millenarian faith. It seems that in societies - such as that of ancient Greece - where the religious world-view has no place for such a fantasy, millenarism cannot develop." (S. 42). ' Aufschlussreich ist freilich, dass Exegeten, welche die Einführung sozialanthropologischer Erkenntnisse in die Erforschung des Urchristentums zum Programm erhoben haben, die millenaristische Deutung der Jesusbewegung und des Urchristentums kaum diskutieren. Vgl. B. J. Malina, Christian Origins and Cultural Anthropology. Practical Models for Biblical Inteφretation, Atlanta: John Knox Press 1986, der das Phänomen S. 64 und 126 nur im Vorübergehen berührt. Dasselbe gilt für J. D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of A Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh: Τ & Τ Clark 1991, zu dessen „nicht-eschatologischem" Jesusbild „millenaristische Aspekte" der Verkündigung Jesu nicht passen würden.

Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung

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1.1. Biblische Begriffe für „millenar istische Bewegungen: Die biblisch geprägten Begriffe stammen oft nicht direkt aus der Bibel, aber sind im Umgang mit ihr entstanden. Sie greifen biblische Phänomene wie die Umkehrforderung, die Messiaserwartung, die Prophetic und die Erwartung eines 1000jährigen Reiches auf: Umkehrbewegungen: Seit der Makkabäerzeit beobachten wir im Judentum eine Reihe von Emeuerungsbewegungen. Angesichts der drohenden Assimilierung des Judentums an die pagane hellenistische Welt betonen sie die Thora, fordern Umkehr zu ihr, die Verschärfung einzelner Gebote und Gesetzesgehorsam. Häufig werden dabei rituelle Traditionen (wie Beschneidung und Speisegebote) als identity marker aufgewertet. Oder es werden zusätzliche Riten (Waschungen und die Taufe) eingeführt. Ältere Emeuerungsbewegungen aus hellenistischer Zeit sind die Essener und Pharisäer. Jüngere Emeuerungsbewegungen aus römischer Zeit sind die Bewegungen um Judas Galilaios, Johannes den Täufer und Jesus von Nazareth. Messianismus oder messianische Bewegung: In den jüdischen Emeuerungsbewegungen ist oft die Erwartung einer erlösenden Wende lebendig. Manchmal soll ein „Messias" das Volk von der Fremdherrschaft befreien so in PsSal 17. In einem übertragenen Sinne kann auch die Befreiung von der Fremdherrschaft böser Mächte überhaupt, der Sünde und des Todes, verheißen werden. Prototyp einer solchen messianischen Bewegung ist das Urchristentum. Prophetische Bewegung: Im Zentrum der meisten dieser Bewegungen steht eine charismatische Gestalt, die sich auf außemormale Offenbarung (Träume, Trance, Ekstase) beruft. Seine Anhänger stehen zu ihr im Verhältnis einer Gefolgschaft. Der prophetische Charismatiker muss nicht mit dem „Messias" identisch sein. Oft kündigt er ihn nur an. Eine Messiasverkündigung kann aber auch fehlen. Der Begriff „prophetisch" stammt von den alttestamentlichen Propheten. Prototyp sind Propheten, die Schulen und Anhänger um sich sammelten (Elia und Elisa). Millenarismus (oder griech.: Chiliasmus): Er erwartet ein lOOOjähriges Reich des Messias, das (auch wenn es länger oder kürzer dauert) zeitlich begrenzt ist. Es ist nicht die letzte Stufe der Erlösung, sondem deren irdische Vorstufe. In diesem Messiasreich herrschen auserwählte Getreue zusammen mit dem Messias. Grundmodell ist die Apk - die Erwartung eines Reiches des Christus, der zusammen mit den auferstandenen Märtyrem 1000 Jahre regieren wird, während der Satan gefesselt ist. Erst nach einer zweiten Auferstehung aller kommt die Endzeit ewigen Heils. Im Begriff des Millenarismus oder Chiliasmus schwingen also mehrere Elemente mit:

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Der eschatologische Jesus 1. Die Chronometrie der „tausend Jahre" des Messiasreiches. 2. Die Erwartung eines Übergangsreiches. 3. Der „Materialismus" dieses Messiasreiches. 4. Der „Synergismus" der Auserwählten als Symbasileia mit dem Messias.®

Namengebend für den „Millenarismus" oder „Chiliasmus" ist Apk 20. Prototypen des Chiliasmus sind die Johannesapokalpyse, Papias, Kerinth, die Montanisten.

1.2. Ethnologische Begriffe für prophetische

Bewegungen

Allen ethnologischen Begriffen ist gemeinsam, dass sie die Auseinandersetzung zwischen einer imperialen Kultur und einer Eingeborenenkultur voraussetzen. Sie sind in diesem Kontext geprägt worden - und sind daher selbst ein Teil jenes Kulturkontakts, den sie untersuchen wollen. Revitalisierungsbewegung: Angesichts der Herausforderung durch die imperiale Kultur (der Europäer) werden einheimische Traditionen „revitalisiert".^ Solche Revitalisierungsbemühungen können sich gegen die „untreuen" Vertreter der eigenen Kultur wenden. So ist die Geistertanzbewegung der nordamerikanischen Indianer im letzten Viertel des 19. Jh. davon überzeugt, nur diejenigen würden den Weltuntergang überleben, die zu den traditionellen Lebensformen zurückkehren würden und an den Kulttänzen teilgenommen hätten. Die Neubelebung von lüten spielt oft eine wichtige Rolle in solchen Bewegungen.^ Nativismus: Dieser Begriff (von lat. nativus = geboren) betont, dass es um die Kultur der „Eingeborenen" und den Gegensatz zu den Fremden geht. Die Ethnologie bezeichnet damit Bewegungen, die das Ziel haben „angesichts der Zerstörung ihrer Kultur an eigenen Werten festzuhalten bzw. auf

' In der neuzeitlichen Kirchengeschichte unterscheidet man zwischen Prämillenarismus und Postmillenarismus, je nachdem ob die Wiederkunft Christi vor oder nach dem 1000jährigen Reich erwartet wird. Der Prämillenarismus ist nicht aktivistisch. Man vertraut auf das Eingreifen göttlicher Macht um das gegenwärtige Übel zu überwinden. Der Postmillenarismus kann menschlicher Aktivität mehr zutrauen. Über den Unterschied zwischen Prä- und Postmillenarismus vgl. R. Bauckham, Art. Chiliasmus IV. Reformation und Neuzeit, TRE 7 (1981) 737-745. ' Vgl. A. F. C. Wallace, Revitalization Movements, AmA 58 (1956) 264-281= C. A. Schmitz (Hg.), Religionsethnologie, Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft 1964,404-427. ' Vor allem K. Burridge, New Heaven New Earth. A Study of Millenarian Activities, Oxford: Blackwell 1969, inteφret¡erte solche Erneuerungsbewegungen als Bewegungen, welche die transformierende Kraft von Übergangsriten haben. So wie diese den Übergang zwischen Lebensstadien durch den Dreischritt von „alten Regeln" - „keinen Regeln" - „neuen Regeln" strukturierten, so diese Millenniumsbewegungen den Übergang zu einer neuen Welt: „... a millenarian movement is a special kind of transition process. ... In envisaging a quite new set of rules it recapitulates the process whereby an animal crossed the threshold to become man, and through which one sort of man becomes a new sort of man" (S. 166).

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sie zurückzugreifen und fremde Kultureinflüsse zurückzudrängen".' Wobei die eigene Kultur Elemente der fremden Kultur im Glauben übernimmt,'" sie gehörten zur eigenen Kultur. Nativistische Bewegungen in Afrika können sagen, Jesus sei ein Schwarzer gewesen. Prophetismus: Der Begriff des „Prophetismus" wurde u. a. von G. Guariglia für charismatische Umbruchsbewegungen in der Religionsgeschichte geprägt. Dieser Begriff betont, dass Gestalten mit prophetischem Anspruch eine „unersetzbare Rolle" in fast allen Umbruchsbewegungen spielen.' Heilsbewegmgen und Cargo-Kulte: Spricht man von Heilsbewegungen, so liegt der Akzent auf der Erwartung eines Zustandes, in dem die gegenwärtigen Nöte überwunden sind. Eine vor allem fiir Neuguinea und Polynesien bezeugte Variante sind die sogenannten Cargo-Kulte.'^ Im Zentrum steht die Erwartung eines Schiffs mit einer Ladung {cargo: engl. Frachtgut, Schiffsladung) mit Gütern wie Nahrungsmitteln in Dosen, Stahlgeräten, ' B. Luchesi, Art. Nativismus, HR WG 4 (1998) 219-221, dort S. 219. Grundlegend ist R. Linton, Nativistic Movements, AmA 45 (1943) 230-240 = C. A. Schmitz (Hg.), Religionsethnologie, Frankfiirt 1964, 390-403. Nach seiner Definition ist eine nativistische Bewegung ,jeder bewußte, organisierte Versuch seitens der Mitglieder einer Gesellschaft, ausgewählte Aspekte ihrer Kultur wiederzubeleben oder zu verewigen." (390). Zur Kritik an dieser Definition siehe die folgende Anmerkung. Besonders W. E. MUhlmann, Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Studien zur Soziologie der Revolution 1, Berlin: Reimer 1961, 9-12, kritisiert R. Lintons Definition von Nativismus (s.o. Anm. 9). Er betont, dass in solchen Bewegungen auch Elemente der fremden Kultur aufgegriffen werden - jedoch als eigener Beitrag verstanden werden. Er gelangt so zu folgender Definition: „Wir verstehen also Nativismus als einen kollektiven Aktionsablauf, der von dem Drang gelragen ist, ein durch überlegene Fremdkultur erschüttertes Gruppen-Selbstgefühl wiederherzustellen durch massives Demonstrieren eines „eigenen Beitrages". Das „Eigene" ... liegt... nicht notwendig in dem Festhaltenwollen an traditionellen Kulturelementen, es kann sogar in der Behauptung liegen, das (wie wir Ethnographen wissen) Übernommene sei in Wahrheit das Eigene" (S. llf). Die kursiv gesetzten Wörter sind im Original gesperrt. " 0 . Guariglia, Prophetismus und Heilserwartungsbewegungen als völkerkundliches und religionsgeschichtliches Problem, WBKL 13, Hom/Wien: Berger 1959, 275. Auch V. Lanternari, Religiöse Freiheits- und Heilsbewegungen unterdrückter Völker, Soziologische Texte 33, Neuwied u.a.: Luchterhand 1966 (Übersetzung der italienische Originalausgabe: Movimenti religiosi di libertà e di salvezza di popoli oppressi, Milano 1960), benutzt den Begriff „prophetische Bewegung" oder „Prophetenkult" synonym mit anderen Begriffen. „Die prophetischen, messianischen, chiliastischen Bewegungen, mit denen wir uns in diesem Buch in bezug auf die ethnologische Welt beschäftigen, können wir in ihrem Wert, ihrer Bedeutung und Funktion gar nicht verstehen, ohne sie mit den prophetischen, chiliastischen und Heilsbewegungen der antiken und modernen Zivilisationen zu vergleichen" (S. 24). Er betont: „Für die Religionsgeschichte gibt es keine Tabus. Christentum, Mormonenreligion, Lazarettismus gehören der Religionsgeschichte an, unter dem gleichen Titel wie der Matsua-Kult im Kongo, der Cargo-Kuh in Melanesien, der amerikanische Peyotismus" (S. 24). So V. Lanternari, Freiheits- und Heilsbewegungen (s.o. Anm. 11). Der von G. Guariglia (s.o. Anm. 11) benutzte Begriff „Heilserwartungs-Bewegungen" steht dem nahe. Vgl. besonders P. Worsley, The Trumpet Shall Sound. A Study of „Cargo" Cults in Melanesia, London: Macgibbon & Kee 1957.

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Geld und Waffen, die die Ahnen Шг die Kultanhänger angefertigt haben. Die Hoffnung an den materiellen „Errungenschaften" der Weißen teilzunehme, prägt diese Kulte ebenso wie der Anspruch grundsätzlich gleichberechtigt zu sein. Wir können nun die beiden Gruppen von Bezeichnungen für „Umbruchsbewegungen" nebeneinanderstellen:

Neubelebung der eigenen Kultur und Tradition

biblische Begriffe

ethnologische Begriffe

Umkehrbewegungen, Erneuerungsbewegungen

Revitalisierungsbewegungen

Der Gegensatz zu den über- Messianismus legenen Fremdkulturen

Nativismus

Charismatische Gestalten als Gründer und Führer

Prophetische Bewegungen

Prophetismus Prophetenkult

Materielle und diesseitige Heiiserwartung

Chiliasmus

Heilsbewegungen Cargo-Kulte

Die Übersicht zeigt: Die biblischen und die ethnologisch geprägten Begriffe heben jeweils vergleichbare Aspekte hervor. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Vergleich zwischen der biblisch geprägten Jesusbewegung mit den millenaristischen Bewegungen nicht von vornherein aussichtslos sein muss. Die Übersicht zeigt aber auch, wie verwirrend die Semantik solcher Umbruchsbewegungen ist. Das gilt insbesondere für den Begriff des Millenarismus. Prototyp ist die Johannes-Apokalypse. Die Erwartung eines 1000jährigen Reiches des Messias ist hier eingebettet in eine Fülle von „chronometrischen" Endzeitvisionen. Die Endzeitereignisse sind wie die Kapitel eines gut geschriebenen Buches in Sequenzen strukturiert. Die Weltgeschichte wird selbst in ihren Katastrophen zum lesbaren Text. Die Ethnologen, Missionare und Kolonialbeamten, die auf Umbrachsbewegungen in der „Dritten Weh" stießen, beschrieben sie mit Kategorien ihrer biblischen Tradition. Der Begriff des Millenarismus verlor dabei seinen prägnanten Sinn. In der Regel verschwanden zwei Merkmale: 1. Die chronometrische Erwartung eines 1000jährigen Reichs: Die millenaristischen Bewegungen vertreten einen „Millenarismus" ohne „Millermium".'"* Niemand wird über diese Begriffsverwirrung glücklich sein. " Vgl. S. Thrupp (Hg.), Millennial Dreams (s.o. Anm. 2); „ To the purist, the millennium can properly refer only to the fixed period of 1000 years that is found in the Judaic-Christian tradition. In our perspective, however, the term may be applied figuratively to any conception of a perfect age to come, or of a perfect land to be made accessible." (S. 12). Für diese Begriffsverwirrung darf

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2. Der vorläufige Charakter des 1000jährigen Reichs: Der in den millenaristischen Bewegungen erwartete Heilszustand gilt nicht mehr als ein Übergangszustand. Er ist selbst die Vollendung.'' Nachdem man die neuen Bewegungen „chiliastisch" oder „millenaristisch" genannt hatte, wurde auch das Urchristentum oder Teile von ihm „chiliastisch" genannt. Der Begriff „Millenarismus" umfasst nun neben der Johannesapokalypse auch die Jesusbewegung und das paulinische Christentum - also Formen des Urchristentums, denen die Erwartung eines 1000jährigen Reiches fremd ist. Aber gerade diese doppelte Ausweitung des Begriffs „Millenarismus" macht den Vergleich zwischen der Jesusbewegung und den „millenaristischen Emeuerungsbewegungen" sinnvoll. Denn die oben monierte Begriffsverwirrung ist hier unschädlich: Weder Jesus noch die mit ihm verglichenen Bewegungen erwarten ein lOOOjäriges Reich oder unterscheiden in ihren Zukunftserwartungen eine vorläufige Heilserfiillung vom endgültigen Heil. Unabhängig von einer „tausendjährigen Erwartung" gibt es genug Analogien.

2. Vergleichbare Merkmale der (ethnologisch untersuchten) millenaristischen Bewegungen und der (biblischen) Jesusbewegung Die Jesusbewegung revitalisiert die jüdische Religion. Jesu Predigt von der Königsherrschaft Gottes ist ein mythisch dramatisierter jüdischer Mono-

man freilich nicht die amerikanischen Ethnologen verantwortlich machen. Sie findet sich schon bei dem bedeutenden deutschen Soziologen K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Schriften zur Philosophie und Soziologie 3, Bonn: Cohen 1929; Frankfurt: Schulte-Bulmke M952, 184-191. Chiliasmus ist für ihn ein Synonym fiir einen bestimmten Typ utopischer Heilserwartung - ganz unabhängig von der Erwartung eines tausendjährigen Reiches. Diese Ausweitung des Chiliasmusbegriffs begegnet schon in der ungedruckten Dissertation von L. Radvanyi, Der Chiliasmus. Ein Versuch zur Erkenntnis der chiliastischen Idee und des chiliastischen Bevnißtseins, Diss. Heidelberg 1923, auf die sich K. Marmheim bezieht. Die begriffliche Konfusion wird nur selten reflektiert. So bringt W. E. Mühlmann den Begriff „Chiliasmus" im Titel seines Buches (s.o. Anm. 10), widmet dem „Tausendjährigen Reich" sogar einen eigenen Abschnitt (S. 300-304), aber äußert sich nicht zur Zahl der 1000 Jahre: Das 1000jährige Reich ist hier ein Synonym für materielle Heilserwartungen. " G. Sheperson, The Comparative Study of Millenarian Movements, in: S. Thrupp (Hg.), Millennial Dreams (s.o. Anm. 2), 44-52, fuhrt das auf die Schwierigkeiten bei der Übertragung von jüdisch-christlichen Begriffen auf ganz andere Bereiche zurück: „Outstanding here is the tendency to use the term .millenium' to refer to the final state of society in which all conflicts are resolved and all injustices removed after a preliminary period of purging and transformation. In reality, of course, the traditional concept of the Millenium has a transitional rather than a final character." (S. 44).

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theismus: Der eine und einzige Gott wird sich bald gegen Satan und die Dämonen durchsetzen. Auch nativistische Züge sind vorhanden. Das Spannungsfeld zwischen Römern und Juden in Palästina prägt das Auftreten Jesu. Er stirbt als „König der Juden" - d.h. als Königsprätendent, der eine einheimische Herrschaft errichten wollte (Mk 15,26). Züge einer prophetischen Bewegung sind unbestreitbar: Jesus wird für einen Propheten gehalten (Mk 6,15; 8,28; Lk 24,19). Seine Botschaft von einer Wende aller Dinge ist prophetisch. Die Jesusbewegung ist eine Heilsbewegung. Jesus verheißt materielle Gaben, wenn er die Hungrigen selig preist, weil sie satt werden sollen (Lk 6,21). In der Apk spielt materieller Wohlstand eine große Rolle! Dieser vorläufige Vergleich lässt sich ergänzen und noch genauer durchftihren. Die diskutierten Gesamtbezeichnungen machen jeweils ein wesentliches Merkmal zum Leitbegriff Man kann aber auch unabhängig davon die Merkmale zusammen stellen, die man bei den meisten dieser millenaristischen Bewegungen findet. So nennt D. C. Allison 19 Merkmale.'® Sie lassen sich m.E. in drei Gruppen zusammenfassen: Merkmale, die sich auf die Geschichte dieser Bewegung, die Erwartung einer sich verändernden Welt und auf veränderte Verhaltensweisen ihrer Anhänger beziehen: Grundaussagen zu ihrer Geschichte, Eschatologie und Ethik.

2.1. Zur Geschichte

millenaristischer

Bewegungen

- Es herrscht eine Situation sozialen Wandels, der die Lebensweise und die symbolische Welt einer Gemeinschaft bedroht, die oft nach nationaler Unabhängigkeit strebt. All das trifft für das palästinische Judentum zur Zeit Jesu zu: Die Herrschaft der Römer widersprach den tradierten Hoffnungen auf Unabhängigkeit, Widerstand gegen die römische Herrschaft war die Folge." Jesus wird mit dieser Problematik konfrontiert, er muss zu Steuerverweigerung als einer Form von Widerstand Stellung nehmen, legt sich aber nicht fest (Mk 12,13-17). Mit dem Einbrechen der Gottesherrschaft aber wird natürlich jede andere Herrschaft ein Ende haben, auch die der Römer! - Ein charismatischer Führer tritt mit einer eschatologischen Botschaft auf, der von seinen Anhängern unbedingte Loyalität und Bindung verlangt: So " D. C. Allison, Jesus of Nazareth (s.o. Anm. 3), zusammenfassend 61-64; ausführlich 78-94. Es finden sich dort zahlreiche Hinweise auf die ethnologische und sozialwissenschaftliche Literatur, die ich hier nicht wiederhole. " Vgl. G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, TEH 194, München: Kaiser 1977 "1985 = KT 35, Gütersloh: Kaiser 'l997, 57ff.

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auch bei der Jesusbewegung: Jesus tritt in Galiläa auf, ruft Menschen in seine Nachfolge. Deren Bindung an ihn stellt er über die Pietät gegenüber der Familie (Lk 9,59f). - Er beruft sich zur Legitimierung seiner Überzeugungen auf Offenbarungen und vermittelt das Heil durch neue Kanäle, unabhängig von den bestehenden Institutionen: Jesus lehrt anders als die Schriftgelehrten und gerät in Spannung mit traditionellen Institutionen wie Sabbat und Tempel. Heil vermittelt er auf eine unmittelbare Weise: Er spricht unabhängig vom Tem1g pel Sündenvergebung zu (Mk 2,1-12). - Oft ist seine Bewegung aus einer Vorläuferbewegung entstanden: Die Jesusbewegung ging aus der Täuferbewegung hervor. Für Jesus war der Täufer eine entscheidende Wende in der Geschichte (Mt 1 l,12f/Lk 16,16). - Die Bewegung muss enttäuschte Erwartungen neu interpretieren, weil das erwartete Ende ausbleibt: Wahrscheinlich musste schon Jesus eine enttäuschte Naherwartung des Täufers neu ίnteφretieren (Lk 13,6-9), spätestens aber mussten seine Anhänger das Ausbleiben der Königsherrschaft Gottes bewältigen." 2.2. Zur Eschatologie millenaristischer Bewegungen: - In naher Zukunft aber wird eine Umkehr aller Dinge zum Besseren erwartet, eine umfassende Erlösung: Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht die Verkündigung der Gottesherrschaft, die ftir die Armen und Hungernden eine Wende zum Guten sein wird (Lk 6,20-22). - Die Gegenwart und nahe Zukunft wird als eine Zeit des Leidens und/oder der Katastrophe erlebt und gedeutet: Jesus rechnet damit, dass in der letzten Zeit Familien durch einen inneren „Krieg" zugrunde gehen (Lk 12,51-53). In dieser Zeit geht es darum Leben zu verlieren und zu gewinnen (Mk 8,35). - Die Welt wird in zwei Lager eingeteilt: die Geretteten und die Verdammten. Auch wenn es immer wieder bestritten wird, hat Jesus eine Gerichts" „Unmittelbarkeit" wurde vor allem von G. Bomkamm, Jesus von Nazareth, Stuttgart: Kohlhammer 1956, 52 U.Ö., als ein wesentliches Merkmal des Auftretens Jesu herausgearbeitet. J. D. Crossan machte diese Unmittelbarkeit in neuer Weise zur Grundlage seiner Jesusdarstellung gemacht. Vgl. seine Überlegungen J. D. Crossan, Divine Immediacy and Human Immediacy. Towards a New First Principle in Historical Jesus Research, Semeia 44 (1988) 121-140; Ders., The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh: Τ & Τ Clark 1991. Weder in dem Aufsatz noch im Buch findet sich ein Hinweis auf G. Bomkamm! Es gibt manchmal mehr sachliche Verbindungen zwischen Vertretern der „new quest" und der „third quest" nach Jesus als die scharfe Abgrenzung mancher Vertreter der neueren Jesusforschung erkennen lässt. " Vgl. G. Theißen/A. Merz, Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus, in diesem Band S. 229-253.

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predigt vertreten: Nicht alle werden in die Gottesherrschaft kommen. Die Trennung zwischen den Erlösten und Unerlösten wird mitten durch die Häuser und Familien gehen (Lk 17,34f)?'' - Die Zukunft bringt eine paradiesische Zeit zurück mit einer Rückkehr der Ahnen: Sie kehren zurück aus dem Reich der Toten: Auch Jesus erwartet die Auferstehung der Toten. In der Gottesherrschaft werden alle mit den Stanmivätem Israels zu Tische liegen (Lk 13,28f). Die Toten werden auferstehen (Mk 12,18-27). - Aber auch in der Gegenwart gibt es die Möglichkeit diese Zukunft schon vorweg zu erfahren: Selig sind daher die, die in der Gegenwart sehen, was vergangene Generationen nicht sehen konnten (Lk 10,23f). Jetzt ist Freudenzeit, in der man nicht fasten kann (Mk 2,18f). 2.3. Zur Ethik millenaristischer Bewegungen - Die Bewegung belebt ein traditionelles Ethos wieder neu: Es geht ein revitalisierender und evangelistischer Impuls durch die Gemeinschaft - verbunden mit nativistischer Abgrenzung gegenüber den Fremden: Jesus interpretiert zentrale Thoragebote neu (Mt 5,21f27f), stellt das doppelte Liebesgebot ins Zentrum (Mk 12,28-34). Eine aggressive Tendenz gegen die Fremden aber fehlt bei ihm! - Traditionelle familiäre und soziale Bindungen werden durch fiktive Verwandtschaftsbindungen ersetzt. Dabei können egalitäre Tendenzen entstehen: Jesus sammelt um sich einen ICreis von Anhängern, die er als seine Familie betrachtet, als familia dei (Mk 3,31-35).^' - Traditionelle sakrosankte Tabus werden gebrochen: Jesus verletzt gelegentlich Sabbatnormen (Mk 2,23-28; 3,1-6). Er kritisiert den Tempel (Mk 11,15-17). Die Reinheitsgesetze hebt er nicht auf, erklärt aber ihre Grundlage för überholt: Es gibt an sich keine reinen und unreinen Speisen (Mk 7,15). - In der Politik wird eine passive Haltung eingenommen, weil Erlösung durch göttliches Eingreifen erwartet wird. Es bedarf keines Kommentars, dass wir fiir die meisten aufgelisteten Züge Parallelen bei Jesus und seiner Bewegung finden. Wenn man festhält, dass in einer millenaristischen Bewegung nicht alle aufgelisteten Merkmale Vgl. u.a. Werner Zager, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verlcündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallellen, BZNW 82, Berlin: de Gruyter 1996. Vgl. T. Roh, Die familia dei in den synoptischen Evangelien. Eine redaktions- und sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld, NTOA 37, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 2001.

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realisiert sein müssen, dann kann man sagen: Die Jesusbewegung war millenaristisch! Festzuhalten ist: Nicht alle sind politisch passiv, nicht alle entwickeln egalitäre Tendenzen. Aber einige Merkmale sind überall vorhanden, vor allem die Erwartungen einer großen Wende zum Heil und die zentrale Stellung eines charismatischen Propheten. Ist Jesus deswegen ein millenaristischer Prophet? Liegt im Millenarismus der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Dynamik von Jesusbewegung und Urchristentum?^^ Wir haben schon auf einige „kleine" Unterschiede zwischen Jesusbewegung und vielen millenaristischen Bewegungen hingewiesen. Aber sind sie relevant? Wir werden am Ende darauf zurückkommen. Doch der vorläufige Vergleich rechtfertigt es einige Beispiele „millenaristischer Bewegungen" näher anzuschauen, um die Jesusbewegung von ihnen her erhellen zu können.

3. Millenaristische Bewegungen und die Jesusbewegung in Kurzbeschreibungen : Der Kimbanguismus^^ in Zentralafrika: Simon Kimbangu gehörte der baptistischen Kirche an. Im Jahre 1921 erhielt er in Visionen und Träumen den Befehl Krankenheilungen zu vollziehen, was er erst nach innerem Widerstreben tat. Sein Heilcharisma gab ihm auch als Prediger einen großen Einfluss. Zentraler Inhalt seiner Predigt war die Hinwendung zum Monotheismus durch Abkehr von den einheimischen Fetischen sowie die Veφflichtung auf strenge Monogamie anstelle von Polygamie. Er wirkte nur von März bis November 1921, wurde inhaftiert, zum Tode verurteilt, jedoch zu lebenslänglicher Haft begnadigt und starb 1951 nach 30jähriger Haft im Gefängnis von Elisabethville. Seine Anhänger sahen in ihm schon bald einen Messias der Schwarzen, in dessen Passion sich das Leiden Jesu wiederholte und erwarteten seine Parusie aus der Luft. Das zweite Beispiel führt uns nach Polynesien: Die Tukabewegung^'* ergriff 1873 die Fidschi-Inseln zu einem Zeitpunkt, als die Inseln fast voll" In einer seiner letzten Veröffentlichungen hat F. Stolz, Das Urchristentum - die Außenansicht eines Insiders. Zu Gerd Theißens .Theorie des Urchristentums', EvTh 61 (2001) 476-480, zur ersten Fassung dieses Aufsatzes und zu meinem Buch: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh: Kaiser 2000, ^2002 kritisch Stellung genommen. Er meint, dass ich das Erklärungspotential des millenaristischen Modells noch nicht ausgeschöpft habe. Zum Kimbanguismus vgl. V. Lanternari, Freiheits- und Heilsbewegungen (s.o. Aran. 11), 4 2 - 4 5 ; G. Guariglia, Prophetismus (s.o. Anm. 11), 225f; G. Lanczkowski, Die neuen Religionen, Frankfurt: Fischer 1974, I I 9 f ; H. J. Marguli, Aufbruch zur Zukunft. Chiliastisch-messianische Bewegungen in Afrika und Südostasien, M W F 1, Gütersloh: Mohn 1962, 51-57. Zur Tukabewegung vgl, W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus (s.o. Anm. 10), 167171; V. Lanternari, Freiheits- und Heilsbewegungen (s.o. Anm. 11), 371-373; G. Guariglia, Pro-

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Ständig missioniert waren. Ein Charismatiker Ndungumoi trat als Prophet des alten einheimischen Hochgottes Ndengei auf und verkündigte, 2rwei Zwillinge, Neffen Ndengeis, seien nach der Sintflut in den Westen, ins Land der Weißen, gereist, von wo sie bald zurückkehren würden. Mit ihrer Ankunft würde die Welt total erneuert werden. Die Herrschaft der Weißen werde ein Ende haben, ihre zivilisatorischen Güter werden den Einheimischen im Überfluss zur Verfugung stehen. Die Namen der Zurückkehrenden gab er mit Jehova und Jesus an.^^ Als „Sakrament" diente eine mit Lebenswasser gefìillte Flasche, deren Inhalt Unsterblichkeit {tukä) verleihen sollte. Ndungumoi wurde verurteilt und starb in der Verbannung. Seine Anhänger glaubten nicht an seinen Tod, sondern behaupteten, dass er weiterlebe und in geheimnisvoller Verbindung mit ihnen stünde. Die Mambubewegung in Neuguinea^® aus dem Jahre 1937/8 ist ein typisches Beispiel för den melanesischen Waren-Kult (Cargo-Kult). Sie ist nach ihrem Propheten Mambu benannt, der ein getaufter Katholik war, aber in seiner Verkündigung den einheimischen Ahnenglauben neu formulierte: Es gebe zwei Gruppen von Ahnen. Die einen wohnten im Innern eines Vulkans in Ozeanien, die anderen im fernen Westen. Dort fertigten sie für ihre Nachkommen die wertvollsten Zivilisationsgüter an, die sie auf Schiffen nach Neuguinea schickten. Sie seien bisher nicht in den Besitz der Einheimischen gelangt, weil die Weißen die Waren bei ihrer Ankunft gestohlen hätten. Das werde bald anders werden. Die Ahnen würden überreiche Warenvorräte schicken. Deshalb könne man jetzt auf jede Arbeit verzichten, alle Vorräte aufzehren und brauche keine Steuern mehr zu zahlen. Letztere Aufforderung führte zur Verhaftimg und Exilierung Mambus. Aufschlussreich ist ein sakramentaler Ritus: Er vollzog an seinen Anhängern eine Taufe, nach der diese europäische Kleider anlegten. Setzen wir neben diese drei Kurzbeschreibungen modemer chiliastischer Bewegungen eine entsprechende Beschreibung der Jesusbewegung: Im 1. Jh. trat im Hinterland des jüdischen Palästinas ein Prophet Jesus von Nazareth auf, sammelte um sich Anhänger, die ihre Familien verließen, ihm nachfolgten und zu arbeiten aufliörten. Er tat Wunder und trieb Dämonen aus. Er verkündigte die bald hereinbrechende Herrschaft Gottes. Viele im phetismus (s.o. Anm. 11), 77f; G. Lanczkowski, Die neuen Religionen (s.o. Anm. 23), 177-179. Die Namen der beiden Zwillingsgottheiten, die ins Land der Weißen gereist waren, waren Nathirikaumoli und Nakausambaria. Im Land der Weißen aber habe man eine Bibel über sie geschrieben und die Namen Jehova und Jesus fllr sie eingesetzt - ein erhellendes Beispiel für den Synkretismus dieser Umbruchsbewegungen. Vgl. W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus (s.o. Anm. 10), 168f. Zur Mambubewegung vgl. W. E. Mühlmarm, Chiliasmus und Nativismus (s.o. Anm. 10), 171-177; G. Guariglia, Prophetismus (s.o. Anm. 11), 98f; G. Lanczkowski, Die neuen Religionen (s.o. Anm. 23), 181-184.

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Volk erwarteten, er sei der Messias, der das Land von den Römern befreien werde. Er wurde von der eigenen Aristokratie als Unruhestifter festgenommen und bei den römischen Behörden angezeigt. Ein römischer Präfekt ließ ihn als Messiasprätendenten hinrichten. Seine Anhänger aber erwarteten sein Kommen in Herrlichkeit und glaubten an seine fur die Welt unsichtbare Inthronisation im Himmel als Herrn über alle Herren.^' Dieser Prophet Jesus von Nazareth ordnet sich in eine Reihe vergleichbarer Propheten ein, über die wir leider nur kurze Notizen bei Josephus besitzen.^* Typisch fur sie ist, dass sie eine typologische Wiederholung von Wundem aus der Heilsgeschichte Israels ankündigen, den Fall der Mauern von Jericho oder die Durchquerung des Jordans oder Wunder in der Wüste. Immer greifen die Römer ein. Der Prophet wird getötet. Die Anhänger verlieren sich. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese prophetischen Bewegungen „nativistische" Züge haben. Aber gilt das auch für die Jesusbewegung? Lässt sich Jesus und seine Bewegung als ein Fall „millenaristischer Bewegungen" (im weitesten Sinne) verstehen?

4. Ein Vergleich zwischen der Jesusbewegung und millenaristischen Bewegungen der Neuzeit Zunächst könnte man bestreiten, dass hier wirklich unabhängige Bewegungen vorliegen. Waren nicht die meisten charismatischen Führer dieser Umbruchsbewegungen in Missionsschulen mit der Bibel bekannt geworden? Verstand sich nicht Simon Kimbangu zeit seines Lebens als Christ? Sind nicht auch bei der Tukabewegung die christlichen Anleihen mit den Händen zu greifen, wenn in ihr Jehova und Jesus als Namen begegnen? Was echte Analogie zu sein scheint, könnte auch Auswirkung des Christentums sein. Aber die prophetischen Gestalten reaktivierten immer auch einheimische Traditionen von Trance, Ekstase und Offenbarung, wie sie unabhängig vom biblischen Gedankengut Bestandteil ihrer eigenen Kultur waren.^' Und der Erfolg dieser Bewegungen erklärt sich nicht allein aus der Wirkungsgeschichte der Bibel. Sie hatten auch dort Erfolg, wo das Christentum noch nicht das Leben und die Mentalität geprägt hatte. Die Begegnung mit der Vgl. G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht '2001, 493-496: Ein Leben Jesu in Kurzfassung. Vgl. P. W. Bamett, The Jewish Sign Prophets - A.D. 40-70. Their Intentions and Origin, NTS 27(1981)679-697. Ndugumoi, der Prophet der Tukabewegung, stammte aus dem erblichen Priesterstand der Fidschi-Inseln, der durch das vordringende Christentum bedroht war. Er schuf eine hierarchische Organisation, deren oberste Funktionäre ebenfalls dem Priesteradel angehörten. Vgl. W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus (s.o. Anm. 10), 168f.

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Bibel war oft nur ein Katalysator um die einheimische Religion zu revitalisieren. Außerdem gibt es millenaristische Bewegungen, bei denen christlicher Einfluss ausgeschlossen ist.^" 4.1. Geschichtliche Unterschiede zwischen millenaristischen Bewegungen und Jesusbewegung Bevor man sie alle in eine positive Beziehung zur Jesusbewegung setzt, muss man sachliche Unterschiede bedenken: 1. In den Millermiumsbewegungen der europäischen Kolonialzeit handelt es sich um Reaktionen auf den Zusammenstoß zwischen Kulturen mit einem ungeheuren Entwicklungsabstand.^' Die Europäer kamen mit hochentwickelter Technik, Waffen, Schrift, Tradition, Geldwirtschaft, Verwaltung usw. Die Einheimischen befanden sich im Stadium einer Subsistenzwirtschaft mit geringer Arbeitsteilung, ohne Geldwirtschaft, ohne Schrift. Als dagegen in Palästina die römisch-hellenistische Kultur auf die jüdische Kultur stieß, begegneten sich zwei entwickelte Gesellschaften: Juden kannten Geldwirtschaft, Schrift, hatten ein eigenes Rechtssystem und differenzierte Institutionen. Sie lebten im Bewusstsein, dass sie allein den einen und einzigen Gott verehrten. Selbst wenn man ein „Entwicklungsgefälle" zwischen der „modernen" römisch-hellenistischen Kultur und dem palästinischem Hinterland konstatieren muss, so ist das in den modernen Kolonien zu beobachtende Entwicklungsgefälle doch ungleich größer gewesen. 2. Das erklärt einen zweiten Unterschied. Wir können in den meisten Millenniumsbewegungen eine Übernahme christlicher Überzeugungen beobachten, die mit einheimischen Traditionen verschmolzen werden. Die Propheten sind mit dem Christentum und den Weißen oft vertrauter als ihre

Vgl. D. C. Allison, Jesus of Nazareth (s.o. Anm. 3), 78f, weist auf Bewegungen in Ceylon, im alten China, in Thailand, Korea und Japan. Und er fragt: „Is not the dififiisionist theory, when applied to millenarism, a secular descendant of the old view that all alleged messiahs must be inferior imitations of the one true Messiah?" (S. 80). " Es ist immer problematisch Kulturen eine bestimmte „Höhe" zuzuschreiben, weil die Maßstäbe zur Bewertung von Kulturen in der Regel aus der europäischen Kultur stammen. Jedoch sollte man, ehe man auf jede Bewertung verschiedener Kulturen verzichtet, bedenken: (1.) Hinsichtlich konkreter Kulturtechniken (Technik, Waffen, Schrift usw.) gibt es klar konstatierbare Unterschiede. (2.) Die „Überlegenheit" ganzer Kulturen schlägt sich in politischen Prozessen und Herrschaftsstrukturen nieder. Gerade deswegen sei betont: Die Kulturen der „dritten Welt" können sowohl hinsichtlich bestimmter Aspekte überlegen sein als auch aufgrund anderer Maßstäbe insgesamt als überlegen eingestuft werden. Wer als Eropäer so urteilt, urteilt in Übereinstimmung mit seinen Traditionen. Es gehört zur europäisch-westlichen Kultur, dass sie zu solch einer Selbstrelativierung fähig ist - und Überlegenheit im Lebensstil, in der Religion, im Ethos bei anderen anerkennen kann.

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Landsleute.^^ Simon Kimbangu begründete eine noch heute existierende christliche Kirche. Andere verließen den Bereich des Christentums. Darin zeigt sich ein wichtiger Unterschied zu den jüdischen Emeuerungsbewegungen des 1. Jhs. n.Chr.: Diese greifen auf einheimische Traditionen zurück, gleichen sie hier und da polemisch an die übermächtige Fremdkultur an. Ab^er kein jüdischer Prophet tritt im Namen des Zeus oder des Jupiter auf. Keiner verschmilzt heidnische und jüdische Mythen." Das damalige Judentum kann aus sich heraus eine Antwort auf die neue Situation finden. Die Propheten in den Kolonien der Neuzeit übernehmen dagegen christliche Elemente oder treten gar (wie Simon Kimbangu) im Namen des christlichen Gottes auf. 3. Das größere Eigengewicht der jüdischen Kultur macht sich vor allem darin bemerkbar, dass es einer innerjüdischen Emeuerungsbewegung gelingt im Bereich der fremden Kultur Resonanz zu finden: Das aus der Jesusbewegung hervorgegangene Urchristentum verbreitet sich außerhalb des Judentums schneller als im Judentum.^'' Unter den neuzeitlichen Millenni" Vgl. G. Guariglia, Prophetismus (s.o. Anrn. 11 ), 271 : „Die meisten als Propheten der Naturvölker hervorgetretenen Führer der Heilserwartungs-Bewegungen wurden in Missionsschulen erzogen und ihre Lehre zeigt die Spuren der christlichen Schulung." Interessant ist, dass der biblische Einfluss manchmal noch näher spezifiziert werden kann. So gilt für Afrika, dass „keine Propheten aus katholischen Missionen hervorgingen. Während die christliche Lehre in der katholischen Auslegung jede Art von Messianismus in Jesus Christus schon endgültig erfüllt denkt, bietet die freie Auslegung der Bibel und ihrer Prophezeiungen in der protestantischen Lehre eher einen Nährboden für die Entstehung und Entwicklung immer neuer chiliastischer, eschatologischer und messianischer Erwartungen." (S. 272). Diese Beobachtung ist jedoch nicht verallgemeinerungsfähig: Mambu, der Prophet der Mambubewegung, war ein getaufter Katholik. Richtig ist: Er hatte in seiner vorwiegend katholischen Heimat wenig Erfolg, sondern erst dort, wo die Missionare ihrerseits erfolglos geblieben waren (vgl. W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus [s.o. Anm. 10], 176). " Die Reformbewegung am Anfang des 2. Jh. v.Chr. setzte zwar in Jerusalem den jüdischen Gott mit dem „Zeus Olympios" und in Samarien mit dem „Zeus Xenios" gleich (2Makk 6,2), aber sie konnte sich nicht durchsetzen. Sie hatte möglicherweise mehr den Charakter einer jüdischen Umkehrbewegung, als es das von ihren Gegnern entworfene Bild deutlich macht - aber sie war keine „nativistische" Umkehrbewegung, sondern eine bewusste Anpassung an die hellenistische Kultur. Das zeigt die in IMakk 1,11 zitierte Parole: „Lasst uns hingehen und mit den Völkern, die rings um uns sind, ein Übereinkommen treffen, denn seitdem wir uns von ihnen abgesondert haben, traf uns viel Unheil." - Eher vergleichbar mit einer nativistischen Umkehrbewegung ist Simon Magus, der in Samarien mit einer synkretistischen Heilslehre auftrat bzw. dem im Laufe des I. Jhs. n.Chr. eine solche synkretistische Heilslehre zugeschrieben vnirde, die auch Elemente des Helenamythos umfasste (vgl. Just Apol 1,26,2-3; Iren Haer 1,23). Nach G. Lüdemann, The Acts of the Apostles and the Beginnings of Simonian Gnosis, NTS 33 (1987) 420-426, könnte diese „synkretistische" Bewegung schon auf den historischen Simon Magus zurückgehen. Das gilt auch dann, wenn man nicht mit einem gnostischen Simon Magus rechnet. Vgl. G. Theißen, Simon Magus - die Entwicklung seines Bildes vom Charismatiker zum gnostischen Erlöser. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Gnosis, in: A. v. Dobbeler u.a. (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments, FS K. Berger, Tübingen/Basel: Francke, 4 0 7 ^ 3 2 . Die rasche Verbreitung der Jesusbewegung auch außerhalb der Grenzen Palästinas und au-

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umsbewegungen ist mir keine Analogie bekannt: Nirgendwo lassen sich die Kolonialherren von den neuen prophetischen Bewegungen ergreifen. 4. Nur im Urchristentum und in der jüdischen Apokalyptik verbindet sich eine religiöse Umbruchserwartung (nachträglich) mit chronometrischen Periodisierungen der Weltgeschichte und der Endzeit. In der ursprünglichen Jesusbewegung finden wir solche chronometrischen Spekulationen noch nicht, die m.E. für eine schriftgelehrte Kultur charakteristisch sind - nicht aber für populäre Bewegungen, die sich in einer mündlichen Kultur entfalten. Die meisten „millenaristischen" Bewegungen sind ohne „Millennium". Denn sie sind Bestandteil einer mündlichen Kultur. Exkurs: Die Voraussetzungen chronometrischer Spekulationen. Chronometrische Geschichtsspekulationen über die Abfolge von Reichen und Königen, über Geschichtsepochen und -phasen sind wie alle über viele Generationen hinausweisende Geschichtsentwürfe nur in Schriftkulturen möglich. Bei schriftlosen Völkern wandert die Vergangenheit wie ein gleich entfernt bleibender Hintergrund mit. Was vor drei, vier Generationen war, versinkt im Dämmer einer zeitlosen „Zeit der Ahnen", die immer gleich weit entfernt bleibt. Erst schriftlich fixierte Erinnerung ermöglicht eine Strukturierung dieser Vergangenheit in Epochen - und damit das Bewusstsein, dass wir uns immer weiter von der Vergangenheit entfernen. Die Erinnerung wird chronometrisch bearbeitet und strukturiert. Gegenüber der Zukunft aber befinden sich schriftlose wie schriftliche Kulturen in der gleichen Lage. Das Dunkel der Zukunft wandert in gleichbleibender Distanz vor den Menschen durch die Zeit. Wie nahe liegt da der Gedanke auch die Zukunft chronometrisch zu bearbeiten - so wie man es mit der Vergangenheit getan hat! Wie verlockend der Gedanke die Phasen der Vergangenheit bis in die dunkle Zukunft hinein weiterzuschreiben! Wenn sich in der jüdischen Kultur messianische Umbruchsbewegungen mit chronometrischen Geschichtsspekulationen verbinden, so deshalb, weil sie in eine Kultur mit schriftlich fixiertem „kulturellem Gedächtnis" einbrachen. Nur in ihr konnte ein charismatischer Neuaufbruch als Vorspiel eines lOOOjährigen Reiches und dies Reich als Zwischenstadium vor einem endgültigen Endzustand begriffen werden." Diese Verbindung einer charismatischen Umbruchsbewegung mit chronometrischen Spekulationen verbindet etwas, was in Spannung zueinander treten kann. Chronometrische Spekulationen über den geheimen Fahrplan der Weltgeschichte können dazu dienen Ausschau nach der neuen Weh zu halten oder dazu das Alter ßerhalb der Grenzen des Judentums ist dadurch erklärbar, dass schon das Judentum die Grenzen Palästinas in der Diaspora verlassen hatte und dort eine Form angenommen hatte, die stark durch die hellenistische Umwelt geprägt war. " Zum lOOOjährigen Reich vgl. H. Bietenhard, Das tausendjährige Reich. Eine biblischtheologische Studie, Zürich: Zwingli 1955; O. Böcher, Die Johannesapokalypse, EdF 41, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft M988, 96-106.

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der alten Welt festzustellen. Man spekuliert etwa über eine Weltenwoche von sechs Tagen mit jeweils 1000 Jahren, der am Ende ein Weltsabbat folgen wird," oder über sich ablösende Weltalter: das goldene, silberne, eiserne Zeitalter, das sich immer mehr verschlechtert (Dan 2). Kurz: Chronometrische Geschichtsspekulationen sind vom Bewusstsein des Alters dieser Welt durchdrungen. Religiöse Umbruchsbewegungen aber leben vom BewTisstsein, dass eine neue Welt beginnt. Dort, wo der charismatische Elan stark ist, wird daher nicht das Weltalter bestimmt, sondern die Geburt der neuen Weh in chronometrischen Phantasien beschworen. So in der Apk. Das tausendjährige Reich wird nicht als letztes Glied einer weltgeschichtlichen Periodisierung verstanden. Entscheidend ist das Kommen der neuen Welt. Wir spüren deimoch: In der Apk (und in vergleichbaren jüdischen Apokalypsen) sind im Volk wurzelnde religiöse Umbruchsbewegungen in die schriftgelehrte Kultur kleiner intellektueller Eliten eingedrungen. Die Sehnsucht nach einem Neubeginn - imd einem Ende von Not und Unterdrückung - verbindet sich mit Schriftgelehrsamkeit. Erst die Berücksichtigung der vier genannten Unterschiede zwischen Millenniumsbewegungen und Jesusbewegung ermöglicht folgende Feststellung: Die Jesusbewegung ist eine „Millenniumsbewegung" in einer Situation mit geringem Entwicklungsgefálle zwischen zwei aufeinanderstoßenden Kulturen. Moderne Millenniumsbewegungen sind dagegen Emeuerungsbewegungen bei ungleich größeren Entwicklungsunterschieden. 4.2. Gemeinsamkeiten zwischen millenaristischen Bewegungen und Jesusbewegung Wenn wir diesen grundsätzlichen Unterschied berücksichtigen, können wir m. E. vier Gemeinsamkeiten konstatieren. 1. Immer handelt es sich um Konfrontationen zwischen zwei Kulturen, bei

" Ansätze dazu finden sich in der Zehn-Wochen-Apokalypse (äthHen 93+91, 12-17) in der die Weltzeit zwar in 10 Wochen aufgeteilt wird, nach Vollendung der 7. Woche jedoch eine deutliche Wende zum Besseren eintritt. Auf Erden wird jetzt Gerechtigkeit geübt. Gut bezeugt ist die Vorstellung von der Weltenwoche, hervorgegangen aus einer Kombination von Gen 1,31-2,3 mit Ps 90,4, in neutestamentlicher Zeit. Wir finden sie am klarsten im Barnabasbrief: „Vom Sabbat heißt es am Anfang bei der Schöpfiing: Und Gott schuf in sechs Tagen die Werke seiner Hände; und er vollendete sie am siebten Tag und ruhte an ihm und heiligte ihn. Passt auf, Kinder, was die Worte bedeuten: Er vollendete sie in sechs Tagen. Das bedeutet, dass der Herr das All in 6000 Jahren vollenden wird. Denn der Tag bezeichnet bei ihm tausend Jahre ... Und er ruhte am siebten Tag das bedeutet: Wenn sein Sohn gekommen ist und die Zeit des Gesetzlosen beendet, die Gottlosen richtet und die Sonne, den Mond und die Sterne verwandelt, dann wird er recht ruhen am siebten Tag." (Barn 15,3-5). Zur Traditionsgeschichte dieser Vorstellung vgl, A. Wikenhauser, Weltwoche und tausendjähriges Reich, TThQ 127 (1947) 399-417; W. H. Shea, The Sabbath in the Epistle of Barnabas, AUSS 4 (1966) 149-175.

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denen auf die unterlegene ein ungeheurer Druck ausgeübt wird die eigene Lebensorientierung zu revidieren. In den Cargo-Kulturen Melanesiens waren die überlegenen zivilisatorischen Güter der Europäer zum Problem geworden. Im 1. Jh. n.Chr. war es in Palästina die Orientierung an der jüdischen Lebensweise und das Festhalten an der Exklusivität der jüdischen Gottesverehrung, die in den Assimilationssog der hellenistischen Kultur und Bildung geraten waren. 2. Ein weiterer Vergleichspunkt liegt im Legitimationsentzug gegenüber der bisherigen Verteilung von Macht, Besitz und Bildung. Man mag manche Mythen der melanesischen Cargo-Kulte belächeln, aber man wird anerkennen müssen, dass hier in religiösen Bildern eine Neuverteilung von Legitimation geschieht: Nicht nur die Europäer haben ein Anrecht auf die Lebensgüter, sondern auch die Einheimischen. Mythische Bilder formulieren einen auch für uns verständlichen Anspruch. In der Jesusbewegung wird der bestehenden Verteilung von Macht, Besitz und Bildung ebenfalls Legitimität entzogen. Der direkte Versuch des Judas Galilaios die Unabhängigkeit von den Römern wiederzuerlangen war gescheitert. In der Jesusbewegung geschieht nun eine Umdefinition der Macht: Die wahre Macht in der Gottesherrschaft liegt bei den Armen, den Sanftmütigen, den Verfolgten, den Kindern. Sie und nicht die Inhaber der politischen Macht sind die „Elite der neuen Zeit", das Licht der Welt und das Salz der Erde. Durch solche Neudefmitionen wird die reale Machtverteilung nicht unmittelbar in Frage gestellt, wohl aber wird ihr Legitimität entzogen. 3. Das ftihrt zum dritten Vergleichspunkt: Die religiösen Umbruchsbewegungen sind Vorboten einer realen Neuverteilung der Macht. Wir erkennen heute in den prophetischen Millenniumsbewegungen ein Vorspiel der Dekolonisierung:^^ Der religiös artikulierte Protest geht dem tatsächlichen Machtwechsel voran. Innerhalb der Geschichte Palästinas hat auch die Jesusbewegung den Charakter solch eines Vorspiels - nur dass der nachfolgende reale Machtwechsel in Palästina in den jüdisch-römischen Kriegen von 66 bis 136 scheiterte. Die reale Machtverschiebung ging nicht zu Lasten der Römer, sondern fegte die einheimische Machtelite hinweg. 4. Ein vierter Vergleichspunkt ist die Dominanz einer charismatischen Gestalt. Sie lässt sich durchgehend beobachten, so dass ein Rückschluss von

" Besonders W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus (s.o. Anm. 10), 8, betont bei diesen Bewegungen: „Selbst in Fällen, wo ihre historische Wirksamkeit ephemer oder transitorisch sein sollte (was wir aber vorher bei keiner noch so obskuren Bewegung wissen körmen!), sind sie symptomatisch wichtig: Was heute oder hier bloßes Bestreben oder Gelüst bleibt, kann schon morgen oder dort zur hellen Flamme der Empörung oder des Aufstandes auflodern. Auch in der europäischen Revolutionsgeschichte waren die „Vorboten" filr die Zeitgenossen unbedeutend und in ihrer Tragweite nicht erkermbar."

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den vielen millenaristischen Bewegungen der Neuzeit auf die Antike erlaubt ist: Wenn überall der Anstoß zu den Umbruchsbewegungen von einer profilierten prophetischen Gestalt ausgeht, wird auch die Jesusbewegung vom historischen Jesus geprägt sein.^' Viele dieser charismatischen Führer neuzeitlicher Umbruchsbewegungen geraten femer in Konflikt mit den Kolonialmächten. Sie werden verurteilt und verbannt. Aber gerade aus ihrer Kriminalisierung gewinnen sie neuen Einfluss - zu Lebzeiten oder nach ihrem Tode.^' Ihr Stigma wird zu ihrem Charisma: Sofern der sozialmoralisch von den Behörden Geächtete die Feindschaft der fremden Macht überlebt, wird dies als Überlegenheit seiner Person und seiner Botschaft erlebt. Diesen Umschlag von Stigma zum Charisma finden wir auch in der Jesusbewegung. Jesus wurde aufgrund seiner Kreuzigung als endgültiger Heilbringer verehrt. Das Kreuz wurde zum zentralen Symbol des Heils.'"' Wir hatten am Anfang die Frage gestellt: Kann man aus dem Vergleich der Jesusbewegung mit den millenaristischen Bewegungen etwas lernen? Der Vergleich ist m. E. erhellend. Wir befinden uns immer im Konfliktfeld zweier Kulturen, in dem charismatische Gestalten eine Wende aller Dinge ankündigen und für diese Wende Anhänger mobilisieren. Aber es gibt wichtige Unterschiede. Gehen wir noch einmal die vier Begriffe durch, mit denen wir am Anfang die Umbruchsbewegungen beschrieben haben: Revitalisationsbewegung, nativistische, prophetische und Heilsbewegung. 1. Die Jesusbewegung ist zweifellos eine innerjüdische RevitalisationsbewegungV Sie wurzelt tief im Judentum und wendet sich ursprünglich nur J. G. Gager, Ende der Zeit (s.o. Anm. 3), 112, bemerkt zu Recht: Es gibt „mehr Propheten als Kulte". Er betont: Die Beobachtungen zu den millenaristischen Bewegungen ermöglichen es die These zu widerlegen, die Ursprünge des Christentums ließen sich hinreichend plausibel auch ohne den Rekurs auf einen historischen Jesus erklären. " Die Anhänger der Tukabewegung erwarteten für ihren Führer Ndugumoi die Todesstrafe, aber er wurde nur zu einem halben Jahr Zwangsarbeit verurteilt. Das erhöhte sein Ansehen: Man hielt seine Macht fflr so groß, dass die Regierung ihn unmöglich töten konnte. Er wurde nach seiner Haft für zehn Jahre auf eine Insel verbannt und starb kurz vor seiner Entlassung. Die Nachricht von seinem Tode nahm man mit Misstrauen auf Es entstanden Legenden, er lebe noch immer (vgl. W. E. Mühlmarm, Chiliasmus und Nativismus [s.o. Anm. 10], 170). Simon Kimbangu wiu-de aufgrund seiner Leidensgeschichte - Todesurteil, Begnadigung und lebenslange Haft - erst recht zu einem schwarzen Messias, in dem sich das Geschick Christi wiederholte. Vgl. M. N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, W U N T 45, Tübingen: Mohr 1987, der das Umschlagen von Stigma in Charisma nur ftlr den historischen Jesus untersucht, und H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/V andenhoeck & Ruprecht 1994, der dies Phänomen in seinen historischen Kontext einordnet, indem er Johannes den Täufer, Paulus und Ignatius mit in die Untersuchung einbezieht und damit die Beobachtung zu einer einzelnen Person verallgemeinerungsfàhig macht. W. Stegemann, Christentum als universalisiertes Judentum? Anfragen an G. Theißens ,Theorie des Urchristentums', Kirche und Israel 16 (2001) 130-148, kritisiert die Charakterisierung der Jesusbewegung als Revitalisierungsbewegung als „bedenkliche Typisierungen des Judentums aus

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an Juden. Das Besondere dieser Revitalisierungsbewegung aber ist, dass sie in ihrem heimatlichen Umfeld nur geringen Erfolg hat - dafür um so mehr jenseits der Grenzen des Judentums. Innerhalb des Heidenchristentums kommt es zu einer Revitalisierung der nicht-jüdischen antiken Kultur, die durch das Christentum für eine neue Variante des jüdischen Glaubens gewonnen wird. Gewiss hat die Diaspora des Judentums diesen Schritt über die Grenzen des Judentums hinaus vorbereitet. Vollzogen wird er aber erst im Urchristentum. Die Jesusbewegung ist also eine Revitalisierung des Judentums. Sie scheitert im Judentum selbst - dringt dann aber in die Fremdkultur als kleine, vitale Minorität mit Erfolg ein und wird in der Spätantike die gesamte Kultur neu „beleben". Dafür fehh jede Analogie unter den neuzeitlichen millenaristischen Bewegungen. 2. Die Jesusbewegung steht im Kontext nativistischer Bewegungen im Judentum, die das Judentum gegenüber dem übermächtigen Assimilationssog der überlegenen hellenistischen Kultur schützen wollen. Aber sie wendet sich nicht gegen die Fremden. Vielmehr erwartet sie, dass die Heiden (zusammen mit den zerstreuten Juden?) in die Gottesherrschaft strömen werden. Dort speisen sie zusammen mit Abraham, Isaak und Jakob (Mt 8,llf). Die Jesusbewegung ist eine Alternative zu nativistischen Reaktionen. 3. Die Jesusbewegung ist eine prophetische Bewegung. In ihrem Zentrum steht eine charismatische Gestalt. Die Bedeutung dieser Gestalt wird bis ins Unermessliche gesteigert. Sie rückt neben den einen und einzigen Gott. Was der reine Monotheismus nicht schaffte - ein Eindringen in die polytheistische heidnische Welt und eine Entmächtigung aller numina und Gewalten, das wird dieser prophetischen Gestalt zugeschrieben. Sie setzt das Ziel des monotheistischen Glaubens durch: Dass Gott alleine herrschen wird, auch wenn der mit diesem Mandat Beauftragte dabei so dicht neben Gott rückt, dass der strenge Monotheismus bedroht erscheint. 4. Die Jesusbewegung ist eine Heilsbewegung. Wo die Kräfte der Endzeit wirksam sind, werden Kranke gesund und Dämonen ausgetrieben. Die Gottesherrschaft ist Überwindung von Hunger und Ohnmacht. Wir können aus christlicher Perspektive". Er fragt sich, „welchen Grad der Erschlaffung das Judentum zu dieser Zeit hatte, dass es einer Re-Vitalisierung bedurfte." (S. 139). Eine Religion wäre m.E. erst dann „erschlafft", wenn sie keine Revitalisierungsbewegungen mehr hervorbringt. Im Judentum aber gab es eine Kette von Revitalisierungsbewegungen, die Jesusbewegung war nur eine unter ihnen. Sie sind ein Zeichen der Vitalität des Judentums. Wenn femer die aus dem Judentum stammende Jesusbewegung (nach meiner jetzigen Kennmis) als einzige unter den vielen Revitalisierungsbewegungen in der Welt die Grenzen zwischen dem eigenen Volk und den Fremden überwomden hat, so kann ich darin keine Abwertung des Judentums sehen. (W. Stegemann hat hier einen Satz in: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh: Kaiser 2000 '2002, 55, missverstanden. Ich vergleiche dort die Jesusbewegung mit nativistischen Bewegungen in der ganzen Welt, nicht mit anderen Gruppen im Judentum. Dass nur eine jüdische Erneuerungsbewegung die Grenze ihrer eigenen Kultur überschritten hat, spricht gewiss nicht gegen das Judentum.)

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einer Reihe von Indizien erschließen, dass diese Heilserwartung vor allem einfache Menschen anspricht - beobachten aber, dass das Urchristentum schnell in höhere Kreise aufsteigt. Der Verfasser des lukanischen Doppelwerks zeichnet ein Bild von seinem unaufhaltsamen Aufstieg: Philosophen interessieren sich für die Botschaft (Apg 17,18). Die Ersten der Stadt setzen sich mit ihr auseinander (17,4). Ein Prokonsul wird Christ (13,12) - und ein König erklärt, er sei fast von der Botschaft überzeugt (26,28). Die Jesusbewegung ist zweifellos am Anfang eine populäre Heilsbewegung - mit deutlicher moralischer Aggression gegen die Mächtigen, die Reichen und die Schriftgelehrten. Aber sie steigt bald in bessergestellte Kreise auf und verbindet sich z.B. in der Johannesapokalypse mit Ausdrucksformen einer schriftgelehrten Kultur. Erst in diesem Augenblick nimmt sie auch Gedanken eines 1000jährigen Reiches auf Man kann all diese Unterschiede auf einen Nenner bringen: Die Jesusbewegung überwindet gerade die Grenzen, die andere millenaristische Bewegungen in der Regel nicht überwimden haben: die Grenzen zwischen dem eigenen Volk und den anderen Völkern sowie die Grenzen zwischen dem einfachen Volk und den herrschenden Schichten. Und dies wird damit zusammenhängen, dass diese millenaristische Bewegung aus einer alten Kultur stammt, die in sich eine universalistische Tendenz hat. Eine „Revitalisierung" dieser Kultur führte nicht nur zur Ablehnung des Fremden, sondern zu einer Synthese mit ihm. Nach solch einer Synthese hatte das ganze Judentum im Zeitalter des Hellenismus gesucht.

5. War Jesus ein millenaristischer Prophet? Jesus im Vergleich zu anderen Gestalten in den jüdischen Revitalisierungsbewegungen seiner Zeit Wir haben bis hierhin immer die Jesusbewegung (und das aus ihr hervorgegangene Urchristentum) als Ganzes betrachtet. Am Ende müssen wir noch einmal einen Blick auf Jesus selbst werfen. Das ist von der Sache her geboten. Millenaristische Bewegungen sind immer durch eine bestimmte prophetische Gestalt geprägt. Sie verdanken ihnen ihr Profil. Das gilt auch für die Jesusbewegung. Was sie auszeichnet, dürfte in vermittelter Weise durch die prophetische Gestalt bedingt sein, die sie entscheidend geprägt hat: durch Jesus von Nazareth. Dessen besonderes Profil aber kann man am besten bestimmen, wenn man ihn mit zeitgenössischen jüdischen Gestalten vergleicht, die wie er Revitalisierungsbewegungen im Judentum hervorgerufen haben. Die Jesusbewegung war seit dem Tode Herodes I. (4 v.Chr.) ja schon die vierte Bewegung, die das Land ergriffen hatte: Am Anfang stand

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eine militante populäre Aufstandsbewegung mit messianischer Aura (4 v.Chr.), gefolgt von einer radikaltheokratischen Steuerverweigerungskampagne des Judas Galilaios (6 n.Chr.), dann entstand nach einer Pause von ca. 20 Jahren die Umkehrbewegung des Täufers (ca. 25-29 n.Chr.) und in seinem Gefolge die Jesusbewegung (29/30 n.Chr.). Weitere Wellen von religiöser und politischer Unruhe folgten.'*^ Aber wir können uns hier auf die Jesus geschichtlich nächsten Bewegungen beschränken um verständlich zu machen, wie es zu jener grenzüberschreitenden Tendenz kam, welche die Jesusbewegung auszeichnete. Muss sie nicht in irgendeiner Weise mit dem Wirken Jesu verbunden sein? Alle anderen Bewegungen blieben rein innerjüdische Bewegungen.

5.1. Die messianischen Unruhen nach dem Todes Merodes I. Nach dem Tod Herodes I. 4 v.Chr. wurde ganz Palästina von Unruhen ergriffen.'*^ Der Herodes nahe stehende Historiker und Diplomat Nikolaus von Damaskus charakterisierte sie sowohl als Aufstand des Volkes gegen die Oberschicht als auch als Kampf gegen die „Griechen": „Nachdem wenige Zeit vergangen war, starb auch der König; das Volk aber erhob sich gegen dessen Söhne und gegen die Griechen. Es waren viele Tausende. In dem aufkommenden Kampf siegten die Griechen ..." (GLAJJ Nr. 97).'*'* Die Aufstandsbewegung war nicht einheitlich. Veteranen des Herodes meuterten in Idumäa (Bell 2,55) und Judäa (Ant 17,269). In Galiläa trat ein Judas, Sohn des Hezekias, auf, ohne dass wir bei ihm königliche Ambitionen erkennen können. Nach Bell 2,56 stellte er sich allen in den Weg, die solche Ambitionen hatten (anders Ant 17,272). Zwei Aufstandsföhrer treten dagegen eindeutig als messianische Königsprätendenten auf: Simon und Für Palästina sind zu nennen: Das Auftreten eines samaritanischen Propheten ca. 35 n.Chr. (Ant 18,85-87). Das Wirken des Theudas (Ant 20,97-99, vgl. Apg 5,36); anonyme Propheten unter dem Prokurator Felix (Ant 20,167f; Bell 2,258-260); ein Ägypter, der seine Anhänger zum Ölberg führt (Ant 20,169-172; Bell 2,261-263; Apg 21,38); ein Heilsprophet unter dem Prokurator Festus (Ant 20,188) und ein Unheilsprophet namens Jesus, Sohn des Ananias, unter dem Prokurator Albinus (Bell 6,300-309); schließlich verschiedene Propheten in der Endphase des Jüdischen Krieges (Bell 6,285f). Eine umfassende Übersicht bietet C. A. Evans, Jesus and His Contemporaries. Comparative Studies, AGJU 25, Leiden u.a.: Brill 1995. Vgl. die Darstellung in E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.-A.D. 135), vol. 1, rev. G. Vermes/F. Millar/M. Goodman, Edinburgh: T&T Clark 1973, 330-335; M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr., AGJU 1, Leiden/Köln: Brill 1961 ^ 9 7 6 , 331-336; R. A. Horsley/J. S. Hanson, Bandits, Prophets, and Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, Harrisburg: Trinity Press 1999, 111-117. Text und Kommentar in M. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. From Herodotus to Plutarch, Vol. 1, Jerusalem: The Israel Academy of Sciences and Humanities 1976, 252 (= GLAJJ Nr. 97 = FGrH II A 90, F. 136).

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Athronges. Simon wird sogar bei Tacitus erwähnt: „Nach dem Tod des Herodes maßte sich gleich ein gewisser Simon den Königstitel an, ohne erst lange auf die Verleihung durch Caesar zu warten" (Tac Hist V,9,2, übers. J. Borst). Josephus bestätigt: „Er wagte es, sich ein Diadem aufzusetzen, sammelte eine Menge um sich und wurde durch deren Wahnsinn als König proklamiert und hoffte, vor jedem anderen dessen würdig zu sein" (Ant 17,274; Bell 2,57-59). Der Hirt Athronges wurde außerhalb Judäas nicht so ernst genommen. Er begegnet nur bei Josephus (Ant 17,278ff; Bell 2,61). Er stilisierte sich als ein neuer David und bildete mit seinen Brüdern eine Art Rat. Auch wenn sich weder Simon noch Athronges „Messias" nannten oder ein Salbungsritual an sich vollzogen, sondern beide das Diadem als Herrschaftssymbol trugen, handelt es sich um „Volkskönige", die mit einer Aura messianischer Erwartungen umgeben wurden. Die ganze Aufstandsbewegung wurde blutig niedergeschlagen. Der syrische Legat Quintilius Varus marschierte mit seinen Truppen ein. Sepphoris wurde damals (nach dem Bericht des Josephus) zerstört. Der Versuch mit revolutionärer Gewalt die Vorherrschaft der Römer und der mit ihnen verbündeten herodäischen Oberschicht zu brechen war gescheitert.

5.2. Die radikaltheokratische Bewegung des Judas Galilaios Der nächste Versuch eines Widerstands könnte bewusst oder unbewusst aus diesem Scheitern gelernt haben. Zehn Jahre später, nach der Absetzung des Archelaos 6 n.Chr., trat erneut ein Judas als ein „Lehrer""' auf. Nach Josephus vertrat er zwei Lehren: (1) die These von der Alleinherrschaft Gottes, aus der er ableitete, dass man keine anderen Herrscher neben Gott anerkennen dürfe; er hielt es deshalb für eine „Schande" den Römern Steuern zu zahlen (Bell 2,117ί). Er erhob (2) die Forderung, dass der Mensch aktiv bei der Durchsetzung der Alleinherrschaft Gottes helfen müsse, denn die „Gottheit werde nur unter der Bedingung zum Gelingen dieses Vorhabens (sc. der Erringung der Freiheit) bereitwillig beitragen, wenn man selbst aktiv mitwirke" (Ant 18,5). Wir können offen lassen, ob dieser Judas Galilaios mit Judas, dem Sohn des Hezekias, identisch war,"*^ entscheidend ist: Er Unter allen Unruhestiftern nennt Josephus nur Judas Galilaios einen „Sophisten" (Bell 2,118) und nur seine Lehre eine „vierte Philosophie" neben den älteren „Philosophien" der Essener, Pharisäer und Sadduzäer (Ant 18,9.23). Er wird darin Recht haben, dass Judas Galilaios vor allem durch seine Lehre gewirkt hat. Für die Identifizierung beider Gestalten spricht sich M. Hengel, Zeloten (s.o. Anm. 43), 337ff aus, gegen sie D. M. Rhoads, Israel in Revolution 6 - 7 4 C.E. A Political History Based on the Writings of Josephus, Philadelphia: Fortress Press 1976, 50f. Vier Argumente sind hier zu bedenken: 1. Der Beiname: Der erste Judas wird nach seinem Vater Hezekias genannt (Ant 17,271), der

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vertrat keine messianischen Ansprüche, sondern eine radikaltheokratische Lehre. Wer gegen jede menschliche Herrschaft polemisierte, koimte nicht gleichzeitig für sich messianische Herrschaft beanspruchen. Mit seiner Lehre hat er lange nachgewirkt: a) Ende der 20er-Jahre muss sich ein anderer galiläischer Lehrer, Jesus von Nazareth mit seiner These von einer religiösen Pflicht zur Steuerverweigerung auseinandersetzen (Mk 12,13-17). Sie ist weiterhin lebendig. b) Als Galiläa nach dem Tode Agrippa L (44 n.Chr.) unter direkte römische Herrschaft kommt und auch dort die Frage akut wird, ob man den Römern Steuern zahlen soll, werden zwei Söhne des Judas Galilaios unter dem Prokurator Tiberius Alexander (ca. 45-48 n.Chr.) gekreuzigt. Wahrscheinlich haben sie die Steuerverweigerangskampagne ihres Vaters fortgefiihrt (Ant 20,102). c) Am Anfang des Jüdischen Kriegs tritt Menahem, ein Enkel des Judas Galilaios, als Königsprätendent und Aufstandsföhrer auf, wird aber vom aristokratischen Flügel des Widerstands ermordet, angeblich, weil er königliche Ambitionen gezeigt hatte.'*^ zweite nach seiner Herkunft „Gaulaniter" bzw. „Galiläer" (Ant 18,4; 18,23 u.ö.). Das lässt sich harmonisieren. 4 v.Chr. wirkte Judas in Galiläa, wo er wohl kaum „der Galiläer" genannt wurde, 6 n.Chr. wirkte er dagegen in Judäa, wo er als „Galiläer" charakterisiert werden konnte. Nur in Judäa und Samaria stellte sich damals das Problem der Steuerzahlung. Andererseits war die Geschichte seines Vaters Hezekias in Jerusalem bekannt, wo einst ein Prozess wegen seiner Ermordung durch Herodes geführt worden war (Ant 14,163-179). Hätte man ihn bei Personidentität nicht auch in Judäa mit Judas, dem Sohn des Hezekias, identifiziert? 2. Die Quellen des Josephus: Der Wechsel des Namens und die veränderte Sicht der beiden Gestalten könnten durch einen Wechsel in der Quelle des Josephus bedingt sein. Für die Geschichte des Herodes I. stützt er sich auf Nikolaus von Damaskus, später auf andere Quellen. Josephus könnte beide Gestalten irrtümlich unterschieden haben, weil sie in verschiedenen Quellen unter verschiedenem Namen auftreten. 3. Die Chronologie: Da Hezekias ca. 47/6 v.Chr. ermordet wurde, müsste sein Sohn 4 v.Chr. ca. 45 Jahre alt, 6 n.Chr. aber ca. 55 Jahre alt gewesen sein. Gleichzeitig aber müsste er Söhne gehabt haben, von denen zwei 45/48 unter dem Prokurator Tiberius Alexander hingerichtet wm-den (Ant 20,102). Vgl. R. A. Horsley, Popular Messianic Movements around the Time of Jesus, CBQ 46(1984)471-95, dort S. 485. 4. Ihr Wirken: Judas, Sohn des Hezekias, wird als ein gewalttätiger AufHlhrer dargestellt, Judas Galilaios dagegen als ein „Lehrer" (Bell 2,118), der neben sich einen zweiten Lehrer, den Pharisäer Sadduk, hat (Ant 18,4). Insgesamt gibt es ein leichtes Übergewicht für die Argumente gegen eine Identifizierung. Falls es sich um verschiedene Gestalten handelt, standen sie sich in einem Punkt vielleicht nahe: Judas, der Sohn des Hezekias, stellte sich allen in den Weg, die nach er Königsherrschaft griffen. Judas Galilaios vertrat eine theokratische Konzeption, nach der nur Gott herrschen sollte! Jesus steht mit seiner Predigt von der Gottesherrschaft in einer radikaltheokratischen galiläischen Tradition! Möglicherweise trat Menahem mit königlichem Anspruch auf (Bell 2,434.444). Seine Mörder rechfertigen ihren Mord mit ihrer Freiheitsliebe. Sie dürften die Freiheit „nicht einem einfachen Mann aus dem Volk preisgeben und ihn als Herrn ertragen" (Bell 2,443). Es könnte aber auch sein, dass diese Begründung nur eine sekundäre Rechtfertigung war. Man beachte dieselbe Wendung von δίοτιότη!/ φέρΕίν in Bell 2,118 und 4,443: Menahem wird unterstellt, er habe gegen

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d) Die Widerstandskämpfer im Jüdischen Krieg nehmen seine Lehre ernst. Selbst unter Fohem weigern sie sich den Kaiser als Herrn (δίσπότην) anzuerkennen (Bell 7,418f). Auch die Bewegung des Judas Galilaios wurde blutig beendet. Allerdings hören wir vom gewaltsamen Tod des Judas Galilaios nichts bei Josephus, sondern nur aus Apg 5,36f. Im Vergleich zu der populären Aufstandsbewegung zehn Jahre vorher ist eine deutliche Verlagerung auf die theologische Lehre zu erkennen. Die radikaltheokratische Verschärfung des ersten Gebots und ein aktivistischer Synergismus waren schärfere Waffen als die Waffen, die während der ersten Aufstandsbewegung im königlichen Palast von Sepphoris erobert woirden und mit denen Judas, der Sohn des Hezekias, seine Anhänger ausstattete (Bell 2,56; Ant 17,2710.""

5.3. Die prophetische Opposition Johannes des Täufers Die nächste erkennbare Revitalisierungsbewegung ist die Umkehrbewegung des Täufers in den 20er-Jahren. In ihr fehlen (direkte) antirömische Tendenzen. Die Opposition des Täufers wendet sich vielmehr gegen die einheimische Aristokratie. Er macht sich zum Sprachrohr der Kritik an ihrer Entfremdung von der einheimischen Tradition, die sich in Verstößen gegen die Reinheitsgebote (Ant 18,37-38), das Bilderverbot (Jos Vita 65) und die Ehegesetze (Ant 18,136) zeigte. Dass er mit seiner Kritik nicht allein stand, zeigt Josephus selbst, der die zweite Ehe der Herodias wegen der Auflösung väterlicher Sitten scharf verurteilte (Ant 18,136). Das Volk sympathisierte mit dieser Kritik. Denn es deutet eine spätere Niederlage des Herodes Antipas gegen die Nabatäer als Strafe Gottes für die Hinrichtung des Täufers (Ant 18,116.119). Es sah im Täufer den wiedergekommenen Elia (Mt 11,14; Mk 9,11-13; Lk 1,17), der den Konflikt mit einer Fürstin aufgedas zentrale Gebot des Judas Galilaios verstoßen. Vielleicht wollte man ihn bei seinen eigenen Anhängern, den Anhängern der Lehre des Judas Galilaios, diskreditieren. Dass er mit einem FUhrungsanspruch aufgetreten Ist, ist Jedoch gewiss historisch. D. M. Rhoads, Israel in Revolution (s.o. Anm. 46), 4 7 - 6 0 , sieht in Judas Galilaios eine isolierte Gestalt ohne großen Einfluss. Wenn Josephus ihn als Sekten- und Schulgrtlnder darstellt, von dem eine Kontinuität des Widersands bis zum Jüdischen Krieg ausgegangen sei, so sei das eine tendenziöse Schilderung, weil Josephus einen Sündenbock für die nationale Katastrophe brauche. Unbestreitbar ist jedoch: (1) Es gab eine Familientradition des Widerstands, die durch Jakobus und Simon (Ant 20,102), Menahem (Bell 2,433), Eleazar, den Verteidiger von Masada (Bell 7,253; vgl. 2,447) vertreten wird. (2) Seine Lehre wirkte lange nach. Jesus muss sich mit ihr auseinandersetzen (Mk 12,13-17). (3) Josephus könnte im Recht sein, wenn er den Widerstandsideen die entscheidende Schuld am Jüdischen Krieg gibt. Ideen wirken länger und nachhaltiger als Gewalt. Mit der (von ihm popagierten) Verweigerung von Steuern wurde der Jüdische Krieg eingeleitet (Bell 2,404ff).

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nommen hatte, die fremde Sitten ins Land bringen wollte: Die Fürstin Herodias rückte so in den Schatten der Königin Isebel, Antipas in den Schatten des Königs Ahab (vgl. IKön 17-21). Entscheidend ist aber: Der Täufer verbindet seine Kritik an der herrschenden Schicht im Lande mit einem Ruf zur Umkehr an alle. Alle sollen sich öffentlich ihrer Sünden wegen anklagen, sich von ihrem bisherigen Leben abwenden um durch eine Wassertaufe Sündenvergebung zu erlangen. Die Kritik wendet sich beim Täufer sehr viel mehr nach innen als nach außen. Vergleicht man die drei Wellen von Opposition und Kritik seit dem Tod Herodes I., so kann man durchgehend eine Revitalisierung der jüdischen Religion beobachten: ein Wiederaufleben des Messianismus, eine Radikalisierung des Monotheismus und eine Erneuerung prophetischer Umkehrpredigt. Aber wir können auch eine Entwicklung feststellen: Die Unruhen nach dem Tod des Herodes L haben den Charakter einer spontanen Volkserhebung, in der sich verschiedene charismatische Gestalten herauskristallisieren. Ein gemeinsames Programm ist nicht erkennbar. Ein angestauter Hass gegen Fremdherrschaft und ihre Klientelfürsten macht sich hier eruptiv Luft. Zwei Anftihrer treten als „Volkskönige" auf. Die Oppositionsbewegung des Judas Galilaios gibt dem Widersand eine theologische Basis durch die „vierte Philosophie". Sie verankerte ihn im Zentrum jüdischen Glaubens. Sie gab ihm zugleich eine kritische Wendung nach innen: Judas Galilaios „schmähte" (όνειδίσας) die Juden, dass sie nicht nur Gott, sondern auch noch den Römern Untertan sein wollten (Bell 2,433). Sein aktivistischer Synergismus war eine prophetische Kritik an seinen Landsleuten. Der Täufer verstärkte diese nach innen gewandte Kritik. Sie wurde zu seinem Hauptpunkt. Sie ist nach wie vor mit Kritik nach außen verbunden. Diese richtet sich nur gegen die eigene Aristokratie, vor allem gegen den Landesfürsten Herodes Antipas. Insgesamt handelt es sich um eine innere Emeuerungsbewegung, in deren Mittelpunkt neben Umkehr und Taufe m. E. auch eine ethische Lehre stand, die Josephus als „Gerechtigkeit unter Menschen" und „Frömmigkeit gegenüber Gott" zusammenfasst und hinter der sich das doppelte Liebesgebot verbergen könnte.'"

5.4. Das Echo der Erneuerungs- und Oppositionsbewegungen bei Jesus von Nazareth Jesus hat sich mit den Erwartungen auseinandersetzen müssen, die durch die Revitalisierungsbewegungen vor ihm im Lande geweckt worden waren. Wir finden bei ihm eine Reflexion und Verarbeitung solcher Bewegungen, ' Siehe oben: G. Theißen, Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, S. 57-72.

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die im weitesten Sinne „millenaristisch" genannt werden können. Darin könnte seine Besonderheit liegen, die dazu geführt hat, dass die von ihm ausgehende Bewegungen in kurzer Zeit die Grenzen von Schichten und Völkern überwunden hat. Fragen wir also nach dem Echo, das die drei soeben skizzierten Bewegungen in den Jesusüberlieferungen gefunden haben. 5.4.1. Das Echo der messianischen Bewegungen in der Jesusüberlieferung In der Geschichte von den Emmausjüngem blicken die beiden Jünger auf ihre gescheiterten messianischen Erwartungen zurück. Sie hatten gehofft, Jesus werde Israel erlösen (Lk 24,21). Sie benutzen dabei keinen Titel. Jesus war für sie „mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk" (24,19). Jesus belehrt sie, dass der „Christus" entgegen ihren Erwartungen leiden musste um in seine Herrlichkeit einzugehen (24,26). Diese relativ spät bezeugte Korrektur einer Erwartung könnte in der Sache zutreffend sein. Sie ist im MkEv vorausgesetzt, wo der Evangelist sie in das Leben Jesu zurück verlegt - und durchblicken lässt, dass die Jünger sie wegen ihres Unverständnisses nicht vollziehen konnten. Sie setzt eine Konfrontation Jesu mit messianischen Erwartungen voraus. Diese finden wir in den beiden ältesten Quellen: In der Logienquelle fragt der Täufer, ob er der „Kommende" sei (Mt 11,3; Lk 7,19). Das ist zwar kein Messiastitel, aber gemeint ist ein messianischer Beauftragter Gottes, der die Heilszeit bringt. Im MkEv artikulieren die Jünger (Mk 8,29), das Volk (10,47) und die Gegner Jesu (14,61) die Erwartungen oder den Vorwurf, er sei (als Messias, Sohn Davids oder Sohn des Hochgelobten) diese messianische Gestalt. Da solche Erwartungen in der Generation vor Jesus lebendig waren, ist es glaubhaft, dass sie auch zur Zeit Jesu wieder aufleben konnten - auch verbunden mit dem Messiastitel, der in den Qumranschriften häufig belegt ist. Da diese Erwartungen nicht zu einem Gekreuzigten passen, sind sie nicht erst nach Ostern entstanden. Jesus könnte sich zu Lebzeiten ihnen gegenüber spröde verhalten haben. Vielleicht hat er den Messiastitel im Sinne eines „politischen Messias" sogar abgelehnt, falls sich das Satanswort an Petrus ursprünglich auf dessen Messiasbekenntnis bezogen hat, so wie im JohEv Petrusbekenntnis und Satanswort unmittelbar aufeinander folgen, wobei in letzterem freilich Judas genannt wurde (Joh 6,66-71).'® Jesus selbst war durch eine andere eschatologische Erwartung bestimmt: Er predigte Gottes Reich, nicht sein eigenes Reich. Von daher war es nahe liegend, dass er nicht einfach in die Erwartung seiner Umwelt „einstieg", er sei der Messias.

So die These von F. Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht 1963, 226-230; E. Dinkier, Petrusbekenntnis und Satanswort, in: Zeit und Geschichte, FS R. Bultmann, Tübingen: Mohr 1964, 127-153.

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Er gehört in die radikaltheokratische Tradition, deren Spur nach Galiläa fiihrt. Aber auch sie wurde bei ihm korrigiert. 5.4.2. Das Echo radikaltheokratischer Erwartungen in der Jesusüberlieferung Schon Judas, Sohn des Hezekias, hat vielleicht im Unterschied zu anderen Königsprätendenten radikaltheokratische Vorstellungen vertreten, bei Judas Galilaios 6 n.Chr. waren sie Programm: Zugunsten der Alleinherrschaft Gottes war jede menschliche Herrschaft ausgeschlossen." Radikaltheokratisches Gedankengut war auch sonst verbreitet. In einer zwischen 6 n.Chr. und Jesu Auftreten herausgegebenen Schrift, der Himmelfahrt des Mose, begegnet es als Erwartung des Reiches Gottes ohne messianischen oder charismatischen Vermittler, jedoch fast als Antithese zum aktivistischen Synergismus des Judas Galilaios: Die Frommen ziehen sich in einer großen Verfolgung in eine Höhle zurück um dort zu sterben.^^ Ohne ihr Zutun wird die Gottesherrschaft (AssMos 10,1) verwirklicht. Jesus erneuerte derartige radikaltheokratische Erwartungen. Mit ihnen hat er wahrscheinlich die messianischen Erwartungen an seine Person korrigiert. Gott allein ist es gegeben, Rang und Herrschaft zu verteilen (Mk 10,40). Aber er korrigierte sie auch: Anders als Judas Galilaios bestritt Jesus im Gespräch über die Steuer, dass es eine religiöse Pflicht zur Steuerverwiegerung gibt. Die Fragesteller erwarteten eine antirömische Aussage. Nur dann macht ihre captatio benevolentiae Sinn, dass Jesus bei der Alternative zwischen Gott und Menschen Gott den Vorrang gibt. Gegen ihre Erwartung plädiert Jesus dafiir das dem Kaiser ohnehin gehörende Geld ihm zurück zu geben, aber auch Gott alles zu geben, was ihm gehört. Jesus lehnt damit die schroffe Alternative „Gott oder Kaiser" ab, mit der man das Programm des Judas Galilaios zusammenfassen kann. Aber er formuliert ganz im radikaltheokratischen Geist eine andere Alternative: „Gott oder Mammon": " H. G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft. Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen 1988, stw 917, Frankfurt: Suhrkamp 1991, 281 f, sieht in der messianischen Erwartung eines Sohnes Davids eine Ablehnung antiker Stadtherrschaft und ihrer aristokratischen Verfassung, die er in Galiläa lokalisieren möchte, zumal Galiläa monarchisch regiert wurde. Die ältere Evangelienüberlieferung bringt die SohnDavid-Erwartung jedoch mit Judäa in Verbindung. Sie begegnet erst bei dem blinden Bartimäus in Jericho (Mk 10,46-52). Das Streitgespräch über die Davidssohnschaft findet in Jerusalem statt (Mk 12,35-37). Im JohEv ist die galiläische Herkunft Jesu ein Einwand gegen seine Davidssohnschaft (Joh 7,40-44). Um sie plausibel zu machen verlagern Mt und Lk die Geburt Jesu in den Süden nach Bethlehem. In Galiläa können wir radikaltheokratische Erwartungen nachweisen. Die (neu herausgegebene) Assumptio Mosis lässt sich nicht genau lokalisieren. In ihrer jetzigen Form ist sie nach der fnlhzeitigen Absetzung des Archelaos (6 n.Chr.) abgefasst, und zwar in Erwartung, dass die anderen Herodessöhne ebenfalls kürzer als ihr Vater regieren werden (AssMos 6,7). Sie muss deutlich vor dem Auftreten Jesu ca. 30 n.Chr. erschienen sein. Denn zur Zeit des Wirkens Jesu 29/30 hatten Antipas und Philippus fast schon gleich lang wie ihr Vater regiert. Da

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„Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon." (Mt 6,24)

Wenn man so will, kann man sagen: Die radikaltheokratische Bewegung verarbeitet bei Jesus (bewusst oder unbewusst) das Schicksal der bisherigen Widerstandsbewegung. Sie war bisher gescheitert. Ihre Botschaft wird in einer Weise neu formuliert, die sie dem Zugriff der Legionen entzieht. Sie wird enttäuschungsresistent. 5.4.3. Das Echo der Täuferbewegung in der Jesusüberlieferung Für solch eine enttäuschungsresistentere Erwartung hatte der Täufer entscheidende Vorarbeit geleistet. Bei ihm hatte sich die prophetische Kritik nicht mehr gegen die Römer und alle, die ihnen Steuern zahlten, gewandt, sondern nur noch gegen die mit den Römern verbündete jüdische Oberschicht, die sich von jüdischen Traditionen entfernte. Vor allem aber wandte sie sich jetzt an alle im Lande. Alle rief er zur Umkehr auf Der Umkehrruf ist nach innen (gegen die eigenen Landsleute) gerichtete moralische Aggression. Die Frustration über die äußere Lage wird in Selbstkritik verwandelt. Das unterscheidet den Täufer von den späteren „Zeichenpropheten". Diese sind Heilsprediger, die eine neue Landnahme oder einen neuen Exodus verheißen. Der Täufer dagegen ist ein Unheilsprophet. Seine verschärfte Unheilsbotschaft hatte die Grenzen zwischen Israel und den anderen Völkern in Frage gestellt: „Denkt nur nicht, dass ihr bei euch sagen könntet: Wir haben Abraham zum Vater. Detm ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken" (Mt 3,9). Die Abkehr von einer „nativistischen" Reaktion auf die Fremden war dadurch beim Täufer vorbereitet, auch wenn man seine Botschaft so verstehen muss, dass alle Juden das Besondere Israels wieder verwirklichen sollen: durch Taufe die rituelle Reinheit, durch Umkehr den ethischen Gehorsam, durch umfassende Erneuerung die Abrahamskindschaft. Alle waren verutu-einigt, alle waren auf verkehrtem Weg, alle drohten aus der Erwählung herauszufallen. Der Täufer war ein Protest gegen den falschen Weg Israels. Sein asketisches Leben in der Wüste signalisierte: Nur jenseits des normalen Lebens war ein Neuanfang möglich. Jesus hat Umkehrforderung und die Erwartung eines nahen Umschv™ngs aller Dinge vom Täufer übernommen. Er hat ebenso wie der Täufer asketische Züge. Aber er unterscheidet sich in zwei Punkten von ihm: Jesus hat (zumindest in der Hauptphase seines Wirkens) nicht getauft und er gab der Askese einen neuen Sinn.

sie an diesen beiden Fürsten interessiert ist, hat sie insofern ein Interesse an Galiläa.

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Jesus predigt die Umkehr, verlangte aber keine Taufe. Die Taufe war beim Täufer notwendig gewesen, weil das ganze Land unrein war und das Strafgericht Gottes unmittelbar bevorstand. Der Wegfall der Taufe bei Jesus signalisiert daher eine neues Reinheits- und Zeitverständnis: - Das neue Reinheitsverständnis·. Wenn der Täufer großen Anklang fand (vgl. Mk 1,5; 11,32; Jos Ant 18,116-119), so deshalb, weil große Bevölkerungsgruppen von der Angst erfasst waren verloren zu sein, wenn sie sich nicht durch ein Taufbad reinigten. Die Taufe diente zur Bewältigung eines Bedrohungsgefühls durch Fremdes und Unreines. Der Täufer provozierte und verschärfte es durch seine Predigt, wenn er behauptete, ohne Umkehr und Taufe bestünde kein Unterschied zwischen Israeliten und NichtIsraeliten: Gott könne jederzeit dem Abraham aus Steinen neue Kinder erwecken. Bei ihm und seinen Anhängern ist das Vertrauen in der eigenen Kultur geborgen zu sein zerstört. Bei Jesus ist diese kollektive Angst in Zuversicht umgeschlagen. Deshalb kann die Taufe entfallen. Reinheitskategorien werden neu definiert: Rein und unrein sind nicht mehr äußere Qualitäten, die ansteckend auf den Menschen übergreifen, sondern ethische Qualitäten, die im Menschen selbst begründet sind (Mk 7,15). Aus Angst vor ansteckender Unreinheit wird Vertrauen in eine „offensive Reinheit", die Unreinheit überwindet (K. Berger).'^ Aus exklusiver Reinheit wird inklusive Reinheit und Heiligkeit, welche die Unreinen mit einbezieht (M. Borg).'"* Im Grunde entfäüt damit die Voraussetzung zwischen Heiden und Juden scharf zu trennen. Bei Jesus bahnt sich an, was ein paar Jahre nach seinem Tod seine Anhänger verwirklichten: eine Öffnung für die Heiden. - Das neue Zeitverständnis: Die Notwendigkeit der Taufe hängt beim Täufer mit der Naherwartung zusammen: „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt" (Mt 3,10). Es blieb keine Zeit mehr um die Ernsthaftigkeit der Umkehr durch ethische Taten zu beweisen. In dieser Situation war die Taufe eine symbolische Ersatzhandlung. Sie und die ihr vorausgehende öffentliche Selbstanklage konnte die Aufrichtigkeit der Umkehr bezeugen. Gott akzeptierte sie anstelle der Früchte der Umkehr, die angesichts der kurzen Zeit bis zum Ende nicht mehr „reifen" konnten. Jesus benutzt dasselbe Bild vom Baum und seinen Früchten um zu zeigen, dass es noch eine Frist gibt: Eigentlich soll der Baum ohne Frucht gefällt werden, aber der " K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988) 231-262, bes. 238-248; ders., Historische Psychologie des Neuen Testaments, SBS 146/7, Stuttgart 1991, 99f. M. J. Borg, Conflict, Holiness, and Politics in the Teachings of Jesus, SBEC 5, New York u.a.: Mellen 1984; ders., Jesus: A New Vision. Spirit, Culture, and the Life of Discipleship, San Francisco: Harper & Row 1987. M. J. Borg wie andere Vertreter einer nicht-eschatologischen Auffassung von Jesus haben m.E. zutreffende Aspekte des Wirkens Jesu herausgestellt, durch die Jesus innerhalb anderer eschatologischer (oder „millenaristischer") Propheten ein eigenes Profil gewinnt.

Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung

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Herr gibt ihm noch einmal eine Chance (Lk 13,6-9). Wenn es eine Zeit der Bewährung gibt, in der man seine Umkehr durch ethische Taten unter Beweis stellen kann, dann ist die Taufe nicht unbedingt notwendig. Jesus wandelte zugleich die Askese des Täufers ab. Der Täufer übte sie durch Kleidung, Nahrung und Wüstenaufenthalt. Jesus brachte sich dagegen in den Ruf ein Freund von Fressern und Säufern zu sein (Mt ll,18f). Er zog mit seinen Jüngern im besiedelten Land umher. Der Täufer zog sich dagegen in die Wüste zurück um dort „Gott den Weg zu bereiten" (Jes 40,3 = Mk 1,3), ähnlich wie die Qumrangemeinde, die in der Wüste durch Schriftstudium das Kommen Gottes erwartete (vgl. IQS 8,12-14; 9,19i). Jesus und die von ihm ausgesandten Wandercharismatiker suchten dagegen mit ihrer Botschaft die Menschen dort auf, wo sie lebten und arbeiteten. Bei ihm gewinnt auch die Askese einen neuen Stellenwert: - Sie wird zur Missionsstrategie: Askese ist Merkmal eines heimatlosen Wandercharismatikertums, das auf stabilitas loci, familiäre Einbindung, Besitz und Sicherheit verzichtet. Jesus verlangt sie von seinen Jüngern bei ihrer Aussendung. Er stellt sie damit in den Dienst die Predigt vom Reich Gottes zu verbreiten. Alle Ausrüstungsregeln sind darauf abgestimmt. Sie sind kein Selbstzweck. Deshalb kann Jesus die Askese auch manchmal demonstrativ aufheben: - Askeseverzicht wird dadurch zur symbolischen Handlung. Den Zeitgenossen fiel der Unterschied zwischen dem Asketen Johannes und Jesus auf: Jesus aß und trank zusammen mit anderen und wurde deshalb „Fresser und Weinsäufer, Freund von Zöllnern und Sündern" genannt (Mt 11,19). Er lehnte freiwilliges Fasten (im Unterschied zu Johannes) ab, weil jetzt Freudenzeit ist (Mk 2,18-19). Auch diese Grundstimmung der Freude hat werbenden (oder missionarischen) Charakter. Das zeigen die Gleichnisse vom Verlorenen, die zur Freude und Mitfreude einladen (Lk 15). Wenn der Täufer ein asketischer millenaristischer Prophet war, so setzte sein Schüler dies Prophetentum fort. Aber er modifizierte Botschaft und Wirken des Täufers. Ein umfassender Vergleich zwischen ihm und dem Täufer würde die Kontinuität zwischen beiden prophetischen Gestalten betonen. Aber die beiden genannten Unterschiede darf man nicht übersehen. Sie sind für unser Problem entscheidend: Wer die Unterscheidung von ritueller Reinheit und Unreinheit bezweifelt und daher auf die Taufe verzichten kann, der legt die Grundlagen für die Überwindung der Grenze zwischen Juden und Heiden. Wer Askese zum Missionsinstrument macht, legt die Grundlage für die Expansion der eigenen Bewegung über die Grenzen des Judentums hinaus - nicht nur durch düstere Umkehrforderungen, sondern durch eine Freudenbotschaft. Wie bei den anderen RevitalisierungsBewegungen können wir auch hier einen „Lernprozess" feststellen: In der

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Verkündigung Jesu ist die Erwartung des Reiches Gottes gegen Parusieenttäuschungen sehr viel resistenter als beim Täufer. Wenn Gottes Gnade darin besteht, dass er noch eine Frist lässt, kann das Ausbleiben der Endzeit positiv bewältigt werden. Wenn es für die Zeit bis zum Ende zugleich eine Aufgabe für den Menschen gibt: Früchte der Umkehr zu bringen und die Botschaft vom Reich Gottes zu verbreiten, dann wird diese Zeit positiv gefüllt. Nach allem Gesagten ist die Jesusbewegung eine Neuformulierung des jüdischen Glaubens (oder dessen Revitalisierung), die aus dem Scheitern vorhergegangener Emeuerungs- und Oppositionsbewegungen gelernt hat oder sie mit mehr oder weniger blindem trial and error korrigierte, wo die Realität sie zu wiederlegen drohte. Die messianische Hoffnung gegenüber charismatischen Führergestalten wird umformuliert und das Geheimnis der Person Jesu traditionellen Rollenerwartungen an einen Messias oder einen Davidssohn entzogen. Die radikaltheokratische Sehnsucht bei der Herbeiführung der Alleinherrschaft Gottes aktiv mitzuwirken wird in einen ethischen Radikalismus verwandelt und damit aus dem Konflikt mit der politischen Macht herausgenommen. Die prophetische Naherwartung des Täufers wird enttäuschungsfreier formuliert und das Ausbleiben des unmittelbaren Strafgerichts positiv bewältigt. Durch all das gewinnt Jesus ein eigenständiges Profil. Vielleicht kann man dies Profil mit Kategorien der Jesusüberlieferung selbst beschreiben. Die Logienquelle hat Jesus als Boten der Weisheit dargestellt. Sie tut es auch dort, wo sie ihn von Johannes dem Täufer unterscheidet (Lk 7,31-35). Er selbst verkörpert (bei Mt) die Weisheit, die einlädt von ihr zu lernen (Mt 11,28-30; EvThom 90). Unabhängig davon, ob man dieses Bewusstsein, Bote der Weisheit zu sein, auf Jesus selbst zurückführt oder nicht, trifft es einen Zug am historischen Jesus: Wenn Jesus unter allen „millenaristischen Propheten" ein besonderes Profil hat, so auch durch die Verbindung von Prophetie und Weisheit. Das neue Reinheitsverständnis zeigt Nähe zur weisheitlichen Reflexion. Die Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern wird mit der Weisheit verbunden. Einladung und Werben um die Zuhörer erinnern an die Weisheit: Mit Recht wurde Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit dargestellt.'^ Er war gewiss ein millenaristischer Prophet, aber er hat unter allen millenaristischen Propheten ein besonderes Profil. Er war ein millenaristischer Prophet und mehr als das!

" M. Hengel, Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit, in: M. Hengel/A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen: Mohr 2001, 81-131. Eine Alternative zwischen einer eschatologischen und einer weisheitlichen Sicht Jesu, wie sie heute oft aufgerissen wird, halte ich filr unzutreffend. Dass Jesus ein Lehrer subversiver Weisheit war, kann in das Bild des eschatologischen Propheten aufgenommen werden.

Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus (Gerd Theißen/Annette Merz) Das Ausbleiben des Endes hat das Urchristentum weniger erschüttert als man oft angenommen hat. Aber es hat Spuren hinterlassen.' Meist geht man von der Vorstellung aus, dass Jesus imd der Täufer mit einer glühenden Naherwartung begannen, dass diese enttäuscht wurde und durch neue Interpretationen bewältigt werden musste. Auf diese Weise gewann man ein Kriterium zur Unterscheidung von primären und sekundären Überlieferungen: Sofern sie die Erwartung des nahen Endes bezeugen, galten sie als ursprünglich, sofern sie eine Parusieverzögerung voraussetzen, als sekundär.^ Die Vorstellung einer abnehmenden eschatologischen Glut im Urchristentum war ein historisches Deutungsschema, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Aber es könnte auch anders gewesen sein. Schon oft hat man gesehen, dass die Naherwartung immer wieder neu belebt wurde.^ Sie könnte oft eine Antwort auf Verzögerung sein. Schon der Täufer reagierte vielleicht auf die Verzögerung des Endes mit einer Intensivierung der Naherwartung, die er durch eine Umkehr- und Taufbewegung noch einmal belebte. Musste Jesus nach ihm neue Wege suchen, weil sich auch die Erwartung des Täufers nicht erfüllte? Fand er eine neue Antwort in Aufnahme und Abwandlung der Täuferbotschaft? Gott gibt den Menschen nicht nur eine Gnadenfrist, sein Wesen ist Gnade. Wenn schon in der Verkündigung Jesu das Problem der Parusieverzögerung verarbeitet worden ist, so wäre es kein Wunder, dass dies Problem später im Urchristentum so wenig Unruhe hervorrief Von Anfang an hätten die ersten Christen Interpretationsmittel besessen um die Verzögerung des Endes zu bewältigen! Wenigstens lohnt

' Einerseits sind das Stellen, die direkt eine Parusieverzögerung konstatieren wie IPetr 3,3f; IKlem 23ff; 2Klem 11; Justin Apol 1,28,2; andererseits theologische Entwürfe, die indirekt als Verarbeitung einer Parusieverzögerung gedeutet werden können wie die präsentische Eschatologie des JohEv, die räumliche Eschatologie des Epheserbriefs, die heilsgeschichtliche Eschatologie des Ik Doppelwerks. ' Z.B. Lk 13,6-9; Mt 25,1-13; Mk 9,1; 13,32 u.a. Vgl. die nach wie vor grundlegenden Arbeiten von E. Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, BZNW 22, Berlin: Töpelmann 1957, 3. erg. Aufl. Berlin: de Gruyter 1977; ders.. Die Naherwartung Jesu, SBS 61, Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1973. ' Vgl. die Eschatologie des IPetr, Hebr, der Apk oder der Montanisten. So E. Gräßer, Naherwartung, 13.

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es sich die Hypothese durchzuspielen, dass eine „Parusieverzögerang" am Anfang gestanden hat.'*

1. Die Verzögerungsproblematik beim Täufer Sicher ist, dass der Täufer von einer intensiven Naherwartung bestimmt war. Das Bild von der Axt, die schon an die Wurzel der Bäume gelegt ist (Q 3,9), lässt dem Baum keine Chance: Wenn er an der Wurzel zerstört wird (wie bei Kriegshandlungen, in denen das Fällen der Bäume die Existenzgrundlage ffir die Zukunft zerstört), dann gibt es keine Chance mehr zur Erneuerung. Das Bild beschwört die Nähe des Endes um eine letzte Chance zur Umkehr anzubieten: Wer sich taufen lässt, wird gerettet. Das ist eine Heilsbotschaft. Sie steht auf dem Hintergrund einer Gerichtsdrohung. Aber diese ist nur die dunkle Folie, vor der die Möglichkeit einer Rettung in letzter Minute umso heller erscheint.^ Femer finden wir schon beim Täufer Ansätze einer „doppelten Eschatologie": Das zukünftige Gericht wird in der Gegenwart schon vorweggenommen. Die Getauften leben in der Gewissheit dem Unheil entronnen zu sein - oder zumindest ihm entrinnen zu können, werm sie umkehren! Schon beim Täufer haben wir daher nebeneinander präsentische und ftiturische Momente in der Eschatologie. Die Getauften haben symbolisch das Gericht schon über sich ergehen lassen und es durch ihre öffentliche Selbstanklage akzeptiert. Sie haben einen Schritt in den Bereich des Heils getan. Alles ist noch in Vorläufigkeit gehüllt. Dazu passt das Taufritual, denn Reinigungsriten mit Wasser dienen in der Religionsge" Schon A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1913), Tübingen: Mohr '1984, 402-450, sah die Verkündigung Jesu durch eine eschatologische Verzögerung bestimmt, bedingt durch die Aussendung der Jünger, die mit den Städten Israels nicht fertig werden sollten, bis dass der Menschensohn kommt (Mt 10,23). Sie kamen zurück, ohne dass das Ende eingetreten war. A. Schweitzer betont: „Man beachte, daß die Nichterfüllung von Mt 10,23 die erste Parusieverzögerung bedeutet. Wir haben hier also das erste Datum in der ,Geschichte des Christentums'" (S. 417). Er kam nicht auf den Gedanken, dass Jesus schon als Anhänger des Täufers eine „Parusieverzögerung" erlebt haben muss. Das gilt auch von denen, die heute A. Schweitzers Gedanken aufgreifen: D. C. Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis: Fortress Press 1998, 148-151, und P. Bilde, En religion bilvertil. En unders0gelse af kristendommens forudsaetninger og tilblivelse intil âr 110, Kobenhavn: ANIS 2001,171-197. Letzterer sieht in der Parusieverzögerung eine ständig neue Herausforderung zu theologischen Neudeutungen. ' Dies ist festzuhalten gegenüber der in der Exegese verbreiteten Tendenz sich ausschließlich auf den Täufer als Gerichtsprediger zu konzentrieren, vgl. z.B. J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York: de Gruyter 1996, 40ff. Zwar ist richtig, dass die Botschaft des Täufers sich auf die Ausmalung der Nähe und Bedrohlichkeit des Gerichts konzentriert (a.a.O., 50). Trotzdem bildet „der Heilsaspekt ... die Bedingung der Möglichkeit der täuferischen Gerichtspredigt. Denn ohne die Aussicht auf Verschonung vom Gericht wäre die ... Taufe schlechterdings dysfunktional." (K. Backhaus, Die „Jüngerkreise" des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums, Paderborn u.a.: Schöningh 1991, 97).

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schichte allgemein eher der Vorbereitung auf kultische Handlungen. Sie reinigen den Menschen um ihn in die Lage zu setzen sich der Gottheit zu nähern, bereiten also die eigentliche Begegnung mit der Gottheit vor und sind oft Einleitung zu zentralen Ritualen, nicht aber selbst das Zentrum. Der Täufer wählt solch ein „Vorläufigkeitsritual" um in der rituellen Symbolsprache auf etwas Größeres hinzuweisen, auf die Person des „Stärkeren", der eine Taufe mit heiligem Geist und Feuer vollziehen wird (Q 3,16). Die intensive Naherwartung des Täufers ist unbestreitbar. Wenn sie im Bericht des Josephus über den Täufer in Ant 18,116-119 verschwunden ist, so ist das eine sekundäre Übermalung des historischen Täufers: Josephus drängt in seiner Darstellung der jüdischen Geschichte die eschatologischen Erwartungen des Volkes zurück. Die Naherwartung des Täufers aber fiel nicht vom Himmel. Sie muss geschichtlich eingeordnet werden. Der Täufer war nicht der erste, der das Ende erwartete. Das Danielbuch vertritt eine intensive Naherwartung. Es erwartet das Ende nach Dan 8,14 in exakt 1150 Tagen, verlängert in 12,11 die Frist auf 1290 Tage und preist in 12,12 den glücklich, der sogar 1335 Tage erreicht! Hier spiegelt sich die Endzeitverzögerung in der Entstehungsgeschichte eines Textes. Die Qumrangemeinde hatte immer wieder das Kommen des Endes erwartet und war immer wieder enttäuscht worden.^ Die Geschichte der eschatologischen Erwartung bestand also seit Jahrhunderten aus Naherwartung und Verzögerung.^ Die Naherwartung war im 1. Jh. n. Chr. kurz vor dem Auftreten des Täufers neu belebt worden. Das zeigt die Himmelfahrt des Mose (die Assumptio Mosis).® Und auch hier ist sie vermutlich Wiederbelebung älterer Erwartungen. Denn die AssMos enthält Teile, welche die Religionsverfolgung unter Antiochus Epiphanes im 2. Jh. v.Chr. (AssMos 5 und 8) und den Widerstand in der Makkabäerzeit (AssMos 9-10) schildern. Sie entstand entweder im 2. Jh. V. Chr. und wurde Anfang des ersten 1. Jh. n. Chr. in einer zweiten Edition (durch Einfügung von AssMos 6-7) aktualisiert. Oder sie entstand als Ganzes erst im 1. Jh. n.Chr. unter Verwendung älterer Quellen aus der Makkabäerzeit. Sie setzt auf jeden Fall den Krieg nach dem Tod des Hero-

^ Vgl. H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg u.a.: Herder 1993, 284f. Leider gibt es eine umfassende neuere Untersuchung zu diesem interessanten Problem u.W. nicht. Vgl. A. Strohe!, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem auf Grund der spätjüdisch-urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2fF, NT.S 2, Leiden/Köln: Brill, 1961 und den Überblick bei K. Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, TANZ 17, Tübingen/Basel: Francke 1995, 53-122. ' Vgl. J. Tromp, The Assumption of Moses. A Critical Edition with Commentary, SVTP 10, Leiden: Brill 1993; E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, in: JSHR2 V,2, Gütersloh: Mohn 1976 (nach dieser Übersetzung wird zitiert). Zu den Einleitungs- und Inteφretationsfτagen vgl. außerdem G. S. Oegema, Apokalypsen, JSRZ VI,1,5, Gütersloh: Mohn 2001, 3 3 ^ 8 .

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des (4 v.Chr.) und die Absetzung des Archelaos 6 n.Chr. voraus und erwartet, dass die Söhne des Merodes kürzer als er regieren werden: ' „Und er wird Söhne zeugen, die in seiner Nachfolge kürzere Zeit (herrschen werden). In ihre (Gebiete) werden (Kohorten) kommen und des Abendlands mächtiger König, (der) sie erobern wird. Und sie werden sie in Gefangenschaft fuhren, und einen Teil ihres Tempels wird er mit Feuer verbrennen, einige um ihre Ansiedlung herum kreuzigen." (AssMos 6 , 7 -

9). Die AssMos ordnet sich selbst in die Zeit vor dem bald eintreffenden Ende ein, wenn sie fortfährt: „Von da ab werden die Zeiten ihrem Ende zugehen; plötzlich (wird sich schließen) ihr Lauf, (wenn) vier Stunden (gekommen sind)" (7,1). Vor dem Ende erwartet sie eine große Religionsverfolgung (8,1-5). Auf ihrem Höhepunkt wird ein Mann namens Taxo sich mit seinen sieben Söhnen in eine Höhle zurückziehen um keines der Gebote Gottes zu übertreten. Sie werden fasten und eher sterben als das Gesetz zu übertreten. „Denn wenn wir das tun und so sterben, wird unser Blut vor dem Herrn gerächt werden" (9,7). „Und dann wird seine Herrschaft über seine ganze Schöpfimg erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein" (10,1). Bei dem Gericht über die Feinde wird ein Engel eine besondere Rolle spielen: „Dann werden die Hände des Engels gefüllt werden, der an höchster Stelle steht, und sogleich wird er sie rächen an ihren Feinden." (10,2). Der Täufer hatte es schon mit der Enttäuschung einer lebendigen Naherwartung zu tun. Diese war mit dem bald erwarteten Tod der noch regierenden Herodessöhne, Herodes Antipas und Philippus verbunden. Wenn der Täufer das göttliche Strafgericht ankündigt - und gleichzeitig den Landesftirsten Herodes Antipas kritisierte (Mk 6,18), hat er solche Erwartungen wahrscheinlich neu belebt. Den Tod eines Fürsten auch nur indirekt anzukündigen, war gefahrlich - für den Fürsten wie für den Propheten. Man kann verstehen, warum Herodes Antipas seinen Kritiker aus politischen Gründen umbrachte. Johannes hatte eine Erwartung belebt, seine Regierung werde bald ein Ende finden. Vor allem aber belebte er Elemente einer Umkehrbewegung, die in der AssMos 9 zu erkennen sind: - Taxo zieht sich in eine Höhle zurück um mit seinen Söhnen zu sterben. Der Täufer zieht sich in die Wüste zurück.

' Herodes Antipas regierte ca. 40 Jahre und d.ii. deutlich länger als sein Vater Herodes I., der immerhin ca. 34 Jahre lang regiert hatte. Die Schrift ist entstanden, als sich eine solch lange Regierungszeit des Antipas noch nicht abzeichnete, eher früher als später. Eine Ansetzung um die Zeit 10-25 n.Chr. wäre plausibel.

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- Taxo tritt mit seinen Söhnen in eine Art „Hungerstreik" um Gottes Eingreifen herbeizuführen. Der Täufer fastet mit seinen Anhängern. Er bietet Taufe und Sündenbekenntnis als Umkehrritual an. - Taxo sammelt nur seine Söhne um sich. Sie wollen als vorbildliche Märtyrer für die Gebote Gottes sterben. Der Täufer zieht das ganze Volk an. Er zielt nicht auf das Martyrium, sondern auf Umkehr. - Die AssMos spricht einem Engel eine besondere Rolle im Gericht zu (10,2). Der Täufer erwartet einen „Stärkeren". Gemeinsam ist vor allem: Eine demonstrative Aktivität von Menschen, in der sie sowohl ihr Leid und ihre Treue bzw. ihre Sünde und ihren Willen Gottes Gebote zu erfüllen darstellen, soll Gott zum Eingreifen bewegen. Der Täufer will eine Umkehrbewegung entfesseln um ihm den Weg in der Wüste zu bereiten. Die Wegbereitung des Herrn ist dabei kein „Herbeizwingen" des Eingreifens Gottes. Das ist auch der Hungerstreik Taxos und seiner sieben Söhne nicht. Aber hier wie dort werden mit Selbstminderungsriten Hoffnungen auf das Kommen Gottes verbunden. Folgende Hypothese liegt daher nahe: Schon der Täufer reagiert auf Parusieenttäuschungen. Dies zeigt die intensivierte Verbindung von symbolischer und realer Aktivität in seiner Verkündigung, von Taufe und Umkehr. Durch sie soll Israel bereit werden, dass der Herr kommen kann. Der Täufer bereitet das Volk auf sein Kommen vor, wie es in der Weissagung seiner Geburt in der Ik Kindheitsgeschichte heißt (Lk 1,17): „Und er wird vor ihm hergehen im Geist und in der Kraft Elias zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungehorsamen zu der Klugheit der Gerechten, zuzurichten dem Herrn ein Volk, das wohl vorbereitet ist."

Die mit dem Täufer verbundene Erwartung hat sich nicht erfüllt. Wenn er als Elia gedeutet wurde, so galt er wahrscheinlich als Vorläufer Gottes unabhängig von der umstrittenen Frage, ob er sich selbst als Vorläufer eines göttlichen Mandatars verstanden hat, der seine Wassertaufe durch eine Taufe mit Feuer und Geist vollenden werde, und nicht direkt als Vorläufer Gottes. In jedem Fall musste seine Hinrichtung für seine Anhänger als Enttäuschung einer großen Erwartung erlebt werden. War der Täufer nicht gekommen um das Ende einzuleiten und um Gott den Weg zu bereiten? Und jetzt war es trotzdem nicht eingetroffen!

2. Die Verzögerungsproblematik in der Verkündigung Jesu Ein erstes Indiz einer solchen Auseinandersetzung mit einer enttäuschten Erwartung kann man in der Verwendung von Bildern der Täuferpredigt in

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der Verkündigung Jesu sehen. Hier wird das Bild vom Baum und seinen Früchten und von Saat und Ernte in ganz anderer Weise als bei Johannes dem Täufer verwandt.'® In einem Ik Sondergutgleichnis soll der Baum gefällt werden, weil er unfruchtbar ist. Aber er findet einen Fürsprecher, der ihn Zeit gewinnen lässt - Zeit zur Umkehr und Besserung (Lk 13,6-9)." Ebenso wird das Bild von der Saat und ihrer Ernte in neuer Weise verwandt. Der Täufer konzentrierte sich auf das Ende, die Zeit nach der Ernte. Das Getreide ist bereits ausgedroschen, nun werden Spreu und Weizen getrennt. Das ist ein Bild für das Gericht. Der Wachstumsprozess bis zum Ende bleibt in diesem Bild ausgeblendet. Im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat im mk Sondergut wird dagegen der ganze Wachstumsprozess betont. Die Ernte ist dessen Ende (Mk 4,26-29). Die Frage ist: Haben spätere Christen eine glühende Naherwartung Jesu in diesen beiden Gleichnissen korrigiert? Haben sie den Gedanken eingetragen, dass Gott ihnen Zeit lässt, damit „von selbst" die Frucht wachsen kann und auch der unfruchtbare Baum noch einmal eine Chance bekommt? Denkbar ist auch, dass Jesus diese neuen Akzente gegenüber der Täuferbotschaft gesetzt hat. Und damit wäre er ihr in einem tieferen Sirme treu geblieben. Denn im Zentrum der Täuferbotschaft stand eine Heilsbotschaft, die schon hier und jetzt ihre ersten Wirkungen zeigen sollte: die Rettung vor dem Gericht.

2.1. Die Verzögermgsproblematik

und das Ende der Taufpraxis bei Jesus

Vielleicht lässt sich durch die Verarbeitung einer ersten Parusieverzögerung auch das Rätsel klären, warum Jesus nicht getauft hat - sicher nicht in der größten Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit, wahrscheinlich aber nie. Dabei werden verschiedene Gründe zusammen gekommen sein: 1. Die Taufe ist eine Fortentwicklung prophetischer Symbolhandlungen. Gegenüber den alttestamentlichen Zeichenhandlungen ist neu, dass nicht nur der Prophet selbst diese Handlung vollzog, sondern der Prophet sie zusammen mit seinen Anhängern ausführte.'^ Es könnte ein Erbe der propheVgl. zu diesen beiden Bildfeldern P. v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 18, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1993, zum Vergleich der Täufer- und der Jesustradition vgl. S. 139-141. ' ' Das ändert an der grundsätzlichen Übereinstimmung mit der Gerichtsbotschaft des Täufers nichts: Wenn der Baum keine Früchte bringt, wird er abgehauen (Lk 13,9b, vgl. auch Mt 5,19). Das gilt auch für Jesus. Er erwählt z.B. die Zwölf zu messianischen Regenten des neuen Israels (Mt 19,28). Dasselbe trifft auf die Zeichenpropheten des 1. Jh. n.Chr. zu: Theudas inszeniert mit seinen Anhängern einen neuen Durchzug durch den Jordan (Jos Ant 20,97-99); ein Ägypter inszeniert erneut die Eroberung von Jericho (Ant 20,169-172; Bell 2,261-263); andere Propheten fordern dazu auf, ihnen in die Wüste zu folgen (Ant 20,167f; Bell 2,258-260; vgl. auch Ant 20,188).

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tischen Symbolhandlungen sein, dass sie trotzdem an den Propheten gebunden blieb. Sie gehörte zu seiner einmaligen Botschaft und zu seiner Person. Respektierte Jesus diese exklusive Bindung an den Täufer? Für ihn (wie für andere) ist die Taufe exklusiv die „Taufe des Johannes" (Mk 11,30) und Johannes der „Täufer" schlechthin (Mt 11,11.12 vgl. Ant 18,116)! 2. Die Taufe war eine symbolische Ersatzhandlung. Wenn das Endgericht so nahe war, dass die Axt schon an die Wurzeln der Bäume gelegt war, blieb keine Zeit die Aufrichtigkeit der Umkehr durch ethische Taten zu beweisen. In dieser Situation bot der Täufer eine stellvertretende Handlung an, die noch im letzten Augenblick vollzogen werden kormte: die Taufe. Wenn sich das Ende hinauszögerte, musste der innere Grund für diese symbolische Ersatzhandlung entfallen. Verzichtete Jesus vielleicht deshalb auf die Taufe, weil er überzeugt war, dass Gott den Menschen noch eine Chance und Zeit genug zur Umkehr lässt? Das körmte Lk 13,6-9 sagen! 3. Die Taufe symbolisiert die ganzheitliche Reinigung von Sünden. Josephus betont zwar, dass die entscheidende, von der Taufe unabhängige Reinigung der Seele und die Reinigung des Leibes durch das Wasser zu unterscheiden seien, aber er greift damit vermutlich ein hellenistisches Konzept auf, das man beim Täufer nicht unterstellen kann. Doch muss die Abwehr eines Missverständnisses nicht ganz von Josephus eingetragen sein. Die Annahme liegt nahe, dass bereits der Täufer vor einem oberflächlichen Verständnis der Taufe gewarnt hat, denn es konnte nicht in seinem Sinne sein, dass die Menschen glaubten, Umkehr könne allein in der Reue und im Vollzug der Taufe bestehen und es sei unnötig danach „Früchte der Umkehr" zu bringen, beispielsweise Wiedergutmachung für vergangenes Unrecht zu leisten, solange dazu noch Zeit war. Bei Jesus lässt sich ein betont distanziertes Verhältnis zu rituell inszenierten Reinheitsvorstellungen aller Art beobachten, das mit seinem ausschließlich ethischen Reinheitsverständnis korreliert. Dazu passte die starke äußerliche Symbolik des Untertauchens und Abwaschens nicht. 4. Die Taufe ist eine vorläufige Symbolhandlung. Sie antizipiert die Scheidung, die durch eine höhere Taufe mit Geist und Feuer noch geschehen soll. Sie gehört nach allgemeiner religiöser Ritualsprache zu den vorbereitenden Riten. Falls Jesus am Anfang seines Wirkens gleichzeitig mit dem Täufer getauft haben sollte (wie Joh 3,22 berichtet, aber 4,2 wieder zurücknimmt),'^ so könnte das mit diesem Vorläufigkeitsbewusstsein zu tun ha-

" Die Rekonstruktion einer in den Quellen fast verdrängten Frühzeit des Wirkens Jesu als Täuferschüler, in der er im Auftrag des Johannes dessen Botschaft inklusive der Tauftätigkeit ausrichtete, unternimmt J. МифЬу-О'Соппог, John the Baptist and Jesus: History and Hypotheses, NTS 36 (1990) 359-374. Das Hauptargument gegen diese mit bestechenden Argumenten vorgetragene

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ben: Erst als der Täufer gefangen worden war, trat Jesus mit seiner neuen Botschaft von der jetzt erfflllten Zeit auf. Wahrscheinlich ist aber Joh 3,22 Rückprojektion der nachösterlichen Taufpraxis von Christengruppen, die in Konkurrenz mit Täufergruppen tauften. Unabhängig davon könnte die Vorläufigkeit der Taufe deren Verzicht bei Jesus erklären. Jesus weiß: Jetzt ist Freuden- und Eriullungszeit. In der Gegenwart des Bräutigams muss man weder fasten - noch sich taufen lassen (Mk 2,18-19). 5. Die Taufe ist schließlich eine symbolisches Vergewisserungsritual. Mit der Umkehr Israels dürfte die Hoffnung verbunden gewesen sein, dass das Heil kommt, wenn alle umkehren. Sie soll Gott den Weg bereiten - und das heißt: Hindemisse fìir sein Kommen aus dem Wege räumen! Solche Umkehrbewegungen sind keineswegs immer Ausweis intensiver Naherwartung, sie können auch auf ausbleibende Naherwartung reagieren: Die kognitive Dissonanz zwischen Erwartung und Erleben wird durch eine erhöhte Aktivität geschlossen. Das kann - wie später im Urchristentum - missionarische Aktivität sein. Vor dem Ende muss noch die ganze Welt missioniert werden (Mk 13,10). Das kann aber auch - wie beim Täufer - die Aktivität einer Umkehrbewegung sein! Hat Jesus Umkehr und Taufe entkoppeln können, weil er in anderen Zeichen das Kommen des Heils begründet sah, in Wundern und Exorzismen (Q 7,18f.22f; Q 11,20), und die Vergewisserung in anderen symbolischen Handlungen wie der offenen Tischgemeinschaft zum Ausdruck brachte? Wir werden diese Fragen nie ganz beantworten können. Aber es ist u.E. wahrscheinlich, dass schon Jesus auf eine eschatologische Verzögerung reagiert, die mit dem Auftreten und dem Scheitern Johannes des Täufers erlebt werden konnte. Man kötmte gegen diese Annahme einwenden, dass wir keine direkte Aussage in der Jesusüberlieferung über solch eine „Parusieenttäuschung" in Verbindung mit Johannes dem Täufer haben. Jedoch könnten zwei Überlieferungen sich damit auseinandersetzen: der Doppelspruch von Salomo und Jona und die bei Q überlieferte Zeichenforderung, die ein Zeichen des Jona verheißt. Jona war ein Prophet, in dessen Schicksal eine Verzögerung des Strafgerichts Gottes eine entscheidende Rolle spielte. Seine Gerichtspredigt bewirkte Umkehr und rettet Ninive (zeitweilig) vor dem Gericht. Diese Verzögerung wurde positiv gedeutet. Sie war ein Zeichen der Gnade Gottes. Griff Jesus deshalb auf Jona zurück um sich mit der Gerichtsverzögerung des Täufers auseinander zu setzen?

Hypothese ist die Tatsache, dass die Taufe als prophetische Symbolhandlung untrennbar mit der Person „des Täufers" verbunden zu sein scheint.

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2.2. Die Verzögerungsproblematik in den Jesusworten von Jona''' Die beiden Überlieferungen, die Jona erwähnen, bildeten zwar bereits in Q (wie nun bei Mt 12,38-42 und Lk 11,29-32) eine Einheit, sind aber ursprünglich unabhängig voneinander. Ein erstes Indiz dafür ist, dass die Zeichenforderung auch im MkEv überliefert ist, allerdings in einer kürzeren Version, die auf den ersten Blick der Q-Fassung diametral zu widersprechen scheint, da Jesus statt des in Q versprochenen enigmatischen „Zeichen des Jona"'^ jegliches Zeichen strikt verweigert (Mk 8,1 If). Bei Mt begegnet die Zeichenforderung zweimal, wobei der Evangelist die mk Fassung durch Zufügung von el μή τό σημίΐον Ίωνά an die Q-Fassung angeglichen hat (Mt 16,4). Der in Q folgende Doppelspruch ist für sich selbst verständlich, bietet mit dem Beispiel Salomos ein überschießendes Element und setzt das Beispiel des Jona argumentativ leicht unterschiedlich ein: in der Zeichenforderung wird das „Zeichen des Jona" der umkehrunwilHgen „bösen Generation" entgegengehalten; im Doppelspruch findet Jona ein umkehrwilliges Volk, das „dieser bösen Generation" im Gericht entgegentreten wird.'® Dies sind deutliche Zeichen fur eine sekundäre Kombination der beiden Überlieferungen durch Stichwortanschluss (Ίωνά; ΝινευΙται; yeveà αΐίτη), der sich wahrscheinlich auch die gegenüber Lk 11,31 f abweichende mt Reihenfolge der Beispiele Jona - Salomo verdankt. Die sekundäre Funktion von 11,31 f als „Kommentarwort" zum Jonazeichen" darf dann für die Interpretation des zugrundeliegenden Jesuswortes keine Rolle spielen. Insbesondere die im Q-Zusammenhang leitende Typologie Jona - Jesus darf nicht unhinterfragt bei der Deutung vorausgesetzt werden.'^ In diesem Abschnitt werden Überlegungen aufgenommen und vertieft, die erstmals vorgelegt werden in G. Theißen, Das Zeichen des Jona. Von der Menschenfreundlichkeit Gottes (Lk 11,2932 parr), erscheint 2003 in einer Festschrift mit dem Titel „Der Freund des Menschen" (Neukirchener). FUr zahlreiche exegetische Detailfragen und Diskussionen mit Forschungspositionen sei auf diesen Aufsatz verwiesen. " Zum Zeichen des Jona vgl. R. A. Edwards, The Sign of Jonah in the Theology of the Evangelists and Q, SBT 18, London: SCM 1971, und S. Chow, The Sign of Jonah Reconsidered. A Study of its Meaning in the Gospel Traditions, CB.NT 27, Stockholm: Almquist 1995; M. D. Hooker, The Signs of a Prophet. The Prophetic Actions of Jesus, Harrisburg: Trinity Press 1997, 17-34. " Als weiterer Unterschied wird üblicherweise vermerkt, dass in Q 11,30 das zukünftige Kommen des Menschensohns mit der Wirkung Jonas verglichen werde, es im Doppelspruch dagegen um die Reaktion der jeweiligen Zeitgenossen auf die vorausgesetzte Tätigkeit der и т к е Ь ф г о pheten gehe. Dies Argument gilt allerdings nicht, wenn 11,30 ursprünglich auf die Verkündigung des Menschensohns an die gegenwärtige Generation bezogen gewesen ist, wie wir unten zu zeigen versuchen werden. " J. Wanke, „Bezugs- und Kommentarworte" in den synoptischen Evangelien, EThSt 44, Leipzig: St. Benno 1981, 56-60. " M. D. Hooker, Sign, 21, bestreitet, dass Jona eine passende Typologie für Jesus sein könnte: „Jonah was disobedient, and refused the call of God, whereas Jesus is depicted by the evangelists

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Der eschatologische Jesus

2.2.1. Der Doppelspruch von Salomo und Jona als Wort über Johannes den Täufer Stellt man die beiden Hälften des Doppelspruchs Q ll,31f in der vermutlichen Fassung von Q nebeneinander," zeigt sich eine große Symmetrie: Q 11,31:

Q 11,32:

βασίλισσα νότου

ανδρΕς Ν ι ν ε υ ί τ α ι

έ γ φ θ ή σ ε τ α ι kv ττ) κ ρ ί σ ε ι

ά ν α σ τ ή σ ο υ τ α ι kv t f | κ ρ ί σ ε ι

μ ε τ ά τ η ς γ ε ν ε ά ς ταύτης

μ ε τ ά της γ ε ν ε ά ς τ α ύ τ η ς

και κατακρίνει αύτήν,

καΐ κ α τ α κ ρ ι ν ο ΰ σ ι ν α ύ τ ή ν ,

δ τ ι ή λ θ ε ν έκ τ ω ν π ε ρ ά τ ω ν της γ η ς

δτι μετενόησαν εις τό κήρυγμα

Ίωνά,

άκουσα L την σ ο φ ί α ν Σολομώνος, κ α ΐ Ιδοί) ιτλεΧον Σ ο λ ο μ ώ ν ο ς ώδε.

κ α ΐ Ιδου π λ ε ί ο ν Ί ω ν ά ώδε.

Es handelt sich um ein geschlechtssymmetrisch strukturiertes doppeltes Gerichtswort an „dieses Geschlecht", als Zeugen werden die Königin des Südens und die Männer von Ninive aufgeboten, weil diese gegenüber der Weisheit Salomos bzw. der Predigt des Jona angemessen reagierten, wogegen sich „dieses Geschlecht" der Einsicht verweigert, dass in seiner Gegenwart eine weit bedeutendere prophetische und weisheitliche Botschaft vorgetragen wurde und eine Reaktion verlangt. Die Wahl von Salomo und Jona als Beispielpaar, die in der zeitgenössischen jüdischen Literatur bisher ohne exakte Parallele ist,^" lässt folgende Aspekte hervortreten: In beiden Fällen gewarmen Juden Heiden ftir sich, durch Weisheit und Prophetic, deren Wirkung verschieden beschrieben wird. Die Weisheit des Salomo wirkt wie ein Magnet, zieht Menschen bis zu den Enden der Erde an, die kommen um sie zu hören, wobei der Blick auf eine einzige königliche Adressatin gelenkt wird. Die prophetische Botschaft des Jona wird dagegen zu den Menschen getragen, nicht dass sie hören ist das Ziel, sondern dass sie umkehren. Soll man darin eine bewusste Steigerung sehen, vom Hören zur Umkehr und von der Wirkung auf eine einzige Person hin zur Bekehrung eines ganzen Volkes? Oder handelt es sich um zwei typische Wege, mit der as obedient and well-pleasing to God; Jonah proclaimed judgement, and was resentful of God's mercy, whereas Jesus proclaimed salvation, and wept over the people's refusal to respond: Jonah's preaching met with total success, since the Ninevites all repented, whereas Jesus' ministry appeared to end in failure. It seems unlikely that Jesus himself would have seen Jonah as a rolemodel." " Wiedergegeben wird der Text des IQP: J. M. Robinson/P. Hoffmann/J. S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q, Leuven: Peeters 2000. ^^ D. Correns, Jona und Salomo, in: W. Haubeck/M. Bachmann (Hg.), Wort in der Zeit, FS K. H. Rengstorf, Leiden: Brill 1980, 86-94, hat auf die Fastenliturgie in mTaan 11,4 hingewiesen, in der Jona im Rahmen einer längeren Paradigmenreihe vor David und Salomo genannt wird. Thema ist jedoch jeweils die Erhörung in einer Notsituation, bei Jona der Ruf aus der Tiefe des Meeres, er wird nicht als Umkehφrediger angeführt.

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gerichtsabwendenden Botschaft bekannt zu werden, sich ihr aktiv zuzuwenden oder mit ihr konfrontiert zu werden? Dafür spricht die sonstige Parallelität der Logien, die keine Differenz in der potentiell rettenden Qualität von Weisheit und Prophetie erkennen lässt. Beides gehört auch im zeitgenössischen Judentum untrennbar zusammen,^' die Weisheit tritt in prophetischer Pose auf und ruft zur Umkehr (Sir 17,24; Weish 11,23; 12,10.19), ein exemplarischer Weiser wie Salomo bedroht selbst Könige mit dem Gericht (Weish 6,1-11), die Weisheit rüstet Propheten aus (Weish 7,27), was sich etwa an der überlegenen Weisheit eines Daniel zeigt. Offenkundig ist jedoch, dass mit dem Nebeneinander von Salomo und Jona ein schichtspezifischer Unterschied eingeführt wird: Weisheit war traditionell nur den wenigen Reichen zugänglich, die die Muße erübrigen konnten ihr Joch auf sich zu nehmen (vgl. Sir 6,18ff; 38,25ff). Prophetische Predigt ist in dieser Hinsicht nicht eingeschränkt, sie ergeht an „Groß und Klein" (Jona 3,5). Die im Neutrum formulierten Überbietungslogien zeigen, dass Jona und Salomo nicht so sehr als Einzelgestalten interessieren, sondern dass ihre Botschaft als entscheidend für den Vergleich mit der Gegenwart betrachtet wird. „Hier" ist mehr als Salomo und Jona, eine größere Weisheit und eine größere Prophetie, die explizite christologische Zuspitzung ergibt sich erst aus dem sekundären Zusammenhang durch Zusammenstellung mit der Perikope vom Zeichen des Jona und des Menschensohns. Zweifellos ist jedoch an eine konkrete Person gedacht,^^ die in der Gegenwart als typologische Entsprechung für Jona und Salomo fungiert. Wenn das Logion auf Jesus zurückgeht, wovon man solange ausgehen sollte, wie es sich im Rahmen seiner Botschaft befriedigend erklären lässt, könnte er an sich selbst gedacht haben, dann gäbe er interessante Hinweise auf sein Selbstverständnis und seine implizite Christologie. Jesus könnte aber auch eine Aussage über jemanden anderen gemacht haben. Der einzige, der dafür nach unseren Quellen in Frage kommt, ist Johannes der Täufer. ^ Betrachten wir zunächst Vgl. J. S. Kloppenborg, The Formation of Q. Trajectories In Ancient Wisdom Collections, Philadelphia: Fortress Press 1987, I33f. ^^ Auszuschließen ist u.E., dass sich die beiden Teile des Logions auf zwei Personen, den Täufer und Jesus beziehen. So deuten B. W. Bacon, What was the Sign of Jonah? BW 20 (1902) 99112, und M. D. Hooker, Sign, 1997, 29, die zugleich im „Zeichen des Jona" (Q 11,29) eine typologische Beziehung auf die Taufe des Johannes sehen, die ja auch „vom Himmel" ist (vgl. Mk 11,30). Der Doppelspruch brächte dann einen Mt 11,16-19 analogen Gegensatz zwischen der Predigt Johannes des Täufers „which leads to repentance" und der Weisheit Jesu „which attracts someone ,from the ends of the earth'" zum Ausdruck (M. D. Hooker, Signs, 29). Aber es gibt kein einziges Textsignal, das die Leserinnen und Leser auf einen Gegensatz hinweisen würde, auch nicht das kleinste &i oder άλλά. ^^ Die Deutung des Doppelspruches auf den Täufer hielt R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 12, Göttingen: Vandenhoeck '"1995, 124 Anm. 2 fflr erwägenswert. Vertreten wird sie erstmals von W. Brandt, Die Evangelische Geschichte und der Ursprung des

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diese Möglichkeit näher, um anschließend zu fragen, ob diese Deutung dem Bezug auf Jesus selbst überlegen ist. Die Vermutung, Jesus habe sich mit der Aussage „siehe, mehr als Jona ist hier" auf Johannes den Täufer bezogen, liegt vor allem deshalb nahe, weil Jesu ausdrückliches Urteil über ihn nach Q 7,26 lautete, er sei „mehr als ein Prophet" (πίρισσότερον προφήτου). Diese Aussage beschließt die Antwort auf die letzte von drei auf den Täufer bezogenen Vergleichsfragen, von denen die ersten zwei verneint werden müssen, die letzte bejaht und überboten wird: Er ist ein Prophet und mehr als das.^'* Interessant sind auch die beiden abgelehnten Kontrastbilder: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen? Ein Schilfrohr, das im Winde schwankt? Doch was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Menschen mit weichen Kleidern geschmückt? Siehe, die weiche Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. (Q 7 , 2 4 - 2 5 )

Das Bild vom Schilfi-ohr ist wahrscheinlich eine versteckte Polemik gegen den Landesherm von Galiläa, Herodes Antipas, auf dessen Münzen aus Respekt vor dem jüdischen Bilderverbot statt seines eigenen Konterfeis Schilfrohr abgebildet war. Nicht ihn, den als wankelmütig bekannten Politiker, sondern seinen geradlinigen prophetischen Gegenspieler haben die von Jesus angesprochenen Menschen in der Wüste aufgesucht.^^ Der zweite Vergleich bezieht sich auf die an den Königspalästen ein- und ausgehenden Personen, die Reichen, Mächtigen und Gebildeten im Lande.^® Nicht eme solche im wörtlichen Sinne „gutbetuchte" Person, sondern den als Asketen bekannten Johannes haben die Hörerinnen und Hörer Jesu aufgesucht, einen Propheten, von dem Jesus meint, dass er sogar über alle vorherigen Propheten hinausragt. Was dieses Logion mit dem Doppelspruch von Salomo und Jona verbindet, ist also neben dem Abschluss mit einer Überbietungsaussage auch die Kombination von Königs- und Prophetenthematik, wobei der

Christenthums auf Grund einer Kritik der Berichte Uber das Leiden und die Auferstehung Jesu, Leipzig: Reisland 1893, 459 Anm. 2. Vgl. ders.. Die jüdischen Baptismen oder das religiöse Waschen und Baden im Judentum mit Einschluss des Judenchristentums, BZNW 8, Gießen: Töpelmann 1910, 82-84. Ihm folgt J. H. Michael, The Sign of John, JThSt 21 (1919) 146-159. Dagegen votiert C. R. Bowen, Was John the Baptist the Sign of Jonah? AJT20 (1916) 414-421. Zum Täufer als Prophet vgl. M. Tilly, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten. Die synoptische Täuferüberlieferung und das jüdische Prophetenbild zur Zeit des Täufers, BWANT 137, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1994. " Vgl. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1989,26-44. Herodes Antipas war zwar genau genommen kein König wie sein Vater Herodes der Große, sondern nur Tetrarch. Aber die Herodessöhne wurden vom Volk wohl weiter einfach „Könige" genannt, so auch Antipas (vgl. Mk 6,22.25.27).

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Täufer auch in 7,24-26 beidem übergeordnet wird, einerseits der traditioneilen Vorstellung eines Propheten, andererseits der königlichen Luxuswelt (zu der auch die zwar unerwähnt bleibende, aber dort traditionell gepflegte Weisheit gehört). Allerdings genügt dieser mehr indirekte Vergleich mit der herodianischen Hofgesellschaft in Q 7,25 noch nicht um Jesus die Aussage zuzutrauen, der Täufer sei „mehr als Solomo", dessen Weisheit Menschen von den Enden der Erde herbeilockte. Aber dafür sprechen weitere Argumente: In der Jesusüberlieferung ist das Bild des Täufers einseitig auf seine prophetisch-messianische Botschaft hin zugespitzt worden. Josephus lässt noch erkennen, dass er ein bedeutender Lehrer war, er fasst seine Lehre durch den Kanon der beiden Grundtugenden zusammen, der Täufer habe die Menschen ermahnt Gerechtigkeit untereinander und Frömmigkeit gegenüber Gott (Ant 18,117) zu praktizieren. Auch in den Evangelien finden sich davon Spuren, und zwar in verschiedenen Überlieferungsschichten, was ihre historische Auswertbarkeit erhöht. Lk überliefert in der sog. Standespredigt elementare ethische Maximen des Täufers (Lk^ 3,10-14), nach Mt 21,32 kam der Täufer auf dem „Weg der Gerechtigkeit" und nach Q 7,35 war er ein Bote der Weisheit.^^ Wir haben Grund zu der Vermutung, dass unter den Weisheitsworten Jesu sich etliche befinden, die er Johannes verdankt.^® Es ist also keinesfalls unmöglich, dass der Täufer von seinem Anhänger Jesus als ein neuer „Salomo" angesehen wurde! Aber passt das Wort nicht genauso gut als Wort Jesu über sich selbst, über die Ablehnung seiner Botschaft durch „diese Generation"? Die QRedaktoren hatten keinerlei Problem damit, das Wort als Selbstaussage Jesu zu verstehen. Mt bietet in 12,6 einen möglicherweise analogen, auf Jesus zu beziehenden Überbietungsspruch „siehe, hier ist mehr (μείζον) als der Tempel".^' Die Überlieferung von der Seligpreisung der Augen- und Ohrenzeugen (Q 10,23f) wirkt wie das positive Gegenstück zu den Überbietungsaussagen im Gerichtswort ll,31f Und Jesus hat auch sonst die Haltung zu seiner Botschaft als entscheidendes Kriterium im Endgericht an-

Zweifellos ist der Täufer auch in Q 11,49 mitgemeint, wenn es dort heißt: „Darum sagt auch die W e i s h e i t . . . Ich werde zu ihnen Propheten und Weise senden, und sie werden einige von ihnen töten ... , damit das Blut aller Propheten ... von dieser Generation eingefordert wird." Hier zeigt sich erneut der für Q charakteristische enge Zusammenhang von Weisheit und Prophetie, der auch in Q 11,3 If vorausgesetzt ist. Vgl. dazu G. Theißen, Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in diesem Band S. 57-72. Zum Täufer als Lehrer, dessen Worte in Jesu Lehre aufgegangen sind, vgl. J. E. Taylor, The Immerser: John the Baptist within Second Temple Judaism, Grand Rapids: Eerdmans 1997, 101-154, bes. 149ff. Nach и . Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1/2, Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn: Benziger/Neukirchener M 996, 231, ist das neutrische μείζοι^ auf die Barmherzigkeit zu beziehen. Dann wäre der Satz keine sachliche, sondern lediglich eine formale Analogie.

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gesehen (vgl. nur Q 12,8f/Mk 8,38; Q 10,13-15). Es ist aber gerade der Vergleich mit einem solchen, Q 1 l,30f in mancher Hinsicht sehr ähnlichen Gerichtswort Jesu, das auch die Unterschiede deutlich hervortreten lässt und die Deutung auf den Täufer wahrscheinlich macht. Betrachten wir Q 10,13-14:^° Ούαί σοι, Χοραζίν, ούαί σοι, Βηθσαίδά· δτι el kv Τύρω και Σιδώνι έγενήθησαν αΐ δυνάμεις αΐ γενόμεναι έν ύμιι/, πάλαι άι/ kv σάκκί^ καΐ σποδω μετενόησαν. πλην Τύρφ και Σιδώνι άνεκτότερον εσται έν ττ) κρίσει ή ύμίν. Im Vergleich mit 11,3 If sind ähnliche Elemente die Wahl heidnischer Protagonisten, die jeweils einer bestimmten Stadt bzw. Region zugeordnet werden ([die Leute von] Tyros und Sidon, bzw. die Männer von Ninive und die Königin des Südens), und die Überzeugung, dass diese eher zum μβτανοεΐν zu bewegen sind als die Juden ([die Leute von] Chorazin und Bethsaida bzw. „diese Generation"). 10,13f diskutiert dies an einem irrealen Fall, Q 11,31 f an zwei biblischen Beispielen; die Rolle der Heiden im Gericht wird zwar verschieden bestimmt, hat jedoch dieselbe rhetorische Funktion, die unbußfertigen Juden im Gericht zu beschämen, sei es dadurch, dass es selbst den schlimmsten heidnischen Städten noch besser ergehen wird als den jüdischen Städten, sei es dadurch, dass diese Generation gar von auferstehenden Heiden verurteilt werden wird. Der bei dieser großen Nähe ins Auge fallende Unterschied zwischen den Logien liegt darin, wodurch der Schuldaufweis herbeigeführt wird: die jetzt zugängliche größere Weisheitslehre und Prophetic einerseits, die mit bestimmten galiläischen Orten verbundenen Machttaten andererseits. Wo Jesus die Verweigerung gegenüber seiner eigenen Wirksamkeit zum Maßstab des Gerichtes macht, da bezieht er sich auf den Aspekt seines Wirkens, der ihn vom Täufer klar unterschied: auf seine Wunder. Nähe und Unterschiede der beiden Gerichtsworte erklären sich daher vorzüglich, wenn man annimmt, dass sie denselben Gedanken einmal in Hinsicht auf den Täufer, einmal in Hinsicht auf Jesus entfalten.^' Daim liegt allerdings die Vermutung nahe, dass Q ll,31f auf das konkrete Wirken des Täufers zu beziehen ist. Der Bezug auf die Ge-

Zur Deutung von Q 10,13-15 als authentisches Jesuswort im Rahmen der Gerichtspredigt Jesu vgl. M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund, Münster: Aschendorff 1990, 207-215. " Damit erklärt sich das von R. Bultmann, Geschichte (s.o. Anm. 23), 118, beschriebene Dilemma, dass Lk ll,31f für sich betrachtet keinen Anlass böte, „es für eine Gemeindebildung zu halten", aber wegen der überzufälligen Parallelität der Logien doch der Eindruck entstehe, dass ein „Schema der Polemik des Urchristentums" zugrunde liegen müsse (mit A. Fridrichsen). Es handelt sich um ein von Jesus selbst geprägtes polemisches Schema, das er in variabler Weise auf sich selbst und auf den Täufer angewendet hat. Vgl. noch Lk 4,25-27.

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richts- und Umkehrpredigt in 11,32 ist offenkundig. Dennoch sei zugegeben: Dieser B e z u g passt auch auf Jesus. Wir fragen daher: Gibt es im Wort über Salomo und Jona weitere Hinweise auf die Tätigkeit des Täufers? Wir meinen, dies sei bei der Königin des Südens und vielleicht auch bezüglich der Ausstrahlung auf die Heiden der Fall. Es war oben schon erwähnt worden, dass aus der Symmetrie zwischen beiden Teilen des Doppelspruchs ein Zug herausfällt: zu Salomo kam eine einzelne Königin um an seiner Weisheit zu partizipieren, Jona dagegen ging zu der ganzen Bewohnerschaft von Ninive. Die Einwohner v o n Ninive sind eine passende Entsprechung zu „dieser Generation", die ihr gegenwärtiges Pendant ist. W e m aber entspricht die heidnische Königin des Südens? Es erschwert die Beantwortung dieser Frage, dass der Text des Logions bezüglich der Gruppe, mit der die Königin des Südens beim Gericht auftreten wird, nicht einheitlich überliefert und die von Jesus ursprünglich genannte Person oder Gruppe vielleicht sogar unwiederbringlich verloren ist. Da Lk „die Männer dieser Generation", Mt „diese Generation" als gegenwärtige Entsprechung zur Königin des Südens nennt, ist zunächst zu fragen, wie der Text von Q gelautet hat. Hält man die im Jona-Spruch von Mt und Lk übereinstimmend genannten „Männer von Ninive" als Zeugen gegen „diese Generation" für ursprünglich, ergeben sich zwei plausible Möglichkeiten. Entweder hat Mt im Salomo-Spruch den Q-Text erhalten. Dann läge die Geschlechtssymmetrie des Doppellogions darin, dass ein weiblicher und viele männliche Ankläger gegen diese Generation aufgeboten werden. Es ist aber auch denkbar, dass das Logion in Q tatsächlich wie bei Lk ursprünglich die Königin des Südens als Zeugin gegen die Männer dieser Generation auftreten ließ und Mt diese ihm rätselhafte Lesart beseitigte.'^ Sollte die Königin geschlechtsspezifische Verfehlungen bezeugen?^' Oder liegt ein im Kem misogynes Argument vor: die Männer des Volkes Israel, denen die Weisheit Salomes zuerst galt, werden durch eine heidnische Frau beschämt, der als allerletzter Verständnis dafür zuzutrauen gewesen wäre?'"* Eine sichere Entscheidung ist unmöglich und für unsere Zwecke auch unnötig, denn es gibt gute Gründe, in der Bezeichnung der Adressaten des Doppelspruchs als „(Männer) diese(r) Generation" insgesamt einen redaktionellen Eingriff der Q-Redaktoren zu sehen, da der Gegensatz zwischen Jesus und „diesem Geschlecht" das redaktionelle Hauptmotiv der Zusammenstellung der ganzen Über-

^^ Eine ebenfalls denkbare, im Laufe der Überlieferung verlorengegangene doppelte Geschlechtssymmetrie, bei der die Königin des Stidens (wie bei Lk) gegen die Männer dieser Generation, die Männer von Ninive aber gegen die Frauen dieser Generation aufgetreten wären, lässt sich für Q kaum wahrscheinlich machen. Q kennt zwar geschlechtsdiffenzierte Gerichtsansagen (vgl. Q I7,34f), aber die Jonalegende bot keinerlei Anhalt zu einer Beschränkung auf Frauen. " So G. Theißen, Zeichen (s.o. Anm. 14). " So F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, EK.K 111/2, Zürich u.a./Neukirchen; Benziger/ Neukirchener 1996, 202. Dann wäre bei formaler Symmetrie eine Steigerung zwischen den Versen beabsichtigt; „Diese Generation" wird durch heidnische Männer, ja sogar die Märmer dieser Generation durch eine Heidin verurteilt werden. Unmittelbar einsichtig ist diese Konstruktion nicht. Das zeigen die textkritischen Varianten, die „Männer" durch „Menschen" ersetzen oder ganz streichen.

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lieferungseinheit Q 11,14-52 ist " So ist es durchaus denkbar, dass ursprünglich differenziert benannte Gruppen, die für uns nicht mehr erkennbar sind, in dem Doppellogion vereinheitlicht wurden, auch wenn sich Sicherheit darüber nicht gewinnen lässt. Ob die Königin des Südens ursprünglich gegen „diese Generation" oder eine anders bezeichnete Gruppe auftreten sollte, muss offen bleiben.

Versteht man das Logion 11,31 als Spruch über Johannes den Täufer, der in eine typologische Entsprechung mit Salomo gebracht wird, dann konnte die Verbindung Salomes mit der Königin des Südens bei den Hörerinnen und Hörem Jesu eine Reihe möglicher zeitgeschichtlicher Assoziationen hervorrufen, je nachdem, ob die gegenwärtige „Fürstin" der Königin des Südens als Kontrast oder als Analogie entgegengehalten wird. Man konnte an den Täufer als Gegenspieler der Herodias denken.^^ Während die Königin des Südens auf die Weisheit Salomos gehört hatte, bekämpfte Herodias den Boten der Weisheit, der größer als Salomo ist. Während die Heidin sich von der Weisheit Salomos belehren ließ, ging die Jüdin eine gesetzwidrige Ehe ein und verfolgte den Propheten, der dies kritisierte, bis sie seinen Tod erwirkt hatte. Versteht man die Typologie von der Königin des Südens so als Kontrast zu einer gegenwärtigen Fürstin, dann tritt die Königin des Südens im Endgericht als Zeugin gegen die herodäische Oberschicht auf. Allerdings muss die Königin des Südens nicht unbedingt als Kontrastgestalt wahrgenommen worden sein. Sie könnte auch als Vorbild im positiven Sinne gemeint sein. Daher sind noch weitere Assoziationen möglich. Wenn Salomo im Spruch Jesu ein Typos für Johannes sein soll, so müsste auch der Täufer Ausländer angezogen haben. Davon aber hören wir in den Evangelien nichts. Oder gibt es doch einen Hinweis darauf? Im Bericht des Josephus über den Täufer gibt es eine rätselhafte Passage, die man in der Tat auch so deuten kann, als habe der Täufer mit seiner Botschaft „NichtJuden" beeinflusst. Gerade deshalb war er vielleicht für seinen Landesftirsten Antipas so gefahrlich. Der Abschnitt (Ant 18,116-119) sei deshalb ganz zitiert. Er bezieht sich am Anfang auf eine Niederlage des Herodes Antipas in einem Krieg gegen den Nabatäerkönig Aretas ca. 35 n.Chr.: Einige der Juden aber glaubten, das Heer des Herodes sei von Gott vernichtet worden, womit er ihn höchst gerechterweise büßen ließ und Rache nahm fur Johannes, den sogenannten Täufer. Diesen nämlich tötete Herodes, obwohl er ein Mann von guter Gesinnung war und die Juden

Vgl. D. LUhrmann, Die Redaktion der Logienquelle, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1969, 24--48. ' ' Zu den politischen Hintergründen der Hinrichtung des Täufers vgl. G. Theißen, Lokalkolorit (s.o. Anm. 25), 85-120 und R. L. Webb, John the Baptizer and Prophet. A Socio-Historical Study, JSNT.SS 62, Sheffield: JSOT Press 1991, 349-378.

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dazu aufforderte, Tugend zu üben und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu praktizieren und (dann) zur Taufe zu kommen. Denn so schien ihm [Gott] die Taufe wirklich angenehm zu sein, wenn sie sie nicht zur Abbitte für irgendwelche Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausübten, zumal ja auch die Seele durch (ein Leben in) Gerechtigkeit vorher bereits gereinigt sei. Weil aber die anderen zusammenströmten (και τώΐ' αλλωι^ συοτρεφομένων) und weil sie vom Hören der Worte aufs höchste erregt wurden, fürchtete Herodes, sein [Johannes'] übergroßer Einfluss auf die Menschen könnte zu einer Art Aufstand führen - denn sie schienen alles seinem Rat gemäß zu tun - und hielt es darum für viel besser, ihn, bevor Neuerungen durch ihn entstünden, vorgreifend aus dem Weg zu räumen, als nach geschehenem Umsturz in eine schwierige Lage zu geraten und (sein Zögern) zu bereuen. Auf den Verdacht des Herodes hin wurde er [Johannes] gefesselt nach Machärus - die bereits erwähnte Festung - geschickt und dort hingerichtet. Bei den Juden aber herrschte die Ansicht, dass als Rache für jenen der Untergang über das Heer kam, weil Gott Herodes Schaden zufügen wollte."

Wer waren „die anderen", die hinzukamen? Der Täufer wandte sich nach dem Bericht des Josephus an „die Juden". Man könnte seinen Text so verstehen, dass er zunächst die Juden ansprach, die Gerechtigkeit und Frömmigkeit übten; dann weitere Juden mit anderen Motiven. Und das sei der Grund für das Vorgehen gegen den Täufer gewesen. Möglich ist aber auch, dass mit den „anderen" Nicht-Juden gemeint sind.^* Diese hätten ein Motiv gehabt auf den Täufer zu hören. Johannes der Täufer hatte die Ehepolitik des Herodes Antipas kritisiert. Herodias hatte zur Ehebedingung gemacht, dass er seine erste Frau, eine Nabatäeφгinzessin, verstößt. Diese war zu ihrem Vater geflohen, dem Nabatäerfursten im Süden des Landes. Fortan hatte Herodes Antipas einen mächtigen Feind im Süden. Wegen dieser Verbindung der Täufeφгedigt mit den Nachbarn im Süden Palästinas konnte die Niederlage des Antipas gegen seinen ehemaligen Schwiegervater als Strafe für die Hinrichtung des Täufers gedeutet werden: Der Täufer hatte genau jene Ehepolitik kritisiert, die Herodes in diese Niederlage hingeführt hatte. Auf diesem Hintergrund macht die Aussage des Josephus einen guten Sinn, wenn man sie auf Nicht-Juden bezieht. Für Antipas wurde der Täufer in dem Augenblick gefährlich, als er auch Nabatäer im Süden seines Landes mit seiner Kritik beeindruckte.

" Wir entnehmen die Übersetzung G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen: Vandenhoeck '2001, 176f, Erläuterungen zur Syntax siehe dort. " Das vermutet auch R. L. Webb, John (s.o. Anm. 36), 36. Er verweist auf den Ort der Taufe: die dort verlaufenden Handelsrouten in den Osten brachten sicher Nicht-Juden mit dem Täufer in Kontakt, im transjordanischen Gebiet lebten viele Heiden.

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Eine Spur von der prinzipiellen Offenheit des Täufers gegenüber NichtJuden hat sich vielleicht in dem Logion Q 3,8 erhalten. Der Täufer sagte zu denen, die meinten, dass sie dem kommenden Zomgericht entrinnen würden, weil sie Abraham zum Vater haben, sich also auf ihren heilsgeschichtlichen Status als Angehörige des auserwählten Volkes beriefen, dass Gott Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken könne (δύναται ό θεός Ικ των λίθων τούτων èyslpai τέκνα τω Αβραάμ). Wer so wenig von den ererbten Vorzügen und so viel von der gegenwärtigen Entscheidung zum Heil häk, wird sich nicht-jüdischen Anhängern kaum verweigert haben, wenn sie zur Umkehr bereit waren. Es könnte eine kreative Weiterschreibung dieser täuferischen Grundeinstellung durch Jesus sein, wenn in Q ll,31f Gott aus den Heiden die „erweckt" (vgl. έγερθήσεται in 11,31), die diese Generation (der Abrahamskinder) richten werden und (als Kinder Gottes) an der Auferstehung teilhaben (vgl. άναστήσονται in 11,32). Von Heiden beim himmlischen Mahl mit Abraham spricht jedenfalls auch Q 13,28f,^' ein Wort, das man dem Täuferschüler Jesus zutrauen darf, wenn bereits Johannes mit nicht-leiblichen Kindern Abrahams rechnete.'*" Gehen diese Überlegungen zu heidnischen Sympathisanten des Täufers in die richtige Richtung, dann hätte Jesus in seinem Logion mit der „Königin des Südens" Assoziationen an die Nabatäeφrinzessin im Süden heraufgerufen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass er die Königin von Saba „Königin des Südens" nermt - eine Bezeichnung, die erst hier auftaucht.'" Musste sie, die Nabatäeφrinzessin aus dem Süden, nicht aus vollem Herzen der Botschaft des Täufers zustimmen? Musste sie nicht von seiner Weisheit beeindruckt sein - wie einst die Königin des Südens von der Weisheit Salomes beeindruckt war? Wir werden nie ganz sicher sein, welche Assoziationen und Anspielungen das Wort in seiner Ursprungssituation auslöste. Wir haben daher zwei Möglichkeiten gezeigt, die sich nicht unbedingt ausschließen: Entweder wurden mit der Königin des Südens Gedanken an die Gegenspielerin des

" Vgl. dazu M. Reiser, Gerichtspredigt (s.o. Anm. 30), 216-226. Die Metaphorik beim Täufer (wie bei Jesus) betont die Freiheit Gottes in der Erfüllung der Zusagen an Abraham. Sie berechtigt u.E. nicht dazu das Wirken des Täufers unter die Überschrift „Israels verbrauchte Heilsgeschichte" (so J. Becker, Jesus [s.o. Anm. 5], 45[ff]) zu stellen. Die Taufe ist vielmehr das Angebot zur individuellen Erneuerung des Abrahamsbundes (so auch M. Tilly, Johannes [s.o. Anm. 24], 253). Vgl. zur Königin von Saba IKön 10,1.4.10.13; 2Chr 9,1. Nach J. Wellhausen, Das Evangelium Matthaei, Berlin ^1914 Berlin: Georg Reimer 1914 = ders. Evangelienkommentare, Berlin: de Gruyter 1987, 63, wäre das der erste Beleg daftir, dass das südwestliche Arabien (= Saba) „Jemen" (von jamim= Süden) genannt wird. Oder ist hier nur an eine allgemeine Richtung gedacht? Spricht Jesus beusst nicht von der Königin von Saba um die Assoziation an die Nachbarn im Süden nahe zu legen?

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Täufers, die Herodias, wach. Die Königin des Südens war dann Kontrast und Belastungszeuge gegen die herodäische Oberschicht. Oder es wird auf das Königshaus im Süden, auf die Nabatäer, als Sympathisanten des Täufers angespielt! Auf jeden Fall scheint sich die Tatsache, dass der Täufer einerseits das einfache Volk ansprach, andererseits auch die Auseinandersetzung mit der politischen Führung des Landes gesucht hatte, in dem Doppelspruch von der Königin des Südens und den Niniviten als Anklägern der Zeitgenossen des Täufers zu spiegeln! Mit der Jona-Typologie, die vielleicht dadurch erleichtert wurde, dass Jona eine Kurzform von Johannes sein kann,'*^ kommen weitere, deutliche Assoziationen auf die Predigt des Täufers hinzu. Jona wie Johannes traten mit einer schroffen Gerichtsansage auf und riefen eine Umkehrbewegung hervor. Während aber die Niniviten „Groß und Klein" bis hin zum König umkehrten und daraufhin vom Gericht verschont blieben, verweigerte die Mehrheit der Zeitgenossen des Täufers die Umkehr und die diese besiegelnde Taufe (Lk 7,31-35; Mk 11,27-33; Mt 21,28-32; Lk 7,30). Das wird „dieser Generation" im Gericht zum Verurteilungsgrund werden. Die Pointe in der Erzählung von Jona ist die Verbindung von Gerichtspredigt, vollzogener Umkehr und (vorläufigem) Ausbleiben des Gerichts.'*^ Wenn Jesus über die Gegenwart sagt, in ihr sei „mehr als Jona", dann müsste sich das auf diesen zentralen Aspekt der Jonaerzählung beziehen lassen. Das geht, wenn man das Logion als Ausdruck der Verarbeitung einer „Parusieenttäuschung" Jesu versteht. Das vom Täufer angesagte Gericht war nicht gekommen, obwohl nur ein kleiner Teil des Volkes umgekehrt war. Dies spricht nach Jesu Auffassung nicht etwa gegen den Täufer, sondern muss Vgl. die beiden Bezeichnungen des Petrus als „Barjona = Sohn des Jona" (in Mt 16,17) und „Sohn des Johannes" (in Joh 1,42) und C. Moxon, ' T o σημ€Ϊον Ίωνα", ExpT 22 0 9 1 1 ) 566-67. " Von der „Verzögerung" des Gerichts anstatt von seiner Abwendung (im Buch Jona) zu sprechen, ist mit Blick auf die gesamtbiblische Überlieferung berechtigt, denn andere Propheten haben die im Jahr 612 v.Chr. erfolgte Zerstörung Ninives als Gerichtshandeln Jahwes angesagt, vgl. Nah 1-3; Zeph 2,13-15. Besonders interessant mit Blick auf die Jesusüberlieferung ist Tob 14,4.8f 14f Der sterbende Tobit fordert seinen Sohn zur Übersiedelung von Ninive nach Medien auf, weil „alles eintreffen wird, was der Prophet Jona gesagt hat" (Tob 14,8). Dies geschieht auch, nicht sofort, sondern binnen weniger Jahrzehnte, kurz vor dem Tod des Tobias (Tob 14,14f). Diese Stelle ist nicht als Beleg fllr ein Verständnis von Jona als bloßem Gerichtspropheten zu deuten (so D. Lührmann, Redaktion [s.o. Anm. 35], 41), denn dazu passt nicht, dass offensichtlich in Frage steht, ob die Verkündigung Jonas eintreffen wird (vgl. πέτιΕίσμαι οσα in 14,4 und πάντως ϊσται in 14,8) und dass sich Tobias mit dem Weggang reichlich Zeit lassen kann, er wartet zunächst noch den Tod auch der Mutter ab. Vorausgesetzt ist vielmehr, dass die geweissagte Zerstörung Ninives zwar zunächst nicht eingetroffen war, die Weissagung aber angesichts erneuter anhaltender Sündhaftigkeit der Stadt in veränderter Form ihre Gültigkeit behielt. Tobit bietet damit eine geschickte narrative Harmonisierung der verschiedenen biblischen Überlieferungen zum Schicksal Ninives. Wenn im Codex Sinaiticus Jona durch Nahum und die Propheten Israels ersetzt wird, ist dies eine sekundäre Erleichterung einer komplexen Botschaft, die vom Abschreiber nicht verstanden wurde.

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die unbußfertigen Zeitgenossen erst recht zur Umkehr mahnen. Gott hat in seiner MenschenfreundUchkeit dieser Generation eine weitere Chance zur Umkehr gelassen, wie er sie damals der Stadt Ninive ließ, offensichtlich wegen der Umkehr der wenigen. Wird jedoch auch diese Chance versäumt, droht unabwendbar das Gericht. Der Sitz im Leben des Doppelspruchs von Salomo und Jona ist damit klar beschreibbar: Jesus wendet sich an Menschen, die bereits die Predigt des Täufers gehört hatten und sich von ihr nicht zur Umkehr hatten bewegen lassen. Ihnen droht er erneut mit dem Gericht um sie doch noch zur Umkehr zu bewegen. Er bezieht dabei das Wirken des Täufers durch typologischen Vergleich und Überbietung in seine Argumentation ein. Wäre der Täufer nur so groß wie Salomo und Jona, dann wäre es schon angemessen gewesen wie die Königin des Südens und die Niniviten seiner Weisheit zu gehorchen und seiner Umkehrpredigt zu folgen, wie dies viele im jüdischen Volk ja auch getan hatten. Nun aber ist „hier", in der durch das Wirken des Täufers bestimmten Gegenwart, „mehr als Salomo" und „mehr als Jona". Worin dieses „mehr" im Einzelnen besteht, deutet das Logion bestenfalls an. Insbesondere das Wort von der Weisheit Salomos gibt keine direkten Hinweise. Darf man daran denken, dass der Täufer Gruppen angezogen hat, die sich üblicherweise nicht fur die Weisheit interessierten, einfache Menschen, Zöllner und Prostituierte beispielsweise (vgl. Mt 21,3 If und Lk 7,29f)? Dieser Zug setzte sich bekanntlich in der Jesusgruppe fort und wird in ihr auch zum Gegenstand der Reflexion (vgl. Q 10,21-24). Beim Wort von Jona sind die Hinweise auf die Umkehr, die das angesagte Gericht verzögerte, u.E. deutliche Hinweise darauf, dass man an die größere Gnade denken soll, die Gott in der Gegenwart im Aufschub des Gerichts aufgrund der Umkehr nur weniger erwiesen hat. Wie verhält sich diese Deutung zu der zweiten Überlieferung, die Jona erwähnt? Wenden wir uns dem Apophthegma von der Zeichenforderung zu. 2.2.2. Das „Zeichen des Jona" in der Zeichenforderung als indirekter typologischer Verweis auf Johannes den Täufer Die komplizierten Fragen der Traditionsgeschichte von Lk ll,16.29f/Mt 12,38-40 in ihrem Verhältnis zu Mk 8,1 If sollen hier weitgehend unerörtert bleiben.'*'' Wir gehen davon aus, dass Q ll,16.29f eine ursprünglich zusammengehörende Einheit bildete, bestehend aus der Zeichenforderung selbst (Mt 12,38; von Lk bereits in 11,16 vorgezogen erwähnt'*') und einer dreiteiligen Antwort Jesu. Diese besteht (1.) aus einer Schelte der Frager, "" Vgl dazu G. Theißen, Zeichen (s.o. Anm. 14). Lk 11,16 zeigt starke Anklänge an Mk 8,11 - der Evangelist hat also anders als Mt beide

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die wegen ihrer Forderung nach einem Beglaubigungswunder als „böse Generation" bezeichnet werden, (2.) aus der in Form einer „Ablehnung mit Ausnahme" formulierten emphatischen Zusage des „Zeichen des Jona" und (3.) aus der Erläuterung dieser rätselhaften Zusage durch den nicht minder schwierigen Satz „Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird (oder: soll) es der Menschensohn für diese Generation sein." Die entscheidende Frage ist, was unter dem „Zeichen des Jona" (Q 11,29) zu verstehen ist, das in Q 11,30 dahingehend präzisiert wird, dass „Jona für die Niniviten zum Zeichen vmrde".'* Ausscheiden müssen Deutungen auf das Fischwunder (wie Mt 12,40), denn dies Wunder war den Niniviten nicht zugänglich. Auch das in vitae prophetarum X,8 erwähnte Zeichen des Jona für Jerusalem kommt aus diesem Grunde nicht in Frage. Oft vertreten wird die Deutung, nach der mit Lk 11,30 Jona selbst das Zeichen ist, wegen 11,32 und der Parallelisierung mit dem Menschensohn denkt man an Jona als Gerichtsprediger und betont das Futur in Lk 11,30: „wie Jonas aus dem fernen Lande zu den Nineviten kam, so wird der Menschensohn aus dem Himmel zu diesem Geschlecht kommen; d.h. das geforderte Zeichen für die Predigt Jesu ist der Menschensohn selbst, wenn er zum Gericht kommt."'" Der Haupteinwand gegen diese Deutung ist die mangelnde Entsprechung in dem entscheidenden Punkt - Jona kündigte zwar das Gericht an, aber es kam nicht; wenn der Menschensohn kommen wird, ist das Gericht unausweichlich! Daher scheint eine andere häufig vertretene Deutung, die der Entsprechung von Jona und dem Menschensohn gerecht wird, dem ursprünglichen Verständnis deutlich näher zu kommen. Sie sieht das Zeichen des Jona in der Bußpredigt des Jona bzw. des irdischen Menschensohns: Nichts anderes als die Gerichtspredigt wird dieser Generation gegeben. Das Futur wird, was möglich ist, als gnomisches oder modales Futur verstanden, der Zeichenbegriff allerdings würde bei dieser Deutung bewusst verfremdet, das angekündigte Zeichen ist ein „Nichtzeichen"."* Letzteres befriedigt nicht ganz, vor allem, weil es in 11,29 pointiert Traditionen als Varianten aufgefasst und zu einer einzigen zusammengearbeitet. "" Vgl. die Überblicke über die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten bei U. Luz, Matthäus (s.o. Anm. 29), 278-280; W. D. Davies/D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew Bd. 2, ICC, Edinburgh: T&T Clark 1991, 351f; S. Chow, Sign (s.o. Anm. 15), 15-18; R. A. Edwards, Sign (s.o. Anm. 15), 6 - 2 4 . " So R. Bultmann, Geschichte (s.o. Anm. 23), 124. " Vgl. U. Luz, Matthäus (s.o. Anm. 29), 278f, der diese Deutung S. 280 als „am wenigsten unwahrscheinlich" bezeichnet. Zu Recht wird betont, dass diese Deutung gut zum Kommentarwort Lk 11,32 passt; allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass sie zwar stimmig zu dem dortigen atl. Beispiel ist, aber nicht unbedingt zu der Aussage „hier ist mehr als Jona". Entscheidende Beweiskraft kann zwar die Beziehung zu 11,32 nicht beanspruchen, da es sich um ursprünglich unabhängige Traditionen handelt. Stammen sie allerdings beide von Jesus, sollte man annehmen dürfen, dass eine gewisse Kohärenz in der Anwendung des Jonabeispiels besteht.

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heißt, dass Jona den Niniviten „zum Zeichen wurde". Daher ist u.E. eine modifizierte Form dieser Deutung angemessener. Es gab ein Wunder, das den Niniviten zugänglich war, nämlich ihre Verschonung vom angekündigten Gericht aufgrund ihrer Umkehr. Darum sollte das „Zeichen des Jona" u.E. auf das ganze Auftreten des Jona in Ninive bezogen werden: seine Gerichtspredigt, die Umkehr und die darauffolgende Rettung vor dem Gericht. Jona wurde für die Niniviten ein Zeichen der Menschenfreundlichkeit Gottes! Was bedeutet das für die Deutung der Rolle des Menschensohns, der für diese Generation ein Zeichen sein soll? Wenn sein Wirken in Analogie zu Jona gestellt wird, dann wäre es als Kommen zum Gericht erwartet worden, erwies sich aber faktisch als ein Kommen zur Errettung. Jesus hätte mit dem Logion Q 1 l,29f ursprünglich zum Ausdruck bringen wollen, dass das vom Täufer angekündigte, vom Stärkeren zu vollziehende Gericht aufgrund der Umkehr vieler Israeliten nicht eingetroffen war, und dies in Analogie zum Ausbleiben des Gerichts bei Jona als Zeichen der Gnade Gottes gedeutet. Das „Zeichen des Jona" bezieht sich also auch in Q ll,29f indirekt auf die Botschaft des Täufers. Die Zeit des Menschensohns war nicht, wie von ihm angekündigt, Zeit der „Taufe mit Feuer", das Gericht war suspendiert worden, diese „Enttäuschung" der Gerichtserwartung war 1^ефгеtiert worden als Gewährung einer Gnadenfrist, die auch den bisher Widerstrebenden nochmals die Möglichkeit zur Umkehr gibt. Eine Schwierigkeit dieser Deutung scheint darin zu liegen, dass Jona sowohl das Gericht verkündigt hatte als auch zum Boten der Rettung Ninives wurde. Die typologische Entsprechung in der Gegenwart verteilt sich dagegen auf zwei Personen: Der Täufer kündigte des Gericht an, Jesus (der Menschensohn) wurde zum Boten der Rettung. Doch darf man vielleicht Jesus und den Täufer hier als Exponenten einer Umkehrbewegung betrachten, die einen Lernprozess durchlebte. Einerseits hatte Jesus sich selbst taufen lassen, war also zunächst von der Richtigkeit der Täufeφredigt vom unmittelbar bevorstehenden Zornesgericht überzeugt gewesen. Seine Einsicht, dass das Reich Gottes schon im Anbruch war, hatte sich erst nachträglich herausgebildet. Andererseits könnte, falls das Apophthegma von der Täuferanfrage einen historischen Kem hat, der Täufer selbst gegen Ende seines Lebens mit der Einsicht des Jona gerungen haben, dass Gott in seiner Menschenliebe gegenüber den Ankündigungen seiner Gerichtspropheten souverän ist, gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte und sich des Übels gereuen lässt (vgl. Jona 4,3). Ein Vorzug der hier vorgelegten Deutung der Zeichenforderung nach Q ist, dass sie die markinische Parallele von der strikten Ablehnung eines „Zeichens vom Himmel" (so nur Mk) durch Jesus als unabhängige, mit ihr sachlich kompatible Überlieferung betrachten kann. Jesus verweigert nach

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Mk ein kosmisches Zeichen, das seine Predigt beglaubigen könnte. Genauso ist es in Q, wo das einzige Zeichen, das gegeben wird, das Ausbleiben des in der Vergangenheit angesagten kosmischen Gerichtes ist. 2.3. Die Verzögermgsproblematik

in Jesusgleichnissen

Rechnet man ernsthaft mit der Möglichkeit, dass schon Jesus selbst sich mit einer Gerichtsverzögerung auseinandersetzen musste, so kann man nicht a priori sagen: Überall, wo eine eschatologische Verzögerung ihre Spuren hinterlassen hat, liegen unechte Jesusworte vor. Bisher war das fast opinio communis. Diejenigen, welche die Authentizität von Jesusüberlieferungen eher verteidigten, waren deshalb genötigt nachzuweisen, dass die Verzögerungsspuren nicht zur Substanz der Überlieferung gehörten. Dagegen wiesen E. Gräßer und andere mit Recht nach, dass solche Spuren aus vielen Überlieferungen gar nicht weggedacht werden können, sondern ursprünglich zu ihnen gehören'" - und sie schlossen daraus, dass sie nicht auf Jesus zurückzufuhren seien. Rechnet man dagegen mit einer Verzögerungsproblematik schon beim historischen Jesus, so ist es wichtiger, danach zu fragen, wie die Verzögerungsproblematik angesprochen wird, nicht aber ob sie vorliegt oder nicht. Mehrere Gleichnisse enthalten ein Verzögerungsmotiv. Aber es wird sehr verschieden gestaltet. Interessant sind die Unterschiede zwischen den Gleichnissen in Mt 24,42-25,13, die der Mt-Evangelist als zusammengehörig empfunden hat. Er stellt sie alle unter die gleichlautende Mahnung, mit der er die drei Gleichnisse rahmt: „Wachet, denn ihr wisst nicht, wann der Herr kommt!" (Mt 24,42; 25,13). Aber schon die Bilder, in denen der Herr vorgestellt wird, könnten nicht unterschiedlicher sein. Im Gleichnis vom Hausherrn ist der Kommende ein Dieb! Wüsste der Hausherr, wann er kommt, so würde er nicht einbrechen lassen. Er würde (so müssen wir ergänzen) seine Diener zur Wachsamkeit veφflichten (Mt 24,43). Dann aber erscheint der Herr selbst in der Gestalt des Hausherrn, der zu einer unbekannten Stunde nach Hause kommt. Der untreue Knecht wird seine Verzögerung nutzen um seine Mitknechte zu misshandeln. Der gute Knecht aber wird unabhängig davon treu sein! (24,45-51). Im dritten Gleichnis begegnet der wiederkommende Herr dagegen als „Bräutigam", der die Seinen zu einem Hochzeitsfest eingeladen hat. Im Gleichnis vom guten und bösen Knecht bestand die Torheit darin, dass die Menschen mit einer eschatologiAls Beispiel sei auf die Diskussion von Mt 25,1-13 gewiesen. G. Bomkamm, Die Verzögerung der Parusie. Exegetische Bemerkungen zu zwei synoptischen Texten, in: ders., Geschichte und Glaube. Ges. Aufsätze Bd. 111,1, München: Kaiser 1968,46-55; E. Gräßer, Naherwartung (s.o. Anm. 2), 18f.

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sehen Verzögerung rechneten, im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen darin, dass sie nicht mit ihr rechnen. Die Pointe liegt auch nicht mehr allein auf der Wachsamkeit - trotz 25,13 - , denn sowohl die klugen wie die törichten Jungfrauen schlafen ein. Entscheidend ist, dass nur die, die sich auf eine Verzögerung eingestellt haben, klug handeln!'" Man darf solche Unterschiede nicht überbewerten. Paulus kann gleichzeitig zu bleibender Wachsamkeit mahnen: „So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein" (IThess 5,6), wie zum Aufstehen vom Schlaf: „Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf ..." (Rom 13,11). Auch in der Jesusüberlieferung sollten wir vorsichtig sein solche logischen Widersprüche auf verschiedene Schichten zu verteilen. Sie haben auf einer tieferen Ebene eine Gemeinsamkeit: Gleichgültig ob sich das Kommen des Gerichts und der Verantwortung trotz ursprünglicher Naherwartung verzögert oder trotz Verzögerang plötzlich kommt - immer sollen die Menschen darauf eingestellt sein, dass das Ende kommt. Femer werden verschiedene Aspekte des Endes angesprochen: Im Gleichnis vom treuen und untreuen Knecht das Gericht, vor dem sich jeder för sein Verhalten zu verantworten hat. Im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen das Heil (symbolisiert als Hochzeitsfest), an dem jeder teilnehmen möchte. Dort geht es um die Frage: Wer besteht im Gericht? Hier ist die Frage: Wer darf am Heil teilnehmen? Dort geht es daram in der Zeit bis zum Gericht sich nicht gegenüber seinen Mitmenschen zu verfehlen; hier geht es darum in der Zeit bis zum Anbrach des Heils auszuhalten und Ausdauer zu zeigen. Könnte das „Verzögerangsmotiv" in diesen Gleichnissen - auch in seinen verschiedenen Variationen - nicht auf Jesus selbst zurückgehen? Zumindest basieren diese Gleichnisse auf dem Metaphemschatz, den Jesus mit großer Wahrscheinlichkeit benutzt hat." Dass der Herr wie ein Dieb kommt, ist eine kühne Metapher, die schon in den beiden ältesten Quellen, in der LogienAn diesem Punkt urteilen wir anders als C. Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EH XXIII, 653, Bern u.a.: Peter Lang, 1999, der 248-265 eine sorgfältig begründete Analyse von Mt 25,1-13 als authentischem Jesusgleichnis vorgelegt hat, aber meint, das Verzögerungsmotiv sei lediglich ein narratives Moment zur Herstellung erzählerischer Spannung, habe „keinen metaphorischen Eigenwert" (S. 264). ' ' C. Riniker hat in seiner wichtigen Monographie über die Gerichtsverkündigung Jesu (s.o. Anm. 50), 197-271 detailliert die Verbindungen zwischen den sog. Parusiegleichnissen und der sonstigen Gerichts- und Gleichnisverkündigung Jesu herausgearbeitet und ihre Rückfllhrbarkeit auf ihn weithin plausibel begründet. Nicht überzeugend ist jedoch u.E., dass er das doch recht profilierte verbindende Verzögerungsmotiv in jedem einzelnen Fall verschieden erklärt und seine Relevanz für die Deutung für gering oder unerheblich häh. Wir meinen, die von Riniker überzeugend aufgewiesene ,„Existentialisierung' der eschatologischen Erwartung" (267) durch Jesus erkläre sich durch die theologische Aufarbeitung der Verzögerung des vom Täufer angekündigten Gerichts.

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quelle und im 1. Thessalonicherbrief (Q 12,39-46; IThess 5,2), belegt ist." Es dürfte auf Jesus zurückgehen. Das Bild von der Rechenschaft der Knechte vor ihrem Herrn gehört ohnehin zur Jesusüberlieferung. Auf ihm basieren alle Knechtsgleichnisse. Das Bild vom Bräutigam begegnet in Mk 2,18-20 - hier als Kontrast zu Johannes dem Täufer. Jesus wird mit dem Bräutigam assoziiert, in dessen Gegenwart Freudenzeit ist. Wenn auch das Verzögerungsmotiv grundsätzlich zum Motivschatz gehört, den wir fìir den historischen Jesus voraussetzen können, spricht nichts dagegen diese Gleichnisse im Kem für authentisch zu halten, was nicht ausschließt, dass sie in ihrer jetzigen Gestalt durch Erfahrungen der Gemeinde gestaltet wurden! Dennoch darf man fragen, ob nicht der Lk-Evangelist historisch im Recht war, als er Jesus ein Gleichnis erzählen ließ um eine allzu intensive Naherwartung zu korrigieren (Lk 19,11)? Natürlich handelt es sich dabei um eine lk Rahmenbemerkung. Sie entspricht aber der einleitenden Rahmenbemerkung zu den drei Gleichnissen vom Verlorenen in Lk 15,1, aus der wir erschließen, dass Jesus sich wegen seiner Mahlgemeinschaft mit Sündern verteidigen musste. So wie diese Mahlgemeinschaften historisch sein dürften, könnte auch Jesu Auseinandersetzung mit der Naherwartung in den Gleichnissen historisch sein. Wenn unsere Überlegungen nicht ganz falsch sind, so können sie im Streit um Jesus als eschatologischen Propheten und als Vertreter einer subversiven Weisheit vermitteln. Zweifellos war Jesus ein eschatologischer Prophet, der ein baldiges Ende erwartete. Aber in seiner Verkündigung schlagen sich „Lernprozesse" mit eschatologischen Verzögerungen nieder. Jesus weiß, dass Naherwartungen enttäuscht werden können. Er hat es selbst erfahren, als die intensive Naherwartung des Täufers fehlschlug. Er konnte diese „Enttäuschung" als ein Zeichen der Gnade uminteφretieren. Wenn eigentlich angesichts des ewigen Gottes alles von seinem Gericht bedroht wird und untergehen müsste, so ist das Bestehen der Welt Gnade. Wenn Gott seine Sonne nach wie vor über Böse und Gute aufgehen lässt, so ist das ein Zeichen seiner Güte. Diese Güte lässt dem Menschen eine Chance zur Umkehr. Weil Jesu Botschaft nicht war: Die Zeit ist um! sondern: Ihr habt noch Zeit das Gute zu tun, hat bei ihm die ethische Unterweisung und die Deutung der Gegenwart im Licht weisheitlicher Überzeugungen einen hohen Stellenwert.

' Aber auch in späteren Quellen, vgl. Apk 3,3 und 2Petr 3,10.

Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu' Im 1. und 2. Jh. n.Chr. differenzierte sich das antike Judentum in mehrere Gestalten biblischen Glaubens, vor allem in das rabbinische Judentum und das Urchristentum, das im Laufe des 1. Jh. aus dem Judentum ausschied. Das Judentum hatte sich bis 70 n.Chr. eine begrenzte innere politische Autonomie erhalten können. Die Zeit äußerer politischer Unabhängigkeit unter den Hasmonäem (142-63 v.Chr.) lag nicht weit zurück. Seine Transformation in das rabbinische Judentum und Urchristentum war eine „Entpolitisierung". Die sich neu bildenden jüdischen und christlichen Gemeinden waren keine politischen Herrschaftsgebilde, sondern stellten einen neuen Typ religiöser Gemeinschaftsbildung dar, der im Diaporajudentum vorgebildet war: eine überregionale religiöse Gemeinschaft, die sehr viel mehr organisiert war als andere Kulte, aber unabhängig vom Staat war. Beide Erben der biblischen Tradition standen vor einer vergleichbaren Aufgabe: Beide mussten Herrschaft ohne politische Machtmittel begründen - als religiöse Autorität, die ohne Zwang Anerkennung finden konnte. Im Christentum wurde solche Autorität durch die charismatische Beziehung zu Jesus begründet, im Judentum durch hermeneutische Anwendung und Auslegung der Thora. Die folgende Skizze möchte die Entstehung des Urchristentums im Judentum an einer Stelle ein wenig verständlicher machen, indem sie die realen Herrschaftsstrukturen des Judentums in neutestamentlicher Zeit in Beziehung zu Traditionen der Jesusbewegung setzt. Auch wenn das Urchristentum kein politisches Herrschaftsgebilde sein wollte, bezog es sich doch in seinem Selbstverständnis auf solche Herrschaftsgebilde, wenn es sich Gemeinde (έκκλησία). Polis oder Volk Gottes nannte. In einem ersten Abschnitt soll die Konkurrenz zwischen königlichen und aristokratischen (oder theokratischen) Verfassungskonzeptionen im palästinischen Judentum dargesteUt werden, die im 1. Jh. n.Chr. ihren „Sitz im Leben" im Nebeneinander von herodäischer Dynastie und Synhedrium hatten. In einem zwei' Dieser Aufsatz war M. Hengel zum 65. Geburtstag am 14.12.1991 gewidmet als Dank für mannigfache Anregung - dafür, dass er die neutestamentliche Wissenschaft durch seine mit bewundernswerter Gelehrsamkeit und im Geiste eines strengen Wissenschaftsethos verfassten Arbeiten bereichert hat. Der Aufsatz geht auf einen Vortrag vor einem kleinen Kreis sozialgeschichtlich interessierter Neutestamentier in Neuendettelsau am 24.9.1991 zurück. Er erschien zuerst in: Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft, JBTh 7 (1992) 101-123 und wurde ftir diese Aufsatzsammlung umfassend überarbeitet und erweitert.

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ten Abschnitt richten wir die Aufmerksamkeit auf eine entsprechende Spannung im Selbstverständnis von Aufstandsbewegungen in neutestamentlicher Zeit. Auch in ihnen finden wir nebeneinander und gegeneinander eine königliche und eine theokratische Konzeption. Letztere lehnte die Herrschaft nur eines Menschen ab. In einem dritten Abschnitt betrachten wir die utopischen Erwartungen der damaligen Zeit. In ihnen kehrt eine vergleichbare Spannung zwischen messianischen und radikaltheokratischen Erwartungen wieder, denen zufolge die Gottesherrschaft ohne Vermittlung eines Herrschaftsträgers kommt. Erst als vierter Schritt soll die Jesusbewegung in das Spannungsfeld messianischer und theokratischer Bewegungen und Utopien eingeordnet werden. Dabei wird die Hypothese vertreten, dass sie auf messianische Erwartungen mit der Konzeption eines Gruppenmessianismus antwortete: einer Form kollektiver Herrschaft, die auf der Mitteilung von Charisma an ein Kollektiv basiert. Der Jüngerkreis war ein messianisches Kollektiv, das eine Synthese der beiden in Konkurrenz stehenden realen und als utopisch erwarteten Herrschaftsstrukturen darstellte. Die folgenden Überlegungen wollen zeigen, dass solch ein „Gruppenmessianismus" historisch im Judentum vorstellbar und dass in ihm der Ursprung der christlichen Kirche zu suchen ist.

1. Die Konkurrenz zwischen königlichen und aristokratischen Verfassungskonzeptionen Als Pompeius 63 v. Chr. in den Streit zwischen den beiden hasmonäischen Thronprätendenten Hyrkan und Aristobulos eingriff, erschien vor ihm auch eine Gesandtschaft von 200 angesehenen Juden, die erklärte,^ „ d a ß ihre V o r f a h r e n ... e i n e G e s a n d t s c h a f t a n d e n r ö m i s c h e n S e n a t g e sandt hatten u n d v o n i h m d i e Führung (ιτροστασία) über die Juden a l s über Freie u n d U n a b h ä n g i g e e m p f a n g e n hätten und d a s s der Führer d e s V o l k e s nicht K ö n i g , sondern H o h e p r i e s t e r g e n a n n t w e r d e n sollte. D i e s e (sc. d i e H a s m o n ä e r ) , die aber j e t z t herrschten, hätten d i e überlieferten G e s e t z e g e b r o c h e n und d i e Bürger u n g e s e t z l i c h e r w e i s e versklavt." ( D i o d Sic XL,2)

^ Die Bedeutung des nicht-königlichen Verfassungsmodells für das Judentum in hellenistischer Zeit hat vor allem H. G. Kippenberg herausgearbeitet in: Die jüdischen Überlieferungen als πάτριοι, ι/όμοι, in: R. Faber/R. Schlesier (Hg.), Die Restauration der Götter, Würzburg: Königshausen & Neumann 1985, 45-60. Ders., Das Gentilcharisma der Davididen in der jüdischen, frühchristlichen und gnostischen Religionsgeschichte Palästinas, in: J. Taubes (Hg.), Theokratie. Religionstheorie und Politische Theologie Bd. 3, München/Paderborn: Fink/Schöningh 1987, 127147. Zu der Episode vor Pompeius vgl. T. Fischer, Zum jüdischen Verfassungsstreit vor Pompeius (Diodor 40,2), ZDPV 91 (1975) 46-49.

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Josephus bestätigt diese Überlieferung. Das Volk habe von Pompeius gefordert nicht durch Könige beherrscht zu werden (βασιλίύεσθαι) (Ant 14,4If). Pompeius hat versucht dieser Opposition ein wenig entgegenzukommen. Zwar ließ er einen Hasmonäer im Amt, aber nicht als „König", sondern als Ethnarchen. Insgesamt entschied er gegen die jüdische Gesandtschaft des Volkes, indem er ein Klientelfurstentum etablierte, das von den Römern abhängig blieb. Trotz der aristokratischen Opposition gegen das Königtum gelang es Herodes I. dieses Klientelfìirstentum mit Unterstützung der Römer wieder in ein Königtum zu verwandeln. Die Opposition dagegen wirkte lange nach. Aber erst nach seinem Tod wurde sie unter seinem Nachfolger Archelaos erneut aktiv. Ihre Vertreter plädierten dafür, „daß sie von der Königsherrschaft und solchen Herrschaftsformen (sc. wie unter Archelaos) befreit würden" (Ant 17,314). Diese antikönigliche Opposition konnte sich auf eine lange Geschichte berufen. Nach dem Exil hatte sich in Judäa - trotz einiger Restaurationsversuche des Königtums - eine aristokratische Verfassung durchgesetzt. Für Hekataios von Abdera (am Anfang der hellenistischen Zeit) ist die Ablehnung des Königtums sogar ein wesentlicher Zug des Judentums. Mose habe den Juden geboten „niemals einen König zu haben", vielmehr habe er die Leitung dem unter den Priestern übertragen, der an Weisheit und Tugend die anderen überrage (bei Diod Sic XL,3,5). Auch Josephus gehört in diese Tradition. Für ihn ist das jüdische Gemeinwesen eine „Aristokratie" (vgl. Bell l,169f; Ant 4,223; 6,36; 20,251). Trotz seiner guten Verbindungen zum herodäischen Königshaus, insbesondere zu Agrippa П., kommentiert er die Einschränkung der Machtbefugnisse des Ethnarchen Hyrkan unter Gabinius mit den Worten: „Gern ließen sich die Juden, aus der Gewalt eines einzigen befreit, fur die Zukunft aristokratisch verwalten" (Bell 1,170). Für ihn gilt, was er Mose sagen lässt: „Aristokratie und das Leben in ihr ist das Beste. Es soll euch nicht Verlangen nach einer anderen Staatsform {politeiä) ergreifen, sondern mit dieser sollt ihr zufrieden sein, in der ihr die Gesetze als Herren habt und ihnen entsprechend alles tut. Denn Gott soll euch als Herrscher genügen" (Ant 4,223). Das Königtum wird nur als „sekundäre" Möglichkeit genannt (Ant 4,223 f). Aristokratie aber ist in Wirklichkeit Theokratie: Herrschaft Gottes durch seine Priester (vgl. Ap 2,164—166). Bei solch einer Einstellung zum Königtum verwundert es nicht, dass Josephus die Davidsverheißung relativiert: Sie gilt nur ftir 21 Generationen (Ant 5,336; vgl. 7,93) - nicht ftir alle Ewigkeit. Auf der anderen Seite gab es Kräfte im Judentum, die für die Monarchie eintraten. Schon in der Zeit des Herodes wird von seinen Anhängern gesprochen (vgl. τους τά'Ηρώδου φρονοΟντας Ant 14,450; ähnlich Ant 15,2;

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Bell 1,319). Im Neuen Testament begegnen uns „Herodianer". Auch wenn ihr Auftreten in Mk 3,6 und 12,13 redaktionell gestaltet ist, so könnten beide Stellen doch charakteristisch flir diese Anhänger der herodäischen Dynastie sein: Den Frommen empfehlen sie sich als Wächter der traditionellen Sitten, indem sie den Sabbatbruch verurteilen (Mk 3,6). Daher begegnen sie in einer Koalition mit den Pharisäern. Den Römern aber empfehlen sie sich als Befürworter der umstrittenen Steuerzahlung (Mk 12,13) - eventuell mit dem Argument: Solange die Steuern an jüdische Klientelfìirsten gezahlt würden, werde die Steuereintreibung als legitim empftmden und sei kein Problem. Die Konkurrenz monarchischer und aristokratischer Verfassungskonzeptionen (und entsprechender Institutionen) wurde von den römischen Herrschern im Sinne des divide et impera genutzt: Beide hielten sich gegenseitig in Schach. Die herodäischen Fürsten und das Synhedrium bildeten ein labiles Gleichgewicht. Eben deswegen konnte sich keine stabile Herrschaftsstruktur ausbilden. Das zeigen die Aufstandsbewegungen um die Zeitenwende.

2. Die Konkurrenz von „messianischen" und theokratischen Aufstandsbewegungen Nach dem Tode des Merodes brachen im ganzen Lande Aufstände aus: Veteranen des Herodes meuterten in Idumäa (Bell 2,55) bzw. Judäa (Ant 17,269f), ein Judas, Sohn des Räuberiührers Hezekias, eroberte in Sepphoris den Königspalast und bewaffnete mit den eroberten Waffen seine Anhänger (Bell 2,56; Ant 17,271f), eine Gruppe von Aufständischen verbrannte einen Königspalast in Ammatha (Ant 17,277) bzw. Betharamtha (Bell 2,59). Aus all diesen Gruppen hoben sich zwei messianische Aufstandsgruppen heraus. Unter „Messianismus" wird dabei die charismatische Herrschaft eines Königs, Priesters oder Priesterkönigs verstanden, sei es dass sie als utopische Erwartung die Menschen beflügelt, sei es dass einzelne Charismatiker beanspruchen diese Erwartung zu erfüllen. Ihre charismatische Legitimation kann rituell, dynastisch oder ideell erfolgen: entweder rituell durch ein Salbungscharisma, das dem Messianismus den Namen gegeben hat, denn „Messias" bedeutet „Gesalbter"; oder dynastisch durch Anspruch eines Gentilcharismas, wenn der Messias als Nachkomme Davids gilt; oder auch ideell durch Erfüllung von Verheißungen bzw. durch Nachahmung von „Modellen" wie David: Wer die „Taten des Messias" (Mt 11,2) tut, kann als die erwartete Heilsgestalt angesehen werden. Eine Einschränkung

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des Begriffs „Messias" auf Gestalten mit rituellem Salbungscharisma ist zu eng.^ Die „Salbung" ist zwar für den Namen „Messias" konstitutiv, nicht aber für den Typos eines erwarteten charismatischen Heilskönigs oder Priesters. Legt man diese Definition von „Messianismus" zugrunde, so haben zumindest zwei der Aufstandsfuhrer eine messianische Aura um sich gehabt: Simon und Athronges. Simon war ein „Sklave des Merodes", der die Königswürde für sich beanspruchte: „Er wagte es, sich ein Diadem aufzusetzen, sammelte eine Menge um sich und vmrde durch deren Wahnsinn als König proklamiert (άναγγελθείς) und hoffte, vor jedem anderen dessen würdig zu sein" (Ant 17,274; vgl. Bell 2,57-59). Tacitus bestätigt diesen Anspruch: „post mortem Herodis nihil exspectato Caesare Simo quidam regium nomen invaserat" (Hist V,9,2): „Nach dem Tod des Herodes maßte sich gleich ein gewisser Simon den Königstitel an, ohne erst lange auf die Verleihung durch Caesar zu warten" (übers. J. Borst). Josephus nennt zwei Faktoren, die seinen Anspruch erklären: Einerseits seine physische Gestalt, andererseits die Erwartung des Volkes. Nur das Auftreten des Simon kommentiert er mit den Worten: „So große Unvernunft bemächtigte sich des Volkes, weil sie keinen einheimischen König hatten, der die Menge durch Tüchtigkeit zurückhalten konnte ..." (Ant 17,277). Tacitus legt die Vermutung nahe, Simon habe eine „formale" Chance gehabt als König bestätigt zu werden dann hätte er sich zumindest auf königliche Abstammung berufen müssen. Aber davon hören wir nichts. Ein anderer Königsprätendent war der Hirt Athronges. Nur bei ihm hebt Josephus - in auffälligem Unterschied zu Simon - hervor, dass er vom Status her kein König sein konnte: Er habe weder Vorfahren, Tüchtigkeit noch Besitz gehabt, sondern sei ein unbekannter Hirte gewesen. Wie bei Simon wird die physische Kraft hervorgehoben, daneben aber die Existenz von vier Brüdern, die für sein Königtum wichtig waren (Ant 17,278ff): „Er setzte sich das Diadem auf und hielt einen Rat über das, was getan werden müs-

^ M. Karrer, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels, FRLANT 151, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990, hat mit Recht betont, dass das Salbungsritual weder fiir die hasmonäischen Könige noch für die Königsprätendenten nach dem Tod des Herodes belegt ist. Er bestreitet aber zu Unrecht S. 136f, dass es sich bei diesen Königsprätendenten um messianische Bewegungen handelt, und vertritt dagegen die These, es handle sich um Nachahmer der makkabäischen Erhebung gegen die Seleukiden. Aber solange die Makkabäer Rebellen gegen die Fremdherrschaft waren, haben sie nicht nach dem Königstitel gegriffen. Das tat erst Aristobulos 1. Dessen Griff nach dem Königtum werden die AufHlhrer Simon und Athronges jedoch kaum im Sinne gehabt haben, als sie sich das Diadem aufsetzten! Mit R. A. Horsley/J. S. Hanson, Bandits, Prophets and Messiahs. Popular Movements at the Times of Jesus, Harrisburg: Trinity Press 1999, 110-117, kann man von „popular kings" bei diesen Aufnihrem sprechen. Auch wenn sie nicht „gesalbt" waren, hatten sie eine messianische Aura um sich.

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se, und alles hing von seiner Meinung ab". Seine Brüder behandelte er als seine Feldherm und Satrapen (Bell 2,61). Das Auftreten dieses Athronges hat überzufallige Ähnlichkeiten mit dem Bild des Gesalbten David in Ps 151, einem Psalm, der (in verkürzter Form) nur in der Lxx zu finden ist, dessen längere Fassung aber in der 11. Höhle von Qumran in Hebräisch gefunden wurde (llQPs"). Vergleichbar sind: (1) Das Hirtentum wird hier wie dort betont; David und Athronges sind Hirten. (2) Die physische Wohlgestalt des Charismatikers spielt hier wie dort eine zentrale Rolle. (3) Seine Brüder sind von großer Bedeutung für ihn - ebenso wie in 1 IQPsa die Brüder Davids hervorgehoben werden; sie sind ebenso wohlgestaltet wie David selbst. Athronges könnte sich als „neuer David" stilisiert haben. Es stimmt zwar, dass wir weder bei Simon noch bei Athronges von einer „Salbung" hören. Insofern kann man sie nicht als „Messias" im engeren Sinne bezeichnen. Aber zweifellos handelt es sich um charismatische Herrschergestalten, die durch ihre Ausstrahlung Anhänger fanden. Obwohl sie in Opposition gegen die herodäische Königsdynastie stehen, orientieren sie sich an einem königlichen Verfassungsideal. Das ist bei Judas, dem Sohn des Hezekias, möglicherweise anders. Die Berichte des Josephus enthalten hier einen Widerspruch. In Ant 17,272 wird Judas Streben nach Königsherrschaft unterstellt: ζήλωσις βασιλείου τιμής. In Bell 2,56 heißt es dagegen, er habe die angegriffen, die nach Herrschaft strebten: τοις την δυναστειαν ζηλουσιν èirexeipei. Hier lehnt er sich gegen alle auf, die nach der Macht greifen.'* Da nun Josephus die Aufstandsbewegung in den antiquitates zusammenfassend als eine Bewegung von Königsprätendenten beschreibt - „sobald jemand genug Mitrebellen hatte, trat er als König an ihre Spitze" (Ant 17,285) - , könnte er in den Antiquitates Judas in Analogie zu Simon und Athronges als Königsprätendenten dargestellt haben, obwohl er es nicht war. Dafür spricht auch folgender Unterschied in der Darstellung des Judas auf der einen, des Simon und Athronges auf der anderen Seite: Von Judas wird nur behauptet, er habe nach der Königswürde „gestrebt" (Ant 17,272), von Simon und Athronges aber, sie hätten sich ein Diadem aufgesetzt (Ant 17,273 f; 17,280). Dort unterstellt Josephus nur Ambitionen nach einem königlichen Status, hier stellt er deren Usurpation fest.

M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr., Leiden/Köln: Brill ^1976, 298f, zögert wegen dieses Widerspruchs zu Recht auch Judas, den Sohn des Hezekias, zum Anführer einer messianischen Bewegung zu machen. Er glaubt dies aufgrund der Parallelisierung des Theudas und Judas in Apg 5,36f tun zu können. Aber Theudas gehört m.E. eindeutig zu dem Typos des „Zeichen-Propheten". Einen königlichen Anspruch erhebt er nicht.

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Zehn Jahre später tritt nach der Absetzung des Archelaos erneut ein „Judas" auf, der jede menschliche Herrschaft ablehnt und nur Gott als Herrn anerkennen will. Vielleicht war er mit dem Hezekiassohn „Judas" identisch.^ Jedoch können wir diese Frage hier offen lassen. Entscheidend ist: Dieser Judas Galilaios vertrat keine messianischen Ansprüche flir seine Person, sondern wirkte als Vertreter einer radikaltheokratischen Lehre (und setzte insofern die Linie des Judas, Sohn des Hezekias, fort, falls er nicht mit ihm identisch war). Seine Botschaft wendet sich eindeutig gegen alle menschlichen Herren: „Er schmähte sie (sc. die Bewohner der Provinz Judäa), wenn sie es ertrügen, den Römern Steuern zu zahlen und nach Gott sterbliche Herren ertrügen" (Bell 2,118). Seine Anhänger haben eine „unbesiegbare Liebe zur Freiheit, da sie als einzigen Führer und Herrn Gott anerkennen" (Ant 18,23). Wer so gegen jede menschliche Herrschaft polemisiert, kann nicht gleichzeitig ftir sich messianische Herrschaft beanspruchen. Dafür spricht femer, dass Josephus neben ihn einen zweiten Lehrer stellt: den Pharisäer Sadduk (Ant 18,4). Solch ein Doppelgespann weist nicht auf monarchische Ambitionen. Eher sind die beiden den „Sophisten" Judas und Matthias zu vergleichen, die gegen Ende der Regierungszeit des Herodes I. zur Zerstörung des goldenen Adlers am Tempel aufriefen (Bell l,648ff). Auch sie wirkten durch ihre Lehre. Dass Judas Galilaios vor allem durch seine Lehre wirkte, geht daraus hervor, dass Josephus unter allen Unruhestiftern des 1. Jh. n.Chr. nur ihn einen „Lehrer", einen „Sophisten", nennt (Bell 2,118). Nur seine Lehre zeichnet er dadurch aus, dass er sie als eine „vierte Philosophie" neben die drei älteren „philosophischen" Strömungen im Judentum, die Essener, Pharisäer und Sadduzäer, stellt (Ant 18,9.23). Sollte man ihm nicht darin glauben, dass die Wirkung des Judas Galilaios vor allem von seiner radikalen Lehre ausging? ' Für die Identifizierung spricht sich aus M. Hengel, Zeloten, 337ff (dort weitere Literatur), gegen sie D. M. Rhoads, Israel in Revolution 6 - 7 4 C.E. A Political History Based on the Writings of Josephus, Philadelphia 1976, 5 0 Í Der erste Judas wird nach seinem Vater „Sohn des Hezekias" genannt, der zweite nach seiner Herkunft aus der Stadt Gamala als „Gaulaniter" (Ant 18,4) oder als „Galiläer" charakterisiert (Ant 18,23; 20,102; Bell 2,118.433; Apg 5,37). Diese verschiedenen Beinamen lassen sich leicht harmonisieren. Denn 4 v.Chr. trat Judas in Galiläa auf Dort wurde er nach seinem Vater Hezekias genannt, der durch seinen Konflikt mit Herodes I. in Galiläa bekannt war. 6. n.Chr. aber trat Judas in Judäa auf Nur dort stellte sich j a nach Absetzung des Archelaos das Problem der Steuerzahlung. Hier, außerhalb Galiläas, wurde er verständlicherweise als Galiläer oder Gaulaniter charakterisiert. Da Josephus zwischen Ant 17 und 18 wahrscheinlich die Quelle wechselt - nur für die Geschichte Herodes 1. konnte er sich auf Nikolaus von Damaskus stützen - , wäre eine Identität der beiden Personen mit Namen „Judas" auch dann denkbar, wenn Josephus sie nicht als identische Personen angesehen haben sollte. Jedoch ist die Identität beider Gestalten alles andere als sicher.

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Dafür spricht schließlich auch folgender Umstand: Die auf Steuerverweigerung hinauslaufende Lehre des Judas Galilaios wird nach Josephus zunächst mit friedlichen Mitteln erfolgreich bekämpft. Dem Hohepriester Joazar gelingt es viele zu überreden ihr Vermögen zu deklarieren und Steuern zu zahlen (Ant 18,3). Bei Josephus hören wir nichts von einem gewaltsamen Ende des Judas Galilaios. Erst in Apg 5,36f erfahren wir davon. Der Rat des Gamaliel lässt seine Bewegung nämlich gegen die historische Chronologie dem Auftreten des Theudas (ca. 44 n.Chr.) folgen. Judas sei nach Theudas wie dieser zugrunde gegangen. Richtig ist: Erst unter dem Prokurator Tiberius Alexander (45-48) kommt es nach Josephus zu einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Söhne des Judas Galilaios, Simon und Jakobus. Beide werden gekreuzigt (Ant 20,102). Für viele war u.U. erst jetzt diese Bewegung gescheitert - nach dem Scheitern des Theudas. So konnte es zu der irrtümlichen Chronologie in Apg 5,36f kommen. Wurde Judas Galilaios in der Apg auch in der Hinsicht mit seinen Söhnen verwechselt, dass ihm deren gewaltsames Ende zugeschrieben wurde? Die Auswirkung seiner Lehre lässt sich auf jeden Fall noch lange verfolgen.® Seine Radikalisierung des ersten Gebots, das nach seiner Interpretation jede Unterwerfung unter die Römer ausschließt (vgl. Bell 2,433), beflügelt im Jüdischen Krieg viele Aufständische (vgl. Bell 7,323.410^ Selbst unter Foltern weigern sie sich den Kaiser als Herrn (δεσπότης) zu bekennen (Bell 7,418f). Aber auch in der Zeit zwischen seinem Auftreten und dem Jüdischen Krieg muss sich ein galiläischer Wanderlehrer mit seiner These einer religiösen Steuerverweigerungspflicht auseinandersetzen (Mk 12,13-17). Judas Galilaios verköφerte also wahrscheinlich keine messianische, sondern eine radikal-theokratische Opposition. Er lehrte die „Monarchie" Gottes, nicht seine eigene. Er verschärfte sie zur radikaltheokratischen Alternative „Gott oder Kaiser" bzw. „Gott oder die Römer" (vgl. sachlich Bell 2,433). Aber er wird kaum der Priesterschaft dieses Gottes grundsätzlich

' D. M. Rhoads, Israel in Revolution (s.o. Anm. 5), 47-60, hat versucht Judas Gahlaios als eine isolierte Gestalt ohne großen Einfluss darzustellen. Er sei kein Sekten- und Schulgründer gewesen, von dem eine Kontinuität des Widerstands bis zum jüdischen Krieg 66-74 n.Chr. ginge. Das sei vielmehr eine tendenziöse Schilderung des Josephus, der für das nationale Unglück einen Sündenbock brauche. Unbestreitbar sind jedoch das lange Nachwirken seiner Lehre sowie das Auftreten von Familiengliedern in Widerstandsbewegungen: Seine Söhne werden unter dem Prokurator Tiberius Alexander ( 4 5 ^ 8 n.Chr.) gekreuzigt (Ant 20,102). Der Aufstandsführer Menahem, der 66 n.Chr. ermordet wurde, galt als sein Sohn (Bell 2,433), Eleazar, der Verteidiger Masadas, als sein Nachkomme (Bell 7,253 vgl. 2,447). Eine solche Familienkontinuität ist nur vorstellbar, wenn es Bezugsgruppen gibt, in der die Familie des Judas Galilaios und seine Lehre als Autorität anerkannt wurden.

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den Gehorsam versagt haben. Immerhin lehrte neben ihm ein Pharisäer mit dem priesterlichen Namen „Sadduk". Seine theokratische Lehre ist dabei nur die radikalisierte Form jener aristokratischen Opposition gegen die Herodäer, die zur Absetzung des Archelaos führte. Möglicherweise trat jedoch sein Nachkomme Menahem mit königlichem Anspruch auf (vgl. Bell 2,434.444). Aber gerade dessen Geschick beleuchtet die Spannung zwischen monarchischen und aristokratischen Verfassungskonzeptionen in der Widerstandsbewegung: Seine Mörder rechtfertigen den Mord mit ihrer Freiheitsliebe. Sie dürften die Freiheit „nicht einem einfachen Mann aus dem Volk preisgeben und ihn als Herrn ertragen" (Bell 2,443). Die Mahnung des Judas keinen Menschen als Herrn zu ertragen (δεσπότην φέρ€ΐν vgl. Bell 2,443 mit 2,118) wendet sich hier gegen die Machtansprüche seines Nachkommen.

3. Das Nebeneinander von messianischen und theokratischen Erwartungen Die Spannungen zwischen monokratischen und theokratischen Herrschaftsstrukturen ftihren auch zu verschiedenen Hoffnungsbildem im damaligen Judentum: In einigen Kreisen richtet sich die Hoffnung auf eine einzelne Heilsgestalt, in anderen Kreisen dagegen direkt auf Gott. Im Bereich utopischer Entwürfe konnten freilich beide Entwürfe leichter ausgeglichen werden als in der geschichtlichen Realität: Auch in den messianischen Texten finden wir im Hintergrund fast immer die theokratische Hoffnung. Nur selten ist diese „rein" bezeugt. Die Erwartung eines davidischen Gesalbten wird am eindrucksvollsten in PsSal 17 in Opposition zum hasmonäischen Königtum ausgesprochen. Denn die Hasmonäer, die ihr Königtum in Hochmut errichtetet und Davids Thron verwüstetet hatten (so PsSal 17,6), waren weder Davididen noch legitimierten sie ihr Königtum durch ein Salbungsritual.^ Der „davidische Gesalbte" von PsSal 17 ist eine direkte Kontrastfigur zu ihnen. Seine Aufgabe ist die Sammlung des Volkes, der Sieg über die Feinde (durch sein Wort) und die Heiligung des Volkes: „Er wird richten die Stämme des Volkes, das geheiligt ist vom Herrn, seinem Gott" (PsSal 17,26). Letztlich ist er nur der Vollstrecker der „Königsherrschaft Gottes" (17,3), die in den Rahmenversen des Psalms mit der Herrschaft des Messias ausgeglichen wird.

' Zu PsSal 17 vgl. O. Camponovo, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg SchweibOöttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1984, 200-228, und M. Karrer, Der Gesalbte, 249-254.

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Denn ffir diesen Messias ist der Herr selbst sein König (PsSal 17,34) bzw. „unser König" (17,46). Die Opposition gegen die hasmonäischen Könige konnte jedoch noch andere Formen annehmen. Die Hasmonäer hatten Priester- und Königtum vereint, ihre priesterlichen Aufgaben aber ihrem politischen Machtwillen untergeordnet. In der Qumrangemeinde finden wir ein Gegenbild in Form einer messianischen Dyarchie: Hier sind priesterlicher und königlicher Messias unterschieden, letzterer dem ersteren untergeordnet. Diese messianische Dyarchie eines Messias aus Aaron und aus Israel ist mehrfach bezeugt (IQS 9,11; IQSa 2,11-22 u.ö.), manchmal ineinandergewoben zu einem einzigen „Messias aus Aaron und Israel" (CD 19,35-20,1), manchmal ergänzt durch einen eschatologischen Propheten (IQS 9,11).' Da sich eine vergleichbare Dyarchie auch in den TestXII findet (Jud 21,2-5 u.ö.), ist die Verbreitung derartiger messianischer Vorstellungen gut bezeugt. Diese Verbreitung wird auch dadurch belegt, dass das Diasporajudentum messianische Erwartungen kannte. Die Lxx versteht das Lied der Hanna (ISam 2,10) als messianische Verheißung: „Er (Gott) wird das Horn seines Gesalbten" erhöhen (Lxx IReg 2,10). Die jüdischen Teile der sybillinischen Orakel enthalten in ihren verschiedenen Schichten Weissagungen eines Heilskönigs ohne Salbungsterminologie (vgl. Sib 3,652 und 3,46-50). Philo sublimiert eine konkretere Messiaserwartung in Praem 95ff; 165ff: Wie stark muss die messianische Erwartung gewesen sein, wenn sich selbst Philo ihr nicht entziehen konnte, obwohl sie seinem Denken fern stand!^ Es ist daher kaum möglich die Messiaserwartung (auch nicht in der Beschränkung auf einen Messias mit Salbungscharisma) so zu minimalisieren, dass man die urchristliche Christologie historisch ohne Anknüpfung und Widerspruch ihr gegenüber verständlich machen könnte. Und doch ist richtig: Nicht in allen Kreisen können wir solche messianischen Erwartungen voraussetzen - nicht einmal in allen Kreisen mit eschatologischen Erwartungen. Die Hoffnung auf eine endzeitliche Sammlung der zerstreuten Stämme findet sich in Schriften ohne erkennbare Messiaserwartung: in 2Makk 2,18, in Bar 2,34f; 4,36f; 5,5-9; Tob 13,11-18; 14,4-7. Zwar handelt es sich hier um ältere Schriften. Aber auch in einer im 1. Jh. n.Chr. entstandenen oder neu redigierten Schrift mit eindeutig apokalyptischen Erwartungen, in der Assumptio Mosis, fehlt der Messiasgedanke; in ihr finden Zu den messianischen Vorstellungen in Qumran vgl. M. Karrer, Der Gesalbte (s.o. Anm. 3), 245-249. J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftftmden von Qumran, WUNT II, 104, Tübingen: Mohr 1998. ' Zu Philo vgl. R, Hecht, Philo and Messiah, in: J. Neusner (u.a.), Judaisms and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge: Cambridge University Press 1987, 139-168.

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wir dieselbe königskritische Haltung wie in PsSal 17 und in den Qumranschriften. Die Hasmonäer werden wegen ihrer Gottlosigkeit kritisiert (AssMos 6,1), Merodes I. wird als verwegener und gottloser Mensch, der das Land tyrannisiert (6,2-6), verurteilt. Die Römer werden in dunklen Farben geschildert. Aber den gottlosen Königen wird - kurz vor dem Auftreten Jesu - keine positive königlich-messianische Gestalt entgegengesetzt, sondern allein Gottes Eingreifen: „Und dann wird seine Herrschaft über seine ganze Schöpfting erscheinen und der Teufel nicht mehr sein und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein" (AssMos 10,1). Der Hoffnungsentwurf ist eindeutig theokratisch - ohne messianischen Vermittler.

4. Messianische und theokratische Vorstellungen in der Jesusbewegung Wenn es im zeitgenössischen Judentum sowohl in der Realität wie in utopischen Konzeptionen ein Nebeneinander von messianischen und theokratischen Vorstellungen gab, so wirft das ein Licht auf die Jesusbewegung. Im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu und seiner Anhänger stand die radikaltheokratische Erwartung der „Königsherrschaft Gottes". Vor allem die Wortüberlieferung ist von ihr geprägt. Nur selten werden in ihr Aussagen über die „Königsherrschaft Gottes" mit messianischen Vorstellungen verbunden, die auf eine Person ausgerichtet sind. Auf der anderen Seite werden in der Jesusüberlieferung solche messianischen Erwartungen an Jesus herangetragen. Weil es Erwartungen anderer Menschen sind, begegnen wir ihnen vorwiegend in Erzählüberlieferungen. Nur in ihnen können neben Jesus andere Personen zur Sprache kommen. So erwarten die Jünger, Jesus werde Israel erlösen (Lk 24,21), und sie müssen erst lernen, dass er als Messias leiden muss um in seine Herrlichkeit einzugehen (Lk 24,26). Erwartungen richten sich auf ihn als „Messias" oder „Christos" (Mk 8,29; 14,61), als „König der Juden" bzw. „Messias Israels" (Mk 15,26.32), als Sohn Davids (Mk 10,47 vgl. 11,10), als „Prophet" (Mk 6,15; 8,28; Lk 7,16; 24,19), als der „Kommende" (Mt 11,3/Lk 7,19). Die Überlieferung ist daher in der heute vorliegenden Gestah von einer Spannung zwischen der theokratischen Verkündigung Jesu und den messianischen Erwartungen seiner Umwelt geprägt. Man kann diese Spannung nicht dadurch auflösen, dass man die Erwartung der Königsherrschaft Gottes dem historischen Jesus zuschreibt, die an ihn herangetragenen messianischen Erwartungen jedoch als Rückprojektionen des Osterglaubens versteht. Denn allzu deutlich ist, dass diese Erwartungen als unzulänglich zurückgewiesen (Mk 14,61 fi) oder korrigiert werden (Lk 24,21) oder ihre

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Erfüllung in der Schwebe bleibt (Mt 11,2-6). Sie geben noch nicht jene Erkenntnis der Hoheit Jesu wieder, wie sie durch die Ostererscheinungen möglich wurde. Hier muss vielmehr ein Reflex vorösterlicher Erwartungen gegenüber Jesus vorliegen, der nachösterlich überformt, nicht aber geschaffen wurde. So setzt das Gerücht, Jesus sei der wiedererstandene Täufer (Mk 6,14-16), voraus, dass Jesus im Verbreitungsgebiet dieses Gerüchts bis zu seinem öffentlichen Auftreten unbekannt war: Wer von seiner Geburt in Nazareth vor ca. 30 Jahren weiß, kann nicht in ihm den Täufer redivivus sehen, da der Täufer ja erst jüngst hingerichtet worden war. Die Zeitgenossen haben schon zu Lebzeiten Jesus gerätselt, ob er vielleicht Elia oder einer der Propheten ist. Wir müssen daher schon früh mit einer Spannung zwischen solchen großen Erwartungen an Jesus und seiner theokratischen Verkündigung rechnen. Daraus ergibt sich die Frage: Wie hat sich Jesus mit diesen Erwartungen auseinandergesetzt? Es gibt m.E. Indizien dafür, dass er die auf eine einzelne Gestalt gerichteten messianischen Erwartungen auf die von ihm begonnene soziale Bewegung übertrug: Träger der „Königsherrschaft Gottes" war kein einzelner König, sondern ein messianisches Kollektiv. Da diese Vorstellung dem Osterglauben entgegenläuft, der zu einer Konzentration auf Jesu unvergleichliche Hoheit führte, dürfen wir bei Überlieferungen, die ein messianisches Kollektiv voraussetzen, mit einer Auswirkung des historischen Jesus rechnen - auch wenn wir nie sicher sind, welche Überlieferungen in welcher Gestalt wirklich auf Jesus zurückgehen. Dabei lassen sich zwei Gruppen von Überlieferungen unterscheiden: Vorstellungen von einer Inthronisation der Jünger (mit Jesus) und Aussagen über die Königsherrschaft Gottes. Als entscheidende Stelle iur Inthronisationsaussagen ist das Israellogion Mt 19,28f/Lk 22,28-31 zu nennen. Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet bei der Wiedergeburt, wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels.

Ihr aber seid's die ihr ausgeharrt habt bei mir in meinen Anfechtungen. Und ich werde euch das Reich zueignen, wie mir's mein Vater zugeeignet hat, dass ihr essen und trinken sollt an meinem Tisch in meinem Reich und sitzen auf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels.

Der beiden Fassungen gemeinsame Bestand sagt: Menschen, die mit Jesus in engster Verbindung stehen - Mt spricht von Nachfolge, Lk vom Ausharren in Jesu Anfechtungen - , werden einmal auf Thronen sitzen um die

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zwölf Stämme Israels zu richten.'" Ob ursprünglich von zwölf Thronen (wie bei Mt) die Rede war, Lk aber aus Rücksicht auf den Verrat des Judas allgemein von „Thronen" sprach, oder ob Mt in Analogie zu den zwölf Stämmen die „zwölf Throne" in das Logion eingeführt hat, kann offen bleiben. Entscheidend ist: Jesus verheißt seinen Aлhängem eine hoheitliche Stellung wie sie in PsSal 17 nur der Messias innehat. Dort ist es die Aufgabe des Messias das Volk zu sammeln und die Stämme des Volkes zu richten (PsSal 17,26)." Auch im Israellogion ist die Sammlung der zerstreuten Stämme vorausgesetzt. Eine Wende zum Heil ist schon vollzogen. Das Richten der Jünger über Israel kann daher nicht nur ein Strafgericht sein; es ist ein königliches Regieren in Gerechtigkeit, das die Möglichkeit des Richtens einschließt, aber grundsätzlich positiv zu verstehen ist.'^ Auch in PsSal 17,26 „richtet" der Messias ein Volk, „das geheiligt ist vom Herrn", das also ganz gewiss nicht nur dem Strafgericht unterworfen wird. Wenn die Jesusüberlieferung von ganz Israel spricht, dem Unheil angedroht wird, spricht sie von „diesem Geschlecht".'^ Im Unterschied dazu bezeichnen die „zwölf Stämme" das wiederhergestellte Israel. Das entscheidende neue Element in unserem Logion ist: Was in PsSal 17,26 einem Einzelnen, dem Messias, zugesprochen wird, spricht Jesus hier seinem Jüngerkreis zu. Die messianische Erwartung wird kollektiviert. Solch eine „Kollektivierung" kann man auch bei einem zweiten Motiv nachweisen: bei der Thronvorstellung. Auch sie begegnet in der Regel als singularische Aussage. Unter den über 150 Belegen der L x x fur θρόνος finden

Für die Authentizität plädieren vor allem E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London: SCM Press 1985 M99I, 98-106; V. Hampel, Menschensohn und historischer Jesus. Ein Rätselwort als Schlüssel zum messianischen Selbstverständnis Jesu, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1990, 140-151, zuletzt mit neuen Argumenten H. Roose, Heil als Machtausübung. Zur Traditionsgeschichte, den Ausprägungen und Funktionen eines eschatologischen Motivkomplexes, Habil.schr.Masch. Heidelberg 2001, 142-181 (erscheint 2003 in NTOA/StUNT). " Neben PsSal 17,26 (krinei/ fiila.j laou/ h"giasme,nou u"po. Kuri,ou qeou/ auvtou/) vgl. 17,29 (krinei/ laou.j kai. e;qnh evn sofi,a dikaiosu,nhj auvtou/) und 17,43 (evn sunagwgai/j diakrinei/ laou/ fulaj). kr,nein bedeutet in diesem Zusammenhang die Durchsetzung der Rechtsordnung Gottes unter den Stämmen Israels und unter den Völkern." So P. Hoffinann, Herrscher in oder Richter über Israel? Mt I9,28/Lk 22,28-30 in der synoptischen Überlieferung, in: Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schräge, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1998,253-264. Dass Kpíwiv Richten und Regieren bedeuten kann, wird von U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1/3, Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn: Benziger/Neukirchener 1997, 129, zwar als „philologisches Märchen" bezeichnet, aber κ ρ ί σ ι ν meint wahrscheinlich in Ri 3,10, ISam 4,18, Ps 71,2 Lxx, vermutlich aber auch in 2Kön 15,5, Ps 2,10, IMakk 9,73 mehr als nur „richten". Dort wo es „richten" bedeutet, muss es sich im Übrigen nicht nur um ein Strafgericht handeln. Vgl. H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 151- 153. " H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm, 10), 147,

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sich nur 17 pluralische Belege, davon ein Drittel in Weish.'" Es handelt sich meist um einen distributiven Plural. Gemeint ist der jeweilige Thron von Königen. Ein echter Plural begegnet nur an drei Stellen: in 3Reg 7,44 (= IKön 7,44), wo von der Thronhalle mit mehreren Thronen die Rede ist, in Ps 121,5 Lxx (= Ps 122,5), wo von mehreren „Thronen des Gerichts" gesprochen wird und in Dan 7,9f, wo sich das himmlische Gericht auf „Thronen" niederlässt. Ps 121,5 Lxx enthält noch weitere Vorstellungen, die an das Israellogion erinnern: Die „Stämme" wallfahren nach Jerusalem (v.4): „Denn dort standen einst Throne zum Gericht, Throne des Hauses Davids" (v.5). Auch hier ist dieses Gericht kein Strafgericht, sondern bringt Heil und Frieden fiir Israel (v.6ff). Die Verbindung von Stämmen und Thronen in Mt 19,28 könnte durch Ps 121,5 bedingt sein. Das bestätigt die oben vertretene Deutung des Israellogions. Man hat gegen eine Deutung des Logions auf eine königliche Herrschaft der Jünger in einem Heilszustand eingewandt, hier würde die Vorstellung von der Beteiligung der Gerechten am (Straf-)Gericht Gottes aufgegriffen, die in der alttestamentlich-jüdischen Tradition gut bezeugt ist.'' Eine traditionsgeschichtliche Analyse durch H. Roose hat jedoch ergeben:'® Es gibt drei Traditionen, bei denen Menschen an Herrschaftsfimktionen Gottes beteiligt werden. Sie kämpfen mit ihm (wobei Traditionen des Jahwekrieges aufgegriffen werden), sie richten mit ihm (wobei Traditionen des leidenden Gerechten nachwirken) und sie partizipieren nach der Durchsetzung der Herrschaft Gottes an dessen Herrschaft (wenn Israel die Herrschaft der anderen Völker ablöst). In allen drei Varianten geht es aber um den Gegensatz zu fremden Völkern und ihren Königen. Nirgendwo findet sich ein Beleg dafiir, dass ein Teil des Gottesvolkes über das eigene Volk richtet. H. Roose kommt zu dem Ergebnis, dass Mt 19,28 nicht aus der Tradition vom Gericht der Gerechten abgeleitet werden kann, sondern dass die Übertragung königlicher Tradition auf ein Kollektiv in diesem Logion singular ist: „Zum einen wird die königliche Tradition sonst nicht auf eine Gruppe übertragen, sondern entweder auf ein Individuum, nämlich den zukünftigen königlichen Gesalbten, oder auf ein Kollektiv, das Gottesvolk. In Mt 19,28* wird jedoch

Vgl. Weish 5,23; 6,21; 7,8; 9,4.12; 18,5; femer IKön 7,44; Hi 12,18; Ps 121,5; Sir 10,14; Hag 2,22; Jes 14,9; Jer 52,32; Ez 26,16; Dan 7,9. " IQpHab 5,3-5; Weish 3,1-12; Dan 7,22; Bilderreden des äthHen 38,5; 48,9; Traumvisionen äthHen 90,19; 91,12; Paränetisches Buch äthHen 95,3; 96,1; 98,12. Die Ableitung von Mt 19,28 aus der Vorstellung vom Gericht der Gerechten ist Mehrheitsmeinung. Sie wird u.a. vertreten von I. Broer, Das lUngen der Gemeinde um Israel. Exegetischer Versuch über Mt 19,28, in: Jesus und der Menschensohn, FS A. Vögtle, Freiburg u.a.: Herder 1975, 148-165. " H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 22-88; 153f.

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eine Zwölfergruppe zum Empfänger königlicher Tradition."'^ Die Sonderstellung des Logions spricht für seine Authentizität. Sowohl die Vorstellung vom „Richten" Israels wie von der „Inthronisation" der Jünger lassen sich als Kollektivierung einer Erwartung verstehen, die ursprünglich auf eine einzelne Hoheitsgestalt konzentriert war. Dass auch das ursprüngliche Israellogion von einer besonderen Hoheitsstellung Jesu sprach, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. Die beiden Varianten bei Lk und Mt sprechen von Jesus in jeweils redaktionell gestalteter Weise: Bei Lk wird Jesus im Bild des gemeinsamen Mahls eingeführt, in Entsprechung zur Mahlszene, in die Lk das Logion sekundär eingebettet hat - und in Spaimung zum Bild von den Thronen, das ursprünglich zum Logion gehört. Bei Mt tritt Jesus als „thronender" Menschensohn auf - entsprechend seiner Vorstellung von Gericht und Thron des Menschensohns (vgl. Mt 25,31). Aber selbst wenn das ursprüngliche Logion nicht von Jesu zukünftiger Stellung gesprochen haben soUte, ist seine Hoheit vorausgesetzt, ja, sie ist größer als in den gängigen messianischen Erwartungen. Denn er ist nicht nur der Herrscher über Israel, er ist mehr als das: Er designiert die zukünftigen Herrscher über Israel aufgrund ihrer Beziehung zu ihm. Etwas anders sind die ¿»aj/7e/a-Aussagen zu verstehen." Die Vorstellung vom Königtum Gottes und seiner Königsherrschaft ist selten mit der Herrschaft eines Einzelnen verbunden - im Grunde nur in PsSal 17 (sonst nur in Dan 7, wenn man den Menschensohn dort als eine individuelle Gestalt deutet). Nur das chronistische Geschichtswerk assoziiert mehrfach die davidische Dynastie mit dem Königtum Gottes (IChr 17,14; 28,5; 2Chr 9,8; 13,8). In der Regel aber ist die Königsherrschaft Gottes ganz Israel zugeordnet (vgl. Obd 15-21; Mi 4,6-8; Dan 2,44; AssMos 10,Iff). An den meisten Stellen findet sich ein deutlicher Gegensatz zu den Heiden. Eben das wird in der Jesusüberlieferung anders. Die bas Heia wird kleinen Gruppen in Israel zugesprochen. Der Gegensatz zu den Heiden entfallt. Man kann eine Einschränkung der ursprünglich auf ganz Israel bezogenen Aussagen auf bestimmte Gruppen in Israel beobachten - eine Bewegung, die sich mit der oben beobachteten Ausweitung individueller Hoheitsaussagen auf eine Gruppe überschneidet. Beide Bewegungen sind in der Jesusüberlieferung unlöslich miteinander verbunden.

" H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 153. Für die folgenden Überlegungen bin ich Michael Wolter zu Dank verpflichtet, der mir Einblick in ein unveröffentlichtes Manuskript „Die Gottesherrschaft, Israel und die Heiden. Zur Rezeption eines jüdischen Heilskonzepts im frühen Christentum" gewährte und eine Materlalsammlung zum Königtum und zur Königsherrschaft Gottes zur Verfügung stellte. Vgl. M. Wolter, .Reich Gottes' bei Lukas, N T S 41 (1995) 541-563.

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Das zeigt der zweite Beleg für die gruppenmessianische Umprägung geläufiger Erwartungen, bei Jesus das umrätselte Wort Lk 17,20f, das ursprünglich wohl zu den Jüngern gesprochen worden ist. Seine Adressaten im lk Kontext sind jetzt die Pharisäer. „Das Reich Gottes kommt nicht in beobachtbarer Weise, man wird auch nicht sagen: Siehe hier, siehe dort. Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch."

Die abgelehnte „Beobachtbarkeit" ist auf den Zeitpunkt zu beziehen, an dem die messianische Wende kommt. Die Ausrufe „Siehe hier, siehe dort!" weisen dagegen auf den Ort der Wende, genauer: auf den Messias selbst. Das zeigt die synoptische Parallele: „Siehe hier ist der Messias, siehe dort ..." in Mk I3,21/Mt 24,23, aber auch ein Spruch Jochanan ben Zakkais:" „Wenn ein Schössling in deiner Hand ist und man sagt dir, schau, geh, der Gesalbte, dann komm und pflanz den Schössling, und danach (erst) zieh, ihn (den Gesalbten) zu empfangen!" ( A R N Vers В ed. Schechter p. 67)

An die Stelle einer auf eine Person, den Messias, gerichtete Erwartung tritt in Lk 17,20f ein pluralischer Zuspruch: Die Königsherrschaft Gottes ist „in euch", wobei έντός ύμών entweder „in eurer Mitte", „in eurem Inneren"^" oder „in eurem Wirkungsbereich"^' heißen kann. Die Königsherrschaft Gottes wird durch die Angeredeten ausgeübt und von ihnen repräsentiert. Eine Parallele bietet TestBenj 9,1. Dort prophezeit der Stammvater Benjamin seinen Nachkommen, dass sie Sodomie und Hurerei treiben werden (vgl. Ri 19). Die Strafe dafiir wird sein: „Und die Herrschaft des Herrn wird nicht unter euch sein (ή βασιλεία κυρίου ουκ εσται kv ύμίν), denn er selbst wird " Vgl. dazu M. Karrer, Der Gesalbte (s.o. Anm. 3), S. 297f, der m.W. als Erster auf diesen Spruch Jochanan ben Zakkais aufmerksam gemacht hat. Diese traditionelle Übersetzung erfuhr eine Renaissance durch die beiden Parallelen zu Lk 17,20f im EvThom 3 und 113. In Log. 3 ist die Gottesherrschaft keine rein innere Größe: Sie ist innen und außen! Log. 113 geht in der Verinnerlichung einen Schritt weiter. Wer έι^τός ύμω!» mit „in eurem Innern" übersetzt, sieht vor allem eine Opposition zur ersten Aussage, das Reich Gottes komme nicht mit Beobachtungen. Wer kvzbi υμών mit „in eurer Mitte" übersetzt, sieht eine Opposition zu der an zweiter Stelle genannten Suche des Messias. Nun sollen die Beobachtungen von Anzeichen wohl auf den Zeitpunkt der Ankunft des Messias weisen, daher ist die erste Bestimmung m.E. der zweiten unterzuordnen. Das ίντος ύμών wäre dann Opposition zu „Der Messias ist anderswo zu suchen". Vieles bleibt noch immer offen. Die Deutung „in eurem Innern" ist philologisch und exegetisch nach wie vor möglich. Vgl. H. Riesenfeld, Le Règne de Dieu, parmi vous ou en vous? (Luc 17,20-21), RB 98 (1991) 190-198; T. Holmén, The Alternatives of the Kingdom, Encountering the Semantic Restrictions of Luke 17,20-21 (έντός ΰμώι/), ZNW 87 (1996) 204-229. Vgl. A. Rüstow, ΕΝΤΟΣ YMIN ΕΣΤΙΝ. Zur Deutung von Lukas 17,20-21, ZNW 51 (1960)197-224.

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sie alsbald fortnehmen". Auch hier ist vorausgesetzt, dass der gesamte Stamm an der „Herrschaft Gottes" teilhat. Er wird - mit dem Ende des Königtums Sauls - die Herrschaft an einen anderen Stamm abgeben. Ebenso wie der Stamm Benjamin zeitweilig die „Herrschaft des Herrn" ausübt, so werden in Lk 17,20f die Angeredeten als Hoheitsträger vorgestellt. Der Stamm Benjamin hat die Herrschaft, weil aus seiner Mitte der erste israelitische König stammt. Die Adressaten von Lk 17,20f haben die Herrschaft Gottes, weil Jesus in ihrer Mitte ist. Durch ihn wird sie ihnen zugesprochen. Das dritte hier zu besprechende Logion ist der Stürmerspruch, der in der wahrscheinlichen Fassung von Q lautet:^^ „Das Gesetz und die Propheten (sind) bis Johannes. Von da an leidet die Gottesherrschaft Gewalt und Gewalttäter erbeuten sie." (Lk 16,16/Mt n , 1 2 f )

Es ist bis heute umstritten, ob die „Gewalttäter" in malam partem oder in bonam partem zu verstehen sind, als Gegner der Gottesherrschaft oder als ihre Anhänger. Wer an Gegner der Gottesherrschaft denkt, muss die Bedeutung von „rauben" und „erbeuten" abschwächen zu: „und sie versuchen sie zu erbeuten, ohne dass es ihnen gelingt". Viel näher liegt es, an eine erftjlgreiche „Inbesitznahme" der Gottesherrschaft zu denken, die mit der kühnen Metapher eines „Raubs" oder einer „Eroberung" bezeichnet wird. Dann aber kommen nur Anhänger des Täufers und Jesu in Frage. Nur sie stehen in einem positiven Verhältnis zur Königsherrschaft Gottes. Nur sie existieren „seit den Tagen des Täufers". Auf die Gegner, an die man gedacht hat - auf Politiker, Dämonen oder Widerstandskämpfer - träfe das nicht zu. Für uns ist entscheidend: Die Gottesherrschaft ist jetzt in der Hand eines Kollektivs. Es ist von mehreren „Gewalttätern" und „Rebellen" die Rede. Einige weitere Überlieferungen, in denen die Königsherrschaft Gottes mit einem Kollektiv verbunden wird, seien kürzer besprochen. Nach Lk 12,32 werden die Jünger getröstet: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater Wohlgefallen, euch das Reich zu geben." Eine verwandte Vorstellung begegnet in Mk 4,11: Hier ist das Geheimnis der Gottesherrschaft den Jüngern „gegeben". Erst Mt und Lk machen daraus ein ^^ Meine Interpretation habe ich ausfuhrlich begründet in: Jünger als Gewalttäter (Mt l l , 1 2 f ; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität, StTh 4 9 ( 1 9 9 5 ) 1 8 3 - 2 0 0 = Mighty Minorities, FS J. Jervell, Oslo u.a.: Scandinavian University Press, 1995, 1 8 3 - 2 0 0 (in diesem Band S. 1 5 3 - 1 6 8 ) . U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1/2, Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn: Benziger/Neukirchener 1990, 176ff, plädiert für die Deutung der „Gewalttäter" auf die Gegner Jesu. Zur Forschungsgeschichte vgl, P. S. Cameron, Violence and the Kingdom. The Interpretation of Matthew 11,12, ANTJ 5, Frankfurt u.a.: Lang 1984.

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„zu erkennen gegeben" (vgl. Mt 13,11/Lk 8,10). Das „Geheimnis der Gottesherrschaft" könnte ursprünglich die Sache selbst gewesen sein und nicht nur ihre Erkenntnis, zumal Mk von ihm im Singular spricht, beide Seitenreferenten jedoch im Plural. Schließlich sei noch auf die erste Seligpreisung hingewiesen: Hier werden die Armen als „Besitzer" der Gottesherrschaft glücklich gepriesen (Mt 5,3). Die Genitiwerbindung αύτών koziv ή βασιλεία των ουρανών ist als genitivus possessivus zu verstehen wie in der Doxologie des Vaterunsers: δτι σοϋ έστιν ή βασιλεία (vgl. Mt 6,13 v.l.; Did 8,2). Die Ik Variante bestätigt das. Sie benutzt das Possessivpronomen: „Euer (ημετέρα) ist die Königsherrschaft Gottes". So, wie in den folgenden Seligpreisungen die Hungrigen Speise und die Trauemden Trost erhalten sollen, so werden auch die Armen besitzen, was ihnen jetzt fehlt. Eigentlich erwartet man: „Sie werden reich werden".^^ Wenn ihnen statt dessen die Gottesherrschaft zugesprochen wird, so ist vorausgesetzt, dass „arm" in biblischer Tradition nicht nur ökonomisch Arme sind, sondern Unterdrückte, die durch Macht und Gewalt um ihre Rechte gebracht werden. Diesen ohnmächtigen Armen wird die Macht zugesprochen, so dass sie sich behaupten können.^'· Zwar steht im Unterschied zu den anderen Seligpreisungen das Präsens.^' Das kann eine Anwartschaft auf die zukünftige Herrscherftmktion meinen. Nicht weniger kühn ist die präsentische Aussage über die Kinder: „Solchen gehört das Reich Gottes" (Mk 10,14). Dass sogar Kinder an Macht beteiligt werden, ist nicht unvorstellbar. Der Gedanke begegnet auch in Jub 23,16.28ff. Danach werden Kinder einmal die ältere Generation kritisieren und zurecht weisen. Dann werden alle Knaben und Kinder sein. Keiner wird altern. Zusammen mit Gott werden sie die Feinde Gottes vertreiben (Jub 23,30).

Vgl. TestTud 25,4: „Und die in Trauer starben, werden in Freude aufstehen, und die um des Herrn willen Armen werden reich werden. Und die um des Herrn willen starben, werden auferweckt werden zum Leben." ^^ K. Koch, Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener ^1967, 52, schreibt über die Makarismen: „Mit ihrem paradoxen Charakter: jetzt Arme künftig Herrscher, hier Trauemde - dort Getröstete, hier Hungernde - dort Gesättigte, entsprechen sie dem Grundtenor jesuanischer Eschatologie." Ebenso deutet H. J. Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentiichen Theologie Bd. 1, Freiburg/Leipzig: Mohr 1897, 205 die Seligpreisung: Die Armen im Geist und bei Lk sogar die Armen überhaupt werden „zu Herrschern in diesem Reich ausersehen". " H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 159f, will die Partizipation an eschatologischer Machtausübung auf die zwölf Jünger beschränken. Sie weist daraufhin, dass in Mt 5,3 und Mk 10,14 das Präsens έστίν steht. Da Arme und Kinder in der Gegenwart nicht „herrschen", sei hier die Zugehörigkeit zur Gottesherrschaft im allgemeinen Sinne gemeint. Aber kann mit dem Präsens nicht auch der Anspruch auf die Herrschaft gemeint sein? So beansprucht in Jos Am 8,4 Adonia in Konkurrenz mit anderen mit den Worten: paoaeiaf ... ουσαΐ' αύτοΰ die Herrschaft filr sich.

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In all diesen Worten ist die basileia mit einem Heilskollektiv verbunden: mit Kindern, Armen, Anhängern Jesu, den Zwölfen. Der Kreis variiert. Es scheint „normale" Bürger der Königsherrschaft Gottes zu geben, aber auch die „Zwölf, die eine besondere Hoheitsstellung innehaben, so wie die synoptische Tradition zwischen „Kleinen" imd „Großen" in der Gottesherrschaft unterscheiden kann (Mt 11,11 vgl. 18,1-5; 5,19). Die „Söhne der Gottesherrschaft" sind im Grunde das ganze Volk (Mt 8,11; vgl. Mt 21,43). Die Heraushebung einzelner Kreise aus dem Volk erklärt sich dann so: Die Zwölf stehen für das ganze Volk - einschließlich seiner in der Diaspora zerstreuten und „verlorenen" Glieder. Alle sollen wieder gewonnen werden. Das gilt auch fiir andere verlorene und abseitsstehende Teile des Volkes: Daher werden die Armen und Kinder besonders hervorgehoben. Die basileia soll dem wiederhergestellten Volk gegeben werden, in dem die jetzt Ausgeschlossenen und Verlorenen wieder voll zu ihrem Recht kommen. Insgesamt gibt es weit mehr basileia-'Worte, in denen die Königsherrschaft Gottes mit einem Kollektiv verbunden wird als Worte, die eine einzelne Gestalt als ihren Träger und Repräsentanten herausstellen. Letztere sprechen bei näherer Betrachtung nicht gegen die Möglichkeit eines kollektiven Trägerkreises. So wird das Exorzismuswort Mt 12,28 immer wieder als entscheidender Beleg einer exklusiv auf Jesus bezogenen „messianischen" Sendung angefiihrt: „Wenn ich die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen." Aber dies Wort ist Antithese zu der rhetorischen Frage an die Gegner Jesu: „Wenn ich aber die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne (= Anhänger oder Schüler) sie aus? Darum werden sie eure Richter sein" (Mt 12,27). Jesus vergleicht sich hier mit einer ganzen Gruppe anderer Exorzisten. Die Pointe könnte durchaus sein: Überall wo Dämonen effektiv ausgetrieben werden, geschieht etwas Positives. Das gilt auch fiir die Gegner Jesu. Prinzipiell können seine Jünger nicht ausgeschlossen sein. Und nach anderen Worten der Jesusüberlieferung zu urteilen, sind sie es nicht. Denn Jesus hat auch seinen Jüngern das Charisma des Exorzismus mitgeteilt (vgl. Lk 10,17-20; Mk 3,15). Wenn sie Heilungen vollbringen, gilt ftlr sie genauso wie ftir Jesus selbst, dass in ihren Heilungen die Gottesherrschaft „nahe" ist (vgl. Mt 10,7; Lk 10,9.11). Jesus lässt sie an seiner messianischen Sendung teilhaben. Im Zebedaidengespräch ist bei Mt von „deiner Königsherrschaft" die Rede (Mt 20,21), wo Mk von „deiner Herrlichkeit" (Mk 10,37) spricht. Aber gerade hier geht es wie im Israellogion von den zwölf Stämmen um eine Partizipation der Jünger an Jesu messianischer Hoheit. Nur deswegen streiten sie sich um die Ehrenplätze zur Rechten und zur Linken.

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Lk 22,29 hatten wir schon oben besprochen: Die Übergabe der Herrschaft durch Gott an Jesus wird erwähnt, um ihre Weitergabe an die Jünger herauszustellen. Weitere Aussagen finden sich in Lk 23,42, wo der eine Mitgekreuzigte zu Jesus von „deinem Reich" spricht; femer Mt 13,41, wo von „seinem", nämlich dem Reich des Menschensohns die Rede ist (vgl. Mt 16,28). Es kann kein Zweifel sein: Nach den ¿»asZ/e/a-Aussagen der Jesusüberlieferung hat die Gottesherrschaft nicht nur in einem Einzelnen ihren Repräsentanten, sondern in mehreren. Jesus versteht sich nicht exklusiv als der, der die Königsherrschaft Gottes bringt, sondern teih seine Vollmacht anderen mit. Die Beruftings- und Aussendungsüberlieferungen bringen das zum Ausdruck. Hier lässt Jesus „seine von ihm berufenen Nachfolger an seinem ,messianischen Auftrag' ... partizipieren" (M. Hengel)^^. Abschließend sei ein Apophthegma der Jesusüberlieferung besprochen, das weder eine Inthronisationsvorstellung noch eine basileia-Aussage enthält: die Frage des Täufers (Mt 11,2-6; Lk 7,18-23)." Der erzählerische Rahmen lässt hier die Spannung zwischen „messianischer" Erwartung an Jesus und seiner Stellungnahme zu ihr klar erkennen. Der Täufer lässt fragen, ob Jesus der „Kommende" sei. Jesus antwortet mit Hinweisen auf Wunder und Predigt - , auf das, was die Gesandten des Täufers hören und sehen. Dabei sagt Jesus nicht: Jch gebe Blinden das Augenlicht, mache Lahme gehend ... und bringe Armen die frohe Botschaft", obwohl Anklänge an Jes 61, If die erste Person nahe legen könnten; denn dort heißt es: „Er hat mich gesandt, den Elende gute Botschaft zu bringen ...". Jesus verweist vielmehr allgemein auf Wunder und Verkündigung, die in seiner Nähe sichtbar und hörbar geschehen, ohne dass er das Subjekt dieses Geschehens nennt. Dass ausschließlich er selbst dieses Subjekt sei, sagt er nicht.^^ Vielmehr kann er Wunder und Predigt auch seinen Jüngern auftragen: Nach Lk 10,9 sollen sie Kranke heilen, nach Mt 10,8 sogar „Tote erwecken. Aussätzige reinigen, Dämonen austreiben"; nach beiden aber sollen sie die Gottesherrschaft verkündigen und ihre Nähe repräsentieren. Wunder und Predigt werden von der ganzen Jesusbewegung vollbracht. Ihr Wirken und Handeln ist die Antwort auf die Frage nach dem Kommenden. In ihrer Mitte steht Jesus selbst. Deshalb lenkt die abschließende Seligpreisung mit

" M. Hengel, Die Ursprünge der christlichen Mission, NTS 18 (1971) 15-38, dort S. 36. " Vgl. zu dieser Perikope U. Luz, Matthäus II (s.o. Anm. 22), 163-170. Er hält m.E. mit Recht einen authentischen Kern der Überlieferung für möglich. Was die moderne Exegese meist nicht registriert, muss schon dem Lk-Evangelisten aufgefallen sein. Er schiebt daher vor die Antwort Jesu einen berichtenden Satz ein: „Zu der Stunde machte Jesus viele gesund von Krankheiten und Plagen und bösen Geistern, und vielen Blinden schenkte er das Augenlicht." (Lk 7,21).

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Recht auf Jesus zurück: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!" Gehen Wundercharisma und Predigtauftrag doch letztlich auf ihn zurück! Aber wie „bescheiden" wird der persönliche Anspruch Jesu formuliert: Das Heil ist nur an die negative Bedingung gebunden, dass man sich nicht an ihm ärgert. Das erinnert an die tolerante Maxime: „Wer nicht gegen mich ist, ist fur mich" (Mk 9,40 im Unterschied zu Mt 12,30). Entscheidend ist, ob man sich auf das kollektive Geschehen in der Gegenwart Jesu einlässt: auf Heilungen und Evangeliumspredigt. In diesem Geschehen begegnet man indirekt der Hoheit Jesu. Jeder ist „selig" zu preisen, der in diesem Geschehen die Heilszeit wahrnimmt - vorausgesetzt, er weist Jesus nicht bewusst zurück. Wenn all diese Beobachtungen und Überlegungen die Wahrheit nicht ganz verfehlen, so hätte Jesus seinen Hoheitsanspruch sehr viel mehr mit dem Kreise seiner Jünger geteih, als bisher angenommen wurde. Er teilt sein messianisches Charisma mit anderen. Seine Bewegung ist Ausdruck eines Gruppenmessianismus. Historisch-kritische Inteφretation darf sich mit einer Beschreibung dieses Sachverhalts nicht begnügen, sondern muss die historischen Bedingungen seiner Möglichkeit rekonstruieren. Folgende Hypothese liegt dazu nahe: Jesus lebte in einem Milieu der jüdisch-palästinischen Welt, in der messianische Erwartungen in verschiedenen Variationen lebendig waren als positive Hoffnung vom Volk bejaht, gefiirchtet als Unruhefaktor in der Aristokratie. Diese Aristokratie hatte ein präsentisches theokratisches Verfassungsideal: Im bestehenden jüdischen Gemeinwesen herrschte Gott durch seine Gesetze und die im Synhedrium organisierte Aristokratie. Jesus vertrat dagegen eine utopische theokratische Erwartung: Gottes Herrschaft ist im Kommen begriffen und nicht in den gegenwärtigen Institutionen schon realisiert. Sie wird vielmehr von Menschen repräsentiert, die in der gegenwärtigen Gesellschaft Außenseiter sind: von Armen, Kindern und den Nachfolgern Jesu. Um die enge Beziehung der hereinbrechenden Gottesherrschaft zu diesen Gruppen zum Ausdruck zu bringen prägt er die Erwartung einer messianischen Einzelgestalt um in einen Gruppenmessianismus, der die „Niedrigen" an messianischer „Hoheit" teilhaben lässt. Historische Bedingung der Möglichkeit dieser gruppenmessianischen Inteφretation sind eine Reihe von Analogien, die eine Übertragung der auf einen einzelnen Messias bezogenen Erwartungen auf eine Gruppe ftlr die damalige Zeit belegen. Drei Formen lassen sich dabei unterscheiden: (1) eine Kollektivierung zum messianischen Volk, (2) eine Pluralisierung zur messianischen Dyarchie oder Triumvirat, (3) eine Expansion auf einen messianischen Stab.

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1. Eine Kollektivierung der Messiasidee zum messianischen Volk^^ liegt überall dort vor, wo vom „Gesalbten" so gesprochen wird, dass das ganze erwählte Volk (oder eine Gruppe in ihm) gemeint ist. Die einzelnen Mitglieder können entsprechend „Gesalbte" (oder ein „königliches Geschlecht") genannt werden. Belege daffir gibt es schon bei Deuterojesaja (Jes 55,3-5) und in Ps 89,51 f u n d 132,10, wahrscheinlich auch in Ps 28,8f; 84,10; 132,17f; sie werden erst in hellenistischer Zeit zahlreicher. Die Lxx übersetzt den Singular „Gesalbter" in Hab 3,13 durch den Plural (als v.l. ist auch der Singular belegt) und denkt dabei an das ganze Volk. Ähnlich lassen sich Lxx Ps 83,10 und 27,8 verstehen. In Sib 5,68 werden alle Juden kollektiv als „von Gott gesalbte Knechte" (παίδες θεόχριστοι) bezeichnet. 4QFlorilegium 1,14-19 deutet Ps 2 auf die Gemeinde, die „Erwählte[n] Israels am Ende der Tage". Und CD 7,16f interpretiert Am 9,11 (die „Hütte Davids") mit den Worten: „der König, das ist die Gemeinde". ÄthHen 48,10 meint das ganze Volk. Von diesen Belegen fuhrt jedoch kein Weg zum Gruppenmessianismus nach Mt 19,28. Denn das Volk wird nicht deshalb „Gesalbter" genannt, weil es herrschaftliche Funktionen ausübt, sondern weil es in besonderer Weise schutzbedürftig und auf Gottes Hilfe angewiesen ist (H. Roose).^° 2. Eine Pluralisierung zu einer messianischen Dyarchie oder einem Triumvirat liegt vor, wo neben den einen Messias weitere „Messias" genannte Gestalten treten, wobei die zukünftigen Hoheitsträger verschiedene Funktionen haben und hierarchisch zugeordnet werden können. Eine Pluralisierung war uns in Qumran begegnet, wo nebeneinander ein Messias aus Aaron und Israel - verbunden mit einem prophetischen Messias - erwartet werden (IQS 9,11). Eine messianische Dyarchie ist fiir die TestXII belegbar (vgl. TestRub 6,8; TestJud 21,2-5). Kollektivierung und Pluralisierung der messianischen Erwartung finden sich nebeneinander in den Qumranschriften, ja, manchmal scheinen sie eng zusammenzugehören. Josephus berichtet in Bell 6,312 von einem „zweideutigen Orakel", das sich „ebenfalls in den heiligen Schriften fand, daß in jener Zeit einer aus ihrem Land über die bewohnte Erde herrschen werde".^' Josephus deutet dies Orakel

Die Kollektivierang der Messiasidee hat M. Karrer, Der Gesalbte (s.o. Anm. 3), 217-219, bes. 2 2 8 - 2 4 2 nachgewiesen. H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 89-137, hat diese Kollektivierung von Königs- und Gesalbtenvorstellungen untersucht und gezeigt, dass damit nicht immer auch Herrschaftsfunktionen auf das Volk übertragen werden. So das überzeugende Ergebnis in H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 115f: Sie betont, dass „kollektive Salbung und kollektive Herrschaft nicht grundsätzlich gleichgesetzt werden dürfen". '' Zu diesem Orakel ausführlich H. Schwier, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg ( 6 6 - 7 4

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singularisch auf Vespasian, der nach ihm in Judäa zum Kaiser ausgerufen wurde (Bell 6,313). Tacitas deutet es (Hist V,13,2) dagegen zunächst in kollektivem Sinne darauf, „dass zu jener Zeit der Orient erstarke". Dann inteφretiert er es pluralisch auf Männer, „die aus Judäa aufbrechen, sich der Herrschaft bemächtigen" und meint damit Vespasian und Titus. Sueton (Vesp 4,5) setzt ein Orakel voraus, das die Juden kollektiv auf sich bezogen hatten. Man hat das Nebeneinander verschiedener Auffassungen desselben Orakels als einen sukzessiven Deutangs- und Umdeutangsprozess verständlich gemacht: Ein (kollektiv auf den Orient zu beziehendes) allgemeinorientalisches Orakel sei sekundär einer interpretatio judaica unterzogen worden - singularisch auf den Messias oder kollektiv auf das jüdische Volk, um schließlich in einer dritten Deutung auf die römischen Sieger bezogen zu werden, sei es singularisch auf Vespasian, sei es pluralisch auf die Flavier überhaupt.^^ Es könnte aber sein, dass sich in dem Nebeneinander verschiedener Deutungen auch eine ursprüngliche Zweideutigkeit der Weissagung erhalten hat. Im Jüdischen Krieg selbst waren die Aufständischen wahrscheinlich sowohl von theokratischen wie von messianischen Hoffnungen bewegt. 3. Von diesen beiden Traditionssträngen ist eine dritte Variante zu unterscheiden: Die Ausweitung der Messianität auf einen messianischen Stab. Die Zwölfe bilden eine Art „Thronrat". Eine Analogie zu diesem eschatologischen Thronrat wäre der Thronrat des Athronges, sein βουλευτήριον, das er (zusammen mit seinen Brüdern?) bildete (vgl. Jos Ant 17,280; Bell 2,61). Nur handelt es sich bei Athronges um einen gegenwärtigen, in der Jesusüberlieferung dagegen um einen zukünftigen Thronrat. In beiden Fällen aber lässt der königliche Herrscher andere an seinen Funktionen partizipieren. Eine weitere Analogie bilden die (zwölf) Stammesfiirsten. Nach llQTempel 57,11-15 beraten sie den König zusammen mit anderen. Aber sie teilen nicht seine Funktionen. Näher an Mt 19,28 steht die Vorstellung von zwölf Stammesfürsten in TestJud 25,1 : „Und danach werden Abraham, Isaak und Jakob zum Leben auferstehen, und ich (sc. Juda und seine Brüder) werden Herrscher der Stämme in Israel sein." Hier ist implizit die Zwölfzahl mitgegeben. Die zwölf Söhne Jakobs werden über Israel herrschen. Die Vorstellung ihrer Herrschaft steht neben der Erwartung einer einzigen messianischen Gestalt (TestJud 24,5-6) und einer messianischen n.Chr.), N T O A 11, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1989, 238-244. " Vgl. H. G. Kippenberg, „Dann wird der Orient herrschen und der Okzident dienen". Zur Begründung eines gesamtvorderasiatischen Standpunktes im Kampf gegen Rom, in: N. W. Bolz/W. Hubener (Hg.), Spiegel und Gleichnis, FS J. Taubes, Würzburg: Königshausen & Neumann 1983, 4 0 - 4 8 ; H. Schwier, Tempel (s.o. Anm. 31), 238fr.

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Dyarchie (TestJud 21,2-5). Jesus könnte sich am Modell solcher Stammesfursten orientiert haben, das auch in neutestamentlicher Zeit noch lebendig war.^^ Man könnte daher von einer „partizipatorischen Messianität" sprechen - als einer zusätzlichen Variante einer Ausweitung der messianischen Idee neben der oben dargestellten Kollektivierung und Pluralisierung der Messiasidee.^'* Der Überblick über verschiedene Formen von Kollektivierung und Pluralisierung der messianischen Idee in neutestamentlicher Zeit zeigt: Auch die Kollektivierung des Messianismus in den Worten Jesu lässt sich als eine Variante im Spielraum historischer Möglichkeiten verständlich machen. Streng genommen liegt in der Jesusüberlieferung keine der oben skizzierten Formen von Kollektivierung und Pluralisierung vor. Denn das „Heilskollektiv" wird nirgendwo eindeutig mit dem ganzen Volk oder einer anderen umfassenden sozialen Größe gleichgesetzt (was oben „Kollektivierung" genannt wurde). Es liegt aber auch keine Pluralisierung wie in Qumran vor, wo mehrere messianische Gestalten mit verschiedenen Aufgaben nebeneinander auftreten. Sofern das Heilskollektiv mit den „Zwölfen" identifiziert wird, findet keine Differenzierung ihrer Funktionen gegenüber der des Messias statt. Alle üben dieselbe Richterfiinktion aus. Am nächsten kommt ihr die Vorstellung eines messianischen Stabes und von (zwölf) Stammesfursten. Mt 19,28 passt somit als individuelle Erscheinung gut in die damalige Zeit. Das Logion passt aber ebenso gut in die Verkündigung Jesu. In der Jesusüberlieferung werden nämlich auch sonst Hoheitsvorstellungen so verwandt, dass sie partizipatorisch andere einschließen. Das gilt von Hoheitsvorstellungen, die mit den drei ältesten Hoheitstiteln - Sohn Gottes, Christus und Menschensohn - verbunden sind. " So W. Horbury, The Twelve and the Phylarchs, NTS 32 (1986) 503-527. Die Stammesfflrsten treten in Num 27,2; 31,13; 32,2; 34,16-29; 36,1; Jos 9,15-21; 14,1; 21,1; 22,9.34; IKön 8,1; IChr 23,2; 27,16-22; 28,1; 29,6 als eine Art Rat auf. Ihr Nachleben in neutestamentlicher Zeit ist durch Jos Ant 3,47 (vgl. Ex 17,9); Ant 4,63-66 (vgl. Num 17,17), Philo VitMos 1,221 (vgl. Num 13,2f); IQM 2,1-3; 1 IQTempel 57,11-15 und 4QpIs' belegbar. W. Horbury sieht in solchen Vorstellungen eine messianisch orientierte Opposition zum Hohepriester und seinem Synhedrium. Die Vorstellung einer Partizipation der Christen an der Hoheitsstellung des Messias hat auch nach Ostern weitergelebt. H. Roose, Heil als Machtausübung (s.o. Anm. 10), 295-366, unterscheidet zwei Traditionsstränge. Nach dem ersten ist die eschatologische Herrschaft ein Lohn für Märtyrer (Apk 3,20f; 5,10; 20,4; 22,5), Wandercharismatiker (Mt 19,28), Gemeindeleiter (2Tim 2,12) oder alle Gläubigen (PolPhil 11,2; 5,2). Hierhin gehört auch die gnostische Vorstellung von einer Herrschaft als Lohn ftir die rechte Erkenntnis (EvThom 2; ClAl Strom II 9,45,5; V 14,96,3). Nach dem zweiten ist die eschatologische Herrschaft ein Geschenk, das als indikativische Zusage ohne Bedingung das Leben verheißt: nach Paulus werden die Christen im Endgericht die Welt und sogar die Engel richten (IKor 6,2). Sie werden im (zukünftigen) Leben herrschen (Röm 5,17). Ein Paulusschüler sieht sie sogar schon durch ihre Bekehrung und Taufe „eingesetzt in den Himmeln" (Eph 2,6).

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Ob Jesus von sich als „Sohn Gottes" gesprochen hat, ist mit Recht umstritten. Wahrscheinlich aber hat er von „Söhnen Gottes" im Plural gesprochen - in Fortsetzung jüdischer Traditionen: „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen" (Mt 5,9). Wenn die Jünger ihre Feinde lieben, so werden sie auf diese Weise zu „Söhnen" ihres Vaters im Himmel (Mt 5,44f). Mit Recht ist femer umstritten, ob Jesus sich als königlichen Messias verstanden hat. Aber er verleiht in seinen Worten den Jüngern königlichen Status: Sie sind Königssöhne und teilen das Privileg der Steuerfreiheit (Mt 17,24-27). Sie hören größere Weisheit als die Königin des Südens (Mt 12,42). Sie sind in ihrer Armut durch die Fürsorge Gottes wie König Salomo gekleidet (Mt 6,25-34). Propheten und Könige haben das ersehnt, was sie erleben (Lk 10,23f). Vor allem aber wird der Ausdruck „Menschensohn" in der Jesusüberlieferung in einer offenen Weise verwandt: Wir finden nebeneinander einen titularen Gebrauch, der sich auf eine rätselhafte Hoheitsgestalt bezieht, und einen generischen Gebrauch, der für jeden Menschen offen ist. Vielleicht hat Jesus beide Bedeutungsmöglichkeiten bewusst kombiniert. Der Menschensohn im Sinne einer Hoheitsgestalt ist immer der Repräsentant einer Menschengruppe: In Dan 7 repräsentiert er ganz Israel, in den Bilderreden des äthHen (37-71) die Gerechten in Israel. In der Jesusüberlieferung aber wird Jesus zum einzigen Repräsentanten dieses Menschensohns (Lk 12,8f parr),'' aber so, dass durch ihn alle anderen „Menschen" in das gleiche Verhältnis zum Menschensohn gelangen können wie er. Im Zentrum der Verkündigung Jesu aber stand nicht sein sich nur verhüllt zeigendes Selbstverständnis, sondern die beginnende Gottesherrschaft: Jesus verkündigte sie nicht nur, er verwirklichte sie nicht nur durch sein Handeln, er sprach darüber hinaus auch seinen Jüngern eine hoheitliche Stellung in dieser Gottesherrschaft zu. Sie waren ihre Träger. Sie partizipierten an seiner Messianität. Wir hatten femer gesehen, dass sich die Ausweitung der Messianität Jesu im Sinne eines Gruppenmessianismus mit einer Einschränkung des sozialen Bezugskreises der basileia trifft. Sie wird in der Jesusüberlieferung nicht mehr Israel im Gegensatz zu den Heiden zugesprochen, sondern am Rande stehenden Gruppen in Israel: den Armen, Kindern und Nachfolgern Jesu. Zöllner und Prostituierte stehen ihr näher als die Frommen (Mt 21,31). Wenn man die in den basileia-AassagQn enthaltene politische Bildlichkeit remetaphorisiert, könnte man sagen: Die basileia Gottes wird in der Jesus" Vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, SBS I I I , Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 1983, 152-164.

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Überlieferung aus einem „außenpolitischen Thema" (bei dem es um die Herrschaft Israels über die Heiden geht) zu einem „innenpolitischen Thema": Die jetzt am Rande stehenden Gruppen werden in ihr zur Herrschaft gelangen. Daher wird die basileia betont diesen Randgruppen zugesprochen. Im Ergebnis treffen sich beide Umprägungen der Tradition: die Ausweitung individueller Hoheit auf eine Gruppe und die Einschränkung ethnischer Privilegien auf einen Teil des Volkes. Das Ergebnis ist der Gruppenmessianismus der Jesusbewegung. In diesem Gruppenmessianismus ist die Spannung zwischen königlichen und theokratischen Strukturen überwunden, die das Verfassungsleben, die Widerstandsgruppen und die utopischen Träume des damaligen Judentums bestimmten: Die theokratische Erwartung einer Herrschaft Gottes über ganz Israel wird in besonderer Weise auf einige Gruppen eingeschränkt. Die Erwartung eines einzigen königlich-messianischen Charismatikers wird zum Gruppenmessianismus ausgeweitet. In diesem „Gruppenmessianismus" ist m.E. der Ursprung der Kirche und des Kirchengedankens zu suchen. Zwischen der vorösterlichen Verkündigung Jesu und der Kirchengründung durch die Ostererscheinungen klafft kein unüberbrückbarer Hiatus. Die Krise der Kreuzigung Jesu konnte überwunden werden, weil Jesus die Gottesherrschaft nicht mit seiner Person verbunden hatte, sondern von Anfang an mit einem messianischen Kollektiv. Dies Kollektiv hat seinen Tod überlebt. Als Petrus nach der ersten ihm widerfahrenen Ostererscheinung die „Zwölf sammehe, da war er von der Verheißung eines messianischen Kollektivs bestimmt, das einst stellvertretend ftir ganz Israel handeln sollte (Mt 19,28 par). Das gilt unabhängig davon, ob Petrus selbst die Zwölfzahl der Jünger entsprechend der Zahl der Stämme Israels schuf - oder ob die Zwölfzahl durch Jesu Berufimg von zwölf Jüngern schon vorgegeben war. Denn in jedem Fall hätte Jesus die eschatologische Wende mit einer Gruppe verbunden. Petrus konnte daran anknüpfen. Wenn Petrus die „Zwölfe" - in Wiederaufnahme und Abwandlung einer von Jesus ausgesprochenen Verheißung (Mt 19,28f par) - sammelte, so setzt das voraus: Durch die Ersterscheinung hatte er die Gewissheit erhalten, dass jetzt die endzeitliche Wende beginnt. Was einst eschatologische Erwartung war, war Wirklichkeit geworden. Die Erscheinung vor ihm und die Gruppenerscheinung vor den „Zwölfen" wurden so zum Anfang der Kirche. Die messianische Aufgabe war in die Hände eines Kollektivs gelegt. Jesu Bedeutung wird dadurch nicht verkleinert. Im Gegenteil: Wer Menschen messianische Aufgaben überträgt, ist mehr als ein „Messias". Wer die „Herrschaft Gottes" den im Volk benachteiligten Gruppen zuspricht, handelt radikaltheokratisch an Gottes Stelle. Wer anderen „Königswürde" in der Königsherrschaft Gottes zuspricht, hat eine Voll-

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macht, die mehr ist als die eines „Königs", auch wenn sich dieses „Mehr" sowohl den damaligen Kategorien wie unseren Verstehensbemühungen entzieht.^®

' ' Zur Illustration sei eine Anekdote von H. J. Abs, dem berühmten deutschen Bankier der Nachkriesgzeit, angefflhrt. Als ihn jemand mit „Generaldirektor" anredete, antwortete er indigniert: „Ich bin nicht Generaldirektor, ich ernenne Generaldirektoren!" Mutatis mutandis gilt: Jesus war nicht Messias, er emannte andere zum Messias.

I V . DER HISTORISCHE JESUS UND SEINE RELIGIÖSE BEDEUTUNG

Die Fremdheit des historischen Jesus. Fremdheitskonstruktionen in Jesusbiidem' „Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesseh war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Er aber blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, daß sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen mußte. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in seine ursprüngliche Lange zurückbewegt."^ Mit diesen Worten zog A. Schweitzer eine Bilanz, die in ganz anderer Weise nachgewirkt hat, als er selbst es wollte. Er war überzeugt, dass historische Forschung die Fremdheit Jesu aufdecken kann und dabei auf den Widerstand unbestreitbarer historischer Faktizität stößt. Eine konsequent eschatologische Deutung des Wirkens Jesu bewahre Jesus vor der Vereinnahmung durch moderne Wünsche und Ideen: Der Apokalyptiker, der die Gottesherrschaft als unmittelbar bevorstehend erwartete, war kein modernes Wunschgebilde, der galiläische Exorzist kein Spiegelbild neuzeitlicher Träume, der Vertreter einer radikalen Interimsethik keine gelehrte Schreibtischkonstruktion. Von ihm konnte man in historisch kontrollierbarer Weise etwas wissen. Das war das positive Resultat seines Buches. Gewirkt hat A. Schweitzer aber durch sein negatives Resultat: Die Jesusbilder der Leben-Jesu-Forschung sind Widerspiegelungen des Persönlichkeitsideals der jeweiligen Jesusforscher. Sie alle wollten eine Biographie Jesu schreiben und schrieben Autobiographie. Diese desillusionierende Einsicht war eine wichtige Quelle der Skepsis, welche die Jesusforschung im 20. Jh. bestimmte. Hier zog man aus A. Schweitzer die Folgerung: Man könne wegen des projektiven Charakters aller Jesusbilder - im Urchristentum wie in der modernen Forschung - nur sehr wenig von Jesus wissen. ' Für Theo Sundermeier zum 65. Geburtstag - als kleiner Beitrag zu einer Hermeneutik des Fremden. Der Erstabdruck erfolgte in: D. Becker (Hg.), Mit dem Fremden leben. Teil 2. Kunst Hermeneutik - Ökumene, Missionswissenschaftliche Forschungen NF 12, FS Th. Sundermeier, Erlangen: Erlanger Verlag fllr Mission und Ökumene, 2000, 101-109. ^ A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr 'l984, 620f.

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Es besteht kein Zweifel: Historische Forschung ist von dem impliziten Axiom bewegt, dass das „Fremde" mehr Anspruch hat historisch zu sein und innerhalb einer historischen Rekonstruktion ernst genommen zu werden als das uns Vertraute. Historisches Bewusstsein hat uns eingeschärft Anachronismen zu vermeiden. Wir unterstellen dabei, dass wir dazu neigen das uns Fremde an die eigenen Kategorien, Interessen und Bedürfnisse anzupassen - in der Jesusforschung etwa nach dem Motto: Jesus, recht verstanden, hat schon immer das gesagt, was ich meine. Wo wir auf Ergebnisse der Geschichtswissenschaft stoßen, die modemer Mentalität oder den Interessen und Perspektiven des jeweiligen Wissenschaftlers (oder der Wissenschaftlerin) entgegenkommen, äußeren wir eher den Verdacht, es handle sich um wissenschaftliche Konstrukte, als bei spröden und in der Gegenwart nicht verwertbaren Ergebnissen. Dies historische „Axiom" der prinzipiellen Fremdheit der Geschichte mit einer Skepsis gegenüber allen projektiven Anachronismen ist zu unterscheiden von der historischen Skepsis, die meint über Jesus nichts Zuverlässiges sagen zu können. Zwischen beidem besteht ein Widerspruch: Wer seine Fremdheit feststeUt, muss einiges Zuverlässige über ihn wissen, sonst könnte er nicht einmal seine Fremdheit konstatieren. Denn wer beteuert, all unser Wissen über Jesus sei ungewiss, muss offen lassen, ob er wirklich so fremd war, wie behauptet wird. Auch das wäre ungewiss. Sagt man aber in logisch widerspruchsfreier Form: Wir wissen nur sehr wenig von Jesus und dies Wenige weist auf eine uns fremde Gestalt - so stellt sich die methodologische Frage, ob die wenigen fiir echt gehaltenen Überlieferungen nicht deshalb ausgewählt wurden, weil sie aufgrund ihrer Fremdheit als echt herausgefiltert wurden. Darm aber wäre auch dieser „fremde Jesus" möglicherweise ein Konstrukt - was nicht heißt, dass dies Konstrukt ohne Anhalt in der Wirklichkeit ist. Wir begegnen hier der ersten Form einer Konstruktion von Fremdheit, einer historischen „Fremdheitskonstruktion". Sie ergibt sich daraus, dass wir dem historisch Widerständigen größere Plausibilität beilegen als dem Vertrauten. Glauben wir doch, bei den uns fremden Elementen am ehesten auf den Widerstand des Historischen zu stoßen! Daher müssen wir damit rechnen, dass innerhalb des historisch-kritischen Diskurses Fremdheit konstruiert wird um ftir die eigene Rekonstruktion einen größeren „Wahrheitsgewinn" zu erzielen, d.h. um ihre Plausibilität zu erhöhen und ihre Akzeptanz zu vergrößern. Schon P. W. Schmiedel formulierte als Grundsatz „eines wahrhaft wissenschaftlichen Lebens Jesu" ftir den kritischen Umgang mit den urchristlichen Quellen das methodische Prinzip: „Jeder Geschichtsforscher nämlich, auf welchem Gebiete er auch arbeiten mag, befolgt den Grundsatz, in einem Bericht, der von Verehrung für seinen Helden zeugt, in erster Linie das ftir wahr zu halten, was dieser

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Verehrung zuwiderläuft, weil es nicht auf Erfindung beruhen kann."^ Was für die urchristlichen Quellen gilt, gilt auch für die gegenwärtige Jesusforschung: Was den jeweils herrschenden „Jesusbildem" widerspricht, tritt mit einem Anspruch auf einen „Wahrheitszuschlag" auf Aber ist es wirklich „wahrer" als andere Entwürfe? Könnte es nicht auf dasselbe hinauslaufen, ob man in Jesus die vertrauten Vorstellungen der Gegenwart hineinprojiziert oder das, was diesen vertrauten Vorstellungen genau entgegengesetzt ist? Wenn wir uns in der historischen Forschung nicht von dem abhängig machen dürfen, was der Gegenwart entspricht, so auch nicht von dem, was der Gegenwart widerspricht. In beiden Fällen ist man von der Gegenwart abhängig - sei es direkt, sei es indirekt. Aber stimmt das ohne Einschränkung? Wurde nicht auch das Jesusbild A. Schweitzers, das mit dem Pathos der historischen Fremdheit aufgeladen war, bald als „Konstrukt" erkannt? Und wird nicht schon bei A. Schweitzer seine Fremdheit aufgehoben? Am Ende seiner Schlussbetrachtung über die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung aktualisiert er die Fremdheit Jesu in einer Weise, dass jeder spürt: Hier bricht nicht die spröde historische Wirklichkeit gegen moderne Wunschbilder durch - sondern hier wird eine gegenwärtige Erfahrung mit Jesus zum Ausdruck gebracht. A. Schweitzer schreibt dort: „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist ...""* Dieser Abschnitt holt den vorher in historischer Distanz versinkenden Jesus wieder in die Gegenwart - gerade weil er ein Fremder, ein Unbekannter, ein Namenloser, ein „unaussprechliches Geheimnis" ist. A. Schweitzer modelliert die historische Fremdheitserfahrung nach einem uns aus der Religionsgeschichte vertrauten mythischen Modell um: Jesus erscheint als der unbekannte Fremde, in dem sich eine Gottheit geheimnisvoll offenbart.' Er ^ P. W. Schmiedel, Das vierte Evangelium gegenüber den drei ersten, RV I 8 & 10, Halle: Gebauer-Schwetschke 1906, 16f. P. W. Schmiedel hatte dies Prinzip schon vorher formuliert in; Art. Gospels, EB(C), Vol. 2, 1901, Sp. 1 7 6 1 - 1 8 9 8 . Vgl. dazu G. Theißen/D. Winter, D i e Kriterienfrage in der Jesusforschung. V o m Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, N T O A 34, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 6 6 f 8 3 - 8 7 . A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 630. Der Text endet auch im Original mit offenen Pünktchen! ^ M. Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie l-II, W U N T H 79/80, Tübingen: Mohr 1995/1997.

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gewinnt gerade in seiner geheimnisvollen Fremdheit Autorität. Er „gebietet", er ruft in die Nachfolge. Die historisch wahrgenommene Fremdheit wird nach einem religiösen Muster „bearbeitet". Fremdheit wird religiös als Offenbarung „konstruiert". Es handelt sich um eine religiöse Fremdheitskonstruktion. Und auch sie ist von Bedürfnissen bestimmt Brauchen wir in der Religion nicht auch das Fremde als Bezugspunkt einer positiven Identität - als überlegene Norm des Anfangs? Oder als das Ganz-Andere, nach dem wir uns insgeheim sehnten, weil die vertraute Lebenswelt brüchig geworden ist, als das „Eigen-Fremde"®, das in Wirklichkeit in größerem Maße Teil des Eigenen ist, als wir wahrhaben möchten. Eine Variante religiöser Fremdheitskonstruktion ist die dogmatische Fremdheitskonstruktion. Die in den 50er-Jahren aufkommende begonnene "neue Frage" nach dem historischen Jesus kommentierte K. Barth mit den Worten, hier hätten sich Neutestamentier „aufs neue, mit Schwertern und Stangen bewehrt, auf die Suche nach dem ,historischen Jesus' begeben".^ Die Neutestamentier rücken in die Nähe des Polizeikommandos, das Jesus gefangen nahm um ihn später zu foltern und hinzurichten. Der Dogmatiker sichert sich mit moralischem Pathos die Position dessen, der bei dieser Unmenschlichkeit nicht mitmacht. Der wahre Jesus ist für den Dogmatiker der biblische Christus. Es ist der von Gott kommende Inkamierte, dessen Erniedrigung und Erhöhung in der Bibel dargestellt wird. Dies Geschehen hat nur einen kleinen „historischen Rand". Auf ihn bezieht sich die historische Jesusforschung. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus wird für den Dogmatiker spätestens dann zu einer Vergewaltigung, wenn sie diesen historischen Rand zum Eigentlichen macht. Eine vierte Fremdheitskonstruktion könnte man eine soziologische Fremdheitskonstruktion nennen: Außenseiter sind potentielle Führer. Beide haben gemeinsam, dass sie in Distanz zur Gruppe stehen. Beide können in die Rolle des jeweils anderen wechseln: Wer in einer Führerrolle steht, kann schnell in eine Außenseiterrolle geraten. Wer in einer Außenseiterrolle ist, kann unter bestimmten Bedingungen eine „Führergestalt" werden. Der sozialmoralisch Verachtete kann durch bewusste Übernahme seiner Außenseiterrolle sein Stigma in Charisma verwandeln - d.h. einen irrationalen Einfluss ausüben, der gerade darauf basiert, dass er seine stigmatisierte Außenseiterrolle durchhält - und es ihm gelingt Legitimität neu zu verteilen: Nicht die ihn ablehnende Gesellschaft ist im Recht, sondern er hat gegen sie Recht. Der Christus des Neuen Testaments ist das Urmodell eines solchen

' Ich übernehme diesen Begriff von B. Dücker, Erlösung und Massenwahn: zur literarischen Mythologie des Sezessionismus im 20. Jahrhundert, Hermeia 3, Heidelberg: Synchron 2001. ' K. Barth, How my mind has changed, EvTh 20 (1960) 97-106, dort S. 104.

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Zusammenhangs zwischen Stigma und Charisma.* Nach diesem Muster kann auch das historisch wahrgenommene Fremde bei Jesus als Merkmal seiner stigmatisierten Außenseiterrolle rekonstruiert werden um es gerade wegen dieser Fremdheit mit Autorität (d.h. mit Charisma) aufzuladen. Der moderne Mensch gerät in die Rolle derer, die auch damals in Palästina den außerhalb des „normalen" Lebens stehenden Jesus als Autorität anerkannten. Was fremd an ihm ist, wird ihm als Außenseiter zugeschrieben - nicht um ihn von den eigenen Wünschen zu distanzieren, sondern um ihn erst recht in die Rolle des charismatisch begabten Außenseiters zu rücken, der den Wertmaßstäben der ihn ablehnenden Gesellschaft widersteht und neue Wertmaßstäbe durchsetzt. Auch nach diesem Muster kann man Jesus von Nazareth historisch-kritisch begraben um ihn kerygmatisch auferstehen zu lassen! Prinzipiell denkbar wäre auch eine psychologische Fremdheitskonstruktion - besonders mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien. Der Widerstand des historischen Jesus gegenüber allen modernen Zugriffen köimte als Hinweis auf einen psychischen Widerstand im modernen Menschen gewertet werden, der viele Phänomene als antiquiert, überholt und vormodern in den Raum der Vergangenheit „verdrängt" um sie im eigenen Leben nicht zulassen zu müssen. Modernität fimgiert dabei als allgegenwärtige „Zensur", die nur ausgewählte Inhalte ins individuelle und kollektive Bewusstsein zulässt. Die Wunder Jesu sind dem modernen Menschen fremd! Aber gleichzeitig leben wir in hochmodernen Gesellschaften in unmittelbarer Nachbarschaft zu Subkulturen mit Wunderheilungen und Esoterik. Der Jesus einer apokalyptischen Naherwartung ist uns fremd. Aber gleichzeitig verdrängen wir die Einsicht, dass sich in den Phantasien von der vergehenden Weh eine radikale Umstellung des Inneren und seines Unbevmssten vorbereitet.' Die Radikalität der Forderungen Jesu ist uns fremd. Wir relativieren sie als kontextgebunden. Aber wir verdrängen vielleicht nur, dass sie eine Wahrheit über unsere Unzulänglichkeit offenbaren. Die Begegnung mit dem historischen Jesus und seiner Fremdheit wird so zur Begegnung mit dem von uns Verdrängten - und zum Weg zu einer größeren Ganzheit und Bewusstheit des Lebens, wenn wir in der Gestalt Jesu dies Verdrängte akzeptieren. Die Herausarbeitung des Fremden ist also keineswegs ein sicherer Weg zur historischen Erkenntnis. Der fremde Jesus ist ebenso eine Konstruktion - wie der moderne Jesus. Die Fremdheit Jesu kann als unbekannt sich of' Vgl. M. N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 45, Tübingen: Mohr 1987; H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1994. ' K. Niederwimmer, Jesus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968.

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fenbarende Gottheit, als Außenseiter, dessen Stigma in Charisma umschlägt oder als Offenbarer eines verdrängten Unbewussten modelliert werden. In allen Konstruktionen können Interessen investiert sein. Das Pathos der spröden historischen Wissenschaft, das mit dem Insistieren auf dem Fremden seine Überlegenheit über alle vereinnahmenden Versuche zum Ausdruck bringt, ist nicht von vornherein berechtigt: Auch das Fremde konstruieren wir nach vorgegebenen Mustern. Und es ist keineswegs so, dass es a priori die von uns entwickelten Muster des Sehens, Deutens und Darstellens durchbricht. Die Frage ist aber berechtigt, ob es auch ein genuin hermeneutisches Interesse gibt das Fremde in der Geschichte (und beim historischen Jesus) als »Fremdes' wahrzunehmen? Gibt es eine hermeneutische Fremdheitskonstruktion, die den historischen Gegenstand erschließt? Ich schlage dazu ein Gedankenexperiment vor: Man stelle sich vor, wir fänden in den Texten der Vergangenheit nur unsere vertraute Lebensweh wieder - d.h. wir könnten gar kein Bewusstsein eines geschichtlichen Wandels dieser Lebenswelt entwickeln. Wir würden die geschichtliche Lebenswelt als so selbstverständlich erleben, als sei sie konstante Natur. Das Gedankenexperiment soll zeigen: Erst durch die Konfrontation mit fremden Lebenswelten wird uns bewusst, was uns mehr als alles andere über Grenzen der Zeit und des Raums mit anderen Menschen verbindet: Dass wir alle in einer geschichtlich konstruierten Lebenswelt leben. Sie ist von Menschen konstruiert. Menschen legen ihr Siim und Bedeutung bei. Erst jetzt erleben wir bewusst, was wir mit allen Menschen gemeinsam haben: unsere kulturelle Aktivität, mit der wir unsere geschichtlichen Lebenswelten konstruieren. Erst jetzt entdecken wir, dass wir nicht in einer natürlichen Umwelt leben, sondern in einer Welt, die wir (bewusst und unbewusst) mitgestalten und der wir einen Sinn geben. Wir entdecken, dass selbst unser Körper nicht nur eine biologische Vorgegebenheit ist, sondern ein Konstrukt, das in verschiedenen Zeiten mit innerer Evidenz verschieden erlebt wurde. Wir merken, dass auch unsere Begriffe von Krankheit sozial definiert sind - und andere Zeiten andere Krankheitsvorstellungen hatten, darunter Krankheiten wie Besessenheit. Die hermeneutische Aufgabe besteht darin gerade dies Fremde als Ausdruck solch einer menschlichen Sinngebung zu deuten. Das muss in immer wieder neuen Versuchen geschehen. Ich darf hier einen meiner Versuche kurz skizzieren. Auszugehen ist sowohl von all dem, was uns in den Jesusüberlieferungen fremd und bizarr erscheint, als auch von dem, was uns vertraut ist. Beginnen wir mit dem Fremden: Fremd ist uns die apokalyptische Naherwartung Jesu. Er glaubte, dass das Gottesreich schon verborgen in der Gegenwart präsent ist und bald hereinbrechen wird. Weder verstehen wir das Zugleich von gegenwärtiger

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Erfahrung und zukünftiger Hoffnung noch die brennende Naherwartung, die sich als falsch erwies. Verständlich ist, dass manche einen nichteschatologischen Jesus vorziehen würden.'" Er entspricht eher unseren Vorstellungen als der Vertreter einer kosmischen Naherwartung. Fremd ist uns die Gerichtserwartung Jesu: Nicht alle Menschen werden in die Gottesherrschaft kommen. Die Einlasssprüche definieren die Bedingungen und lassen von ihrer Form her keinen Zweifel, dass nicht alle diese Bedingungen erflillen werden. Die Härte dieser Gerichtserwartung ist freilich der Hintergrund für die Zusage, dass auch der Sünder eine Chance im Gericht hat." Fremd sind uns die Wunder und Exorzismen: Der Teufelsaustreiber gehört fiir viele (in den hochentwickelten Staaten) zu einer ganz fremden Welt - unbeschadet dessen, dass auf der ganzen Welt und in einigen Nischen unserer Gesellschaft die Geister und Dämonen viel lebendiger sind als in den Köpfen protestantischer Theologen. Dass Jesus diesen Exorzismen eine hohe Bedeutung beigelegt hat, ist wahrscheinlich: In ihnen setzte sich die Gottesherrschaft gegen die Herrschaft des Bösen durch. Fremd ist uns die radikale Ethik Jesu: Dass man um der Nachfolge willen nicht fiir das Begräbnis für den verstorbenen Vater sorgen soll, ist ein extremer Verstoß gegen elementare Pietätspflichten. Die Aufforderung die eigenen Kinder zu verlassen um Jesus nachzufolgen ist kaum erträglich. Aber auch der extreme Verzicht auf Vorsorge, die demonstrative Wehrlosigkeit - all das sind fremde Züge fur uns. Aber dieser Fremdheit des historischen Jesus stehen Züge entgegen, die uns (berechtigt oder unberechtigt) vertraut erscheinen: Vertraut ist uns die Forderung der Nächstenliebe als gleichrangiges Gebot neben dem Gebot der Gottesliebe. Prosoziales Verhalten ist für jede Kultur die Grundlage guten Zusammenlebens. Im biblischen Nächstenliebegebot wird dabei in klassischer Weise die Gleichrangigkeit der Menschen formuliert wird: Man soll den Nächsten lieben wie sich selbst.

J. D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh: Τ & Τ Clark 1991; M. J. Borg, A Temperate Case for a Non-Eschatological Jesus, in: ders., Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge 1994,47-68. " Verständlich ist auf jeden Fall, dass man Jesu Wort „richtet nicht, um nicht gerichtet zu werden" auch auf Jesus anwenden wollte: Er habe kein Gericht, sondern nur das Heil gelehrt. So H. Weder, Die „Rede der Reden". Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich: Theologischer Verlag 1985, 217-219.243-245. Vorsichtiger A. Scriba, Kriterien der Jesus-Forschung. Darstellung und Kritik mit einer neuen Rekonstruktion des Wirkens Jesu, Diss, theol. habil., Mainz 1998, 200. Dagegen M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund, NTA 23, Münster; Aschendorff 1990; W. Zager, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen, BZNW 82, Berlin: de Gruyter 1996.

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Vertraut ist uns die Forderung des Statusverzichts: Nur wenn die Hochrangigen bereit sind, auf ihren überlegenen Status zu verzichten, kann wirkliche Gleichrangigkeit hergestellt werden. „Wer der erste unter euch sein will, soll bereit sein der letzte zu werden." Vertraut ist uns die Verheißung für die Schwachen: Den Armen soll ebenso die Gottesherrschaft gehören wie den Kindern. Die Prostituierten werden vor den Frommen hineinkommen und ihre Würde wieder erhalten. Die Hungrigen sollen satt und die Weinenden getröstet werden. Vertraut ist uns die ungeheure Aufwertung des gegenwärtigen Augenblicks: Die ganze Weltgeschichte hat sich danach gesehnt zu sehen, was die Jünger sehen. Weder in femer Vergangenheit entscheiden sich Heil und Unheil, noch in der Zukunft, sondern hier und jetzt! Im Bild von der jetzt hereinbrechenden Gottesherrschaft ist diese Gegenwartsaufwertung zweifellos mit enthaUen. Zumindest dieser Aspekt der eschatologischen Verkündigung ist uns nicht fremd. Vertraut ist uns, dass der Mensch vor eine ungeheure Verantwortung gestellt wird und dass diese Verantwortung im Bild von einem „Gericht" enthalten ist. Vertraut ist uns der unbedingte Wille zum Leben, der sich in vielen Wundergeschichten zeigt. Alle sollen genug zu essen haben, die Kranken gesund werden, die Behinderten wieder am Leben teilhaben. Es läge jetzt nahe von den uns ansprechenden Zügen her die fremden Überlieferungen zu deuten - als eine „Bilderwelt", hinter der aber letztlich eine neue Lebensform steht, die durch eine radikale Erfahrung des Angenommenseins (der Gnade) wie der Forderung (des Gebots) bestimmt ist. Eine solche Deutung, die sowohl in gelehrten Werken wie in vielen Predigten bewusst oder unbewusst vertreten wird, ist durchaus respektabel. Aber es bleibt Vieles ausgeblendet. Ausgeblendet bleiben die bizarren Elemente der Jesusüberlieferung. Und doch kann uns gerade dieser fremde und bizarre Jesus auf überraschende Weise nahe kommen. Wir müssen dazu nur die in den Jesusüberlieferungen enthaltene Sinndeutung von Welt und Leben auf die Aufgabe beziehen, die alle menschliche Kultur m.E. hat: Selektion zu reduzieren.'^ Kultur beginnt mit der Chance menschliches Leben dort zu ermöglichen, wo es unter natürlichen Bedingungen unmöglich wäre: Der Schwache erhält eine Chance zum Leben, die er ohne bewusste Anstrengungen und Ausgleich nicht hätte. Schon F. Nietzsche hat scharfsinnig

Der hier skizzierte Versucli einer evolutionären Deutung der Jesusgestalt soll nur an einem Beispiel zeigen, wie Fremdheit in Vertrautheit verwandelt werden kann, ohne dass die bizarren und anstößigen Seiten der JesusUberlieferung geleugnet werden. Dieser Versuch basiert auf meinem Buch: Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München: Kaiser 1984.

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gesehen, dass das Christentum ein Gegenprinzip gegen die Selektion ist.'^ Denn in ihm wird der Schwache nicht nur geschützt, sondern ihm wird ein Vorrang zugesprochen: In der Gottesherrschaft sollen die Armen, Kranken, Hungernden und Kinder zur Geltung kommen. Die Wundergeschichten sind gewiss ein wenig bizarr. Aber sie bringen einen beeindruckenden Protest gegen die natürliche Verteilung von Lebenschancen zum Ausdruck: Sie geben dem Leben am Rande des Lebens eine neue Chance. Die Ethik Jesu mag flir uns bizarr sein. Sie vollzieht einen Bruch mit den Verhaltenstendenzen der bisherigen biologischen Evolution, die beim Menschen nachwirken: Meist finden wir in der biologischen und menschlichen Geschichte eine Entwicklung von Familiensolidarität (d.h. der Hilfe zwischen genetisch Verwandten) verbunden mit einer Entwicklung von Aggression gegen die anderen, die nicht genetisch Verwandte sind. Bei Jesus ist es umgekehrt: Er verlangt von seinen Nachfolgern den Bruch mit ihren Familien, gleichzeitig aber die Liebe zu den Feinden. Mit all diesen neuen Verhaltensweisen und Einstellungen aber überschreitet der Mensch in der Tat eine Schwelle von einer alten zu einer neuen Welt. Es ist die Schwelle zwischen der biologischen und kulturellen Evolution. Nicht, dass sie damals in Palästina einmalig überschritten wurde. Diese Schwelle charakterisiert die ganze menschliche Geschichte. Sie wird in dieser Geschichte immer wieder überschritten. Aber damals in Palästina wurde im Rahmen der Apokalyptik ein Bewoisstsein dafür geschaffen, dass die Geschichte ein Übergang ist: In Dan 7 werden die tierischen Reiche der Vergangenheit und Gegenwart in einer Vision beschworen. Sie sollen abgelöst werden vom Reich des Menschensohns oder des „Menschen". Unabhängig davon, ob Jesus sich selbst mit diesem Menschensohn identifiziert hat oder nicht: Die ersten Christen haben in ihm den Menschensohn und den Übergang von einer durch Tiere geprägten Weltzeit zu einer „menschlicheren" Welt gesehen. Dieser Übergang vollzog sich hier und jetzt - in jedem Menschen, dessen Verhalten dem Selektionsprinzip der bisherigen Evolutionsphase auch nur ein Stück entronnen ist. Das Gericht aber, das mit seiner Scheidung von Guten und Bösen so archaisch und grausam wirkt, stellt diesen Selektionsdruck dar, der über allem Leben liegt: Alles unterliegt einem harten ,^npassungsdruck" an die Gesamtrealität und kann ihr doch nicht entsprechen. Die Verkündigung von Sündenvergebung und Gnade aber bedeutet: Aufhebung dieses Selektionsdrucks.

" F. Nietzsche, Der Antichrist § 7, in: F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe VI, 3, G. Colli/M. Montinari (Hg.), Berlin: de Gruyter 1969: „Das Mitleiden kreuzt im Ganzen Großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selection ist. Es erhäh, was zum Untergange reif ist."

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Vor allem aber passt zu solch einer evolutionären Auffassung von der Verkündigung Jesu, dass nicht die Botschaft des irdischen Jesus, sondern die Verkündigung von Kreuz und Auferstehung zur zentralen Botschaft im Urchristentum wurde. Denn Evolution geschieht durch die unterschiedliche Verteilung von Lebenschancen - letztlich durch den ständigen Tod, der neuen Varianten des Lebens Raum gibt. Wo der Tod als überwunden gilt, ist auch das Selektionsprinzip überwunden. Wo ein Gescheiterter und Gekreuzigter zum Ursprung des Lebens wird, wird die Entwicklung dort weiter geführt, wo sie im Rahmen biologischer Wirklichkeit radikal zu Ende ist. Wenn die Verminderung von Selektionsdruck das heimliche Programm aller Kultur ist, an dem Menschen und Gesellschaften arbeiten und an dem sie immer wieder schrecklich scheitern, dann steht Jesus nicht am Rande unserer Welt, sondern er offenbart ihre verborgene Mitte. Er ist gerade mit seinen fremden und bizarren Zügen Hinweis auf etwas, was alle Menschen unbewusst oder bewusst bewegt. Als Fremder tritt er in unsere Welt. Und er entfremdet uns unserer vertrauten Welt, weil wir in diesem Leben Übergang zu einer neuen Welt sind. Jesus steht an der Schwelle zu dieser neuen Weh. Diese Welt ist uns fremd. Aber wo sie zeichenhaft mitten in dieser Welt realisiert wird, betritt der Mensch einen Raum, in dem er noch nie war: seine Heimat.

Jesus und seine historisch-kritischen Erforscher. Über die MenschUchkeit der Jesusforschung' Als ich dazu eingeladen wurde auf diesem Kirchentag Chancen und Grenzen der historisch-kritischen Jesusforschung darzustellen, habe ich zunächst geseufzt - wie ein Examenskandidat, der seinen Prüfer fragen möchte: Können Sie mich nicht etwas Leichteres fragen? Es ist nicht leicht in wenigen Worten zu erklären, was „historischkritisch" hier bedeutet! Das Folgende ist nur ein Versuch: „Historisch" meint: Botschaft und Wirken Jesus werden mit denselben Methoden erforscht wie in der Geschichtswissenschaft sonst: d.h. aufgrund der erhaltenen Quellen und im Rahmen der jeweiligen Zeit. „Kritisch" kommt von griechisch κρίνειν und das bedeutet „richten" und „unterscheiden". „Historisch-kritisch" meint: Kein Historiker vertraut blind den Quellen, sondern prüft sie auf ihre Glaubwürdigkeit - er verhört sie, wie ein Richter Zeugen verhört um durch Widersprüche hindurch herauszufinden, was wirklich geschah. Vielleicht spüren einige bei solchen Sätzen schon ein Unbehagen: Sollen Christen nicht auf die Bibel hören, anstatt sie zu „verhören" - wie ein Richter? Bleiben wir einmal beim Bild vom Richter: Ein guter Richter weiß: Er kann immer nur nach bestem Wissen und Gewissen urteilen. Nur Gott kann gerecht urteilen. Das gilt auch fur historische Forscher. Sie sind nur Menschen. Und davon möchte ich sprechen: von ihrer Menschlichkeit. Und das auch im positiven Sinne. Denn ich möchte hier um Unterstützung und Sympathie für alle werben, die sich historisch und kritisch mit Jesus beschäftigen, sei es in oder außerhalb der Kirche - obwohl diese Forschung immer wieder irritieren wird und irritieren muss. Hamburg ist für solch eine Sympathiewerbung ein guter Ort. Denn hier begann vor mehr als 200 Jahren die historisch-kritische Jesusforschung in Deutschland (nach Anfängen in England, die nicht ganz so radikal waren). Der erste radikal kritische Jesusforscher war der Hamburger Professor für altorientalische Sprachen, Hermann Samuel Reimarus (1694-1768).^ Er kam zu so brisanten Ergebnissen, dass er nicht wagte, sie zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Erst Lessing veröffentlichte einige Fragmente ano' Vortrag auf dem Katholikentag in Hamburg am 3.6.2000. Erstabdruck in: Theologie und Glaube 91 ( 2 0 0 1 ) 3 5 5 - 3 6 8 . ' Vgl. G. Gawlick, Hermann Samuel Reimarus, in: M, Greschat (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 8; Die Aufklärung, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1983, 299-311; H. Schultze, Art. Reimarus, Hermann Samuel (1694-1786), in: TRE 28 (1997) 470-473.

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nym nach seinem Tode. Besonders zwei Ideen hatten eine große Sprengkraft in sich: Erstens, Jesus sei ein Revolutionär gewesen, zweitens, die Auferstehungsbotschaft sei ein Betrug. Zunächst zur Revolutionshypothese: Nach Reimarus hat die Predigt Jesu (wie in Mk l,14f) zwei Themen: Umkehr und Reich Gottes. Er fordert Umkehr zu einem Leben der Nächstenliebe. Was die Reich-Gottes-Predigt angeht, so glaubte Reimarus zeigen zu können, dass sie einen revolutionären Traum enthielt: die politische Befreiung von den Römern. Jesus habe den uralten Traum des Judentum von einem Messias, der die Fremden vertreibt, realisieren wollen. Er habe zu diesem Zweck Jünger um sich geschart, die vorher Fischer und Handwerker gewesen waren. Sie hätten gehofft, nach dem Umsturz mit Jesus Israel regieren zu können. Die Tempelreinigung sollte das Zeichen fiir die Revolution sein, die aber wegen fehlenden Echos in der Bevölkerung und am Widerstand der Römer scheiterte. Die zweite brisante Idee des Reimarus war seine Betrugshypothese: Nach dem Scheitern Jesu hätten die Jünger keine Lust gehabt wieder mit ihrer Arbeit anzufangen. Es war ftir sie interessanter Apostel zu werden als Fischer und Bauern. Und deshalb hätten sie untereinander verabredet, Jesus als lebendig auszugeben. Sie hätten heimlich seinen Leichnam aus dem Grab entfernt um ihrer Botschaft Glaubwürdigkeit zu verleihen. Daher seien sie erst 50 Tage nach Ostern mit ihrer Predigt an die Öffentlichkeit getreten, nachdem der Leichnam verwest war. Sie verabredeten aber ihre Story von der Auffindung des leeren Grabs und ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen so schlecht, dass sie darüber widersprüchliche Fassungen in die Welt setzten. Aufgrund dieser Widersprüche glaubte Reimarus, sie wie ein unparteiischer Richter der Lüge überfuhren zu können. Reimarus sympathisierte weder mit Revolutionen noch mit religiösem Betrug. Mit beiden Thesen sollten Christentum und Kirche unglaubwürdig gemacht werden. Aber er hatte auch ein positives Anliegen. Der Titel seines Werkes ist: „Apologie (d.h. Verteidigungsschrift) oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes."^ Er verfolgte ein praktisches Ziel: Er wollte Menschen einen Freiraum schaffen, die fiir eine rein „vernünftige Religion" eintraten, die an Gott, Moral und Unsterblichkeit glaubten, aber den christlichen Glauben an Offenbarung und Bibel ablehnten.'* Er verteidigte also

' H. S. Reimarus; Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, G. Alexander (Hg.) 2 Bde., Frankfurt: Insel Verlag 1972. •* Beeindruckend ist seine Klage über die Verstellung, die den Anhängern des „Deismus", d.h. einer an der Aufklärung orientierten Vernunftreligion, aufgenötigt wird: „Wer ein Deiste ist, der muß es verbergen, anders reden als er denkt, mit Ekel und Verdruß zur Kirche und zum Abendmaal gehen, seine Kinder zu Christen taufTen und unterweisen lassen, mit einem Worte, zu seinem grösten Hertzeleyd heucheln; sonst verliert er die Liebe und das Vertrauen seiner Gattin, die

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seinen eigenen Glauben bzw. Unglauben. Ich sollte hinzufugen: Er hatte vor Jesus Achtung - Jesu Umkehrpredigt ruft zur Liebe Gottes und des Nächsten auf. Das konnte er unterschreiben - nicht aber die revolutionären Absichten Jesu und noch weniger das, was ihm die Jünger später angeblich angedichtet hatten. Denn nach Reimarus hatte sich Jesus selbst nicht fìir den Erlöser der Welt gehalten, sondern nur fur den Befreier Israels. Erst die Jünger hätten aus dem Befreier der Juden von römischer Unterdrückung den Erlöser der Menschheit gemacht, der durch seinen Kreuzestod die Sünden der Menschen sühnt. Viele in der Kirche hätten am liebsten Gedanken wie die des Reimarus polizeilich verboten. Reimarus wusste das. Er wollte seine bürgerliche Existenz nicht zerstören - und zog es vor sein Leben lang der Kirche anzugehören, zukünftigen Pastoren Hebräisch beizubringen - und doch innerlich ganz anders zu denken. Zum Glück änderten sich die Zeiten. Die Kritik an Jesus konnte sich öffentlich äußern, auch wenn das nach wie vor fìir die Kritiker schmerzliche Konsequenzen hatte. Das zeigt das Leben des zweiten großen iCritikers in der Jesusforschung. Er hat in Vielem Reimarus überwunden, obwohl seine Thesen für Theologie und Kirche nicht weniger Sprengkraft hatten als die des Reimarus. Sein Name ist David Friedrich Strauß.^ Er schrieb im Alter von 27/28 Jahren 1835/6 sein Buch „Das Leben Jesu, kritisch betrachtet". Der Titel ist bezeichnend. Er schrieb keine Schutzschrift - auch keine Kampfschrift. Er wollte eine Darstellung des Lebens Jesu geben, in der die Überlieferungen von Jesus, jede fìir sich, auf ihren historischen Wert hin kritisch übeφrüft werden. Sein Buch erschütterte die damalige Theologie - und beendete die akademische Karriere des hochbegabten Autors. Sein Verfasser erhielt zwar 1839 einen Ruf als Professor an die Universität Zürich, konnte aber seine Stelle nicht antreten, weil die Frommen dagegen protestierten. Er wurde vor Antritt seiner Stelle pensioniert - mit einem Gehalt von 1000 Franken pro Jahr, die er weitgehend für humanitäre Zwecke ausgegeben hat. Als er sein berühmtes Jesusbuch schrieb, betrachtete er sich noch als einen Christen, die Auseinandersetzungen danach aber fìihrten dazu, dass er sich vom Christentum löste und eine humanistische Religion beftirwortete. Inwiefern hat nun dieser radikale Kritiker Reimarus überwunden? Was die Revolutionshypothese anging, so ersetzte D. F. Strauß die politische Auffassung des Gottesreiches durch eine religiöse. Er zeigte überzeuFreundschaft seiner Anverwandten und Bekannten, ja wohl Nahrung, Amt, Bürgerliche Freyheit und dermaleinst ein ehrliches Begräbniß" (Vgl. Reimarus, Apologie [s.o. Anm. 3], Bd. I, 173). ' Vgl. J. F. Sandberger, David Friedrich Strauß. In; M. Greschat (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 9,2: Die neueste Zeit II. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1985, 20-32. A. Schweitzer, Geschichte der Leben Jesu-Forschung, UTB 1302, Tübingen: Mohr'l984, 106-131.

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gend: Nicht Menschen, sondern Gott selbst sollte das Gottesreich, das Jesus predigte, herbeiführen. Jesus verstand sich zwar als jüdischer Messias, der dies Gottesreich herbeiführen sollte, aber er nahm der traditionellen Messiaserwartung ihren politischen und militärischen Charakter. Er veränderte die Erwartungen des Judentums. Und was die Betrugstheorie anging, so zeigte er: Die Gewissheit der Auferstehung basiert auf Visionen vergleichbar der Vision, die Paulus vor Damaskus gehabt hat. Die Jünger waren durch sie aufrichtig überzeugt: Der Gekreuzigte lebt. Sie haben sich nicht gegen die Wahrheit verschworen. Wenn sie von Jesus in übernatürlichen Farben wunderhafte Dinge berichteten, so übertrugen sie uralte Erwartungen auf Jesus - nicht absichtlich, sondern im Stil der „absichtslos dichtenden Sage". Er nannte solche unhistorischen Erzählungen und „Sagen" wie andere vor ihm auch „Mythen". Dieser „Mythos" oder die absichtslos dichtende Sage, die Jesus mit dem Glanz einer Dichtung umhüllt, enthielt für D. F. Strauß eine unbestreitbare Wahrheit, die ihm beim Studium des Philosophen Hegel aufgegangen war: Die ganze Weltgeschichte ist dazu bestimmt, dass Gott und Mensch eins werden. Die Idee dieser Einheit von Gott und Mensch wurde durch Jesus zur Vollendung gebracht. Sie ist in sich wahr, auch wenn sie sich immer nur bedingt in den konkreten Gestalten der Geschichte realisiert. Man kann sagen: Die Betrugshypothese verschwand mit Strauß aus der historisch-kritischen Forschung. Die Anhänger Jesu haben in gutem Glauben historische Wahrheit mit unhistorischer Dichtung vermischt - und gerade die „Dichtung" (oder der Mythos) kann eine Wahrheit enthalten. Die radikale Kritik an der Jesusüberlieferung hat sich hier selbst korrigiert. Und sie hätte dazu keine Chance gehabt, hätte man ihr nicht Freiheit dazu gelassen. Aber deshalb ist die Betrugshypothese nicht überall überwunden. Noch in den letzten Jahren erschien ein kleines Buch des umstrittenen protestantischen Theologieprofessors Gerd Lüdemann, der in ihm zwar Sympathie für Jesus äußert, aber auch seine Unfähigkeit ihn im Sinne des christlichen Bekenntnisses zu verehren. Er gab seinem Buch den Titel: „Der große Betrug".^ Es ist das Zeugnis von jemandem, der sich selbst betrogen fühlt. Es ist das Zeugnis einer enttäuschten Liebe zu Jesus, deren Aufrichtigkeit ich achte. Und doch muss ich den Buchtitel kritisieren. Er fällt hinter die Erkenntniss D. F. Strauß' zurück, dass die historische Gestalt Jesu absichtslos mit unhistorischen Erzählungen umgeben wurde. Wie solch eine absichtslose Verschmelzung von Dichtung und Wahrheit vor sich gehen kann, veranschauliche ich am Beispiel der Überlieferung ^ G. Lüdemarm, Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat. Lüneburg: zu Klampen M 999.

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von Franz von Assisi/ Von ihm ist Historisches und Unhistorisches überliefert. Unhistorisch ist wohl, dass seine Geburt in einem Stall stattgefunden hat. Franz war der Sohn eines reichen Kaufmanns in Assisi. Der Stall ist für ihn ein ganz unwahrscheinlicher Geburtsort. Aber Franziskus hatte sein ganzes Leben der Nachfolge Jesu gewidmet. Seine Anhänger sahen überall eine Übereinstimmung zwischen seinem und dem Leben Jesu.* Weil Jesus im Stall geboren war, erzählte man, dass auch Franziskus dort geboren war. Das wurde nicht in betrügerischer Absicht erzählt, sondern aus Verehrung Шг Franziskus, um eine religiöse Wahrheit zum Ausdruck zu bringen: Dass dieser Heilige in der Tat wie ein erneut auf Erden erschienener Christus erlebt werden konnte. D. F. Strauß hat uns gelehrt auch die Jesusüberlieferangen so zu deuten: Sie bringen eine religiöse Wahrheit zum Ausdrack. Soweit sie unhistorische Elemente enthalten, sind diese nicht durch Betrag hineingekommen, sondern durch die absichtslos dichtende Verehrang seiner Anhänger. So wird in Entsprechung zur Tötung der hebräischen Kinder in Ägypten zur Zeit des Mose die Tötung der Kinder von Bethlehem erzählt - nicht weil dieser Kindermord historisch ist, sondern weil Jesus als ein neuer Mose erlebt wurde. Franz von Assisi im Stall und Jesus bedroht vom Kindermord in Bethlehem - das ist Ausdrack einer „absichtslos dichtenden Sage". Aber noch in einer zweiten Hinsicht empfinde ich D. F. Strauß als einen Fortschritt gegenüber Reimams. Reimaras kritisierte die Jesusüberlieferangen mit einem praktischen Ziel. Er wollte seine unkirchliche „vernünftige" Religion verteidigen. Zwar wollte auch D. F. Strauß seinen an Hegel orientierten philosophischen Glauben durch sein Jesusbuch bestätigt finden. Aber das war für ihn nur ein Nebenzweck. Leitend war bei ihm ein historisches Erkenntnisinteresse. Er stellte ausdrücklich den Grandsatz auf: Nicht seine (von Hegel übernommene) Religionsphilosophie entscheidet darüber, was historisch und unhistorisch ist, sondern allein historische Quellenanalyse. Noch einmal sei betont: Am Anfang der Jesusforschung standen zwei kirchenkritische Denker, Reimaras und Strauß, die beide mit ihren Thesen den Glauben schwer erschüttert haben. Dennoch möchte ich auf einem Kirchentag für die Jesusforschung werben! Würde ich bei einer Werbeagentur fragen, wie man iur ein so schwieriges Produkt werben kann, so würde ich wahrscheinlich den Rat erhalten: Du musst eine Botschaft verbreiten, die ' Einen guten Überblick über die historisch-kritische Erforschung des Lebens von Franz von Assisi gibt H. Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. ' Vgl. das ca. 1385-1390 entstandene Werk des Bartholomäus von Pisa: De c o n f o m i t a t e vitae Beati Francisci ad vitam Domini Jesu (s. Feld, Franziskus [s.o. Anm. 7], 49f).

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positiv und einfach ist. Etwa die Botschaft: Es gibt in der Jesusforschung alle 20 Jahre ein Enthüllungsbuch, das alles fur falsch erklärt, was Bibel, Theologie und Kirche über Jesus sagen (und das stimmt ja auch). Setze dagegen die solide Jesusforschung und suggeriere: Diese Jesusforschung verkörperst du selbst! Das darfst du natürlich nicht direkt sagen. Das wäre zu penetrant. Ich käme mir freilich wie ein Lügner vor, würde ich so für die Jesusforschung werben. Auch meine Einsichten sind nicht die absolute Wahrheit und gelten nur solange, bis ein intelligenter Kollege oder eine noch intelligentere Kollegin sie widerlegt. Alle Jesusforschung ist menschlich. Eben deshalb will ich Sie dazu verleiten die Menschlichkeit der Jesusforschung eitunal aus einem großen Abstand zu betrachten - von einem Standpunkt jenseits des Menschlichen, mit den Augen des Himmels. Zu diesem Zweck erfinde ich eine mythische Erzählung - diesmal nicht als absichtslos gedichtete Sage, sondern mit eindeutiger Absicht. Denn ich möchte zeigen, dass auch unhistorische und mythische Erzählungen (also Dichtungen) Wahrheit enthalten können. Ich erfinde jetzt ein Gespräch unter Engeln um poetisch zu veranschaulichen, dass wir in der Wissenschaft immer nur unter eingeschränkten, begrenzten, kurz, unter menschlichen Bedingungen arbeiten und miteinander kommunizieren. Man kann das „Menschliche" leichter erkennen, wenn man es von außen betrachtet: mit den Augen des Himmels. Als sich die historisch-kritische Jesusforschung auf Erden verbreitete, setzte der Himmel einen Krisenstab „Jesusforschung" ein. Einige Engel waren tief beunruhigt über das, was seit Reimarus und Strauß auf Erden über Jesus erzähh und geschrieben wurde. Sie sahen den Glauben in Gefahr. Und so berieten sie darüber, was zu tun sei. Sie beschlossen die Jesusforscher aufzusuchen um ihre Motive zu erforschen. Engel können bekanntlich bis ins Innere sehen - und hören alle Gedanken, verstehen die bewussten und die unbewussten Motive. Nach einiger Zeit kamen sie nach ihrem überirdischen Lauschangriff aus den Gelehrtenstuben zurück. Und sie berichteten über ihre Erlebnisse. Die Engel beschlossen: Am Anfang sollten die Engel erzählen, die auf Forscher mit vorwiegend historischem Erkenntnisinteresse (wie bei D. F. Strauß) gestoßen waren. In einem zweiten Gesprächsgang sollten dann die zu Wort kommen, die Jesusforscher mit vorwiegend praktischem Interesse (wie Reimarus) gefunden hatten. Der erste Engel berichtete von Heinrich Julius Holtzmann, einem deutschen Neutestamentier im 19./20. Jahrhundert.' Er belauschte ihn, wie er zu sich selbst sagte: Ich will in ganz unaufgeregter Weise herausfinden, was es ' Vgl. O. Merk, Art. Holtzmann, Heinrich Julius (1832-1910), in: TRE 15 (1986) 519-522. Α. Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (s.o. Aran. 5), 227-230.

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mit Jesus auf sich hat. Wie überall in der Geschichtswissenschaft müssen wir dazu die ältesten Quellen herausfinden. D. F. Strauß hatte darüber irrige Ansichten, wenn er das MkEv für das jüngste und wertloseste Evangelium hielt. Ich kann dagegen nachweisen: Das MkEv und eine Spruchsammlung, die hinter Mt und Lk steht, sind die beiden ältesten und wertvollsten Quellen. Diese Quellen gehen in die Zeit der ersten Generation zurück. Hier haben wir gute Überlieferung. Nach ihr zog Jesus nach einer erfolgreichen Epoche in Galiläa nach Jerusalem. Sein Messiasbewusstsein brach dabei immer klarer durch. In Jerusalem endete er am Kreuz. Seine Jünger aber bewahrten seine Lehre - und sammelten sie teils in der Spruchsammlung, teils im Markusevangelium. Ein zweiter Engel berichtete von einem Paul Wilhelm S c h m i e d e l , e i nem Schweizer Theologen um die Wende zum 20. Jahrhundert. Was hörte er, als er dessen innerem Gespräch zuhörte? Ach, wir bekommen doch nie ganz sicher heraus, sagte der zu sich selbst, was die ältesten Quellen sind. Ich will unabhängig davon zuverlässige Aussagen über Jesus machen - über einige Züge, die unmöglich erfunden sein können. In den Überlieferungen von berühmten Männern, die von deren Bevmnderem und Verehrern geschrieben wurden, ist immer das echt, was ihrer Bewunderung widerspricht. Das sagt jeder Geschichtswissenschaftler. Solche unerfmdbaren Züge gibt es auch bei Jesus. Jesus hat Streit mit seiner Familie gehabt. Die hat ihn für verrückt erklärt. Das können die Jünger nicht erfunden haben. Ebenso, dass er von seinen Gegnern für besessen gehalten wurde. Oder dass er es ablehnte „guter Meister" genannt zu werden, weil nur einer gut sei nur Gott, und keiner sonst. Die ersten Christen, die ihn für den Sohn Gottes hielten, hätten nie eine Geschichte erfunden, in der Jesus es ablehnt, „gut" genannt zu werden und „gut" zu sein, wie jeder in Mk 10,17f nachlesen kann. Auf diese Weise finde ich einige Säulen für ein absolut zuverlässiges Leben Jesu. Ein dritter Engel berichtet von Ed Parish Sanders," einem amerikanischen Theologen unserer Zeit: Sein Programm lautet zusammengefasst: Wie ein guter Historiker will ich Jesus wie jeden Menschen aus seiner Zeit und seiner Umweh heraus verstehen. Jesus war ein Jude. Die Hoffnungen des Judentums sind in ihm lebendig. Ferner will ich nicht primär von den

P. W. Schmiedel lebte von 1851-1935. Seine Säulen fomulierte er u.a. in; P. W. Schmiedel, Die Person Jesu im Streite der Meinungen der Gegenwart, PrM 10 (1906), 257-282; ders.: Art. Gospels, EB(C), vol. 2, 1901, Sp. 1761-1898. " Ed Parish Sanders, geb. 1937, ist m.E. einer der bedeutendsten Jesusforscher der Gegenwart. Sein Buch; Jesus and Judaism. London; SCM Press 1985, ' 1991, gehört für mich zu den wichtigsten neueren Jesusbüchern. Eine zusammenfassende Darstellung seiner Forschungen ist; E. P. Sanders; The Historical Figure of Jesus. London/New York; Penguin Press 1993.

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Worten Jesu ausgehen, sondern dort ansetzen, wo die Worte von unerfmdbaren Taten begleitet werden. Eine solche unerfindbare Tat ist die Tempelreinigung. Sie kündigt einen neuen Tempel an - den Jesus in einem Wort tatsächlich prophezeit hat. Ebenso unerfmdbar ist die Berufung der zwölf Jünger, denen verheißen wird, einmal das ganze wiederhergestellte Israel zu regieren. Das hätte man nie erfunden, nachdem einer der Zwölfe, Judas, Jesus verraten hat. Jesus erscheint in beiden Überlieferungen als ein Prophet, der Israel wieder herstellen will. Er wollte nicht das Christentum gründen. Er wollte der letzte jüdische Prophet sein - nicht der erste Christ. Was zu diesem jüdischen Propheten passt, das ist echt. Eine Nebenbemerkung: Bei diesem Jesusforscher merkt man, dass Reimarus recht hatte, wenn er Jesus ganz aus dem Judentum heraus inteφretierte. Das gilt auch dann, wenn man ihn nicht zum jüdischen Revolutionär machen will. Doch zurück zu den Engeln. Die Engel waren sich einig: Alle bisher genannten Forscher gehen so vor, wie jeder Historiker vorgeht. Sie wollen etwas über Jesus erkennen. Sie wollen ihn nicht fur die Gegenwart „verwerten". Dann aber rufen sie die Engel auf, die Forscher mit praktischen Interessen gefunden haben - die Jesusbücher schrieben um Kirche und Glauben zu stützen oder um sie anzugreifen. Der vierte Engel berichtete: Ich war bei einem Schüler des großen Theologen Rudolf Bultmann.'^ Ich habe seinem inneren Dialog zugehört. Sein Programm ist: Ich möchte den Glauben auf etwas gründen, was nicht dem Für und Wider der Gelehrten ausgesetzt ist. Heute sagen sie: Jesus hat ein von außen hereinbrechendes Reich Gottes erwartet, morgen, für ihn beginne das Gottesreich schon im Innern der Menschen. Heute sagen sie: Er habe das jüdische Gesetz eingehalten - und morgen, er habe seine Grundlagen gesprengt. Heute glaubt man an seine Exorzismen und Heilungen - und morgen daran, dass die meisten Wunder erfunden sind. Heute sagt man, er habe sich nicht für den Messias gehalten - und morgen, ohne sein Messiasbewusstsein würde man alles an ihm missverstehen. Nichts ist absolut sicher. Also kommt für mich nur eine Radikallösung in Frage: Nicht das, was Jesus gesagt und getan hat, ist wichtig. Darüber kann man nur Hypothesen bilden. Es könnte immer auch anders sein. Ich aber sage: Nicht was Jesus gesagt und getan hat, interessiert mich, sondern allein, dass Gott in Zur Position R. Bultmanns zur Jesusforschung vgl. bes. R. Bultmann, Jesus (1926), UTB 1272, Tübingen: Mohr 1988; ders., Theologie des Neuen Testaments, O. Merk (Hg.), Neue theologische Grundrisse, Tübingen: Mohr '1984; ders.. Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (1960), SHAW.PH. Jg. 1960, 3. Abh., Heidelberg: C. Winter Universitätsverlag ''1965, sowie U. H. J. Körtner (Hg.), Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2002.

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Jesus gehandelt hat. Das ist für mich das Entscheidende. Und das kann kein Historiker beweisen und keiner kann es anfechten. Das entzieht sich historischer Forschung. Dann ist der Glauben in einer sturmfreien Zone. Und eben deshalb werde ich als Theologe den großen Skeptiker in historischen Einzelfragen spielen. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich empfehle mich meiner zeitgenössischen skeptischen Kultur als ein moderner Theologe. Und ich bewahre gleichzeitig den Glauben als ein Theologe. Die im Himmel finden das zwar paradox, dass Theologen durch Skepsis den Glauben absichern wollen. Sie fragen sich, ob man das schlichten Christen verständlich machen kann, wo doch auch sie Bultmann und seine Schüler nicht ganz verstehen! Ihr praktisches Interesse den Glauben vor Erschütterung zu bewahren ist ja ganz honorig, meinen sie, aber darf dies das erste Interesse in der Jesusforschung sein? Der fünfte Engel erzählte: Ich war bei einem Publizisten. Den Namen habe ich vergessen. Er könnte Augstein oder auch anders heißen.'^ In seinem Innern schimpft er ständig vor sich hin: Ich verabscheue die Kirche. In meiner Jugend hat sie mich durch Beichte und Sonntagspflicht gegängelt. Später habe ich mich über ihre konservativen politischen Stellungnahmen geärgert (Dass die ein wenig liberaler wurden, hat er gar nicht gemerkt). Alles rebelliert in mir, wenn ein Nachfolger Jesu Unfehlbarkeit ftir sich beansprucht. Aber mit meinem Buch werde ich Kirche und Papst die Basis unter den Füßen wegziehen! Wie eine Bombe wird es einschlagen! Ich werde zwei Dinge zeigen: (1) Von Jesus kann man nichts Genaues wissen. Die Quellen sind historisch nicht auswertbar. Und ich werde zeigen: Das sagen so große Theologen wie Bultmann auch, nur dass sie es nicht wagen, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. (2) Was man von Jesus weiß, zeigt, dass er in eine fremde Welt gehört - mit Teufeln und Weltuntergangsängsten. Der hat unserer Zeit nichts zu sagen. Der ist ein Fall fürs historische Antiquariat. - Die Engel sind sich einig: Der ist genauso schwer zu verstehen wie die Bultmannschule. Entweder wir wissen nichts von Jesus darm kann man auch nichts darüber wissen, dass er einer fremden Welt angehört. Oder man stellt fest: Er gehört einer fremden Welt an. Dann setzt man voraus, dass man einiges sehr gut über ihn wissen kann - genug wenigstens um festzustellen: Er ist uns ganz fremd. Das Motiv die Kirche zu kritisieren mag honorig sein. Da ist vieles zu reformieren. Aber es geht

" R. Augstein mag hier exemplarisch für Jesusdarstellungen stehen, die Jesusforschung im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Ablehnung des christlichen Glaubens betreiben. Sie bedienen sich der Ergebnisse historisch-kritischer Theologie um sie gegen die theologische Bezugnahme auf Jesus auszuspielen. Vgl. R. Augstein, Jesus Menschensohn, München u.a.; Bertelsmann 1972; in neuer Bearbeitung: Hamburg; Hofbnann u. Campe ' l 9 9 9 .

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letztlich nicht um Jesus, es geht um Papst und Kirche. Ihre Legitimation wird bestritten. Das Buch verfolgt primär praktische Interessen. Der sechste Engel erzählt schließlich: Ich war bei einem jungen, unbekannten Theologen. Auf dessen Schreibtisch lagen viele Bücher von einem Eugen Drewermann und Leonardo Boff. Der hatte folgende Wimschvorstellung: Ich werde mit meiner Jesusforschung die verkrustete Kirche provozieren und zu größerer Aufrichtigkeit zwingen. Jesus lebte in schlechter Gesellschaft. Er wurde als Fresser und Weinsäufer beschimpft. Also sind auch Priester und Pastoren in guter Gesellschaft, wenn sie ihren Alkoholmissbrauch nicht im Griff haben. Jesus griff die rigide Sexualmoral seiner Zeitgenossen an, wenn er eine Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrte. Also lasst uns keine Steine werfen, wenn die sexuellen Verfehlungen des Klerus offenbar werden. Verlangen wir aber mehr Aufrichtigkeit im Umgang damit! Jesus kritisiert alle die, die etwas gegen Ausländer haben: Denen, die meinen, sie hätten das Abendland gepachtet, prophezeit er: Die Ausländer werden aus allen vier Himmelsrichtungen in die Gottesherrschaft strömen, aber ihr werdet aus ihr hinausgeworfen werden. Also unterstützen wir all die Gemeinden, die von Abschiebung bedrohten Ausländem hier Kirchenasyl gewähren - auch wenn diese Gemeinden das Verhältnis zwischen offizieller Kirche und Staat belasten! Es ist immerhin das erste Mal, dass eine mit großer Reputation versehene Institution und ihre Mitglieder zu zivilem Ungehorsam in unserer Gesellschaft (d.h. in der Bundesrepublik Deutschland) bereit ist. Die Engel beschließen: Jetzt haben wir genug Jesusforscher gehört, sowohl die, die in erster Linie Jesus historisch erkennen wollen - als auch die, die mit ihrer Jesusforschung praktisch etwas verändern wollen. Und sie sind sich schnell einig: Es gibt auf Erden keinen Jesusforscher, der ganz reine Motive hat. Keinen, der nur die Sache sieht - und nichts sonst. Es sind halt alles Menschen. Man kann zwar unterscheiden, ob sie ihren Erkenntnisinteressen einen Vorrang vor ihren praktischen Interessen einräumen oder umgekehrt praktischen Interessen vor ihren Erkenntnissen. Ob ihnen mehr an der Sensation liegt - oder mehr am ruhigen Gang der Wissenschaft. Aber auch die besten Jesusforscher haben ihre menschlichen Motive. Selbst die ganz sachlichen wissenschaftlichen Bücher über Jesus werden oft geschrieben, damit sich junge Wissenschaftler auf eine Professur bewerben können. Und auch das ist ein menschliches Motiv. Deshalb kommt folgender Plan auf: Weil Menschen unfähig für die reine Wahrheit über Jesus sind, solle man sie ausnahmsweise offenbaren, damit sie nicht verloren geht und damit die Gläubigen nicht in Unsicherheit leben müssen. Aber wem soll man sie anvertrauen?

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Ein Engel schlägt vor: Wir nehmen den Papst. Dem offenbaren wir die reine Wahrheit! Alle sind begeistert. (Kein Wunder, im Himmel ist die Mehrzahl der Engel katholisch). Sofort wird ein Engel nach Rom ausgesandt um die reine Wahrheit über Jesus zu vermitteln. Aber er kommt verwirrt zurück: Er habe den Papst gebeten die reine Wahrheit an die Menschen zu übermitteln. Aber der habe Bedenken gehabt. Lieber Bruder Angelus, hat er gesagt, das Vertrauen des Himmels ehrt mich. Aber wer wird mir glauben, wenn ich in einer Enzyklika sage, was Jesus wirklich gesagt und getan, was er wirklich erlitten und erlebt hat? Nicht einmal alle meine katholischen Schäfchen wöirden es mir glauben, geschweige denn die Protestanten und Ungläubigen. Die würden das alles ftir interessenbedingte Kirchenpropaganda halten. Und gerade Protestanten und Ungläubige hätten es doch an erster Stelle nötig, die Wahrheit in der Jesusforschung zu hören. Wir Katholiken haben niemals das Chaos der kritischen Jesusforschung in dem Maße mitgemacht wie sie. Bei uns hat sie nie so destruktiv wirken können. Dafür haben wir Päpste vor und nach dem zweiten Vaticanum gesorgt. Sieh, ich bin ein demütiger Diener Christi. Ich würde den Auftrag annehmen, wenn du darauf bestehst. Aber ich möchte, dass er bei allen Menschen zum Erfolg fuhrt. Berate noch einmal mit den anderen Engeln, ob es dazu nicht einen besseren Vermittler gibt. Als die Engel im Himmel das hören, sind sie über die Weisheit und Demut des Papstes tief beschämt. Er hat recht, sagen sie. Das hätten wir uns selbst sagen sollen. Aber wen nehmen wir nun? Einen Franziskaner, einen wirklich demütigen und gebildeten Bruder. Die Franziskaner waren immer groß in den Bibelwissenschaften. Sie werden auch von den Protestanten geliebt. Aber dagegen gibt es ein durchschlagendes Argument: Was werden die anderen Orden sagen? Würden uns die Dominikaner und Jesuiten je verzeihen, dass wir nicht ihnen die Wahrheit anvertraut haben? Deshalb kommt der Vorschlag, einen von den protestantischen Theologieprofessoren zu wählen. Die haben die historisch kritische Jesusforschung in die Welt gebracht. Also sollen sie ihren Schaden selbst begrenzen! Außerdem besitzen sie in der Welt eine gewisse Glaubwürdigkeit. Aber man ist sich einig: Das wird erst recht eine Katastrophe. Wenn wir einem Professor die Wahrheit offenbaren, dann wird er auch alle seine Irrtümer für die absolute Wahrheit halten - und sich fortan für unfehlbar halten. Abgesehen davon: wen soll man nehmen, einen Lutheraner, Reformierten, Baptisten oder Methodisten? Also konmit der Vorschlag einen frommen jüdischen Gelehrten zu wählen. Der ist neutral gegenüber Kirchen und Orden! Jesus war selbst ein Jude. Und die großen historischen Jesusforscher (wie Reimarus, Strauß und Bultmann) haben das alle so gesehen, auch wenn es noch inuner zu wenig

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bekannt ist: Jesus war ein Jude - und wurde als Jude die Grundlage fur das Christentum. Er gehört in einer ganz einzigartigen Weise zwei Religionen an. Aber auch hier gibt es Bedenken: Wenn ein Jude Jesus so darsteüt wie er wirklich war, dann werden alle Juden von übereifrigen Christen unter Druck gesetzt Christen zu werden - mit dem Argument: Ein berühmter jüdischer Gelehrter habe selbst gezeigt, dass Jesus eine Botschaft Gottes för alle Menschen gebracht hat. Schließlich gibt es den radikalen Vorschlag einen Agnostiker oder Atheisten zu wählen. Der müsste bei allen Menschen Glauben finden. Wenn der etwas Positives über Jesus sagt, dann muss es erst recht stimmen. Aber - so sagen einige Engel - was muten wir diesem Atheisten zu? Verbiegen wir diesen Menschen nicht in seiner Identität? Machen wir ihn nicht zum Vermittler einer Botschaft, die er eigentlich ablehnen muss? Niemand darf in Glaubensfragen dazu genötigt werden etwas gegen sein Gewissen zu tun. Das ist ein heiliger Grundsatz im Himmel mehr als auf Erden. Die Engel sind ratlos. Sie brauchen einen irdischen Vermittler. Die Zeiten sind vorbei, wo sie selbst mit Flügeln den Menschen direkte Botschaften brachten. Da meldet sich einer der Engel, die auf Erden die Jesusforscher besucht haben, und sagt: Ich habe bei einem katholischen Jesusforscher in Amerika eine glänzende Idee gefiinden. Er heißt John P. Meier. Er schreibt in der Einleitung seines mehrbändigen Buches über Jesus „A Marginal Jew",''* er stelle sich vor, dass man einen katholischen, protestantischen, jüdischen und agnostischen Jesusforscher in ein Konklave zusammen einschließt, das sie erst verlassen dürfen, wenn sie sich auf ein Jesusbild geeinigt haben, das alle unterschreiben können. Dabei hat jeder von ihnen das Recht zusätzlich noch weitere Feststellungen und Bewertungen über Jesus abzugeben. Solch ein Jesusbild wolle er in seinem Buch anstreben. Und wolle dabei jeweils deutlich machen, wo er als Katholik darüber hinausgeht, was die andern mit unterschreiben können. Lasst uns also die besten Jesusforscher aus verschiedenen Konfessionen in einem Konklave einschließen - dann bekommen wir ein überzeugendes Resultat. Alle sind begeistert über dieser wahrhaft ökumenischen Idee eines Katholiken. Überhaupt ist im Himmel immer eine riesige Freude, wenn der Katholizismus einmal eine richtige ökumenische Idee entwickelt. Dann tanzen die Engel so heftig im Himmel, dass es auf Erden Erschütterungen in den Kirchengebäuden gibt. Und deshalb haben einige auf Erden Angst davor, besonders in Gebieten, die kirchlich nicht ganz erdbebensicher sind wie z.B. das Gebiet um Fulda herum. Diese ökumenische Idee könnte langJ. P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Vol. 1: The Roots of the Problem and the Person, New York: Doubleday '1991; Vol. 2: Mentor, Message, and Miracles, New

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fristig tatsächlich die einzige Lösung sein. Bildet sich nicht schon quer durch verschiedene Konfessionen ein Konsens über Jesus heraus? Aber dann kommt ein neuer Einwand. Gelehrte können endlos diskutieren. In der Wissenschaft können alle Entscheidungen aufgeschoben werden. Ja, sie müssen sogar aufgeschoben werden, wenn man nicht mit Argumenten entscheiden kann. In der Praxis dagegen muss alles mit Zeitvorgaben entschieden werden. Auch ein Konklave, das einen neuen Papst wählt, hat nur endlich Zeit. Denn die katholische Kirche kann ohne ihr Haupt nicht leben. Aber in der Wissenschaft ist das anders. Solange die Wissenschaftler nun in ihrem Konklave beraten, wird sich niemand in der Welt wirklich emsthaft für Jesus interessieren. Alle werden erst einmal die Ergebnisse des Konklave abwarten: Warten wir doch erst einmal ab, was die Wissenschaftler über Jesus herausfinden. Und wenn die erst am Jüngsten Tag fertig werden? Es wäre verheerend! Ein Engel macht zwar den Vorschlag, man solle den Wissenschaftlern nur eine begrenzte Zeit zur Verfiigung stellen, etwa ein Jahr. Danach würde es kein Essen mehr für sie geben. Das würde sogar bei Wissenschaftlern Wunder wirken! Aber auch diese Idee wird verworfen. Das würden die Wissenschaftler als Nötigung auffassen - als Widerspruch gegen die Freiheit der Wissenschaft. Und die ist dem Himmel absolut heilig!! Der Krisenstab „Jesusforschung" kommt nun selbst in Zeitnot. Er muss einen Abschlussbericht anfertigen. Man sammelt Vorschläge für eine Resolution: 1. Der erste Vorschlag wird vom Engel Hermeneutikus gemacht: Der Krisenstab „Jesusforschung" solle erklären: Solange es auf Erden menschlich zugeht, wird es immer sehr verschiedene Jesusbilder geben - innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Das hängt daran, dass Jesus den Menschen ungeheuer viel bedeutet. Jeder sieht daher besonders scharf das, was ftir sein Leben bedeutsam ist. Der Humanist sieht den humanen Jesus, der Sozialist den sozialen Jesus, der Rebell den revolutionären Jesus usw. Darin liegt auch ein Reichtum. Wäre Jesus nicht so ungeheuer lebensbedeutsam für so viele Menschen, so würde man sich nicht über ihn streiten. Wir dürfen vom Himmel her diese Vielfalt nicht gewaltsam reduzieren. Wir müssen den Menschen vielleicht ein wenig helfen diesen Streit positiv zu akzeptieren. Wir müssen ihnen klar machen: Eine gewisse Ungewissheit darüber, wer Jesus im Einzelnen war, ist gar nicht so schlecht. Das wird die Beschäftigung mit ihm immer wieder stimulieren. Auch extreme Meinungen über ihn können Menschen dazu bringen sich mit ihm zu beschäftigen. Also soll-

York: Doubleday 1994; Vol. 3: Companions and Competitors, New York: Doubleday 2001.

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ten wir vom Himmel aus nichts tun sie zu unterbinden. Wir trauen es vernünftig argumentierenden Menschen zu sie zu itorrigieren. 2. Da aber meidet sich der Engel Exegetikus. Er stimmt zu: Die vielen Jesusbilder soll man nicht unterdrücken. Aber der Krisenstab „Jesusforschung" solle auch erklären: Es gibt auf der Erde genug Vernunft und Verstand um die vielen Jesusbilder kritisch an den Quellen zu übeφrüfen. Dabei kommt man zwar nicht zu einem für alle verbindlichen Jesusbild, wohl aber zu einem Spielraum, innerhalb dessen sich Jesusbilder bewegen müssen. Negativ heißt das: Jesus ist nicht nach Indien gekommen. Er hat nicht Maria Magdalena geheiratet. Es gibt keine Verschlusssache Jesus im Vatikan. Dass das alles Unsinn ist, kriegen Menschen mit ihrem Verstand selbst raus. Positiv aber heißt das auch: Jesus hat wirklich gelebt, hat wirklich Menschen in seine Nachfolge gerufen, hat wirklich kleine Erzählungen von Gottes Gnade erzählt, hat wirklich gelitten, ist seinen Jüngern wirklich nach seinem Tode als Lebendiger erschienen. Es ist fiir die, die ihm bis heute nachfolgen, wichtig zu wissen: Sie folgen keinem Traum und keiner Dichtung, sondern einer konkreten, historischen Gestalt, die mit Dichtung umgeben wurde, die aber selbst keine Dichtung ist. 3. Zum Schluss meldet sich der Engel Poimenikus: Er schlägt vor, der Krisenstab „Jesusforschung" solle versichern, dass Jesus selbst alle Jesusbilder akzeptiert, die aufrichtig und nach bestem Wissen und Gewissen entwickelt wurden - auch wenn sie einseitig sind, auch wenn sie zeitgebunden sind, auch wenn man ihnen anmerkt, dass es Bilder eines Konservativen oder eines Liberalen, eines Protestanten oder Katholiken, eines Juden oder Christen, eines Mannes oder einer Frau sind. Mit Jesusbildem ist es wie mit Bildern anderer, lebendiger Menschen. Immer enthalten sie viel von dem Menschen, der das Bild in sich entwickelt und trägt. Sie sind immer ein wenig einseitig und verzerrt. Aber Bilder von anderen Menschen dienen nicht (oder nur selten) wissenschaftlichen Zwecken, sondern vor allem dazu, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen. Wenn die Bilder von anderen es ermöglichen, mit ihnen menschlich zusammenzuleben, dann sind sie in sich gerechtfertigt. Auch Jesus ist eine lebendige Person. Jesusbilder sollen dazu dienen, dass Menschen Kontakt mit Jesus aufnehmen und durch ihn mit Gott. Dann haben sie ihr Ziel erreicht. Auch die historisch-kritischen Jesusbilder können diesem höchsten menschlichen Ziel dienen: Kontakt mit Gott zu bekommen. Darin besteht die Menschlichkeit der Jesusbilder: ihr Wert fiir den Menschen. Diesem Votum des Himmels habe ich nicht viel hinzuzufiigen. Ich habe das ja schließlich selbst alles „erdichtet". Und dennoch steckt in ihm Wahrheit, wenn auch keine unfehlbare Wahrheit. Denn die gibt es nicht.

Kann man historisch-kritisch von Jesus erzählen? 1986 veröffentlichte ich ein kleines Buch: „Der Schatten des Galiläers". Es ist ein Versuch historisch-kritisch von Jesus zu erzählen. Darin liegt ein Widerspruch. Wenn man erzählt, sagt man: So und so war es. Zuerst geschah das, dann das, dann das. Erzählen liebt die epische Reihung von Episoden. Historische Kritik aber unterbricht den Erzählverlauf. Sie fragt: War es wirklich so? Oder vielleicht anders? Wurde es vielleicht so nur überliefert? Und warum wurde es so überliefert und nicht anders? Jeder kennt jene Ehepaare, die gemeinsam eine Geschichte erzählen wollen, aber ständig die Erzählung des anderen korrigieren, weil sie sich nicht auf eine Version einigen können. Nicht nur die erzählerische Spannung wird so zerstört. Nicht nur die Pointe geht verloren. Am Ende hängt auch der Haussegen schief Das historisch-kritische Erzählen ist vergleichbar: Die Geschichten aus der Bibel werden in der Kinderkirche erzählt. Dann aber kommt die historische Kritik und unterbricht mit unpassenden Fragen die Erzähler. Und das stört manchmal den Haussegen im Christentum. Man kann das Christentum in der Tat eine Erzählgemeinschaft nennen. Alles, was Glauben und Handeln bestimmen soll, wird im Christentum in konkreten Erzählungen weitergegeben. Wir Theologen bemühen uns aus diesen Erzählungen allgemeine Gedanken zu abstrahieren. Wir sprechen z.B. von Christologie und christologischen Sätzen, meinen damit aber Zusammenfassungen dessen, was in den Erzählungen von Jesus enthalten ist.' Erzählgemeinschaften können in Krisen geraten. Die christliche Erzählgemeinschaft hat in den letzten zwei Jahrhunderten den Einbruch der historischen Kritik erlebt. Was bei diesem Einbruch geschehen ist, möchte ich am Beispiel einer anderen familiären Erzählgemeinschaft illustrieren - am Beispiel einer deutschen Familie aus dem 20. Jahrhundert. In dieser Familie kursiert die Erzählung von einem Urgroßvater, der es im deutsch-französischen Krieg 1870/71 vorzog nach Holland zu reisen und dort zu bleiben, bis der Krieg vorüber war. Erst als die Gelegenheit vorbei war, den Heldentod zu sterben, kehrte er zurück. Man erzählt, er habe pazifistische Neigungen gehabt, und das in kriegsbegeisterten Zeiten. Jahrzehntelang wird diese Geschichte vom Urgroßvater weitererzählt. Die Familie war stolz auf sie. Sie zeigt: Man war schon immer gegen den Krieg. Man

' Vgl. D. Ritschl/H. O. Jones, .Story' als Rohmaterial der Theologie, TEH 192, München: Kaiser 1976. Auch kurze Bekenntnisfonnulierungen haben im Neuen Testament eine „narrative Basis": Sie beziehen sich auf ein Geschehen, z.B. Kreuz und Auferstehung.

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war schon immer gegen eine durch militärische Stärke vereinigte Nation. Man war schon immer fflr die Freundschaft mit Frankreich. Kurz: Die Geschichte wird deshalb in unserer Erzählgemeinschaft weitergegeben, weil sie tiefverwurzelte Werte und Überzeugungen der Familie wiedergibt. Dann aber kommt es zu einer Krise in der Familiengeschichte. Ein Urenkel studiert historische Wissenschaft. Er lernt, mit Quellen kritisch umzugehen und sie so zu behandeln wie ein Richter einen Zeugen behandelt, der gute Motive hat, bei der Wahrheitsfindung nicht nur konstruktiv mitzuarbeiten. Dieser Urenkel geht der Familienüberlieferung historisch-kritisch nach. Dabei stößt er auf zwei Tatsachen: 1. Der Urgroßvater war 1870 erst 15 Jahre alt. Sein Aufenthalt in Holland 1870/71 könnte durchaus historisch sein, aber dem Militärdienst hätte er sich auch ohne diesen Aufenthalt entziehen können. Er war noch viel zu jung. 2. Die Geschichte taucht in der Familie erst nach dem 1. Weltkrieg auf, als sich der eigene Großvater (in Auseinandersetzung mit anderen Familienmitgliedern) zur Weimarer Republik bekennt und pazifistische Gesinnungen entwickelt. Der historisch-kritische Urenkel kombiniert nun: Die Urgroßvaterüberlieferung ist ein Gewebe von Dichtung und Wahrheit. Wahrscheinlich nahm sie ihre Gestalt erst nach dem 1. Weltkrieg an, als einer der Söhne des Urgroßvaters seine pazifistische, antinationalistische und demokratische Haltung in seiner Familie legitimieren musste. Und er tat es nach der bekannten Devise: Der Urgroßvater, recht verstanden, hat schon immer das gemeint, was ich sage. Stolz tritt unser Urenkel mit seinen Ergebnissen vor die Erzählgemeinschaft. Aber da gibt es Irritationen. Einige unterstellen, er sei wohl grundsätzlich gegen den Pazifismus - und das sei Verrat an der Familientradition. Andere fangen an zu diskutieren: Es gebe durchaus eine pazifistische Tradition, die bis auf den Urgroßvater zurückgehe. Sie trete erst später hervor, sei aber nicht ohne Anhalt am historischen Urgroßvater. Von da habe der Großvater sie geerbt. Eine dritte Meinung ist: Man dürfe den Urgroßvater ruhig entmythologisieren. Die pazifistische Botschaft in seinen Geschichten müsse man auf jeden Fall weiterhin zur Geltung bringen - ohne die zeitbedingte Mythologie eines Hollandaufenthalts. Wir sehen: Die historische Kritik ist in die Erzählgemeinschaft unserer Familie eingebrochen. Soll sie die Geschichte vom pazifistischen Urgroßvater noch weiter überliefern, wenn sie vielleicht nicht stimmt? Wahrscheinlich erzählt sie diese Geschichte weiter, aber mit etwas schlechtem Gewissen. Bis vielleicht auch diese Familie von einer „Wende" des Zeitgeistes erfasst wird, die dem pazifistischen Geist nicht günstig ist. Aber das

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wollen wir nicht annehmen. Denn damit würde unsere Erzählgemeinschaft ihre Identität verlieren. Es gäbe noch eine andere Möglichkeit. Einige kommen auf die Idee die Geschichte vom pazifistischen Urgroßvater zusammen mit der Geschichte von seinem historisch-kritischen Urenkel zu erzählen. Denn auch die Story des Urenkels, der sich kritisch auf die Spuren des verehrten Urahnen begab, hat Erzählwert. Mit anderen Worten: Die Erzählgemeinschaft integriert auch die Krise ihrer Erzählungen in ihren Erzählschatz. Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein: Der pazifistische Urgroßvater könnte Jesus sein. Sein historisch-kritischer Urenkel - das sind alle, die sich ihm in historisch-kritischer Einstellung nähern. Die Familie das ist die Kirche (auch wenn diese nicht nur „pazifistisch" war). Der Versuch die historisch-kritische Exegese der eigenen Überlieferungen in den Geschichtenschatz der christlichen Erzählgemeinschaft einzubauen - das ist „narrative Exegese", historisch-kritische Forschung und Auslegung der Bibel in erzählender Form. Was ich in diesem Gleichnis zu sagen versucht habe, will ich jetzt noch einmal in Prosa formulieren. Aber auch dabei möchte ich mich an einen lockeren erzählerischen Rahmen halten. Ich erzähle etwas über die Entstehungsgeschichte meines Buches, einer „Historischen Jesusforschung in erzählender Form". Das erste Kapitel spielt in meiner Studienzeit, in meiner ersten Begegnung mit historischer Jesusforschung. Das zweite Kapitel in meiner Assistentenzeit: Als ich die ersten eigenen Beiträge zur historisch-kritischen Forschung schrieb. Das dritte Kapitel deckt sich mit meiner Zeit als Religionslehrer vor ca. 25 Jahren. In ihr schrieb ich die ersten Kapitel des Buches: „Der Schatten des Galiläers". Das vierte und letzte Kapitel fällt in die Zeit, in der ich (seit 1978) an der Universität Theologen ausbilde.

1. Kapitel: Erste Begegnung mit der historisch-kritischen Forschung im Studium Als ich zu studieren anfing, musste ich nicht zur historischen Kritik bekehrt werden. Theologie und Kirche waren fìir mich erst zu emstzunehmenden Größen geworden, weil ich in ihnen die Bereitschaft fand die eigenen Grundlagen (die Bibel) wissenschaftlich zu bearbeiten. Die Geschichte der historischen Kritik war ftir mich ein Zeichen der Vitalität des modernen Protestantismus - und darüber denke ich heute nicht anders als damals. Scheu vor historischer Kritik ist Ausdruck einer Vitalitätsschwäche des Glaubens.

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Ich kam also in Vorlesungen und Seminare und erwartete viel historische Kritik an den Jesusüberlieferungen. Ich war eher überrascht, wenn meine Lehrer hin und wieder ein Jesuswort der Echtheit verdächtigten. Denn so sah damals die Sachlage aus: Die wissenschaftliche Beweislast lag nicht bei dem, der die Unechtheit einer Überlieferung nachzuweisen versuchte, sondern bei dem, der für ihre Echtheit plädierte. Wie war es dazu gekommen? Woher kam diese grundsätzliche Skepsis? Ich lernte drei Grundeinsichten, die auch heute noch Gültigkeit haben.^ Die erste Einsicht: Die Jesusüberlieferung besteht aus kleinen Einheiten, d.h. aus kurzen, in sich gerundeten Worten und Erzählungen, die je für sich tradierbar waren. Ihre Anordnung in den Evangelien ist das erzählerische Arrangement der Evangelisten, entspricht aber nicht der historischen Reihenfolge. Damit bricht die Zuversicht zusammen von Jesus eine zusammenhängende Erzählung geben zu können. Selbst wenn wir alle einzelnen Überlieferungen für historisch hielten, wüssten wir nicht, welche in den Anfang des Wirkens Jesu gehören und welche ans Ende - abgesehen davon, dass die Geburtsgeschichte am Anfang steht, seine Passion natürlich ans Ende gehört. Aber die vielen Geschichten dazwischen - für sie gibt es keine gesicherte Reihenfolge. Die zweite Grundeinsicht: Auch die kleinen Einheiten sind aus der Situation derer heraus zu verstehen, die sie überliefert haben (so wie die Erzählung vom angeblich pazifistischen Urgroßvater zunächst aus der Situation des nachweisbar pazifistischen Großvaters heraus zu verstehen ist). Die Jesusüberlieferung wurde weitergegeben, weil sie gebraucht wurde. Ihre Gebrauchssituationen nennt man ihren „Sitz im Leben". Primär sind sie als Zeugnis für ihre Gebrauchssituationen, erst in zweiter Linie als historisches Zeugnis von Jesus zu lesen. Jesus wird in ihnen nur in der Brechung bestimmter Interessen und Überzeugungen gesehen. In ihm wird immer schon ein überirdisches Wesen wahrgenommen - wenn auch durch den Schleier des Geheimnisses hindurch, wie es besonders im Markusevangelium ein-

^ So in dem berühmten Aufsatz von E. Käsemann, Das Problem des historische Jesus, ZThK 51 (1954) 125-153 = ders.. Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck 1964, 187-214, dort S. 203: „Auf Grund der formgeschichtlichen Arbeit hat sich unsere Fragestellung derart zugespitzt und erweitert, daß wir nicht mehr die etwaige Unechtheit, sondern gerade umgekehrt die Echtheit des Einzelgutes zu prüfen und glaubhaft zu machen haben. Nicht das Recht der Kritik, sondern ihre Grenze ist heute zu beweisen." Dieser Aufsatz galt als Grundlage der „neuen Frage" nach dem historischen Jesus. ^ Vgl. meinen Forschungsüberblick: Die Erforschung der synoptischen Tradition seit R. Bultmann. Ein Überblick über die formgeschichtliche Arbeit im 20. Jahrhundert, Nachwort zu R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht '"1995, 409-452.

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drücklich geschieht. Aber immer strahU ein Licht von Ostern zurück in die vielen Jesusüberlieferungen. Die dritte Grundeinsicht: Zu den Jesusüberlieferungen gibt es viele (beeindruckende) Parallelen und Analogien. Wundergeschichten hat man damals auch anderswo erzähh. Manche Sprichwörter in der Jesusüberlieferung waren im Judentum allgemein verbreitet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einige Worte Jesus erst sekundär zugeschrieben wurden - nicht weil sie von Jesus stammten, sondern weil sie so schön und überzeugend waren, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, Jesus könne sie nicht gesagt haben. Diese drei Grundeinsichten: die Entdeckung der kleinen Einheiten, ihres Sitzes im Leben und der vielen Analogien waren Ursache der historischen Skepsis in der Jesusforschung. Diese Skepsis war so groß, dass man sich fragte: Wie kann man überhaupt etwas von Jesus aussagen? Die Antwort war: Es gibt in der Jesusüberlieferung einige Züge, die man weder aus der jüdischen Umwelt ableiten noch aus einer späteren Gebrauchssituation der Texte erklären kann. Diese analogielosen Züge sind echt. Das sogenannte „Differenzkriterium" (der Nachweis von Unterschieden der Jesusüberlieferung zum Judentum und Urchristentum) wurde so zum wichtigsten Kriterium um begründet etwas über den historischen Jesus auszusagen."* Eine zusammenhängende Erzählung ergab sich aus den so gewonnenen echten Jesusüberlieferungen freilich nicht.

2. Kapitel: Erste eigene Forschungen im Neuen Testament Nach meinem Studium hatte ich die Chance fünf Jahre lang an der Universität zu arbeiten - von 1968 bis 1973. Es war eine bewegte Zeit für die Universität. Die westdeutsche Gesellschaft hatte sich in den 50/60er-Jahren viel schneller modernisiert als die Mentalität der Menschen: als ihre Werte, Normen und Lebensstile. Eine Phase kultureller Umorientierung fand in der Studentenrebellion von 1968 ihren deutlichsten Ausdruck. Diese StudentenDies Differenzkriterium ist m.E. durch ein historisches Plausibilitätskriterium zu ersetzen, das sein Wahrheitselement aufìiimmt, aber seine unhistorischen Implikationen einer singulären Gestalt, die sich gegenüber ihrem historischen Kontext und ihrer Wirkung vor allem im Gegensatz befand, herausnimmt. In einem von mir und D. Winter verfassten Buch: Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg Schweiz/Göttingen: UniversitätsverlagA'andenhoeck & Ruprecht 1997, haben wir es S. IX so formuliert: „Nicht das, was zur jüdischen Umwelt und zum Urchristentum in Differenz steht, soll als echt gelten, sondern was als individuelle Erscheinung plausibel in seinen jüdischen Kontext eingeordnet werden kann und die christliche Wirkungsgeschichte Jesu im Urchristentum plausibel zu erklären vermag. Kontext- und Wirkungsplausibilität sind u.E. die entscheidenden Kriterien in der Jesusforschung."

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rebellion auf Steine Werfen und Terrorismus zu reduzieren ist ein groteskes historisches Fehlurteil, auch wenn wir diese Erscheinungen nicht ausklammem dürfen. Ich gehöre zweifellos zu jener Generation, die diese Umorientierung bejahte und sie bis heute als notwendig ansieht. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und kultureller Veränderung war uns allen bewusst. In der Jesusforschung geschah nun etwas Merkwürdiges: Die rebellische Generation entwickelte in den Fragen historisch-kritischer Skepsis einen leichten „Konservativismus". Ich will versuchen, dies paradoxe Phänomen verständlich zu machen. So wie wir in der Gegenwart nach dem Zusammenhang zwischen kultureller Veränderung und gesellschaftlichen Prozessen fragten, so auch in der Vergangenheit. „Sozialgeschichte" nannten wir diese Forschungsrichtung.' Auch in der Jesusforschung fragte man neu nach dem sozialen Kontext der Jesusüberlieferung. Genauer, man stellte zwei Fragen: 1. In welchen Gruppen wurde sie überliefert? Das ist die alte Frage nach dem Sitz im Leben. 2. Wie sind diese Gruppen in die Gesamtgesellschaft einzuordnen? Man kann so sagen: Wir erweiterten die Frage nach dem Sitz im Leben, indem wir sie auf die ganze Gesellschaft bezogen. Zwei Ergebnisse wurden ftir die Jesusforschung wichtig: 1) Fragen Sie sich einmal: Wer konnte eigentlich die radikalen Forderungen Jesu wirklich ernst nehmen? Forderungen, Haus und Hof zu verlassen, möglicherweise Frau und Kinder zurückzulassen um mit ihm durch Palästina zu ziehen, auf Arbeit und Besitz zu verzichten? Meine Antwort war: Das können nur wandernde Vagabunden! Nur Menschen am Rande der Gesellschaft, die sich den normalen Veφflίchtungen des Alltags entzogen haben. Daraus entstand die These: Die Jesusüberlieferung wurde wahrscheinlich nicht nur in sesshaften Ortsgemeinden tradiert, sondern primär von wandernden Aposteln, Missionaren, Propheten - man kann auch sagen: von Vagabunden (denn von außen war ihnen kaum anzusehen, dass sie einmal die angesehenen Gründer des Christentums werden sollten). Nur diese „Wandercharismatiker" konnten die radikalen Forderungen Jesu ernst nehmen, ohne Arbeit zu leben und darauf zu vertrauen, dass sie wie die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf den Feldern schon Nahrung und Kleidung finden würden. Solche „Wandercharismatiker" lassen sich noch lange im Urchristentum nachweisen. Sie lebten genauso wie Jesus - als heimatlose Wandeφrediger, ohne Wohnsitz, Familie und Arbeit. Sie haben große Teile ' Eine ausgezeichnete Darstellung dieser Fragestellung, deren Anfänge im 19. Jahrhundert liegen, bietet R. Hochschild, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentliche Forschungsrichtung, NTOA 42, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1999.

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der Jesusüberlieferung tradiert. Denn sie hatten ein Motiv sie zu bewahren. Sie brauchten sie zur Rechtfertigung ihrer eigenen heimatlosen Existenz. Ihnen verdanken wir die Überlieferung des ethischen Radikalismus der Jesusüberlieferung. Denn sie hatten kein Motiv ihn abzuschwächen, anzupassen oder umzubiegen. Sie haben die Worte Jesu im Geiste Jesu überliefert. Durch Entdeckung dieser Wandercharismatiker wurde eine Kontinuität zwischen Jesus und Urchristentum nachgewiesen. Echt war jetzt nicht nur das, was sich in der Jesusüberlieferang vom Urchristentum und seiner Praxis abhob; echte Jesusüberlieferung und urchristliche Praxis deckte sich - zumindest bei den Wandercharismatikem, den ersten Nachfolgern Jesu.^ 2) Diese Gmppe von Überlieferungsträgem der Worte Jesu musste nun (zweitens) in die Gesamtgesellschaft eingeordnet werden: Wie kam es dazu, dass Menschen Haus und Hof verließen? Waren die Nachfolger Jesu damals die einzigen, die sozial entwurzelt vmrden? Die Quellen geben hier eine klare Auskunft: Viele haben im damaligen Palästina Haus und Hof verlassen, sei es um Jesus nachzufolgen, sei es um in die Essenergemeinde am Toten Meer einzutreten, sei es um sich den Widerstandskämpfern in den Bergen anzuschließen oder um zu emigrieren. Auch die Ursache dieser vielen Varianten sozialer Entwurzelung ist noch erkennbar: Es ist eine Krise der Gesellschaft aufgrand ökonomischen Dracks, politischer Konflikte, Spannungen zwischen Stadt- und Landkultur. Soziale Entwurzelung kommt nicht von ungefähr. So wie es nicht von ungefähr konunt, wenn heute die Zahl der Stadt- und Landstreicher zugenommen hat. Was war damit aber für die Jesusforschung gewonnen? Die entscheidende Erkenntnis war: Jesus und seine Nachfolger gehörten in die jüdisch-palästinische Gesellschaft. Sie waren nur zu verstehen, wenn man die Konflikte und Spannungen dieser Gesellschaft verstand. Das Differenzkriterium wurde dadurch problematisiert. Es sagt: Echt ist vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) das, was nicht aus dem Judentum ableitbar ist, was über die jüdisch-palästinische Gesellschaft hinausweist. Nach den soeben skizzierten Erkenntnissen gehören Jesus und seine ersten Nachfolger aber ganz in die jüdische Gesellschaft hinein. Was sich nicht im Rahmen der jüdisch-palästinischen Gesellschaft und ihrer religiösen Traditionen verständlich machen lässt, kann kaum als Jesusüberlieferung angesehen werden. Die Ergebnisse meiner damaligen Forschungen fasste ich in einem kleinen Büchlein „Soziologie der Jesusbewegung" (1977) zusammen. Diese ' Zu den Wandercharismatikem vgl, G. Theißen: Wanderradilialismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245-271; Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, TEH 194, München: Kaiser 1977 ''1985 = KT 35, Gütersloh: Kaiser ' l 9 9 7 .

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Schrift handelt freilich nicht von Jesus, sondern von der Jesusbewegung, d.h. von Jesus und seinen Nachfolgern. Es deutet die Jesusüberlieferungen auf dem Hintergrund eines „Wanderradikalismus" in einer von Konflikten gekennzeichneten Gesellschaft.

3. Kapitel: Erster Versuch an Nicht-Theologen Erkenntnisse der historischen Jesusforschung weiterzugeben Die „Soziologie der Jesusbewegung" war eine allgemein verständliche Zusammenfassung einer Reihe wissenschaftlicher Studien. Als ich sie schrieb, unterrichtete ich am Gymnasium Deutsch und Religion. Dabei stellte ich fest: Während sich die damalige Religionsdidaktik (in den 70er-Jahren) sowohl vom naiven Erzählen wie von der historisch-kritischen Analyse der überlieferten Erzählungen abwandte - der Unterricht sollte weniger vergangenheits- als gegenwarts- und problemorientiert sein - , gab es bei Schülern ein großes Bedürfhis nach spannenden Erzählungen und auch ein Interesse an deren kritischer Analyse. So ließ ich Schüler ein Tribunal über David spielen - inspiriert von Stefan Heym's „König David Report". Zu untersuchen war die Frage, ob David selbst ftir den Tod Sauls und Isbaals verantwortlich war, ob er also durch Mord zur Macht gekommen ist. Denn es konnte ja kaum bestritten werden, dass ihm der Tod dieser beiden konkurrierenden Herrscher den Weg zum Thron freigemacht hatte. Im AT gibt es nun viele spannende Geschichten. Das Leben ist hier mit seinen ganzen Problemen gegenwärtig. Das NT wirkt dagegen ein wenig langweilig. Nur bei der Geschichte vom „Ende des Täufers" (Mk 6,14-29) hat Gott ein wenig sex and crime im NT zugelassen. Das NT gilt bei Jugendlichen als langweilig. Trotz langen Religionsunterrichts verlassen viele die Schule ohne ein profiliertes Bild von der Gestah Jesu zu haben und ohne solides Wissen von den Anfängen des Christentums. Das ist schade - schon deshalb, weil es eine Bildungslücke ist. Nun wusste ich aus meinen sozialgeschichtlichen Forschungen, dass auch die neutestamentliche Zeit voll spannender Geschichten ist. Der jüdische Historiker Josephus hat uns viele von ihnen überliefert. Und sie können oft in treffender Weise Jesusüberlieferungen anschaulich machen. Wie erbaulich hört es sich an, dass man Böses nicht mit Bösem vergelten soll! Wie anschaulich aber wird solch eine demonstrative Gewaltlosigkeit, wenn man die Geschichte vom Protest der Juden gegen Pilatus erzählt, als dieser heimlich Kaiserbilder in die heilige Stadt Jerusalem hatte einfuhren wollen. Viele Juden strömten damals zu Pilatus nach Cäsarea und erklärten, sie

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wollten lieber sterben als den Verstoß gegen das Bilderverbot in ihrer Stadt dulden. Und sie ließen sich auch dadurch nicht beeindrucken, dass Pilatus sie durch Soldaten einkesselte und töten zu lassen drohte. Vielmehr warfen sie sich zu Boden und hielten demonstrativ ihren Hals hin. Und Pilatus hatte kapitulieren müssen!^ Die moderne Sozialgeschichte erkennt in solchen Geschichten die typischen und strukturellen Probleme der damaligen Zeit wieder: hier den Konflikt zwischen einer imperialen Verwaltung und einer einheimischen Kultur. Auf dem Hintergrund solcher Konflikte waren auch die Jesusüberlieferungen zu verstehen. Jesus starb, weil ihn die römische Verwaltung als Unruhestifter, der messianische Erwartungen in der Bevölkerung weckte, beseitigen wollte. Mir war klar: Mühsame Quellenanalysen lassen sich im Unterricht nur exemplarisch durchführen. Man kann auf diese Weise aber kein anschauliches und geschlossenes Gesamtbild der Zeit Jesu und der Geschichte Jesu geben. Damals kam mir die Idee Jesus und seine Zeit in Übereinstimmung mit den Ergebnissen historisch-kritischer Forschung in einer Erzählung darzustellen. Die Grundidee war einfach: Ein junger Jude namens Andreas^ wurde von Pilatus eφresst ihm Material über die neuen religiösen Bewegungen in Palästina zu beschaffen. Dabei stößt er auf die Spuren von Jesus. Ich begann die ersten Kapitel zu schreiben, fotokopierte sie, ließ sie in drei Klassen lesen und bewerten. Die Schüler schrieben mir auf Zetteln, was sie gut und was sie schlecht fanden. Ihre Reaktion berücksichtigte ich bei der Überarbeitung der Kapitel. Ich wollte dabei keinen Jesusroman im herkömmlichen Sinne schreiben, sondern sachliches Wissen vermitteln und zugleich die Grenzen unseres Wissens deutlich machen. Beim Schreiben folgte ich drei Grundsätzen. Der erste Grundsatz war die Indirektheit der Erzählung. Jesus sollte in der ganzen Erzählung nie direkt auftauchen, nur Jesusüberlieferungen. Denn auch der moderne Historiker begegnet Jesus nie direkt, sondern immer nur seinem „Schatten" in den Quellen. Aus den Quellen heraus muss er ein Bild von Jesus rekonstruieren. Der zweite Grundsatz war die Offenheit der Stellungnahme. Die Erzählung sollte deutlich machen, dass man Jesus verschieden deuten und vor allem verschieden bewerten kann. Sie sollte kein fertiges Bild von ihm geben, sondern ein umstrittenes Bild. Ursprünglich sollte das Buch „Streit um Jesus" heißen. Ein dritter Grundsatz war die Kontextualisierung der Ereignisse. Die Jesusüberlieferungen sollten in ihrem geschichtlichen Kontext erscheinen: Einer' Vgl. die beiden Berichte bei Josephus, Ant 1 8 , 5 5 - 5 9 und Bell 2 , 1 6 9 - 1 7 4 .

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seits im Kontext sozialer Konflikte im damaligen Judentum, andererseits der damaligen jüdischen Religion. Die wichtigsten sozialen Konflikte sollten in kleinen Konfliktepisoden veranschaulicht werden: also die Spannungen zwischen Römern und Juden, Stadt und Land, Arm und Reich, Sadduzäem und Pharisäern, Wüstengemeinde und Außenstehenden. Dadurch dass der Held der Erzählung, Andreas, von Pilatus zum Spion gegen sein eigenes Volk gemacht wird, bildet ein politischer Konflikt den Erzählrahmen - wobei er als Spion alle Konfliktzonen in seiner Gesellschaft ausleuchten soll. Die jüdische Religion musste dazu in ihren Grundlinien dargesteüt werden: Welcher Schüler kann sich heute etwa vorstellen, dass Monotheismus, der Glaube an einen einzigen Gott, einmal eine „Häresie" war, die ihre Vertreter oft in eine schwierige Lage brachte? Um latenten antijüdischen Einstellungen entgegen zu wirken, die noch immer unsere Kultur (und manchmal auch unsere Theologie) vergiften, ftihrte ich einen römischen Hauptmann Metilius ein, der als Antisemit mit den üblichen Vorurteilen, die es in der Antike gab, beginnt, der sich allmählich aber zu einem verständnisvollen Sympathisanten des Judentums entwickelt. Durch diese drei Erzählprinzipien hoffte ich in die Erzählung unser reflektierendes Verhältnis zum Erzählten aufzunehmen, so dass unsere kritischen Fragen und Zweifel nicht wie störende Einwürfe in eine Erzählung wirken, sondern zum Bestandteil einer spannenden Erzählung selbst werden. Die Indirektheit der Darstellung entspricht unserer Situation. Auch wir haben keinen direkten Zugang zu Jesus. Der Held der Erzählung, Andreas, gehört einer anderen sozialen Welt als Jesus selbst an. Seine Distanz zu Jesus soll die Distanz des modernen Lesers zu Jesus abbilden. Seine Auseinandersetzung mit Jesus aber auch Anstöße zu einer persönlichen Auseinandersetzung des Lesers mit der Gestalt Jesu geben. Und auch die Unsicherheit des modernen Lesers: Was hat Jesus denn nun wirklich gesagt und getan, wird in seiner Gestalt abgebildet: Er begegnet Jesus immer nur indirekt durch Zeugnisse anderer. Dabei habe ich die Erzählung bewusst so gestaltet, dass Andreas Jesus nur an einer Stelle direkt sieht: Er sieht den Gekreuzigten von fem. Und er denkt über die Kreuzigung im Lichte der Osterbotschaft nach. In der Tat wird bei der Kreuzigung historisch alle Skepsis durchstoßen. Niemand zweifelt an ihrer Geschichtlichkeit. Dass ein als Krimineller Hingerichteter zur Grundlage des Heils wird, ist unerflndbar. Im Kreuz liegt aber auch theologisch ein Zentrum des urchristlichen

' „Andreas" ist ein griecliischer Name. Schon der Name sollte andeuten, dass es sich um einen Juden an der Schwelle zur nicht-jüdischen Kultur handelt.

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Glaubens: Die Kreuzigung Jesu wird im Lichte der Auferstehung zum Ausdruck eines Glaubens und eines Mutes zum Leben, der immer wieder gekreuzigt und begraben wird um durch Gottes schöpferische Macht aus dem Nichts auferweckt zu werden. Die Offenheit der Stellungnahme war mir wichtig. Wir müssen mit menschlichem Respekt verschiedene Stellungnahmen zu Jesus würdigen: Stellungnahmen von Juden und Marxisten, von Christen und Nichtchristen. Jesus lässt nicht nur eine Stellungnahme zu. Über Jesus kommen Menschen ganz verschiedener Überzeugungen ins Gespräch: Juden, Moslems und Christen. In der Gestalt des Andreas habe ich jedoch meine eigene Stellungnahme formuliert: Denn am Ende verlässt er die Bühne als ein Jesusanhänger - als ein Christ. Manche haben das kritisiert, weil die Offenheit der Perspektiven so eingegrenzt wird. Andere wurden durch diesen Schluss mit dem Buch versöhnt, das vorher fur sie auch eine Anfechtung war. Die Kontextualisierung der Erzählung war mir besonders wichtig. Denn der historische Kontext ist dem normalen Bibelleser unbekannt. Nur der Historiker kennt ihn. Und der kann von daher Aussagen in den biblischen Texten besser beurteilen, z.B. die oft vehemente Polemik gegen Pharisäer in den Evangelien. Diese Polemik ist einseitig und wird den Anliegen dieser wichtigen religiösen Strömung im Judentum nicht gerecht. Was der Bibelleser über die Pharisäer erfährt, ist an Ausgewogenheit etwa dem vergleichbar, was ein Zeitgenosse über die Studentenrebellion erfährt, wenn er sich nur aus den Verlautbarungen einer konservativen Partei informiert. Die Kontextualisierung des Jesusbildes hat dabei ein zweifaches Ziel: 1. Durch Einbettung der Jesusverkündigung in die Konflikte der damaligen Zeit soll deutlich werden: Religion ist immer in soziale Zusammenhänge eingebettet, mag man sie leugnen oder auch nicht. Jesus nimmt mit seiner Verkündigung zu politischen und sozialen Fragen Stellung. Und daher kann auch das Christentum der Gegenwart gar nicht anders, als zu ihnen Stellung zu nehmen. Ein Christentum ohne soziales und politisches Gewissen kann sich nicht auf Jesus berufen. Ein Oberkirchenrat vertraute mir einmal an: Er habe mein Jesusbuch mit Begeisterung gelesen - und als er es dann noch einmal las, sei ihm aufgefallen, welche politischen Vorurteile darin stecken! Wenn für jemanden ein politisch und sozial engagiertes Christentum ein Vorurteil ist - dann hat er Recht. 2. Mit der Kontextualisierung der Erzählung verfolgte ich gleichzeitig ein zweites Ziel, das Judentum mit Sympathie darzustellen. Bis heute sind Antisemitismus und Antijudaismus (in Gesellschaft und Kirche) ein dunkles Erbe. Durch unsere lange Geschichte mit Juden (und erst recht durch den Holocaust) wurde es zu einem Kriterium für Humanität, wie wir uns zu Juden und zum Judentum verhalten. Ich habe bewusst Jesus als Juden darge-

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Stellt. Früher gab es Darstellungen von Jesus, die an ihm nicht das Jüdische schätzten, sondern nur das allgemein Menschliche. Dagegen wollte ich zeigen: Das, was uns bei ihm anspricht, ist sein Judentum. Wer Jesus liebt, liebt damit ein Stück des Judentums und weiß es oft nicht. Als ich die ersten Kapitel fertig hatte, erhielt ich 1978 einen Ruf an die Universität Kopenhagen. Ich musste das Unternehmen abbrechen. Denn nun musste ich erst einmal Dänisch lernen. Und war ein paar Jahre damit beschäftigt, mich nach fiinf Jahren außerhalb der Universität wieder in die Probleme meines Faches einzuarbeiten. Damit kommen wir zum letzten Kapitel in der Entstehungsgeschichte des Buches.

4. Kapitel: Erzählende Jesusforschung und akademische Theologie Als ich die Schule verließ um an die Universität zu wechseln, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich meine angefangene Jesuserzählung je zum Abschluss bringen wlirde. War mit der Notwendigkeit Schüler zu unterrichten nicht mein existenzielles Interesse an diesem Projekt eigentlich erloschen? Aber ich hatte zwei heranwachsende Söhne. Sie kamen damals ins Jugendalter. Ich hatte das Bedürfiiis fìir sie das Wichtigste über Jesus aufzuschreiben. Außerdem lernte ich viele Studenten kermen, denen so eine Erzählung nicht schaden konnte. Doch davon später mehr. Auf jeden Fall zog ich mich in meinem ersten Forschungssemester im Winter 1982/83 ftir drei Wochen in den Schwarzwald zurück und schrieb mit viel Askese und Konzentration den ersten Entwurf fertig. In meinem Rechenschaftsbericht über meine Forschungen an Rektor (und Ministerium) habe ich von diesem Manuskript nichts geschrieben. Es war ja keine seriöse Forschung. Zum Glück konnte ich andere Manuskripte fertig machen. Die flihrte ich als Nachweis meines Forscherfleißes auf. Als ich mit dem fertigen Manuskript nach Hause kam, nahm ich mir vor, meinen Söhnen (damals 13 und 14 Jahre alt) jeden Abend ein Kapitel vorzulesen. Aber schon am zweiten Abend drängten sie mich so sehr, dass ich das Ganze in einem Zug vorlas - das unerwartete Interesse tat mir als Autor gut. Ich dachte: Was für ein spannendes Buch hast du da geschrieben! Aber das war ein vorschneller Schluss. Nach ein paar Wochen war die Reinschrift des Manuskripts fertig. Ich fotokopierte sie mehrere Male und verteilte sie an eine Reihe von Probelesern - meist an Söhne und Töchter von Kollegen im Alter von 12 bis 20 Jahren. Auch meinen Söhnen gab ich je ein Exemplar. Sie sollten es noch einmal in Ruhe durchsehen und Vorschläge zur Änderung machen. Sie mach-

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ten sich pflichtbewusst an die Arbeit. Aber nach ca. 7 Kapitel Lektüre brachten sie mir beide das Manuskript mit der Bemerkung zurück: Ab jetzt würde es ihnen zu langweilig. Was war geschehen? Folgende Erklärung lag nahe: Die ersten Kapitel hatte ich als Lehrer in der Schule geschrieben, als ich jeden Tag mit Jugendlichen zu tun hatte. Den größten Teil des Buches aber hatte ich nach 4 Jahren Hochschultätigkeit geschrieben. Meine Gesprächspartner waren jetzt Studenten. Unwillkürlich hatte ich sie als Adressaten meiner Erzählung vor Augen. Das Echo der älteren Probeleser bestätigte meine Vermutung. Die 16- bis 20-jährigen sagten mir nämlich, die ersten Kapitel seien ein wenig langweilig, aber vom 7. Kapitel an würde es interessant. Mir wurde klar: Das Buch war stilistisch uneinheitlich. Ich musste es noch einmal überarbeiten. Aber es gab noch andere Gründe der Kritik. Ich hatte ja noch nie eine Erzählung geschrieben; auch nie den Ehrgeiz gehabt einen Roman zu schreiben. Seit den letzten (Nach-)Erzählungen in der Schule war ich nie mehr als Erzähler tätig gewesen, sondern immer nur als Wissenschaftler. Das merkte man den Dialogen an. Die bestanden vor allem aus Gedanken. Ich hatte vernachlässigt, dass Menschen beim Sprechen anwesend sind, dass sie sich anschauen, bewegen, gestikulieren - dass sie eine Köφersprache haben. Meine Dialoge waren Diskussionen sprechender Köpfe, aber nicht Gespräche lebender Menschen. Bei der notwendigen Überarbeitung musste ich mich entscheiden: Sollte es ein Buch fur 12-14jährige oder für Jugendliche ab ca. 16 Jahren und Erwachsene werden? Die Entscheidung war eindeutig. Seitdem ich nicht mehr tagtäglich Kinder und Jugendliche um mich hatte, hatte ich den Kontakt mit ihnen verloren. Ich dachte jetzt eher an Studenten als potentielle Leser. Von ihnen hat eine ganze Reihe das Manuskript gelesen und mich zum Weitermachen ermutigt. Außenstehende stellen sich Theologiestudierende meist als Menschen vor, die begeistert und mit gebührendem Eifer die Bibel mit wissenschaftlichen Methoden erforschen. Natürlich sind sie alle Jesusspezialisten. Und wissen so gut wie alles über die Umwelt Jesu. Wer solch eine Vorstellung von Theologiestudierenden hat, hat Gelegenheit sich jetzt von ein paar Illusionen zu befreien. Es fallt seit einigen Jahrzehnten schwer Studenten zur wissenschaftlichen Erforschung der Bibel zu motivieren (auch wenn es meist gelingt). Das gilt für Studenten ganz verschiedener theologischer Überzeugung - nicht nur für evangelikal geprägte Studenten, die der wissenschaftlichen Bibellektüre von vornherein skeptisch gegenüber stehen. Ich nenne einige Gründe für die Schwierigkeiten mit der historisch-kritischen Exegese - Gründe, die zugleich Gründe dafür waren meine Jesuserzählung zu Ende zu schreiben und zu überarbeiten.

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1. Die historisch-kritische Exegese hat ihren Schwung verloren. Sie war einst die große Oppositionspartei in Theologie und Kirche - Oppositionsparteien sind fiir junge Menschen immer attraktiver als die Regierungspartei. Sie haben etwas mehr Esprit. Heute aber ist in Theologie und Kirche die historisch-kritische Exegese aus einer Oppositions- zur Regierungspartei geworden. Damit wurde sie ein wenig langweilig. Und wird wie alle Regierungsparteien fur Missstände verantwortlich gemacht, die sie nicht verursacht hat. 2. Zwischen Text und Student schieben sich heute viele Methoden: Textkritik, Literaturkritik, Formgeschichte, Redaktionskritik, Religionsgeschichte, Semantik, Strukturanalyse, Zeit- und Sozialgeschichte, narrative und rhetorical criticism usw. Und dazu kommen viele grundsätzliche, weitreichende, tiefsinnige und anders lautende hermeneutische Überlegungen. Kurz: Man muss auch Theologiestudenten wieder zu einem etwas unmittelbareren Verhältnis zu den biblischen Texten verhelfen - zu einer „vermittelten Unmittelbarkeit", d.h. zu einer Unmittelbarkeit, die nicht naiv ist, sondern den Prozess historisch-kritischen Forschens durchlaufen hat. 3. Gleichzeitig schiebt sich zwischen Text und den wissenschaftlichen Leser eine große Auslegungstradition, die in immer dicker werdenden Kommentaren fortgeführt wird. Das kann einen Studenten ganz schön verwirren. Denn die Forschung fuhrt zu verschiedenen Ergebnissen. Zu jeder Meinung gibt es eine Gegenmeinung. Die scheinbare Beliebigkeit der Ergebnisse fordert nicht die Motivation zum wissenschaftlichen Studium. Vielleicht wird jetzt verständlich, warum ich der Meinung bin, dass man gerade Theologiestudenten ermutigen muss sich unmittelbar und persönlich mit biblischen Texten auseinander zu setzen. Manche sehen leider in solch einer persönlichen Auseinandersetzung eine Alternative zu der wissenschaftlichen Arbeit, die ihnen nichts „bringe". Hier möchte mein Jesusbuch gegensteuem: Es ist voll von Wissenschaft. Das zeigt die Struktur der Erzählung. Ein junger Mann forscht kritisch nach Jesus. Das zeigen die Anmerkungen und der ständige Rückgriff auf die Quellen. Und doch darf man das Buch lesen und die wissenschaftliche Mühe vergessen, die es gekostet hat. Wissenschaftliche und persönliche Auseinandersetzung mit biblischen Texten sind kein Gegensatz, im Gegenteil: Erst durch wissenschaftliche Beschäftigung mit Jesusüberlieferungen und ihrer Zeit ist mir Vieles aufgegangen, was für mich auch persönlich von Bedeutung ist. Nun gibt es unter Universitätslehrern zweifellos eine Tendenz die Wissenschaft vom Leben abzuheben. Das beginnt mit der Sprache. Ein verständlicher Satz ist für viele Wissenschaftler fast ein unwissenschaftlicher Satz. Zumindest haben wir in Deutschland eine unselige Tradition Tiefsinn und Unklarheit zu verwechseln. Was nicht kompliziert formuliert wird, hat

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wenig Chancen in der Wissenschaft ernst genommen zu werden. Ein allgemein verständliches Buch, erst recht eine Erzählung, kann eigentlich nichts Gutes für die Wissenschaft bringen. Als ich in der Entstehungszeit des Buches - oft in vorgerückter Stunde - Kollegen von meinen Plänen eines Erzählbuches über Jesu berichtete, hatte ich oft den Eindruck, dass die Augenbrauen des Gesprächspartners ftir ein paar Sekunden enger aneinander rückten oder seine Pupillen größer wurden oder seine Haare sich heimlich sträubten. Und während er höflich sagte: „Das ist ja ganz interessant, was Sie da schreiben", spürte ich durch die Körpersprache des andern hindurch eine andere Botschaft: „Um Gottes willen, was machen Sie denn da für einen unwissenschaftlichen Unsinn!" Trotzdem wurde das Manuskript fertig. Ich nahm es bei Vorträgen mit. In den kirchlichen Hochschulen in Neuendettelsau, Naumburg und Leipzig fand sich die Gelegenheit jeweils Auszüge Kollegen vorzulesen. Dabei gab es interessante Gespräche. Die Grundstimmung war: „Wir hatten ja Schlimmes erwartet, aber ganz so schlimm ist es nicht." Zunächst wollte ich all die Überlegungen, Verteidigungen, Erklärungen in diesen Gesprächen in einem Vorwort zusammenfassen. Aber das Vorwort wurde immer größer. Da kam mir eine neue Idee. Alles was ich zur Entschuldigung und Verteidigung meines etwas unwissenschaftlichen Projekts zu sagen hatte, verstreute ich über das Buch in Form eines fiktiven Briefwechsels mit einem Kollegen. Der Name „Kratzinger" wurde gewählt um an den Vorsitzenden der Glaubenskongregation zu erinnern (den deutschen Kardinal Ratzinger). Denn nicht nur der Papst geht gegen Abweichler streng vor. Auch die Wissenschaft hat ihre rigorosen Normen. Außerdem hatte Kardinal Ratzinger tatsächlich einmal meine Thesen über den urchristlichen Wanderradikalismus beanstandet, als er sie in einem Buch eines katholischen Kollegen fand.' So entstand die Gestalt des Kollegen „Kratzinger". Aber auch so wurden nicht alle Einwände diskutiert. Ich nenne drei Gruppen von Bedenken. Es sind wissenschaftliche, politische, ästhetische Argumente. 1. Wissenschaftliche Einwände können sich gegen viele Einzelheiten richten. Andere Neutestamentier werden vieles anders sehen. Ich gebe in diesem Buch nicht das Bild der Wissenschaft wieder (das gibt es nicht), sondern ein Bild, das sich mir im Laufe meiner wissenschaftlichen Forschungen ergeben hat und das revidierbar ist. Entscheidender ist ein ' Es handelt sich um das Buch des katholischen Schweizer Neutestamentiers H.-J. Venetz, So fing es mit der Kirche an. Ein Blick in das Neue Testament, Zürich u.a.: Benziger M992. In ihm hatte H.-J. Venetz meine Wanderradikalismusthese referiert. Das entsprechende Kapitel hatte eine Anfrage aus Rom ausgelöst, ohne dass es zu emsthaften Konsequenzen kam.

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grundsätzlicher Einwand. Wenn ein Wissenschaftler einen Roman über sein Fachgebiet schreibt, könnte das so missverstanden werden, als zweifle er am Wert streng wissenschaftlichen Arbeitens. Ist auch er von der Welle eines post-modemen Irrationalismus erfasst, wo Phantasie und Gefühl höher geschätzt werden als wissenschaftliche Methodik? Ich habe in ersten Gesprächen über das Buch gemerkt: Es wird oft gelesen als eine Art „Alternative" zur wissenschaftlichen Kritik, als ein romantischer Weg sich Jesus zu nähern, nachdem man mit aufklärerischer Strenge nicht mehr vorwärts kommt. Absicht des Autors und seine Wirkung müssen sich nicht decken. Hier widersprechen sie einander diametral. Ich habe dieses Erzählbuch nicht geschrieben, weil ich am Werte historisch-wissenschaftlichen Fragens zweifelte, sondern im Gegenteil: Ich halte den historisch-kritischen Umgang mit unseren Traditionen für so wichtig, dass man ihn unbedingt Nicht-Wissenschaftlern zugänglich machen muss. Die Absicht des Buches ist aufklärerisch. Es wirbt für eine wissenschaftliche Haltung - und möchte einer modischen Distanzierung von der Wissenschaft entgegenwirken. Zehn Jahre nach seinem Erscheinen habe ich zusammen mit Armette Merz ein wissenschaftliches Lehrbuch über Jesus folgen lassen, das auch für gebildete Laien zugänglich ist. Die argumentative Auseinandersetzung mit allen Grundfragen christlichen Glaubens (verständlich auch fur Nicht-Glaubende) ist für mich eine selbstverständliche Verpflichtung. 2. Auch politische Einwände sind nahe liegend. Die in dem Jesusbuch gegebene Darstellung unterscheidet sich von anderen Jesusdarstellungen durch ein politisches Bewusstsein: Die Verkündigung und das Wirken Jesu werden in die sozialen und politischen Konflikte seiner Zeit eingeordnet. Man soll in ihm den Willen spüren Klassengegensätze zu überbrücken; sich mit dem schwächeren Partner in sozialen Konflikten zu identifizieren, Toleranz und Zuwendung zu Minoritäten, zu Außengruppen und Behinderten zu fordern. Ich glaube nicht, dass das Christentum hier „neutral" ist. Es enthält eindeutige Veφflichtungen. Es hat auch politische Konsequenzen. Wenn Christen heute solche Konsequenzen ziehen, so köimen sie sich auf Jesus berufen, auch wenn sie fur ihre konkreten Entscheidungen die Verantwortung selbst übernehmen müssen. Das Buch will dafür sensibel machen: Glaube und Christentum sind von Anfang an in soziale und politische Kontexte eingebettet. Da es diese Zusammenhänge gibt, muss man sie verantwortlich gestalten. Ich hätte Verständnis dafür, wenn mein Buch von denen abgelehnt und kritisiert wird, die für ein „unpolitisches" Christentum eintreten. Sie hätten das Buch richtig verstanden. Sie wären hervorragende Leser. Dies Buch widerspricht ihnen nämlich. 3. Auch ästhetische Einwände wären verständlich. Das Buch ist formal ein Roman. Es bemüht sich um ein Mindestmaß an ästhetischer Qualität. Es ist

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damit auch ästhetischen Werturteilen unterworfen. Nun hat sich in der Moderne das Ästhetische von außerästhetischen Zwecken emanzipiert - von didaktischen, ethischen wie religiösen Zwecken. Literatur und Kunst sollen „autonom" sein, d.h. ihren eigenen Gesetzen und Möglichkeiten folgen. Dies Buch aber verfolgt außerästhetische Ziele. Vielleicht sind es gute Ziele. Aber gerade das kann ästhetisch problematisch sein: Gutgemeinte Absichten werden in der Literatur schnell zum „Edelkitsch". Und wer wollte leugnen, dass eine Jesusdarstellung „Edelkitsch" werden kann! Ich kann dazu nur so viel sagen: Beim Schreiben war mir diese Gefahr bewusst. Ob ich sie vermieden habe, will ich nicht selbst beurteilen. Nur allgemein würde ich fragen: Wenn das Ästhetische (also Kunst und Literatur) nicht zweckgebunden sein soll - muss deshalb das Zweckgebundene unästhetisch sein? Wenn die Didaktik nicht bevormundend ist - kann sich nicht auch die Ästhetik dann freier entfaken? Die drei Haupteinwände haben formal eine vergleichbare Struktur: Sie monieren eine Grenzüberschreitung. Wissenschaft wird in vorwissenschaftlicher Form vermittelt, Religion wirkt in politische und soziale Kontexte hinein, eine ästhetische Form dient außerästhetischen Zwecken. Solche Grenzverletzungen berühren tief verwurzelte Territorialinstinkte. Und nicht nur Herr Kratzinger ist da empfindlich. Ich könnte jetzt noch viel über diese Familie Kratzinger erzählen. Also über die Sondergruppe der historisch-kritischen Exegeten. Sie hat sehr sympathische Familienmitglieder - aber es gibt auch Ekel unter ihnen. Im Übrigen ist auch sie eine Erzählgemeinschaft. Sie lebt von den Erzählungen von Jesus - von einem Wanderprediger, der als Nicht-Sesshafter, Arbeitsloser, Familienloser durch die Lande zog. In seinem Gefolge ein paar Jünger, ein paar Frauen; auch Kinder zog er an. Er hatte einige radikale Ansichten. Er war ein Dichter, der wunderbare kleine Geschichten erfand. Literaturgeschichtlich gehört er zur (ansonsten weithin verschollenen) Bauerndichtung des antiken Judentums. Mit seinen kleinen Geschichten hat er eine Erzählgemeinschaft gegründet, die noch heute existiert. Auch die historischkritischen Exegeten gehören zu dieser Familie. Auch sie sorgen dafiir, dass seine Geschichten und seine Geschichte weiter erzählt werden. Ein kleiner Beitrag dazu ist mein Buch „Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form." Im Rückblick auf die Wirkung des Buches in dieser großen Erzählgemeinschaft kann ich heute sagen: Die Aktualisierung des biblischen Erzählschatzes kann quer durch theologische Positionen und Fronten hindurch verbinden. Das Buch wurde von Menschen und Christen verschiedener Prägung positiv aufgenommen. Es polarisiert weniger als abstrakt formulierte theologische Gedanken. Es wurde von Evangelikaien wie von sozialethischen Christen, von Offenbarungstheologen wie

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von Liberalen, von Theologen wie von Laien gern gelesen. Es hat eine große Verbreitung gefunden - obwohl es nicht zu den Enthüllungsbüchem gehört, die zeigen wollen, dass alles, was die Kirche über Jesus sagt, Unsinn ist. Es zeigt, man kann auch in einer unaufgeregten Weise Menschen für Jesus öffnen - und die Jesusüberlieferung für sie.

Historische Skepsis und Jesusforschung. Oder: Meine Versuche über Lessings garstigen breiten Graben zu springen' Der Untertitel dieses Aufsatzes suggeriert, es gäbe eine theologische Sportart „Weitsprung über Lessings Graben" - über den tiefen Graben der historischen Kritik. Aber es ist eine Sportart, bei der niemand Sieger wird. Niemandem ist es gelungen diesen Graben zu überspringen. Trotz verschiedener Anläufe landete bisher jeder im Graben. Dabei kann man eine Entdeckung machen: Der Graben ist zwar voll Wasser, aber es macht Spaß in ihm zu schwimmen. Eben dazu möchte ich einladen: in den Graben zu springen. Nicht als Weitspringer, wohl aber als Schwimmer gelangen wir ans andere Ufer. Wir brauchen vielleicht eine hilfreiche Hand, die uns ans Trockne zieht. Aber auch sie müssen wir ergreifen. Mit diesem Bild habe ich das Wichtigste gesagt. Es bleibt Raum genug mit ein paar Anmerkungen das Bild zu deuten. Worin besteht der Graben? Welche Dimensionen hat er? Es ist der Graben zwischen historischem Wissen und Glauben. Glaube ist unbedingte Gewissheit, ein Mut zum Leben und zum Sterben, der sich auf die Person Jesu stützt und durch sie geprägt ist. Alles, was wir von Jesus wissen, ist aber durch historische Quellen vermittelt. Deren Auslegung wird immer umstritten bleiben. Unser Wissen von Jesus ist mehr oder weniger hypothetisch. Denn man kann immer sagen: Es könnte auch anders sein. Der Glaube aber sagt apodiktisch: So ist es. Das Problem ist: Wie kann bedingtes historisches Wissen zur Grundlage unbedingter Gewissheit werden? Das war Lessings Problem, als er im Jahre 1777 seine kleine Schrift „Über den Beweis des Geistes und der Kraft" schrieb. Er war in der Beurteilung der Jesusüberlieferung kein radikaler Skeptiker. Aber er wusste: Im Bereich der Geschichtswissenschaft gibt es keine notwendigen Urteile, sondern nur „zufällige Geschichtswahrheiten", die unter dem Vorbehalt stehen, es könnte auch anders gewesen sein. Unbedingte Gewissheit kannte seine Zeit nur in Form „notwendiger Vemunftwahrheiten". Zwischen beiden sah er eine tiefe Kluft: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Be' Dieser Aufsatz erschien zunächst auf Englisch unter dem Titel „Historical Scepticism and the Criteria of Jesus Research" in: SJTh 49 (1996) 147-176, dann in überarbeiteter deutscher Fassung in G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 233-269. Für die vorliegende Veröffentlichung wurde er nochmals überarbeitet und erweitert.

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weis von notwendigen Vemunftwahrheiten nie werden." Angesichts dieser Kluft rief er aus: „Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und emstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen, der tu' es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet einen Gotteslohn an mir."^ Nach über 200 Jahren historisch-kritischer Forschung ist der Graben tiefer, länger und breiter geworden. 1. Der Graben ist tiefer geworden. Historische Quellenkritik hat an Radikalität zugenommen. Wer sich einmal auf historisch-kritische Forschung eingelassen hat, der weiß: Alle Quellen über Jesus sind von Menschen geschaffen, sind einseitig, tendenziös, möglicherweise in vieler Hinsicht unhistorisch. Nie werden wir die Chance haben sie an den Ereignissen selbst zu übeφrüfen. Wir können sie immer nur mit anderen Quellen vergleichen, mit Quellen, die wiederum einseitig und tendenziös sind. Historisches Wissen ist irrtumsfahige Rekonstruktion aufgrund irrtumsfahiger Quellen. 2. Der Graben ist verzweigter geworden. Selbst wenn wir ein historisch zutreffendes Bild von Jesus besäßen und wüssten: So ist es gewesen und nicht anders - uns würde ein zweites Problem zu schaffen machen: Alles was wir über Jesus erfahren, ist ableitbar, hat Analogien und Genealogien. Alles ist eingebettet in einen geschichtlichen Kontext, nichts ist absolut. Das Problem des historischen Relativismus droht Jesu Einzigartigkeit aufzulösen. Der Graben, der zu ihm fuhrt, führt in ein Labyrinth von Gräben, in dem alles mit allem in Verbindung steht und der Weg zum Ausgang unauffindbar ist. 3. Der Graben ist breiter geworden. Auch dazu ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, das Problem des historischen Relativismus ließe sich lösen, d.h. wir hätten in den Traditionen über Jesus etwas Unverwechselbares, Unableitbares und Singulares erkannt - so bliebe das Problem der histori^ Vgl. G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: K. Wölfel (Hg.): Lessings Werke III, Schriften II, Frankfurt: Insel 1967, 307-312, dazu den Kommentar von K. Beyschlag, ebd., S. 638-640. Das Bild vom Graben findet sich dort S. 311. Zwei Unterscheidungen verbinden sich bei Lessing: Die rationalistische Unterscheidung zwischen notwendigen Vernunftwahrheiten und zufälligen Geschichtswahrheiten, die auf Leibniz' Unterscheidung zwischen vérités de fait und vérités de raison zurückgeht. Femer innerhalb der vérités de fait die Unterscheidung zwischen den Tatsachen, die wir unmittelbar erfahren können, und denen, die wir nur vermittelt durch Zeugen und Quellen kennen. Diese Unterscheidung stammt aus einer empiristischen Tradition. Lessing wäre zufrieden, wenn vermittelt bezeugte Tatsachen durch sachliche Analogien bestätigt würden, die man in der Gegenwart unmittelbar erfahren könnte - also wenn z.B. nicht nur in der Zeit Jesu, sondern in der Gegenwart Wunder geschehen würden. Die Spannung zwischen dem rationalistischen und dem empiristischen Denkschema wird betont von L. P. Wessel, Lessing's Theology. A Reinteφretation. A Study in the Problematic Nature of the Enlightenment, The Hague/Paris: Mouton 1977, 106ff.ll9ff. Eine kurze Skizze der Theologie Lessings bietet A. Schilson, Lessings Christentum, KVR 1463, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980.

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sehen Distanz. Der Teufelsaustreiber und Weltuntergangsprophet Jesu gehört in eine versunkene antike Welt, die sich mit jedem Tag von unserer Welt entfernt. Die Fremdheit dieser Welt anzuerkennen gehört zum wissenschaftlichen Ethos jedes Historikers. Nichts furchtet er so sehr wie den Vorwurf Jesus zu modernisieren^ und ihn nach dem Motto zu inteφretieren: Jesus, recht verstanden, hat im Grunde immer schon gesagt, was ich meine. Wir müssen die Fremdheit und Andersartigkeit des historischen Jesus anerkennen. Die skizzierten drei Probleme - das Problem historischer Quellenkritik, des historischen Relativismus und der historischen Distanz - erklären, warum niemand über Lessings Graben springen kann. Niemand kann in Jener theologischen Disziplin siegen, die man „Weitsprung über Lessings Graben" nennen könnte. Aber wonach suchen wir eigentlich, wenn wir über den Graben zu springen versuchen? Worin bestünde der erste Preis? Wir suchen Gewissheit über eine historische GestaU um in verantwortlicher Weise eine religiöse Lebensdeutung und Lebenspraxis auf ihr zu gründen. Dabei verbinden wir zwei Fragen: die historische Frage, wie wir in Kontakt mit der Geschichte, und die religiöse Frage, wie wir in Kontakt mit Gott kommen können. Lessing hat beide Fragen unterschieden. Aber im christlichen Glauben hängen sie zusammen. Offen ist nur, wie: Ist etwa die historische Gewissheit die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur Begründung religiösen Glaubens? Geht dieser von historischen Gewissheiten aus, greift aber über sie hinaus - und wäre daher verwundbar, wenn sich die historischen Gegebenheiten anders als bisher darstellten? Müsste sich der Glaube dann anders verstehen als vorher? Oder kann man die beiden Fragen auch anders kombinieren? Ist es für den christlichen Glauben eine notwendige Bedingung Kontakt mit Gott zu bekommen - und eine hinreichende Bedingung diese religiöse Gewissheit mit einer historischen Gestalt zu verbinden? Ist es dabei gleichgültig, in welchem Ausmaß diese Gestalt historisch ist? Könnte es ausreichen, dass sie unsere Geschichte in irgendeiner Weise berührt - mag dieser Berührungspunkt auch eingehüllt sein in Mythos und Legende? Weil es sich bei der Suche nach historischer und religiöser Gewissheit um zwei verschiedene Fragen handelt, behandeln wir beide nacheinander. Wir fragen zunächst: Gibt es in der Jesusforschung historische Gewissheit, die Grundlage religiöser Gewissheit werden kann? Danach fragen wir umgekehrt: Gibt es in der Beziehung zum biblischen Jesus religiöse Gewissheit, die sich in überzeugender Weise mit historischem Wissen verbinden kann?

' H. J. Cadbury, The Peril of Modernizing Jesus, New Yoric: Macmillan 1937 = London: SPCK 1962.

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1. Über die Möglichkeit historischer Gewissheit in der Jesusforschung Wie löste Lessing das Problem? Für Lessing konnte die gesuchte persönliche Gewissheit nur durch Übereinstimmung von zufälligen historischen Sachverhalten mit „notwendigen Vemunftwahrheiten" entstehen - also von Wahrheiten, die der Mensch mitbringt, wenn er die Quellen liest. Solch eine einleuchtende Vernunftwahrheit war fur ihn das Liebesgebot. Es überzeugte ihn auch in Form der unhistorischen Legende vom Testament des Johannes, das nur aus drei Worten bestanden haben soll: „Kindlein, liebet einander!"'' Lessings Lösung kann nicht unsere sein - schon deshalb nicht, weil wir an der Existenz notwendiger Vemunftwahrheiten, abgesehen von formalen und tautologischen Sätzen, zweifeln. Aber unsere Lösung kann dennoch an ihn anknüpfen. Wir fassen die theoretischen Voraussetzungen dieser Lösung in drei Punkten zusammen: 1. Gewissheit entsteht nie ausschließlich durch äußere Daten (seien sie nun empirisches Material oder historische Quellen), sondern immer nur durch Übereinstimmung axiomatischer Überzeugungen in uns mit zufälligen äußeren Daten. Axiomatische Überzeugungen (oder Ideen) sind all jene Sätze, bei denen wir keine Begründungspflicht empfinden, sondern mit denen wir andere Sätze begründen - weil sie in unseren Augen niemals nicht wahr sind. Gewissheitserfahrung entsteht, wenn schon bestehende Gewissheiten durch äußere Daten „bestätigt" werden.^ 2. Gewissheit ermöglichende axiomatische Überzeugungen sind in der Geschichte nicht angeboren, sondern historisch erworben. Überzeugungen, die das moderne historische Bewusstsein seit der Aufklärung konstituieren, lassen den historischen „Graben" so unüberwindbar erscheinen. Es sind vor allem die drei vorhin skizzierten Überzeugungen, dass alle Quellen von irrtumsfähigen Menschen gemacht sind, dass alle Ereignisse in Analogien und Genealogien eingebettet sind und dass sich alle Gestalten in der Geschichte anachronistischen Rückprojektionen entziehen. Wir gewinnen diese Überzeugungen nicht erst aufgrund konkreter Quellenarbeit, sondern bringen sie als Ideen schon mit, wenn wir Quellen analysieren. Sie bestätigen sich dabei immer wieder. Es sind bewährte Überzeugungen und empirisch getestete Ideen.

'' G. E. Lessing, Das Testament Johannis (1777), in: K. Wölfel (Hg.): Lessings Werke III, Schriften II, Frankfurt: Insel 1967, 313-318. ' Über axiomatische Überzeugungen vgl. D. Ritsehl, Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: Ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München: Kaiser 1986, 147-166.

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3. Wir können die Axiome historischen Bewusstseins nicht willkürlich außer Kraft setzen und dadurch Glauben ermöglichen, dass wir irrtumsfreie (inspirierte) Quellen, analogielose Ereignisse oder ewige Wahrheiten postulieren. Nicht gegen unsere axiomatischen Überzeugungen, sondern mit ihnen müssen wir Gewissheit im Umgang mit dem historischen Jesus finden. Dabei soll im Folgenden gezeigt werden, wie die genannten drei Axiome eine innere Dialektik enthalten. Durchdenkt man sie konsequent, so umfassen sie auch das Gegenteil ihrer selbst und eröffnen die Möglichkeit einer Selbstbegrenzung der historischen Skepsis, des historischen Relativismus und der historischen Fremdheit. Sie begründen dadurch keine religiöse Gewissheit, aber sie stehen ihr nicht im Wege. Nicht indem wir sie überspringen, sondern indem wir in sie eintauchen wie in kaltes Wasser, gelangen wir zu den uns zugänglichen Gewissheiten. Die im Folgenden zu entfaltende These ist: Die drei Axiome modemer historischer Forschung stehen mit den Kriterien der Jesusforschung in Zusammenhang. Diese Kriterien bilden zwar keine Brücke, die uns trockenen Fußes über Lessings garstigen Graben gehen lässt, aber ergeben eine Art Rettungsring, der uns vor dem Ertrinken bewahrt, wenn wir den Graben durchschwimmen. Erinnern wir noch einmal an die in der bisherigen Forschung geltenden Kjiterien: Das Differenzkriterium ergibt durch Vergleich mit dem Judentum und Urchristentum ein Minimum an historischem und authentischem Material. Es wird ergänzt durch das Kohärenzkriterium, das alle sachlich zu diesem Minimum passenden Überlieferungen für authentisch erklärt. Als drittes Kriterium gilt die Mehrfachbezeugung von Überlieferungen, durch die weitere Überlieferungen ergänzt oder ihre Historizität wahrscheinlicher wird. Dieser Kriterienkatalog ist m.E. abzulösen durch ein historisches Plausibilitätskriterium: Nicht das, was zur jüdischen Umwelt und zum Urchristentum in Differenz steht, ist echt, sondern was als individuelle Erscheinung plausibel in seinen jüdischen Kontext eingeordnet werden kann und die urchristliche Wirkungsgeschichte Jesu plausibel zu erklären vermag.^ Kontextplausibilität und Wirkungsplausibilität sind die entscheidenden Kriterien. Diese Neuformulierung der Kriterien zielt nicht darauf die alten Kriterien durch völlig neue zu setzen. Wohl aber werden die Elemente des alten Kriterienkatalogs neu arrangiert und durch eine stärkere Berücksichtigung von historischem Kontext und historischer Wirkung ergänzt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass unsere Neuformulierung des Diffe-

' Vgl. G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. V o m Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, N T O A 34, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1997.

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renzkriteriums den axiomatischen Grundüberzeugungen modernen (profanen) historischen Forschens entspricht. Die Idee menschUcher Unvollkommenheit und Irrtumsanfälligkeit findet ihren angemessenen Ausdruck im Kriterium der „Wirkungsplausibilität". Aufgabe historischen Forschens ist es Quellen so zu inteφretieren, dass sie als Auswirkung der von ihnen bezeugten Geschichte (oder der Autoren dieser Quellen) erkennbar werden. Anders gesagt, historische Forschung hat nicht nur die Aufgabe rekonstruierte Ereignisse zu erzählen, sondern sie so zu erzählen, dass die von ihnen zeugenden Quellen als Auswirkung dieser Ereignisse verständlich werden. Wir müssen also in der Jesusforschung die historische Wirkung Jesu, wie sie uns in der Gestalt der von ihm zeugenden Quellen vorliegt, erklären und interpretieren. Aufgrund menschlicher Unvollkommenheit und Irrtumsanfalligkeit haben wir in diesen Quellen nie ein ganz kohärentes, selten aber auch ein ganz inkohärentes Bild der Ereignisse. Wir finden vielmehr beides. Inkohärenzen sind für uns wertvolle Indizien: Sofern sie auf Widersprüche zu dominierenden Tendenzen in den christlichen Quellen zurückgehen, sind sie ein Indiz historischer Erinnerung. Was sich gegen die Tendenz in Jesus ein göttliches Wesen zu sehen erhalten hat, dürfte z.B. auf den historischen Jesus zurückgehen. Dies ist das alte Kriterium der Differenz zum Urchristentum, das (als Unterkriterium historischer Wirkungsplausibilität) zum Kriterium der „Tendenzwidrigkeit" konkretisiert wurde. Das andere Unterkriterium besteht in der Auswertung der Übereinstimmung des Jesusbildes in verschiedenen Quellen, sofern diese unabhängig voneinander sind. Das ist das alte Kohärenzkriterium. In dem, was sich quer durch verschiedene Quellen durchhält, kann die Geschichte selbst nachwirken. Die zweite axiomatische Grundüberzeugung modernen historischen Forschens, die Idee der Relativität aller Geschehnisse, findet ihren Ausdruck im Kriterium der Kontextplausibilität. Wir müssen alle Jesusüberlieferungen geschichtlich relativieren, d.h. in ihren jüdischen Kontext einordnen und dabei sowohl Übereinstimmungen als auch Abweichungen im Verhältnis zu ihm untersuchen. Damit nehmen wir das traditionelle Kriterium der Differenz gegenüber dem Judentum auf und formulieren es in ein Kriterium kontextueller historischer Individualität um - als erstes Unterkriterium von Kontextplausibilität. Denn es wird durch ein zweites Unterkriterium komplementär ergänzt: durch die Suche nach Übereinstimmungen mit dem jüdischen Kontext oder nach Kontextentsprechungen. Nur das, was im konkreten jüdischen Kontext des 1. Jh. n.Chr. denkbar ist, kann dem historischen Jesus zugeschrieben werden. Der historische Jesus steht nicht „absolut" in der Geschichte, sondern ist in die Geschichte des Judentums seiner Zeit verwoben. Eben darin besteht seine „Relativität". Und eben das behauptet

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die Grundidee historischen Relativismus für alles Geschichtliche in Bezug auf seinen jeweiligen Kontext. Bleibt noch die dritte moderne Grundüberzeugung historischen Forschens: die apriorische Überzeugung von der Fremdheit allen Geschehens, das auch da, wo es unseren Überzeugungen zu widersprechen scheint, eigenständig in sich zu würdigen ist. Diese Grundüberzeugung schlägt sich nicht in bestimmten Kriterien nieder. So kann man keineswegs behaupten: Je fremder eine Überlieferung ist, um so mehr habe sie Anspruch auf historische Authentizität. Die Eigenständigkeit und Integrität der Geschichte besteht eben darin, dass wir sie weder als positive Entsprechung zu unserer geschichtlichen Welt noch als ihr negatives Gegenbild rekonstruieren können. In beiden Fällen würden wir sie nicht in sich würdigen. Die Eigenständigkeit der Geschichte wird erst dort angemessen berücksichtigt, wo wir uns durch bewusste methodische Verfahren die Möglichkeit schaffen uns von unseren Voreingenommenheiten zu lösen. Kurz, die dritte Grundüberzeugung historischen Bewusstseins schlägt sich darin nieder, dass wir immer wieder neu nach Kriterien des Historischen suchen und diese verbessern und verfeinem. Soweit sei unser Versuch vorweg skizziert Lessings garstigen Graben zu überspringen: Wir werden in ihn hineinspringen, aber nicht ertrinken, wenn wir uns an methodischen Kriterien orientieren können.

1.1. Das Problem historischer Quellenkritik Alle Quellenkritik basiert auf einem impliziten anthropologischen Axiom: Menschen sind fehlbare Menschen. Sie überliefern nie die historische Wahrheit „an sich" (sofern es sie überhaupt gibt), sondern stellen Geschichte im Lichte ihrer Interessen, Tendenzen und Absichten dar. Daher die vielen Widersprüche zwischen den Quellen. Daher auch die Notwendigkeit Quellen gegenüber kritisch zu sein und sie zunächst als Ausdruck ihrer Entstehungsverhältnisse zu inteφretieren, ehe wir sie als Dokument für die in ihnen dargestellten Ereignisse auswerten. Obwohl wir deshalb allen Quellen, auch den zuverlässigsten und besten, mit methodisch diszipliniertem Misstrauen gegenübertreten müssen, gibt es zweifellos historische Gewissheiten. Niemand zweifelt daran, dass Cäsar oder Luther gelebt und gewirkt haben. Niemand zweifelt an der Existenz eines Pontius Pilatus. Woher diese Gewissheit? Wo doch angeblich alles historische Wissen relativ und hypothetisch ist? Bei Versuchen über Lessings Graben zu springen stößt man an dieser Stelle auf eine interessante Dialektik: Die Überzeugung von der durchgehenden menschlichen Fehlbarkeit, die aller historischen Kritik axiomatisch

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zugrunde liegt, bewahrt uns nämlich zugleich vor einer totalen Skepsis. Wenn Menschen zu unvollkommen sind um die Wahrheit „an sich" wiederzugeben, dann sind sie ebenso wenig vollkommen genug um perfekte Täuschungen über historische Sachverhalte bewusst oder unbewusst zu arrangieren/ Selbst wenn es im 1. Jh. n.Chr. ein Komitee zur Irreführung späterer Historiker gegeben hätte und eine Verschwörung mit dem Ziel uns ein fiktives Bild des damaligen Palästina und der Ereignisse in ihm zu hinterlassen - auch das mächtigste Komitee wäre zu olmmächtig um alle Quellen und Relikte wirklich zu kontrollieren und ihnen eine bestimmte Sicht der Dinge aufzuprägen. Sollte es sich etwa verabredet haben von Pilatus verschiedene Münzen in der palästinischen Erde zu verstecken eine Inschrift von ihm herstellen zu lassen, die später als Treppenstufe im Theater von Caesarea unauffällig der Nachwelt erhalten blieb? Sollte es Philo, Josephus und Tacitus (oder Abschreiber von deren Schriften) dazu überredet haben verstreute Notizen über Pilatus in ihre Werke aufzunehmen? Sollte es die Evangelisten dazu angestiftet haben von ihm in einer Weise zu berichten, die zwar jenen verstreuten Notizen nicht widerspricht, aber aus ihnen kaum abgeleitet werden kann? Unmöglich! Jedem Historiker wird es so ergehen: Im Umgang mit den sehr zufälligen Quellen über Pilatus bildet sich intuitiv die Gewissheit, dass wir es mit einer historischen Person zu tun haben. Niemand bezweifelt die Geschichtlichkeit des Pilatus. Die Unvollkommenheit des Menschen die Wahrheit unverfälscht wiederzugeben bedeutet auch eine Unvollkommenheit alles total umfärben zu können. Da wir heute axiomatisch von der Fehlbarkeit des Menschen überzeugt sind, bevor wir auch nur eine einzige konkrete Quelle studiert haben, sind wir auch a priori, d.h. durch dasselbe Axiom, vor dem Verdacht geschützt, alles sei Einbildung, was uns in diesen Quellen berichtet wird, sofern wir überhaupt ein ausreichend komplexes Quellenmaterial haben. Damit aber kommen wir zu einer Neubewertung des Lessingproblems. Lessing sah in der geschichtlichen Zufälligkeit der Überlieferung die Ursache fur die Erschütterung von Glaubensgewissheit. Jede Überlieferung sagt implizit dem kritischen Leser: Es könnte auch anders gewesen sein. Wir haben dagegen festgestellt: Sofern es überhaupt historische Gewissheit gibt, basiert sie auf dem zufälligen Charakter der Überlieferung. Je überzeugender uns diese Zufälligkeit in der Überlieferung entgegentritt, um so mehr bildet sich die intuitive Gewissheit: Wir haben es mit wirklicher Geschichte zu tun. Es ist zwar wahr: Zufällige Geschichtswahrheiten können nicht die

' Einige der folgenden Gedanken sind durch M. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, Anmerkungen und Argumente 9, Stuttgart: Klett 1974, inspiriert.

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Grundlage notwendiger Vernunftwahrheiten sein (deren Existenz ohnehin umstritten ist, wenn man von logischen und mathematischen Wahrheiten absieht). Zufällige Geschichtswahrheiten sind aber die einzig mögliche Grundlage historischer Gewissheit - und mehr als solche historische Gewissheit können wir gegenüber historischen Gegenständen nicht erlangen. Eben das ist gemeint, wenn wir sagen: Wir müssen mitten in den Graben historischer Zufälligkeit hineinspringen und dürfen uns dabei wohlfuhlen. Denn nur inmitten historischer Zufälligkeit kommen wir zu historischer Gewissheit. Ins Wasser historischer Zufälligkeit springen, heißt sich mit den zufallig erhaltenen Quellen zu beschäftigen. Nur wenn sie ausreichend komplex sind, können wir das Axiom von der begrenzten Fähigkeit des Menschen zur totalen Wahrheit wie zur völligen Verfälschung in beide Richtungen aktivieren. Unsere These ist nun folgende: Die Unfähigkeit des Menschen zur historischen Wahrheit an sich zeigt sich in den vielen Widersprüchen und Unstimmigkeiten der historischen Quellen. Die Unfähigkeit des Menschen zur totalen Verfälschung der historischen Wahrheit wiederum zeigt sich darin, dass solche Inkohärenzen in vielen Fällen kohärent inteφretiert werden können. Inkohärenzen, die kohärent interpretiert werden können, sind das beste Indiz dafiir, dass wir uns der historischen Wahrheit nähern. Werfen wir im Folgenden einen Blick auf beides: auf die Widersprüche und auf deren kohärente Inteφretation. Zwar können wir Quellen nie mit der in ihnen dargestellten historischen Realität vergleichen, wohl aber Quellen untereinander. Dabei findet man fast immer einige Widersprüche. Sie sind fruchtbar, wenn sie so gedeutet werden können, dass Quelle A unabhängig von Quelle В ist, so dass wir einen zweifachen Zugang zur historischen Realität besitzen - sozusagen zwei Fenster, durch die wir einen Blick auf sie erlangen. In der Jesusforschung ist die Quellenlage in dieser Hinsicht nicht schlecht: Selbst wenn man das JohEv und EvThom außer Betracht lässt,® bleiben nach dem jetzigen Stand der Literarkritik zwei voneinander unabhängige alte Quellen: das MkEv und die Logienquelle und darüber hinaus zwei voneinander unabhängige Überlieferungskomplexe: das mt und Ik Sondergut. Die klassische Formgeschichte vermehrte die Zahl der Quellen noch einmal, indem sie jede kleine Einheit potentiell als isolierbare Überlieferung betrachtete und jeder Gattung eine spezifische Perspektive zuschrieb. Wir verfügen so über ' Wir sollten zwischen „Autonomie" und „Unabhängigkeit" unterscheiden. Das EvThom ist auf jeden Fall eine autonome Tradition, deren Eigenart ohne die kanonischen Evangelien erklärt werden kann, Das schließt nicht aus, dass die kanonischen Evangelien einen sekundären Einfluss auf einige Traditionen oder auf die Textgeschichte genommen haben. Vgl. die Behandlung des Problems bei S. J. Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, Sonoma: Polebridge Press 1993.

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viele Daten, zwischen denen kleine Spaimungen festgestellt werden können. Wenn sich aus diesem Netz von inkohärenten Daten aufgrund jeweils in sich abgerundeter Überlieferungen ein kohärentes Jesusbild entwerfen lässt - und das tut jedes Jesusbuch - dann kann die Quellenlage nicht ganz ungünstig sein. Diese Überlegungen bestärken uns in der Notwendigkeit das traditionelle Kohärenzkriterium umzuformulieren. Schon der Begriff „Kohärenz" führt in die Irre. Wie wir sahen, funktioniert das Kriterium nur, weil in den Quellen eine Mischung von kohärenten und inkohärenten Elementen enthalten ist. Wir können entweder die kohärenten Züge auf dem Hintergrund inkohärenter Elemente betrachten und erstere als Hinweis auf die historische Realität deuten oder wir können inkohärente Elemente auf dem Hintergrund relativ kohärenter Tendenzen in den Quellen herausheben und gerade in diesen sperrigen Elementen Relikte einer hinter den Quellen liegenden Geschichte sehen. M.a.W., wir köimen entweder Quellenkohärenz auswerten oder Tendenzwidrigkeit. Beide Unterkriterien sind voneinander abhängig. 1.1.1. Das Kriterium der Quellenkohärenz Die Übereinstimmung von Quellen' kann vor allem dann auf die historische Wirklichkeit weisen, wenn die Quellen unabhängig voneinander sind und ihre voneinander abweichenden Tendenzen als Besonderheiten der jeweiligen Quelle (z.B. als typisch johanneische Züge) interpretiert werden können.'" 1. Das gilt för den sog. „ Querschnittsbeweis ", der nach wiederkehrenden Topoi, Formen und Inhalten in verschiedenen Traditionsströmen fragt. Wenn trotz aller Verzerrungen gleichbleibende Züge Jesu immer wiederkehren, so sind das Relikte des Historischen. Was übereinstimmend im Sondergut von Mt und Lk, in Logienquelle und im MkEv, im JohEv und EvThom zu finden ist, hat wahrscheinlich einen Grund in der Geschichte selbst. So finden wir überall den Begriff der Gottesherrschaft (bei Mt vari' „Übereinstimmung" und „Kohärenz" sind keine zeitlosen Maßstäbe. Was wir für kohärent halten, ist für andere inkohärent et vice versa. Die Briefe des Paulus sind voll von Widersprüchen, obwohl er zu den „Systematikem" unter den neutestamentliehen Schriftstellern gehört, wenn man an den Römerbrief denkt. Weniger systematisch denkende Gestalten (unter ihnen auch Jesus) dürften in ihren Äußerungen möglicherweise noch mehr Widersprüche haben als Paulus. Wir müssen einen historischen Sinn dafür entwickeln, was jeweils als „stimmig" und als widersprüchlich empfunden wurde. Vergleiche zwischen den beiden Geschichtswerken des Josephus (dem bellum und den antiquitates) zeigen, welche erstaunlichen Abweichungen bei demselben Autor bei der Wiedergabe derselben Ereignisse, Quellen und Traditionen möglich sind! Wir greifen damit das traditionelle Kohärenzkriterium auf Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Das Kohärenzkriterium war vom Differenzkriterium abhängig. Unser Kriterium der Quellenkohärenz kann dagegen auf Quellen angewandt werden, ohne dass vorher in ihnen (mit Hilfe des Differenzkriteriums) echte und unechte Elemente geschieden wurden.

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iert zu „Himmelsherrschaft"). Es handelt sich um einen Zentralbegriff der Verkündigung Jesu. Abgesehen vom JohEv und EvThom sprechen dabei alle Quellen von der Gottesherrschaft in apokalyptischen Farben, d.h. von einem wunderbaren neuen Zustand, in den die ganze Welt verwandelt wird und der jenseits der immanenten Geschichte liegt; denn auch die verstorbenen Patriarchen werden in der Gottesherrschaft zu finden sein (Mt 8,llf). Wenn das JohEv und EvThom von der Gottesherrschaft als einer gegenwärtiger Größe reden oder wenn sie im EvThom zur Chiffre ftir das wahre, hinunlische Selbst des Menschen wird, dann handelt es sich teils um Fortsetzung von präsentischen Aspekten der ¿»aj/Zeta-Verkündigung Jesu, teils um die Auswirkung gnosisnaher Tendenzen, die das Bild des historischen Jesus umgeformt haben. Daher sind wir ziemlich sicher: Jesus verkündigte die basileia innerhalb eines apokalyptisch gefärbten Vorstellungsrahmens, den er freilich transzendierte, wenn er die zukünftige Gottesherrschaft schon als gegenwärtige proklamierte." 2. Auch bei gattungsinvarianten Elementen rechnen wir mit Historischem: Wenn verschiedene Gattungen und Formen vergleichbare und untereinander kohärente Elemente enthalten, können diese historisch sein. So hören wir z.B. von den Wundem Jesu sowohl in Form von Wundergeschichten (also in einem erzählenden Genre) als auch in Form von Aussprüchen Jesu (also in der Wortüberlieferung). In den Wundergeschichten fehlen Züge, die flir die Wortüberlieferung charakteristisch sind: die Verkündigung der Gottesherrschaft, der Ruf zur Umkehr, der Gedanke der Nachfolge. Wir können diese Inkohärenz erklären:Schon zu Lebzeiten Jesu haben sich Menschen von den Wundem Jesu erzählt - unabhängig davon, ob sie seinem Ruf zur Umkehr angesichts der nahen basileia folgten. Deshalb begegnet uns Jesus in einigen volkstümlichen Geschichten als Wundertäter im Lichte des allgemeinen antiken Wunderglaubens ohne spezifisch christliche Züge. Die Wortüberlieferung wurde dagegen von Jesu Nachfolgern überliefert, also von Jüngern, die seinen Lebensstil teilten. Sie waren wie Jesus heimatlos, hatten oft ihre Familien verlassen und waren arm. Sie überlieferten die zu ihrem Lebensstil passenden Worte von der nahen Verwandlung der ganzen Welt, vom Umkehrruf an alle und vom Ruf in die Nachfolge an wenige. Auch Wunder gehörten zu ihrer Botschaft. Sie verbinden sich in ihrer Lo" Uns ist bewusst, dass es in der zeitgenössischen amerikanischen Exegese eine Tendenz gibt die apokalyptischen und kosmischen Aspekte der Eschatologie Jesu zu leugnen. Vgl. M. J. Borg, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge: Trinity Press 1994, 47-68.69-96. Der Protest gegen diese Leugnung der Eschatologie durch D. C. Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis: Fortress Press 1998, ist m.E. berechtigt. Vgl. zum Folgenden G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 1989, 119ίΤ.

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gienüberlieferung mit der èasi/e/a-Predigt (Mt 12,28 par), mit dem Umkehrruf (Mt 11,20-24) und mit der Entscheidung für oder gegen Jesus (Mt 11,2-6 par). Aufgrund ihres mit Jesus übereinstimmenden Lebensstils gab es für die Nachfolger Jesu, die „Wandercharismatiker", keinen Grund die Worte Jesu einer anderen Mentalität anzupassen. Es gibt daher eine gute Chance, dass sie die Worte Jesu in seinem Geist überliefert haben. Die Wortüberlieferung bestätigt im Übrigen auch, dass die Wunder Jesu auch Menschen zugänglich waren, die sich Jesus nicht angeschlossen haben (Mt 11,20-24; 12,22ff). Auch Gegner wussten von ihnen. Wir können daher vermuten, dass nicht nur Anhänger Jesu von seinen Wundem erzählt haben. Solche Hinweise machen die Entstehung einer nicht spezifisch christlichen Wunderüberlieferung in Erzählform plausibel. Unser Ergebnis ist also: Eine historisch-kritische Rekonstruktion des Wirkens Jesu kann die Entstehung von zwei verschiedenen Quellenkomplexen erklären, der WundererzäA/M«gen, die bis ins Volk drangen, und der fforiüberlieferung, die auf seine Jünger beschränkt blieb. Jesus wurde im Volk und bei seinen Jüngern verschieden erlebt. Man kann so die Inkohärenzen der Jesusüberlieferung in der Wunderüberlieferung kohärent interpretieren. In diesem Fall stehen die beiden Gattungen nicht in Äquidistanz zur Geschichte; die allgemein verbreiteten Wundergeschichten haben sich schneller von der historischen Realität entfernt als die Wortüberlieferung. 3. Das Prinzip Inkohärenzen in den Quellen als Hinweis auf eine kohärente Geschichte zu deuten liegt auch dem traditionellen iCriterium der Mehrfachbezeugung zugrunde. Dies Kriterium fuhrt zu Einseitigkeiten. Wenn man ein Jesusbild ausschließlich auf mehrfach bezeugte Traditionen in kanonischen und nicht-kanonischen Texten basiert,'^ macht man sich von zwei Dingen abhängig: einerseits von der zufälligen Erhaltung einiger Worte und Taten auf Papyrusfragmenten, andererseits von der tendenzbestimmten Auswahl von Jesusworten im EvThom. Weil das EvThom das Bild eines „nicht-eschatologischen Jesus" enthält, wird man bei einem Bild vom historischen Jesus enden, das nicht eschatologisch (im apokalyptischen Sinne) ist. Darüber hinaus gilt grundsätzlich: Die Mehrfachbezeugung ist ein schwächeres Kriterium als Querschnittsbeweis und Gattungsinvarianz, da Mehrfachbezeugung nur dann auf die historische Realität zurückschließen lässt, wenn wir verschiedene Belege ein und derselben Überlieferung als zwei voneinander unabhängige Zugänge zur historischen Realität werten können - m.a.W. wenn wir letztlich auf zwei Augenzeugen stoßen.''' Das ist " Bei J. D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh: T&T Clark 1991 = Der historische Jesus, München: Beck 1994, liegt fast ausschließlich das Kriterium der Mehrfachbezeugung zugrunde. " Vgl. denselben Vorbehalt bei N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deu-

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nie ausgeschlossen, aber schwer nachweisbar. Bei sachlich und formal Verwandtem in verschiedenen Traditionsströmen und Gattungen (also bei Querschnittsbeweis und gattungsinvarianten Elementen) ist es von vornherein wahrscheinlicher, dass mehrere voneinander unabhängige „Kontakte" mit der historischen Realität zugrunde liegen. 1.1.2. Das Kriterium der Tendenzwidrigkeit Das Kriterium der Tendenzwidrigkeit" illustriert gut, warum die historische Wahrheitssuche von der menschlichen Unvollkommenheit im Umgang mit der Wahrheit profitiert: Obwohl Menschen in allen Erzählungen und Berichten von ihren eigenen Tendenzen bestimmt sind, können sie nicht verhindern, dass tendenzwidrige Elemente erhalten bleiben. Darum gilt: Was den allgemeinen Tendenzen in urchristlichen Quellen widerspricht, kann historisch sein. Als Beispiel seien einige tendenzwidrige Elemente genannt: Die Taufe Jesu widerspricht der Tendenz des Urchristentums Jesus als ein göttliches Wesen zu verehren. Sie setzt ein Sündenbekenntnis voraus, das auch Jesus wahrscheinlich gesprochen hat. Die urchristliche Überlieferung übt hier theologische Schadensbegrenzung. Das JohEv räumt ein, dass Jesus Sünden trug, als er zur Taufe kam, aber nur um zu betonen: Er trug die Sünden der Welt, nicht seine eigenen (Joh 1,29). Es verwandelt die Taufgeschichte in die Geschichte einer Begegnung des Täufers mit Jesus. Tendenzwidrig ist ein Teil der Kritik an Jesus, sowohl die Kritik der Gegner, er stünde mit Satan im Bund (Mt 12,24), als auch die Kritik des Volkes, das in ihm einen Fresser und Weinsäufer sieht (Mt 11,19). Tendenzwidrig ist die Furcht des Herodes Antipas, Jesus sei der wieder auferstandene Täufer (Mk 6,14). Die hier vorausgesetzte Hochschätzung des Täufers und die Vorstellung von der Auferstehung als Rückkehr ins Leben ist nach Ostern unwahrscheinlich. Tendenzwidrig ist vor allem der Kreuzestod zu nennen. Er widerspricht allen Tendenzen zur religiösen Verehrung Jesu. Es war nicht leicht die Hinrichtung eines Verbrechers als Schicksal eines Erlösers zu deuten. Das Urning, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, 41, Das Kriterium der Mehrfachbezeugung wurde vor allem von T. W. Manson verwandt, der dabei zwei Quellen voraussetzte, die nach seiner Meinung von Augenzeugen verfasst waren: Hinter dem MkEv stand für ihn die Autorität des Petrus, hinter der Logienquelle die des Apostels Matthäus. Unter dieser Voraussetzung wird das Kriterium der Mehrfachbezeugung natürlich zu einem hervorragenden Echtheitskriterium. Kaum jemand aber teilt heute diese Voraussetzungen. " Vgl. P. W. Schmiedel, Art. Gospels, EB(C), vol. 2, 1901, Sp. 1761-1898; ders.: Das vierte Evangelium gegenüber den drei ersten, RV I 8 & 10, Halle: Gebauer-Schwetschke u.a. 1906: Die „Säulen", auf denen Schmiedel einst die historische Jesusforschung gründen wollte, sind Tendenzwidrigkeiten. Bei E. P. Sanders/M. Davies, Studying the Synoptic Gospels, London/Valley Forge: SCM Press/Trinity Press 1989, 304ίΓ, begegnet dasselbe Kriterium unter dem Stichwort: „Strongly against the grain; too much with the grain."

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christentmn war sich dessen bewusst, dass das Kreuz ein skandalon war (IKor 1,18-26). Besonders günstig ist der Fall, wo wir über Aussagen mit entgegengesetzter Tendenz verfügen. Wo Freund und Feind von denselben Fakten ausgehen, dürften diese historisch sein. So wurden die Exorzismen Jesu von seinen Anhängern als Zeichen der hereinbrechenden Gottesherrschaft gedeutet (Mt 12,28), von seinen Gegnern aber als Auswirkung dämonischer Macht (Mt 12,24). Beide Seiten setzen die Existenz und religiöse Relevanz der Exorzismen voraus. Ihr übereinstimmendes Zeugnis hat um so mehr Gewicht. Das letzte Beispiel zeigt, wie die Suche nach tendenzwidrigen Elementen und Übereinstimmungen oft zusammenfällt. Die Taufe Jesu entspricht dem Kriteriimi der „Quellenkohärenz". Sie ist mehrfach unabhängig voneinander bezeugt (Mk 1,9-11 parr; HebrEv 2; Joh 1,32-34) und wird in mehreren Gattungen bezeugt, in der synoptischen Tauferzählung und in einem Summarium (Apg 10,37 vgl. 1,22). Das ergibt eine gewisse „Kohärenz der Überlieferung". Zugleich aber sind einige Aspekte der Taufgeschichte ausgesprochen tendenzwidrig, wie die Abhängigkeit Jesu vom Täufer, die in Mt 3,14 gemildert wird, oder das Sündenbekenntnis bei der Taufe, das im Nazaräerevangelium (Fragment 2) bewusst geleugnet wird. In der konkreten historischen Arbeit wenden wir beide Unterkriterien zugleich an und verstehen sowohl Übereinstimmungen wie tendenzwidrige Elemente als Ausdruck der Wirkungsgeschichte Jesu. Das Kriterium der Wirkungsplausibilität ist jedoch nicht ausreichend. Die Frage bleibt: Wie können wir sicher sein, dass nicht urchristliche religiöse Imagination nach Ostern ein Bild von Jesus schuf, das sich in verschiedenen Traditionssträngen und Quellen erhalten hat? Wer sagt uns, dass wir auf den historischen Jesus stoßen und nicht auf ein frühes Bildes von ihm? Sind nicht grundsätzlich alle Quellen durch die religiösen Überzeugungen des frühen Urchristentums gefärbt, das die Erinnerung an den historischen Jesus im Lichte der Ostererfahrung tiefgreifend umgeformt hat? Ein zweites Kriterium ist notwendig: das Kriterium der Kontextplausibilität.'® Je überzeugender wir die jüdische Kontextbindung Jesu aufdecken können, umso mehr werden wir gewiss, dass wir hinter den nachösterlichen christlichen Jesusbildem die historische Realität vor Ostern finden können und dass Jesus kein Produkt der Phantasie des Urchristentums, sondern der Geschichte des Judentums ist. Vorausgesetzt ist, dass alles bei ihm „relativ" ist - relativ auf seinen konkreten jüdischen Kontext hin. Daher müssen wir

'' Das Kriterium der „Kontextplausibilität" begegnet in verscliiedener Form fast in allen Kriterienkatalogen, z.B. als „environmental criterion".

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dies Kriterium der Kontextbindung Jesu im Rahmen der Problematik des historischen Relativismus diskutieren. 1.2. Das Problem des historischen Relativismus Historischer Relativismus sagt: Alle geschichtlichen Phänomene hängen untereinander zusammen. Sie stehen in „Relation" zueinander oder sind „relativ zueinander". Alle müssen aus ihrer Vorgeschichte abgeleitet, aus ihrer Situation heraus erklärt und durch Analogien erhellt werden. Nichts ist unableitbar, da alles Ergebnis von Entwicklung ist. Nichts ist unvergleichlich, da alles Analogien hat. Nichts ist absolut. Der christliche Glaube stützt sich aber auf Jesus als Vermittler einer absoluten Gewissheit: der Gewissheit durch ihn mit Gott konfrontiert zu werden. Zwischen dieser Glaubensgewissheit und der historischen Relativität Jesu tut sich erneut Lessings garstiger breiter Graben auf. Zu Lessings Zeiten war er noch nicht in seinem ganzen Ausmaß sichtbar. Erst die religionsgeschichtliche Forschung des 19. Jh. hat bewusst gemacht, wie sehr Jesus in seine Zeit und die Religionsgeschichte eingebettet ist. Trotzdem hat die historische Jesusforschung die Annahme, dass Jesus eine einzigartige Gestalt ist, dem Differenzkriterium zugrunde gelegt. Widerspricht die Gewissheit seiner Unverwechselbarkeit und Unableitbarkeit aber nicht der Grundüberzeugung des historischen Relativismus, dass alles mit allem zusammenhängt - dass nichts völlig singulär ist? Der Zweifel am Differenzkriterium wird dadurch verstärkt, dass es sich als undurchführbar und irreführend erweist: als undurchführbar, weil es ein universales negatives Urteil enthält, das wir unmöglich verifizieren können;" als irreführend, da es alles unterschlägt, was Jesus mit dem Judentum und dem Urchristentum gemeinsam hat. Wir können uns daher nicht einfach auf das in der Jesusforschung praktizierte Differenzkriterium berufen um dem historischen Relativismus zu entgehen. Es ist zu problematisch. Und doch steht in seinem Hintergrund eine berechtigte „Idee": die Überzeugung von der Individualität des Historischen. Gerade mit Hilfe des historischen Relativismus können wir diese Überzeugung von der Individualität der historischen Erscheinungen in zweifa-

" Um die Unableitbarkeit einer Jesusüberlieferung aus seiner Umwelt nachzuweisen müssten wir ein lückenloses Bild von dieser Umwelt haben. Das hat man schon früh gesehen. Vgl. M. D. Hooker, Christology and Methodology, NTS 17 (1970), 480-487; „Use of this criterion seems to assume that we are dealing with two known factors (Judaism and Early Christianity) and one unknown - Jesus; it would perhaps be a fairer statement of the situation to say that we are dealing with three unknowns, and that our knowledge of the other two is quite as tenuous and indirect as our knowledge of Jesus himself" (482).

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eher Weise begründen und vertreten. Der Grundsatz, dass alles mit allem zusammenhängt, bedeutet zunächst, dass man bei einer geschichtlichen Erscheinung Elemente nie isoliert interpretieren darf, sondern nur im Zusammenhang aller gleichzeitig existierenden Elemente - gleichgültig, ob es sich um einen Text, einen Menschen oder eine soziale Bewegung handeh. Wir begegnen hier erneut einer inneren Dialektik: Selbst wenn einzelne Elemente „ableitbar" wären, wäre damit die Kombination von Elementen noch nicht „ableitbar". Sie könnte singulär sein. Je mehr Elemente nun kombiniert sind, um so geringer die Wahrscheinlichkeit irgendwo in der Weltgeschichte eine sachlich vergleichbare Erscheinung zu finden. Bei Menschen scheint das a priori unmöglich zu sein, weil jeder Mensch eine so komplexe Erscheinung ist, dass eine „Wiederholung" ausgeschlossen ist. Darum nähern wir uns geschichtlicher Realität von vornherein mit dem axiomatischen Glauben an ihre Individualität. Historischer Relativismus enthält jedoch noch eine zweite Idee, die ebenfalls als axiomatische Überzeugung wirkt: die Idee der Entwicklung. Das Prinzip, dass alles mit allem verbunden ist, gilt nicht nur für synchronische Beziehungen von Elementen innerhalb eines historischen Phänomens, sondern auch für die diachronische Folge von Elementen (von Traditionen, Gedanken oder Motiven). Historischer Relativismus sagt: Alles kann von vorhergehenden Größen abgeleitet werden. Deshalb können wir alles historische Material in eine Folge von früheren und späteren Elementen einordnen. Wenn nun alle Elemente völlig gleich wären, wäre es unmöglich sie in eine zeitliche Folge zu bringen. Wir wären unfähig verschiedene Stadien innerhalb dieser Folge zu unterscheiden. Die Idee der Entwicklung impliziert die Idee der Singularität jedes einzelnen Momentes dieser Entwicklung, denn wir können sie nur denken, wenn wir frühere und spätere Stadien, vorhergehende und folgende Elemente unterscheiden können. Auch in dieser Hinsicht impliziert also historischer Relativismus notwendig den axiomatischen Glauben an historische Individualität. Beide Ideen wurden in der Tat zur gleichen Zeit in der Geschichtswissenschaft entwickelt: in der Zeit des Historismus im 19. Jh. Sie gehören sachlich zusammen." Unser Gedankengang ist also folgender: Hinter dem historischen Relativismus steht ein ganz elementares Axiom: Wir müssen alles im Zusammenhang interpretieren. Daraus ergibt sich einerseits eine Relativierung aller historischen Erscheinungen durch Einbettung in diachronische und synchronische Kontexte, andererseits eine Individualisierung jeder historischen Erscheinung aufgrund ihres singulären Ortes in diachronischen Entwick-

' Vgl. F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, Werke Bd. 3, München: Oldenbourg 1959.

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lungen und aufgrund ihrer Komplexität als synchrones Gebilde. Wenn alles mit allem zusammenhängt, ist alles ebenso relativ wie individuell. Wenden wir nun diese allgemeine historische Überzeugung auf die konkrete Gestalt Jesu an, so kommen wir zu dem Ergebnis: Jesu Singularität besteht in einer singulären Kombination jüdischer Traditionen sowie darin, dass seine Worte und Taten ein unverwechselbares Stadium in jener Entwicklung repräsentieren, die vom Judentum zum Urchristentum fuhrt. Dem wird das traditionelle Differenzkriterium nicht gerecht, da es methodisch nur die Differenzen, nicht die Übereinstimmungen zwischen Jesustraditionen und jüdischem Kontext in Rechnung steUt. Das Kriterium der „Kontextplausibilität" umfasst beide Aspekte. Nur so können wir die Aporie vermeiden negative universale Aussagen machen zu müssen, die grundsätzlich nicht verifiziert werden können. Niemals körmen wir nachweisen, dass irgendetwas in der Jesusüberlieferung nirgendwo im Judentum belegt, nirgendwo aus ihm ableitbar oder nirgendwo in ihm vorstellbar ist. Wohl aber sind wir in der Lage positive Urteile über Zusammenhänge zwischen einer begrenzten Menge jüdischer Quellen und der Jesustradition zu machen. Wir können im Vergleich zu einer begrenzten Quellenbasis singuläre Züge in der Jesusüberlieferung feststellen oder innerhalb einer konkreten Entwicklungslinie ihren unverwechselbaren Ort herausarbeiten. Anders gesagt, wir können ihre Einbettung in konkrete synchronische oder diachronische Zusammenhänge untersuchen und innerhalb dieser Zusammenhänge ihre kontextuell gebundene Individualität nachweisen. Dieser Gedanke einer inneren Dialektik des historischen Relativismus widerspricht auch der theologiekritischen Überzeugung, dass Jesus auf keinen Fall „singular" und „analogielos" sein dürfe. Wenn man dies Axiom des Relativismus konsequent durchdenkt, fuhrt es zu einer Einschränkung seiner selbst. Das zeigt die Entwicklung der religionsgeschichtlichen Forschung zum Urchristentum. Lange Zeit galt es als Zeichen „unaufgeklärter" dogmatischer Bindung die Singularität Jesu gegen alle religionsgeschichtlichen Ableitungen zu verteidigen und sich dagegen zu sträuben Jesus und das Urchristentum konsequent von religionsgeschichtlichen Analogien her zu begreifen und ohne Vorbehalt in religionsgeschichtliche Entwicklungen einzuordnen. Heute vermutet man dagegen gerade in der Überschätzung religionsgeschichtlicher Analogien und Entwicklungslinien eine oft (unbewusste) dogmatische Bindung an die Singularität Jesu und seinen zentralen Ort in der Welt- und Religionsgeschichte. Denn die alte religionsgeschichtliche Forschung hat viele der von ihr ausgewerteten Analogien erst unbewusst einer inteφretatio Christiana unterzogen, ehe sie aufgrund solch einer Uminteφretation erfolgreich zur Erklärung urchristlicher Erscheinungen ausgewertet wurden. So

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war man überzeugt, dass in den Mysterienkulten sterbende und auferstehende Gottheiten verehrt würden. Heute sehen wir, dass in den Mysterienkulten wohl die Sehnsucht nach einem neuen Leben (vor oder nach dem Tode) zum Ausdruck gebracht wird, von einer „Auferstehung" der in ihnen verehrten Gottheiten aber erst sehr viel später die Rede sein kann. Es kommt ursprünglich immer nur zu Kompromissen zwischen Tod und Leben." Persephone (oder Kore) muss ein Drittel des Jahres in der Unterwelt bleiben, nur in den restlichen zwei Dritteln darf sie in die Welt göttlichen Lebens zurückkehren. Der Leichnam des Attis bleibt tot, aber er verwest nicht; nur sein kleiner Finger bewegt sich. Osiris herrscht in der Unterwelt, gehört also selbst zu den Toten, aber aus seinem Leichnam wächst Getreide. Mithras ist überhaupt kein sterbender Gott und entfällt als Analogie. Seine Gestalt ist eher ein „Gegenentwurf' zur Inszenierung von Todeserfahrung und Lebenshoffnung in anderen Mysterienkulten. Nach unserer derzeitigen Erkenntnis kennt im Grunde nur das Urchristentum eine sterbende und auferstehende Gottheit. Diese Verkündigung fand Resonanz bei Menschen, die in ihren Mythen von sterbenden Gottheiten die Sehnsucht nach neuem Leben zum Ausdruck brachten. Aber nur im Urchristentum wird diese Sehnsucht in Gestalt einer Auferstehung von den Toten zum Ausdruck gebracht. Die ältere religionsgeschichtliche Forschung hatte die Mysteriengottheiten also unbewusst nach dem Modell der Christusgestalt gedeutet. Christus war für sie der Schlüssel zur Religionsgeschichte. Und das ist noch immer unbewusst eine christliche Dogmatik, die es erschwert jede Erscheinung um ihrer selbst willen wahrzunehmen und zu würdigen. Dasselbe gilt fur die Einordnung von Erscheinungen in religionsgeschichtliche Entwicklungsreihen. Es ist kein Zufall, dass eine eher konservative „Biblische Theologie" den Nachweis solcher Entwicklungsreihen vom Alten bis zum Neuen Testament zu ihrem Programm erhoben hat. Auch dabei stellt sich die Frage, ob nicht von vornherein suggeriert wird alle Entwicklungslinien im Alten Testament und Frühjudentum liefen auf die eine und einzigartige Gestalt Jesu hinaus. So werden etwa die wenigen Menschensohntexte in Dan 7, äthHen 37-71 und 4Esr 13 als „Vorstufen" zu den urchristlichen Aussagen vom Menschensohn gelesen, oder Lev 16 " Vgl. D. Zeller, Die Mysterienkulte und die paulinische Soteriologie (Röm 6,1-11). Eine Fallstudie zum Synkretismus im Neuen Testament, in: H. P. Silier (Hg.), Suchbewegungen. Synkretismus - kulturelle Identität und kirchliches Bekenntnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, 42-61; D. Zeller, Hellenistische Vorgaben fflr den Glauben an die Auferstehung Jesu? in: Von Jesus zum Christus, FS P. Hoffmann, Berlin/New York: de Gruyter 1998, 71-91. Einen engen Zusammenhang zwischen Tammuz-Kult und früher christlichen Botschaft rekonstruiert dagegen in scharfsinniger Weise G. Baudy, Das Evangelium des Thamus und der Tod des „großen Pan". Ein Zeugnis romfeindlicher Apokalyptik aus der Zeit des Kaisers Tiberius? ZAC 4 (2000) 13-48.

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und Jes 53 als Hinweise auf den Glauben an den Sühnetod Jesu, obwohl vielleicht erst eine (beeindruckende) interpretatio Christiana im Sündenbockritual von Lev 16 eine Existenzstellvertretung des getöteten und vertriebenen Tieres für den sündigen Menschen entdeckte. Oder es werden überall im Alten Testament und der daran anschließenden jüdischen Literatur messianische Aussagen gefunden und so gedeutet, als stünde die Messiaserwartung im Zentrum der jüdischen Religion. In Wirklichkeit war sie nur eine Variante eschatologischer Hoffnungen. Erst aus einer christlichen Perspektive kann man die sog. „messianischen" Zeugnisse so lesen, als liefen sie auf eine sich steigernde und immer sublimere Messiaserwartung hinaus. Der biblische Messianismus ist eine Entwicklungslinie neben anderen, nicht die einzige. Nur für die ersten Christen wurde sie zur zentralen Perspektive. Das Bewusstsein religionswissenschaftlicher Relativität fuhrt heute dazu allzu schnell herangezogene Analogien und allzu kühn konstruierte Entwicklungslinien zu „relativieren". Als Ausdruck eines aufgeklärten kritischen historischen Bewusstseins gilt es vielmehr gerade die Individualität aller Erscheinungen herauszuarbeiten. Die theologische Behauptung einer analogielosen Singularität Jesu ist also ebenso dogmatisch wie theologiekritische Versuche eine der profiliertesten Gestalten der Geschichte hinter lauter Analogien und Entwicklungsreihen undeutlich werden zu lassen. 1.2.1. Das Kriterium der Kontextentsprechung Je mehr eine Jesustradition in den Kontext zeitgeschichtlicher Ereignisse und lokaler Gegebenheiten, jüdischer Traditionen und jüdischer Mentalität passt, umso weniger kann Jesus ein Geschöpf urchristlicher Phantasie sein. Denn eine fiktive Gestalt unterscheidet sich von einer historischen Gestalt vor allem dadurch, dass wir sie datieren, lokalisieren und mit anderen historischen Gestalten und Personen in Verbindung bringen können.^" Die Jesusüberlieferungen, die oben als Beispiele für Tendenzwidrigkeit dienten, können auch das Kriterium der Kontextentsprechung illustrieren: die Taufe Jesu am Anfang seines Wirkens, die Kritik seiner Gegner an ihm während seiner Wirksamkeit und seine Kreuzigung am Ende seines Wirkens. Taufe, Kritik und Hinrichtung Jesu sind mit Johannes dem Täufer, Herodes Antipas und Pontius Pilatus verbunden. Alle drei Gestalten begegnen auch in nicht-christlichen Quellen^', so dass wir die christlichen QuelVgl. R. G. Collingwood, The Idea of History, Oxford: Clarendon Press 1946 = University Press 1956, 246Í Die Quellen sind 1) zu Johannes dem Täufer: Jos Ant 18,116-119; Mt 3,1-17 parr; 2) zu Herodes Antipas: Jos Ant 18,36-38.101-105 usw.; Mt 14,1-12 parr; Lk 13,31f; 23,6-12; ohne Namen wird Antipas auch in Dio Cass 55,27,6 erwähnt. Zwei Inschriften sind von ihm erhalten vgl. OGIS Nr. 416; 417; seine Münzen werden zugänglich durch Y. Meshorer, Jewish Coins and the

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len an ihnen kontrollieren können. Das Ergebnis ist: Wir haben in den christlichen Quellen zweifellos historisch zuverlässige Informationen über diese drei Gestalten, wenn auch aus einer bestinunten Perspektive. Wir können per analogiam schließen: Wenn die Überlieferung hinsichtlich dieser drei zeitgenössischen Gestalten einen historischen Hintergrund hat, so wird dies etwa in demselben Umfang auch fur Jesus selbst gelten. Ein weiterer Aspekt von Kontextentsprechung ist die Einbettung von Jesustraditionen in einen bestimmten lokalen Kontext.^^ Lokalkolorit liegt vor, wenn wir von einer Taufe in der Wüste hören (vgl. Mk 1,4)! Die Aussage ist paradox. Woher soll man Wasser zur Taufe in der Wüste haben? Aber der Jordan ist streckenweise von Wüste umgeben und nur durch eine schmale Flussaue von ihr getrennt. Vor allem aber können wir Jesustraditionen in Verbindung mit jüdischen Traditionen und jüdischer Mentalität bringen. Die Assumptio Mosis wurde kurz vor dem öffentlichen Auftreten Jesu neu herausgegeben. In dieser Schrift begegnen wir einer Erwartung des Königreiches Gottes in nichtgewalttätiger Form. Die Frommen warten darauf, dass sich Gott gegen den Satan durchsetzt. Die Verkündigung Jesu ist verwandt: Auch bei ihm setzt sich die Gottesherrschaft gegen den Satan (in Exorzismen) durch (Mt 12,28), auch hier ohne menschliche Gewalt. Wir erhalten in der Assumptio Mosis einen Einblick in das Milieu, in dem die Verkündigung Jesu zu Hause ist. Gleichzeitig finden wir Unterschiede zur Assumptio Mosis. Die Königsherrschaft Gottes ist in ihr den Heiden entgegengesetzt. Dieser Gegensatz verschwindet in der Jesusüberlieferung. Im Gegenteil, bei Jesus strömen Menschen aus allen Himmelsrichtungen in die Königsherrschaft Gottes - unter ihnen auch Heiden, wobei die jüdische Diaspora wohl mitgemeint ist (Mt 8,1 If). Auf solche individuellen Züge innerhalb eines Kontextes macht die andere Hälfte unseres Kriteriums der Kontextplausibilität aufmerksam. 1.2.2. Das Kriterium kontextueller Individualität Jeder Vergleich zwischen Jesus und seiner Umwelt umfasst Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Wie überall im Leben erkennen wir auch hier eine Person an ihren individuellen Merkmalen - oder genauer: an einer MerkmalSecond Temple Period, Tel Aviv; Am Hassefer 1967, 72-75.133-135. 3) Pilatus ist bezeugt in Jos Ant 18,35.55-59.62.64.87-89; Bell 2,169-177; eine Inschrift wurde in Caesarea gefunden vgl. J. Lemonon, Pilate et le gouvernement de la Judée, Textes et documents, EtB, Paris: Gabalda 1981, 23-32. Zu seinen Münzen vgl. Y. Meshorer, Jewish Coins, 102-106. ^^ Einen Überblick über die galiläische Umwelt gibt aufgrund seiner vorhergehenden Forschungen S. Freyne, The Geography, Politics, and Economics of Galilee and the Quest for the Historical Jesus, in: B. D. Chilton/C. A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus. Evaluations of the State of Current Research, NTTS 19, Leiden u.a.: Brill 1994, 75-121.

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kombination, die wir oft nur intuitiv erfassen. Tatsache ist, dass wir im Alltag nur kleine Ausschnitte einer Gestalt, ein paar Bewegungen, die Stimme usw. als Identifikationsmerkmale von Menschen brauchen um sie zu erkennen ohne uns diskursiv darüber Rechenschaft ablegen zu können. Auch in der historischen Überlieferung von Jesus stoßen wir auf solche „Besonderheitsindizien": wiederkehrende Züge, die wir nirgendwo anders finden. Auch hier handelt es sich oft um komplexe Indizien. Zwei Beispiel ñir komplexe Indizien seien angeführt. Das eine basiert auf synchronen Beziehungen zwischen einer Fülle von Elementen, das andere auf der besonderen Stellung eines Elements innerhalb einer diachronen Entwicklung. Das erste Beispiel zielt auf die Formensprache Jesu. Auch wenn wir bei einzelnen Worten unsicher sind, ob sie wirklich von Jesus stammen oder nicht, so sind wir erstaunlich sicher, dass wir die Formensprache seiner Verkündigung kennen - also die einzigartige Kombination literarischer (mündlicher) Formen, Topoi und Strukturen, die mit Jesus verbunden ist. Wenn wir bei jeder Form der Jesusüberlieferung ein einziges Exemplar als authentisch nachweisen, haben wir das ganze Genre fiir Jesus nachgewiesen. In der Regel könnten mehrere Exemplare einer Gattung authentisch sein. Selbst wenn wir also unsicher sind, ob in einem bestimmten Fall unser Authentizitätsurteil richtig ist, könnten wir in einem anderen Fall zutreffend geurteilt haben. Es ist meist unwahrscheinlich, dass keines der mannigfachen Exemplare eines bestimmten Genres echt sein sollte. Anders gesagt: Obwohl wir unsicher sind, ob wir im Einzelnen die parole Jesu identifizieren können, kennen wir seine langue sehr gut. Wir wissen, dass Jesus Gleichnisse und Bildworte, Weherufe und Makarismen, Sentenzen und Mahnungen benutzt hat. Zu allen Formen gibt es Parallelen im sonstigen Judentum. Ihre Kombination aber ist einzigartig. Wir kennen keinen anderen jüdischen Lehrer in dieser Zeit, der diese Kombination von Strukturen und literarischen Formen vereinte - und sie dazu noch mit einer charismatischen Tätigkeit als Wundertäter und Anftihrer einer Jüngerschar verband. An zweiter Stelle sei noch einmal die Eschatologie Jesu angeführt - als Beispiel für ihre unverwechselbare Stellung in einer diachronen Entwicklungslinie. Die Königsherrschaft Gottes setzt sich oft in einem Krieg gegen die Heiden oder andere Feinde durch. Man denke an die Kriegsrolle in Qumran. Die Assumptio Mosis passt dies Konzept an eine friedlichere Zeit Anfang des 1 .Jh. n. Chr. an. Hier sind die Frommen Israels absolut gewaltlos. Sie ziehen sich in eine Höhle zurück um angesichts einer großen Religionsverfolgung den Tod und das Hereinbrechen der Gottesherrschaft zu erwarten. Jesus setzt diese Linie fort: Bei ihm kann die Gottesherrschaft in der Gegenwart mit dem Imperium romanum koexistieren. Sie beginnt ja schon jetzt, also zu einer Zeit, in der die Römer unangefochten regieren.

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Das Volk der Gottesherrschaft ist auch bei Jesus gewaltlos und zur Gewaltlosigkeit verpflichtet. Es ist im Gegenteil die Gottesherrschaft, die Gewalt erleidet - sei es von Gegnern oder von Anhängern (Mt ll,12f). Sie beginnt nach Jesus mit Johannes dem Täufer. Die Christen nach Ostern gingen einen Schritt weiter. Sie identifizierten den Beginn der eschatologischen Ereignisse mit der Auferweckung Jesu von den Toten. In dieser Entwicklungslinie von einer fiiturischen Gottesherrschaft zu einer präsentischen und „aoristischen" Eschatologie, nimmt der Stürmerspruch von der Gewalttat gegen die Gottesherrschaft eine einzigartige Stellung ein. Er nimmt schon vorhandene Tendenzen im Judentum auf, iuhrt sie weiter und wird noch einmal durch den urchristlichen Glauben weitergeftihrt. Je mehr man sich in dieser Weise in die Jesusüberlieferung vertieft, umso unwiderlegbarer wird die Gewissheit, dass sich die hier sichtbar werdenden Entwicklungslinien und ihre spezifische Formensprache sonst nirgendwo findet. Diese Gewissheit ist berechtigt, auch wenn in ihr ein quasi „apriorisches Element" wirksam ist, nämlich die Ideen historischer Entwicklung und Individualität. Zurück zu unserem Plausibilitätskriterium. Wir hatten gesehen, dass das traditionelle Differenzkriterium einen richtigen Kem enthält, wenn es mit einer Individualität rechnet. Hier handelt es sich um eine gut getestete und bewährte historische „Idee". Sie darf nicht unter der Hand mit einer sehr viel weitergehenden religiösen (oder theologischen) Idee belastet werden, wonach im historischen Jesus eine transzendente Wirklichkeit in unsere Welt einbricht. Es steht hier zwar nicht auf der einen Seite reine „Empirie", auf der anderen Seite der reine „Glaube". Vielmehr handelt es sich in beiden Fällen um apriorisch wirkende „Ideen". Beide Annäherungsweisen an Jesus sind legitim. Historische „Ideen" (die in jeder historischen Methodik erkenntnisleitend sind) erschließen uns den Zugang zur historischen Realität. Religiöse Ideen wollen den Zugang zu einer transzendenten Realität eröffnen. Was wir auf historischem Wege an Ergebnissen erhalten, wird überfi-achtet, wenn man in die historische Idee der Individualität den Gedanken der „Offenbarung" (d.h. eines Einbruchs der Transzendenz) hineinlegt. Das aber ist schon in der Konstruktion des Differenzkriteriums enthalten, sofern „Differenz" eine Unableitbarkeit aus Judentum und Christentum meint - also eine Unableitbarkeit aus der Geschichte überhaupt. Wir ersetzen daher das Differenzkriterium durch ein Plausibilitätskriterium, wonach Jesustraditionen dann authentisch sind, wenn sie als etwas Individuelles im jüdischen Kontext des 1. Jh. n. Chr. erkennbar sind und als Ursprung der in den urchristlichen Quellen vorliegenden Wirkungsgeschichte plausibel gemacht werden können.

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Für unseren Zusammenhang bleibt entscheidend: Nur durch Bejahung des historischen Relativismus gelangen wir zur Erkenntnis der Individualität Jesu. Diese Individualität wird dabei im Rahmen des Judentums relativiert. Aber das ist theologisch gesehen kein Nachteil. Die Beziehung des Christentums zum Judentum gehört zum Wesen des Christentums. Was den historischen Relativismus angeht, so ist er zunächst zwar ein tiefer Graben; aber der Sprung in diesen Graben ist auch ein Gewinn. Wir müssen eintauchen ins kalte Wasser des historischen Relativismus: Es verbindet Christentum und Judentum - und darüber hinaus alle Religionen.

1.3. Das Problem der historischen Fremdheit Aber damit sind noch nicht alle Probleme gelöst. Angenommen, wir besäßen ein historisch zuverlässiges Bild vom historischen Jesus, das seiner Individualität im Rahmen des Judentums gerecht wird, so bliebe das Problem seiner historischen Fremdheit. Die Jesusüberlieferung fuhrt uns in eine andere Welt. Sie ist darin kein Sonderfall. Im Gegenteil: Jede historische Überlieferung entfernt sich von uns alle 24 Stunden um einen Tag. Die Fremdheit des Historischen ist kein besonderes Problem der Jesusüberlieferung. Vielmehr geht modernes historisches Bevmsstsein grundsätzlich von der Überzeugung aus, dass jede Überlieferung historisch fremd sei - und wird gerade bei den vermeintlich vertrauten Überlieferungen skeptisch, ob sie uns wirklich so nahe stehen wie es den Anschein hat oder ob uns nicht zufällige Übereinstimmungen mit unserer Lebenswelt dazu verfuhrt haben in ihnen etwas von uns selbst wiederzuentdecken. Das Postulat der historischen Fremdheit wird also an jede Überlieferung herangetragen, auch an die uns vermeintlich vertrauten Traditionen. Es ist eine axiomatische Überzeugung historischen Wissens, die sich im Umgang mit der Geschichte immer wieder bewährt hat. Daher gibt es kein größeres Sakrileg in der historischen Wissenschaft als das, fremde Lebenswelten und Erscheinungen zu „modernisieren", anstatt sie aus ihrem eigenen Kontext und aus sich selbst heraus zu verstehen.^^ Das gilt um so mehr, je größer ein in der Gegenwart verankertes Interesse vorhanden ist aus der Vergangenheit Orientierungen ftir die Gegenwart abzuleiten - und die Vergangenheit im Kontext der Gegenwart zu interpretieren. Gerade das ist bei Jesus der Fall. Christlicher Glaube macht die Gestalt Jesu zum Zentrum seiner Lebensorientierung - tut also das, was aus der Perspektive eines strengen Wissenschaftsethos als Garant ftir die Korrum" Vgl. H. J. Cadbury, The Peril of Modernizing Jesus (s.o. Anm. 3).

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pierang sachlicher Arbeit gilt. Aktualisierung der Vergangenheit erscheint hier als Vergewaltigung der Geschichte. Wieder tut sich vor uns Lessings breiter Graben auf - diesmal in besonders einschüchternder Form. Denn die Überwindung dieser historischen Distanz scheint schon deshalb von Vergeblichkeit gekennzeichnet zu sein, weil sie jeden Tag zunimmt. Jesus scheint immer mehr an den Rand unserer Kultur zu rücken und in seine Zeit zurückzugehen, aus der er als Fremder in unsere Zeit gekommen ist. Wohlgemerkt: Die Überzeugung von der Fremdheit des Historischen ist eine axiomatische Idee. Wir treten mit dieser Idee schon immer an die Quellen heran. Auch hier geht es uns wie bei anderen axiomatischen Ideen des historischen Bewusstseins. Konsequent durchdacht, entwickeln sie eine Dialektik, die ihr Gegenteil als ihren notwendigen Bestandteil erscheinen lässt. Nur wer auf der Fremdheit der historischen Überlieferung insistiert, entdeckt in ihnen eine Nähe, die sie als Ausdruck derselben kulturellen Aktivität verstehen lässt, in der auch Menschen in der Gegenwart engagiert sind. Wie ist das möglich? Machen wir folgendes Gedankenexperiment. Angenommen, wir fänden in geschichtlichen Texten nur unsere vertraute Lebenswelt wieder oder ihre Lebenswelt wäre noch immer mit unserer eigenen identisch, die Konsequenz wäre, dass wir diese LebensweU nicht mehr als „geschichtliche" Welt (d.h. als eine sich verändernde und als von uns veränderbare Lebenswelt) erlebten, sondern als natürliche Welt, die in ihren Grundstrukturen konstant bleibt und notwendig so ist, wie sie ist. Erst die Fremdheit des Historischen macht uns bewusst, dass historische „Lebenswelten" ebenso vom Menschen konstruierte Sirmwelten sind wie unsere eigene moderne Welt. Paradoxerweise wird uns damit erst über historisch Fremdes bewusst, was uns mit allen Menschen in Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig macht: nämlich die kulturelle sinngebende Aktivität des Menschen, der niemals in einer natürlichen Umwelt lebt, sondern in einer konstruierten Lebenswelt, die er durch Deutungen und Überzeugungen, Institutionen und Techniken selbst aufbaut - und die dabei eine große Mannigfaltigkeit zeigt. Wieder gilt: Wir dürfen nicht gegen das moderne Axiom der Fremdheit des Historischen einen Zugang zur Vergangenheit suchen - etwa durch Rückgriff auf zeitlose Wahrheiten, die nur in historisch veränderlicher Gestalt vorliegen. Vielmehr müssen wir uns auf diese Fremdheit vorbehaltlos einlassen, auch wenn Jesus dabei an den äußersten Rand unserer Kultur zu rücken scheint. Denn je fremder eine historische GestaU zunächst ist, um so größer wird die Chance, dass wir in Auseinandersetzung mit ihrer Fremdheit neue Dimensionen unserer kulturellen Sinngebungsaktivität entdecken und dabei unser Verstehen menschlicher Kultur nicht nur bestätigen, sondern erweitem und vertiefen.

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Lässt sich das konkret am Beispiel der Gestalt Jesu aufweisen, - diese Dialektik von Distanz und Nähe, Fremdheit und Vertrautheit? Unsere These hierzu lautet: Die Fremdheit Jesu, wie sie sich in seinen Exorzismen, Radikalismen und apokalyptischen Erwartungen zeigt, rückt ihn an den Rand unserer Kultur. Aber gerade diese bizarren Züge lassen sich als Ausdruck eines Protestes deuten, der das Herz unserer Kultur darstellt: ihre verborgene Mitte und ihr heimliches Programm. 1.3.1. Die Fremdheit des historischen Jesus Die Fremdheit des historischen Jesus zeigt sich in seiner Erwartung einer umfassenden kosmischen Wende: Er glaubte, dass die Gottesherrschaft schon verborgen präsent wäre, aber in naher Zukunft alles verwandeln würde. Danach sollte nichts mehr so sein, wie es vorher war. Sowohl in Gleichnissen und Bildern konnte man von dieser umfassenden Wende reden wie in allgemeinen Sprüchen. Sie erschien als ein Mysterium fascinosum mit undeutlichen Umrissen. Deutlich ist nur, dass ein endgültiges Gericht der Gottesherrschaft vorhergehen sollte. Denn nicht alle würden in sie gelangen. Das Gericht bedrohte alle. Durch Umkehr war Rettung möglich. Diese Umkehr umschloss bei den engeren Nachfolgern Jesu eine bizarre ethische Radikalität: die Bereitschaft zum Verzicht auf Gegenwehr und zur Feindesliebe, Sorglosigkeit hinsichtlich des Lebensunterhalts, Verzicht auf Besitz und Armut, Bruch mit Familie und Familienpietät - selbst den Vater sollte man unbegraben lassen, wenn die Gottesherrschaft es forderte. Gemessen an ihr war alles andere unwichtig - das normale Leben mit Arbeit und Beruf, Haus und Familie. Diese Gottesherrschaft brachte Heil ftir jetzt Außenstehende: Besessene wurden geheilt, der Teufel erschien besiegt, Dämonen flohen. Kranke wurden in merkwürdigen Wundem geheilt, moralisch Stigmatisierte akzeptiert, die Armen und Kinder sollten zur Macht in der Gottesherrschaft kommen. Aber dieser zentrale Inhalt seiner Verkündigung, die Gottesherrschaft, wurde von der Geschichte nicht „eingelöst": Sie kam nicht. Vielmehr zog Jesus nach Jerusalem - vielleicht in Erwartung der Wende. Vielleicht mit bewusst eingegangenem Risiko eines gewaltsamen Todes. Er wurde durch die römischen Behörden hingerichtet, an die ihn die jüdische Aristokratie ausgeliefert hatte. Nach seinem Tod hatten die Jünger Erscheinungen, die in ihnen die Überzeugung weckten, dass er von den Toten auferstanden sei. Wer war dieser Jesus? Teils ein sensibler Poet, teils ein apokalyptischer Prophet, teils ein Wundertäter und Exorzist, dazu ein charismatischer Führer und ein extremer Ethiker! Wir würden seine Fremdheit noch mehr empfinden, wenn uns die Jesusüberlieferung nicht schon so vertraut geworden wäre.

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1.3.2. Die Nähe des historischen Jesus Und doch kann uns gerade dieser Jesus, der unserer modernen Weit fremd bleibt, auf überraschende Weise nahe kommen. Wir müssen dazu nur die in den Jesusüberlieferungen enthaltene Sinndeutung von Welt und Leben auf die Aufgabe beziehen, die alle menschliche Kultur hat: nämlich Selektionsdruck zu reduzieren. Kultur beginnt mit der Chance, dass menschliches Leben dort ermöglicht wird, wo es unter natürlichen Bedingungen unmöglich wäre - ermöglicht durch technische Bearbeitung der Umwelt, soziale Institutionen des Ausgleichs und ethisch motivierende Überzeugungen. Sie beginnt, wo der Schwache, der an und für sich keine (oder nur geringere) Lebenschancen hat, durch bewusstes menschliches Verhalten neue (oder bessere) Chancen zum Leben erhält. In dem Augenblick hat der Mensch das Reich der Natur verlassen und ist in das Reich der Kultur eingetreten - er überschreitet eine Schwelle, hinter die er immer wieder zurückzufallen droht.'" In der Bibel wird aus dieser kulturellen Verpflichtung zur Reduktion von Selektionsdruck ein schroffer Protest gegen das Selektionsprinzip, der im Alten Testament beginnt und in der Gestah des Jesus von Nazareth seinen klarsten Ausdruck findet. Das durch ihn begründete Christentum ist - wie F. Nietzsche scharfsinnig gesehen hat - Gegenprinzip gegen die Selektion.^' Denn in ihm wird der Schwache nicht nur geschützt, ihm wird sogar ein Vorrang zugesprochen: In der Gottesherrschaft sollen die Armen, Kranken, Hungernden und Kinder zur Geltung kommen. Die Wundergeschichten mögen für uns bizarr sein. Aber sie bringen einen unbedingten Protest gegen die natürliche Verteilung von Lebenschancen zum Ausdruck - sie geben dem erlöschenden und reduzierten Leben eine neue Chance. Die Ethik Jesu mag für uns zu radikal sein, aber sie vollzieht nur den Bruch mit der bisherigen biologischen Evolution. In Frage gestellt wird die biologisch fundierte Familiensolidarität - die Liebe zu den genetisch Verwandten; gefordert wird dagegen die biologischen Verhaltenstendenzen entgegengesetzte Feindesliebe - die Liebe zu denen, die nicht genetisch (oder kulturell) verwandt sind. Die apokalyptische Erwartung einer schon beginnenden kosmischen Wende, die verborgen jetzt schon beginnt, mag bizarr und illusionär wirken, entspricht aber genau der Situation des Menschen an der Schwelle zwischen der biologischen und kulturellen Evolution, zwischen dem Reich der Natur Für eine Entfaltang dieser Gedanken vgl. G. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München: Kaiser 1984. " Vgl. F. Nietzsche, Der Antichrist § 7 in: F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe VI, 3, G. Colli/M. Montinari (Hg.), Berlin: de Gruyter 1969. Er definiert das Christentum als eine Religion des Mitleids und schreibt: „Das Mitleiden kreuzt im Ganzen Grossen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selection ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist."

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und der Freiheit. Überall wo sich der Mensch gegen die Macht des Selektionsprinzips erhebt, hat er diese Schwelle schon überschritten - in vielen einzelnen Akten, verborgen mitten in einer Welt, die insgesamt nach anderen Gesetzen verläuft. Der neue Raum, in den er tritt, aber bleibt ihm in seinen Dimensionen verschlossen. Die Gerichtserwartung wirkt mit ihrer Scheidung von Guten und Bösen archaisch und grausam. Aber sie stellt nur den Selektionsdruck dar, der über allem menschlichen Leben steht - und der auch in der Moral weiterwirkt: Der Böse soll weniger Lebenschancen als der Gute haben. Aber gerade diese einfache Verteilung von Gut und Böse wird in der Jesusüberlieferung in Frage gestellt. Nur die Umkehrenden passieren das Gericht. Nur die, die ihre Sünden eingestehen - also eingestehen, dass sie eigentlich keine Chance haben - werden gerettet. Auch die Irritation der urchristlichen Osterbotschaft paßt in dies Bild - ja, gibt ihm ein neues Zentrum: Ein Gescheiterter und Ohnmächtiger wird in ihr zum Ursprung des Lebens. Was aus dem Leben ausgeschieden wird, wird zum Inbegriff eines neuen Lebens. Selektion bedeutet Tod und Leiden, nämlich verminderte Lebens- und Überlebenschancen. Die Überwindung des Todes aber ist Überwindung von Selektion. Sieht man in der Gestalt Jesu - gerade in dem, was uns bizarr und fremd erscheint - einen Ausdruck antiselektionistischen Protests, so gerät diese Gestalt vom äußersten Rand unserer Kultur in ihr Zentrum - wenigstens ftir die, die sich dem Programm einer Selektionsreduktion ftir die schwächeren oder die weniger „angepassten" Mitmenschen verpflichtet wissen. Dass dies „Programm" befolgt wird, ist so wenig sicher, wie der Gedanke, dass es als Veφflichtung akzeptiert wird. Der Nationalsozialismus war ein offener Verrat an diesem Programm. Und es wurde nicht nur von ihm verraten, sondern oft genug auch von christlichen Kirchen. Immer zog solcher Verrat unermessliches Leiden nach sich. Menschliche Kultur ist nicht einfach Überwindung des Selektionsdrucks, sondern die Chance ihn zu überwinden und zugleich die Gefahr ihn künstlich in kollektiven Grausamkeiten zu erhöhen. Fassen wir unseren Gedankengang zusammen: Persönliche Gewissheit im Umgang mit dem historischen Jesus entsteht durch das Zusammentreffen axiomatischer Überzeugungen und zufälliger Quellen. Die axiomatischen Überzeugungen des modernen historischen Bewusstseins vertiefen zunächst den Graben zwischen uns und dem historischen Jesus. Die drei Prämissen - die Fehlbarkeit aller historischen Quellen, die historische Relativität aller Erscheinungen und die Fremdheit alles Historischen - ftihren zu historischer Skepsis, Relativierung und Distanz. Der historische Jesus scheint in einer unzugänglichen Vergangenheit zu versinken. Dieselben Prämissen enthalten aber eine innere Dialektik, die notwendigerweise das

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Gegenteil ihrer selbst umschließt. Konsequent durchdacht, begrenzt die Fehlbarkeit aller menschlichen Quellen auch unsere historische Skepsis, öffnet die Einordnung Jesu in geschichtliche Zusammenhänge den Blick för seine Individualität, fuhrt die Auseinandersetzung mit seiner provozierenden Fremdheit zu einer überraschenden Nähe. Der Graben, der uns vom historischen Jesus trennt, bleibt breit, lang und tief. Wir können ihn nicht überspringen. Aber wenn wir in ihn hineinfallen, so ist das keine Katastrophe: Wir können in ihm schwimmen und dabei Jesus näherkommen. Deshalb sind wir noch nicht am anderen Ufer. All unser Wissen ist hypothetisch, auch die größte uns zugängliche Gewissheit. Alles steht unter dem Vorbehalt: Es könnte auch anders sein. Wir haben gezeigt, dass trotzdem aufgrund axiomatischer Überzeugungen - persönliche Gewissheit möglich ist. Diese axiomatischen Überzeugungen sind jedoch historisch geworden. Sie sind nicht zeitlos notwendig, auch wenn wir uns nicht vorstellen können, wir könnten uns historischen Gegenständen je mit anderen Prämissen nähern. Für uns ist das in ihrem Licht Erfahrene „gewiss" - so gewiss, wie menschliche Gewissheit überhaupt sein kann. Aber auch diese Gewissheit ist nicht unbedingte Gewissheit. Es bleibt ein Einschlag des Hypothetischen. Lessings Graben wird nicht zugeschüttet. Wie können wir uns mit ihm versöhnen? Anders gesagt: Wie können wir uns mit dem hypothetischen Charakter allen Wissens und Glaubens versöhnen? Oder finden wir vielleicht doch noch etwas, was über dies Hypothetische hinaus weist?

2. Über die Möglichkeit religiöser Gewissheit im christlichen Glauben Fragen wir zunächst: Welche Wege ist die Theologie bisher gegangen um sich mit der Relativität historischer Erkenntnisse zu versöhnen und Lessings Graben argumentativ zu überwinden? Vier Wege seien skizziert: 1. Die Orientierung am biblischen Jesusbild. Alle historischen Jesus-Rekonstruktionen sind mit einer Aura von Hypothesen umgeben. Warum soll man diesen Konstrakten wissenschaftlicher Phantasie nicht das biblische Jesusbild vorziehen - im Vertrauen darauf, dass es eine Auswirkung des historischen Jesus ist? Haben wir nicht den „wirklichen Jesus" in dem von ihm „bewirkten Bild" erhaben? Ist der wirkliche Jesus der geschichtlich wirksame Jesus? Für diese „biblizistische" Lösung plädierte Martin Kähler 1892 in seiner klassischen Schrift „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus". Aber auch dann bleibt die Frage erhalten: Warum erkennen wir in diesem biblischen Christus - jener rätselhaften Gestalt, die aus dem Himmel kam um in ihn zurückzulehren, die

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Mensch wurde um als göttliches Wesen alle Mächte im Himmel und Erden zu triumphieren, die den gewaUsamen Tod erlitt um Leben und Liebe zu ermöglichen - warum erkermen wir in ihr eine unbedingt veφflichtende Wahrheit? Erst dann hätten wir wirklich Lessings Graben überwunden! Ist das biblische Christusbild neben anderen Bildern von Erlösern und Gottheiten nicht genau so umstritten, genau so relativ und genau so fremd wie der historische Jesus? 2. Die historische Absicherung des Jesusbildes. Immer wieder entsteht das Bedürfnis dies biblische Jesusbild durch historische Forschung abzusichern. Programmatisch wurde dieses Bemühen bei den „positiv-kritischen" Jesusforschem vertreten: von Joachim Jeremias, Leonhard Goppelt und Werner Georg Kümmel. Man erwartete von historischer Forschung gesicherte Erkenntnisse - mitten in einer Fülle von Hypothesen und Ungewissheiten: „Nur der Menschensohn selbst und sein Wort können der Verkündigung Vollmacht geben."^^ Die positiv-kritische Lösung überzeugt deshalb nicht, weil sie immer wieder die relativierende Macht des Hypothetischen überspringen muss. Sie macht den Glauben von wechselnden historischen Hypothesen abhängig. Und selbst wenn man dies Problem vernachlässigte, bliebe die Frage: Warum erkennen wir in einer bestimmten Auswahl von Jesusworten eine Stimme, die unbedingt veφflichtet? Sind nicht alle möglichen Jesusworte in ihrer Deutung umstritten, in ihrer Eigenart historisch bedingt und potentiell fremd - und das auch dann, wenn sie unbestreitbar authentisch wären? 3. Die kerygmatheologische Reduktion des Jesusbildes. Wer weniger Vertrauen zu konsensfähigen Ergebnissen der historischen Forschung hat und den christlichen Glauben nicht von den wechselnden Hypothesen der Wissenschaft abhängig machen will, kann mit der Kerygmatheologie R. Bultmanns die Beziehung des christlichen Glaubens zur Geschichte auf das formale „Dass" des Gekommenseins Jesu reduzieren: Beim Vollzug von Predigt und Glauben bezieht man sich zwar auf das biblische Jesusbild, bei der theologischen Argumentation und Reflexion dagegen auf einen unanschaulichen Bezugspunkt. Aber auch die kerygmatheologische Reduktion ist undurchführbar. Die Reduktion der Geschichtlichkeit Jesu auf das bloße „Dass" des Gekommenseins setzt voraus, dass vorweg Konsens darüber besteht: Wer immer gekommen ist, hat unbedingte Bedeutung. Wenn dessen Bedeutung irmergeschichtlich unsichtbar bleibt, so lässt sie sich nur in einem die Geschichte transzendierenden Mythos aussagen. Um das anhand J. Jeremias, Der gegenwärtige Stand der Debatte um das Problem des historischen Jesus, in: H. Ristow/K. Matthiae (Hg ), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung, Berlin; Evangelische Verlagsanstalt ^1961, 12-25, dort S. 25.

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Der historische Jesus

eines Bildes zu illustrieren: Die Kerygmatheologie sieht den Menschen in der Situation von verschütteten Menschen. Für verschüttete Menschen besteht das Heil schon darin, dass andere Menschen zu ihnen vordringen. Deren Aussehen ist gleichgültig, gleichgültig ihre Herkunft und ihre konkrete Motivation. Entscheidend ist allein, dass sie die Verbindung mit der Welt des Lichts und des Lebens wieder herstellen. Vorausgesetzt aber ist ein sicheres Wissen um diese Welt des Lichts und Lebens. Vorausgesetzt ist die absolute Gewissheit, dass sich der Rettungstrupp in rettender Absicht nähert. Ähnliche Voraussetzungen stehen hinter der kerygmatheologischen Reduktion: Sie setzt die Überzeugung von einer jenseitigen „Welt" Gottes voraus. Sie setzt die Gewissheit voraus, dass Heil durch Kontakt mit dieser „Welt Gottes" entstehen kann. Dann erst kann es zum Allerentscheidendsten werden, dass jemand aus dieser Weh in die Geschichte tritt. Das bloße „Dass" ist also nur innergeschichtlich ein bloßes „Dass". Im Rahmen eines umgreifenden „Mythos", der die Geschichte transzendiert, ist es schon immer mit Inhalt gefüüt: Es ist das Gekommensein eines Erlösers. 4. Das symbolische Verständnis des Jesusbildes löst sich noch konsequenter von der Geschichte. Poetische und bildliche Texte (wie z.B. die Gleichnisse Jesu) haben ihre Wahrheit in sich, unabhängig von ihrer Geschichtlichkeit und Authentizität. Warum soll man das neutestamentliche Zeugnis von Jesus nicht als Bild und Gleichnis zeitloser Wahrheiten deuten? Etwa, indem man hier die Einsicht findet, dass der Mensch in seiner Existenz und Freiheit von unverfligbarer Gnade lebt? Diese innere Wahrheit bedarf keiner äußeren Bestätigung. Das Jesusbild wird so nicht nur „entmythologisiert", sondern „entkerygmatisiert": Es wird aus einer Botschaft, die in einer bestimmten historischen Situation verwurzelt ist, zu einer zeitlosen Chiffre. Für diese Lösung plädiert in Anlehnung an die Philosophie Karl Jaspers F. Buri.^^ Die symbolische Lösung teilt eine Unzulänglichkeit mit der ihr scheinbar entgegengesetzten biblizistischen Lösung. Beide widersprechen einer kritischen Einstellung modemer Mentalität zu geschichtlichen Quellen, die zwischen historischer Wirklichkeit und den Zeugnissen von ihr unterscheiden will. Weder können wir aufgrund eines erweiterten Wirklichkeitsbegriffs uns mit der Auskunft begnügen, dass alle biblischen Zeugnisse etwas „Wirkliches" im Sinne geschichtlicher Wirksamkeit bezeugen, noch befriedigt uns ein expandierender Symbolbegriff, nach dem alle Aussagen in der Bibel - auch dort, wo sie eindeutig einmaliges geschichtliches Geschehen meinen - nur zeitlos symbolisch gemeint seien. Berechtigt ist bei beiden Ansätzen, dass wir die überlieferten Texte in sich wertschätzen kön-

F. Buri, Entmythologisierung oder Entkerygmatisierung der Theologie, in: H. W. Bartsch (Hg.), Kerygmaund Mythos, Bd. 2, ThF 2, Hamburg; Reich 1952, 85-101.

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nen und dass sie - unabhängig von ihrem historischen Wirklichkeitsgehalt sowohl wirkliche Erfahrungen als auch Erfahrung von „Wirklichem" enthalten. Aber was treibt uns dazu in Aussagen über historisch einmalige Ereignisse einen symbolischen Mehrwert an Sinn zu sehen, der über jede relative, vergängliche und kontextuell determinierte Bedeutung hinausweist? Müssen wir nicht schon Kontakt mit dem Ewigen gehabt haben, wenn wir etwas als Symbol des Ewigen wahrnehmen? Ich kann am Ende nur eine persönliche Antwort versuchen, oder genauer zwei Antworten, die in Spannung zueinander stehen. Die erste Antwort sagt: Der unentrinnbare hypothetische Charakter all unseres Wissens nötigt uns dazu uns mit diesem hypothetischen Charakter zu versöhnen. Diese erste Antwort läuft auf eine Annahme der fragmentarischen und begrenzten menschlichen Existenz hinaus. Die zweite sagt dagegen: Der unbedingte Charakter religiösen Glaubens lässt uns über alles Hypothetische hinaus fragen, da wir in uns einen Sinn für Unbedingtes, Ewiges und Freiheit haben. Diese Antwort läuft darauf hinaus, dass wir in uns einen „Sinn" haben, der über unsere fragmentarische menschliche Existenz hinaus weist.

2.1. Die erste Antwort: Der hypothetische Charakter alles Wissens und Glaubens Man kann sich mit dem hypothetischen Charakter unseres Wissens und Glaubens versöhnen. Vier Gründe daftir seien im Folgenden angeftihrt: ein hermeneutischer, philosophischer, ästhetischer und religiöser Grund. Zunächst ein hermeneutischer Grund, wobei „hermeneutisch" hier umfassend als Reflexion jedes Vorgehens in Geistes- und Geschichtswissenschaft verstanden wird. In der Jesusforschung ist alles mehr oder weniger hypothetisch. Aber auf dem Rücken aller Hypothesenbildungen entsteht notwendig eine Gewissheit: Dass es sinnvoll ist über Jesus historische Hypothesen zu entwickeln, also zwischen verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen und die wahrscheinlicheren anderen vorzuziehen. Gerade die hypothetische Relativierung, die sagt: „Es könnte auch anders sein!", macht uns dessen gewiss „Es gibt etwas, das anders sein könnte" - oder es wäre sinnlos weiterhin über diesen Gegenstand historische Hypothesen zu entwickeln. Auch die Überzeugung von seiner Geschichtlichkeit, also von seinem bloßen „Dass", bildet sich durch hypothetisches Abwägen von Möglichkeiten dessen, was Jesus gewesen sein könnte. Der durchgehende Charakter des Hypothetischen in der Jesusforschung kann so paradoxerweise zur Grundlage einer Gewissheit werden. Unser zweiter Grund ist ein philosophischer. Man kann auch präziser sagen: Es ist ein metaphysischer, denn er setzt ein Bild von der Gesamtwirk-

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lichkeit voraus. Wir sind uns dessen bewusst, dass solche Bilder kühne Antizipationen dessen sind, was wir endgültig nicht wissen können. Entscheidend Шг uns ist: Nicht nur unser Wissen, sondern unser ganzes Leben hat hypothetischen Charakter. Der Strom des Lebens ist ein Prozess von trial and error, der den Grundbedingungen der Realität zu entsprechen sucht, die Gott gesetzt hat. Die Welt und alles Leben ist insofern eine Hypothese, die Gottes Willen zu entsprechen versucht. Auch unser Wissen gehört dazu, auch das Neue Testament und auch die christliche Religion. Alles ist hypothetisch und überholbar. Und gerade deshalb können wir uns mit diesem hypothetischen Charakter unseres Wissens und Glaubens versöhnen. Eine dritte Antwort basiert auf ästhetischer Erfahrung. Alles Wissen ist vorläufig, auch unser Wissen von Jesus, aber wir können es ästhetisch gestalten. Hierdurch gewinnt es eine Abrundung, die in sich wertvoll bleibt, auch werm unser Wissen vergänglich ist. Unsere Darstellungen von Jesus sollten daher ästhetischen Charakter haben. Dichtung versöhnt mit der Überholbarkeit unseres Wissens. Die vierte und entscheidende Antwort beruht auf religiösem Glauben. Alles Wissen ist Hypothese - und alles Leben ist eine Hypothese Gott zu entsprechen. Alles Hypothetische ist dem Risiko des Scheitems ausgesetzt. Aber christlicher Glaube ist überzeugt, dass Gott auch die scheiternden Varianten des Lebens akzeptiert. Er verleiht von sich aus jene Entsprechung zu ihm, nach der alles Leben unterwegs ist. Er bietet in seinem Wort die Übereinstimmung mit sich selbst an - ohne Vorbedingung, unbedingt und gültig für alle Ewigkeit.

2.2. Die zweite Antwort: Ein religiöser Sinn für Unbedingtes im Wissen und Glauben Unsere zweite Antwort ergibt sich fast dialektisch aus der ersten. Wenn wir uns mit dem hypothetischen Charakter unseres Denkens und aller Dinge versöhnen müssen - dann wäre diese „Versöhnung" überflüssig, wenn in uns nicht etwas gegen das Vergängliche, Relative und Eingeschränkte menschlichen Daseins rebellierte: ein Sinn fur Unbedingtes und Ewiges, der aufbegehrt, werm er mit der Realität konfrontiert wird. Könnte es nicht dieser Sinn in uns sein, der auf einige Züge im Bilde des historischen und des biblischen Jesus anspringt - und dessen historisch relative Bedeutung transparent macht für etwas, das uns unbedingt angeht? Und hören Christen deswegen in einem historisch kontingenten Geschehen das Wort Gottes weil dieser Sinn in ihnen aktiviert worden ist? Das Wort Gottes ist ein kontingentes Geschehen und so unableitbar wie die Existenz der Welt überhaupt. Aber weckt es vielleicht subjektiv im Menschen Verstehensbedin-

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gungen, die den Menschen über alles Hypothetische hinaus fragen lassen? Das Wort Gottes begegnet im Neuen Testament objektiv in Form der Person Jesu Christi, eines göttlichen Wesens, das unter den Bedingungen der Endlichkeit gelebt hat. Entspricht diese Christologie vielleicht in überraschender Weise diesen Verstehensbedingungen im Menschen? Diesen Fragen gehen wir am Ende unserer Überlegungen nach, zunächst den subjektiven Verstehensvoraussetzungen, dann den objektiven Zügen der urchristlichen Christologie.^® Das Wort Gottes verschafft sich im Menschen eine innere Evidenz, weil es inneren Bedingungen des Menschen entspricht. Was sind diese apriorischen Bedingungen? In jedem Geltungsanspruch sind m.E. drei Überzeugungen vorausgesetzt, die nicht unbedingt bewusst sind, aber potentiell bewusst werden können. Sie sind die transzendentalen Voraussetzungen religiöser Gewissheit.^' Die erste Einsicht: Eine Aussage, etwas sei wahr oder falsch, beansprucht, auch in X + η Jahren wahr oder falsch zu sein. In jedem Geltungsanspruch ist ein „Ewigkeitsanspruch" mitgesetzt. Selbst wenn man einen Geltungsanspruch relativiert und sagt, er sei auf bestimmte Räume und Zeiten begrenzt, fordert man ñir diese relativierende Aussage einen unbegrenzten Geltungsanspruch von χ + η Jahren. Wir bezeugen daher in allen Geltungsansprüchen implizit einen Sinn für „Ewiges",^" auch wenn wir ihn explizit leugnen - und angesichts der überwältigenden Erfahrung der Vergänglichkeit immer wieder leugnen werden und leugnen müssen. Aber selbst die trotzige Behauptung, dass alles relativ ist, wäre eine leere Einsicht, wenn sie nicht einer unauslöschlichen Suche des Menschen nach dem, was nicht relativ ist, widerspräche. Die zweite Einsicht: In allen Geltungsansprüchen ist ein Unbedingtheitsmoment mitgegeben. Sofern wir überhaupt etwas an einer Norm messen, ziehen wir das der Norm Entsprechende dem vor, das der Norm widerspricht.^' Wir können nicht anders, als das, was wir als Wahrheit subjektiv Im Folgenden gebe ich noch einmal Gedanken wieder, die ich in: G. Theißen. Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh: Kaiser 2000, '2002, 400-405, entwickelt habe. Vgl. R. Schaeffler, Fähigkeit zur Erfahrung. Zur transzendentalen Hermeneutik des Sprechens von Gott, QD 94, Freiburg u.a.: Herder 1982. In diesem Entwurf wird nicht einfach von transzendentalen Voraussetzungen des Bewusstseins auf Gott geschlossen, sondern von der Erschütterung solcher Voraussetzungen in geschichtlich kontingenten Situationen: Der Zusammenbruch der durch sie konstituierten Erfahrungswelt macht erfahrbar, was alle Erfahrung erst ermöglicht. Vgl. A. Nygren, Die Gültigkeit der religiösen Erfahrung, Gütersloh: Bertelsmann 1922, hat das „Ewige" als die transzendentale Grundkategorie des Religiösen herausgestellt. " W. Windelband, Das Heilige = in Auszügen in: C. Colpe (Hg.), Die Diskussion um das „Heilige", WdF 305, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, 29-56, bestimmt den

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erkannt haben, dem von uns erkannten Irrtum vorzuziehen. Wer trotzdem die Illusion der Wahrheit vorzieht, kann es nur tun, weil er andere Werte den kognitiven Maßstäben von wahr und falsch vorzieht: Was dem Leben oder anderen Werten dient, ist für ihn wertvoller als das, was der Wahrheit dient. Ein unbedingter Vorrang des normativ Höheren wird auch von ihm anerkannt. Sobald wir also überhaupt normativ urteilen, aktivieren wir ein unbedingtes Element in unserem Denken - auch dann, wenn wir es explizit leugnen. Die dritte Einsicht: Wenn wir fur eine Aussage Geltung beanspruchen, beanspruchen wir für sie verantwortlich zu sein. Wäre nämlich unsere Aussage vollständig durch Faktoren determiniert, die in der Vergangenheit liegen, könnten wir immer nur das Faktum unserer Aussagen konstatieren, nie aber Geltung fur sie beanspruchen. Jede Diskussion von Geltungsansprüchen bestünde darin zu warten, ob wir in Zukunft anders „determiniert" werden als in der Gegenwart. Auch die These, alles sei determiniert, beansprucht fíir sich selbst nicht vollständig durch vergangene Kausalfaktoren determiniert zu sein. Sie beansprucht für sich in Freiheit und „Verantwortung" formuliert worden zu sein. Dieser Sinn für Ewiges, Unbedingtes und Verantwortung wird in der Religion produktiv. Er konstruiert mit Bildern der Lebenswelt Räume, die weit über die Lebenswelt hinausgehen. In einem langen historischen Prozess von Versuch und Irrtum hat die Religionsgeschichte religiöse Symbole und Bilder hervorgebracht, die den apriorischen Bedingungen religiöser Erfahrung adäquat sind. Vor allem aber finden wir die Spuren solch einer über alles Empirische hinausgehenden transzendentalpoetischen Arbeit im Christusglauben des Urchristentums: Der Mensch hat apriorisch einen Sinn für Ewiges, Unbedingtes und Verantwortung, erfahrt sich aber empirisch als vergänglich, bedingt und determiniert und lebt in Spaltung mit sich. Dieser Sinn fur Ewiges, Unbedingtes und Verantwortung hat von vornherein auch die urchristliche Christologie mitgestaltet: Die Steigerung des historischen Jesus zu einer Gottheit wird vielleicht so verständlich. Eine vergängliche Erscheinung, die unter einschränkenden Bedingungen gelebt hat, bei der determinierende soziale und politische Faktoren erkennbar sind, wurde aufgrund eines religiösen AprioOrt der Religion nicht als einen Bereich neben Logik, Ethik und Ästhetik, sondern als Bewusstsein der Normen, die in diesen Bereichen in Widerspruch zum Faktischen treten. Die „antinomistische Koexistenz der Norm und des Normwidrigen in demselben Bewußtsein" (S. 32) führt zum Erleben des Heiligen. „Das Heilige ist als das Normalbewußtsein des Wahren, Guten und Schönen, erlebt als transzendente Wirklichkeit." (S. 35) (Hervorhebung ist original). Ich würde zurückhaltender urteilen: Das normative Bewusstsein ist nicht in sich religiös, aber es ist eine notwendige Voraussetzung für religiöse Erfahrung. Es müssen noch weitere „hinreichende" Bedingungen hinzutreten, damit solch eine normative Sensibilität Religion wird.

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ris als Erscheinung eines Ewigen, Unbedingten und unsere Verantwortung Herausfordemden erkannt und mit jener mythischen Aura umgeben, die einem göttlichen Wesen zukommt. Aber seine Erscheinung wurde von dieser mythischen Aura nicht aufgesogen. Man bewahrte die Erinnerung, dass Jesus gleichzeitig sterblich, bedingt und unfrei war, d.h. dass er eine konkrete Gestalt irdischer Geschichte war. Sollte die große Plausibilität seines Bildes fur die ersten Christen nicht auch darauf beruhen, dass diese Christologie der Struktur des menschlichen Selbst entsprach: eines menschlichen Selbst, das Sinn für Ewiges, Unbedingtes und Freiheit hat - das aber gleichzeitig Vergänglichkeit, Bedingungen und Zwängen ausgesetzt ist? Wenn die gnostischen Gruppen Christus als Symbol fur das menschliche Selbst inteφretieren, haben sie etwas Richtiges gesehen - nur dass sie in diesem Symbol die Einheit von Ewigem und Vergänglichem, von Unbedingtem und Bedingtem, von Freiheit und Zwang leugneten und eine (etwas narzisstische) Auffassung des Selbst vertraten, als dürfe es sich von dieser Welt des Vergänglichen, Bedingten und Determinierten grundsätzlich frei wissen. Erst die Aktivität eines ganz formalen Aprioris des Ewigen, Unbedingten und der Freiheit erklärt m.E., warum Menschen in ihren religiösen Konstruktionen immer wieder die endliche empirische Welt transzendieren und im Vergänglichen etwas Ewiges, im Bedingten etwas Unbedingtes und im unausweichlichen Geschick den Appell zur Verantwortung wahrnehmen und das mit großer innerer Evidenz. Erst wenn wir einen solchen religiösen Sinn im Menschen voraussetzen, entsteht zwischen dem Unbedingten, auf das er zielt, und dem Historischen der garstige breite Graben von G. E. Lessing. Ausdrücklich sei betont: Eine transzendentale Kategorie besagt nur, dass wir notwendig die Vorstellung von etwas „Ewigem" entwickeln. Aber weil wir diese Vorstellung unwillkürlich und notwendig entwickeln, sind wir immer unsicher, ob ihr eine objektive Realität entspricht: Ein Sinn für das „Ewige" ist noch kein Beweis für die Existenz des „Ewigen". Unmittelbar einleuchtend aber ist: Ohne einen formalen Sinn für „Ewiges" könnten inhaltlich gefüllte Entvmrfe des „Ewigen" in der religiösen Imagination weder entstehen noch Glauben finden. Konkreter gesprochen: Die Einsicht in die „Ewigkeit" logischer Strukturen ist keine Grundlage für religiöses Erleben. Aber ohne den sich darin äußernden Sinn für Ewiges gäbe es keine darüber hinausgehende religiöse Erfahrung von Ewigem. " Eine formal vergleichbare Deutung der urchristlichen Christologie als Ergebnis einer Bearbeitung unbestreitbar historischer Tatsachen durch ein religiöses Apriori findet sich schon bei R. Otto, Das Heilige, München: Beck 1917, 183f: Jesus ist „das Heilige in Erscheinung", das aufgrund eines religiösen Aprioris im Menschen mit innerer Evidenz bejaht werden kann.

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Die urchristliche Religion bot nun nicht nur Plausibilität durch Übereinstimmung mit transzendentalen Kategorien des menschlichen Bewusstseins. Sie war deshalb so evident, weil sie gleichzeitig die Erschütterung solcher Kategorien verarbeiten konnte. Das, was in unserem Bewusstsein immer schon als transzendentale Überzeugung vorausgesetzt ist, kann von uns bewusst geleugnet werden - weil sich mächtige Erfahrungen dagegen stellen. Dem Sinn fur das Ewige widerspricht die Erfahrung der Vergänglichkeit, dem Sinn für Verantwortung die Erfahrung von Zwang und Abhängigkeit, dem Sinn für das Unbedingte die Erfahrung, dass alles relativ ist. Transzendentale Kategorien unseres Bewusstseins setzen sich nicht automatisch im Erleben durch, sondern können tief erschüttert werden, so dass mit ihnen eine ganze „Welt" zusammenbricht. In Grenzerfahrungen wird das, was „automatisch" unser Bewusstsein bestimmt, „de-automatisiert"". Das vermeintlich Selbstverständlichste wird in Frage gestellt. Diese Erschütterung des „Selbst" wird in der urchristlichen Religion in beeindruckenden Bildern dargestellt - vielleicht am eindrücklichsten in den gnostischen Metaphern und Mythen. Das „Selbst" des Menschen ist hier ein Funke, der in eine feindliche Welt geworfen wurde - unterworfen der Vergänglichkeit und Körperlichkeit, obwohl es in sich einen Funken des „Ewigen", „Unbedingten" und der „Freiheit" hat, der aber oft verschüttet ist. Das Gemeindechristentum hat gnosisnahe Gedanken übernehmen können. In den Aussagen des JohEv ist Christus der einzige Gnostiker, der weiß, woher er kommt und wohin er geht (Joh 8,14). Nach seinem Modell konnten alle Christen ihr eigenes „Selbst" verstehen: Durch ihn war ein kleines Licht der Ewigkeit in ihnen wieder aufgegangen. Durch ihn war ein unbedingter Wert in die Welt getreten. Durch ihn war Freiheit geschenkt worden. Und in seiner Gestalt in seinem Scheitern, seinem Leiden und Sterben - konnte man die Erschütterung ertragen, denen die transzendentalen Tiefen unseres Selbst ausgesetzt sind. Wir sprachen am Anfang von Lessings breitem Graben. Es ist der Graben zwischen hypothetischem Wissen und unbedingtem Glauben. Am Ende unserer Überlegungen können wir sagen, dass es ein doppeher Graben ist. Der erste hindert uns darin, einen sicheren Zugang zur Geschichte, der zweite, einen zuversichtlichen Zugang zu Gott zu finden. Wir haben gesehen, dass dennoch Gewissheit entstehen kann - und zwar dort, wo axiomatische Gewissheit mit kontingenten äußeren Fakten zusammentreffen. Diese " Die gnostische intuitive Erfahrung des Selbst als einer mit göttlichem Wesen verwandten Erscheinung ist eine Variante mystischer Erfahrungen. Für mystische Erfahrungen hat man mit Recht auf die große Bedeutung von Deautomatisierung der Wahrnehmung und der Verarbeitung von Eindrücken hingewiesen. Vgl. N. G. Holm, Einfuhrung in die Religionspsychologie, UTB 1592, München: Reinhardt 1990, 72-75.

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axiomatischen Gewissheit sind jedoch in Geschichtswissenschaft und im Glauben verschiedener Natur. In der Geschichte sind sie historisch gewachsen. Die Grundaxiome historischer Rekonstruktion basieren auf Erfahrung im Umgang mit der Geschichte. Sie sind im Grunde aposteriorisch, auch wenn sie wie ein unumstößliches Apriori historischer Rekonstruktion wirken. In der Religion basieren diese axiomatischen Gewissheiten dagegen auf formalen apriorischen Kategorien, die wir schon immer mitbringen. In beiden Fällen müssen wir in uns subjektive Voraussetzungen aktivieren um erfolgreich zu sein. Aber nichts kann uns davor bewahren in den Graben zu springen und bis ans andere Ufer zu schwimmen. Dort streckt sich uns vielleicht eine Hand hilfreich entgegen. Diese Hand haben Generationen von Christen immer wieder erfahren: als Gottes Gnade, die auch unsere hypothetischen Versuche akzeptiert, manchmal auch als inneres Licht, das selbst in unserem Scheitern noch aufleuchtet. Religionsphilosophische Reflexion kann aufdecken, dass die Begegnung mit dem kontingenten Wort Gottes einen religiösen Sinn in uns aktiviert, einen Sinn für Ewiges, Unbedingtes und Freiheit. Er sensibilisiert die Menschen für die Begegnung mit dem Wort. Durch diese Sensibilität wurde die Bibel für viele zur Chance einer Dialogaufnahme mit dem lebendigen Gott - und damit zum Medium einer Gewissheit, die historische Plausibilität und transzendentale Reflexion weit überschreitet.

Stellenregister ALTES TESTAMENT/

Lxx Gen 1,31-2,3 Gen 33,11

213 163

Ex Ex Ex Ex

278 65 119 14

17,9 23,5 30,11-16 31,14

Lev 19,33f Lev21,14

114 166 344 166 16, 5 7 59, 63, 66 65 115

Num Num Num Num Num Num Num Num Num Num Num Num

79 79 278 278 87 84 278 278 278 79 278 278

Lev Lev Lev Lev Lev

10,12ff 1 Iff 16 16,29-31 19,18

12,12 12,12 13,2f 17,17 19,1 19,22 27,2 31,13 32,2 32,24 34,16-29 36,1

Dtn6,4

Dm 8,3 Dm 22,25 Dtn 22,28 Dtn 23,9-11 Dm 23,12ff Dm 23,24 Dta24 Dtn 26,13-15

57-59, 62-64, 69 79 162 162 78 78 79 53 120

Jos 9,15-21 Jos 14,1

278 278

Jos 21,1 Jos 27,9 Jos 22,34

278 278 278

Ri Ri Ri Ri Ri

267 163 163 270 163

3,10 13,15 13,16 19 19,7

Est 7,8

162

Jud 21,2-5

264

Tob Tob Tob Tob Tob Tob Tob Tob Tob

73 143 66 264 247 264 247 247 247

l,10ff 4,6-8 4,13 13,11-18 14,4 14,4-7 14,8 14,8f I4,14f

Ruth

98

lSam2,10 ISam 4,18 lSamlO,l ISam 16,13

264 267 105f 106

2Sam 13,25 2Sam 13,27

163 163

IKön 1,39 lKön7,44 lKön8,l IKön 10,1 IKön 10,4 IKön 10,10 IKön 10,13 IKön 17-21 IKön 22,35

106 268 278 246 246 246 246 222 79

2Makk2,18 2Makk 6,2 2Makk 6,I8ff 2Makk 14,9 2Makk 14,41

264 211 73 66 162

2Kön 9,3-6 2Kön 15,5

106 267

4Makk7,19 4Makk 11,25

45 162

IChr 17,14 IChr 23,2 lChr24 IChr 24,5 IChr 27,16-22 IChr 28,1 IChr 28,5 IChr 29,6

269 278 114 114 278 278 269 278

2Chr 9,1 2Chr 9,8 2Chr 13,8

246 269 269

Neh 10,33-34

119

Ps2 Ps2,7 Ps 2,10 Ps 27,8 LXX Ps 28,8f Ps 71,2 LXX Ps 83,10 LXX Ps 84,10 Ps 88,35 LXX Ps 89,5 If Ps 90,4 Ps 121,4 LXX Ps 121,5 LXX Ps 122,5 Ps 132,10

276 139 267 276 276 267 276 276 79 276 213 268 268 268 276

IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk

1,11 1,48 l,62f 2,1 2,29^1 4,46 9,73 14,12 14,41

211 73 73 114 14, 52 116 267 189 116

Stellenregister

366 Ps 132,17f Ps 151 LXX

276 260

Spr3,16 Spr 28,14

79 25

Hi 3,16 Hi 12,18 Hi 38,8 Hi38,10ff Hi 38,29 Hi41,ll Hi41,12

79 268 79 79 79 79 79

Weish2,I8 Weish 3,1-12 Weish 5,5 Weish 5,23 Weish 6,1-11 Weish 6,21 Weish 7,8 Weish 7,27 Weish 9,4 Weish 9,12 Weish 11,23 Weish 12,10 Weish 12,14 Weish 18,5 Weish 18,13

40 68 40 68 39 68 268 239 268 268 239 39 39 68 39

Sir 4,1 Of Sir6,18ff Sir 7,27 Sir 7,27-30 Sir 7,29 Sir 10,14 Sir 13,14f Sir 13,19 Sir 17,24 Sir 24,19 LXX Sir 28,12 LXX Sir31,15 Sir 34,17 Sir38,24ff Sir 38,25 Sir 39,4 Sir 51,23 LXX Sir 51,26 LXX Sir 51,27 LXX

139 239 67 67 67 268 67 65 239 145 79 67 25 239 144 144 145 145 145

PsSal 17

174, 199, 263,265, 267, 269

PsSal 17,3 PsSal 17,6 PsSal 17,26 PsSal PsSal PsSal PsSal PsSal

17,29 17,34 17,43 17,46 18

263 263 186, 263, 267 267 264 267 264 174

Dan Dan Dan Dan

l,8FR 2 2,44 7

Dan Dan Dan Dan Dan Dan Dan

7,9 7,9f 7,22 8,14 12,2 12,11 12,12

73 213 269 269,279, 293, 344 268 268 268 231 117 231 231

Hos 2,1 Hos 11,1

139 139

Am 4,1-3 Am 9,11

99 276

APOKRYPHEN UND

Mi 4,6-8

269

Obd 15-21

269

Jona 4,3

250

Nah 1-3

247

Hab 1,5 Hab 3,13

166 276

Zeph 2,13-15

247

Äthiopischer Henoch äthHen 37-71 279, 344 äthHen 38,5 268 äthHen 48,9 268 äthHen 48,10 276 äthHen 90,19 268 äthHen 91,12 268 äthHen 91,12-17 213 äthHen 93 213 äthHen 95,3 268 äthHen 96,1 268 äthHen 98,12 268

Hag 2,11-14 Hag 2,22

85 268

Sach9,9 Sach 9,9f

186 140

Jes 9,2-7 Jes 14,9 Jes 32,20 Jes 40,3 Jes 53 Jes 55,3-5 Jes 56,2 Jes61,lf Jes 65,2-5

140 268 25 227 345 276 25 274 85

Jer 52,32

268

Bar2,34f Bar4,36f Bar 5,5-9

264 264 264

Ez 26,16

268

PSEUDEPIGRAPHEN

Apokalypse des Elia ApkE!21,13ff 165 ApkE131,15ff 167 Aristeasbrief Arist 132 Arist 139ff Arist 188 Arist 208 Arist 228 Arist 254 Arist 290 Assumptio Mösls AssMos 5 AssMos 6,1 AssMos 6,2-6 AssMos 6,6f AssMos 6,7 AssMos AssMos AssMos AssMos

6,7-9 6-7 7 7,1

67 73 141 141 67 141 66

231 265 265 23 181, 183, 224 232 231 165 232

367

Stellenregister

AssMos 10, Iff AssMos 10,2

231 232 232 232 231 224,232, 265 269 232f

4Esra 4Esr 13

344

Jubiläenbuch Jub 16 Jub 20,2 Jub 23,16 Jub 23,16f Jub 23,28ff Jub 23,30 Jub 35,20ff Jub 36,4

73 66 272 165 272 272 66 66

AssMos AssMos AssMos AssMos AssMos AssMos

8 8,1-5 9 9,7 9-10 10,1

Sibyllinische Weissagungen Sib 3,46-50 264 Sib3,68ff 165 Sib 3,593f 67 Sib 3,652 264 Sib 5,68 276 Slavischer Henoch slavHen 42,6-14 25 slavHen 52 25 Syrischer Baruch syrBar 48,38 Testamente XII TestRub 5 TestRub 6,8 TestRub 6,9 TestSim 4,7 TestLev 14,1 TestLev 14, Iff TestLev 16, Iff TestLev 16,2 TestLev 3,6 TestJud 21,2-5 TestJud 24,5-6 Tesüud 25,1 TesUud 25,4 Testiss 5,2

Testiss 7,6 TestSeb5,l TestSeb 8,5 TestDan5,lff TestDan 5,3 TestGad 4,2 TestGad 4,7 TestGad 6, Iff TestGad 7,7 TestBenj 3,1-3 TestBenj 9,1

Testament des lob 143 Testlob 9,2 ff Testlob 10,1-3 143 Qumran CD 6,20-7,4 CD 7,16f CD 19,35-20,1 IQM 2,1-3 lQpHab2,5ff IQpHab 5,3-5 IQS l,3ff lQS3,7f IQS 3,9 IQS 8,12-14 IQS 8,2 IQS 9,11 IQS 9,19f IQSa 2,11-22 1Q21 3Q07

165

103 276 68 68 165 166 166 165 61 276, 278 277 277 272 58, 59

58, 60, 68 58 68 68 58,60 59 59 68 68 58, 68 270

4QFlorilegium 1,14-19 4QMMT 4QpIs' 4QpPs 37 2.12-14 4QpPs 37 4.13-14 4Q213-214 4Q215 4Q539 4Q540 4Q541 llQPs' llQTempel 57,11-15

66 276 264 278 166 268 71 85 85 227 66 264, 276 227 264 68 68 276 39 278 166 166 68 68 68 68 68 260 277f

Philo LegGai 143-147 LegGai 147 LegGai 199ff LegGai 299f LegGai 299-305 LegGai 302 LegGai 305 Migr 90 Praem 95ff Praem 165ff SpecLeg 2,63 SpecLeg 2,224f SpecLeg 2,235 SpecLeg 3,208f Virt 51-174 Virt 103f VitMos 1,221 VitCont

140 140 189 179 180 181

180 39 264 264 64, 68 67 67 85 65 65 278 94

JOSEPHUS Ant 3,47 Ant 4,63-66 Ant 4,143 Ant 4,176-301 Ant 4,223 Ant4,223f Ant 5,336 Ant 6,36 Ant 6,149 Ant 6,160 Ant 7,93 Ant 7,338 Ant 7,341 Ant 7,356 Ant 7,374 Ant 8,4 Ant 8,121 Ant 8,280 Ant 8,300 Ant 8,314 Ant 8,394 Ant 9,16 Ant 9,236 Ant 9,260 Ant 9,281 Ant 10,50 Ant 12,56 Ant 13,171-3 Ant 13,172 Ant 13,249 Ant 13,275ff

278 278 164 65 257 257 257 257 143 71 257 71 71 71 71 272 71 71 71 71 71 71 71 71 164 71 71 III 127 116

115

Stellenregister

368 Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant

13,282 13,288-298 13,292 13,297 13,297f 13,298 13,299 13,300 13,304 13,318 13,322 14,41f 14,160 14,163-179 14,172-177 14,172ff 14,175 14,283 14,315 14,413-7 14,450 15,2 15,6 15,182 15,259f 15,308-311 15,348 15,375 15,384 16,37 16,42 17 17,269 17,269f 17,271 17,27 If 17,272

Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant

17,273f 17,274 17,277 17,278ff 17,280 17,285 17,314 17,349-353 18 18,4

Ant 18,3 Ant 18,5 Ant 18,9

116 115 115 117 111, 121 112, 125 116 116 117 118 118 257 140 220 118 118 118 71 71 119 257 257 118 71 94 142 140 71 71 159 71 261 218 258 219 221,258 161, 175, 218,260 260 219,259 175, 258f 219,259 260,277 260 257 137 261 46, 176, 185,220, 261 262 46,219 219,261

Ant 18,10 Ant 18,12 Ant 18,13 Ant 18,16 Antl8,16f Ant 18,17 Ant 18,23 Ant 18,27 Ant 18,35 Ant 18,36-38 Ant 18,37-38 Ant 18,38 Ant 18,55-59 Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant Ant

18,55ff 18,62 18,63-64 18,64 18,85 18,85-87 18,87-89 18,88 18,101-105 18,109ff 18,110 18,116 18,116-119

Ant 18,117 Ant 18,118 Ant 18,119 Ant 18,136 Ant Ant Ant Ant Ant Ant

18,274 19,173 19,334 20,97-99 20,97f 20,102

Ant 20,141-143 Ant20,167f Ant 20,169-172 Ant 20,188 Ant 20,199 Ant20,199f Ant20,199ff

46 124 127 113, 124 111, 113 112, 125 64,219, 220, 261 178, 179 346 19, 178, 345 136,221 180 19, 180, 317, 346 185 346 10 346 187 218 346 187 345 94 137 221,235 9, 226, 231,244, 345 70, 86, 241 137 221 94, 179, 182, 221 190 164 142 218,234 191 190f, 220f, 261f 94 218,234 218, 234 47,218, 234 111 112 113

Ant 20,200 Ant 20,251

113 257

Ap Ap Ap Ap Ap Ap

66 257 67 65 59, 67 65

2,146 2,164-166 2,190 2,190-219 2,206 2,213

Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell

1,68 1,69 1,76 1,169f 1,170 l,304f 1,319 l,648ff 2,4ff 2,55 2,56

Bell 2,57-59 Bell 2,59 Bell 2,61 Bell 2,117f Bell 2,118 Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell

2,139 2,164-6 2,169-174 2,169-177 2,169ff 2,178 2,183 2,224 2,258-260 2,261-263 2,297 2,404ff 2,433

Bell 2,434 Bell 2,443 Bell 2,444 Bell Bell Bell Bell

2,447 3,399^07 3,423 5,59

116 116 118 257 257 119 258 188,261 188 218,258 175,218, 221,258, 260 219, 259 258 219, 260, 277 219 219f, 261,263 71 111 317 180, 346 185 181 181 186 218, 234 218, 234 186 221 22 If, 261f 186, 220, 263 220, 263 186,220, 263 221,262 42 159 159

369

Stellenregister Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell Bell

6,285f 6,300-309 6,312 6,313 7,253 7,323 7,410 7,418f

218 218 276 277 221,262 262 262 221,262

Tanchuma Chukat 26

88

TPsJ Lev 19,18

67

GRIECHISCH-RÖMISCHE

Porphyrius Abst 11,17

LITERATUR

Anth Graec Vita Vita Vita Vita Vita Vita Vita Vita Vita Vita

63 65 65f 65fr 80 341-43 355 376 410 415

120 179,221 19, 179 137 120 94 94 178 94 94

RABBINICA

Mischna mMaasSchV,15 mNedlI,4 mSheq 1 , 3 ^ mSheqll.lf mSheq 111,1 mSotIX,10 mTaan 11,4

120 119 119 119 119 120 238

Talmud bAZ 9a bMen 65a bQuid 66a bSan IIb bSan 9 7 a ^ bSan 90b-91a bYom 19b

167 119 115 120 167 113 112, 125

Sonstige ARN A5 112, 113 ARN Vers В (ed. Schechter p. 67) 270 LevR 13,5 LevR 3,5,2 QohR 1,9

21 143 21

MidrTeh 146,4

89

Pesiqta 40""

87

Plutarch Mor 203 С (Reg. et Imp. Apophth.) 163 Mor 218A (Lakonische Sprüche) 141

Anth Graec Vl.25.8 143 Aristoteles EthNic IV 1120b 143 EthNicIV,2,1120b 143 Pol 1263b 142 Cicero 141, 142 Att 9,70.1 Dio Cassius Dio Gass 44,49,2 Dio Cass 55,27,6 Dio Cass 73,15,5

140 345 140

Diodorus Siculus XXXIV,2,5fF XL,2 XL,3,5 XL,3,7

150 256 257 190

Duris V. Samos FGrH II A 76, F. 13

140

Eunapius vitae sophistarum477

163

Euripides Danae frg. 327

143

Nikolaus v. Damaskus FGrH IIA 90, F. 136 218

143

Pseudo-Phokylides PsPhok 8 67 PsPhok 228 84 PsPhok 229 84 Seneca Ben 1,7,1 Ben I,8f Ira 11,34,4

143 143 141

Strabo GeogrXVI, 46

181

Sueton Vesp 4,5 Vesp7

277 150

Tacitus Ann II, 42 Hist V,4f Hist V,5,1 Hist V,5,2 Hist V,9,2 Hist V, 13,2

190 73 66 59, 88 176,219, 259 277

Thucydides Thuc 8,53,2

164

Xenophon Mem 1,3,3

143

INSCHRIFTEN U N D PAPYRI

Plato Gorgias 469A-B Gorgias 475 B-D Kriton49Aff Pol 335Bff Tim 75d

141 141 141 141 85

OGIS416 OGIS417 OGIS 458 P.Ox. 840 Papyrus XHev/Se 13

345 345 140 87 95

Stellenregister

370 NEUES TESTAMENT Matthäus (+QMt) Mt 3,Iff Mt 3,2 Mt 3,5ff Mt 3,7 Mt 3,9 Mt Mt Mt Mt Mt Mt

3,10 3,14 3,15 4,4 4,17 5,3

Mt 5,5 Mt 5,9 Mt 5,13-16 Mt 5,17-20 Mt 5,19 Mt 5,20 Mt5,21f Mt 5,27f Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt

5,38-48 5,43 5,43^8 5,44-45 5,46f 6,9f 6,13 6,19-21 6,22f 6,24

Mt 6,25-29 Mt 6,25-32 Mt 6,25-34 Mt 7,12 Mt 8,11 Mt8,llf

Mt 8,20 Mt8,21f

Mt 8,22 Mt 10,7 Mt 10,8

345 154 86 III 40,72, 225 226 340 71 79 154 147, 153, 272 153 140,279 138 154 234,273 130 206 53, 101, 206 141 62 16,25 140, 279 142 109 272 78, 144 78 47, 176, 225 98 143 138,279 67 273 40,48, 88, 147, 149,216, 337, 346 29 16, 50, 53, 166, 168, 179 16 273 274

Mt 10,23 Mt 10,34-36 Mt 11,2 Mtll,2ff Mt 11,2-6 Mt 11,3 Mt 11,11 Mt 11,12 Mtll,12f

Mt Mt Mt Mt

11,13 11,14 ll,l8f 11,19

Mt 11,20-24 Mtll,20fif Mt 11,28 Mtll,28f Mt 11,28-30 Mt 12,6 Mt 12,11 Mt 12,22-30 Mt 12,22ff Mt 12,24 Mt 12,27 Mt 12,28

Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt

12,29 12,30 12,35 12,38-40 12,38^2 12,41f 12,42

Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt

13,11 13,16f 13,41 13,44-46 14,Iff 15 15,11

Mt 15,17 Mt 15,20

230 151, 162 258 338 153, 266, 274 223,265 124,235, 273 78, 163, 235 40, 128, 150, 153-157, 160, 166, 205,271 161 221 227 109, 124, 227, 339 86, 338 338 338 145 228 241 154 48 338 339, 340 273 129, 149, 161,273, 340, 346 161 275 78 248 237 96, 160 130, 138, 279 272 24, 160 274 146 345 123 79, 82, 85 82 82

Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt

15,28 16,1 16,4 16,6 16,12 16,17 16,28 17,24-27

Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt

17,25 17,25-27 18,1-5 18,23-34 19,10-12 19,12 19,19 19,28

Mt 19,28f Mt 19,28-30 Mt 20,1-16 Mt 20,8 Mt 20,15 Mt 20,21 Mt 21,28-32 Mt21,31 Mt 21,3 If Mt 21,32 Mt 21,43 Mt 2 2 , 3 4 ^ 0 Mt 22,37 Mt 22,39 Mt 22,40 Mt 23,13 Mt 23,23 Mt 23,25 Mt23,25f Mt 23,28 Mt 24,23 Mt 24,40-41 Mt 24,42 Mt 24,42-25,13 Mt 24,43 Mt 24,45-51 Mt 25,1-13 Mt 25,13 Mt 25,14-30 Mt 25,31

128 III 237 III III 247 274 8 1 , :119, 279 138 125 273 143 101 162, 168 62 20,92, 234, 267f, 276-278, 280 266 186 146 185 146 273 247 279 102, 248 71,241 273 62 60,61 59 67 157, 162 82, 120 82 75 165 270 97 251 251 251 251 25, 229, 251f 251f 146 269

371

Stellenregister Markus Mk 1,3 Mk 1,4 Mk 1,5 Mk 1,9-11 Mk l,14f Mk 1,17 Mk 1,22 Mk 1,23 Mk 1,27 Mk 1,29-30 Mk 1,29-31 Mk 1,40-45 Mk 1,41 Mkl,44 Mk 2,1-12 Mk 2,18-19

Mk 2,18-20 Mk 2,21-22 Mk 2,23-28 Mk 2,28 Mk 3,1-6 Mk3,4 Mk3,6 Mk3,ll Mk3,15 Mk 3,22ff Mk 3,23 Mk 3,27 Mk 3,30 Mk 3,31-35 Mk 4,2ff Mk4,ll Mk4,19 Mk 4,26-29 Mk 4,26-34 Mk 4,30-32 Mk5,9 Mk5,12 Mk 5,34 Mk6,2f Mk6,3 Mk 6,14 Mk 6,14-16 Mk 6,15 Mk 6,18 Mk 6,20 Mk 6,22 Mk6,25

227 346 226 340 106, 296 168 28 77 77 105 100 126 81 81 205 124, 166, 206, 227, 236 253 97 166, 206 167 166, 206 14, 52 120, 258 77 273 183 79 128, 151, 161f 77 206 79 271 77 25, 128, 149, 234 128 25 21 77 128 145 144 339 266 204, 265 232 71 240 240

Mk 6,27 Mk 6,14-29 Mk7 Mk7,lff Mk 7,1-5 Mk 7,1-15 Mk7,5 Mk 7,6-13 Mk7,15

Mk 7,18-20 Mk 7,19 Mk 7,24-30 Mk7,29 Mk8,llf Mk 8,28 Mk 8,29 Mk 8,33 Mk 8,35 Mk 8,38 Mk 9,1 Mk 9,11-13 Mk 9,28f Mk 9,33-37 Mk9,37 Mk 9,40 Mk 10,2-9 Mk 10,10-12 Mk 10,11-12 Mk 10,13-16 Mk 10,14 Mk 10,15 Mk 10,17f Mk 10,23-25 Mk 10,25 Mk 10,29 Mk 10,30 Mk 10,37 Mk 10,40 Mk 10,42-44 Mk 10,46-52 Mk 10,47 Mk 10,52 Mk 11,10 Mk 11,15-17 Mk 11,15-18

240 316 123 43 120 123 123 44 15, 17, 45,51f, 73, 7 5 80, 8285, 87f, 166, 206, 226 77 73, 82, 83 106 106 237, 248 204, 265 175,223, 265 175 205 242 229 221 81 81 76 275 104 81 94, 104 24, 147 130, 272 24 301 130 78, 144 78 78 273 224 130, 142 224 223,265 128 20,265 206 16

Mk 12,28ff Mk 12,29 Mk 12,30 Mk 12,32 Mk 12,32f Mk 12,33 Mk 12,34 Mk 12,35-37 Mk 12,41-44 Mk 12,44 Mk 13,10 Mk 13,21 Mk 13,28 Mk 13,32 Mk 14,3-9 Mk 14,17 Mk 14,25 Mk 14,58 Mk 14,61 Mk 14,61ff Mkl5,7 Mk 15,26 Mk 15,32 Mk 15,41

45 149 87, 247 235,239 87 226 79 79 120, 185, 258 21, 176, 184f, 204, 220f, 262 69 44, 69, 72, I I I , 113,206 45, 117 57f,6164, 70, 206 57 58, 63f 60 64 60 58, 60 61 64, 224 143 143 236 270 79 229 105 92 149 16 223,265 265 181 204, 265 265 105

Lukas (+0) Lk 1,17 Lk3,8 Lk3,9 Lk3,10-14 Lk3,16

221,233 246 230 70, 241 231

Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

11,15-19 11,22-25 11,27-33 11,30 ll,30f 11,32 12,1 12,12 12,13

Mk 12,13-17

Mk 12,17 Mk 12,18-27

Mk 12,26 Mk 12,28-34

372 Lk 4,25-27 Lk 6,20 Lk 6,20-22 Lk6,2I Lk 6,27-36 Lk6,31 Lk 6,32-34 Lk6,35 Lk7,16 Lk7,18f Lk 7,18-23 Lk7,19 Lk 7,21 Lk 7,22f Lk 7,24-25 Lk 7,24-26 Lk 7,25 Lk7,26 Lk7,29f Lk7,30 Lk 7,31-35 Lk7,35 Lk 7,36-50 Lk7,46 Lk8,3 Lk 8,10 Lk 9,59f Lk9,61f Lk 10,8 Lk 10,9 Lk 10,11 Lk 10,13-14 Lk 10,13-15 Lk 10,17-20 Lk 10,18 Lk 10,21-24 Lk 10,23f Lk 10,25-27 Lk 10,25-28 Lk 10,27 Lk 10,30-37 Lk 10,38-42 Lk 10,40 Lkll,2 Lk 11,5-8 Lk 11,11-13 Lk 11,14-52 Lk 11,16 Lk 11,20

Stellenregister 97 24, 130, 144 205 204 141 67 142 143 265 236 274 223,265 274 236 240 241 241 240 248 247 110,228, 247 109, 241 17, 103 105 105 272 166,205 166 80 149, 274 273 242 242 273 128 248 128,206, 241,279 62 70 58, 60 17 106 105 24 96 109 244 248 20,24, 129,236

Lk 11,21 Lk 11,29 Lk 11,29-32 Lkll,29f Lk 11,30 Lk 11,31 Lkll,31f Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk

11,32 11,37fr 11,42-47 ll,47f 11,49 11,49-51 11,49-52 11,52

Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk

12,8f 12,22-31 12,29-32 12,32 12,39-46 12,51-53 13,If 13,1-5 13,6-9

Lk Lk Lk Lk Lk Lk

13,9 13,18-19 13,18-21 13,20 13,20-21 13,28f

Lk 13,29 Lkl3,31f Lk 13,34-35 Lk 14,15-24 Lk 14,26 Lkl5 Lk 15,1 Lk 15,3-7 Lk 15,8-10 Lk 15,11-32 Lk 16,lff Lk 16,1-9 Lk 16,15 Lk 16,15-18 Lk 16,16

161 239,249 25,26, 237 248,250 237,249 244,246 237,238, 241,242 246, 249 124 25 160 241 26, 110 160 25, 130, 146 242,279 26,130 110 271 253 205 181 25, 86 25, 86, 205,227, 229,234f 234 25,96 24 25 96 88,206, 246 24 345 110 25 53 227 253 96 96 110 78 146 184 156,184 40, 150, 153-158,

Lk Lk Lk Lk Lk

16,18 16,31 17,20f 17,21 17,34f

Lkl8 Lk 18,1-8 Lk 19,11 Lk 19,38 Lk 22,28-30 Lk 22,28-31 Lk 22,29 Lk22,29f Lk23,6ff Lk 23,42 Lk 24,19 Lk 24,21 Lk 24,26 Lk 24,29 Johannes Joh 1,29 Joh l,32if Joh 1,42 Joh 3,22 Joh 4 Joh 4,2 Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh Joh

6,15 6,66-71 7,40-44 8,1-11 8,14 9,22 12,12-19 12,13 12,16 12,42 12,49f 13,1-11 13,10 13,33f 13,34 15,13 16,2 18,28

Apg 1,22

160f, 205,271 184 164 270, 271 128 97, 206, 243 156 96 253 187 130,267 266 274 149 345 274 204, 223, 265 223, 265 223, 265 163

339 340 247 47, 86, 235,236 187 47, 86, 235 157, 159 175,223 224 103 362 86 186 187 186 86 57 87 87 64 57,62 57 86 87 340

373

Stellenregister Apg4,l Apg5,17 Apg 5,36 Apg 5,36f Apg 5,37 Apg6,!4 Apg 10 Apg 10/11 Apg 10,9-16 Apg 10,13 Apg 10,13ff Apg 10,15 Apg 10,37 Apg 10,37-41 Apg 11,7 Apg 11,9 Apg 11,30 Apg 13,12 Apg 15,1-29 Apg 16,15 Apg 17,4 Apg 17,7 Apg 17,18 Apg 18,26 Apg 21,38 Apg 23,6-8 Apg 23,6-10 Apg 23,8 Apg 26,28

111-113 Ulf 218 191,221, 260, 262 261 82 83 82 52 83 15 83 340 155 83 83 8 217 8 163 217 185 217 94 218 111-113, 129 113 113 217

Röm5,17 Röm 8,38 Röm 12,1 Röm 13,7 Röm 13,8-10 Röm 13,11 Röm 14,14 Röm 15,14 Röm 16,3f Röm 16,7 Röm 16,12 Röm 16,15

278 83 61 185 57,62 252 83, 84 83 100 100 100 100

IKor 1,18fr 1 Kor 6,2 lKor6,9f IKor 6,11 IKor 7,1-16 IKor 7,10-11 IKor 9,5

340 278 102 103 95 94 100

Gal Gal Gal Gal Gal

1,14 2,1-10 2,1 Iff 5,10 5,14

123 8 81 83 57,62

Eph2,6 Eph 6,2

278 68

Phil Phil Phil Phil

8 83 83 100

1,1 1,25 2,24 4,2f

Herm mand 3,1 PoIPhil 5,2 PolPhil 11,2

79 278 278

Apokryphe Evangelien HebrEv 2 340 62 HebrEv 6 EvThom 2 278 EvThom 3 270 79, 80 EvThom 14 62, 63 EvThom 25 EvThom 53 8,51,73 EvThom 90 228 78, 151, EvThom 98 162 EvThom 100 185 EvThom 113 270 NazEv 16 62, 164 P.Ox. 840 87

IThess 5,2 IThess 5,6

253 252

2Thess 2,3

167

2Tim 2,12

278

lPetr3,3f

229

2Petr3,I0

253

IJoh 2,7 lJoh2,7f IJoh 4,20 IJoh 4,20f

57 62 62 62

Epistula Apostolorum EpAp 18 67

2Joh5

57

Euseb HistEccl 111,20,145

190

Apk Apk Apk Apk Apk Apk Apk

253 278 278 185 200 278 278

Hippolyt RefIX,29,4

117

Irenaus Haer 1,23

211

3,3 3,20f 5,10 12-13 20 20,4 22,5

FRÜHCHRISTLICHE LITERATUR

Apostolische Väter Barn 15,3-5 213 Barn 19,2 62 Bam 19,5 62 Did 1,2 62, 67 Did 8,2 272 IKlem 23ff 229 2Klem 11 229

Clemens v. Alexandrien QuisDivSalv 21,3 163 Strom II 9,45,5 278 Strom V 14,96,3 278

Justin Apol 1,16,6 Apol 1,26,2-3 Apol 1,28,2 Dial 51,3 Dial 93,2 Dial 93,2f Dial 93,3

63 211 229 155 62, 63, 72 67 72

Origenes Cels 1,49

117

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch und M a t t h i a s Köcl