Jean-Jacques Rousseau: Im Bann der Institutionen 9783110418651, 9783110419740

Studies of Rousseau generally concentrate on the social-theoretical rather than the institutional aspects of his thought

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Jean-Jacques Rousseau: Im Bann der Institutionen
 9783110418651, 9783110419740

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen
I. Staat und Politik
Volonté générale als institutionelle Garantie
Rousseaus Volk: Von der Institution zur Konstitution
Zur Legitimation staatlicher Institutionen. Jean-Jacques Rousseau und die Begründung des modernen Verfassungsstaates
Rousseau gegen den Staat
II. Historische Modelle
Rousseau, Calvin, die Reformation in Genf und das Konsistorium
Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung
Wahlsysteme auf dem Prüfstand. Rousseau, der Contrat social und das Beispiel Venedig
(Über-)Setzungen von Institutionen politischer Freiheit. Entstehung und Rezeption von Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne
III. Interdisziplinäre Perspektiven
Versuchsanordnungen einer „petite Société“. Zur Institution der Ehe bei Rousseau
Pädagogik als Anti-Institution. Rousseaus paradoxale Strategie einer normalisierenden Entnormalisierung
Rousseaus politische Ökonomie
Rousseaus Verhältnis zu den Institutionen in ideengeschichtlicher Perspektive
IV. Subjekt und Revolution
Jean-Jacques Rousseau und die Ursprünge der Autonomie
Richter in eigener Sache. Rousseau im Bann der Gerechtigkeit
Der Begriff der Revolution im Werk Rousseaus
Burke und Rousseau über institutionellen Wandel. Schichten eines Gegensatzes
Personenregister

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Jean-Jacques Rousseau

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 38

Jean-Jacques Rousseau Im Bann der Institutionen Herausgegeben von Konstanze Baron und Harald Bluhm

ISBN 978-3-11-041974-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041865-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041879-8 ISSN 1617-3325 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort 

 7

Konstanze Baron/Harald Bluhm Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen 

 9

I Staat und Politik Matthias Kaufmann Volonté générale als institutionelle Garantie 

 35

Marcus Llanque Rousseaus Volk: Von der Institution zur Konstitution 

 55

Skadi Krause Zur Legitimation staatlicher Institutionen. Jean-Jacques Rousseau und die Begründung des modernen Verfassungsstaates   81 Tanguy L’Aminot Rousseau gegen den Staat 

 105

II Historische Modelle Volker Reinhardt Rousseau, Calvin, die Reformation in Genf und das Konsistorium 

 129

Simone Zurbuchen Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung   147 Catherine Labro Wahlsysteme auf dem Prüfstand. Rousseau, der Contrat social und das Beispiel Venedig   169 Karsten Holste (Über-)Setzungen von Institutionen politischer Freiheit. Entstehung und Rezeption von Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne   183

6 

 Inhalt

III Interdisziplinäre Perspektiven Judith Frömmer Versuchsanordnungen einer „petite Société“. Zur Institution der Ehe bei Rousseau   203 Alfred Schäfer Pädagogik als Anti-Institution. Rousseaus paradoxale Strategie einer normalisierenden Entnormalisierung   225 Daniel Schulz Rousseaus politische Ökonomie 

  245

Reinhard Bach Rousseaus Verhältnis zu den Institutionen in ideengeschichtlicher Perspektive    267

IV Subjekt und Revolution Frederick Neuhouser Jean-Jacques Rousseau und die Ursprünge der Autonomie  

 287

Konstanze Baron Richter in eigener Sache. Rousseau im Bann der Gerechtigkeit   Bruno Bernardi Der Begriff der Revolution im Werk Rousseaus  

 339

Harald Bluhm Burke und Rousseau über institutionellen Wandel. Schichten eines Gegensatzes    369 Personenregister  

 401

 307

Vorwort Der vorliegende Band ist aus der internationalen Tagung Jean-Jacques Rousseau: Im Bann der Institutionen/Au ban des Institutions/Reluctant Institutionalist hervorgegangen, die vom 20. bis 22. September 2012 unter dem Dach des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg in Kooperation mit der „Équipe Jean-Jacques Rousseau“ des Centre national de la recherche scientifique stattgefunden hat. Für die großzügige Förderung der Tagung danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Tagung, die WissenschaftlerInnen aus Deutschland, Frankreich und den USA zusammenführte, stand im Zeichen der Feierlichkeiten des 300. Geburtstags von Jean-Jacques Rousseau im Jahr 2012. Es hat sich jedoch schnell gezeigt, dass das Tagungsthema auch über den konkreten Anlass hinaus eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung verdient und erfordert. Aus diesem Grund haben wir neben den zu Aufsätzen ausgearbeiteten Vorträgen der TagungsteilnehmerInnen einige weitere Beiträge in den Band aufgenommen. Dazu gehören die Aufsätze von Bruno Bernardi, Judith Frömmer, Skadi Krause, Volker Reinhardt und Daniel Schulz. Die beiden inspirierenden Abendvorträge, die auf der Tagung gehalten wurden, sind an anderen Orten zugänglich. Für den Vortrag von Heinrich Meier („Das Recht der Politik und die Erkenntnis des Philosophen. Zur Intention von Rousseaus Du contrat social“) sei auf sein Buch Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion (München 2013) verwiesen, für den Vortrag des Musikwissenschaftlers und Dirigenten Peter Gülke („Rousseau und die Musik. Glanz und Elend des Dilettanten“) auf seine nach wie vor instruktive Einleitung Rousseau und die Musik (Wilhelmshaven 1984). Wie so manche wissenschaftliche Publikation hätte auch diese nicht ohne den Einsatz und die Unterstützung weiterer Beteiligter erscheinen können. Hier sind an erster Stelle Aleksandra Ambrozy, Karsten Malowitz und Anastasia Pyschny zu nennen, die für die Übersetzungen der fremdsprachigen Beiträge von Bernardi, Neuhouser und Labro verantwortlich zeichnen. In besonderer Weise um das Buch verdient gemacht haben sich außerdem Nora Kreis und Karsten Malowitz, die den Band redaktionell betreut und die Beiträge der Form nach aneinander angeglichen haben. Nora Kreis haben wir darüber hinaus für die Erstellung des Personenregisters zu danken, während Karsten Malowitz das gesamte Manuskript Korrektur gelesen und die Herausgeber vor jener Form partieller Blindheit bewahrt hat, die sich im Laufe längerer Textarbeit nahezu zwangsläufig einstellt. Im Vorfeld der Tagung, vor allem bei der Organisation des Zusammenwirkens mit Tanguy L’Aminot (Paris) und der „Équipe Jean-Jacques Rousseau“, war zudem Christophe Losfeld (Halle) eine große Hilfe für uns.

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 Vorwort

Ein Dank besonderer Art gebührt schließlich Mischka Dammaschke vom De Gruyter Verlag, der sich frühzeitig für das interdisziplinäre Projekt begeistert und es für Wert befunden hat, als Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie zu erscheinen. Halle (Saale), im September 2015

Konstanze Baron & Harald Bluhm

Editorische Notiz Wir haben uns entschieden, alle Rousseau-Zitate im Haupttext zweisprachig (französisch-deutsch) wiederzugeben. Sofern nicht anders angegeben, wird der französische Text zitiert nach der Ausgabe Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1969. Diese wird im gesamten Band mit dem Sigel „OC“ abgekürzt. Für den deutschen Text wurden die einschlägigen wissenschaftlichen Übersetzungen von Rousseaus Schriften herangezogen. Wo solche fehlen, wurde der französische Text der zitierten Passagen in der Regel von Anastasia Pyschny ins Deutsche übertragen, im Fall der Beiträge von Bernardi und L’Aminot hingegen von der jeweiligen Übersetzerin. Bei Originalzitaten, die nicht im Haupttext, sondern nur in den Fußnoten stehen, wurde auf eine Übersetzung verzichtet.

Konstanze Baron/Harald Bluhm

Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen Rousseau ist ein philosophischer Problemdenker. „Die glühenden Felsbrocken, mit welchen die Rousseausche Eruption das Abendland übersät hat, wurden, nachdem sie abgekühlt und behauen waren, für die imponierenden Gebäude verwendet, welche die großen Denker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts errichteten.“1 – Diese treffliche Einschätzung von Leo Strauss muss inzwischen durch eine bewegte und lange Zeit übermäßig polarisierte Wirkungsgeschichte von Rousseau im 20. Jahrhundert ergänzt werden. Erst die Flut an Schriften, die 2012 zum Tricentenaire, dem 300.  Geburtstag Rousseaus in Europa und weltweit erschienen ist, lässt die alten Polarisierungen hinter sich und zeigt seine anhaltende Aktualität jenseits politisch inspirierter Lesarten. Dennoch gibt es Themenfelder von hervorgehobener Bedeutung, die nach wie vor kaum erkundet wurden. Die Erforschung der Institutionen und ihrer Funktion bei Jean-Jacques Rousseau ist solch ein Desiderat.2 Das ist insofern nicht verwunderlich, als lange Zeit Lesarten seines Werkes dominierten, die ihm einen dezidiert anti-institutionalistischen Affekt zuschrieben. Für diese Einschätzung lassen sich viele Gründe namhaft machen, etwa seine Vorliebe für Authentizität und Unmittelbarkeit oder auch sein – mal mehr, mal weniger ausgeprägter – Anarchismus. Systematisch greifen diese Deutungen allemal zu kurz, unterschätzen sie doch die Widersprüchlichkeit des großen Genfers, der in dieser ebenso wie in anderen Fragen eine durchaus komplexe Haltung an den Tag legte. Rousseau setzte sich, wie man seinen Schriften entnehmen kann, mit den Institutionen keineswegs nur kritisch auseinander. Er hat sich auch in historischer und konstruktiver, um nicht zu sagen modellbildender Weise mit ihnen beschäftigt. Die Motive ebenso wie die Effekte seiner Auseinandersetzung mit den Institutionen reichen dabei weit ins Biographische hinein.3 Auch wenn die Forschung in jünge-

1 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte [1953], übers. v. Horst Boog, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1989, 263. 2 Daran hat auch die Vielzahl von Veröffentlichungen zum Rousseau-Jubiläum im Jahr 2012 nichts geändert. Eine Ausnahme bildet der französische Sammelband Rousseau, le droit et l’histoire des in­ stitutions. Actes du colloque international pour le tricentenaire de la naissance de Jean-Jacques Rous­ seau (1712–1778), organisé à Genève, les 12, 13 et 14 septembre 2012, éd. par Alfred Dufour, Franҫois Quastana et Victor Monnier, Genève, Zürich 2013, der einige interessante Beiträge zum römischen Recht und zum Widerstandsrecht enthält, davon abgesehen aber die Institutionenthematik vorrangig in historischer und weniger in systematischer Perspektive untersucht. 3 Man denke nur an die Rolle der Académie de Dijon, die den Autor Rousseau gewissermaßen miter­ schaffen hat, indem sie mit ihrer Preisfrage zunächst den Anstoß für den Discours sur les sciences et les arts gab, bevor sie mit der Verleihung des Preises dann den Grundstein für Rousseaus schlagarti­ gen Erfolg legte. In der Préface reflektiert Rousseau sein durchaus ambivalentes Verhältnis zu dieser Institution, die er zur Komplizin seiner Institutionenkritik machen möchte. Zu nennen ist in diesem

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 Konstanze Baron/Harald Bluhm

rer Zeit immer mehr dazu übergegangen ist, die Widersprüche und Ambivalenzen in Rousseaus Denken als konstitutiv für dessen Tragweite anzuerkennen,4 ist seine Behandlung der Institutionen von dieser Entwicklung doch noch weitgehend ausgenommen. Unser Band verfolgt vor diesem Hintergrund mehrere Ziele. Zum einen soll die durchgängige Relevanz der Institutionenthematik für Rousseaus Werk aufgezeigt werden; zum anderen geht es darum, die theoretischen Linien, entlang derer die Thematisierung von Institutionen in den Schriften Rousseaus erfolgt, nachzuzeichnen – natürlich nicht, ohne entsprechende Kontextbezüge in Betracht zu ziehen, wo immer dies erforderlich erscheint. Dabei können anthropologische, sprachtheoretische, philosophische, erziehungswissenschaftliche und politiktheoretische Aspekte und Fragestellungen unterschieden werden, die sich nur multidisziplinär erkunden lassen. Mit dem Konzept des ‚Banns‘ schließlich wollen wir zeigen, wie und auf welch mitunter widersprüchliche Weise Rousseau mit dem Thema der Institutionen ringt: wie er sie prinzipientheoretisch darstellt und erörtert, wie er ihre divergierenden Effekte durchleuchtet und kritisiert, und wie er, ungeachtet aller Vorbehalte und Einwände, immer wieder auf sie zurückkommt. Die Rede vom Bann ist in diesem Zusammenhang bewusst mehrdeutig: Rousseau steht auf aktive Weise im Bann der Institutionen, sofern er sich immer wieder mit Fragen ihrer Wirksamkeit und Gestaltung auseinandersetzt, und auf passive Weise, denn er entkommt ihnen nicht – auch wenn sie in seinen Augen eine der Hauptursachen für den Verlust von Authentizität und Unmittelbarkeit darstellen. Dieses Spannungsverhältnis nachzuzeichnen und dabei sowohl die Hoffnungen deutlich zu machen, die Rousseau in die Institutionen setzt, als auch die Gefahren, die er mit ihnen verbunden sieht, scheint uns nicht zuletzt deshalb lohnend, weil viele der für Rousseaus Denken maßgeblichen Einsichten und Fragestellungen unmittelbar mit seiner ambivalenten Haltung gegenüber den Insti-

Zusammenhang auch die Verurteilung seiner Schriften durch die Parlements von Paris und Genf, die Rousseau nicht nur persönlich getroffen, sondern auch Anregungen für seine theoretische Auseinan­ dersetzung mit den Institutionen geliefert haben. 4 Vertreten wird dieser Ansatz von so unterschiedlichen Interpreten wie Jacques Derrida: Grammato­ logie, übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974; Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a. d. Franz. v. Ulrich Raulff, München, Wien 1988; Paul de Man: „Die Rhetorik der Blindheit. Jacques Derridas Rousseauinterpretation“, in ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menge, a. d. Amerik. v. Jürgen Blasius, Frankfurt/Main 1993, 185– 230, sowie Robert Darnton: „Rousseau in Gesellschaft. Anthropologie und Verlust der Unschuld“, in Ernst Cassirer/Jean Starobinski/Robert Darnton: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt/Main 1989, 104–113. Auf der gleichen Linie argumentieren auch einige feministische Rousseau-Lektüren, so etwa Mary Seidman Touille: Sexual Politics in the Enlightenment. Women Writers Read Rousseau, Albany/NY 1997 und Friederike Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bür­ gerlichen Familie, Berlin 2005. Aus postkolonialistischer Perspektive wird ein entsprechender Deu­ tungsversuch unternommen von Anna Gordon: Creolizing Political Theory. Reading Rousseau through Fanon, New York 2014.



Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen 

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tutionen zusammenhängen. Wir meinen daher, dass die Institutionenthematik einen geeigneten Fokus bereitstellt, durch den man Rousseaus Werk insgesamt besser in den Blick bekommen kann und versuchen dies auch durch unsere Autorenauswahl im Anschluss an die internationale Forschung zu belegen.

1 Begriffliche Vorbemerkungen Zunächst aber gilt es, das hier genutzte Verständnis von Institutionen etwas genauer zu umreißen. Institutionen werden in der Sozialphilosophie und -theorie in der Regel entweder weit oder eng verstanden: Den Anhängern eines weiten Institutionenverständnisses gelten alle sozialen Gebilde, die Erwartungen stabilisieren, als Institutionen; aus dieser Perspektive fallen verstetigte Handlungsmuster und Gebräuche ebenso unter den Institutionenbegriff wie Regeln und Organisationen samt der sie begleitenden symbolischen Ordnungen. Dem stehen auf der anderen Seite die Vertreter eines engen Institutionenbegriffs gegenüber, die diese ausschließlich als zwangsbewehrte Regelsysteme begreifen. Auch hier spielen zweifelsohne die Interpretationen, das heißt die subjektinternen Repräsentationen der Regeln in geteilten mentalen Modellen, eine große Rolle. Aber in diesem Fall werden eine ganze Reihe sozialer Gebilde (Organisationen, Sitten, et cetera) analytisch gerade nicht als Institutionen verstanden.5 Im vorliegenden Band kommen beide Konzepte zum Tragen. Mit dem weiten Institutionenbegriff kann man zeigen, in welch großem Ausmaß Rousseau in seinem Werk Institutionen thematisiert. Nicht nur vereinzelte Institutionen, sondern der gesamte Phänomenbereich der Institutionalität gerät auf diese Weise in das Blickfeld. Der enge Institutionenbegriff bewährt sich hingegen vor allem dann, wenn man verstehen will, wie Rousseau soziale Institutionen und die Bedingungen ihrer Legitimität denkt; wie er sie mit Exklusion, Ungleichheit, Abhängigkeit und anderen Merkmalen verbindet. Darüber hinaus lässt sich mit Hilfe des engen Begriffsgebrauchs erkennen, dass er intensiv über die Möglichkeit der Verstetigung und Stabilisierung von Institutionen

5 Vertreter eines weiten Institutionenbegriffs sind u.  a. M. Rainer Lepsius: „Institutionenanalyse und Institutionenpolitik“, in Birgitta Nedelmann (Hg.): Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, 392–403 und Karl-Siegbert Rehberg: Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen, hg. v. Hans Vorländer, Baden-Baden 2014. Zum Ansatz des Neoinstituti­ onalismus, der Institutionen als Regelsysteme konzeptualisiert, vgl. die Arbeiten von Douglass C. North: Institu­tions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990 und Arthur T. Denzau/ Dou­glass C. North: „Shared Mental Models. Ideologies and Institutions“, in Kyklos 47 (1994), 3–31. Beide Ansätze betonen die Eigenlogik der Institutionen. Der kulturalistische und der historische Institutiona­lismus folgen im Großen und Ganzen dem weiten Institutionenverständnis, stellen aber zum einen heraus, dass Institutionen das mehr oder weniger intendierte Ergebnis sozialer Kämpfe sind, und akzentuieren zum anderen mit größerem Nachdruck den Wandel der Institutionen.

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 Konstanze Baron/Harald Bluhm

reflektiert – wobei Sitten, Gebräuchen und habitualisierten Praktiken, die allesamt mit Emotionen verknüpft sind, zweifelsohne eine herausgehobene Rolle zukommt. Allerdings wird auch immer wieder deutlich, dass das zeitgenössische sozialwissenschaftliche Vokabular an seine Grenzen stößt, wenn man es auf einen Denker des 18. Jahrhunderts anwendet. Rousseaus Umgang mit dem Begriff der Institution(en) erscheint dann bisweilen merkwürdig unscharf. Das liegt unter anderem daran, dass die historische Semantik sehr viel umfassender ist, als unser kontemporärer Sprachgebrauch es nahelegt. So gab Rousseau zum Beispiel dem Manuskript seines politischen Hauptwerks, von dem uns ein Teil als Contrat social bekannt ist, den Titel In­stitutions politiques. Außerdem verfasste er die Institutions chimiques, ein gegenwärtig kaum noch bekanntes Grundlagenwerk der Chemie. Schon diese beiden Beispiele lassen erkennen, wie geläufig – und scheinbar unproblematisch – die Verwendung des Begriffs für Rousseau war. Zugleich machen sie aber auch deutlich, dass der Bedeutungsumfang des Begriffs zu seiner Zeit viel größer war und mehr umfasste, als wir heute unter ,Insti­ tutio­nen‘ verstehen.6 Dies sollte nun jedoch nicht als Argument gegen einen historisch differenzierten Institutionenbegriff, der neben der zeitgenössischen Semantik auch die klassische Tradition der Rhetorik einbezieht, verwendet werden. Im Gegenteil scheint uns gerade der Reiz, aber auch die Herausforderung einer gezielten Auseinandersetzung mit der Rolle der Institutionen im Denken Rousseaus darin zu liegen, dass sie zu einer solch umfassenden Herangehensweise geradezu zwingt. Wir schlagen daher vor, grundsätzlich und über die Unterscheidung von weitem und engem Institutionenbegriff hinaus von einer plastischen Mehrdimensionalität des Institutionenbegriffs zu sprechen. Dieser liegt in gewisser Weise quer zu unseren heutigen wissenschaftlichen Disziplinen, eignet sich aber gerade deswegen besonders gut als Längsschnittthema für die Betrachtung von Rousseaus Werk. Die Institutionen sind bei Rousseau nicht allein der Politik vorbehalten; sie lassen sich daher nur in einer kollektiven Anstrengung unterschiedlicher Disziplinen untersuchen. Gleichwohl scheint es möglich und auch sinnvoll, in systematischer Hinsicht insgesamt drei Ebenen zu unterscheiden, auf denen in den hier versammelten Aufsätzen von Institutionen die Rede ist: A. Institutionen als konkrete Gebilde. Die Institutionen im gegenständlichen Sinne müssen nicht, wie bereits erwähnt, auf die politische Sphäre beschränkt sein, sondern können auch dem sozialen oder kulturellen Bereich entstammen, wie zum Beispiel die Familie als Institution oder das Theater. Diese Ebene deckt sich zum Teil mit dem, was oben unter dem ‚engen‘ Institutionenbegriff gefasst wurde. Dass Rousseau nicht zögerte, sich mit den Institutionen im ganz konkreten Sinne zu befassen,

6 In der klassisch-humanistischen Tradition bedeutet ‚Institutiones‘ (von lat. instituere) schlicht ‚Einführung‘ oder ‚Grundlagen‘. Vgl. etwa den Eintrag „instituer“ in Walther von Wart­burg: Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, Bd. IV, Basel 1952, 724–725.



Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen 

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zeigt schon seine virulente Stellungnahme in der Debatte um das Genfer Theater.7 Wir möchten mit diesem Band insgesamt dem Eindruck entgegen treten, dass er kein ausgeprägter Kenner der Institutionen war. Im Gegenteil: Gerade Rousseaus mitunter vehemente Kritik an den existierenden Institutionen seiner Zeit erhellt, dass er neben einem feinen Gespür für deren Mechanik in der Regel auch über eine ausgeprägte Kenntnis ihrer jeweiligen historischen Entwicklungen verfügte. Zwar ist immer noch viel zu wenig über die konkreten Lektüren und Studien Rousseaus bekannt; fest steht aber, dass er historisch sehr belesen war und ihm die politische Geschichte seiner Heimat Genf ebenso vertraut war wie die Frankreichs oder Italiens. Die Verfassungsentwürfe für Korsika und Polen sind, darauf wird noch zurückzukommen sein, keineswegs am Reißbrett entstanden; und auch im Contrat social wird immer wieder ersichtlich, dass Rousseau nicht nur an normativen Grundsatzfragen, sondern auch an den spezifischen Funktionsvoraussetzungen und Wirkungsweisen gesellschaftlicher Einrichtungen interessiert war. Die jüngere Forschung hat herausgearbeitet, dass er – ganz im Geiste seiner Zeit – Anleihen bei anderen (natur-)wissenschaftlichen Disziplinen machte, wenn er etwa die Institutionen als ein „Räderwerk“ beschrieb.8 Grundsätzlich partizipiert Rousseaus Institutionen-Konzeption am Relationismus seiner Sozialanalysen; stets analysiert er äußere Verhältnisse von Akteuren sowie damit verbundene Selbst- und Weltverhältnisse, wobei das Handeln in institutionellen Räumen situiert ist und den Institutionen generell eine Tendenz der Verselbständigung gegenüber den Akteuren zugeschrieben wird. B. Institution als Stiftungs- oder Gründungsakt. So vielfältig und plural die Institutionen im oben genannten Sinne auch sein mögen, in der französischen Sprache (und folglich auch bei Rousseau) existiert eine Verwendung des Begriffs im Singular, der etwas anderes als ‚die Institutionen‘ meint, obwohl er mit diesen zugleich aufs engste verbunden ist. Die betreffende Verwendung bezieht sich auf den Akt der Stiftung, Gründung oder Errichtung (nicht zu verwechseln mit der Konstitution/ Konstituierung) einer Gesellschaft. In diesem Sinne ist Institution, wie zum Beispiel die Arbeiten von Bruno Bernardi zeigen, gerade kein Gegenbegriff zur Revolution, sondern auf Revolutionen strukturell bezogen.9 Auch die aktuelle Demokratietheorie differenziert zwischen dem Augenblick der Institution des Gesellschaftlichen, das

7 Vgl. dazu Ourida Mostefai: Le Citoyen de Genève et la République des Lettres. Etude de la controverse autour de La Lettre à d’Alembert de Jean-Jacques Rousseau, New York u. a. 2003. 8 Jean-Jacques Rousseau: „Rousseau an François-Henri Ivernois (9. Februar 1768)“, in ders.: Korre­ spondenzen. Eine Auswahl, hg. v. Winfried Schröder, übers. v. Gudrun Hohl, Leipzig 1992, 348–358, hier 351. Zur Rolle des Handwerks bei Rousseau siehe auch Angelica Goodden: Rousseau’s Hand. The Crafting of a Writer, Oxford u. a. 2013, 23–48. 9 Siehe dazu den in diesem Band abgedruckten Beitrag sowie den Katalog (Paris 2012) zu der von Bernardi kuratierten Ausstellung Rousseau et la Révolution, die vom 10. Februar bis 6. April 2012 in der Assemblée nationale, Galerie des Tapisseries stattfand. Seine Einleitung findet sich dort auf den Seiten 7–21.

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heißt der durch Brüche oder Entscheidungen erfolgenden Instituierung spezifischer gesellschaftlicher Fragen als politisch, und deren institutioneller Verfestigung.10 Dass die Gründung einer Gesellschaft immer mit der Errichtung von (konkreten) Institutionen einhergeht, scheint naheliegend. Dass sich die Verbindung beziehungsweise der Übergang zwischen ihnen gleichwohl schwierig gestalten mag, zeigt bei Rousseau unter anderem der Rekurs auf die Figur des Gesetzgebers, der – selbst außerhalb der Institutionen stehend – für deren Schaffung beziehungsweise Einrichtung verantwortlich zeichnet. Auch die Frage, wie historischer Wandel in Bezug auf die etablierten Strukturen einer Gesellschaft möglich ist, spielt in diesem Kontext eine zentrale Rolle. Als eine von bislang nur wenigen ForscherInnen hat sich Gabriella Silvestrini diesem Thema gewidmet und gezeigt, wie stark Rousseaus Denken gerade in diesem Punkt vor dem Hintergrund der bestehenden Institutionen der Republik Genf verstanden werden muss.11 Wichtig scheint uns in jedem Fall zu sein, dass die gesellschaftliche Stiftung oder Errichtung ein Akt ist, welcher der institutionellen Struktur einerseits vorausgeht und diese doch andererseits in gewisser Weise (mit-) begründet. Auch den schwierigen Prozess der Differenz von Strukturbildung und etablierten Institutionen erlaubt die Auseinandersetzung mit dem Institutionen-Begriff daher zumindest zu umreißen. C. Institution als Unterweisung. Das Tableau des Rousseauschen InstitutionenBegriffs wäre nicht komplett, würde man nicht auch dessen praktisch-pädagogische Ebene mit einbeziehen. Rousseaus Texte weisen eine grundsätzlich pragmatischrhetorische Orientierung auf, die wir hier nicht isoliert betrachten, sondern in ihrem Zusammenhang mit den Institutionen konturieren wollen.12 Schließlich wären die Institutionen im engeren Sinne wirkungslos, wenn sie nicht auf eine subjektive Resonanz der in ihnen und durch sie agierenden Personen stießen, sie also nicht tief in den Herzen der Menschen verankert wären. Auf diese Resonanz kommt es Rousseau ganz maßgeblich an; er ist in diesem Sinne ein durchaus ‚klassischer‘ Autor, stellt er sich doch in eine lateinisch-humanistische Tradition, in der die Literatur – im Sinne

10 Vgl. Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, 17. 11 Vgl. Gabriella Silvestrini: „Philosophie de l’histoire et philosophie politique chez Rousseau“, in Rousseau, le droit et l’histoire des institutions. Actes du colloque international pour le tricentenaire de la naissance de Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), organisé à Genève, les 12, 13 et 14 septembre 2012, éd. par Alfred Dufour, Franҫois Quastana et Victor Monnier, Genève, Zurich 2013, 169–188, sowie dies.: „Le républicanisme de Rousseau mis en contexte. Le cas de Genève“, in Les Etudes Philosophiques 83/4 (2007), 519–541. 12 Einen anderen, wenn auch verwandten Ansatz verfolgt Albrecht Koschorke, wenn er dem Zusammenhang von Narrativen und Institutionen nachgeht. Vgl. Albrecht Koschorke, „Institutionentheorie“, in Eva Eßlinger u. a. (Hgg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt/Main, Berlin 2010, 49–64, sowie ders.: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemei­ nen Erzähltheorie, Frankfurt/Main 2012, 287–328.



Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen 

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von institutio – nicht zuletzt auf ihre rhetorische Wirkung hin konzipiert ist. Obwohl die Vertreter des (Post-)Strukturalismus – darunter auch prominente Rousseau-Interpreten wie Jacques Derrida und Paul de Man – mit dem Begriff der Intention weitgehend aufgeräumt haben, ist es unseres Erachtens doch sinnvoll, Rousseaus Werke von ihrer (im klassischen Sinne verstandenen) Rhetorik her zu lesen.13 Ähnlich wie die Figur des Gesetzgebers in seinem Contrat social lässt es Rousseau nicht dabei bewenden, institutionelle Designs zu entwerfen, sondern er sorgt sich auch um deren Implementierung. Die Analyse der jeweils vorherrschenden sittlichen Gegebenheiten, seien sie nun kollektiver oder individueller Art, ist dafür gewiss unerlässlich. Nicht zu unterschätzen sind aber auch die emotiven Faktoren, die dispositions du cœur, die zu einer dauerhaften Verankerung von Regelsystemen in den Sitten und Gebräuchen der Menschen führen. Im Contrat social übernimmt diese Funktion die (bürgerliche) Religion; sie ist aber keineswegs die einzige Antwort, die Rousseau zur Lösung der Problematik bereithält. Letztlich weist jeder seiner (Para-)Texte eine pathetischrhetorische Ebene auf, die unmittelbar auf die Affekte des Rezipienten abzielt. Im zweiten Vorwort zu Julie ou la Nouvelle Héloïse, aber auch an anderer Stelle hat Rousseau Rechenschaft über seine eigenen literatur- und rezeptionsästhetischen Prämissen abgelegt. Diese mit in die Betrachtung einzubeziehen, ist uns daher ein besonderes Anliegen. Der vorliegende Band macht es sich mithin zur Aufgabe, die Mehrdimensionalität der Institutionenproblematik – einer jener „glühenden Felsbrocken“, die, um noch einmal Leo Strauss zu bemühen, Rousseau in die Landschaft der europäischen Philosophie geschleudert hat – zu erkunden. Dabei kommt es zwangsläufig zu Schwerpunktbildungen, die auch, aber nicht nur entlang von disziplinären Grenzen verlaufen. Diese sollen in den folgenden Darstellungen keineswegs ausgeblendet werden. Gleichwohl ist es uns wichtig, die wechselseitigen Verquickungen zwischen den hier skizzierten Dimensionen der Thematik zumindest ansatzweise aufzuzeigen. Der Relationismus, der Rousseaus Denken in Bezug auf die Institutionen kennzeichnet, betrifft nämlich am Ende auch deren Begriff selbst: So sind alle drei hier genannten Ebenen zumindest prinzipiell, wenn auch womöglich nicht in jeder Einzelbetrach-

13 Ohne dabei so weit gehen zu wollen wie Heinrich Meier, der seine These von der Unterscheidung mehrerer Adressaten auf einige wenige Stellen bei Rousseau stützt. Vgl. Heinrich Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, München 2011; ders.: „Das Recht der Politik und die Erkenntnis des Philosophen. Zur Intention von Jean-Jacques Rousseaus Du contrat social“ in ders.: Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion, München 2013, 149–234, sowie ders.: „Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit – Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes“, in Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, krit. Ausg. d. integr. Textes, m. sämtl. Fragm. u. erg. Mat. n. d. Originalausg. u. d. Handschr. neu ed., übers. u. komment. v. Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn u. a. 1993, XXI–LXXVII.

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 Konstanze Baron/Harald Bluhm

tung, miteinander verwoben. Um diese komplexe Situation ihrerseits beschreibbar zu machen, haben wir uns für den Begriff des ‚Banns‘ entschieden. Bann bezeichnet dem Wortlaut nach die Potenz des Gesetzes, die sich auch dort noch bemerkbar macht, wo sich das Gesetz zurückgezogen beziehungsweise jemanden von sich ausgeschlossen hat. Giorgio Agamben hat den Begriff 1995 im Rahmen seiner Erörterung der Souveränität für die politische Theorie exponiert,14 um die paradoxe Gleichzeitigkeit von Einschluss und Ausschluss zu beschreiben. Diese Denkfigur einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Ein- und Ausschluss scheint uns besonders geeignet zu sein, um Rousseaus ambivalentes Verhältnis zu den Institutionen zu fassen – thematisiert sie doch die performative Selbst-Exklusion des Individuums vom identitätsstiftenden Gesetz der Gemeinschaft ebenso wie die fortwährende Faszinationskraft und Wirkungsmacht derselben auf das Individuum. (Rousseau zeigt überdies in einer Passage der Dialogues, dass er mit dem römischen Rechtsstatut des homo sacer, anhand dessen Agamben seine Theorie der Souveränität darlegt, bestens vertraut war und darauf sogar zurückgriff, um seine eigene Situation zu beschreiben.15) Für die Analyse der Institutionen bei Rousseau ergibt sich daraus gewissermaßen der Auftrag, das Konkrete der Regel beziehungsweise des Gesetzes stets auf die ihm vorausliegenden Bedingungen zu beziehen und nicht nur die Institutionen selbst, sondern auch deren Zusammenhang zu beziehungsweise Auswirkungen auf das von ihnen Ausgeschlossene zu reflektieren. Von anderen sozialphilosophischen Konzepten unterscheidet sich der Begriff des Banns insofern auf produktive Weise, als er nicht nur die moralisch-moralisierende Abweichung von einer Regel (im Sinne etwa des Gegensatzes von Norm und Devianz) oder die rein topographische Distanz (wie in der graduellen Abstufung zwischen Zentrum und Peripherie) markiert. Stattdessen formuliert er die unseres Erachtens durchaus triftige Einsicht, dass auch derjenige noch der Wirkung des Gesetzes – im wörtlichen und übertragenen Sinne – untersteht, der sich davon losgesagt hat, dass man also immer auch ein Verhältnis zu dem unterhält, von dem man sich zurückzieht und isoliert. Dass sich anhand dieses Begriffs dann auch die Frage nach Rousseaus Verhältnis zum ‚Mainstream‘ der Aufklärung neu verhandeln lässt, liegt gewissermaßen auf der Hand: Rousseaus Schriften stellen im Kontext der französischen Aufklärung exzentrische Interventionen und Problematisierungen dar, ohne jedoch deswegen irgendwie ‚marginal‘ zu sein. Die gängigen Etikettierungen Rousseaus als Konservativer oder Revolutionär, Republikaner oder Konstitutionalist werden durch den Fokus auf die Institutionen auf die Probe gestellt. Schließlich, und auch das soll

14 Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995 (dt.: Homo Sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Frankfurt/Main 2002). Die Rede vom Bann findet sich übrigens schon bei Paul de Man: „Rhetorik der Blindheit“, 201. 15 Jean-Jacques Rousseau: Rousseau richtet über Jean-Jacques. Gespräche, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, München, Wien 1978, 308 (OC I, 707–708).



Einleitung – Rousseau im Bann der Institutionen 

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hier nicht fehlen, ermöglicht es die Terminologie des Banns, das Augenmerk der Untersuchung auf die spezifischen Machtfaktoren und Herrschaftseffekte zu lenken, die Rousseaus Werk durchziehen. Damit sind keineswegs nur diejenigen Machteffekte gemeint, denen Rousseau als Autor oder Bürger unterliegt, sondern auch diejenigen, die von ihm selbst ausgehen (etwa in seinem Verhältnis zu seinen Lesern) oder die von ihm in seinen Schriften explizit als solche analysiert werden.

2 Struktur und Beiträge des Bandes Vor dem skizzierten Hintergrund, der kaum mehr als eine allererste Einordnung bieten kann, sollen nun die Beiträge des vorliegenden Buches knapp charakterisiert werden. Der Band ist in vier Teile gegliedert, die weitgehend den Sektionen unserer Tagung vom September 2012 entsprechen.16 Der erste Teil befasst sich mit den politischen Institutionen im engeren Sinne; die grundsätzliche Frage, wie Rousseau ideenbeziehungsweise diskursgeschichtlich zu verorten sei, wird hier anhand von spezifisch Rousseauschen ‚Instituten‘ (wie etwa der volonté générale) verhandelt. Auch die Beiträge des zweiten Teils widmen sich politischen Zusammenhängen, doch sind sie weniger an systematischen Fragen interessiert, sondern spüren vor allem dem Einfluss historischer oder zeitgenössischer Institutionen auf das Denken Rousseaus nach. Die politischen Ordnungen Genfs und Venedigs stehen dabei im Zentrum; im Anschluss wird auch Rousseaus Verfassungsentwurf für Polen in historischer Per­ spektive diskutiert. In der dritten Sektion weitet sich der Fokus nicht nur auf die literarischen Schriften Rousseaus, sondern auch auf ein vertieftes, interdisziplinär fundiertes Verständnis von Institutionalität. Spannungsvoll endet die vierte Sektion, die mit Subjekt und Revolution zwei philosophisch konnotierte Begriffe gegenüberstellt, die einerseits die subjektive Institutionalisierung, das Einschreiben des Gesetzes in die Herzen der Menschen, andererseits – und in Verbindung damit – die Möglichkeit eines historischen Wandels der etablierten Institutionen zu thematisieren erlauben.

Staat und Politik Der erste Schwerpunkt des Bandes ist der Rolle der politischen Institutionen in Rousseaus Theorie gewidmet. Der Philosoph Matthias Kaufmann löst Rousseau aus seiner späteren totalitären Umklammerung durch Autoren wie Carl Schmitt, Ya’acov Talmon und Alain de Benoist heraus, die seine partizipatorischen Prämissen revidiert hätten, die aber in anderer Hinsicht durchaus an seine Theorie anknüpfen könnten. Eine angemessene Interpretation des Contrat social setze demgegenüber voraus, dass

16 Siehe dazu die Hinweise im Vorwort.

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man erkennt, dass Rousseau den Einzelnen vor Willkürentscheidungen der Obrigkeit und der Menge gerade bewahren wolle. Für diese Lesart werden insbesondere drei Punkte stark gemacht: Der Verzicht auf Freiheit bedeute nach Rousseau einen Verzicht auf das Menschsein schlechthin; damit sei der Versklavung (auch der Selbstversklavung) ein Riegel vorgeschoben; es werde deutlich, dass Freiheit bei Rousseau nicht nur kollektiv, sondern durchaus auch personenbezogen als individuelles Recht gedacht werde. Zweitens gelte für den Prozess der Entscheidungsfindung, dass dem Bürger das Recht, als Teil des Souveräns abzustimmen, auf keinen Fall genommen werden dürfe. Schließlich und drittens sei Rousseau gegenüber der einmal kon­ stituierten Macht kritisch und deute die Exekutive als Emanation der Souveränität und nicht als Teil von ihr – wohl auch, weil er der Mehrheit nicht traue. Wiewohl Rousseau kein dem Souverän übergeordnetes Recht zulasse, suche er die politischen In­stitutionen doch so zu konstruieren, dass aus ihrer Ordnung bestimmte rechtliche Folgen erwachsen, die in der Summe auf eine Art Garantie individueller Freiheiten hinauslaufen. Optimale Partizipationsmöglichkeiten bei der Entscheidungsfindung sollen gewährleisten, dass die Gesetze von den Bürgern als Ausdruck ihres eigenen Willens, der im Gemeinwillen fußt, begriffen werden können. Die Bürger seien daher nicht gegenüber der Exekutive verpflichtet, sondern einander und dem Staat. Dieses schon von Carol Pateman herausgestellte plausible Konzept politischer Verpflichtung zeige, so Kaufmanns Resümée, dass der Genfer im Kern kein totalitärer Denker gewesen sei.17 Der Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Marcus Llanque begreift Rousseaus Werk als in sich widersprüchlichen Schnittpunkt von Diskursen. Rousseau stünde am Übergang von einer institutionellen zu einer konstitutionellen Perspektive, was anhand der Sentenz „instituer un peuple“ und deren divergierenden Übersetzungen (zum Beispiel „einem Volk eine Verfassung geben“) problematisiert wird. Richtig sei nur die Übersetzung „Gründung eines Volkes“. Auf die zentrale Frage jedoch, was ein Volk zum Volk macht, die Rousseau den anderen Vertragstheorien vorlagert, finde er keine konsistente Antwort, da er zwar ‚Menge‘ und ‚Volk‘ terminologisch unterscheide, beide aber handlungstheoretisch kaum weiter differenziere. Als politischer Denker zeichne ihn allerdings ein großes Problembewusstsein aus und wie auch

17 Zur gern erörterten Frage der Beziehung von Carl Schmitt und Rousseau vgl. auch den ganzseiti­­ gen Zeitungsartikel „Dem wahren Johann Jacob Rousseau. Zum 28. Juni 1962“, in Zürcher Woche, 14. Jg., Nr. 26, in dem Rousseau von seinem Interpreten Schmitt aus der revolutionären Tradition genom­men wird. Den Hinweis auf den kaum beachteten Text verdanken wir Reinhard Mehring. Vgl. zudem Bruno Bernardi: „Guerre, État, état de guerre: quand Schmitt lit Rousseau“, in Philosophie 94 (2007), 52–65, und Franz Halas: „Träumer und Kronjurist. Der Zwang zur Freiheit bei Rousseau und Schmitt“, in Karlfriedrich Herb/Magdalena Scherl (Hgg.): Rousseaus Zauber, Würzburg 2012, 57–65. Halas stellt heraus, dass Schmitt vor allem in der Schrift Die Diktatur. Von den Anfängen des moder­­ nen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (2. Aufl., Berlin 1928) auf Rousseau zurückgreift.



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schon Montesquieu interessiere ihn vor allem das Verhältnis der Wechselwirkungen zwischen Personen und Institutionen. Was Volk als Institution oder vielleicht doch besser als ‚instituiertes‘ bei Rousseau genau bedeute, könne jeweils nur in verschiedenen Kontexten geklärt werden. Rousseaus Widersprüchlichkeit sucht Llanque durch eine Zuordnung seines Denkens zu verschiedenen Diskursen (kontraktualistisch, demokratisch, republikanisch) aufzulösen, die jeweils andere Motive in den Vordergrund rücken. Als besonders wichtig erscheinen Llanque in diesem Zusammenhang zwei Bezugspunkte: zum einen der Diskurs des institutionell disziplinierten Volkes, der letztlich aus der Angst vor der Menge resultiere und darauf abziele, das Volk als handlungsfähige Einheit vor dem Zerfall in eine mehr oder weniger anarchische Menge zu bewahren; zum anderen der institutionelle Zweig des Republikanismus, dem zufolge es die Qualität der In­stitutionen, nicht der Personen ist, die über die Stabilität einer politischen Ordnung entscheiden. In diesem Sinne betone Rousseau, dass ein Volk (erst) durch das zielgerichtete Handeln der Regierung und den praktischen Umgang mit den Institutionen zum politischen Akteur werde. Seine These, dass Rousseau kein Konstitutionalist im modernen Sinne sei, stützt Llanque mit drei Argumenten: So fasse Rousseau zwar einen parallelen Prozess der Volkwerdung und der Verfassungsgebung ins Auge, zeige aber keine Wege kontinuierlicher Verfassungsentwicklung auf. Um die Souveränität des Volkes zu wahren, unterwerfe er die Politik zudem kaum gerichtlichen Überprüfungsmechanismen – von der Instanz eines Verfassungsgerichtes im modernen Sinne ganz zu schweigen. Weil Rousseau auf ein Einschreiben der Gesetze in die Herzen abziele, überdehne er letztlich den Anspruch der Grundgesetze. Dennoch stelle dieser komplexe Autor eine Herausforderung für den gegenwärtigen republikanischen Konstitutionalismus dar, weil er bedenkenswerte liberalismuskritische Einsichten formuliere. Skadi Krause zielt als Politikwissenschaftlerin in eine ähnliche Richtung wie Kaufmann, setzt aber inhaltlich einen anderen Akzent, indem sie Rousseau als Begründer einer verfassungsstaatlichen Konzeption liest und die Kohärenz seiner Überlegungen herausstellt. Damit bezieht sie zugleich Position gegen eine ganz andere RousseauLesart, die in unserem Band von Tanguy L’Aminot repräsentiert wird. Krause stellt dar, wie Rousseau im ersten und zweiten Discours seine gesellschaftskritische Linie ausformt, wie er in der Schrift über die Politische Ökonomie den Begriff der volonté générale einführt und diesen dann philosophisch im Contrat social näher bestimmt. Dabei gehe es Rousseau primär um die staatlichen Grundgesetze und weniger um die Gesetze der einzelnen Regierungen. Nicht zuletzt aus diesem Grund, so Krause, sei es richtig, ihn in die verfassungsstaatliche Tradition einzuordnen. Der Umstand, dass Rousseau zu Gunsten seiner starken Souveränitätsauffassung im Contrat social die Ansicht vertrete, dass das Volk erst durch die Selbstgesetzgebung konstituiert werde, gilt der Interpretin für wichtiger als die damit einhergehende Überführung des Individuums in die Doppelrolle als souveräner Bürger und Untertan, wie sie gemeinhin von liberalen Interpreten kritisiert wird. Rousseau binde die Souveränität nicht durch

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vorstaatliche angeborene Rechte und verlässt damit Krause zufolge den Rahmen des Naturrechtes. Offen bleibt bei diesem Zugang die Frage, inwieweit seine Betonung von individueller und kollektiver Freiheit tatsächlich mit liberalen Prinzipien vereinbar ist. Die institutionentheoretische Unterscheidung zwischen der Repräsentation der Macht und der Nichtdelegierbarkeit der volonté générale entkräftet jedenfalls den gerne geäußerten Vorwurf, Rousseau würde Repräsentation schlichtweg ablehnen oder nicht begreifen.18 Tanguy L’Aminot von der „Groupe Jean-Jacques Rousseau“ der renommierten französischen Forschungsinstitution CNRS liest den Genfer als radikalen Kritiker von Staat und Regierung. Anhand detaillierter Belege sucht er zu zeigen, dass Rousseau große Vorbehalte gegenüber dem Staat gehabt und in diesem vor allem eine Bedrohung für die Freiheit des Individuums gesehen habe. Seine bewusst provokativ formulierte Deutung, die auch auf aktualisierende Seitenhiebe nicht verzichtet, steht damit konträr zu der Lesart von Krause, aber auch von Kaufmann. Nach einer staatskritischen Einleitung macht sich L’Aminot an eine Interpretation des Contrat social, der kein Handbuch der Staatskunst sei, das die schwierigen Bedingungen für eine wahre Republik erörtert, sondern eine Kritik aller Regierungsformen, wie man insbesondere den Kapiteln 10 und 11 im III. Buch entnehmen könne, die Missbrauch, Entartung und Tod des politischen Körpers zum Gegenstand haben. Dass vor diesem Hintergrund auch der Émile in ein anderes Licht rückt, versteht sich. Demnach ginge es Rousseau in dieser Schrift nur insofern um die ‚Erziehung des Menschen‘, als er der Meinung sei, dass man unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft kein ‚Bürger‘ mehr sein könne. Aber auch wenn L’Aminot die anarchoiden Momente in Rousseaus Werk betont, so ist der Genfer für ihn doch kein Anarchist, da er, trotz aller Skepsis, in letzter Konsequenz am Staat als einem notwendigen Übel festhalte. In dieser Perspektive ist Rousseau ein existentieller Philosoph, der immer auf die konkreten Nöte des Individuums schaut. Er gebe – primär den Männern, aber auch den Frauen – Mittel zur Selbstaufklärung in die Hand, zeige ihnen also, wie sie die

18 Zur Differenzbestimmung von Delegation und Repräsentation vgl. Nadia Urbinati: Representative Democracy. Principles & Genealogy, Chicago 2006. Sie zeigt im zweiten Kapitel (v.  a. 62–66) dieser Monographie, dass Rousseau Delegation konsistent als inhaltlich bestimmte Beauftragung und ele­ mentaren Bestandteil direkter Demokratie versteht. Repräsentanten einer kritischen Lesart von Rous­ seaus Theorie der Volkssouveränität sind u. a. Joseph A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Einf. v. Eberhard K. Seifert, a. d. Engl. übers. v. Susanne Preiswerk, Tübingen u. a. 2005) und Isaiah Berlin („Zwei Freiheitsbegriffe“, in ders.: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/Main 1995, 197–256). Rousseau wird – um weitere kontroverse Themen der Rezeption zu benennen – bekanntlich ebenso als Gegenspieler von Thomas Hobbes gedeutet, wie auch als dessen Schüler, der im Contrat social eine ähnlich starke Souveränitätskonzeption entwickelt habe wie sein englischer Vorgänger. Andere Interpreten erkennen Verschiebungen und attestieren Rousseau im Discours sur l’économie politique eine große Nähe zu John Locke, die er später aufgegeben habe. Schließlich ist auch Rous­ seaus Zugehörigkeit zur Tradition des Naturrechts umstritten.



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Missstände ihrer verkehrt eingerichteten Gesellschaften und politischen Ordnungen durchschauen und sich als Menschen möglichst vielen Zwängen entziehen können. Dass L’Aminots Lesart – trotz entsprechender Übereinstimmungen – nicht ohne Weiteres mit der politischen Linken sympathisiert, wird am Ende des Aufsatzes deutlich, wo ein Bezug zur Figur des ‚Anarchen‘ bei Ernst Jünger hergestellt wird, was ein – weiterer – Beleg für die Schwierigkeit ist, Rousseaus originelle und komplexe Theorie politisch eindeutig zu verorten.

Historische Modelle Auch wenn Rousseau den Begriff des ‚Systems‘ zur Charakterisierung seines Werks nicht geradewegs meidet, so ist er doch kein typischer Systemdenker im Sinne des klassischen Rationalismus; viel zu groß und viel zu beständig ist sein Interesse an der konkreten Erfahrungswirklichkeit. In seinen Schriften tauchen wiederholt historische Referenzen auf, von denen die bekanntesten sicherlich Athen, Sparta und Rom sind – wohl auch, weil diese schon im ersten Discours mit einer großen rhetorischen Emphase belegt sind. Dabei ist unmittelbar einsichtig, dass den genannten Referenzen mehr als nur die Funktion der rhetorischen Veranschaulichung zukommt; das Studium konkreter (Stadt-)Staaten, sei es aus der eigenen Anschauung heraus – wie im Falle Genfs – oder auf der Basis von Lektüren, hat eine geradezu modellbildende Rolle für Rousseau gespielt. In unserem Band kommen drei solcher ‚Modelle‘ zur Sprache: zum einen Genf, dem zwei Aufsätze gewidmet sind, sowie das eher selten beachtete Venedig und schließlich Polen, die jeweils in einem eigenen Beitrag behandelt werden. Der Fribourger Historiker Volker Reinhardt diskutiert die hierzulande noch wenig rezipierten Lettres écrites de la montagne als Bündel von verschiedenen Argumentationssträngen, die vor allem zusammen gehalten würden durch Rousseaus Absicht, die Oberen der Stadt Genf des Verrats an der Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie an der politischen Freiheit ihrer Bürger zu überführen. Die nicht leicht zu durchschauende Strategie in den ersten fünf Briefen sei es, mit Blick auf die Reformation und auf die Institution des Konsistoriums die in der und für die Republik Genf verbindlichen Werte und Normen zu (re-)konstruieren, um sodann den Nachweis von deren bis in die Gegenwart andauerndem Verfall zu erbringen. Reinhardt zufolge ist Rousseaus Deutung der Genfer Reformation dabei einigermaßen idiosynkratisch und in sich alles andere als widerspruchsfrei: So avanciere Calvin bei ihm zu einem menschenverachtenden religiösen Fanatiker, während Jesus in einen gemäßigten Hedonisten verwandelt werde. Die zweite von Rousseau verfolgte Strategie bestehe darin, Scheinapologien vorzunehmen, um diese dann im weiteren Verlauf der Argumentation ad absurdum zu führen. So könne Rousseau zum Beispiel seine Übereinstimmung mit dem Protestantismus nur behaupten, weil er die christliche Offenbarungsreligion entkerne und auf die Moral der Evangelien reduziere.

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Rousseaus Sicht wird bei Reinhardt mit der Position des savoyischen Vikars im Émile identifiziert,19 der sich gegen Konfessionsbildung wende und einen Deismus vertrete, demzufolge sich Gott dem Menschen direkt, universell und undogmatisch mitteilt. Dieser Ansatz, so Reinhardt, werde von Rousseau in den Briefen sechs bis neun durch weitere Ausführungen auf dem Gebiet der politischen Institutionen ergänzt. Demnach habe die Genfer Oligarchie, wie man am Falle der Ausbürgerung Rousseaus sehen könne, durch den Kleinen Rat die Kernkompetenzen des Konsistoriums, des kirchlichen Gerichtes, okkupiert und somit nicht nur gegen die Verfassung, sondern auch gegen den Geist der Reformation verstoßen. Reinhardt zufolge unternimmt der tief vom Autodafé seiner Bücher und der Ausbürgerung getroffene Rousseau, der zugleich ein exzellenter Kenner und ein radikaler Kritiker der zeitgenössischen Genfer Institutionen sei, in den Lettres écrites de la montagne somit nichts Geringeres als den Versuch, die Bürger seiner Heimatstadt für eine ganzheitliche Reformation zu mobilisieren. Simone Zurbuchen, die in Lausanne Philosophie lehrt, erörtert in ihrem Beitrag die zeitliche Dimension von Rousseaus Theorie der Institutionen. In diesem Zusammenhang lotet sie die spezifischen Spannungen aus, die sie bei Rousseaus Versuch einer Integration von Elementen des klassischen Republikanismus in die Naturrechtstradition entstehen sieht. Vor dem Hintergrund der jüngeren Debatten um die Bedeutung Genfs für Rousseaus politische Theorie widmet sie sich zunächst der Frage, wie die Genfer Verfassung von Rousseau als Modell in seine politische Theorie eingebettet wurde. Sie argumentiert, dass dies – je nach Kontext – mit unterschiedlicher Gewichtung erfolgt sei und Genf zudem nicht das einzige historische Modell darstelle, auf das Rousseau in seinen Schriften zurückgreift. Insbesondere seine Ausführungen über den Hang von Regierungen zur Entartung ließen sich, wie sie unter Rekurs auf Arbeiten von Gabriella Silvestrini darlegt, als implizite Bezugnahme auf die drohende Auflösung der Republik Genf lesen. Zurbuchen streicht dabei insbesondere die Mittel heraus, die Rousseau für eine mögliche Verzögerung des Verfalls in Betracht zieht. Die politische Pointe seiner Verteidigung gegen die Anmaßung des Kleinen Rates und gegen die in den Lettres écrites de la campagne von Jean-Robert Tronchin erhobenen Vorwürfe laute, dass die Gesetze vom Souverän geändert werden sollten, statt etwa schleichend oder hinterrücks. In systematischer Hinsicht erhellten Rousseaus Anleihen bei der republikanischen Tradition, dass er offensichtlich auf der Suche nach einer Lösung für das Problem des institutionellen Wandels beziehungsweise der Zeitlichkeit von Institutionen war. Zurbuchen kommt jedoch zu dem

19 Eine andere Interpretation der Stelle findet sich bei H. Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens, 301–316. Meier verwahrt sich gegen die aus seiner Sicht voreilige Gleichsetzung des Glaubensbekenntnisses des savoyischen Vikars mit Rousseaus eigenen religiösen Ansichten. Vielmehr hätte Rousseau darin die Auffassung eines gewöhnlichen Menschen (homme vulgaire), der sich an einen ebenso gearteten Schüler (Émile) wendet, entfaltet.



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Schluss, dass der gefundene Ansatz sich nur schlecht mit seiner sonstigen Orientierung an der klassischen Naturrechtstradition vertragen habe, wie sich an einzelnen kritischen Punkten (etwa der Bewertung der Mischverfassung) immer wieder zeige. Die Verfassung Venedigs als politisches Modell wird im Werk Rousseaus selten beachtet, war aber in den zeitgenössischen Diskussionen durchaus präsent. Die Philosophin Catherine Labro nimmt das in ihrem Beitrag zum Anlass, Rousseau, der als junger Mann in Diensten des französischen Botschafters in Venedig stand, als einen Institutionenanalytiker vorzustellen, der in seinen Schriften Faktisches und prinzi­ piengeleitetes Vorgehen verbinde. Durch diese Herangehensweise unterscheide er sich in der politischen Einschätzung Venedigs von anderen Aufklärern wie Montesquieu und Voltaire. Sein Interesse an normativen Konzepten (Volkssouveränitätskonzept und Egalitarismus) schärfe den Blick für die Besonderheiten des Gegebenen, wobei für Labro konkret die Frage des Wahlrechts – und hier speziell die Unterscheidung von Abstimmungen und Losverfahren – im Mittelpunkt steht. So habe Rousseau Venedig nicht als eine reine Aristokratie, sondern als eine Mischform verstanden, in der der Adel das ‚Volk‘ bilde. Anhand des Losverfahrens macht sie deutlich, dass zwar alle Adligen an der Gesetzgebung beteiligt waren, nicht aber zu gleichen Teilen an der Exekutive. Ausschlaggebend für Rousseaus Ablehnung von Voltaires Klassifikation Venedigs als Aristokratie sei somit, dass die Auswahl der hohen Staatsbeamten aufgrund des gestuften Losverfahrens weitgehend vom Einfluss einzelner Familien und deren partikularer Interessen frei gehalten werde. Die von Kant im Streit der Fakultäten vertretene Ansicht, es sei „doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft […] entsprechen“,20 dürfte Rousseau nicht ohne Weiteres geteilt haben – zu umfangreich und zu akribisch waren die Arbeiten, die er im Zusammenhang mit seinen Verfassungsprojekten unternahm. Allein, um überhaupt etwas zu Korsika sagen zu können, veranschlagte er mindestens sechs Monate Studium, gefolgt von weiteren sechs Monaten Bearbeitungszeit. Erst nach Ablauf dieser Frist, so Rousseau, könne es grundlegende Einsichten geben, einen genaueren Plan könne er sogar erst in drei Jahren vorlegen.21 Ähnlich gründlich hat er sich auch auf die Considérations sur le gouvernement de Pologne eingelassen, für die er sechs Monate lang offizielle Dokumente und Quellen studierte, bevor er sich vom Herbst 1770 bis Frühjahr 1771 an die Niederschrift des Textes machte. Dass die Vorarbeiten zu beiden Schriften so umfangreich ausfielen, ist nicht weiter verwunderlich: Schließlich war Rousseau, anders als Kant, vor allem daran interessiert, dass sich seine Verfassungsentwürfe harmonisch

20 Immanuel Kant, „Der Streit der Fakultäten“ [1798], in ders.: Werke, Akademie-Textausgabe, unver­ änd. photomechan. Abdr. d. Textes d. v. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1902 beg. Ausg. v. Kants gesammelten Schriften, Bd. VII, Berlin 1968, 1–115, hier 92. 21 Jean-Jacques Rousseau: „Rousseau an Matthieu Buttafoco (15. Oktober 1764)“, in ders.: Korrespon­ denzen, 287–89, hier 288.

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in die bestehenden Sitten der jeweiligen Gesellschaften einfügen – und dazu waren entsprechende Studien und Untersuchungen unverzichtbar. Der Historiker Karsten Holste lenkt in seinem Aufsatz über die Considérations sur le gouvernement de Pologne den Blick denn auch nicht primär auf den bekannten Text, sondern geht von den Fragestellungen und Interessen aus, die Rousseaus polnische Auftraggeber mit dem Projekt verbanden. Institutionentransfer, so seine These, dürfe nicht als einseitiger Vorgang missverstanden, sondern müsse als Prozess wechselseitiger Regelinterpretationen und Übersetzungen begriffen werden. Demnach habe sich Rousseau mit der Aufgabe konfrontiert gesehen, das auf spezifische Freiheiten in einer Adelsrepublik ausgerichtete Konzept ,polnischer Freiheit‘ mit weitreichenden Vorschlägen für eine Reform des Staates zu verbinden. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe er die patriotische Erziehung, in Form einer Vielzahl von Wettbewerben, zu stärken versucht. Die von Rousseau als junges Volk charakterisierten Polen, denen er Tatkraft, Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben zuschrieb, seien auf diese Weise zugleich „exotisiert und infantilisiert“ worden. Die traditionelle Freiheit der Polen, welche die Auftraggeber der Considérations für unbestreitbar hielten, sei Rousseau hingegen allenfalls als eine von mehreren zukünftigen Optionen erschienen. Rousseau wurde seitens der Polen übrigens erst als zweiter, nämlich nach Gabriel Bonnot de Mably, dessen Reformvorschläge für die Vertreter des polnischen Adels wohl zu radikal ausgefallen waren, um einen Verfassungsentwurf gebeten. Für seine Entscheidung, sich dieser Aufgabe zu stellen, habe sicherlich der Wunsch eine Rolle gespielt, so Holste, sich auch auf diesem Gebiet als Kontrahent Voltaires zu profilieren. Rousseau habe Polen-Litauen nicht die Werte der westlichen Zivilisation, sondern die Kritik an eben diesen lehren wollen. Damit habe sich – zehn Jahre nach dem Erscheinen des Contrat social – seine Perspektive abermals verschoben. Mit dem polnischen Verfassungsprojekt habe Rousseau die Hoffnung verbunden, die ‚Dekadenz‘ der europäischen Zivilisierung vermeiden und dem Land einen eigenen Weg in die Zukunft weisen zu können. In theoretischer Hinsicht habe er damit ebenso ein Zivilisationsgefälle und die strukturelle Andersartigkeit der osteuropäischen Länder unterstellt wie Diderot und Voltaire, nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. Dies mache deutlich, dass bei Rousseau – ungeachtet seines offensichtlichen Bemühens, den besonderen Umständen Polens Rechnung zu tragen – immer wieder auch spezifisch-westeuropäische Vorstellungen zum Tragen gekommen seien. Für die polnischen Reformbestrebungen hätten sich aber nur wenige der von ihm vorgeschlagenen institutionellen Neuerungen als anknüpfungsfähig erwiesen. Wirkungsgeschichtlich ist in diesem Zusammenhang freilich zu bedenken, dass die Vorschläge zunächst kaum bekannt waren und sich obendrein schon 1772 mit der Teilung Polens vorerst erübrigt hatten. Erst 1789, das heißt sieben Jahre nach der posthumen Publikation der Schrift, wurden die darin enthaltenen Vorschläge Rousseaus ins Polnische übersetzt, um dann in den Verfassungsdiskussionen Anfang der 1790er-Jahre kurzzeitig eine Rolle zu spielen, bevor sie 1795 mit der Zerschlagung Polen-Litauens endgültig obsolet wurden.



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Interdisziplinäre Perspektiven Die Beiträge des dritten Abschnittes verbindet, dass sie den Blick auf Rousseaus Werk erheblich ausweiten und dabei neben den im engeren Sinne politischen Schriften auch anderen Werken – etwa dem Émile oder der Nouvelle Héloïse – die nötige Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Dabei spielt in fast allen von ihnen die Sprache – Rousseau zufolge die erste Institution überhaupt – eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur als Gegenstand der theoretischen Reflexion, sondern gleichermaßen als deren Bedingung der Möglichkeit und wichtigstes Medium. Ausgehend von diesen Überlegungen werden Rousseaus Texte ihrerseits nicht statisch, das heißt als System, begriffen, sondern gleichsam dynamisch und performativ – sei es nun in ihrem Bezug zum Leser oder im Rahmen ihrer jeweiligen Rezeptionsgeschichte(n) interpretiert. Die Literaturwissenschaftlerin Judith Frömmer setzt sich in ihrem Beitrag vor allem mit der Nouvelle Héloïse auseinander, die sie für sozialwissenschaftliche Diskussionen anschlussfähig macht. Ihren Ausgangspunkt bildet dabei das traditionelle Verständnis der institutio als Form einführender Unterweisung. Dieses gehe mit Normierung und Universalisierung ebenso einher, wie es eine Dialektik von Institution und Destitution in Gang setze, weil die Darstellung der Ersteren stets mit einem Unterlaufen der Positionen beziehungsweise mit Auflösungstendenzen verbunden sei. Rousseaus Gesellschaftskritik sei, so Frömmer mit Blick auf die moralistische Tradition in Frankreich, an eine Kritik der Einbildungskraft gekoppelt. Ihre Argumentation gliedert sich in zwei Schritte. Im ersten Teil wird die Ehe, von Rousseau im zweiten Discours als petite société bezeichnet, als Kippfigur zwischen Natur und Kultur ausgewiesen: Die Liebesgemeinschaft der Herzen setze eine imaginative Versetzung in die Rolle des Anderen voraus und destabilisiere somit die Balance des homme naturel. Der zweite Schritt bezieht sich auf den Émile und die Nouvelle Héloïse: Hier werden die ästhetischen und medialen Verfahren der Institutionalisierung der Ehe anhand von individuellen Lebensentwürfen diskutiert, die freilich alle scheitern. Allerdings gebe es Linderungsmöglichkeiten, denn aus dem Übel selbst, mithin auch aus der Romanlektüre, ließen sich ‚homöopathische‘ Therapien entwickeln. Vor diesem Hintergrund wird die Demokratisierung der Beobachtungsverhältnisse im oikos von Clarens diskutiert, wobei die Figur des Beobachters Wolmar, der ohne jede Empathie und insofern ‚asozial‘ sei, die der Versuchsanordnung eingeschriebene Paradoxie von menschlicher Gesellschaft und unmenschlicher Kontrolle verkörpere. Darüber hinaus vertritt Frömmer die Auffassung, dass die Anordnung des Romans einen Pakt Rousseaus mit dem männlichen Leser offenbare, der über die ordnungsgefährdenden Potenziale des weiblichen Begehrens aufgeklärt werden solle, wohingegen er das weibliche Publikum der Selbst- und Affektkontrolle grundsätzlich für unfähig erachtet habe.22

22 Rousseaus maskulinistischer Bias ist von feministischen Interpretinnen wiederholt herausgear­ beitet worden. Vgl. dazu u. a. Linda M. G. Zerelli: Signifying Woman. Culture and Chaos in Rousseau,

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Die Einbildungskraft und der Umgang mit Fiktionen ist für das Verständnis von Institutionen und Institutionenkritik bei Rousseau in mehrfacher Hinsicht wesentlich: Einerseits sind soziale Institutionen stets mit Interpretationen verbunden, ohne die sie nicht wirksam werden können, andererseits ist der Umgang mit Fiktionen gesellschaftlich durchaus folgenreich. Liest man Rousseaus Texte in diesem Lichte, so scheint es, als habe er das berühmte ‚Thomastheorem‘ vorweggenommen, demzufolge Fiktionen, die geglaubt werden, unabhängig von ihrer Angemessenheit Effekte zur Folge haben, die ernstgenommen werden müssen. Dass Rousseau diese Einsicht sowohl in ästhetischer als auch medialer Hinsicht virtuos in seinen Romanen verarbeitet, weist ihn als kulturkritischen Autor aus, der die avancierten Mittel der Kultur gegen diese selbst zu wenden versteht. Schließlich kann Rousseau den destabilisierenden Auswirkungen der Einbildung nur durch eine Schulung der (nicht per se ratio­ nalistisch verstandenen) Urteilskraft entgegenwirken.23 Während Frömmer die Ökonomie der Affekte thematisiert, untersucht der Politikwissenschaftler Daniel Schulz in seinem Beitrag das Verhältnis von Ökonomie und politischer Ordnung bei Rousseau. Der Längsschnitt durch das Werk (frühe Diskurse, Contrat social und die Verfassungsschriften bis hin zur Nouvelle Héloise) präsentiert Rousseau in ökonomischen Fragen als Moralisten und republikanischen Vertreter eines Primates der Politik. Schulz zeichnet die Spuren nach, die die Auseinandersetzung mit Fragen der Politischen Ökonomie in Rousseaus Werk hinterlassen hat – ausgehend von seiner Bewunderung für das antike Sparta, wo Askese und die Einfachheit der Sitten im Zentrum stünden, bis hin zur Differenzierung von Hauswirtschaft und Politik, der Rousseau eine Schlüsselstellung zuweise. Dem Discours sur l’économie politique (1755) attestiert Schulz eine Brückenfunktion zwischen dem zweiten Discours und den späteren Schriften, denn hier nehme Rousseau nicht nur die systematische Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Haushalt vor, sondern schreibe beiden auch verschiedene Rationalitäten zu. Dabei stellt Schulz neben Rousseaus Kritik an der Monetarisierung der politischen Verhältnisse insbesondere den Umstand heraus, dass mit der Verwandlung privater Mittel (Steuern) in öffentliche Finanzen (Staatshaushalt) für Rousseau eine Art ‚Heiligung‘ der Letzteren verbunden sei, weshalb Korruption und Betrug durch Repräsentanten des Staates auch keine gewöhnlichen Verbrechen, sondern eine Verletzung des politischen Körpers und Verrat an dessen Geiste darstellten.

Burke, and Mill, Ithaca/NY/London 1994; Lori Jo Marso: (Un)Manly Citizen. Jean-Jacques Rousseau’s and Germaine de Staël’s Subversive Women, Baltimore/MD, London 1999; Lynda Lange (ed): Feminist Interpretations of Jean-Jacques Rousseau, University Park/PA 2002, sowie Christine Garbe: Die ,weib­ liche‘ List im ,männlichen‘ Text. Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik, Stuttgart, Weimar 1992. 23 Vgl. Rainer Enskat: Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, 369–514.



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Wie Frömmer geht auch Schulz in seiner Deutung auf die Nouvelle Héloïse ein, indem er die dort verhandelten Grundsätze transparenten Wirtschaftens und ihrer Rationalität erörtert. Dabei werde klar, dass es sich bei der in Clarens herrschenden Ordnung nicht um eine Ergänzung des Contrat social handele, sondern um ein Modell, das die Möglichkeit des Rückzugs aus einer weitgehend verderbten Gesamtordnung in eine private Enklave durchspiele. Rousseau befürworte Askese und Autarkie, wisse als praktischer Philosoph jedoch, dass sich auf diese Weise keine Bindungen erzeugen lassen, die stabil genug sind, um handlungsleitende Motive für die Mitglieder eines politischen Gemeinwesens zu erzeugen. Deshalb setze er, so Schulz, auf die Wirkungen öffentlicher Rituale, wie zum Beispiel republikanische Feste. Diesen wohne ein ästhetischer Mehrwert von ephemerer Qualität inne, der mit Geld nicht zu erlangen sei. Auf diese Weise Bindungen in die Herzen der Bürger einzuschreiben, sei elementar für Rousseaus Anliegen, den Fortbestand republikanischer Institutionen zu sichern. Die moderne Wirtschaft, die Monetarisierung und der Markt hingegen würden seiner Ansicht nach die Sitten und die guten politischen Institutionen untergraben, weshalb er eine Inversion der doux commerce-These vornehme, nach welcher der Handel die Sitten verbessert und den Frieden fördert. Die Analyse der Institutionen im pädagogischen Werk Rousseaus verbindet Alfred Schäfer mit einer methodischen Grundlagenreflexion auf seine eigene akademische Disziplin. Der Hallenser Erziehungswissenschaftler erwartet von der Pädagogik mehr als nur ein Set von dekontextualisierten Klugheitsregeln und sieht sie deshalb auf ein sozialtheoretisches Konstitutionsproblem verwiesen, für das die Lektüre des Émile lehrreich sei, auch wenn Rousseau selbst das betreffende Problem darin nicht bewältigt, sondern lediglich mit paradoxen Strategien und einem gütigen Paternalismus darauf reagiert habe. Wenn Rousseau dem Kind eine eigene Rationalität zuschreibe, von der er annimmt, dass sie jener der Erwachsenen ebenbürtig ist, aber von ihnen nicht verstanden wird, dann verhandele er die Pädagogik in einer Sprache von Unwahrscheinlichkeit und Fiktionalität. Wende man sich zudem von einer schlichten Gegenüberstellung von Subjekt und Institution ab, indem man sie sprachtheoretisch und damit institutionalistisch unterläuft, was Rousseau nur partiell gelinge, dann könne ein Raum gedacht werden, in dem Erziehung als möglich erscheint. Der Immanenz des Sozialen werde man allerdings auch unter diesen Voraussetzungen nicht völlig entkommen. Nur durch die säkulare Selbstaufopferung und freiwillige Unterordnung Émiles unter den Rat des Erziehers könne dieser als vermittelnder Dritter gedacht werden. Damit – so Schäfers Folgerung – werde das pädagogische Reich als anti-institutionelle Institution mit sozialen Mitteln re-konstituiert. Solche institutionentheoretischen Einsichten sind weitreichend und stehen im Kern dem Unmittelbarkeitskult fern, der Rousseau gerne vorgehalten wird. Der Romanist Reinhard Bach weist eingangs seiner sprach- und begriffsgeschichtlichen Spurensuche zum Thema Institution bei Rousseau auf den Begriffsgebrauch bei Montaigne hin, der damit die Aktivitäten „errichten, begründen und erziehen“ verbunden habe. Im Kontrast dazu nehme Rousseau eine große Ausweitung des phi-

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losophischen Themenfeldes vor, die Bach in seinem Beitrag entlang von drei Pfaden abschreitet. Auf dem ersten Pfad wird dargelegt, dass Rousseaus Verhältnis zu den modernen Institutionen von radikaler Kritik gekennzeichnet sei und häufig geradezu Abscheu zum Ausdruck bringe. Dabei fungierten Ordnung, wirkliche Gerechtigkeit und reelles Gemeinwohl als normative Gegenbegriffe zu den korrumpierten Werten einer verkehrt eingerichteten Wirklichkeit. Der zweite Pfad der Spurensuche stellt sodann den Naturbegriff als Grundlage der Gesellschaftskritik heraus. Die Erziehung von Émile erfolge absichtsvoll fern von vielen Institutionen und naturnah, wobei das Gewissen als Stimme der Natur verstanden werde, das es dem Menschen erlaube, seinem ursprünglichen Wesen gemäß zu agieren. Dagegen zeugt der dritte von Bach verfolgte Pfad – mit Reflexionen zum Sündenfall der Sprache, die ja nach Rousseau nicht nur selbst Institution ist, sondern die auch ideologisch die modernen Institutionen legitimiert – von der Schwierigkeit, ein alternatives Vokabular zur Beschreibung nicht-entfremdeter Verhältnisse zu entwickeln. Die sprachgeschichtlichen Überlegungen, mit denen Bachs Beitrag ansetzt, werden hier gleichsam zum Problem der politischen Theoriebildung selbst gemacht. Bachs konkludierende Verteidigung Rousseaus gegen liberalistische Missverständnisse demonstriert, wie stark bestimmte Rousseau-Rezeptionen von begrifflichen Irrtümern und Ambivalenzen geprägt waren.

Subjekt und Revolution Während der dritte Teil soziale (Aus-)Tauschprozesse im Allgemeinen behandelt, pointieren die Beiträge des vierten und letzten Teils zwei zentrale Begriffe der Sozialphilosophie und politischen Theorie Rousseaus – den des Subjekts und den der Revolution. Dass diese einander weitaus weniger entgegengesetzt sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag, zeigt sich schon daran, dass Rousseau von den Revolutionen der Seele beziehungsweise des Gefühls spricht,24 und diesen Ausdruck auch verwendet, um biographische Umwälzungen im Leben von Einzelnen (speziell seinem eigenen) zu beschreiben. Zudem verweisen Subjekt und Revolution gerade in ihrer wechselseitigen Bezogenheit auf die Grundlagen sozialer Transformation und Veränderung.25 Schließlich denkt Rousseau grundsätzlich vom emotiven Subjekt her, das bei ihm mit einer inneren Dynamik verbunden ist.26 Der Bogen, der beim Thema sozi-

24 So u. a. im 18. Brief des III. Teils der Nouvelle Héloïse. 25  Für eine Theorie der Subjektivität, die den Begriff der Revolte bzw. der Revolution sprachtheore­ tisch und psychoanalytisch fruchtbar macht, siehe Julia Kristeva: La révolution du langage poétique, Paris 1985, sowie dies.: Sens et non-sens de la révolte, Paris 1996, und dies.: La révolte intime, Paris 1997. 26 Schon Ernst Cassirer hielt fest: „Was das Gefühl zu dieser Leistung befähigt, ist das dynamische Moment, das es in sich schließt und das nach Rousseau seinen wesentlichen Charakter ausmacht. Der



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aler und institutioneller Wandel zu schlagen ist, reicht also weit, nämlich vom cœur sensible bis hin zur Revolution. Die Vielfalt der damit verbundenen Fragestellungen thematisieren die Beiträge des Philosophen Frederick Neuhouser, der Literaturwissenschaftlerin Konstanze Baron, des Rousseau-Forschers Bruno Bernardi und des Politologen Harald Bluhm. Der Artikel des Philosophen Frederick Neuhouser, ursprünglich in der Zeitschrift Inquiry erschienen, liegt hier erstmals in deutscher Übersetzung vor.27 Wir haben diesen Text in unseren Band aufgenommen, weil er das Prinzip der Autonomie als normative Grundlage jeglichen institutionellen Denkens bei Rousseau sichtbar macht. Neuhouser argumentiert, dass Autonomie als Unterwerfung unter ein selbstgegebenes Gesetz den Individuen mehr abverlange als die Ausübung negativer Freiheit. Zur Begründung rekurriert er auf Rousseaus Analyse der faktisch existierenden Herrschaftsverhältnisse, die Rousseau im zweiten Discours als Folge der Arbeitsteilung und der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander interpretiere. Demokratische Selbstgesetzgebung stelle bei Rousseau eine Antwort auf die Frage dar, wie interdependente, das heißt aufeinander angewiesene Menschen gleichwohl frei sein können; sie setze daher nicht nur Gesetze voraus, die Freiräume garantieren, sondern auch soziale und politische Institutionen, die Bedingungen schaffen, unter denen Herrschaft (domination) von Menschen über Menschen nicht mehr möglich ist. Damit schließt Neuhouser einerseits an Matthias Kaufmann an, der Rousseau ebenfalls als einen Denker liest, dem an institutionellen Garantien gegen individuelle Unfreiheit gelegen ist; andererseits hebt er jedoch stärker die Bedeutung hervor, die den Sitten, Gefühlen und allgemein: der menschlichen Psyche als denjenigen Faktoren zukommt, die der Politik einerseits vorausliegen und sie andererseits begründen. Neuhouser liest Rousseau als Sozialphilosophen und zieht dabei auch die Wirkung mit in Betracht, die seine Ausführungen zum Problem der Autonomie in den Werken von Kant und Hegel erfahren haben. Damit rückt, wie in späteren Arbeiten28 des

Rückgang auf die Dynamik des Gefühls erschließt eine Tiefenschicht des Ich, innerhalb deren die sensualistische Psychologie, die sich an der Oberfläche der bloßen ‚Empfindungen‘ hält, versagt.“ Ernst Cassirer: „Das Problem Jean Jacques Rousseau“, in ders./J. Starobinski/R. Darnton: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, 7–78, hier 66 (Hervorh. i. Orig., Konstanze Baron/Harald Bluhm). 27 Vgl. Frederick Neuhouser: „Jean-Jacques Rousseau and the Origins of Autonomy“, in Inquiry 54/5 (2011), 478–493. 28 Vgl. Frederick Neuhouser: Rousseau’s Theodicy of Self-Love. Evil, Rationality, and the Drive for Recognition, Oxford 2008 (dt.: Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rousseau, Frankfurt/Main 2012); ders.: Rousseau’s Critique of Inequality. Reconstructing the Second Discourse, Cambridge 2014. Neuhouser folgt der Lesart Nicholas Dents, der Rousseau als Sozialphilosophen deutet, dessen Fundament in der Psychologie und einem recht verstandenen amour propre liege: „It is only when amour propre becomes disordered (‚inflamed‘) that Rousseau is critical of it as a harmful personal characteristic.“ Vgl. Nicholas J. H. Dent: Rousseau. An Introduction to his Psychological, So­ cial and Political Theory, Oxford 1988, 4.

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Autors noch deutlicher wird, neben den im engeren Sinne politischen Fragen das Problem sozialer Pathologien stärker ins Zentrum. Die wechselseitige Interdependenz von Subjekt und Politik ist auch Thema im folgenden Beitrag, in dem Konstanze Baron sich mit Rousseaus autobiographischen Schriften befasst. Einerseits, so Baron, instrumentalisiere Rousseau seine eigene subjektive Leidensgeschichte, um konkrete politische Forderungen zu stellen (zum Beispiel die nach einer Reform des zeitgenössischen Justizwesens); andererseits gelte aber auch, dass die juridische Form des Tribunals Rousseaus Selbstverhältnis gleichsam von innen heraus strukturiere. Baron begreift die autobiographischen Schriften als einen ‚Prozess‘, in dessen Verlauf ein dynamisches Moment der Entwicklung freigesetzt werde. So zeichnet sie nach, wie der Sprechakt der Confessions, der noch ganz auf eine quasi-natürliche Transparenz des Charakters setzt, scheitert, wie Rousseau sodann in den Dialogues auf dieses Scheitern reagiert, indem er sich selbst zum „Richter in eigener Sache“ ausruft, bevor er in den Rêveries du promeneur solitaire schließlich zu sich selbst findet, indem er erstmals auf eine Beurteilung seiner Person durch Dritte verzichtet. Theoretisch unterfüttert werde dies durch eine aufgeklärte Charakterologie, welche die Erkenntnis des Charakters – als eines zu dechiffrierenden Zeichens – an dessen Anerkennung durch andere koppelt. Baron zufolge ist es dabei gerade das Streben nach Übereinstimmung mit sich selbst und seinem Leser, das Rousseau dazu zwingt, sich selbst als einem Anderen gegenüberzutreten. Die Beiträge von Baron und Neuhouser verbindet somit die Einsicht, dass Autonomie als Selbstverhältnis immer schon eine gewisse Dezentrierung des Subjekts voraussetzt und somit in einem potenziellen Spannungsverhältnis zu dessen – unterstellter oder zugeschriebener – moralischer Souveränität steht. Bruno Bernardi, der vielfach engagierte und bekannte Rousseauforscher, Editor und Ausstellungsdirektor, hat für unseren Band seinen Aufsatz über den Begriff der Revolution bei Rousseau29 erweitert und aktualisiert. Er ist bestrebt, den ebenso ex­tremen wie gegensätzlichen Deutungen zu entkommen, die Rousseau entweder zum Propheten der Französischen Revolution machen oder ihn primär als Revolutionskritiker begreifen. Seine genaue Analyse des Gebrauchs, den Rousseau in seinen Texten vom Begriff der ‚Revolution‘ macht, zielt darauf ab, dessen schillernde Bedeutungsvielfalt auf eine historisch-politische und eine sozial-normative Verwendungsweise einzugrenzen. Rousseaus Prophezeiung einer andauernden Krise der europäischen Staaten im Émile interpretiert Bernardi als Vorhersage einer Reihe von gesellschaftlichen Unruhen, denen Rousseau eine normative Vorstellung von Revolution entgegensetze, die von ihm als Ausnahme und Konstituierung einer legitimen

29 „‚Nous approchons de l’état de crise et du siècle des révolutions‘: sur la problématique du chan­ gement chez Rousseau“, in Les Cahiers du GERHICO 12 (2008): Crise et conflit dans la pensée de J.-J. Rousseau, sous la dir. de Jean-Claude Bourdin, 39–59.



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politischen Gesellschaft definiert werde.30 Werkgeschichtlich argumentiert Bernardi, dass Rousseau im ersten Discours den Begriff der Revolution noch teste und dreimal in verschiedener Bedeutung verwende. Erst im zweiten Discours erhalte das Konzept eine herausgehobene Bedeutung, wobei der Zyklusgedanke bei der Instituierung der bürgerlichen Gesellschaft zugunsten einer neuen Konzeption von Geschichte in den Hintergrund trete. Insgesamt rücke nun – und zwar sowohl in den Verfassungsschriften zu Korsika und Polen als auch in der Auseinandersetzung mit den Schriften des Abbé de Saint-Pierre – die Frage nach der richtigen Diagnose für Rousseau in den Vordergrund: Was dürfen wir erwarten – eine komplette Regeneration des politischen Körpers oder nur eine wiederkehrende oberflächliche Wandlung? Dass Rousseau vor diesem Hintergrund Kausalität und Kontingenz ebenso zusammen denkt, wie er die Möglichkeit einer wahrhaften Revolution als qualitativen Wandel der Institutionen des politischen Körpers prüft, sind die zentralen Thesen, auf die Bernardis Aufsatz zusteuert. Am Beginn der wirkungsgeschichtlichen Kritik an Rousseau stand der an der politischen Praxis orientierte Philosoph Edmund Burke, dessen politisches Denken Harald Bluhm in seinem Aufsatz mit dem Rousseaus vergleicht. Zu den Gemeinsamkeiten der beiden in vielfacher Hinsicht so unterschiedlichen Theoretiker gehört nach Bluhm, dass beide den Sitten enorme Relevanz zuschreiben, sich als Kritiker eines einseitigen Rationalismus’ verstehen und eher auf Erfahrung und Klugheit setzen als auf abstrakte Vernunft. Erst nach den Reflections on the French Revolution von 1790, so Bluhm, werde Rousseau zum alleinigen Zentrum von Burkes publizistischen Angriffen, nachdem er zuvor noch in einer Reihe mit anderen, von Burke als gefährliche Atheisten eingestuften Denkern wie Voltaire, d’Holbach und Helvétius gestanden habe. Ausschlaggebend gewesen für diese Entscheidung sei dabei vor allem die frühe Ikonisierung und Inanspruchnahme Rousseaus durch die französischen Revolutionäre. Gezielt attackiere Burke seinen Widersacher, in dem er einen erfolgreichen Publizisten und Meister der Selbstinszenierung sieht, der stets auf das Erstaunliche abstellt, nicht aufgrund seiner politischen Schriften, sondern als Moralisten, als ‚insane Socrates‘, der alle Regeln politischer Klugheit verletze und deshalb aufrührerisch wirke.31 Burke, der gerne als Prophet in Bezug auf die Konsequenzen der Französischen Revolution gehandelt wird, greife dabei auf Erfahrungen zurück,

30 Bernardi spart explizit die psychologisch-biographischen Verwendungen von Revolution als wei­ teres Feld aus. 31 Weiß man seit Iring Fetschers Studie (Rousseaus politische Philosophie, Frankfurt/Main 1993), dass zwei Linien der politischen Rousseau-Rezeption in Frankreich zu unterscheiden sind, nämlich die der Sansculotten und die der Jakobiner, so sei zudem daran erinnert, dass es schon vor 1789 einen fast zehn Jahre währenden Kult um den Literaten und Moralisten Rousseau gab. Allein in Frankreich kamen zwischen 1761 und 1789 insgesamt 70 Ausgaben der Nouvelle Héloïse und 26 Ausgaben des Émile heraus, aber nicht eine einzige Neuauflage des Contrat social. Vgl. Graeme Garrard: Rousseau’s Counter-Enligthenment. A Republican Critique of the ,Philosophes‘, New York 2003, 35.

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die er im Zusammenhang mit gewalttätigen riots und Konflikten in der außerparlamentarischen Öffentlichkeit im England der 1770er- und 1780er-Jahre gesammelt habe. Wie Bluhm, gestützt auf Ergebnisse der jüngeren angelsächsischen Burke-Forschung, argumentiert, habe Burke erst in diesem Kontext seine Vorstellungen von gradualistischem institutionellen Wandel, den soziomoralischen Voraussetzungen von Institutionen und der durch die Dauer der Geltung geadelten ‚prescriptive constitution‘ erarbeitet. Mit Burke und Rousseau stünden sich demnach zwei politische Denker gegenüber, die ungeachtet aller Unterschiede doch zumindest darin übereinstimmten, dass sie beide die vielfältigen und prekären Voraussetzungen institutioneller Regeln und Ordnungen thematisieren. Gemeinsam sei ihnen auch, dass sie den symbolischen Repräsentationen politischer Ordnungen große Bedeutung zuschreiben, wobei Rousseau allerdings vor allem auf republikanische Herrschaftskritik setze, während Burke dagegen primär die Absicht verfolge, die bestehende britische Ordnung mit ihren ständischen Relikten als Hort der Stabilität und Ausdruck gebundener Freiheit zu verteidigen. Die Vielzahl der Einsichten, aber auch der markierten Lücken lässt uns hoffen, dass der vorliegende Band einen Beitrag zur Ausweitung und Substantiierung der Debatten um das Wirken Jean-Jacques Rousseaus leisten kann. Leitend war für uns die Absicht, die Institutionen als wichtiges und durchgängiges Thema bei Rousseau im weiten Zusammenhang von Institutionenlehre, Institutionenkritik und Subjektauffassung auf den Feldern von Gesellschaft, Politik, Geschichte, Sprache und Literatur zu diskutieren und die Frage nach ihrer Bedeutung auf die wissenschaftliche Agenda zu setzen. Zu diesem Zweck haben wir versucht, Angehörige verschiedener Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen, um so das Werk selbst ebenso wie exemplarische Stränge seiner Wirkungsgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Inwieweit das gelungen ist, können nur die Leserinnen und Leser beurteilen – uns scheint dieser Weg vielversprechend und ausbaufähig.

I Staat und Politik

Matthias Kaufmann

Volonté générale als institutionelle Garantie Ähnlich bunt, wechselhaft und turbulent wie Rousseaus Leben verläuft seit jeher die Rezeption seiner Werke. Dies gilt insbesondere dann, wenn politische Ideologien unterschiedlichster Art ins Spiel kommen. Nicht nur, weil zu seinen Bewunderern so grundverschiedene DenkerInnen wie Kant, Marx, Carl Schmitt und Carole Pateman gehören, sondern auch, weil die Interpretationen und Adaptionen seines Werkes vom ‚linken‘ bis zum ‚rechten‘ Rand des politischen Spektrums reichen. Radikal egalitäre, als totalitär verfemte Formen des Republikanismus gehören ebenso dazu wie Verteidigungen menschlicher Freiheit im Allgemeinen, faschistische Verkündungen der Akklamation als wahrer Form der Demokratie ebenso wie „Plädoyer[s] für eine offene und plurale Demokratie“.1 Es erscheint deshalb immer wieder zweifelhaft, ob sich bei Rousseau überhaupt eine halbwegs klar identifizierbare politische Philosophie vorfinden lässt.2 Die enorme Bandbreite an Interpretationen könnte verwundern, wenn man bedenkt, dass die meisten Formen des politischen Rousseauismus3 auf unterschiedliche Kombinationen und Lesarten von vier Elementen zurückgehen: (1) Ein Lob ursprünglicher, unmittelbar gelebter Tugend, zu der auch die Liebe zum Vaterland gehört und die möglichst von einer religion civile mitgetragen wird. (2) Die These, dass bloß formale Rechtsgleichheit letztlich einen Betrug der Reichen gegenüber den Armen perpetuiert. Für eine wahre politische Gemeinschaft ist materiale beziehungsweise substanzielle Gleichheit erforderlich. (3) In einer echten politischen Gemeinschaft geht das Individuum im corps politique auf, ohne etwas von seiner Freiheit einzubüßen. (4) Legitime Entscheidungen der politischen Gemeinschaft gehen auf den Gemeinwillen zurück, der etwas andres ist als eine bloße Addition der Einzelwillen. Doch zeigt die Vielfalt der aus diesen Ingredienzien – oder auch nur einigen davon – erzeugbaren Theorien weit mehr als eine mögliche begriffliche Unschärfe in Rousseaus politischer Theorie: Dass die Verschiebung von Bedeutungsnuancen der zentralen Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft innerhalb des von Rousseau errichteten Gefüges zu Theorien mit entgegengesetzten politischen Pro-

1 Magdalena Scherl: „K. Inston, Rousseau and Radical Democracy“, in Francia-Recensio 1 (2012), http://www.perspectivia.net/content/publikationen/francia/francia-recensio/2012-1/FN/inston_ scherl (5.12.2014). Die Rezension bezieht sich auf: Kevin Inston: Rousseau and Radical Democracy, London u. a. 2010. 2 Auf seine lange andauernden Schwierigkeiten, bei Rousseau eine klare politische Theorie zu fin­ den, verweist etwa Joshua Cohen: Rousseau. A Free Community of Equals, Oxford 2010, 1. 3 Vgl. Matthias Kaufmann: „Politischer Rousseauismus. Einige Kapitel aus der Wirkungsgeschichte des Contrat social“, in Wolfgang Kersting (Hg.): Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden 2003, 177–200.

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grammen führt,4 deutet auf eine verbleibende Unsicherheit und einen kontinuierlichen Klärungsbedarf im Netzwerk unserer politischen Terminologie hin. Ein weiteres markantes Beispiel ist die geradezu verbissen geführte Diskussion um die Frage, ob Rousseau nun als Demokrat im heutigen Sinne zu verstehen sei,5 bei der nicht nur zu sehen ist, wie die Ansichten über Rousseau auseinander gehen, sondern auch, dass die Auffassungen vom Wesen der modernen Demokratie merklich divergieren. Es gehört in diesem Kontext gerade zu den bis heute aktuellen Verdiensten Rousseaus, unter anderem im 2. Kapitel seines ersten Entwurfs zum Contrat social, dem sogenannten Genfer Manuskript, darauf hingewiesen zu haben, dass wir kein angeborenes, in allen Menschen gleiches Normensystem in uns vorfinden, nach Maßgabe dessen wir die Gesellschaft des gesamten Menschengeschlechts formen könnten.6 Selbst wenn wir erkennen sollten, was nach allgemeinen Regeln gerecht ist, hätten wir im Naturzustand – der deutlich hobbesianische Züge trägt, sofern er nicht mehr aus den ursprünglichen hommes sauvages, sondern aus Menschen besteht, denen „die süße Stimme der Natur kein unfehlbarer Führer mehr ist und die von ihr erlangte Unabhängigkeit kein wünschenswerter Zustand“ („la douce voix de la nature n’est plus […] un guide infaillible, ni l’indépendance […] d’elle un état desirable“)7 – doch kein Interesse, uns daran zu halten. Weil also die zerstörerischen Elemente unsere Selbsterhaltungskräfte überstiegen, „würde die Menschheit zugrunde gehen, wenn Kunst nicht der Natur zu Hilfe käme“ („le genre humain periroit si l’art ne venoit au secours de la nature“).8 Dies heißt aber, dass wir unsere Institutionen, mit denen wir die menschliche Freiheit und unser Überleben in gerechter Weise zu sichern versuchen, selbst zu schaffen haben. Unter dieser Prämisse lösen sich einige der innerhalb Rousseaus Begrifflichkeit existierenden Spannungen ein Stück weit auf. Dies wird anhand seines Umgangs mit der volonté générale näher zu erläutern sein, gilt doch der Gemeinwille in der von Rousseau gewählten Fassung einigen seiner Kritiker geradezu als Paradigma totalitärer Demokratie. Schließlich ist es nicht mehr der Wille des Menschengeschlechtes

4 Über die grundlegenden Differenzen zwischen Schmitt und Habermas, denen – vermutlich auf­ grund der Verwendung rousseauistischer Begrifflichkeiten – theoretische Nähe unterstellt wurde, vgl. M. Kaufmann: „Politischer Rousseauismus“, 189–195. 5 Vgl. unter den jüngeren Publikationen außer J. Cohen: Rousseau, 174–176 und K. Inston: Radical Democracy auch Marcus Llanque: „Der Begriff des Volkes bei Rousseau zwischen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit“, in Oliver Hidalgo (Hg.): Der lange Schatten des Contrat social. Demokratie und Volkssouveränität bei Rousseau, Wiesbaden 2013, 31–52. 6 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Du Contract social, ou Essai sur la forme de la république (Première version)“, in ders. Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964. 279–346, hier 281–289. Alle Nachweise für Originalzitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf die Bände dieser Ausgabe, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 7 OC III, 283 (dt. v. Matthias Kaufmann). 8 OC III, 289 (dt. v. Matthias Kaufmann).



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insgesamt, wie in Diderots Encyclopédie-Artikel zum Droit naturel,9 vielmehr ist es der Wille einer Gemeinschaft, in der das Individuum völlig aufgehen soll. Der gemeinschaftliche Wille gilt Rousseau zudem als der wahre Wille des Individuums und kann sich, sofern dieses die Gesetze übertritt, auch gegen dasselbe wenden. Eine Untersuchung der Art und Weise, wie Rousseau diese Willensbildung institutionalisiert, zeigt jedoch, dass er dem Souverän, also dem corps politique, zwar keine Schranken von außen auferlegen will, jedoch im Gegenzug interne Garantien schafft, die sich wie ‚vorstaatliche‘ Freiheitsrechte auswirken.

1 Der Gemeinwille als angebliche Bedrohung individueller Freiheit Im 2. Kapitel des II. Buches seines Contrat social mit der Überschrift „Daß die Souveränität unteilbar ist“ („Que la souveraineté est indivisible“) lehnt Rousseau die von ihm auch, aber nicht nur im Sinne einer Trennung von Legislative und Exekutive verstandene Gewaltenteilung mit der Begründung ab, der Wille sei entweder allgemein oder gar nicht.10 Versuche zur Aufteilung des Willens vergleicht er mit den Tricks japanischer Gaukler, die ein Kind zerstückeln, in die Luft werfen und dann als Ganzes wieder auffangen würden.11 Im vorangehenden Kapitel hält er fest, dieser gemeinsame Wille, also die Souveränität, sei „unveräußerlich“ („inaliénable“) und könne nicht übertragen werden.12 Im 6. Kapitel des I. Buches betont er, „jedes Mitglied“ („chaque associé“)13 der Gesellschaft gehe mit allen seinen Rechten vollständig in derselben auf und habe von ihr nichts mehr zu fordern. Im 7. Kapitel des I. Buches heißt es ferner, dass der öffentliche Beschluss „dem Souverän keine Verpflichtung gegenüber sich selbst auferlegen kann, und daß es folglich der Natur des politischen Körpers widerspricht, daß sich der Souverän ein Gesetz auferlegt, welches er nicht

9 „Mais si nous ôtons à l’individu le droit de décider de la nature du juste et de l’injuste, où porteronsnous cette grande question? Où? Devant le genre humain: c’est à lui seul qu’il appartient de la décider, parce que le bien de tous est la seule passion qu’il ait. Les volontés particulières sont suspectes; elles peuvent être bonnes ou méchantes, mais la volonté générale est toujours bonne: elle n’a jamais trompé, elle ne trompera jamais.“ Denis Diderot: Art. „Droit naturel“, in Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, tome V, Paris 1755, 115–116. 10 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 267–391, hier 289 (OC III, 369). 11 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 289 (OC III, 369–370). 12 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 288–289 (OC III, 368–369). 13 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 280 (OC III, 360).

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brechen kann“ („ne peut […] obliger le Souverain envers lui-même, et que, par conséquent, il est contre la nature du corps politique que le Souverain s’impose un loi qu’il ne puisse enfreindre“).14 Fügt man noch hinzu, dass es im Kontext der Mehrheitsentscheidung heißt, man werde nicht gefragt, was der eigene Wille, sondern was man glaube, dass der Gemeinwille sei, und habe sich einfach geirrt, falls man überstimmt werde,15 so hat man schon fast die Gründe beisammen, aus denen Rousseau immer wieder als Gegner des liberalen Rechtsstaates angesehen wird. Schließlich basiert dieser Rechtsstaat, so das Argument, auf Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie; seine Befugnisse gegenüber seinen Bürgern sind eingeschränkt, er berücksichtigt den Willen seiner Bürger als Individuen, das heißt er räumt ihnen entsprechende Klagemöglichkeiten ein, wenn sie sich ihrer Rechte beraubt fühlen, was gegenüber einem Souverän, der keinen Verpflichtungen unterliegt, nicht möglich scheint. Alles, was den Rechtsstaat kennzeichne, werde also von Rousseau radikal zurückgewiesen. Mehr noch. Ein weiteres Merkmal, das Rousseau angeblich von den Liberalen trennt, ist der Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit, wobei es ihm nicht nur um formale Rechtsgleichheit geht, wie sie etwa auch Friedrich August von Hayek und andere fordern,16 sondern um eine ungefähre materiale Gleichheit, darum nämlich, dass keiner so arm ist, dass er sich verkaufen muss, und keiner reich genug, um einen anderen kaufen zu können.17 Ohne diese materiale Gleichheit kann es für Rousseau keine Freiheit, keine „free community of equals“, wie es in einer neueren Publikation heißt, geben.18 Damit sind im Wesentlichen die Merkmale aufgelistet, aufgrund deren – sei es in mitunter eigenwilliger Interpretation – Rousseau zum Verkünder der totalitären Demokratie oder auch des als wahre Demokratie ausgerufenen faschistischen Cäsarismus erklärt wurde, manchmal in kritischer Absicht, aber durchaus auch mit lebhafter Zustimmung. Wie ist dies möglich? Ist eine solche Interpretation durch Rousseaus Texte gerechtfertigt? Wenn nicht, kann man bei Rousseau so etwas wie einen institutionellen Schutz der Individuen vor Willkürherrschaft, auch der Willkür der Mehrheit, feststellen? Auf diese Fragen werde ich im Folgenden ausführlicher eingehen. Meine These, und damit zugleich auch meine Antwort auf die letzte Frage, ist, dass Rousseau sich sehr wohl um die Konstruktion von Institutionen bemüht, die

14 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 282 (OC III, 362). 15 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 359–362 (OC III, 439–441). 16 Vgl. Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, 4. Aufl., Tübingen 2005. Für Hayek ist ein „Zustand der Freiheit“ einer, „in dem Zwang auf einige seitens anderer Menschen so weit herabgemindert ist, als dies im Gesellschaftsleben möglich ist“ (ebd., 13). 17 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 311–313 (OC III, 391–393). 18 J. Cohen: Rousseau, 14–15. Vgl. dagegen F. A. v. Hayek: Verfassung der Freiheit, 110: „Gleichheit der allgemeinen Gesetzes- und Verhaltensregeln ist [...] die einzige Art von Gleichheit, die der Freiheit förderlich ist, und die einzige Gleichheit, die wir ohne Zerstörung der Freiheit sichern können.“



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den Einzelnen vor Willkürentscheidungen, sei es der Obrigkeit, sei es der Mehrheit, schützen.

2 Lässt sich Rousseau in konsistenter Weise totalitär interpretieren? Zunächst soll geklärt werden, wie eine totalitäre Rousseau-Deutung überhaupt zustande kommt. Bekanntlich wurde aus der ungefähren materialen Gleichheit bei Carl Schmitt mit einem Handstreich Homogenität, die, wie er sagt, auf einer sub­ stanziellen Gleichheit basiert: „Die volonté générale wie Rousseau sie konstruiert ist in Wahrheit Homogenität.“19 Diese Homogenität sei bei Rousseau so groß, dass „[s] ogar Richter und Partei [...] dasselbe wollen“.20 Die materiale Gleichheit Rousseaus wird von Schmitt als Spezialfall substanzieller Gleichheit behandelt,21 andere Beispiele sind „gemeinsame religiöse Überzeugungen“ oder nationales Bewusstsein,22 genauer: die Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden.23 Die Bemühung um soziale Gleichheit gefährdet laut Schmitt sogar die demokratische Homogenität, weil sie „an die Stelle politischer Begriffe wirtschaftliche Kategorien“ setze.24 Diese – in den genannten Beispielen eher ideelle – Homogenität verbindet sich bei Schmitt mit der Vorstellung einer „Gleichartigkeit“ des Volkes.25 Doch bleibt es nicht notwendig bei dieser Art von Kriterium, und wie diese Homogenität, diese Gleichartigkeit zu erreichen ist, wird von ihm auch nicht verschwiegen: nämlich durch Ausscheidung und Vernichtung des Heterogenen.26 Vorbild ist in den 1920er Jahren die Homogenisierung der Türkei durch Vertreibung der Minderheiten. Wenn das Volk gleichartig ist, kann in der Demokratie Schmittscher Prägung „die Verschiedenheit von Regierenden und Regierten [...] im Vergleich zu anderen Staatsformen in der Sache ungeheuer verstärkt und gesteigert werden, wenn nur die Personen, die regieren und befehlen in der substanziellen Gleichartigkeit des Volkes verbleiben“.27 Liberale Hemmungen der Staatsmacht hält Schmitt für verwerflich, nach „antikem

19 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [1923/1926], 5. Aufl., Berlin 1979, 20. 20 C. Schmitt: Parlamentarismus, 19. 21 Vgl. Carl Schmitt: Verfassungslehre [1928], 5. Aufl., Berlin 1970, 229. 22 C. Schmitt: Verfassungslehre, 230. 23 Vgl. C. Schmitt: Verfassungslehre, 79. 24 Carl Schmitt: Volksentscheid und Volksbegehren. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie, Berlin, Leipzig 1927, 52. 25 C. Schmitt: Verfassungslehre, 234. 26 Vgl. C. Schmitt: Parlamentarismus, 20. 27 C. Schmitt: Verfassungslehre, 236.

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Verständnis absurd und unmoralisch“,28 Freiheitsrechte sind ihm ein Ausdruck bürgerlicher Furcht vor der wahren Demokratie.29 Mit der „Jakobinerlogik“ in Rousseaus Rechtfertigung der Mehrheitsentscheidung könne man genauso gut „die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit rechtfertigen“, solange sie nur „den Willen des Volkes“ zum Ausdruck bringe, was schließlich durch die Gleichartigkeit garantiert sei.30 Diesen Willen des Volkes kann nach Schmitt also jede Gruppierung beziehungsweise jede Minderheit mit „echtem politischen Bewußtsein“ für sich in Anspruch nehmen, sofern sie sich nur durchzusetzen vermag, das heißt sofern sie in der Lage ist, den Willen des Volkes zu bilden und die „willenlose Masse der Abstimmungsmehrheit“ mitzuziehen:31 „Volk kann hier jede Menge sein, die unwidersprochen als Volk auftritt.“32 Schmitt zufolge sollte das Volk in der modernen Demokratie bei der Ausübung seiner wichtigsten politischen Funktion, dem Wahlakt, zudem nicht in privaten Kabinen isoliert werden, sondern öffentlich, als „wirklich versammeltes Volk“ akklamieren. Auch hierfür nimmt er seinen „Kirchenvater der modernen Demokratie“ in Anspruch: „Das, was auch Rousseau als eigentliche Demokratie vorgeschwebt hat, ist die Akklamation.“33 Die Auseinandersetzung mit Rousseau ist ein besonders markantes Beispiel für Schmitts frivolen Umgang mit seinen Gewährsleuten. Schließlich warnt Rousseau, der in der Tat wenig von spitzfindigen und subtilen politischen Debatten hält, weil sein Ziel die Einstimmigkeit aufgrund offenkundiger gemeinsamer Interessen ist – so viel nebenbei zur ‚Jakobinerlogik‘ –, sehr eindringlich vor einer Einmütigkeit, die in Sklaverei und Despotie ausartet, wenn „Furcht und Schmeichelei die Abstimmungen in beifälligen Jubel“ verwandeln („la crainte et la flaterie changent en acclamations les suffrages“) und man nicht mehr beratschlagt, sondern anbetet oder verflucht.34 Auch die Behauptung, für Rousseau müssten Richter und Partei dasselbe wollen, steht in kontradiktorischem Widerspruch zu dessen Entgegensetzung des allgemeinen Willens, der eben auch nur allgemeine Dinge entscheiden kann, zu jeder Entscheidung, in der konkrete Einzelfälle zu behandeln sind, wie dies beim Richter und der vor ihm befindlichen Partei der Fall ist.35 Und selbstverständlich ist es für Rousseau zudem undenkbar, dass ein Einzelner den Gemeinwillen besitzt und seine Entscheidungen deshalb identisch mit denen des Volkes sind, weil er diesem gleichartig ist: Die Interessen eines Einzelnen und die des Volkes werden seiner Meinung nach vielmehr stets grundverschieden sein, denn „sobald es einen Herrn gibt, gibt es keinen

28 C. Schmitt: Verfassungslehre, 158. 29 Vgl. C. Schmitt: Verfassungslehre, 201, 224. 30 C. Schmitt: Parlamentarismus, 35–36. 31 C. Schmitt: Verfassungslehre, 244, 246; ders.: Parlamentarismus, 38. 32 C. Schmitt: Volksentscheid, 50. 33 C. Schmitt: Volksentscheid, 34. 34 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 359 (OC III, 439). 35 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 292–295 (OC III, 372–375).



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Souverän mehr und von da an ist der politische Körper vernichtet“ („à l’instant qu’il y a un maitre il n’y a plus de Souverain, et dès lors le corps politique est détruit“).36 Schmitt blieb nicht der Einzige, der glaubte, Rousseau in dieser Weise lesen zu müssen. Ya’akov Leib Talmon sieht bei Rousseau, allerdings äußerst kritisch, einen der Ursprünge des „politischen Messianismus“ und den Beginn der totalitären Demokratie: „Rousseau demonstriert klar die enge Beziehung zwischen der zum Extrem geführten Volkssouveränität und dem totalitären System.“37 Bereits „in der Grundlage des Prinzips der direkten und unteilbaren Demokratie und in der Erwartung der Einmütigkeit“ sei „die Diktatur als Folgerung enthalten, wie die Geschichte manchen Volksentscheids“ zeige.38 Anders als von Talmon behauptet, ist diese Korrelation nun allerdings keineswegs selbstverständlich, auch nicht unbedingt zutreffend, mindestens aber vereinseitigend. Schließlich wäre es kaum mit den ersten Kapiteln im II. Buch des Contrat social vereinbar, „denjenigen, die behaupten, den wahren und endgültigen Willen der Nation zu kennen und zu repräsentieren, der Partei der Avantgarde, einen Blankoscheck, im Namen des Volkes zu handeln ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Willen des Volkes“ auszuhändigen.39 Talmon jedoch sah in Rousseau einen Vordenker des Konzepts akklamatorischer Demokratie, dessen Theorie in der Praxis unweigerlich zu einem Zustand führen muss, indem die Bürger der Illusion erliegen, „den Volkswillen zu formen“, während sie in Wirklichkeit nur „etwas bestätigen und akzeptieren, was ihnen als alleinige Wahrheit vorgesetzt wird“.40 Schmitt ist indessen in unserem Kontext aus mehreren Gründen der wichtigere Anknüpfungspunkt. Einerseits dient er auch einflussreichen linken Autorinnen und Autoren wie Chantal Mouffe41 und Giorgio Agamben42 als Bezugspunkt, deren Arbeiten wiederum Einfluss auf die Rousseau-Forschung haben.43 Andererseits hat mit Alain de Benoist ein glühender Schmitt-Anhänger und Vertreter der Nouvelle Droite vor einiger Zeit einen Vorschlag für eine neue Rousseau-Lektüre unterbreitet.44 Allerdings belässt es Benoist im Zuge seiner relecture bei Hinweisen auf Aspekte von Rousseaus Theorie, die heutzutage kaum noch als kontrovers gelten können. Dazu

36 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 288–289 (OC III, 369). 37 Jacob L. Talmon: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, ins Dt. übertr. v. Efrath B. Kleinhaus, Köln, Opladen 1961, 42 (engl.: The Origins of Totalitarian Democracy, New York 1960). 38 J. Talmon: Totalitäre Demokratie, 42. 39 J. Talmon: Totalitäre Demokratie, 44. 40 J. Talmon: Totalitäre Demokratie, 42. 41 Vgl. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, a. d. Engl. v. Niels Neumeier, Frankfurt/Main 2007, 133, 139, 151–154. 42 Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, a. d. Ital. v. Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt/Main 2004, 7, 9, 17, 23, 27, 42–46, 59–60, 64–72. 43 So wurde etwa unlängst im expliziten Anschluss an Laclau und Mouffe eine Interpretation Rousseaus als radikaler Demokrat vorgelegt. K. Inston: Radical Democracy, 5–12. 44 Vgl. Alain de Benoist: Relire Rousseau, http://www.alaindebenoist.com/pdf/relire_rousseau.pdf (30.06.2014).

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gehören etwa Rousseaus Aversion gegen die Figur des bourgeois, seine Ablehnung des übergroßen, die Freiheit zerstörenden Reichtums, seine Kritik am Prinzip der Repräsentation, seine Forderung nach der absoluten Unterordnung des citoyen unter den Gemeinwillen und das Gemeinwohl sowie Rousseaus Lob der guten Sitten und des Patriotismus. Aufgrund dieser Beobachtungen sieht er Rousseau im radikalen Gegensatz zum Liberalismus, kritisiert ihn allerdings für sein Festhalten am Individualismus – nicht zuletzt dort, wo es um die Konstruktion der politischen Gemeinschaft geht – weshalb das Werk am Ende in einer Aporie münde, die auch der Gesellschaftsvertrag nicht aufzulösen vermöge. Trotz der bereits angesprochenen Differenzen zwischen den Auffassungen Rousseaus und einigen liberalen Positionen scheint Benoists Behauptung eines radikalen Gegensatzes angesichts von Rousseaus Lob des „weisen Locke“ („sage Locke“)45 und seiner Betonung des Eigentumsrechtes als „in gewisser Hinsicht wichtiger als die Freiheit selbst“ („plus important à certains égards que la liberté même“)46 nur begrenzt berechtigt. Doch kann man Benoist im Gegensatz zu Schmitt allenfalls die Überzeichnung bestimmter Aspekte von Rousseaus Philosophie vorwerfen und ihm ansonsten raten, seiner eigenen Warnung vor einer Vereinfachung der komplexen Position des Genfers mehr Beachtung zu schenken. Generell gibt es wenig Grund, die Rolle der Nouvelle Droite und insbesondere des in diesem Kontext hin und wieder angeführten Heinrich Meier47 für eine ‚rechte‘ Rousseau-Interpretation allzu hoch einzuschätzen. Hier sind eher Autoren der 1920er und 1930er Jahre einschlägig, außer Schmitt noch Vertreter der konservativen Revolution, die mit Rousseau eher indirekt über Ferdinand Tönnies in Berührung kamen, sowie nicht zuletzt Autoren in der Tradition der

45 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 183–318, hier 248 (OC III, 170). 46 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 223–265, hier 249 (OC III, 263). 47 Benoist erwähnt Meiers reich dokumentierte Übersetzung des zweiten Discours, die in Frankreich nicht ihresgleichen habe. Robert Steuckers, belgischer Vertreter der Nouvelle Droite, erwähnt Meier zwar lobend (Robert Steuckers: Cinq questions sur la „Nouvelle Droite“. Entretien accordé à Marc Lüdders, http://robertsteuckers.blogspot.de/2012/05/cinq-questions-sur-la-nouvelle-droite.html [06.07.2014]), hält einen rechten Rousseauismus jedoch für einen Fremdkörper im Kontinuum der französischen Rechten. Die von Peter Kratz (ders.: Siemens zum Beispiel... Kapitalinteressen an der „Neuen Rechten“, http://www.bifff-berlin.de/SiemBu.htm [06.07.2014]) angeführten Belege für die Behauptung, Meier sei „mit seiner anti-egalitaristischen Rousseau-Interpretation [...] einer der größten Coups der ‚neuen Rechten‘ in den 80er Jahren gelungen“, enthalten nicht mehr als die längst bekannten Standardlesarten. Dies ist die erwähnte Vielschichtigkeit Rousseaus, die eine Feministin wie Carol Pateman (The Problem of Political Obligation. A Critique of Liberal Theory, Berkeley/CA 1985) sowohl seine egalitäre Konstruktion der politischen Einheit preisen als auch zugleich festhalten lässt: „Rousseau is one of the most male chauvinist theorists“ (ebd., 157).



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politischen Romantik.48 Edgar Jung, ein später, während des Röhm-Putsches von den Nationalsozialisten ermordeter Schüler des politischen Neo-Romantikers Othmar Spann,49 betonte beispielsweise: „Echte Demokratie, d.h. die Herrschaft der nur metaphysisch zu begreifenden volonté générale ist das höchste staatliche Ideal“,50 hob hierfür jedoch gerade die unverzichtbare Rolle der Volksgemeinschaft hervor. In einem Kapitel mit der Überschrift: „Von der zerfallenen Gesellschaft zur lebendigen Gemeinschaft“ ruft er aus: „Wir vertreten [...] den Gedanken der wahren Volksherrschaft gegenüber der Diktatur des Geldes.“51 Benoists Text wurde hier kurz referiert, weil nach meiner These gerade die von ihm betonte vermeintliche Aporie von Individualismus und Gemeinwohlorientierung bei Rousseau durch eine geschickte Institutionalisierung aufgelöst wird. Die längeren Ausführungen zu Schmitt wiederum waren deshalb erforderlich, weil für die Erläuterung dieser These auf eine theoretische Konstruktion Schmitts zurückgegriffen wird.

3 Der Verteidiger der Freiheit Schmitts Einschätzung von Rousseau als „Kirchenvater“ cäsaristischer Demokratie wurde bereits mehrfach widersprochen. Sie stellt schon deshalb eine merkwürdige Kategorisierung dar, weil Rousseau der erste Autor von Rang ist, für den der Verzicht auf die Freiheit den Verzicht auf das Menschsein bedeutet – übrigens die Modifikation eines statements von Diderot, der in seinem Encyclopédie-Artikel zum Droit naturel den Verzicht auf Wahrheit mit dem Verzicht auf das Menschsein gleich gesetzt hatte.52 Rousseau ist ferner der erste, der jede der bis dahin üblichen Formen legaler und angeblich legitimer Versklavung absolut und kompromisslos zurückweist, der also eine individuelle Freiheit aller Menschen verficht, nachdem Freiheit bis ins 18. Jahrhundert hinein ein Privileg bestimmter Gruppen war und allenfalls um einzelne konkrete Freiheiten, etwa für leibeigene Bauern, gerungen wurde. Bekanntlich leitet Rousseau den Contrat social mit der berühmten Formel ein: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“53 Soll die Behauptung, „der Mensch“ sei frei geboren, bedeuten, alle Menschen seien frei geboren, so hat dies zu Rousseaus Zeit noch eher programmatischen Charakter, als dass es der Realität entsprochen

48 Vgl. dazu etwas ausführlicher M. Kaufmann: „Politischer Rousseauismus“, 177–200. 49 Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltan­ schauungen, Stuttgart 1950, 13. 50 Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, 2. Aufl., Berlin 1930, 225 (Hervorh. durch d. Verf., Matthias Kaufmann). 51 E. Jung: Herrschaft der Minderwertigen, 286–287. 52 Vgl. D. Diderot: Art. „Droit naturel“, 115. 53 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 270. „L’Homme est né libre, et par-tout il est dans les fers“ (OC III, 351).

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hätte. Denn für viele Menschen in den Kolonien unter europäischer Herrschaft galt damals noch immer der römische Grundsatz partus sequitur ventrem, dem zufolge jedes neugeborene Kind einer Sklavin ebenfalls ein Sklave ist. In der ersten Fassung des Contrat social, wo sich der nämliche Satz in leicht variierter Form am Beginn des 3. Kapitels des I. Buches findet,54 wird auch der Anschluss an die zuvor dargelegte Naturzustandsdiskussion und die mögliche Beendigung des Naturzustands durch gewaltsame Unterdrückung als Weg in die Knechtschaft angedeutet. Rousseau macht zwar in beiden Fassungen gleichermaßen deutlich, dass er den Begriff der Freiheit zumindest auch metaphorisch verwendet: „Mancher hält sich für den Herrn der andern und bleibt dennoch mehr Sklave als sie.“55 Doch kehrt er nach diesem suggestiven und für manch künftigen Autor offenbar anregenden Ausflug ins Literarische im schließlich publizierten Text zu den gängigen Rechtfertigungen der Sklaverei zurück: Wenn Aristoteles behauptet, es gebe Sklaven von Natur, so habe er einerseits Recht, verwechsele aber Ursache und Wirkung, weil als Sklaven Geborene gewohnt seien, ihre Fesseln zu akzeptieren.56 Für genealogische Rechtfertigungen von Herrschaft und Knechtschaft wie diejenige Robert Filmers, der die ständischhierarchische Ordnung buchstäblich auf Adam zurückführte, hat Rousseau nur Hohn und Spott übrig;57 das „Recht des Stärkeren“ („droit du plus fort“)58 bedeutet nach seiner Ansicht allenfalls, dass man der Stärke notwendigerweise nachgeben muss, doch beweise die Macht nichts für das Recht. Freiheit und Menschsein sind für den Genfer gleichbedeutend und daher ist in seinen Augen eine rechtmäßige Sklaverei ausgeschlossen. An seinen Argumenten sieht man, wie präsent die aus der Zeit der spanischen Scholastik stammende Debatte um die Rechtfertigung der Sklaverei, vermittelt über Grotius, Pufendorf und andere, nach wie vor ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass immer wieder verschiedene Autoren in jener Zeit gängige Rechtfertigungen der Sklaverei auch auf die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft anwenden. Grotius und Pufendorf59 – übrigens nicht Pufendorfs Übersetzer Barbeyrac, den Rousseau hier anders als im zweiten Teil des zweiten Discours zu Unrecht auf dieselbe Stufe stellt60 – und in modifizierter Form

54 „L’Homme est né libre, et cependant partout il est dans les fers“ (OC III, 289). 55 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 270. „Tel se croit le maître des autres, qui ne laisse pas d’être plus esclave qu’eux“ (OC III, 351). 56 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 271–273 (OC III, 352–354). 57 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 271–273 (OC III, 352–354). 58 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 273 (OC III, 354). 59 Vgl. Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri tres – Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens [1625], neuer dt. Text u. Einl. v. Dr. Walter Schätzel, Tübingen 1950, I 3 § 8, 1–3; Samuel Pufendorf: „De iure naturae et gentium“, in ders.: Gesammelte Werke, Bd. IV/I u. IV/II, hg. v. Frank Böhling, Berlin 1998, VII 3 § 1, VII 6 §§ 5 u. 6. 60 Vgl. Samuel Pufendorf: Le droit de la nature et des gens, ou systeme general des principes les plus importans de la morale, de la jurisprudence, et de la politique, traduit du Latin de feu Mr. Le Baron de



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auch Hobbes61 verweisen auf den angeblich freiwilligen Selbstverkauf als legitime Ursache der Sklaverei. Diesem Argument hält Rousseau entgegen, dass ein Vertrag, durch den sich jemand als Sklave verkauft, einen triftigen Grund liefere, am gesunden Menschenverstand des Betreffenden und daher auch an seiner Vertragsfähigkeit zu zweifeln. Zudem sei niemand berechtigt, auf das Menschsein zu verzichten, das für Rousseau von der Fähigkeit zur freien Entscheidung nicht zu trennen ist. Drittens, und dies ist das wichtigste Argument, würde jeder Mensch, der einen solchen Vertrag dennoch schließen wolle, mit dem Verzicht auf seine Freiheit zugleich die Verantwortung für seine künftigen Handlungen ablehnen, wozu niemand berechtigt sei, solange er ein zurechnungsfähiger Mensch ist.62 Auch im Krieg, selbst im ‚gerechten‘ Krieg, könne man niemanden rechtmäßig zum Sklaven machen, wie ein anderes Argument der Befürworter legitimer Versklavung behauptet, das sich etwa bei Grotius findet,63 weil ein Krieg nun einmal eine Beziehung zwischen Staaten sei, zwischen abstrakten Entitäten also, aber nicht zwischen konkreten Einzelpersonen. Dieser Einwand findet sich in etwas ausführlicher Form bereits bei Charles-Louis de Secondat de Montesquieu, der darüber klagt, dass man aus der falschen Prämisse, ein Staat dürfe einen anderen bei der Eroberung auslöschen, die ebenso falsche Konklusion ziehe, dass der Eroberer den Besiegten töten dürfe. Dem hält Montesquieu entgegen, dass der zerstörte Staat eben eine Vereinigung von Menschen sei und von diesen selbst unterschieden werden müsse. Außerdem gebe es, wenn kein Grund zur Selbstverteidigung mehr vorliege, auch keinerlei Recht, im Krieg zu töten, und damit auch kein Recht, die Gefangenen zu versklaven.64 Rousseau verknappt dieses Argument in der gedruckten Fassung des Contrat social – in einem dem Manuskript der ersten Version beigefügten Fragment findet es sich relativ vollständig wieder65 – und kommt zu dem Schluss, dass „Sklaverei“ („esclavage“) und „Recht“ („droit“) einander begrifflich ausschließen.66 Seine erklärte Absicht im Contrat social ist der Entwurf einer politischen Struktur, worin „jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie

Pufendorf, par Jean Barbeyrac, avec des notes du traducteur, & une préface qui sert de l’introduction à tout l’ouvrage, tome II, Leiden 1759, liv. VII, chap. VIII § 6, note 2, 406. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Robert Derathé: Rousseau et la science politique de son temps, Paris 1995, 195–200. 61 Vgl. Thomas Hobbes: „Vom Bürger“, in ders.: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, eingel. u. hg. v. Günter Gawlick, übers. v. Max Frischeisen-Köhler u. n. d. lat. Orig. berichtigt v. Günter Gawlick, 3. Aufl., Hamburg 1994, 57–327, hier 161–165. 62 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 274–278 (OC III, 355–358). 63 Vgl. dazu auch John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, übers. v. Hans Jörn Hoffmann, hg. u. eingel. v. Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/Main 1998, 309–310. 64 Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers. u. hg. v. Ernst Forsthoff, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 1992, 191–194, 330–332. 65 Vgl. OC III, 345–346. 66 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 278 (OC III, 358; Hervorh. i. Orig., Matthias Kaufmann).

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er war“ („chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant“).67 Es ist diese Tradition der Freiheit als Nicht-Beherrschung (Non-domination),68 der Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“,69 wie es dann bei Kant heißt, die bis in unsere Tage als republikanische Freiheit verteidigt wird. Dem entgegen steht unter anderen die Lesart Isaiah Berlins, der zufolge sich bei Rousseau nur ein Konzept positiver Freiheit findet, das Freiheit einseitig als Möglichkeit zur Partizipation begreift, aber keine Form negativer Freiheit, die dem Individuum Abwehrrechte zum Schutz vor Übergriffen der Mehrheit oder deren selbsternannter Vertreter gewähre. Durch die einseitige Betonung positiver Freiheit werde jedoch zutiefst illiberalen Herrschaftsverhältnissen vorgearbeitet, was spätestens dann offenkundig werde, wenn, wie bei Hegel, die konkreten Einzelnen gar keine Rolle mehr spielten.70 Diese Kritik übersieht meines Erachtens das besondere Konstruktionsprinzip des Gesellschaftsvertrags und des Gemeinwillens, das ich hier im Anschluss darzulegen versuche. Vorab sei jedoch zugestanden, dass sich bei Rousseau nicht wenige Formulierungen finden, die eine antiliberale, antiindividualistische Deutung nahe legen. Es mutet aus heutiger Sicht in der Tat befremdlich an, wenn er sich für eine Spartanerin begeistert, die sich nicht für den Tod ihrer Söhne, sondern allein für den Ausgang der Schlacht interessiert,71 oder dafür, dass über den Gefängnistoren und auf den Ketten der Genueser Galeerensklaven das Wort Libertas stand.72 Auch vielen Interpreten gilt Rousseaus republikanisches Pathos als suspekt, mindestens aber ambivalent. So haben wir es nach Ansicht Maximilian Forschners bei Rousseau mit einem „zweifachen Konzept der volonté générale“ zu tun, während Patrick Riley die Ansicht vertritt, Rousseau selbst habe sein Vorhaben als Quadratur des Kreises angesehen;73 am hilfreichsten erscheint da noch Joshua Cohens Vorschlag, Rousseau als „philosophically liberal, and sociologically communitarian“ zu lesen, und die geforderte Hingabe ans Vaterland primär unter motivationalen Aspekten zu deuten.74 In der Tat bedarf es zur patriotischen Begeisterung, aber auch schon zur

67 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 280 (OC III, 360). 68 Zum Konzept von Freiheit als Non-domination siehe Philip Pettit: Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997, 51–79. 69 Immanuel Kant: „Die Metaphysik der Sitten“ [1797], in ders.: Werke, Akademie-Textausgabe, unveränd. photomechan. Abdr. d. Textes d. v. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1902 beg. Ausg. v. Kants ge­ sammelten Schriften, Bd. VI, Berlin 1968, 203–493, hier 237. 70 Siehe Isaiah Berlin: „Two Concepts of Liberty“, in ders.: Four Essays on Liberty, Oxford 1969, 118– 172, hier 150. 71 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 13. Aufl., Paderborn u. a. 1998, 12–13 (OC IV, 249). 72 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 361 (OC III, 440). 73 Maximilian Forschner: Rousseau, Freiburg, München 1977, 120; Patrick Riley: „Rousseau’s General Will“, in ders. (ed.): The Cambridge Companion to Rousseau, Cambridge 2001, 124–153, hier 124, 131. 74 J. Cohen: Rousseau, 22, 88–90.



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generellen Anerkennung einer politischen Ordnung für gewöhnlich eines Narrativs, das stärkere Motive ins Feld führt als den Umstand, dass man eben ‚zufällig‘ gemeinsam einen Vertrag abgeschlossen habe. „Es wird nie eine gute und feste Verfassung geben als da, wo das Gesetz über die Herzen der Bürger herrscht.“75 Diese Einsicht betont Rousseau gleich zu Beginn seiner Schrift über die Regierung Polens, um kurz darauf zu der Feststellung zu kommen, dass es die Erziehung ist, „welche den Seelen die nationale Kraft geben [...] muß“ („qui doit donner aux ames la force nationale“).76 Natürlich erscheint seine maßlose Begeisterung für spartanische Selbstaufopferung und dergleichen mehr dann immer noch reichlich überzogen. Doch auch wenn dieser besondere Aspekt in Rousseaus Denken nicht zu leugnen ist, so spielt er für seine Konstruktion politischer Entscheidungsfindung doch keine maßgebliche Rolle, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche.

4 Die Institutionalisierung legitimer politischer Entscheidungsfindung Um zu erläutern, was mit dieser These gemeint ist – und was nicht – werde ich auf zwei erst zu späterer Zeit entstandene Begriffspaare zurückgreifen, die sich zwar nicht bei Rousseau, aber unter anderen bei Carl Schmitt finden. Deren erstes, die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué, entstammt dem berühmten Pamphlet Qu’est-ce que le tiers état? des Abbé Sieyès.77 Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Rousseaus Gegenüberstellung von Souverän und Regierung und auch wiederum deren Differenz zu Carl Schmitts Gebrauch des Begriffspaares lassen einige wichtige Eigenschaften in Rousseaus Konstruktion erkennen: Rousseau zufolge löst sich der Souverän auf, stirbt der politische Körper, der Staat als „Werk der Kunst“ („l’ouvrage de l’art“),78 wenn die Verfassung schlecht ist; er wird zur Beute eben der Gewalt, die er verhindern soll, wenn der Souverän als solcher zur ausführenden Gewalt wird.79 In ähnlicher Weise betrachtet Sieyès eine verfassunggebende

75 Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 563–655, hier 567. „Il n’y aura jamais de bonne et solide constitution que celle où la loi régnera sur les cœurs des citoyens“ (OC III, 955). 76 J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung Polens“, 578 (OC III, 966). 77 Vgl. Emmanuel Joseph Sieyès: „Was ist der Dritte Stand?“, in ders.: Politische Schriften 1788–1790, m. Glossar u. krit. Sieyès-Bibliogr., übers. u. hg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 1981, 117–195, hier 166ff. 78 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 344 (OC III, 424). 79 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 352–353 (OC III, 432–433).

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Versammlung als ein pouvoir constitué, weil sie – wie letztlich die ganze Gesetzgebung – in dem vor und unabhängig von jeder Verfassung existierenden Willen der Nation gründe. Als pouvoir constituant hingegen gilt ihm allein die bereits vor jeder Institutionalisierung als existent angenommene Nation, die für ihn wie für Rousseau einer auf „rechtmäßiger, das heißt freiwilliger und freier Vereinbarung“ beruhenden Vereinigung gleichkommt.80 Im Frankreich von 1789 kann man intuitiv auf das Bestehen der Nation verweisen, ohne sich für essentialistische Implikationen hinsichtlich der Nation entscheiden zu müssen, ohne zu behaupten, dass sich der Staat ebenso wenig für seine Existenz rechtfertigen müsse wie ein einzelner Mensch,81 erst recht ohne Schmitts Vorstellung darüber zu teilen, wie der Wille dieser Essenz hergestellt wird: Eine „zahlenmäßige Minderheit“ oder gar nur ein Einzelner könne „den Willen des Volkes haben“, genauer gesagt, diesen Willen „selber erst bilden“; wenn sie einen „echten politischen Willen“ und die Fähigkeit besitze, Freund und Feind zu unterscheiden und es ihr gelinge, die „willenlose Masse der Abstimmungsmehrheit“ mitzuziehen, so könne sie auch unwidersprochen als wirklich versammeltes Volk auftreten.82 Dies entspricht, wie bereits festgehalten, keineswegs der Ansicht Rousseaus, da für ihn jeder – und das heißt wohl: jeder Einzelne – mit abstimmen soll.83 Und das Recht, „bei jedem Akt der Souveränität abzustimmen“ („de voter dans tout acte de souveraineté“), kann „den Staatsbürgern durch nichts genommen werden“ („que rien ne peut ôter aux Citoyens“), ähnlich wie das Recht, „seine Meinung zu sagen, Vorschläge zu machen, uneins zu sein und Dispute zu führen“ („d’opiner, de proposer, de diviser, de discuter“).84 Wortgefechte sind also keine erfreuliche Erscheinung, doch muss das Recht auf sie erhalten bleiben. Kevin Inston betont hier, Rousseau nenne diese Form der Konsensdemokratie ein Ideal, wolle seinerseits jedoch nicht nur eine Theorie für Idealfälle bieten.85 Der Rückgriff auf die von Sieyès getroffene Unterscheidung soll verdeutlichen, dass Rousseau jedem pouvoir constitué gegenüber stets kritisch bleibt, auch wenn dieser sich auf den ersten Blick in Übereinstimmung mit dem Gemeinwillen befindet, misstrauisch, ob nicht doch der Gemeinwille verraten und somit die Regierung zur Despotie werde. Dies stellt auch eine gewisse Schwierigkeit für die Regierung, das heißt die Exekutive dar, die von Rousseau sehr wohl vom Souverän unterschieden wird.86 Somit ist es die erste Aufgabe der Regierung, den Gemeinwillen zu ermitteln, um ihn umsetzen zu können. Denn der Gemeinwille ist zwar immer richtig, doch gilt dies nicht unbedingt für alle Überlegungen und Entscheidungen des Volkes, wenn es

80 E. J. Sieyès: „Was ist der Dritte Stand?“, 168. 81 C. Schmitt: Verfassungslehre, 87. 82 C. Schmitt: Verfassungslehre, 244, 246; ders.: Parlamentarismus, 38; ders.: Volksentscheid, 49–50. 83 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 271–273 (OC III, 352–354). 84 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 358–359 (OC III, 438–439). 85 K. Inston: Radical Democracy, 167–169. 86 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 352–353 (OC III, 432–433).



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in einer konkreten Institutionalisierung als pouvoir constitué agiert und eine volonté de tous generiert. Volonté générale und volonté de tous differieren vor allem dann, wenn die Einzelnen nicht nur ihre eigene Meinung äußern, wodurch sich, wenn ungefähre Gleichheit herrscht und das Volk hinreichend unterrichtet ist, die Differenzen in etwa ausmitteln, sondern sich Gruppen bilden, die dann ihren je eigenen (partikularen) Gemeinwillen vertreten, nicht aber mehr den des Ganzen.87 Dies ist dann die Situation, in der die Möglichkeit zu diskutieren erhalten bleiben muss, was man heute als Pluralismus bezeichnet, um so die Gefahr der Tyrannei zufälliger oder dauerhafter Mehrheiten und des Verrats des Gemeinwillens zu reduzieren.88 Wie aber lassen sich Institutionen schaffen, die diesen Verrat zumindest unwahrscheinlicher machen? Der gewissermaßen übliche ‚liberale‘ Weg bestünde in der staatlichen Garantie individueller Rechte, die ihrerseits in dem Sinne als ‚vorstaatlich‘ verstanden werden, als jedem staatlichen Versuch, sie zu beseitigen a priori die Legitimität abgesprochen wird. Diesen Weg kann Rousseau nicht gehen, wenn das Individuum, wie gezeigt, völlig im corps politique aufgeht. Auch die komplementäre Maßnahme zum Schutz der Einzelnen, nämlich die Annahme einer Rechtsunfähigkeit des Souveräns in bestimmten Punkten, die die Rechte der Individuen betreffen, hatte Rousseau zurückgewiesen.89 Dies macht sein Vorhaben umso schwieriger. Hier verspricht das zweite angekündigte Begriffspaar Abhilfe, welches nach meiner Kenntnis eines der bleibenden rechtswissenschaftlichen Verdienste Carl Schmitts darstellt, nämlich die Unterscheidung von ,vorstaatlichen‘ Menschenrechten und innerstaatlichen institutionellen Garantien. Schmitt hatte zu Beginn der 1930er Jahre, teilweise unter dem Einfluss der Institutionentheorie Maurice Haurious,90 in zwei Aufsätzen mit den Titeln Freiheitsrechte und institutionelle Garantien91 beziehungsweise Wohlerworbene Beamtenrechte und Gehaltskürzungen92 die vorstaatlichen, ,echten‘ Grundrechte, die dem Staat ganz und gar entzogen bleiben,93 unterschieden von Fortbestandsgarantien bestimmter Verwaltungsstrukturen (im weitesten Sinne), die möglicherweise ebenfalls durch die Verfassung geschützt sind. Dazu zählen etwa die kommunale Selbstverwaltung, das Berufsbeamtentum mitsamt seinen „wohlerworbenen Rechten“, das Eigentum (!), aber auch die Sonn-

87 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 291–292 (OC III, 371–372). 88 Siehe K. Inston: Radical Democracy, 167–169. 89 Ähnlich J. Cohen: Rousseau, 82–83. 90 Vgl. Maurice Hauriou: „Die Theorie der Institution und der Gründung“, in Roman Schnur (Hg.): Die Theorie der Institution und der Gründung und zwei andere Aufsätze von Maurice Hauriou, Berlin 1965, 27–66. 91 Carl Schmitt: „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien“, in ders.: Verfassungsrechtliche Auf­ sätze aus den Jahren 1924–1954, Berlin 1973, 140–173. 92 Carl Schmitt: „Wohlerworbene Beamtenrechte und Gehaltskürzungen“, in ders.: Verfassungsrecht­ liche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, Berlin 1973, 174–180. 93 Vgl. C. Schmitt: „Freiheitsrechte“, 173.

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tagsruhe.94 Schmitt verfolgt bei seiner Differenzierung den Zweck, die institutionellen Garantien, die der Staat verändern, aber nicht abschaffen kann, von Freiheitsrechten zu unterscheiden, die seinem Zugriff vollständig entzogen bleiben. Dass er die Annahme solcher Rechte sonst immer wieder als egoistisch brandmarkt, spielt in diesem Kontext insofern keine Rolle, als die institutionellen Garantien ja gerade davon unterschieden werden. Meine analoge Anwendung dieser Unterscheidung besteht also in der These, dass Rousseau zwar auch keine dem Souverän übergeordneten individuellen Rechte akzeptiert, da der Souverän ja alle Gesetze, die er erlassen hat, auch wieder revidieren kann,95 dass er aber den Prozess der Entscheidungsfindung des Souveräns so organisieren will, dass in der Wirkung ähnliche institutionelle Schutzgarantien entstehen. Allerdings wende ich den Begriff der institutionellen Garantie hier in abgewandelter Form an. Schmitt gebraucht ihn, um bestimmte staatliche Leistungen und Privilegien besonders zu kennzeichnen, um sie von ‚normalen‘, also nicht in besonderer Weise schutzbewehrten Ansprüchen einerseits, von Grund- beziehungsweise Menschenrechten andererseits zu unterscheiden. Mir geht es darum, dass Rousseau bestimmte Institutionen so zu konstruieren versucht, dass sie bestimmte Folgen, eben die Sicherung der Rechte der Individuen – nicht gegenüber dem Souverän, unter Umständen aber durchaus gegenüber der Regierung – aus quasi logischen Gründen garantieren müssen. Er legt dem Souverän also keine inhaltlichen Schranken auf, organisiert das Verfahren der Entscheidungsfindung jedoch so, dass für das Individuum aus formalen Gründen effektive Schutzgarantien entstehen müssen. Er bemüht sich zu diesem Zweck um die Formulierung institutioneller Bedingungen, unter denen ein Abstimmungsergebnis den Anspruch erheben kann, den Gemeinwillen zum Ausdruck zu bringen. Sein Weg, die Freiheit in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft zu sichern, besteht also in einer angemessenen Institutionalisierung des Vorgangs der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Die Bedingungen der gemeinsamen Willensbildung müssen so beschaffen sein, dass keines der entscheidenden Gemeinschaftsglieder übervorteilt wird und keines ein anderes übervorteilt. Dies geschieht bei Rousseau dadurch, dass alle entscheiden und alle betroffen sind – und dadurch, dass alle in etwa gleicher Weise betroffen sind. Somit ist es „weniger die Anzahl der Stimmen […] als das gemeinsame Interesse, das sie vereint, was den Willen allgemein macht: denn in dieser Einrichtung unterwirft sich jeder notwendig den Bedingungen, die er den andern auferlegt“ („que ce qui généralise la volonté est moins le nombre des voix, que l’intérêt commun qui les unit: car dans cette institution chacun se soumet nécessairement aux conditions qu’il impose aux autres“).96 Wesentlich ist ferner, dass der Gemeinwille einzig allgemeine

94 Vgl. C. Schmitt: Verfassungslehre, 171; ders.: „Freiheitsrechte“, 154–158. 95 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 344–345 (OC III, 424–425). 96 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 294 (OC III, 374).



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Entscheidungen trifft, wodurch eine „Übereinstimmung von Interesse und Gerechtigkeit“ („accord […] de l’intérêt et de la justice“) entsteht, die bei Privatangelegenheiten nicht möglich ist.97 Daher ist die Rechtsprechung, die Verurteilung von Kriminellen etwa, nicht Sache des Souveräns, sondern ein Recht, „das er verleihen, aber nicht selbst ausüben kann“ („qu’il peut conférer sans pouvoir l’exercer lui-même“).98 Das Gleiche gilt für Erlasse, Verwaltungsakte und andere Vorgänge, die tunlichst auf den Gemeinwillen und seine Gesetze zurückgehen sollen, ohne dessen Status zu besitzen.99 In der römischen Republik war das Volk Obrigkeit und Richter,100 übte diese Funktionen aber durch seine Beamten und Beauftragten aus, die ihm zu gehorchen hatten.101 Wenn Rousseau Souveränität nicht teilen will, bedeutet es also nicht, dass er die staatlichen Gewalten nicht zu differenzieren vermöchte. Die materiale Gleichheit dient in diesem Zusammenhang nicht allein dem sozialen Ausgleich, sondern auch der Sicherung der individuellen Autonomie im Prozess der politischen Entscheidungsfindung. Auch laut Cohen ist sie fundamental für die Konzeption der society of the general will. Nur wenn diese strukturellen Bedingungen erfüllt sind, kann Rousseaus Begründung der Mehrheitsentscheidung akzeptabel sein, dass ich nämlich bei der Abstimmung nicht gefragt werde, was mein Wille sei, sondern was nach meiner Ansicht der allgemeine Wille sei. Werde ich überstimmt, so habe ich mich eben getäuscht.102 Nur dann wird also aus der voluntaristischen, auf die Homogenisierung oder Harmonisierung verschiedener Willen gerichteten Frage an die Einzelnen, welche lediglich die volonté de tous hervorbrächte, insbesondere wenn es Klüngelbildung gibt, eine rein kognitive, den gemeinsamen Willen betreffende. Fasst man den Willen in thomistischer Tradition als überlegtes Streben, so zielt Rousseaus Konstruktion darauf ab, die Strebensziele so weit zu homogenisieren, dass sich die Überlegung nur noch auf die bestmögliche Form der Realisierung zu beziehen braucht. Ein wesentliches Ziel der volonté générale ist es demnach, dem Individuum eine möglichst optimale Partizipation an der politischen Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Dieser Aspekt mag in modernen Flächenstaaten eher als Warnung vor allzu eiligen Legitimitätsbehauptungen für Mehrheitsentscheidungen taugen denn als Anleitung für die Organisation von Abstimmungen. Die Bemühung um Gleichheit wird sich nicht in der Weise Kants gestalten können, der nur Selbständige, also ökonomisch Unabhängige als Staatsbürger akzeptieren wollte.103 Wenn man andererseits diktatorische Mittel wie Enteignungen vermeiden will, wird sie sich stattdessen auf

97 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 294. 98 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 296–297 (OC III, 377). 99 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 297–300 (OC III, 378–380). 100 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 341–344 (OC III, 421–423). 101 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 355–356 (OC III, 434–436). 102 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 359–362 (OC III, 439–441). 103 Vgl. I. Kant: „Metaphysik der Sitten“, 313–315.

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die möglichst weitgehende Reduktion von Abhängigkeiten richten müssen. Totalitär ist Rousseaus Ansatz indessen ganz sicher nicht.104 Diese Deutung ist eher in der Art ihrer Formulierung als in ihrem Grundgedanken neu. Eine ähnliche Interpretation Rousseaus bietet Carol Pateman, die gerade auf diese Bemühung um optimale Partizipation und die damit verbundene zentrale Rolle der empirischen Lebensbedingungen eingeht, wenn sie festhält, Rousseau gelinge die einzig akzeptable Begründung politischer Verpflichtung.105 Die Bürger sind auf diese Weise nicht dem Staat, sondern einander wechselseitig verpflichtet. Durch die Gleichheit bewahren sie auch ihre politische Unabhängigkeit und jeder entscheidet letztlich über sich selbst.106 Pateman hält an diesem Urteil wohlgemerkt fest, obwohl sie – zumal als dezidiert feministische Autorin – keinen Zweifel an der Unzulänglichkeit, ja Unsinnigkeit der Art und Weise lässt, wie Rousseau als „one of the most male chauvinist theorists“ die Geschlechterhierarchie formuliert und obendrein noch zu begründen beansprucht.107 Eine gewisse Parallele zu diesem Nebeneinander innovativer, hoch reflektierter, den moralischen Prinzipien der Moderne verpflichteter Konstruktion und eher atavistischer Vorstellungen, die obendrein mit enormem rhetorischen Aufwand gefeiert werden, sehe ich generell in Rousseaus Umgang mit dem Schutzbedürfnis des Einzelnen am Werke. Ein Punkt bleibt noch hinzuzufügen: Es wäre voreilig, Rousseaus Konzeption einer politischen Entscheidungsfindung durch die konkreten Mitglieder einer bestimmten, kontingenten Gemeinschaft gegen eine Verpflichtung gegenüber den Nicht-Dazu­ gehörigen ausspielen zu wollen. Dies geschieht in Schmitts oben angesprochener polemischer Konfrontation von „demokratischer Homogenität“ und „nichtssagender liberaler Menschengleichheit“, die von Vertretern der Nouvelle Droite aufgegriffen wird. Derartigem schiebt Rousseau selbst in seinem Artikel zur politischen Ökonomie einen Riegel vor: „Es ist wahr, daß, da die besonderen Gesellschaften immer jenen untergeordnet sind, die sie enthalten, man diesen vor den anderen gehorchen sollte, und daß die Pflichten des Bürgers vor den Pflichten des Senators gehen und die des Menschen vor denen des Bürgers“.108 Wenn Rousseau sich im eingangs angesproche­ nen zweiten Kapitel der ersten Fassung des Contrat social von Diderots Konzeption einer das ganze Menschengeschlecht umfassenden volonté générale distanziert, so bringt er seine Bedenken gegen eine angeblich in allen Menschen naturwüchsig vor­ handene, alle Menschen umfassende Gesinnung zum Ausdruck, die dem Menschen

104 So auch K. Inston: Radical Democracy, 139–143. 105 Siehe C. Pateman: The Problem of Political Obligation, 149ff. 106 Vgl. C. Pateman: The Problem of Political Obligation, 155. 107 Vgl. C. Pateman: The Problem of Political Obligation, 159–165. 108 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 232. „Il est vrai que les sociétés par­ ticulieres étant toûjours subordonnées à celles qui les contiennent, on doit obéir à celle-ci préférable­ ment aux autres, que les devoirs du citoyen vont avant ceux du sénateur, et ceux de l’homme avant ceux du citoyen“ (OC III, 246).



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sagt, wie er sich als Mensch, als Bürger, als Vater, als Kind zu verhalten habe und ihn entsprechend leitet. „Wir begreifen die allgemeine Gesellschaft gemäß unseren par­ tikulären Gesellschaften, die Einrichtung der kleinen Republiken lässt uns von der großen träumen, und so wir werden erst beginnen, im eigentlichen Sinne Menschen zu werden, nachdem wir zuvor Bürger geworden sind.“109 Gewiss glaubte man lange Zeit, Fremde bestehlen, plündern oder versklaven zu dürfen und die Wörter ‚Fremder‘ und ‚Feind‘ wurden als synonym behandelt. Dies bedeutet aber nicht, dass Rousseau dies gut heißt, sondern nur, dass er dem rechtlichen Naturzustand, in dem man sich nur auf die alle Menschen leitende volonté générale Diderots verlässt, wenig Ver­ trauen entgegenbringt. Dies ist der Grund, warum er von da an zeigt, wie eine rechtli­ che Vereinigung von Menschen entstehen kann, die ihnen die Sicherheit gewährt und zugleich die Freiheit bewahrt.

109 „Nous concevons la societé générale d’après nos sociétés particuliéres, l’établissement des pe­ tites Republiques nous fait songer à la grande, et nous ne commençons proprement à devenir hommes qu’après avoir été Citoyens“ (OC III, 287, dt. v. Matthias Kaufmann).

Marcus Llanque

Rousseaus Volk: Von der Institution zur Konstitution Im 7. Kapitel des 2. Buches des Contrat Social bringt Rousseau seine These zur institutionellen Formung der Bevölkerung zu einem handlungsfähigen Volk mit den Worten „instituer un peuple“ zum Ausdruck: „Celui qui ose entreprendre d’instituer un peuple doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine“.1 Das Original zu zitieren ist sinnvoll, da die Übersetzungen deutlich variieren. Im Deutschen finden wir die Aussage „instituer un peuple“ meist übersetzt mit „einem Volk eine […] Verfassung geben“.2 In der englischen Übertragung der Ausgabe der Everyman’s Library ist dagegen von „the making of a people’s institutions“ die Rede.3 In der Ausgabe der Reihe Oxford Classics übersetzt Betts die betreffende Passage dagegen mit „the establishment of a people“.4 Die Sentenz begegnet an späterer Stelle5 noch einmal im 10. Kapitel des II. Buches und wird in den genannten Ausgaben wahlweise übersetzt mit „Neuordnung eines Volkes“6 (Koch), oder „Gründung eines Volkes“7 (Schmidts) beziehungsweise mit „constituting a people“8 (Betts) oder schlicht mit „conditions of law-giving“9 (Cole). Auch in den Considérations sur le gouvernement de Pologne ist von „instituer un peuple“ die Rede,10 was in den deutschen Übersetzungen das eine Mal

1 OC III, 381. Alle Originalzitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus Jean-Jacques Rous­­ seau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 2 Jean-Jacques Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“, in ders.: Po­ litische Schriften, Bd. 1, Übers. u. Einf. v. Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, 59–208, hier 100, und ders.: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 267–391, hier 301. 3 Jean-Jacques Rousseau: „The Social Contract“, in ders.: The Social Contract and Discourses, transla­ ted with an introduction by George Douglas Howard Cole, London, Toronto 1913, 1–123, hier 35. 4 Jean-Jacques Rousseau: „The Social Contract or the Principles of Political Right“, in ders.: Discourse on Political Economy and The Social Contract, translated with a new introduction and notes by Chris­ topher Betts, Oxford 1994, 76. 5 OC III, 390. 6 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 309. 7 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“, 110. 8 J.-J. Rousseau: „The Social Contract or the Principles of Political Right“, 85. 9 J.-J. Rousseau: „The Social Contract“, 44. 10 OC III, 965.

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mit „einem Volk eine staatliche Ordnung […] geben“11 und das andere Mal mit „einem Volk seine politische Ordnung […] geben“12 übersetzt wird. Was also meint „instituer un peuple“? Eine angemessene Übersetzung muss ‚Gründung‘ heißen, wenn man darunter die Institutionalisierung der kollektiven Handlungsfähigkeit einer Personengruppe versteht. Das entspricht durchaus dem modernen Verfassungsdenken, insofern durch den Akt der Gründung eine politische Ordnung errichtet werden soll. Rousseau zielt mit dem Gedanken des „instituer un peuple“ nun zwar in diese Richtung, doch vermag er die Idee der modernen Verfassung noch nicht zu erfassen. Ideengeschichtlich markiert seine Position vielmehr den Übergang von einer institutionellen zu einer konstitutionellen Perspektive auf die Grundlegung einer politischen Ordnung als Akt der Selbstgesetzgebung. Diese eigentümliche Zwischenstellung Rousseaus erklärt auch einige der Unklarheiten, mit denen der Begriff des Volkes bei ihm behaftet ist. Rousseau wollte das Volk als politischen Kollektivakteur einsetzen, der imstande sein sollte, sich selbst Gesetze zu geben. Die Denkbewegung zur Lösung dieses Problems, die vom Volk als Institution zur Verfassung des Volkes führt, hat Rousseau begonnen, aber nicht vollendet.13

1  Die Gründung des Volkes als kollektiv handlungsfähiger Akteur Die Vorstellung, durch den Akt der Verfassungsgebung einen Staat zu gründen, ist uns heute vertraut, die Vorstellung, mit Hilfe der Verfassung ein Volk zu gründen, hingegen nicht. Letzteres lag Rousseaus Überlegungen zum Verhältnis von Verfassung, Volk und Staat zugrunde. Schon ein erster kursorischer Überblick über die Problematik zeigt, dass diese Überlegungen alles andere als widerspruchsfrei waren. Das Volk, dessen Gründung und Formung im Contrat social erörtert wird, besteht aus Bürgern. Hinsichtlich der Semantik des Bürgerbegriffs schließt Rousseau dabei explizit an die Begrifflichkeit der Antike an. Im gleichzeitig erscheinenden Émile hingegen gilt ihm die Wiederbelebung des antiken Bürgerideals als nahezu aus-

11 Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlage­ ne Reform“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 563–655, hier 578. 12 Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Re­ formierung“, in ders.: Kulturkritsche und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 431–530, hier 447. 13 Zur Analyse des Rousseau’schen Volkes als Institution vgl. auch Blair Bachofen: „Why Rousseau Mistrusts Revolutions. Rousseau’s Paradoxical Conservatism“, in Holger Ross Lauritsen/Mikkel Tho­ rup (eds.): Rousseau and Revolution, London 2011, 17–30, hier 23–27.



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sichtslos, weshalb er fordert, die Wörter Vaterland und Bürger müssten „aus den modernen Sprachen ausgemerzt werden“ („être effacés des langues modernes“).14 Dessen ungeachtet geht es ihm im Contrat social um nichts anderes als die Klärung der Voraussetzungen und Bedingungen, die zur Gründung eines Volkes erfüllt sein müssen. In seinen späteren, modern gesprochen: verfassungspolitischen Analysen über Genf, Polen und Korsika verschieben sich die Schwerpunkte abermals, insofern er sich darin ausführlich mit den spezifischen Kontextbedingungen existierender Völker beschäftigt und zahlreiche Vorschläge unterbreitet, wie sie durch ein gezieltes Reformprogramm umzuformen sind in ein Volk seines Sinnes. Auch die Argumentation des Contrat social weist zahlreiche Facetten und Widersprüche auf. So ist von dem anfangs erwähnten einzelnen Bürger im weiteren Verlauf kaum mehr die Rede, sehr wohl aber vom Volk (peuple), das Rousseau wiederum deutlich von anderen Personengruppen wie der Menge (populace), der Masse (multi­ tude) oder dem Pöbel (canaille) unterscheidet. Auch die individuelle sittliche Qualität des Menschen als Bürger spielt keine große Rolle mehr, dieser taucht nurmehr als Teil des Volkes und damit als Angehöriger des politischen Kollektivs auf. Paradox ist auch, mit welchen Mitteln Rousseau die Aufgabe, die er sich in dem Werk vorgenommen hat, zu lösen gedenkt: Das Ziel des Contrat social ist die Verwirklichung der kollektiven Freiheit, aber da die Selbstgesetzgebung als Ausdruck dieser kollektiven Freiheit erst im gesetzlichen Rahmen einer etablierten Republik möglich ist, bleibt es einem singulären Gesetzgeber vorbehalten, die Republik zu gründen.15 Das Volk tritt also zunächst einmal nur als Objekt der institutionellen Formung in Erscheinung, erst später kann es als Kollektivsubjekt seine eigenen Vorstellungen von Verfasstheit formulieren. Rousseau stellt sich schon mit dem Titel des Contrat social in die zu dieser Zeit noch junge Tradition des Kontraktualismus, doch im Gegensatz zu seinen Vorläufern konzipiert er den Vertragsschluss nicht als einmaligen Akt, der im Gesellschaftsvertrag seinen Abschluss findet, sondern als anhaltende, ständiger Erneuerung bedürftige Aktivität. Wiewohl Rousseau die Legitimationsargumentation des Kontraktualismus übernimmt und den Vertrag als einen normativen Maßstab für die Ausübung politischer Herrschaft begreift, so beharrt er doch zugleich auf der Sichtweise, wonach der Vertrag stets als nur zeitlich befristetes Ergebnis einer prinzipiell unabgeschlossenen kollektiven Aktivität der Bürgerschaft anzusehen ist. Demnach ist es dem versammelten Volk der Republik unbenommen, den einmal geschlossenen Vertrag bei einer späteren Zusammenkunft aufzukündigen und sich freiwillig aufzulösen. Obwohl er die Souveränität des Volkes damit keinerlei Einschränkung durch den Vertrag unterwirft,

14 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 13. Aufl., Paderborn 1993, 13 (OC IV, 250). 15 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 297–304 (OC III, 378–384).

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fürchtet Rousseau doch zugleich kaum etwas mehr, als die anarchischen Umtriebe entfesselter und als Masse auftretender Personengruppen. Schließlich finden wir in dem Text auch eine Reihe semantischer Unklarheiten. So lehnt Rousseau einerseits die Demokratie als Regierungsform ausdrücklich ab, spricht aber andererseits von der Republik gelegentlich auch als einer Demokratie. An anderen Stellen verwendet er den Ausdruck constitution,16 womit er aber – entgegen dem Wortlaut vieler moderner Übersetzungen – noch nicht den modernen Begriff der Verfassung meint, sondern eher die Summe der Fundamentalgesetze einer politischen Ordnung. Sein Wortgebrauch entspricht hier in etwa dem von Jean Louis De Lolme, der in seiner berühmten Untersuchung der Fundamentalgesetze Englands gleichfalls von dessen Verfassung sprach.17 Inwieweit lassen sich diese Unklarheiten, die manchmal auch manifeste Widersprüche sind, nun auflösen?

2 Rousseaus Leitfrage Man kann versuchen diese Widersprüche aufzuheben, indem man Rousseau einzelnen Diskursen zuordnet, etwa dem Kontraktualismus, dem demokratischen Diskurs oder dem Republikanismus, um dann mit Hilfe der so gewonnenen Deutungsschemata die Unklarheiten relativieren und zumindest teilweise auch auflösen zu können. Zuvor sollte man jedoch klären, wie überhaupt die zentrale Frage lautet, auf die Rousseaus verzweigtes politisch-theoretisches Werk eine Antwort zu geben versucht. Entgegen einer verbreiteten Auffassung18 bildet Rousseaus politische Theorie keine systematische Einheit. Er hat sein eigenes Anliegen, mit seinen Schriften einen klärenden Beitrag zur Politischen Theorie zu leisten, nicht vollkommen verwirklicht – jedenfalls nicht in seinen eigenen Augen. Nicht trotz, sondern gerade wegen der großen Bedeutung, die dem Contrat social für Rousseaus politisches Denken heute für gewöhnlich zugeschrieben wird, muss man daran erinnern, dass es sich bei dieser Schrift nur um einen Auszug aus dem eigentlich geplanten politischen Hauptwerk handelte, den Institutions politiques, das jedoch von Rousseau nie abgeschlossen, wohl auch inhaltlich nie bewältigt wurde, und dessen Manuskripte er nach eigener Aussage vernichtete.19 Schenken wir Rousseaus nicht immer zuverlässigen Selbstauskünften Glauben, dann hat er an keinem Werk so lange gearbeitet und erhoffte sich von keinem einen ähnlich großen Reputationsgewinn wie von den angefangenen,

16 Vgl. u. a. OC III, 394. 17 Vgl. Jean Louis de Lolme: Constitution d’Angleterre, Amsterdam 1771. 18 Vgl. u. a. Michel Launay: Jean-Jacques Rousseau. Ecrivain politique, Grenoble 1972, 221–223. 19 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, m. e. Einf. v. Werner Krauss, übertr. v. Ernst Hardt, 7. Aufl., Leipzig 1971, 713 (OC II, 516).



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aber nie vollendeten Institutions politiques.20 Vor diesem Hintergrund hat Charles E. Vaughan in seiner Kommentierung der politischen Werke Rousseaus die nötige Relativierung der Bedeutung des Contrat social für die Politische Theorie Rousseaus am klarsten angesprochen.21 Betrachtet man das Werk eines Autors in seinem zeitgenössischen Kontext, aus dem heraus Einzelfragen der Auslegung von Textstellen erfolgen müssen, so besteht die entscheidende methodische Aufgabe in der Rekonstruktion der leitenden Fragestellung, die das Werk strukturiert und das Verhältnis der Texte zueinander bestimmt. Rousseau hat sie selbst bestimmt. Auch wenn man mit autobiographischen Angaben von Autoren im allgemeinen vorsichtig sein muss und im Falle Rousseaus sogar besonders, so erscheint es mir zumindest als diskussionswürdig, die von ihm selbst aufgeworfene Frage ernst zu nehmen, von der er angab, er habe sie sein Leben lang beantworten wollen. In den Confessions lautet die Frage wie folgt: „[W]ie muß die Regierung beschaffen sein, die geeignet ist, das tugendhafteste, erleuchtetste, weiseste, kurz, das im weitesten Sinne des Wortes beste Volk zu bilden?“22

3 Rousseau im kontraktualistischen Diskurs Begreift man den Contrat social als sein Hauptwerk, scheint die Annahme naheliegend, Rousseau im Kontext des kontraktualistischen Diskurses zu interpretieren. Das ist der Forschung zum Kontraktualismus gelegentlich schwer gefallen, da Rousseaus Argumentation im Vergleich zu denen anderer Vertreter der Traditionslinie einige Auffälligkeiten aufweist: So wird ihm vorgeworfen, er argumentiere nicht individualistisch und bewege sich daher außerhalb des kontraktualistischen Diskurses.23 Sicherlich führt von Rousseaus kollektivistischer Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag kein Weg zu Kant und Rawls, wie Wolfgang Kersting richtigerweise meint, aber Rousseau lässt auch die bisherige Tradition hinter sich, wenn er den Gesellschaftsvertrag nicht einfach nur als Legitimationsfigur, als politisch-philosophische Idee zur Modellierung gerechtfertigter Herrschaft konzipiert, sondern darauf beharrt, dass der Vertrag kein einmaliger Akt ist, sondern Gegenstand anhaltender politischer Aktivität. Das klassische kontraktualistische Argument versteht den Vertragsschluss als Zusammenschluss der Individuen zu einem Staat, und betrachtet die Staatsgründung als Voraussetzung für die Verwirklichung der Handlungsfähigkeit des Volkes. Rous-

20 J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 566–567 (OC II, 404–405). 21 Jean-Jacques Rousseau: Political Writings, ed. by Charles Edwyn Vaughan, Oxford 1962, Bd. I, 437–439. 22 J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 567. „Quelle est la nature de Gouvernement propre à former un Peuple le plus vertueux, le plus éclairé, le plus sage, le meilleur enfin à prendre ce mot dans son plus grand sens“ (OC II, 404–405). 23 Vgl. Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994, 178.

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seau will sich aber gerade nicht mit einem Gründungsakt zufrieden geben, nach dessen Abschluss das Staatsvolk einem staatlichen Apparat Untertan ist, dessen Vertreter an Stelle des Volkes diesem fortan die Gesetze geben. Vielmehr strebt er einen Gründungsakt an, der das Volk zum Subjekt der Gesetzgebung erhebt. Das zu gründende Volk fungiert bei ihm also nicht einfach nur als legitimatorischer Bezugspunkt von Akteuren, die sodann ,im Namen des Volkes‘ und ‚für das Volk‘ tätig werden, sondern das Volk soll für sich selbst tätig sein, es soll selbst politische Handlungsfähigkeit erlangen. Rousseau definiert den Gesellschaftsvertrag deshalb als „ursprüngliche[n] Akt“ („l’acte primitif“).24 Das Volk soll tatsächlich vertragschließender Akteur sein. Das Volk als handlungsfähiges Subjekt thematisiert er vermittels der nur scheinbar tautologischen Frage, durch welchen Vorgang ein Volk in der Lage sei, zu einem Volk zu werden. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen dient ihm die von Hugo Grotius vertretene Ansicht, dass ein Volk sich einem König überantworten könne. Hiergegen wendet Rousseau ein, dass ein Volk, um sich einen König wählen zu können, als Volk bereits vorhanden sein müsse. Nur so könne es durch „einen öffentlichen Beschluß“ („une déliberation publique“) überhaupt eine rechtskräftige „bürgerliche Handlung“ („un acte civil“) vornehmen: „Ehe man also die Handlung untersucht, durch die ein Volk einen König wählt, täte man gut daran, die Handlung zu prüfen, durch welche ein Volk zum Volke wird.“25 Ausgehend von diesen Überlegungen thematisiert Rousseau im weiteren Verlauf der Argumentation ein Problem kollektiven Handelns, welches in der heutigen sozialwissenschaftlichen Handlungstheorie durch Mancur Olsen als ‚Trittbrettfahrerproblem‘ bekannt geworden ist. Rousseau stellt die Frage, ob in einer Republik die Möglichkeit besteht, dass ein Mensch die Rechte des Bürgerstatus genießt, ohne die entsprechenden Pflichten zu erfüllen – „eine Ungerechtigkeit, deren Ausbreitung den Untergang des politischen Körpers verursachen würde“ („injustice dont le progrès causeroit la ruine du corps politique“).26 Seine anschließende Aussage, man müsse denjenigen zwingen, der den Gehorsam verweigert, ist also nicht nur eine Konsequenz aus der zuvor geforderten „Überantwortung ohne Vorbehalt“ („l’aliénation […] sans réserve“) als dem Charakteristikum des Gesellschaftsvertrages,27 sondern macht eine Angabe zur Bedingung der Möglichkeit von kollektiver Handlungsfähigkeit überhaupt. Begreift man das kontraktualistische Argument nur als ein gedankliches Experiment, wie ein Staat geordnet sein müsste, damit er die einhellige und vertraglich

24 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 297 (OC III, 378). 25 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 279. „Avant donc que d’examiner l’acte par lequel un peuple élit un roi, il seroit bon d’examiner l’acte par lequel un peuple est un peuple“ (OC III, 359). 26 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 283 (OC III, 363). 27 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 280 (OC III, 361).



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garantierte Zustimmung der Bürger in einem virtuellen Akt des Vertragsschlusses finden könnte, wird der Mensch bereits als Bürger vorausgesetzt und die Frage der gegenseitigen Verbindung der Bürger untereinander entweder ausgeklammert oder implizit vorausgesetzt. Rousseaus Überlegung richtet sich mithin gegen die vereinfachende kontraktualistische Grundannahme, dass es schon vor der staatlichen Gründung so etwas wie Bürger gebe, die unabhängig voneinander zu einer Einigung kommen könnten. Zum Modell des Gesellschaftsvertrages muss daher aus seiner Sicht die Frage hinzutreten, was dessen praktische Bedingungen der Möglichkeit sind. Was Rousseau zur Beantwortung dieser Frage eigentlich bräuchte, ist eine kollektive Handlungstheorie; die hat er aber, wie ich knapp aufzeigen werde, nur ansatzweise vorgelegt. Akteurstheoretisch unterscheidet Rousseau im Contrat social „Mitglieder“ („associés“), „Staatsbürger“ („Citoyens“) und „Untertanen“ („Sujets“).28 Die Differenz verläuft nicht entlang der Semantik von citoyen und bourgeois: Der bourgeois ist ja hier schon mit dem Zurücklassen des gesellschaftlichen Zustandes zu Gunsten des politischen Zustandes passé.29 Die Assoziierten sind zugleich Subjekt und Objekt der politischen Ordnung: sie üben Herrschaft aus und sind ihr unterworfen. Doch wie assoziieren sie sich, was sind die Voraussetzungen hierfür? Im Discours sur l’économie politique wird die tatsächliche Praxis der Assoziierung untersucht.30 Dort bezeichnet Rousseau Gemeinschaften unterhalb der politischen Gesellschaft als „Vereinigungen“ („associations“) oder „besondere Gesellschaften“ („sociétés particulieres“).31 Dabei gibt es zwei Ebenen unterhalb der politischen Gesellschaft: Zunächst erwähnt er die explizit vorhandenen Assoziationen, die sich auch nach außen als solche präsentieren und zu denen er die Familie zählt oder die Kirche, im Ganzen alles Interessengemeinschaften mit einer gewissen Struktur und inneren Organisation. Sie sind es auch, die im Contrat social als Quellen der Ausbildung von besonderen Willen, von volontés particulières verdammt werden. Im Discours sur l’économie politique war Rousseau hingegen noch der Auffassung, dass solche Assoziationen unvermeidlich sind. Sie stellten für ihn 1755 auch noch nicht das eigentliche Problem dar, da alle von solchen Assoziationen und ihrem möglichen Einfluss auf die Politik wüssten. Problematisch erscheinen ihm vielmehr die unterhalb der Ebene von Öffentlichkeit und Sichtbarkeit agierenden Assoziationen, die schon überall dort entstehen, wo einzelne Personen durch gemeinschaftliche Inte-

28 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 281 (OC III, 362). 29 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 281 (OC III, 361–362). 30 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, in ders.: Sozialphiloso­ phische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch, […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 223–265 (OC III, 239–278). 31 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 232 (OC III, 246).

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ressen verbunden sind. Gerade sie zu erforschen erfordere das Studium der Sitten einer Bevölkerung. Laut Rousseau sind es „diese stillschweigenden oder förmlichen Vereinigungen“ („ces associations tacites ou formelles“), welche „die Erscheinung des öffentlichen Willens auf so vielerlei Weise verändern“ („qui modifient de tant de manieres les apparences de la volonté publique“).32 Ferner geht Rousseau im Discours sur l’économie politique davon aus, dass alle Vereinigungen gegenüber ihren „Mitgliedern“ („membres“) einen je eigenen Allgemeinwillen ausformen.33 Als Zusammenfassung der Interessen ihrer Mitglieder und zur Ermöglichung gemeinsamen Handelns können diese besonderen Gemeinwillen laut Rousseau durchaus eine legitime Rolle spielen. Gegenüber der Gesellschaft im Ganzen seien sie jedoch nur Partikularwillen und als solche unrechtmäßig. Die Bindung der Mitglieder an diese partikularen Allgemeinwillen sei jedoch stärker als ihre Bindung an den gesellschaftlichen Gesamtwillen. Dieser Zusammenhang wird 1755 von ihm als Paradox formuliert: Moralische Forderungen müssten eine entsprechend höhere Bindungskraft haben, je allgemeiner ihre Geltung sei. Universale Bindungsgründe müssten also die höchste Bindungskraft haben. In der Praxis verhalte es sich aber genau umgekehrt: Je näher und vertrauter die Verhältnisse einem Menschen seien, desto stärker wirkten die dort bestehenden Bindungen auf ihn ein. Der öffentliche Allgemeinwille befinde sich demnach in einer Art mittleren Position zwischen den gemeinschaftlichen Nahverhältnissen kleiner Personengruppen und den universalen Menschheitsinteressen. Um die Bindungsintensität der kleineren Vereinigungen auf die Republik zu übertragen, strebt Rousseau für die Republik die Identifizierung des Bürgers mit der politischen Ordnung an, wobei er Identität als eine Quelle politischer Verbindlichkeit begreift.34 Im Contrat social dagegen beharrt Rousseau auf dem Volk als Kollektivakteur. Es geht ihm jetzt nicht mehr um ein institutionelles Arrangement, das lediglich darauf abzielt, das Handeln der vielen freiwilligen Vereinigungen miteinander zu vermitteln. Vielmehr soll das Volk als Ganzes politisch handlungsfähig werden, nicht nur die Summe der verschiedenen Vereinigungen. Anders ausgedrückt: Das Volk soll selbst eine Vereinigung werden, und zwar die maßgebliche.

32 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 232 (OC III, 246). 33 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 232 (OC III, 246). 34 Vgl. Marcus Llanque: „Der Begriff des Volkes bei Rousseau zwischen Mitgliedschaft und Zugehö­ rigkeit“, in Oliver Hidalgo (Hg.): Der lange Schatten des Contrat social. Demokratie und Volkssouverä­­ nität bei Jean-Jacques Rousseau, Wiesbaden 2013, 31–52.



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4 Rousseau im demokratischen Diskurs Mit Blick auf den Gesellschaftsvertrag geht Rousseau von der Gleichheit aller Ver­ tragspartner aus – und vertritt damit eine Position, die den Kontraktualismus mit dem demokratischen Diskurs verbindet. Es liegt daher nahe, in Rousseau primär einen Vertreter des demokratischen Diskurses zu sehen und auch seinen Volksbegriff entsprechend zu interpretieren. Nicht von ungefähr gilt Rousseau vielen Interpreten als ‚radikaler‘ Vertreter der Demokratietheorie.35 Und Iring Fetscher steht keineswegs allein, wenn er behauptet, dass „im Grunde sein [Rousseaus, M. L.] Herz dieser Regie­ rungsform gehört“.36 Der Tatsache, dass Rousseau im Contrat social ausdrücklich die praktische Unmöglichkeit einer reinen Volksregierung konstatiert,37 ist sich Fetscher dabei durchaus bewusst. Aber er ,löst‘ das offensichtliche Dilemma kurzerhand durch die Behauptung, die Demokratie stelle für Rousseau „die höchste Form der Republik“ dar, deren Verwirklichung er aufgrund ihrer anspruchsvollen Voraussetzungen zwar für unwahrscheinlich, aber keineswegs für unmöglich halte.38 Zahlreiche Forscher diskutieren Rousseaus Volksbegriff im Zusammenhang mit Fragen der klassischen Regierungslehre: In welchem Verhältnis steht das Volk zur Exekutive? Kann das Volk die Regierung jederzeit abberufen? Wie entsteht der Allgemeinwille?39 Im Zusammenhang dieser Fragen meint ‚Volk‘ also die Summe der Regierten, wird aber darüber hinaus nicht weiter qualifiziert. Andere begreifen Rousseaus Volk als eine Gemeinschaft mit einem geteilten Verständnis des Gemeinwohls,40 oder als eine homogene Gemeinschaft ohne Pluralität und Widerspruch,41 um dann zu fragen: Wollen wir so leben? Können wir überhaupt so leben, wie Rousseau sich dies idealiter vorgestellt hat?42 Auch die Rede vom Allgemeinwillen scheint eine Einheitlichkeit des Volkes als eines Körpers, als eine organische Entität zu unterstellen, die jeder modernen Vorstellung von Sozialität als Differenz und Widerspruch widerspricht.

35 Vgl. u. a. Manfred Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, 91–109; David Held: Models of Democracy, Stanford/CA 1987, 73–79. 36 Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbe­­ griffs, Frankfurt/Main 1980, 161. 37 Die in diesem Zusammenhang einschlägigen und oft zitierten Sätze stehen am Ende des 4. Kapi­ tels von Buch III: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung ist für Menschen nicht geeignet.“ J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 326 (OC III, 406). 38 I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 161. 39 Vgl. Ethan Putterman: Rousseau, Law, and the Sovereignty of the People, Cambridge u.  a. 2010, 154–161. 40 So etwa Joshua Cohen: Rousseau. A Free Community of Equals, Oxford 2010, 59. 41 Vgl. J. Cohen: Rousseau, 2. 42 Vgl. J. Cohen: Rousseau, 16.

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Doch auch dort, wo Rousseau heute als Vertreter der direkten oder sogar radikalen Demokratie gefeiert wird, bleibt der Begriff des Volkes unbestimmt. Dieses Vorgehen hat bei einigen radikaldemokratischen Interpreten sogar Methode, handelt es sich ihrer Ansicht nach bei solchen Worten doch um nichts anderes als leere Signifikanten.43 Kevin Inston dagegen behauptet, Rousseau unterscheide Volk und Menge und wolle Letztere in den Stand des Ersteren überführen, doch er zieht daraus keine Konsequenzen für seine anschließende Diskussion von Rousseaus Volksbegriff.44 Auch hier fungiert das Volk nur als eine Metapher ohne korrespondierende Tatsachen in der Wirklichkeit. Als Metapher aber taugt das Volk wohl kaum zum Akteur. Rousseaus Verwendung des Begriffs der Demokratie im Contrat social entspricht den geläufigen Vorgaben der klassischen Lehre von den Regierungsformen. Als Demokratie gilt ihm jene Form der Regierung, in der das Volk sowohl die gesetzgebende als auch die exekutive Gewalt innehat und auch beide unmittelbar selbst ausübt.45 Diese Bestimmung des Begriffs macht verständlich, warum Rousseau die demokratische Regierungsform als unwahrscheinlich und zudem für den Menschen ungeeignet ablehnt: Sie ist extrem instabil und verhindert, was aus seiner Sicht die wesentliche Aufgabe des Volkes ist – die Definition des Allgemeinwillens. Wenn das Volk selbst die Regierung ausübt, dann besteht Rousseau zufolge die Gefahr, „daß der Volkskörper seine Aufmerksamkeit von den allgemeinen Zielen abwendet“ („que le corps du peuple détourne son attention des vues générales“) und sich in der Beschäftigung mit einzelnen Gegenständen verliert, was schließlich zur Parzellierung der Interessen führt.46 Auch wenn man sich der Problematik von einer anderen Seite her nähert und die Frage stellt, ob sich Rousseau, bei aller Skepsis gegenüber der Demokratie, nicht zumindest bereit zeigt, die gesamte Bevölkerung in den Prozess der Gesetzgebung miteinzubeziehen, fällt das Ergebnis ernüchternd aus. Denn wenn man mit Richard Saage behauptet, keine Demokratietheorie könne hinter den semantischen Gehalt der Formel ‚Herrschaft des Volkes‘ zurückfallen,47 und darüber hinaus auch die sozialen ,Unterschichten‘ zum Volk zählt, dann ist es durchaus fraglich, ob Rousseau dem Diskurs einer so verstandenen Demokratietheorie zugerechnet werden kann. Tatsächlich spricht Rousseau nicht jeder wie auch immer gearteten Bevölkerung ohne Weiteres politische Handlungskompetenz zu: „Die Freiheit gedeiht nicht unter jedem Himmel und ist daher nicht für alle Völker erreichbar. Je mehr man über diesen von Montesquieu aufgestellten Grundsatz nachdenkt, desto mehr erkennt man seine

43 Vgl. K. Inston: Rousseau and Radical Democracy, New York 2010, 31–32. 44 Siehe K. Inston: Rousseau, 35, 144, 147 u. ö. 45 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 324 (OC III, 404). 46  J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 324 (OC III, 404). 47 Richard Saage: Demokratietheorien. Historischer Prozess, theoretische Entwicklung, soziotechni­ sche Bedingungen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, 41.



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Wahrheit.“48 Er unterscheidet scharf zwischen der Menge (multitudo) und dem Volk (populus). Entscheidend ist dabei für ihn die Frage der kollektiven Handlungsfähigkeit; ist diese gegeben, dann haben wir es mit einem peuple zu tun, herrscht stattdessen Anarchie, dann waltet die multitude.49 Nach Rousseau entstehen innere Unruhen und damit Anarchie, die Folgen des Ungehorsams, durch „einen rohen und dummen Pöbel“ („une populace abrutie et stupide“),50 empört durch Plagen und aufgehetzt durch geschickte Redner. Despotismus und Anarchie setzt Rousseau dabei gleich,51 die Anarchie ist für ihn kein Zustand der Freiheit, sondern Endzustand der Degeneration.52 Im Contrat social hebt Rousseau die Insel Korsika als das Land in Europa hervor, das in besonderem Maße „zur Gesetzgebung fähig“ („capable de législation“) ist.53 Diese Hervorhebung Korsikas als ein Vorbild ist nun freilich nicht im Hinblick auf das Resultat zu verstehen, sondern nur für den Ausgangspunkt der Umformung einer Bevölkerung zu einem Volk. Die Verwandlung einer Bevölkerung in ein Volk erfolgt in Rousseaus Augen auf einen Schlag. Der entsprechende Gründungsakt erfolgt mit gesetzgeberischen Maßnahmen und findet in Zeit und Raum statt. Die zeitliche Dimension betrifft die historische Situation: Es muss Frieden herrschen und die Bevölkerung muss eine bestimmte Zeit lang zusammen gelebt haben. Die räumliche Dimension hat nicht nur mit der oft erwähnten Insellage zu tun, sondern mit der räumlichen Konstellation insgesamt, insbesondere mit der Abwesenheit von Nachbarn. Die Einfachheit der auf Korsika existierenden Sitten wie auch die Insellage prädestinieren die dortige Bevölkerung laut Rousseau dazu, in seinem Sinne umgeformt zu werden. Das heißt aber nicht, dass die von ihm angestrebte Republik nur unter den Umständen einer agrarischen Inselbevölkerung gedeihen kann. Eine andere mit Blick auf die Verwirklichungsbedingungen der Volksherrschaft relevante Frage zielt auf die numerische Größe der Bevölkerung: Sind der Größe eines sich selbst regierenden Volkes quantitative Grenzen gesetzt? Rousseau verhehlt nicht, dass seiner Meinung nach kleine Staaten eher zur Selbstregierung fähig sind

48 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 334. „La liberté n’étant pas un fruit de tous le Climats n’est pas à la portée de tous les peuples. Plus on médite ce prin­ cipe établi par Montesquieu, plus on en sent la vérité“ (OC III, 414). 49 Vgl. u. a. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 278–279, 282, 293, 298–300, 307, 326–327, 350–352, 364–373 (OC III, 359, 362, 374, 379–380, 387, 406–407, 429– 431, 444–453. Siehe auch J.-J. Rousseau: „Politische Fragmente“, in ders.: Politische Schriften, Bd. I, Übers. u. Einf. v. Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, 209–282, hier 241–242 (OC III, 513); ders. „Du Contract social, ou Essai sur la forme de la république (Première version)“, in ders. Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964. 279–346, hier 282. 50 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Briefe vom Berge“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, 7–252, hier 242 (OC III, 889). 51 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 317 (OC III, 397). 52 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 343 (OC III, 423). 53 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 310 (OC III, 391).

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als große,54 doch fällt seine Antwort keineswegs so eindeutig aus, wie oft behauptet. So verweist er auch auf die Praxis der Römischen Republik, die in seinen Augen „ein großer Staat“ („un grand Etat“) war,55 umfasste sie doch nach seinen Angaben nicht weniger als vierhunderttausend Bürger allein in der Stadt Rom und sogar mehr als vier Millionen Bürger im gesamten Römischen Reich.56 Außerdem kann sich Rousseau, wie er betont, zur Lösung des Problems auch die Vereinigung von mehreren Republiken zu einer Föderation vorstellen. Rousseau kündigte im Contrat social eine Fortsetzung der Thematik in einer gesonderten Abhandlung an,57 die sich mit Fragen der Außenpolitik, der Bündnisschließung und der Föderation beschäftigen sollte. Darin wollte er zeigen, „wie man die äußere Macht eines großen Volkes mit der mühelosen Verwaltung und der guten Ordnung eines kleinen Staates verbinden kann“ („comment un peut réunir la puissance extérieure d’un grand Peuple avec la police aisée et le bon ordre d’un petit Etat“),58 doch hat er das Werk nie ausgeführt. Das der Amsterdamer Ausgabe des Contrat social vorangestellte Motto foederis aequas dicamus leges59 aus Vergils Aeneis, das sich ebenfalls auf einen Vertrag zweier Völker bezieht, die sich zu einem politischen Verband zusammenschließen wollen, hilft an dieser Stelle auch nicht weiter. Ganz grundsätzlich kann man unter Rekurs auf andere Textstellen des Contrat social lediglich festhalten, dass die Größe des Volkes Rousseau zufolge eher Auswirkungen auf die Größe der Regierung60 hat und insofern die Gefahren des Missbrauchs der Regierungsgewalt verringert oder vergrößert. Dies deutet darauf hin, dass Rousseau die Bevölkerungsgröße der Republik als eine Frage gelingender Institutionalisierung betrachtet hat.

5 Das institutionell disziplinierte Volk Die theoretische Sensibilität Rousseaus für die Qualifizierung einer Personengruppe, die als Volk Kollektivakteur sein können soll, hat gerade mit seiner Erwartung zu tun, was ein solches Volk zu leisten imstande sein muss: Es muss als versammeltes Volk sich selbst Gesetze geben. Gerade das versammelte Volk aber ist, wie gesehen, die seiner Meinung nach am ehesten zur Anarchie neigende Personengruppe. Die Frei­ heit der zum Volk vereinigten Bürger zeigt sich für Rousseau gerade darin, dass sie den gemeinsam gegebenen Gesetzen freiwillig Gehorsam erweisen – ein Umstand,

54  Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 352 (OC III, 431). 55 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 345 (OC III, 425). 56 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 346 (OC III, 425). 57 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 352 (OC III, 431). 58 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 352 (OC III, 431). 59 Zu deutsch: „Lasst uns einen Vertrag schließen, dessen Gesetze gerecht sind.“ 60 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 315–322 (OC III, 395–402).



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den das Volk vom „niedrigsten Pöbel“ („la plus vile populace“) unterscheidet.61 Rous­ seaus Volksbegriff ist nicht ethnisch, sozial oder in einem anderen Sinne empirisch, er ist vielmehr „ein politischer Begriff“.62 Das heißt, das Volk wird nicht vorgefunden, es wird politisch ‚gemacht‘, ‚geformt‘, oder besser: es wird durch Gesetze konstitu­ iert, also allererst gegründet. Die Aufgabe, ein Volk zu gründen, wie es Rousseau vor­ schlägt, bedeutet also gerade nicht, jeder beliebigen Personengruppe die Kompetenz der freien Selbstregierung zuzusprechen. Das Volk ist souverän, es ist aber nicht frei, seinen willkürlichen Vorstellungen zu folgen. Es darf nur in den institutionellen Bahnen und gemäß der Regeln und Verfahren handeln, die es sich selbst gegeben hat. Verlässt es dieselben, agiert es nicht länger als Volk, sondern als Menge und Masse. Das Volk Rousseaus ist also vor allem als Subjekt der Gesetzgebung relevant. Das Volk als Gesetzgeber aber ist das versammelte Volk. Für das versammelte Volk sind alle anderen institutionellen Festlegungen disponibel, auch die Regierungsform selbst.63 Das versammelte Volk kann sogar den Gesellschaftsvertrag aufheben.64 Verzichtet das Volk jedoch auf die Ausübung seines Rechts zur Versammlung und zur souveränen Gesetzgebung, so löst es sich als Volk allmählich auf. Eben das aber ist Rousseau zufolge das rein institutionelle Interesse der Regierung, der daran gelegen ist, sich nicht ständig dem Damokles-Schwert der souveränen Zustimmung aussetzen zu müssen. Daher will Rousseau auch keine feste Repräsentation dulden, die für das Volk und in dessen Namen Gesetze erlässt.65 Der Grund für seine konsequente Ablehnung des Repräsentationsprinzips auf der Ebene der Gesetzgebung liegt nun freilich nicht darin, dass er das Volk für besonders geeignet zur Gesetzgebung erachtete. Das ist offensichtlich nicht der Fall, denn Rousseau bevorzugt vom gesetzgeberischen Standpunkt her eindeutig den singulären Verfassungsgeber, lobt er doch beständig die herausragenden Einzelpersönlichkeiten wie Lykurg oder Moses, die durch ihre weisen Gesetze Bevölkerungen allererst zu Völkern gemacht hätten. Der Grund für sein Beharren auf den Prinzipien der Unveräußerlichkeit und der Unteilbarkeit der Souveränität liegt – abgesehen von der Verhinderung des Machtmissbrauchs durch die Regierung – vor allem darin, dass der Verzicht auf die Ausübung der Souveränität durch das versammelte Volk dem Verzicht auf den Status als politisches Volk gleichkäme. Aber auch noch aus einem anderen Grund fürchtet Rousseau den Einfluss der Menge, macht er doch vor allem die urbane Lebensweise für die korrumpierende

61 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 201 (OC III, 853). 62 I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 129 (Hervorh. i. Orig., Marcus Llanque). 63 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 348 (OC III, 427–428). 64 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 356 (OC III 436). 65 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 349–352 (OC III, 428–431).

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Wirkung verantwortlich, die Bürger wieder zu sozial abhängigen und undisziplinierten Einzelwesen werden lässt. Daher sieht er den (eigentlich undemokratischen, weil nicht egalitären) Abstimmungsmodus in den römischen Comitialwahlen als vorbildlich an,66 bei denen die Bürger der Römischen Republik in soziale Klassen aufgeteilt wurden und in denen nicht nach Köpfen, sondern nach Gruppen abgestimmt wurde. Diese Differenzierung rechtfertigt Rousseau mit der Privilegierung der Landbevölkerung gegenüber der schieren Zahl der Stadtbewohner, die aber nicht die gleichen Fähigkeiten mitgebracht hätten, das römische Bürgerideal zu erfüllen. Eine anarchische Wirkung des versammelten Volkes sprach er nur den Curien zu, in welchen die städtische Bevölkerung das Übergewicht hatte.67 Das zeigt aber auch, dass Rousseau nicht zwangsläufig der Gleichheit als der normativen Leitnorm des demokratischen Diskurses folgt, sondern bereit ist, Ungleichheiten zuzulassen, wenn das handlungspraktische Vorteile mit sich bringt. Die Gleichrangigkeit des Stimmrechts ist daher zwar grundsätzlich erwünscht, aber die Gliederung der Bürgerschaft ist möglich. Die Institutionen sollen also das Handeln der Bürger kanalisieren, ja bis zu einem gewissen Grad sogar disziplinieren, um die selbstzerstörerischen Kräfte schrankenloser Willkürfreiheit zu bannen, durch die das Volk in den Aggregatzustand einer bloßen Menge zurückfiele. Die große Sorge Rousseaus vor der ordnungszersetzenden Gewalt der Menge zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er jede Versammlung des Volkes nur unter der Bedingung ihrer gesetzmäßigen Einberufung als souverän anerkennt, jede andere Form der Zusammenkunft jedoch „für gesetzwidrig und alles, was dort geschieht, als nichtig“ („pour illégitime et tout ce qui s’y fait pour nul“) erachtet.68 Das heißt aber auch, dass das Volk außerhalb der vom Gesetz für seine Versammlung vorgesehenen Zeitpunkte und Orte nicht souverän ist, sondern den Gesetzen zu gehorchen hat. Rousseaus Insistenz auf dem vollständigen und umfassenden Gründungsakt durch einen Gesetzgeber hat schließlich auch mit den hochgesteckten Erwartungen zu tun, die er an die Republik richtet. In der Republik sieht Rousseau das geeignete Heilmittel, um die in der modernen Gesellschaft erfolgte soziale Denaturierung des Menschen in der modernen Gesellschaft zu kurieren und korrumpierte bourgeois wieder zu tugendhaften citoyens zu erziehen. Mark S. Cladis hat herausgearbeitet, dass Rousseau zwei radikal entgegengesetzte Wege zur Überwindung der dekadenten Form des menschlichen Lebens in der zivilisierten Gesellschaft aufzeigt: Zum einen die Errichtung einer Republik und zum anderen der Rückzug in die Einsamkeit.69 In

66 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 364–373 (OC III, 444–453). 67 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 370 (OC III, 450). 68 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 346 (OC III, 426). 69 Siehe Mark S. Cladis: Public Vision, Private Lives. Rousseau, Religion, and 21st Century Democracy, Oxford 2003.



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beiden Fällen entzieht sich der Mensch willentlich den sozialen Zwängen und Abhängigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, um Freiheit zu erlangen. Aber die Formen der Freiheit, die er im einen und im anderen Fall gewinnt, könnten verschiedener kaum sein. Während der Rückzug in die Einsamkeit dem Menschen private Freiheit durch Autarkie ermöglicht, schafft die Republik einen institutionellen Rahmen, der ihm als Bürger die Chance zur Verwirklichung politischer Freiheit durch Autonomie eröffnet. Letzteres, die Verwirklichung politischer Freiheit, ist nur durch die Transformation des Menschen zum Bürger möglich. Der Mensch entledigt sich der sozialen Abhängigkeiten und gewinnt die bürgerschaftliche Solidarität. Das setzt aus Rousseaus Sicht die vollständige Eingliederung des Menschen in den politischen Verband eines Volkes voraus. Außerhalb eines solchen Verbandes kann der Mensch weder Bürger noch politisch frei sein. Gliedert er sich aber in den „gemeinsamen sittlichen Körper“ („un corps moral et collectif“) des politischen Verbandes ein, so muss dies „ohne Vorbehalt“ („sans réserve“) geschehen, das heißt, er muss sich „mit all seinen Rechten der Gemeinschaft völlig überantworte[n]“ („l’aliénation totale […] avec tous ses droits à toute la communauté“), um Teil der Assoziation zu werden.70 Der Mensch kann nicht außerhalb eines Volkes Bürger sein und ist er Bürger eines Volkes, so kann er nicht als individueller Mensch politisch tätig werden. Ihm bleiben als Bürger auch keine separaten Rechte vorbehalten,71 sondern alle müssen sich in den vereinbarten Handlungsbahnen bewegen.

6 Rousseau und der republikanische Diskurs Die Vorstellung vom Aufgehen des Menschen in der Bürgerschaft und von seiner Tätigkeit in Kooperation mit anderen Bürgern sind aus dem republikanischen Diskurses ebenso vertraut wie der Begriff der Tugend, verstanden als Ausdruck der Fähigkeit (sowohl im Sinne der inneren Einstellung wie auch des praktischen Könnens) zur Ausübung dieser Kooperation. Die Zuordnung Rousseaus zum republikanischen Diskurs ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend und in der ideengeschichtlichen Forschung auch weitgehend unumstritten. Rousseau selbst beruft sich häufig auf Machiavelli, dessen Principe er als „Buch der Republikaner“ („le livre des républicains“) bezeichnet, weil es „den Völkern wichtige Lektionen erteilt“ („il en a donné de grandes aux peuples“),72 und auch die moderne ideengeschichtliche Forschung zum Republikanismus der Neuzeit hat frühzeitig Rousseau an die Seite Machiavellis gestellt: Rousseau sei der Machiavelli des 18. Jahrhunderts, wie John G. A. Pocock

70 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 281, 280 (OC III, 361, 360). 71 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 280 (OC III, 361). 72 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 329 (OC III, 409).

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einmal sagte.73 Dabei ist die Frage der Zuordnung von Personen oder ihrem Werk zu einem bestimmten Diskurs gar nicht die entscheidende. Sehr viel ergiebiger ist es, die Fragerichtung umzukehren: Aus welchem Diskurs beziehen Autoren ihre Themen und Probleme, zu welchem Diskurs möchten sie beitragen und was folgt daraus sowohl für die Interpretation des Autors wie für diejenige des Diskurses, zu dem er oder sie beitragen will? Wenn ich im Folgenden versuche, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, so gehe ich dabei von der Annahme aus, dass der republikanische Diskurs in erster Linie handlungstheoretisch argumentiert und erst in zweiter Linie legitimatorisch, und dass er gerade deshalb die nötigen Interpretationsschemata zur Verfügung stellt, um Rousseaus Begriff des Volkes angemessen deuten zu können. Typisch für die Vertreter des republikanischen Diskurses ist eine Perspektive auf Staat und Politik, der zufolge es die Regierungen sind, die Bevölkerungen erst zu kollektiv handlungsfähigen Akteuren formen. Diese Perspektive unterscheidet den republikanischen vom demokratischen Diskurs, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Rousseau in dieser Frage dem republikanischen Diskurs zuzuordnen ist. In geradezu paradigmatischer Weise vertritt er im Discours sur l’économie poli­ tique die Auffassung, dass das Volk das ist, wozu die Regierung es macht: „Krieger, Bürger, Menschen, wenn sie will, Pöbel, Gesindel, wenn es ihr beliebt“.74 Menschen sind das Material, das Regierungen und Gesetzgebern zuhanden ist, um es zu formen. Zwar versucht Rousseau auch in dieser Schrift normative Wegmarken aufzustellen, an denen sich gute Regierungen orientieren sollen, etwa das Wohl des Volkes, verstanden als dessen Allgemeinwillen, und die Verpflanzung der Gesetze in die Herzen, so dass die Menschen als Bürger sie freiwillig befolgen und sowohl staatlicher Zwang als auch der Einsatz anderer Instrumente aus dem Arsenal der arcana imperii nicht vonnöten sind. Gleichwohl kommt das Volk im gesamten Discours sur l’économie politique nur als Objekt, aber nicht als Subjekt der Regierung in den Blick. Vielmehr legt Rousseau den Regierenden nahe, sich aufrichtig um das Allgemeininteresse zu kümmern und mit ihrem Beispiel den Menschen ein Vorbild zu geben. Dann, so seine Prophezeiung, werde die Tugend sich wechselweise so steigern, dass sich am Ende alle Schwierigkeiten nahezu von allein auflösten: „die öffentlichen Sitten ergänzen die Fähigkeiten der Oberhäupter, und je mehr die Tugend herrscht, desto weniger sind Fähigkeiten vonnöten“ („le mœurs publiques suppléent au génie des chefs; et plus la vertu regne, moins le talens sont nécessaires“).75 Damit dies möglich wird, muss die Erziehung sehr früh einsetzen und aus den Menschen Bürger machen.

73 Siehe John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton/NJ 1975, 504. 74 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 238. „Guerriers, citoyens, hommes, quand il le veut; populace et canaille quand il lui plaît“ (OC III, 251). 75 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 240 (OC III, 254).



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An der letztgenannten Überzeugung hält Rousseau auch in seiner weiteren Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich Freiheit und kollektive Handlungsfähigkeit miteinander verbinden lassen, unbeirrt fest. Wovon er sich aber verabschiedet, ist der naive Glauben an eine Regierung und Regierende gleichermaßen durchdringende Tugendhaftigkeit, die alle Ordnungsprobleme löst. Es sind nun vielmehr die Institutionen, welche das Volk formen und seine Handlungen kanalisieren sollen. Den entsprechenden Grundgedanken hat vielleicht niemand besser formuliert als James Harrington, in dessen Commonwealth of Oceana (1656) es heißt: „Give us good men, and they will make us good laws, is the maxim of a demagog, and is [...] exceeding fallible. But give us good orders, and they will make us good men, is the maxim of a legislator, and the most infallible in the politics“.76 Harrington griff seiner eigenen Aussage nach für die Maxime, wonach es gute Gesetze sind, die gute Menschen machen, auf Ideen früherer Autoren wie Machiavelli, Donato Giannotti und Hugo Grotius zurück, die freilich ihrerseits sehr unterschiedlich mit diesem Gedanken operierten. Während sich Machiavelli auf die Tugend des Staatsgründers konzentrierte, bevorzugte Giannotti in seiner Abhandlung zur florentinischen Republik die virtù della forma, also die durch Institutionen vermittelte Tugend.77 An der virtù della forma zeigt sich seiner Meinung nach die Qualität der politischen Ordnung. Demnach ist es die gute institutionelle Ordnung, die die Bürger tugendhaft macht, und nicht die Tugend der Bürger, die die gute Ordnung hervorbringt. Die Pointe von Giannottis Überlegungen besteht also darin, dass er den Begriff der Tugenden vom Bürger auf die Institutionen überträgt.78 Für Giannotti, Harrington und die anderen Vertreter eines institutionalistisch argumentierenden Republikanismus ist die Frage nach dem richtigen Personal, das geeignet ist, die Handlungsfähigkeit der jeweiligen politischen Ordnung zu garantieren, von untergeordneter Bedeutung, ist es doch in ihren Augen das wohlgeordnete Zusammenspiel der Institutionen und Gesetze, das die Bürger zur Bewältigung dieser Aufgabe befähigt. Pessimismus und Optimismus halten sich bei den Denkern dieser Schule die Waage: Sie sind pessimistisch bezüglich der natürlichen Anlagen und Eigenschaften des Menschen, die von ihnen als potenziell gefährlich und deshalb als korrekturbedürftig eingeschätzt werden; zugleich sind sie aber optimistisch bezüglich der Möglichkeit, aus derart unvollkommenen Menschen im Rahmen einer (gut eingerichteten) politischen Ordnung kompetente Bürger zu machen. Abgesehen vom

76 James Harrington: „Oceana“, in ders.: Works. The Oceana and Other Works, with an Account of his Life by John Toland, Aalen 1980, 70. 77 Vgl. Ninja Bader: Die Entwicklung des modernen Republikanismus in der Neuzeit. Eine Tradition politischen Denkens vom florentinischen Bürgerhumanismus bis zu den Federalist Papers?, Norderstedt 2000, 264–267. 78 Daniel Höchli: „Zur politischen Sprache Giannottis“, in Donato Giannotti: Die Republik Florenz (1534), hg. u. eingeleitet v. Alois Riklin, übersetzt u. kommentiert v. Daniel Höchli, München 1997, 76–116, hier 91–96.

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Vollzug der Gesetze, der allein schon die Menschen besser machen soll, setzt der institutionalistische Zweig des Republikanismus vor allem auf die tugendgenerierende Wirkung der Erziehung im Allgemeinen, und der Schule im Besonderen, von Harrington auch „plastic art of government“ genannt.79 Auch daran hat Rousseau mit seinen Überlegungen zur Erziehung anschließen können. Insgesamt findet sich im republikanischen Diskurs der Neuzeit also nicht nur der moralische Appell an die Tugend, sondern eine ausgiebige Diskussion der institutionellen Bahnen, die tugendhaftes Verhalten gleichermaßen ermöglichen wie verstetigen sollen. Die Frage der Tugend erscheint aus dieser Perspektive nicht in erster Linie als eine Frage der Ethik, sondern als eine der politischen Kooperation – und als solche wurde sie für Rousseau bestimmend. Dass es dazu kam, lag, wie ich im folgenden Abschnitt zeigen möchte, nicht zuletzt an Rousseaus Lektüre der Werke Montesquieus.

7 Rousseaus Montesquieu-Rezeption Montesquieu und Rousseau werden oft als unversöhnliche Kontrahenten dargestellt, Ersterer als Vordenker und Letzterer als schärfster Gegner des Liberalismus.80 Rousseaus eigener Zugang zum republikanischen Diskurs war jedoch insofern durch Montesquieu vermittelt, als er bei ihm auf Überlegungen zur Rolle der Institutionen stieß, die als Verallgemeinerungen spezifisch republikanischer Positionen angesehen werden können. Dazu gehört zum einen das Verständnis der Tugend, dessen Schwerpunkt auf der handlungstheoretischen Perspektive liegt (in der Begrifflichkeit Montesquieus gesprochen also im Bereich des Prinzips des Regierens im Unterschied zu seiner Natur), und zum anderen die Orientierung an dem eben vorgestellten Grundgedanken, Bevölkerungen mit Hilfe der Gesetze in kompetente und kollektiv handlungsfähige politische Akteure zu verwandeln. Montesquieus Zugehörigkeit zum republikanischen Diskurs erklärt sich nicht daraus, dass er selbst republikanische Positionen vertrat oder republikanischen Argumenten nicht auch mit Kritik begegnet wäre: Der republikanische Diskurs ist keine Partei oder ein Programm, dessen Mitglied oder Anhänger man sein muss. Zum Diskurs gehören rein deskriptive Erörterungen von Republiken, ihrer Geschichte und normativen Ordnungen ebenso wie republikanische Institutionen, die diskursiv überliefert werden. Kritiker des Republikanismus tragen zu dessen Diskurs mithin nicht weniger bei als enthusiastische Apologeten. Entscheidend für die Zuordnung eines Denkers zu einem bestimmten Diskurs sind vor allem die von ihm behandelte Thematik, seine Argumentationsweise, und nicht zuletzt auch die von ihm gebrauchte

79 J. Harrington: „Oceana“, 25. 80 So u. a. Pierre Manent: An Intellectual History of Liberalism, Princeton/NJ 1994, 53–79.



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Terminologie. Ausgehend von diesen Kriterien kann Montesquieu ohne Frage als ein wichtiger Vermittler des republikanischen Diskurses gelten.81 Dementsprechend wird Montesquieu auch in jüngeren Gesamtdarstellungen der politischen Ideengeschichte mittlerweile im Kontext des Republikanismus diskutiert.82 Dass Rousseaus Argumentation zur Gründung eines Volkes beziehungsweise der Umformung einer Bevölkerung in ein Volk von Montesquieu beeinflusst ist, verdeutlicht bereits der eingangs dieser Abhandlung wiedergegebene Satz aus dem 7. Kapitel des II. Buches des Contrat social, der die Sentenz „instituer un peuple“ beinhaltet. Die betreffende Passage folgt nicht zufällig auf einen Absatz, in dem Rousseau sich auf eine Überlegung aus Montesquieus Considerations sur les causes de la grandeur des Romaines et de leur décadence (1734) bezieht, der zufolge bei der Entstehung von Gesellschaften zunächst die Häupter der Republiken die Verfassung schaffen, während es anschließend aber die Institutionen sind, die die Häupter der Republiken formen.83 Gleichwohl war Rousseau um Distanz zu Montesquieu bemüht, wie eine aufschlussreiche Stelle im V. Buch des Émile zeigt: So versagt er dem „berühmte[n] Montesquieu“ („l’illustre Montesquieu“) zwar nicht den Respekt, unterstellt ihm jedoch, er habe „sich gehütet, über die Grundzüge des politischen Rechtes zu schreiben“ („il n’eut garde de traitter des principes du droit politique“) und sich stattdessen „damit begnügt, das positive Recht bestehender Regierungen abzuhandeln“ („il se contenta de traiter du droit positif des gouvernemens établis“).84 Diese Einschätzung unterschlägt, dass er sehr viel klarer in Montesquieus Spuren wandelte, als er zuzugeben bereit ist. Auch wenn er in Hinblick auf so manche politische Position von seinem Vorgänger abweicht, namentlich in der Frage der Repräsentation, so bewegen sich seine Ausführungen doch in vielen Aspekten eindeutig entlang der Bahnen, die Montesquieu vorgezeichnet hatte. Rousseaus intensive Beschäftigung mit den Schriften Montesquieus setzte spätestens nach seiner Rückkehr aus Venedig ein, als er im Pariser Salon der Dupins verkehrte, für die er zwischenzeitlich auch arbeitete.85 Als Sekretär von Louise-Marie-

81 Siehe Wyger R. E. Velema: „Republican Readings of Montesquieu: The Spirit of the Laws in the Dutch Republic“, in: History of Political Thought 18 (1997), 43–63; David W. Carrithers: „Montesquieu, Jefferson, and the Fundamentals of 18th Century Republicanism“, in: French-American Review 6 (1982), 160–188; Céline Spector: „Montesquieu: Critique of Republicanism?“, in Daniel Weinstock/ Christian Nadeau (eds.): Republicanism: History, Theory and Practice, London 2004, 38–53. 82 Vgl. dazu u. a. Alan Ryan: On Politics. A History of Political Thought from Herodotus to the Present, New York 2012, 518–530. 83 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 301 (OC III, 381). 84 J.-J. Rousseau: Emil, 504–505 (OC IV, 836). 85 Darauf hat zuerst Robert Shackleton („Montesquieu, Dupin, and the Early Writings of Rousseau“, in Simon Harvey/Marian Hobson/David Kelly/Samuel S. B. Taylor (eds.): Reappraisals of Rousseau. Studies in Honour of R. A. Leigh, Manchester 1980, 234–249) hingewiesen.

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Madeleine Dupin, die ein Werk über die Gleichheit der Frau zu verfassen beabsichtigte, soll Rousseau nicht weniger als 2800 Seiten an politisch-historischen Materialien zusammengestellt haben.86 Zuvor hatte er bereits als eine Art wissenschaftlicher Assistent für den Mann von Madame Dupin, Claude Dupin, gearbeitet, der kurz nach Erscheinen von Montesquieus De l’esprit des lois eine dreibändige Kritik dieses Werkes verfasst hatte. Dupins Schrift war 1757 und 1758 unter dem Titel Observations sur un livre intitulé L’Esprit des Lois erschienen und von der Öffentlichkeit weitestgehend mit Nichtachtung gestraft worden. Daraus erhellt, dass Rousseau sich mit Montesquieus Werk schon kurze Zeit nach dessen Erscheinen intensiv auseinandergesetzt hat. Montesquieu erkannte für verschiedene Völker, differenziert nach ihrer Lebensweise und den spezifischen Grundlagen derselben, verschiedene Ausprägungen der Regierung an, die untereinander nicht austauschbar sind. Gesetze, die im Kontext des einen Volkes bestimmte Wirkungen zeitigen, werden diese bei Völkern, die unter anderen Lebensbedingungen existieren, nicht hervorbringen. Diesem Grundgedanken sind auch Montesquieus Ausführungen über die Möglichkeit einer freiheitlichen Regierung verpflichtet. Das in diesem Zusammenhang von Montesquieu erstellte Gewaltenteilungskonzept beruht auf der Annahme, dass nicht alle Völker imstande sind, es auch erfolgreich umzusetzen. Damit dies gelingt, bedarf es Montesquieu zufolge vielmehr geeigneter Lebensbedingungen und Sitten. Montesquieu erörtert in dem berühmten Kapitel zur Verfassung Englands dementsprechend auch nicht, ob die Engländer zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich im Besitz der Freiheiten sind, die die Gesetze garantieren sollen.87 Seiner Ansicht nach ist die bloße Betrachtung der Verfassung eines Landes nicht ausreichend, um zu ermessen, ob in diesem die Freiheit auch tatsächlich verwirklicht ist oder nicht. Entscheidend sind aus seiner Sicht vielmehr die herrschenden Sitten und Gebräuche sowie die Verhaltensdispositionen der Bürger. Die Verfassung kann nur der Form nach Freiheit verbürgen, ohne dass die Bürger deswegen schon frei wären; umgekehrt können die Bürger auch unter einer de jure unzulänglichen Verfassung sehr wohl de facto frei sein.88 Das ist eine der Anwendungen von Montesquieus Unterscheidung zwischen der Natur beziehungsweise dem Wesen einer Regierung und ihrem Handlungsprinzip.89 Was Montesquieu interessiert und worin er zum Vorbild Rousseaus wurde, ist die Wechselwirkung von Institutionen und Personen. Regieren verlangt das Zusammendenken von Gesetzgebung als Gesellschaftsgestaltung mit den Motiven und Faktoren, die das tatsächliche Handeln einer konkreten Bevölkerung unter bestimmten Bedingungen zu einem gegebenen Zeitpunkt prägen und beeinflussen. Will man die Institutionen eines Landes und ihre

86 Vgl. Leo Damrosch: Jean-Jacques Rousseau. Restless Genius, Boston, New York 2005, 205. 87 Vgl. [Charles-Louis de Secondat] Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers. u. hg. v. Ernst Forst­ hoff, 2. Aufl., Tübingen 1992, Bd. I, 214–229. 88 Vgl. Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 257. 89 Vgl. Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 33.



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Wirkungsweise verstehen, so darf man sich nach Montesquieu nicht nur auf die Untersuchung der Gesetze beschränken, sondern muss auch Gewohnheiten und Sitten, Kultur und Klima in die Analyse miteinbeziehen.90 Diesen umfassenden Ansatz kann man Montesquieus Erweiterung des Institutionalismus nennen. Für Rousseau bedeutsam wurde Montesquieu nicht zuletzt durch die Art und Weise, in der er den Begriff der Institution verwendete. Der Begriff der Institution ist juristisch ausgebildeten Autoren, wie Montesquieu einer war, zunächst aus dem Kontext des Römischen Rechts vertraut, das in verschiedenen Kompilationen überliefert war, neben den Digesten vor allem in den Institutiones. In den späteren Büchern des Esprit des lois, welche einzelne gesetzgeberische Gesamtleistungen, vor allem die des Heiligen Ludwig, diskutieren, geht Montesquieu auch auf diesen Zusammenhang näher ein.91 Wie Montesquieu aber sehr viel früher hervorhebt, interessiert ihn in erster Linie das, was er den ‚Geist‘ der Gesetze nennt; daher unterscheidet er ausdrücklich nicht zwischen zivilen und politischen Rechten und weist die übliche Strukturierung des Aufbaus eines Werkes zum Recht als für seine Zwecke ungeeignet zurück.92 Im Unterschied zum ‚Geist‘ der Gesetze, der ihre Gesamttendenz umschreibt, versteht Montesquieu unter Institutionen konkrete Einrichtungen und regelgeleitete Praktiken, ungeachtet des Umstandes, ob sie auf Sitten oder auf Gesetzen beruhen.93 Gesetze eines Gesetzgebers schaffen einzelne Institutionen, wohingegen Sitten und Gewohnheiten als „gemeinsames Gut des ganzen Volkes“ („institutions de la nation en général“) anzusehen sind.94 Zwar sind Gesetze, Gewohnheiten und Sitten sehr wohl voneinander zu unterscheiden, doch wirken sie bei einzelnen Institutionen zusammen, weshalb die Funktionsweise der betreffenden Institutionen aus eben dem Zusammenwirken der unterschiedlichen Aspekte verstanden werden muss. Aus diesem Grund lobt Montesquieu auch Solon dafür, dass er, auf die Frage, ob er den Athenern die besten Gesetze gegeben habe, antwortete, er habe ihnen die Gesetze gegeben, die sie am ehesten ertragen können.95 Montesquieus erweiterter Institutionalismus beschäftigt sich also nicht nur mit den Fragen der klassischen Regierungslehre, sondern berücksichtigt auch die Handlungsprinzipien und -motive der Bevölkerung sowie die ihnen zugrunde liegenden Sitten und Gewohnheiten, kurz, die Gesamtheit der politischen Kultur. Die Aufgabe, einen Staat zu regieren, ist für Montesquieu eine Kunst, die beides erfordert: das Wissen um die objektiven Bedingungen, das heißt die Gesamtheit der bestehenden Institutionen, und die genaue Kenntnis der subjektiven Motive und Prinzipien, die

90 Vgl. Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 16. 91 Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 341–344. 92 Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 16–17. 93 Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 420. 94 Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 420. Das Original zitiere ich nach der Ausgabe De L’Esprit des Lois, par Montesquieu, Paris 1927, tome I, 304 – eine unpräzise Übersetzung von ‚Institutionen‘. 95 Montesquieu: Geist der Gesetze, Bd. I, 429.

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dem Handeln der Bürger zugrunde liegen. Vor allem aber braucht es aus seiner Sicht ein adäquates Verständnis der Wechselwirkung der beiden Faktoren. Daher muss der Gesetzgeber nicht nur die Institutionen des Regierungsapparates oder der gewöhnlichen Gesetzgebung vor Augen haben, er muss mit den Institutionen auch das sittliche Verhalten der Bürger formen, damit sie die Disziplin aufbringen, die nötig ist, um die institutionell vorgesehenen Handlungsweisen freiwillig befolgen und dauerhaft als ein Volk zusammenleben zu können. Die Aufgabe der Gestaltung einer politischen Ordnung umfasst also alle Einrichtungen, die auf die moralische Verfassung eines Volkes zielen, sie erstreckt sich von der Erziehung bis zur Religion, von der Zensur bis zur Kultur. Während Montesquieu Sitten und Gewohnheiten in die Analyse einbezieht, um die Erfolgsaussichten des Regierungshandelns zu erörtern, und den Gesetzgeber auffordert, die gesetzgeberischen Maßnahmen soweit wie möglich an die bereits vorhandenen Gebräuche anzupassen, will Rousseau über die gezielte Beeinflussung der Sitten und Gewohnheiten sowie der öffentlichen Meinung sicher stellen, dass das Volk die ihm abverlangten Handlungsweisen internalisiert und so gleichsam aus eigenem Antrieb den institutionell vorgesehenen Formen des Handelns nachkommt. In seinen Augen sind gerade die Gesetze, die das sittliche Leben prägen und „in die Herzen der Bürger“ („dans les cœurs des citoyens“) eingeschrieben sind, diejenigen, die die „wahre Verfassung des Staates“ („la véritable constitution de l’Etat“) bilden und deren „unverrückbaren Schlußstein“ („l’inébranlable Clef“) darstellen.96 Die verhaltenslenkende Materie der Gesetzgebung zielt also besonders auf die Prägung der Sitten und Gewohnheiten. Sie sind anders als bei Montesquieu nicht die Summe der kollektiven Erfahrungen und Praktiken, die unterstützend oder hemmend die Wirkung der Gesetze beeinflussen, vielmehr werden sie zum Gegenstand der Verfassungsgebung selbst.

8 Rousseau und der Konstitutionalismus Wie gezeigt, stehen Rousseaus Überlegungen in einem diskursiven Kontext, in dem die ihn beschäftigende Fragestellung bereits seit längerem intensiv diskutiert wurde. Von Machiavelli bis Montesquieu lautete die Frage, wie aus einer bloßen Menge von Menschen eine kollektiv handlungsfähige politische Gemeinschaft werden, wie aus einer multitudo ein populus werden kann.97 Dieser Diskurs ist mit Rousseau nicht an sein Ende gelangt, sondern hat sich durch ihn und über ihn hinaus fortentwickelt.

96 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 314 (OC III, 394). 97 Vgl. Marcus Llanque: „Populus und Multitudo: das Problem von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in der Genealogie der Demokratietheorie“, in Harald Bluhm/Karsten Fischer/Marcus Llanque (Hgg.): Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011, 19–38.



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Rous­seaus politische Theorie markiert einen Moment des Übergangs, nämlich den Übergang von einem erweiterten Institutionalismus Montesquieuscher Prägung zum modernen Verfassungsdenken und damit der Ausweitung und Umformung des neuzeitlichen Republikanismus zum Konstitutionalismus des ausgehenden 18.  Jahrhunderts,98 etwa bei Sieyès im französischen Kontext oder bei John Adams und den Autoren der Federalist Papers im amerikanischen Kontext. Dort wurde Montesquieu, in Frankreich auch Rousseau, als wichtiger Stichwortgeber rezipiert, und zwar oft mit den gleichen Vorbehalten in Bezug auf die skeptische Einschätzung hinsichtlich der Möglichkeiten zur erfolgreichen Umwandlung der Bevölkerung in einen kollektiv handlungsfähigen politischen Akteur. Anders als im republikanischen Diskurs bis Rousseau tritt hier nun aber eine Idee hinzu, die vorher nur vage vorhanden war, und die den republikanischen Diskurs endgültig vom kontraktualistischen ablöst – die Idee der Verfassung. Eine der Übersetzungen des uns beschäftigenden „instituer un peuple“ lautet, „einem Volk eine Verfassung geben“.99 „Instituer un peuple“ meint den Akt der ‚Gründung‘, der eine Bevölkerung erstmals zu einem politischen Volk werden lässt. Die Institutionen bringen formale Gesetze und korrespondierende Handlungsprinzipen zusammen. Worauf Rousseaus politische Theorie im Contrat social abzielt und was sie gedanklich umkreist, ist derjenige Vorgang, der in heutiger Terminologie als Akt der Verfassungsgebung beschrieben wird. Dass seine Überlegungen zu dieser Problematik weder die theoretische Komplexität der Problematik, wie sie später im Konstitutionalismus erörtert wurde, noch deren praktische Schwierigkeiten, wie sie unter anderen im Kontext der Amerikanischen und der Französischen Revolution auftraten, umfassen, kann nicht überraschen. Rousseau hat für den Durchbruch des Konstitutionalismus wichtige gedankliche Vorarbeiten geleistet, die Differenzen sind jedoch unübersehbar. Was Rousseau vom späteren Konstitutionalismus trennt, ist nicht zuletzt das vollständige Fehlen der Verfassungsgerichtsbarkeit, jener für den modernen Konstitutionalismus geradezu prägenden Institution. Montesquieu diskutierte immerhin die Gerichtsbarkeit als eine eigenständige Gewalt, von Gerichten ist bei Rousseau dagegen kaum die Rede, bezeichnenderweise nicht im Contrat social, sondern sporadisch im 7. Brief der Lettres écrites de la montagne.100 Was Rousseau aber vor allen Dingen von der konstitutionellen Erweiterung des republikanischen Diskurses trennt, ist die Annahme, dass es sich bei der Einrich-

98 Vgl. Scott Gordon: Controlling the State. Constitutionalism from Ancient Athens to Today, Cam­ bridge/MA 1999; Martin van Gelderen/Quentin Skinner (eds.): Republicanism and Constitutionalism in Early Modern Europe, Cambridge 2002. 99 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“, 100; ders.: „Vom Ge­ sellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 301. 100 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 178–179 (OC III, 832–833).

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tung der Verfassung um einen einmaligen Vorgang handeln muss. Er ist nicht in der Lage, sich den Vorgang der Verfassungsgebung als einen stufenweisen Lernprozess vorzustellen, in dessen Verlauf die Verfassung geändert und von erkannten Mängeln befreit oder an veränderte Konstellationen angepasst werden kann. Während man so beispielsweise in Amerika aus den Fehlern der Verfassung lernte und sie im weiteren historischen Ablauf durch eine ganze Reihe von Ergänzungen und Änderungen den veränderten Rahmenbedingungen anpasste, war die französische Verfassungstradition eher von einer Vielzahl von Verfassungsrevolutionen gekennzeichnet. Aber in beiden Fällen sind die Verfassungsänderungen Resultate kollektiven verfassungspolitischen Lernens. Rousseau hat zwar auch die Gründung als politischen Akt der Revolution zumindest erwähnt, aber als solchen nicht genauer untersucht. Zwar erkennt er die revolutionäre Selbstumbildung eines Volkes als eine Möglichkeit politischer Erneuerung an, zumal nach Perioden der Tyrannei oder der Fremdregierung. Doch beurteilt er die Erfolgsaussichten solcher Revolutionen, „in denen der Staat, durch Bürgerkriege in Brand gesetzt, gleichsam aus seiner Asche wiedergeboren wird und, kaum den Armen des Todes entronnen, die Kraft der Jugend wiedergewinnt“ („où l’Etat, embrasé par les guerres civiles, renait pour ainsi dire de sa cendre et reprend la vigueur de la jeunesse en sortant des bras de la mort“),101 äußerst skeptisch. Zu den wenigen „Ausnahmen“ im Verlauf der Geschichte zählt er sowohl die von ihm so geschätzten antiken Republiken Sparta und Rom (nach der Vertreibung der Könige) als auch Holland und die Schweiz.102 Die revolutionäre Selbstumbildung ist aber nicht Rousseaus eigentliches Thema im Contrat social. Dort geht es ihm um die Perspektive eines Gesetzgebers, der nicht nur einzelne Gesetze erlässt, sondern eine komplette Ordnung zu geben versucht. Damit verliert Rousseau aber den politischen Prozess der Gründung selbst als kollektiven Vorgang wieder aus den Augen. Rousseau hat das Volk als In­stitution gedacht, als etwas zu gründendes, aber er hat den letzten Schritt in den Konstitutionalismus nicht vollzogen, den Akt der Gründung als kollektiven Prozess der Selbstbindung zu verstehen. Für die gegenwärtige politische Theorie ist es eine interessante Frage, ob mit Besinnung auf Rousseau ein „republikanischer Konstitutionalismus“103 von einem liberalen Konstitutionalismus unterschieden werden kann: Letzterer legt Wert auf die Sicherung individueller Grundpositionen und definiert den Bürgerstatus als individuelle Rechtsposition, Ersterer betont hingegen die kollektive politische Aktivität der Bürger und definiert deren Bürgerstatus als Pflichtenverhältnis. Bislang orientiert sich die Diskussion um den republikanische Konstitutionalismus freilich eher im

101 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 305 (OC III, 385). 102 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, 305 (OC III, 385). 103 Vgl. Nicholas Buttle: „Republican Constitutionalism. A Roman Ideal“, in Journal of Political Phi­ losophy 9 (2001), 331–349.



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Kontext von Hannah Arendt, deren eigene Rousseau-Interpretation104 für Rousseaus weitere Rezeption innerhalb dieser Interpretationstradition nicht gerade förderlich war.105 Mit Rousseau kann man aber das Pflichtenverhältnis besser verstehen, das sich Bürgern gegenseitig abverlangen müssen, um ihre kollektive politische Handlungsfähigkeit zu erhalten.

104 Siehe Hannah Arendt: On Revolution, New York 1963, 76–81. 105 Vgl. Richard Bellamy: Political Constitutionalism. A Republican Defense of the Constitutionality of Democracy, Cambridge 2007, 217.

Skadi Krause

Zur Legitimation staatlicher Institutionen Jean-Jacques Rousseau und die Begründung des modernen Verfassungsstaates

Jean-Jacques Rousseau gehört unumstritten zu den bedeutendsten politischen Theoretikern. Seine Wirkung erstreckte sich bereits im 18. Jahrhundert auf ganz Europa und Nordamerika. Vor allem die Revolutionäre in Frankreich beriefen sich auf ihn, aber auch Moralphilosophen wie Immanuel Kant (1724–1804) und später Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) würdigten seine Leistungen und machten Fragen seines Werkes zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Überlegungen. Umso mehr überrascht es, dass Rousseau wenig bis gar nicht als politischer Aufklärer wahrgenommen wird. Zwar ist seine Rolle und Bedeutung unter den Enzyklopädisten immer wieder hervorgehoben worden; seine Gesellschaftskritik wird jedoch zumeist nur als Kulturkritik behandelt. Demnach habe Rousseau die Institutionen als künstliche Menschenwerke ‚entlarvt‘ und die Mechanismen unserer Denaturierung beschrieben. Eine solche Sicht prägt bis heute die Rezeption seiner politischen Werke. Gleichwohl steht, obwohl seine Schrift Contrat social (1762) schon früh Rousseaus Ruf als Demokratietheoretiker begründete, eine erschöpfende Analyse des politischen und ideengeschichtlichen Bezugsrahmens dieses Werkes bis heute aus.1 Seine starken Bezüge zur Naturrechtslehre, die für die Konstruktion politischer Modelle im 17. und 18. Jahrhundert einen wichtigen Bezugsrahmen bildete, legten von Anfang an eine reformorientierte Wirkungsabsicht seiner Schriften nahe.2 Außerdem stellte mit ihm ein Autor zum ersten Mal in der politischen Theorie den Begriff der Freiheit in den

1 Zu den wenigen Ausnahmen gehören Gabriella Silvestrini: „Le républicanisme de Rousseau mis en contexte: le cas de Genève“, in Les Etudes Philosophiques 83/4 (2007), 519–541; dies.: „Vu de Genève: le Parlement anglais, la représentation et la liberté“, in Genève lieu d’Angleterre 1725–1814, sous la dir. de Valéry Cossy/Béla Kapossy/Richard Wharmore, Genève 2009, 37–61; dies.: „Rousseau e la tra­ dizione repubblicana. Repubblica, democrazia ed elezioni“, in Viaggio nella democrazia. Il cammino dell’idea democratica nella storia del pensiero politico, a cura di Mauro Lency e Carmelo Calabro, Pisa 2010, 69–87; Heinrich Meier: „Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit – Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes“, in Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, krit. Ausg. d. integr. Textes, m. sämtl. Fragm. u. erg. Mat. n. d. Originalausg. u. d. Handschr. neu ed., übers. u. komment. v. Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn u. a. 1993, XXI– LXXVII. 2 Zur politischen Relevanz der Naturrechtslehren vgl. Richard Tuck: Natural Rights Theory. Their Origin and Development, Cambridge 1979; Knud Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy. From Grotius to the Scottish Enlightenment, Cambridge 1996; Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der ‚Obligatio‘ vom 17. bis 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Freiburg/Brsg. 1999; ders.: „Vertragstheorie und Konstruktion der Souveränität bei Pufendorf“, in Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden 2009, 36–50.

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Mittelpunkt seiner Arbeiten. Nicht mehr die Legitimation von Macht und Herrschaft stehen im Zentrum von Rousseaus politischer Lehre, sondern die rechtliche Absicherung individueller und gesellschaftlicher Freiheit. Hinzu kommt, dass Rousseau die Gesellschaft nicht länger als hypothetische Konstruktion beschreibt, sondern unter Berufung auf empirisches Material gesellschaftliche Entwicklungsprozesse schildert. Seine Werke sind dabei nicht einfach Reflexionen oder Beschreibungen von Sozialstrukturen und politischen Institutionen, sondern zielen auf politische Sachverhalte und Regierungsfragen, die bis dahin von wissenschaftlichen Analysen weitgehend ausgeschlossen waren. Rousseau verfolgte aber nicht nur einen neuen methodischen Ansatz in der politischen Philosophie, er entwarf auch ein neues Geschichtsbild, das wiederum die theologischen Modelle seiner Zeit in Frage stellte. Rousseau als Kritiker existierender politischer und sozialer Institutionen darzustellen und ihn gleichzeitig als Begründer des modernen Rechts- und Verfassungsstaates jenseits der bis dahin üblichen naturrechtlichen Bezüge zu deuten, ist Ziel dieses Aufsatzes. Wichtig ist mir, den Autor aus einer republikanisch-ethischen Lesart zu befreien und deutlich zu machen, dass durch eine ideengeschichtliche Verortung seiner Werke auch eine staatsrechtlich-liberale Interpretation der volonté générale möglich ist. Ich werde mich dabei im Folgenden auf jene Arbeiten Rousseaus beschränken, die einen explizit politischen und institutionellen Kontext haben.3 So wende ich mich zunächst seinem ersten und zweiten Discours zu, bevor ich seinen Discours sur l’économie politique und den Contrat social in den Mittelpunkt rücke. Obwohl der Einwand berechtigt ist, dass diese Werke für sich stehen, weil der Kontext ihrer Entstehung und ihre Ausrichtung jeweils andere waren und auch ihr Verhältnis untereinander zuweilen widersprüchlich ist, so scheint mir die gemeinsame Besprechung angebracht, geben die späteren Arbeiten doch Antwort auf Mängel, Einwände und Kritiken der zuvor veröffentlichten Schriften.

1  Rousseaus erste Kritik an den gesellschaftlichen Institutionen seiner Zeit Einen Namen hat sich Rousseau bereits mit seiner ersten Abhandlung gemacht, die er 1750 bei der Akademie in Dijon einreichte. Der Discours sur les sciences et les arts ist bekanntlich die Antwort auf die Preisfrage, ob der Fortschritt der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern.4 Diese Frage, die man im Zeit-

3 Rousseau hat diese selbst als solche gekennzeichnet, indem er sie mit „Jean-Jacques Rousseau, Citoyen de Genève“ unterzeichnete. 4 Die Anzeige der Académie des Sciences et Belles-Lettres de Dijon erschien im Oktober 1749 im Mer­ cure de France. Die Fragestellung lautete: „Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à



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alter der Aufklärung überwiegend mit Ja beantwortete,5 wird für Rousseau zum Ausgangspunkt seiner politischen Theorie. Denn seine Antwort lautet: Nein. Die Künste und Wissenschaften haben nicht dazu beigetragen, die Sitten zu bessern. Ganz im Gegenteil. Rousseau macht die Künste für den Kulturverfall verantwortlich, weil sie den Menschen von seiner eigenen Natur entfremdet hätten: Ehe uns noch die Kunst geschickte Manieren gelehrt und unsern Leidenschaften eine gekünstelte Sprache in den Mund gelegt hatte, waren unsre Sitten bäurisch, aber natürlich […]. […] Heutzutage aber […] herrscht in unseren Sitten eine niederträchtige und betrügerische Einförmigkeit, und alle Gemüter scheinen nach ein und demselben Muster zugeschnitten zu sein: Die Höflichkeit fordert ohne Unterlaß; der Anstand befiehlt; man folgt beständig dem allgemeinen, niemals seinem eigenen Sinne. […] Es gibt keine aufrichtige Freundschaft mehr; keine wirkliche Hochachtung; kein rechtes Vertrauen. Argwohn, Verdacht, Furcht, Kälte, Zurückhaltung, Haß und Verrat werden sich beständig unter diesem einförmigen und falschen Deckmantel der Höflichkeit, unter dieser so gerühmten Feinheit des Betragens verbergen, die wir der Aufklärung unsres Zeitalters zu danken haben.6 Avant que l’Art eut faҫonné nos maniéres et appris à nos passions à parler un langage apprêté, nos mœurs étoient rustiques, mais naturelles […]. […] Aujourd’hui […] il régne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jettés dans un même moule: sans cesse la politesse exige, la bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie. […] Plus d’amitiés sinceres; plus d’estime réelle; plus de confiance fondée. Les soupҫons, les ombrages, les craintes, la froideur, la reserve, la haine, la trahison se cacheront sans cesse sous

épurer les mœurs.“ Vgl. dazu Kurt Wiegand: „Einleitung: Rousseaus negative Historik“, in Jean-Jac­ ques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750) Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Französisch – Deutsch, eingel., übers. u. hg. v. Kurt Wiegand, 5. Aufl., Hamburg 1995, VII-LXXVIX, hier XV–XXVIII. 5 Dies belegen u. a. die viele Kritiken, die in Folge des großen Erfolges der Schrift erschienen. Die Aussage ist fast immer die gleiche: „Les Sciences servent à faire connoître le vrai, le bon, l’utile en tout genre: Connoissance précieuse qui, éclairant les esprites, doit naturellement contribuer à épurer les mœurs. […] Par combien de témoignages incontestables, d’augustes monumens, d’ouvrages immortel, l’histoire n’atteste-t’elle pas que les Sciences ont contribué par tout au bonheur des hommes, à la gloire des Empires, au triomphe de la Vertu!“ So die Kritik des polnischen Königs Stanislaw I. Leszczynski (1677–1766) an Rousseaus erstem Discours. Réponse au discours qui a remporté le prix de l’Académie de Dijon sur cette question: Si le rétablissement des Sciences & des Arts a contribué à épurer les Mœurs, [Paris] 1751, 6 und 23. 6 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe. Von einem Bürger Genfs“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eck­ hart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 5–35, hier 13–14.

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ce voile uniforme et perfide de politesse, sous cette urbanité si vantée que nous devons aux lumieres de notre siécle. (OC III, 8–9).7

Rousseau begnügt sich aber nicht mit der Verurteilung der sozialen Umgangsformen, er kritisiert vor allem die institutionalisierten Wissenschaften und kulturellen Einrichtungen seiner Zeit. Diese seien angetreten, Bildung und Erkenntnis zu vermehren,8 doch sie hätten nicht zur Vervollkommnung, sondern zur Selbstentfremdung der Menschen beigetragen.9 In seiner Antwort auf die Kritik von Guillaume Thomas François Raynal, dessen Observations sur le discours, qui a remporté le prix im Juni 1751 anonym im Mercure de France erschienen waren,10 spitzt Rousseau seine These vom Zeitalter der Dekadenz weiter zu. Die Blüte der Wissenschaften und Künste wird hier gleichgesetzt mit einem Höhepunkt der gesellschaftlichen Dekadenz, denn, so Rousseau, „ich habe die Fortschritte dieser beiden Dinge überall in einem Verhältnis gefunden“ („j’ai trouvé le progrès de ces deux choses toujours en proportion“).11 Die Sitten entarten in dem Maße, in dem Kunst und Wissenschaften fortschreiten. Diese These, die sich auf Mandevilles Fable of the Bees (1713) zurückführen lässt,12 beruht auf der Annahme, dass die Künste von den Lastern leben und Handel und Zivilisation von Verschwendung und Luxus vorangetrieben werden. Rousseau kehrt diese Argumentation nun aber um. Der Fortschritt der Wissenschaften und Künste, den Rousseau nicht leugnet, hat Rückwirkungen auf die Natur des Menschen. Der Verlust der Tugend und die Selbstentfremdung des Menschen sind der Preis.

7 Alle Originalzitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Berdnard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959‒1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 8 Vgl.  Jean Le Rond d’Alembert: „Einleitende Abhandlung der Herausgeber (Discours préliminaire des éditeurs)“, in ders.: Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie (1751), hg. v. d. Arbeitsgruppe Philosophiehistorische Texte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, m. e. Einl. u. Anm. vers. v. Georg Klaus, Berlin 1958, 8–127. 9 Was im Discours sur les sciences et les arts noch ganz als reine Kritik angelegt ist, die Selbstent­ fremdung des Menschen in der Gesellschaft, wird Rousseau im Discours sur l’inégalité dann bereits zu einer theoretischen Kernaussage umwandeln. Der Mensch wird erst in der Gesellschaft zum Men­ schen. Sein Selbstbild ist ein gesellschaftlich geprägtes, genauso wie seine Umgangsformen und sein Sozialverhalten immer von der Gesellschaft geformt werden, in der er lebt und die er selbst mitgestal­ tet. Selbstentfremdung ist die menschliche Selbsterfahrung im Wechselspiel von Selbst- und Fremd­ bestimmung. Sie ist ein Wesensmerkmal des Menschen. Im Discours sur les sciences et les arts ist Rousseau von einer solchen Aussage noch weit entfernt. 10 Vgl. [Friedrich Melchior Baron von Grimm]: Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister etc., tome II, Paris 1778, 318f. 11 Jean-Jacques Rousseau: „Brief an Herrn Abbé Raynal“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt/Main 1988, 61–65, hier 63 (OC III, 32). 12 Vgl. Bernard de Mandeville: Die Bienenfabel oder private Laster, öffentliche Vorteile, m. e. Einl. v. Walter Euchner, 5. Aufl., Frankfurt/Main 2012 (engl.: The Fable of the Bees, or, Private Vices, Publick Benefits, with a comment critical, historical and explanatory by Frederick. B. Kaye, II vols., Oxford 1924).



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Rousseau hat an seinem Discours sur les sciences et les arts etwa sechs Monate gearbeitet (von Oktober 1749 bis März 1750). Das Produkt ist also alles andere als eine spontane Eingabe,13 auch wenn er das Werk später selbst als eine schwache Leistung bezeichnet hat – unpräzise sowohl im Aufbau als auch in den einzelnen Argumenten.14 Und dennoch enthält bereits diese frühe Schrift vieles von dem, was später sein politisches Werk charakterisiert. Vor allem finden sich dort bereits die beiden zentralen Begriffe, die Rousseaus politische Theorie bestimmen: Freiheit und Gleichheit, allerdings noch in ihrer Negation. Gesellschaftliche Ungleichheit schafft soziale Abhängigkeit, entarteter Luxus und spitzfindige Sophisterei untergraben die soziale und politische Gleichheit der Bürger und zerstören ihre Tugend. Letztere fungiert im ersten Discours als zentraler Gegenbegriff zu Unfreiheit und Ungleichheit. Doch auch die Tugend wird nur ex negativo erörtert. Nicht Wissenschaft und Künste haben im Dienste Einzelner zu stehen, sondern der Bürger ist der Gesellschaft verpflichtet: Gemeinwohl statt Selbstsucht. Da der Mensch nur in der Gesellschaft ein tugendhafter Mensch sein kann, muss sein Denken und Handeln auf die Gesellschaft bezogen bleiben und darf sich nicht in den Dienst von Eigennutz und Verschwendungssucht stellen. Die Polemik ist im ersten Discours auffallend generalisierend. War die Fragestellung der Akademie inhaltlich klar gefasst, antwortet Rousseau mit einem Streifzug durch die Geschichte: So sei in der Schrift „von einer derjenigen Wahrheiten die Rede, die auf das Glück des Menschengeschlechts abzielen“ („d’une de ces vérités qui tiennent au bonheur du genre humain“).15 Nicht der einzelne Mensch oder eine konkrete politische Gesellschaft stehen im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die menschliche Zivilisation schlechthin. Das verändert zugleich die Stellung des Autors, der sich nicht als moralisierender Literat, sondern als politischer Philosoph darstellt.16 Doch die Identifizierung mit der politischen Philosophie geht nicht allzu weit. Vielmehr räumt Rousseau ein, dass die politische Wissenschaft, um die er sich bemüht, in Vergessenheit geraten sei und neu geschaffen werden müsse. Bemerkens-

13 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, übertr. v. Ernst Hardt, Berlin 1955, 445 (OC I, 351). Rousseau beschreibt die Umstände der Entstehung des ersten Discours auch noch in seinen anderen biographischen Schriften, so u.  a. im zweiten Brief an Malesherbes vom 12. Januar 1762. Vgl. JeanJacques Rousseau: „Vier Briefe an Malesherbes“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt/Main 1988, 475–496, hier 481–486 (OC I, 1134–1138). Weitere Selbstauskünfte finden sich zudem in den Rêveries du promeneur solitaire, insbesondere im zweiten und dritten Spaziergang. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, Frankfurt/Main 1988, 637–760, hier 648–673 (OC I, 1002–1023). 14 Ein Vorwurf, der ihm vor allem von Friedrich Melchior Baron von Grimm gemacht wurde: „M. Rousseau ait dit beaucoup de choses admirables, on ne peut pas dire que la logique de ses raisonne­ ments soit assez forte ou assez bien établie pour entraîner à adopter son système“. [Grimm]: Corres­ pondance littéraire, 319. Vgl. auch: J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 447 (OC I, 352). 15 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Wissenschaften und Künste“, 9 (OC III, 3). 16 Die vielen Verweise auf Denker und Werke der politischen Philosophie unterstreichen diesen Eindruck.

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wert ist dabei der Begriff des Bürgers (citoyen), der im ersten Discours in Opposition zu sozialer Ungleichheit und Laster steht.17 Denn Rousseaus Begriff des citoyen ist mit dem Begriff der Tugend eng verbunden und gewinnt aus ihm seine inhaltliche und konzeptionelle Schärfe. Es ist der sich seiner eigenen Verantwortung für die politische Gemeinschaft bewusste Bürger, der die Freiheit der anderen zu schätzen weiß und sie als Gleiche anerkennt. Allerdings wird er erst im Discours sur l’economie politique und im Contrat social zum Garanten für den republikanisch verfassten Staat. Als der Mercure im Dezember 1750 den Discours sur les sciences et les arts als einen „des plus beaux discours académiques“ bezeichnet, wird Rousseau schlagartig berühmt.18 Mit einem Abstand von drei Jahren schreibt Grimm in der Correspondance littéraire (15. Februar 1754), dass der Discours „eine Art Revolution in Paris“ („une espèce de révolution à Paris“) ausgelöst und einen Schriftsteller bekannt gemacht habe, dessen Name bis dahin in Frankreich, Genf, Deutschland und den Niederlanden völlig unbekannt gewesen sei.19 Selbst im Discours préliminaire des éditeurs der Encyclopédie wird er lobend erwähnt,20 obwohl es das erklärte Ziel dieses wichtigsten Werkes der Aufklärung ist, den Siegeszug der Wissenschaften und Künste zu dokumentieren. Die Encyclopédie soll, wie d’Alembert schreibt, einen gesamten Überblick über die menschlichen „Kenntnisse“ sowie einen „Stammbaum“ aller Wissenschaften und Künste geben und nur das in den Vordergrund rücken, was die Menschen über sich und die Welt selbst erforscht haben.21 Was macht also die Attraktivität des ersten Discours für die Zeitgenossen aus? Ist es die Erbarmungslosigkeit des Urteils und die Polemik der Schrift, die geradezu leidenschaftliche Reaktionen und entschiedene Verteidigungen der Wissenschaften provozierten? Oder ist der Erfolg der Schrift der paradoxen Konstellation geschuldet, dass ein Schriftsteller die Literatur mit lite-

17 Seine volle Bedeutung hat Rousseau dem Begriff allerdings erst im Contrat social gegeben. Der Bürger ist nicht nur tugendhaft, er ist auch hinsichtlich seiner Rechte und politischen Partizipations­ möglichkeiten gleich und frei. Das steht im Gegensatz zur Verwendung des Begriffes in der zeitge­ nössischen politischen Literatur. Diderot bemerkt in der Encyclopédie, dass Thomas Hobbes keinen Unterschied zwischen Untertan und Bürger kenne: „Hobbes ne met aucune différence entre le sujet et le citoyen“. Denis Diderot: Art. „Citoyen“, in Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, tome III, Paris 1753, 489. 18 Vgl. Francois Bouchardy: „Introduction. Discours sur les sciences et les arts“, in Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964, XXVII–XLI. 19 „Il y a trois ans que M. Rousseau, citoyen de Genève, fit de prouver que les arts et les sciences, bien loin de contribuer à épurer les mœurs, ont été tout au contraire une source féconde de corruption parmi les hommes. Ce discours, couronné par l’Académie de Dijon et écrit avec une force et avec un feu qu’on n’avait pas encore vus dans un discours académique, fit une espèce de révolution à Paris et commenca la réputation de M. Rousseau, dont les talents étaient jusqu’alors peu connus.“ [Grimm]: Correspondance littéraire, 319. 20 Vgl. J. Le Rond d’Alembert: „Einleitende Abhandlung der Herausgeber“, 126. 21 Vgl. J. Le Rond d’Alembert: „Einleitende Abhandlung der Herausgeber“, 9, 55, 56.



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rarischen Mitteln angreift und ein Bewunderer der Wissenschaften diese verhöhnt, um einen akademischen Preis zu gewinnen?22 Den Zeitgenossen fällt durchaus auf, dass Rousseau im Discours sur les sciences et les arts zwar die Wissenschaften, nicht aber den autonomen Denker verurteilt. Vielmehr hat Rousseau ausdrücklich die Figur des Genies hervorgehoben.23 Auch trifft er mit seiner sozialkritischen Einschätzung, dass die Wissenschaften ausschließlich im Dienste der Ungleichheit ständen und selbst nicht frei seien, den Zeitgeist der Aufklärer.24 Der große Optimismus, den die Aufklärer hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung der Wissenschaften hegen, ändert nichts daran, dass sie den universitären Wissenschaftsbetrieb ihrer Zeit heftig kritisieren. D’Alembert spricht im Discours préliminaire der Encyclopédie (1751) von der „Geringschätzung der mechanischen Künste“,25 das heißt der anwendungsorientierten Wissenschaften. Keiner der von ihm aufgezählten herausragenden Wissenschaftler seiner Zeit ist Hochschullehrer. D’Alemberts Lob gilt daher dem institutionell ungebundenen und frei denkenden Genie: „Die Ausübung (pratique) der schönen Künste […] besteht in der Hauptsache in einer Erfindungsgabe, die ihre Gesetze fast nur vom Genie empfängt.“26 Umso wichtiger werden alternative Wissenschaftsprojekte (wie das der Encyclopédie selbst) und unabhängige wissenschaftliche Institutionen. Die Gründung der Akademien im Verlauf des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts geht auf dieses Anliegen zurück. Sie sollen Wissenschaften und Künste für eine breite Öffentlichkeit zugänglich machen und zugleich ihre Ausrichtung auf konkrete Anwendungsgebiete lenken.27

22 Rousseau weist im Vorwort selbst auf diese Paradoxie hin. In seiner Verteidigung der Schrift gegenüber König Stanislaw I. Leszczynski macht Rousseau deutlich, dass sie ein Gegenstand der Angriffe war: „Man beschuldigt mich in sehr schön gesetzten Worten, daß mein Verhalten und meine Lehre einander widersprechen, man wirft mir vor, daß ich die Studien, welche ich verachte, selbst betrieben habe, und da man behauptet, daß ich zu beweisen suche, daß Wissenschaft und Tugend nicht vereinbar sind, so fragt man mich eindringlich, wie ich von der einen Gebrauch machen und mich für die andere erklären könne.“ Jean-Jacques Rousseau: „Bemerkungen von J. J. Rousseau aus Genf über die Antwort des Königs von Polen auf seine Abhandlung“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt/Main 1988, 67–92, hier 72 (OC III, 38). 23 Rousseau verweist in seinen Antworten immer wieder darauf: „Ich habe behauptet, daß die Wissenschaften nur für einige große Köpfe gut sind, daß sie aber dem Volk, welches sich ihnen ergibt, allzeit schädlich sind.“ Jean-Jacques Rousseau: „Brief von J. J. Rousseau aus Genf an Herrn Grimm über die Widerlegung seiner Abhandlung durch Herrn Gautier“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt/Main 1988, 93–106, hier 101 (OC III, 64). 24 „Aus dem Reichtum entstanden der Luxus und der Müßiggang, aus dem Luxus entstanden die schönen Künste und aus dem Müßiggang die Wissenschaften. Die Gelehrten sind zu keiner Zeit reich gewesen. Gerade hierin liegt das größte Übel, die Reichen und die Gelehrten verderben sich wech­ selseitig.“ J.-J. Rousseau: „Bemerkungen über die Antwort des Königs von Polen“, 84–85 (OC III, 50). 25 J. Le Rond d’Alembert: „Einleitende Abhandlung der Herausgeber“, 52. 26 J. Le Rond d’Alembert: „Einleitende Abhandlung der Herausgeber“, 53. 27 „Notre politiques est encore dans l’enfance, puisque nous en sommes encore à dire que nos Ministres, chacun dans leur département, devraient avoir soin de procurer au public des dénombrements exacts

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Das Akademiewesen wird als Alternative zum scholastischen Lehrsystem der Universitäten betrachtet und mit der Aufgabe bedacht, die Freiheit der Wissenschaften zu unterstützen. Ihrer methodischen und didaktischen Zwänge entledigt, sollen die Literaten und Wissenschaftler jenen Fragen nachgehen, die gesellschaftliche Relevanz besitzen, aber nur schwerlich in den Disziplinenkanon der Universitäten zu integrieren sind.28 Die Bewertung der ermittelten Resultate obliegt einer akademischen Öffentlichkeit, wobei den Preisfragen der Akademien eine besondere Rolle zukommt. Sie dienen in gleicher Weise der Überprüfung wie dem Ausloten neuer Fragestellungen, Erkenntnisse und Anwendungsgebiete. Dass ein völlig unbekannter Autor wie Rousseau durch die Beantwortung einer Preisfrage der kleinen, erst 1740 gegründeten Akademie in Burgund, deren Mitglieder zudem mehrheitlich Juristen und Ärzte sind, schlagartig berühmt und zum meistdiskutierten Philosophen Europas werden kann, verdeutlicht diesen neuen Bezugsrahmen von Wissen und Wissenschaft. Was Rousseau in den Augen vieler seiner Zeitgenossen folglich attackiert, sind nicht die Wissenschaften und Künste an sich, sondern überholte Wissenschaftsstrukturen, die auf die aktuellen politischen Fragen nur unzureichend reagieren und in keiner Weise handlungsorientiert arbeiten.

2 Die Kritik an der naturrechtlichen Legitimation politischer Institutionen In seinem Discours sur l’inégalité nimmt Rousseau die Themen des ersten Discours in seiner Kritik an den existierenden politischen und sozialen Institutionen wieder auf. Zugute kommt ihm dabei die Fragestellung der Akademie von Dijon aus dem Jahre 1753: „Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und wird sie durch das Naturgesetz begründet?“ Dass die Fragestellung der Akademie die Ungleichheit zum eigentlichen Forschungsthema erklärt, ist nicht zufällig. Kaum eine Gesellschaft ist so stark von Ungleichheit geprägt wie die französische des 18. Jahrhunderts. Über Stand, Rang und Position des Einzelnen in der Gesellschaft entscheidet die Geburt. Zugleich lebt die gesellschaftliche Öffentlichkeit von einer Verflüssigung der

de tout ce qui entre dans la science du gouvernement. [Une] Académie politique devrait être chargée de ce soin. Nous avons grand intérêt d’avoir dans cette science un grand nombre de démonstrations. Or, nous ne pouvons les avoir solides qu’en réduisant toutes les preuves à la simple arithmétique fondée sur les dénombrements“. Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre: Ouvrajes de politique, tome IV, Rotterdam 1733, 264–265. Vgl. auch Lois, statuts et règlements concernant les anciennes académies et l’institut de 1635 à 1889. Tableau des fondations, collection publiée sous la direction de la commission administrative centrale par M. Léon Aucoc, Paris 1885, 290ff. 28 Siehe dazu Eric Brian: La mesure de l’Etat. Administrateurs et géomètres au XVIIIe siècle, Paris 1994, 207ff.



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Grenzen zwischen den Ständen. Die Gruppe der Aufklärer bildet dafür selbst einen Beleg, sind sie es doch, die den Anspruch erheben, eine Gesellschaftskritik jenseits der ständischen Ordnung zu formulieren. Die Gesellschaftsordnung wird nicht mehr als gottgewollt anerkannt. Rousseau bezweifelt in seinem Traktat denn auch weder die natürliche noch die politische Ungleichheit der Menschen. Er lehnt jedoch eine Rechtfertigung der politischen Ungleichheit aus der natürlichen sowie eine rechtliche Zementierung sozialer Ungleichheit ab. Im Gegensatz zu den meisten der eingesandten Antworten auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, die die Ungleichheit als eine institution divine bezeichnen, attackiert er die rechtlich manifestierte Ungleichheit, die sich für ihn am Besitz festmacht. Hat Rousseau in der Debatte um seinen ersten Discours in seinem Brief an Stanislaw I. Leszczynski die Ungleichheit noch als „die erste Quelle des Übels“ („[l]a premiére source du mal“) bezeichnet,29 so ist er nun gewillt darzulegen, wie diese gleichwohl gesellschaftlich legitimiert wird. Damit greift er ein wesentliches Konstruktionselement der Naturrechtslehren seiner Zeit an. Thomas Hobbes (1588–1679), James Harrington (1611–1677) und John Locke (1632–1704) haben staatlicher Herrschaft unter der Bedingung Rechtmäßigkeit zugesprochen, dass sie das Leben des Einzelnen und seinen Besitz schützt. Freiheitsrechte werden von ihnen wiederum direkt aus den Besitzrechten selbst abgeleitet. Dies ist im England des ausgehenden 17. Jahrhunderts von fundamentaler Bedeutung für die Ablösung von Feudalrechten und für eine politische Neukonstituierung der Gesellschaft. In Frankreich jedoch, wo der niedrige Adel zunehmend an Bedeutung verliert und Besitz sich hauptsächlich am Grundeigentum und öffentlichen Ämtern festmacht, bedeutet dies die Infragestellung des Rechtsstatus des Bürgertums. Rousseau sieht darin denn auch nichts anderes als eine gesellschaftlich zementierte Ungleichheit, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Rousseau verneint daher die Ausschreibungsfrage in zweifacher Hinsicht. Erstens ist die Ungleichheit, die man unter den Menschen beobachten kann, gesellschaftlich bedingt. Und zweitens gibt es kein natürliches Recht, kein Naturgesetz, das dem gesellschaftlichen Zustand vorausgeht.30 Damit lehnt Rousseau zugleich eine der wichtigsten politischen Ideen des 18. Jahrhunderts ab, nämlich die Vorstellung ange-

29 J.-J. Rousseau: „Bemerkungen über die Antwort des Königs von Polen“, 84 (OC III, 49). 30 Folglich unterscheidet Rousseau zwei Arten von Ungleichheit: „Die eine nenne ich die natürliche oder physische Ungleichheit, weil sie von der Natur eingeführt worden ist. Sie besteht in der Verschiedenheit des Alters, der Gesundheit, der körperlichen Stärke und der Kräfte des Geistes und der Seele. Die andere könnte man eine sittliche oder politische Ungleichheit nennen, weil sie von einer Art Über­ einkunft abhängt und durch die Einwilligung der Menschen eingeführt oder wenigstens gebilligt wor­ den ist. Sie besteht in den verschiedenen Vorrechten, welche einige zum Nachteil anderer genießen, nämlich reicher, angesehener, mächtiger zu sein als diese oder sich sogar Gehorsam von ihnen leisten zu lassen.“ Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Un­ gleichheit unter den Menschen“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr.

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borener Rechte und damit die Möglichkeit, die Menschheit als eine natürliche Rechtsgemeinschaft zu betrachten. Denn für Rousseau ist der Mensch im Naturzustand nichts anderes als ein Tier. „Der wilde Mensch also, der von Natur bloß mit einem Instinkt oder, wenn ihm dieser fehlt, mit andern Fähigkeiten begabt ist, die zunächst die Stelle des Instinkts vertreten und den Menschen dann weit über diesen erheben können, wird anfänglich nichts als tierisches Verhalten haben.“31 Seine Begierden gehen „nicht weiter als seine physischen Bedürfnisse. Nahrung, eine Frau und Schlaf sind die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, und die einzigen Übel, die er fürchtet, sind Schmerz und Hunger. Ich sage Schmerz und nicht Tod; denn ein Tier wird nimmermehr wissen, was Sterben ist.“32 Es ist nicht, wie noch bei seinen naturphilosophisch geprägten Vorgängern, die teleologisch gedeutete Natur, die im Hinblick auf die Befriedigung der ‚naturgegebenen‘ beziehungsweise ‚von Gott gewollten‘ Bedürfnisse des Menschen zweckmäßig organisiert ist.33 Für Rousseau ist die Natur zwecklos. Insofern wird auch jede moralphilosophische Bewertung des Naturzustandes abgelehnt. Der Mensch handelt im Naturzustand weder gerecht noch ungerecht, weil er diese Unterscheidung nicht einmal treffen kann.34 Rousseau verurteilt hier in gleicher Weise Interpreten, die im Naturzustand einen paradiesischen Zustand erblicken, wie solche, die ihn als Kriegszustand beschreiben.35 Doch wenn der Naturzustand selbst kein moralischer Zustand ist und man aus ihm weder Schlussfolgerungen auf die Natur des Menschen, noch auf dessen natürliche Rechte ableiten kann, dann, so die logische Konsequenz Rousseaus, sind Moral und Recht primär gesellschaftlich und institutionell gebunden und müssen als Produkt des vergesellschafteten Menschen betrachtet werden. Noch im ersten Teil des zweiten Discours zieht Rousseau diese Schlussfolgerung mit aller Deutlichkeit.36 Jede Aussage über den Menschen ist eine Aussage über dessen Gesellschaft und ihre Institutionen. Die Beschreibung des

v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckhart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 37–161, hier 59 (OC III, 131). 31 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 71. „L’Homme Sauvage, livré par la Nature au seul instinct, ou plûtôt dédommagé de celui qui lui manque peut-être, par des facultés capables d’y suppléer d’abord, et de l’élever ensuite fort au-dessus de celle là, commencera donc par les fonctions purement animales“ (OC III, 142–143). 32 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 72. „Ses desirs ne passent pas ses besoins Physiques; Les seuls biens qu’il connoisse dans l’Univers, sont la nouriture, une femelle, et le repos; les seuls maux qu’il craigne, sont la douleur, et la faim; Je dis la douleur, et non la mort; car jamais l’animal ne saura ce que c’est que mourir“ (OC III, 143). 33 Samuel Freyherr von Pufendorff: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Johann Barbeyrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerkungen erläutert und in die deutsche Sprach über­ setzt, Frankfurt/Main 1711. Vgl. dazu Thomas Behme: Samuel von Pufendorf. Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995. 34 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 81–82 (OC III, 152). 35 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 82f. (OC III, 153f.). 36 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 87 (OC III, 157f.).



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homme naturel ist eine theoretische Konstruktion zur Legitimation von Macht und Herrschaft. Rousseaus Anliegen im zweiten Teil des Discours sur l’inégalité ist es demnach, den Ursprung und die gesellschaftlichen Mechanismen der Absicherung der Ungleichheit zu benennen. Dabei rückt er vor allem die Entstehungsgeschichte und den Legitimationsdiskurs des Eigentums in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Rhetorisch brillant leitet er den zweiten Teil ein; eine Passage, die meist verkürzt und daher verfälscht wiedergegeben wird: Der erste, welcher ein Stück Land umzäunte, es sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: Dieses ist mein, und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Elend und Greuel hätte der dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören, der Boden aber niemandem!’ Allein, allem Anschein nach muß es damals schon so weit gekommen sein, daß es nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Denn der Begriff des Eigentums hat nicht auf einmal im menschlichen Geiste entstehen können; er hängt von vielen vorhergehenden Begriffen ab, die alle erst nach und nach entstehen konnten.37 Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa dedire, ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de miséres et d’horreurs, n’eût point épargnés au Genre-humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables. Gardez-vous d’écouter cet imposteur; Vous êtes perdu, si vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la Terre n’est à personne: Mais il y a grande apparence, qu’alors les choses en étoient déjà venües au point de ne pouvoir plus durer comme elles étoient; car cette idée de propriété, dependant de beaucoup d’idées antérieures qui n’ont pû naître que successivement, ne se forma pas tout d’un coup dans l’esprit humain (OC III, 164).

Rousseau unterscheidet in seinem Traktat gleich mehrere gesellschaftliche Entwicklungsstufen auf dem Weg zum Eigentum. Das Recht auf Eigentum etablierte sich demzufolge erst spät, als die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung bereits weit fortgeschritten waren. Mit der Anerkennung des Eigentums folgt jedoch ein „Bruch der Gleichheit“ und es entsteht die „schrecklichste Unordnung“, deren Schilderung an Hobbes’ Naturzustand erinnert: Die gewaltsamste Aneignung der Reichen, die Raubzüge der Armen, die ungezügelten Leiden­ schaften aller, die das natürliche Mitleid unterdrückten und die noch schwache Stimme der Gerechtigkeit machten solchermaßen die Menschen geizig, ehrsüchtig und böse. Das Recht des Stärkeren war mit dem Recht des ersten Besitzers in ständigem Streit, der in nichts als Mord und

37  J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 93 (Hervorh. i. Orig., Skadi Krause).

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Totschlag endete. Die im Entstehen begriffene Gesellschaft wich dem schrecklichsten Kriegszu­ stand […].38 [C]’est ainsi que les usurpations des riches, les Brigandages des Pauvres, les passions effrénées de tous étouffant la pitié naturelle, et la voix encore foible de la justice, rendirent les hommes avares, ambitieux, et méchans. Il s’élevoit entre le droit du plus fort et le droit du premier occupant un conflict perpetuel qui ne se terminoit que par des combats et des meurtres. La Société naissante fit place au plus horrible état de guerre (OC III, 176).

Der Gesellschaftsvertrag, der in der Vertragstheorie diesen Zustand überwinden soll, wird von Rousseau im Discours sur l’inégalité als reiner Herrschaftsvertrag bloßgestellt. Denn die Etablierung des Rechts dient darin zum einen der Absicherung des Eigentums durch Recht und damit der Etablierung sozialer Ungleichheit, zum anderen der Errichtung einer höchsten Gewalt und der Unterwerfung der Mitglieder der Gesellschaft. Die Gesellschaft und die Gesetze, die auf diesem Wege entstanden oder wenigstens entstehen konnten, legten dem Schwachen noch festere Fesseln an, und gaben dem Reichen neue Macht, zerstörten unsere natürliche Freiheit unwiderruflich, setzten das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit auf ewig fest, verwandelten eine geschickte Usurpation in ein unaufhebbares Recht und unterwarfen das ganze menschliche Geschlecht zum Nutzen einiger Ehrsüchtiger dem Zwang zur Arbeit, der Dienstbarkeit und dem Elend.39 Telle fut, ou dut être l’origine de la Société et des Loix, qui donnérent de nouvelles entraves au foible et de nouvelles forces au riche, détruisirent sans retour la liberté naturelle, fixérent pour jamais la Loi de la propriété et de l’inégalité, d’une adroite usurpation firent un droit irrévocable, et pour le profit de quelques ambitieux assujétirent désormais tout le Genre-humain au travail, à la servitude et à la misére (OC III, 178).

Am Ende herrschten ein formal legitimierter Despotismus und rechtlich abgesicherte Ungleichheit. Nichts, so Rousseau, rechtfertigt jedoch einen Vertrag, „der einer Seite alles einräumte, indem er der anderen alles entzöge, und der nur auf den Nachteil der sich verpflichtenden Partei abzielte“ („qui n’obligeroit qu’une des parties, ou l’on mettroit tout d’un côté et rien de l’autre, et qui ne tourneroit qu’au préjudice de celui qui s’engage“).40 Der Verlust der natürlichen Freiheit wird hier von Rousseau gleichgesetzt mit der Unterwerfung unter das Gesetz, aber es ist ein Gesetz, das die Bürger politisch entmündigt und ihnen jede Teilhabe an der souveränen Macht vorenthält. Am Ende des zweiten Discours formuliert Rousseau dennoch Grundsätze eines ‚neuen‘ Gesellschaftsvertrages. Er verändert allerdings zugleich die Terminologie der klassischen Vertragstheorie, indem er jetzt über die „Natur des Grundvertrags jeder

38 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 105. 39 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 107. 40 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 112 (OC III, 182–183).



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Regierung“ („la Nature du Pacte fondamental de tout Gouvernement“) beziehungsweise die „Grundgesetze“ („les Loix fondamentales“) des Staates spricht.41 Das neue Staatsrecht muss Rousseau zufolge der Grundmaxime dienen, „daß die Völker sich Oberhäupter gegeben haben, um ihre Freiheit zu verteidigen, nicht aber, um ihnen untertänig zu sein“ („que les Peuples se sont donné des Chefs pour défendre leur liberté et non pour les asservir“).42 Wir haben nur deswegen einen Fürsten, zitiert er Plinius „damit er uns davor bewahrt, einen Herrn zu haben“ („c’est afin qu’il nous préserve d’avoir un Maître“).43 Am Beispiel des absoluten Monarchen Ludwig XIV. formuliert er, indem er ein Edikt von 1667 zitiert, dass auch der König den Gesetzen unterworfen sein müsse, weil erst die Gesetze seine Macht begründen.44 Alle ausführenden Organe staatlicher Macht müssten sich auf die Grundgesetze stützen, andernfalls verlören sie, sobald diese zerstört sind, selbst ihre Rechtmäßigkeit, „und das Volk wäre nicht mehr gehalten, ihnen Gehorsam zu leisten“ („le Peuple ne seroit plus tenu de leur obéir“). Denn, so Rousseau weiter, „das Wesen des Staats [besteht] nicht in der Obrigkeit, sondern im Gesetz“ („ce n’auroit pas été le Magsitrat, mais la Loi qui auroit constitué l’essence de l’Etat“).45 Der souveräne Wille aber, auf dem das Grundgesetz des Staates beruhe, gehe auf das Volk zurück und sei am Gemeinwohl orientiert. Ziel sei die Sicherung gesellschaftlicher Freiheit. Rousseau konstruiert den Gesellschaftsvertrag, der zur „Errichtung des politischen Körpers“ („l’établissement du corps politique“) führt, im zweiten Discours noch als „einen richtigen Kontrakt zwischen dem Volke und den Oberhäuptern, die es sich wählt“ („un vrai Contract entre le Peuple et les Chefs qu’il se choisit“).46 Der Vertrag zwischen dem Volk und seiner Regierung setzt bereits das Bestehen einer Gesellschaft voraus, aber die Konstitution des Volkes als politischer Körper und die Gründung des Staates fallen in eins. Alle Bürger des neuen Staates sind rechtlich gleichgestellt. Die Regierung, die durch die Verfassung in ihren Machtbefugnissen beschränkt ist, erfüllt lediglich exekutive Funktionen. Sie ist nicht Teil der Legislative. Dennoch kommt ihr eine herausragende Bedeutung zu: Sie ist nicht nur Vertragspartner, sie ist auch dasjenige staatliche Organ, das zum Schutze der Verfassung alle politischen Mittel ergreifen kann. Diese äußerst instabile Konstruktion des Gesellschaftsvertrags macht, trotz ihrer deutlichen Schwächen, nämlich der extrem starken Position der Regierung, die politische Stoßrichtung des zweiten Discours deutlich. Rousseau verzichtet in ihm nicht nur auf den Naturzustand als Legitimationsquelle staatlichen Rechts und politischer Herrschaft, was die Künstlichkeit jedes Staates als politisch veränderbares System

41 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 114, 115 (OC III, 184, 185). 42 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 110 (OC III, 181). 43 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 110 (Hervorh. i. Orig., Skadi Krause). 44 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 112–113 (OC III, 183). 45 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 115 (OC III, 185). 46 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 114 (OC III, 184).

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unterstreicht, sondern der Gesellschaftsvertrag wird auch als Akt der Verfassungsgebung beschrieben, das heißt der Staat als Staat besteht nur als Rechtsform und alle staatlichen Organe müssen in dieser hinsichtlich ihrer Zusammensetzung und Kompetenzen klar bestimmt werden. Das ist allerdings mehr als der Rechtsstaat, wie ihn John Locke beschrieben hat.47 Nicht mehr der Schutz des Eigentums steht hier im Vordergrund, sondern der Schutz vor Willkürherrschaft, den Rousseau nicht mehr mit der staatlichen Absicherung und Verteidigung von privatem Besitz gleichsetzt. Das ist der Kernpunkt seiner Theorie: Rousseau entkoppelt den Freiheitsbegriff vom Besitzstand. Gleichwohl gibt es Freiheit nur im Rechtsstaat, der vor allem eines gewähren muss: Die freie Willensbildung und Entscheidung des Volkes. Das Volk drückt seinen Willen im Gesellschaftsvertrag aus, der zugleich die Organisation des Staats und die grundlegenden Rechte der Bürger regelt. Hinzu kommt im zweiten Discours ein neues Geschichtsbild. Die Entwicklung der Menschen ist nicht mehr von Gott gelenkt, sondern ein immanenter historischer Gattungsprozess, den man wissenschaftlich durchdringen kann. Ausdrücklich betont Rousseau, dass er nur am Anfang eines noch zu erschließenden Untersuchungsgegenstandes stehe. Denn auch die Gesellschaft ist für ihn nichts Feststehendes, sondern unterliegt Entwicklungsprozessen, die alle Bereiche des menschlichen Lebens wie Moralvorstellungen, Sozialbeziehungen, den Handel sowie alle gesellschaftlichen Institutionen, einschließlich der des Staates, berühren.48

47 Siehe John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, übers. v. Hans Jörn Hoffmann, hg. u. eingel. v. Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/Main 1998 (engl.: Two Treatises of Government. A Critical Edition with an Introduction and Apparatus Criticus by Peter Laslett, 2. ed., reprinted with amendments, Cambridge 1970). Zu Lockes politischer Philosophie vgl. auch die Beiträge in Michaela Rehm/Bernd Ludwig (Hgg.): John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung, Berlin 2012. 48 In seiner Antwort an Philopolis (Charles Bonnet) verteidigt Rousseau diesen Aspekt. Dort heißt es: „Der Mensch, sagten Sie, ist so beschaffen, wie es der Platz erfordere, den er im Universum einnimmt. Doch die Menschen weichen nach Zeit und Ort derart voneinander ab, daß man mit einer derartigen Logik sehr gegensätzliche und sehr wenig einleuchtende Konsequenzen vom einzelnen auf das All­ gemeine zu ziehen verpflichtet wäre. Es bedarf bloß eines geographischen Irrtums, um diese ganze vorgebliche Lehrmeinung umzustürzen, die das, was sein soll, aus dem ableitet, was man vor Augen hat. ‚Für den Biber mag es wohl richtig sein, sich in Höhlen zu flüchten‘, wird der Inder sagen, ‚aber der Mensch muss in einer Hängematte zwischen Bäumen in der frischen Luft schlafen.‘ – ‚Nein, nein‘, wird der Tartar sagen, ‚der Mensch ist geschaffen, um in einem Wagen zu schlafen.‘ – ‚Arme Leute‘, wird unser Philopolis mit mitleidiger Miene ausrufen, ‚seht ihr nicht, dass der Mensch geschaffen ist, um Städte zu bauen?‘ – Wenn es darum geht, über die menschliche Natur zu urteilen, so ist der wahre Philosoph weder Inder noch Tartar, weder aus Genf noch aus Paris, sondern ist Mensch.“ JeanJacques Rousseau: „Lettre de J. J. Rousseau à M. Philopolis – Brief an Herrn Philopolis“, in ders.: Schriften zur Kulturkritik. Über Kunst und Wissenschaft (1750) Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Französisch – Deutsch, eingel., übers. u. hg. v. Kurt Wiegand, 5. Aufl., Hamburg 1995, 268–283, hier 277, 279 (OC III, 234).



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3 Rousseaus Begründung des Verfassungsstaates In Genf schreibt Rousseau, nachdem er seine Konversion zum Katholizismus 1754 rückgängig gemacht und den Status eines Citoyens de Genève wiedererlangt hat, für den fünften Band der Encyclopédie den Artikel Economie politique (1755). Darin analysiert er die Funktionen der Regierung und der öffentlichen Verwaltung und unterscheidet die Souveränität als gesetzgebende Macht von der Exekutive, der Regierung, die einen nachgeordneten Status erhält. Gleich zu Beginn distanziert er sich von der Analogie zwischen Familie und Staat, die noch immer in der Politischen Ökonomie weit verbreitet sei. Die Familie oder das Haus seien jedoch kein Vorbild oder Modell souveräner Herrschaft, sie seien allenfalls Segmente in der Regierung von Bevölkerungen.49 Denn der Staat beruhe auf Gesetzen, er sei Rechtsstaat: „In der großen Familie, in welcher alle Glieder der Natur nach gleich sind, kann die politische Gewalt, die hinsichtlich ihrer Einrichtung ganz willkürlich ist, sich nur auf Verträge gründen, und die Obrigkeit kann anderen nur vermöge der Gesetze gebieten.“50 Das Ökonomische wird hier nicht nur aus dem Referenzbereich des oikos herausgelöst, es wird auch verrechtlicht und dem Gemeinwillen unterstellt. Der Gemeinwille, die volonté générale,51 wird damit zum entscheidenden politischen Begriff in Rousseaus Werk. Rousseau ist nicht der Erste, der diesen Begriff als einen politischen verwendet. Bereits Pierre Bayle hat den Terminus aus seinem rein theologischen Kontext gelöst.52

49 Die Unterscheidung ist allerding auch nicht neu und findet sich auch in anderen zeitgenössischen Werken. Bei Johann Heinrich Gottlob Justi heißt es etwa: „Die Wohlfahrt des gesamten Staates hat eine andere Beschaffenheit, als die einer einzelnen Familie.“ Johann Heinrich Gottlob von Justi: Po­ litische und Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Cameral- und Finanzwesens, Koppenhagen, Leipzig 1761, 77. 50 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, in ders.: Sozialphilosophi­ sche und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckhart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 223–265, hier 227. „Dans la grande famille dont tous les membres sont naturellement égaux, l’au­ torité politique purement arbitraire quant à son institution, ne peut être fondée que sur des conven­ tions, ni le magistrat commander aux autres qu’en vertu des lois“ (OC III, 241–242). 51 Den Begriff der volonté générale hat Rousseau nicht zuerst verwandt. Er lässt sich bis zu Augusti­ nus zurückverfolgen, wurde aber erst im Frankreich des 17. Jahrhunderts zu einem Begriff der politi­ schen Philosophie. Zugrunde lag der Begriffsverschiebung die Theodizee-Debatte zwischen Arnauld, Pascal, Malebranche, Pierre Bayle, Leibniz und anderen. Unterschieden wurde in ihr zwischen einer volonté générale als Gottes allgemeinem Willen und Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit, und der volon­ té particulière, dem Eingreifen Gottes in die Welt. Siehe Patrick Riley: The General Will before Rous­ seau. The Transformation of the Divine into the Civic, Princeton/NJ 1986. 52 Für Bayle lag der volonté générale die Vorstellung eines weisen Gesetzes für alle Bürger zugrunde. Jedes besondere Gesetz müsse sich am Probierstein der universellen Gerechtigkeit Gottes messen las­ sen, wobei noch nicht einmal die auszunehmen seien, die Gott den Menschen auf außerordentlichen Wegen offenbart habe. „Wenn es uns erlaubt ist“, schreibt Bayle, „von den Handlungen Gottes zu urteilen, so können wir sagen, daß er nicht alle besonderen Begebenheiten der dabei befindlichen

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Der Gemeinwille sei der dem Gemeinwohl verpflichtete politische Wille, der sich in der Gesetzgebung eines Landes verkörpere, die sich nicht an der volonté particulière eines Fürsten orientiere. In diesem Sinne hat auch Montesquieu den Begriff der volonté générale verwendet. Für Montesquieu ist das Gesetz eine der jeweiligen sozialen Lage angepasste sachgemäße Vernunftregel von gewisser inhaltlicher Allgemeinheit und Dauer, die er auch als „volonté générale de l’état“ beschreibt.53 Da ein Gesetz nichts Willkürliches enthalten dürfe, sei nicht jeder Willensentschluss der gesetzgebenden Gewalt ein Gesetz. Montesquieu hat aufs heftigste die volonté générale in Republiken verurteilt, wo die Gewalten nicht getrennt sind und die „Macht über Leben und Freiheit der Bürger“ unumschränkt sei.54 Dadurch, so Montesquieu, habe die gleiche Beamtenschaft „als Ausführer der Gesetze alle die Befugnisse, die sie sich als Gesetzgeber selber verliehen hat. Sie vermag den Staat durch ihren Gemeinwillen [volontés générales, S. K.] zu verheeren. Da sie auch noch die richterliche Gewalt innehat, kann sie jeden Bürger durch ihre Sonderbeschlüsse zugrunde richten.“55 Deshalb, so die Schlussfolgerung Montesquieus, müsse das Ziel der Gesetzgebung nicht nur Gerechtigkeit, sondern vor allem politische Freiheit sein. Rousseau greift diese Argumentation auf, entwickelt sie jedoch in Form einer Begründung des Verfassungsstaates weiter. Die volonté générale wird für ihn zum ersten Grundsatz der politischen Ökonomie und zur „Grundregel der Regierung“ („regle fondamentale du gouvernement“).56 Sie diene dem Schutz der Freiheit jedes einzelnen Bürgers, „ohne in die Freiheit der übrigen einzugreifen“ („sans porter atteinte à celle des autres“).57 Die entscheidende Frage ist für ihn folglich, wie man Gemeinwohl und individuelle Freiheit zusammenbringt. Rousseau stützt sich in seinen Ausführungen hauptsächlich auf die naturrechtliche Argumentation von

Vollkommenheit halber wolle, sondern nur, weil sie mit den allgemeinen Gesetzen verknüpft sind, welche er zur Regel seiner Wirkungen erwählt hat.“ Die volonté générale sei der Maßstab der Gerech­ tigkeit. Sie sei verkörpert in der Gesetzgebung eines Landes, die sich nicht an der volonté particulière eines Fürsten auszurichten habe, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet sein müsse. Herrn Peter Bay­ lens weyland Prof. der Philosophie zu Rotterdam, verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen: an einen Doktor der Sorbonne gerichtet, a. d. Franz. übers., u. m. Anm. u. e. Vorrede ans Licht gestellet v. Johann Christoph Gottscheden […], Hamburg 1741, 234. 53 Im sechsten Kapitel des elften Buches seines De l’esprit des lois verwendet Montesquieu die Begriffe volonté générale und volonté particulière zur Unterscheidung von Legislative und Judikative. Daraus entspringt die Idee der Verfassung, denn, so Montesquieu, solange die Judikative nicht von der Legislative getrennt ist, gibt es im Staat keine Freiheit. Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Ausw., Übers. u. Einl. v. Kurt Weigand, durchges. u. bibliogr. erg. Ausg., Stuttgart 1994, 217ff. 54 Montesquieu: Geist der Gesetze, 217. 55 Montesquieu: Geist der Gesetze, 217. 56 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, 233 (OC III, 247). 57 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, 234 (OC III, 248).



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Jean-Jacques Burlamaqui.58 Für diesen erzielt das Gesetz seine bindende Wirkung nicht durch Herrschaft oder die moralische Erziehung des Menschen, sondern weil das Gesetz – und nur das Gesetz – Ausdruck der Freiheit des Menschen ist. Freiheit bedeutet für Burlamaqui nicht, alles tun zu können, was reine Willkür sei, sondern Freiheit sei die Fähigkeit des Menschen, sich selbst Regeln geben zu können. Damit knüpft Burlamaqui an das aristotelische Menschenbild an, das Hobbes ausdrücklich verworfen hatte. Der Mensch ist für Burlamaqui nicht nur frei, es besteht auch eine Notwendigkeit zur Freiheit, soll der Mensch nicht ausschließlich seinen Trieben unterworfen bleiben.59 Freiheit meint in diesem Sinne, sich einer selbstgegebenen Regel zu unterwerfen. Verpflichtung könne nicht das Produkt äußeren Zwangs sein, sondern müsse vielmehr von jedem Mensch empfunden werden, insofern der Mensch durch sein Vernunftvermögen die moralische Qualität seines Handelns erkenne und sich von seiner Einsicht leiten lasse.60 Durch welche unbegreifliche Kunst hat man das Mittel ausfindig gemacht, die Menschen zu unterwerfen, um sie frei zu machen? Vermögen, Kräfte und selbst das Leben aller Glieder des Staates zum Dienste desselben zu verwenden, ohne sie zu zwingen und ohne sie zu Rate zu ziehen? Ihren Willen mit ihrem Einverständnis zu fesseln? Ihr Einverständnis gegen ihre Weigerung geltend zu machen, und sie zu zwingen, sich selbst zu bestrafen, wenn sie tun, was sie nicht tun wollten? Wie ist es möglich, daß sie gehorchen, und niemand befiehlt; daß sie dienen, und keinen Herrn haben? Daß sie wirklich freier sind, da bei einer scheinbaren Unterwerfung jeder nur so viel von seiner Freiheit verliert, als er den anderen damit schaden könnte? Diese Wunderdinge sind das Werk des Gesetzes. Einzig dem Gesetz haben die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit zu verdanken. Dieses heilsame Organ des gemeinsamen Willens ist es, welches die natürliche Gleichheit zwischen den Menschen im Recht wiederherstellt.61 Par quel art inconcevable a-t on pû trouver le moyen d’assujettir les hommes pour les rendre libres? d’employer au service de l’état les biens, les bras, et la vie même de tous ses membres, sans les contraindre et sans les colsulter? d’enchaîner leur volonté de leur propre aveu? de faire valoir leur consentement contre leur refus, et de les forcer à se punir eux-mêmes, quand ils font ce qu’ils n’ont pas voulu? Comment se peut-il faire qu’ils obéissent et que personne ne commande, qu’ils servent et n’ayent point de maître; d’autant plus libres en effet que sous une apparente sujétion, nul ne perd de sa liberté que ce qui peut nuire à celle d’un autre? Ces prodiges

58 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 54 (OC III, 124). 59 „Pour agir donc avec sûreté, & pour ne pas trouver du mécompte, il faut le plus souvent suspendre ses premiers mouvement, examiner les choses de plus près, faire des discernemens, des calculs, des compensations; & tout cela demandoit l’usage de la liberté. La Liberté est donc, pour parler ainsi, une faculté subsidaire, qui supplée à ce qu’il peut y avoir de défectueux dans les autres facultéz, & don’t l’office cesse aussi-tôt qu’elle les a redresses.“ Jean-Jacques Burlamaqui: Principes du Droit Naturel, nouv. éd., rev. et corr., Genève, Coppenhague 1762, 15. 60 Hier liegt auch die deutliche Differenz zu Pufendorf. Nicht Herrschaft garantiert für Burlamaqui die Selbstverpflichtung unter dem Gesetz, sondern allein die Selbstbindung des Willens aus Vernunft schafft Freiheit in Form von Gesetzgebung. Vgl. J.-J. Burlamaqui: Principes du Droit Naturel, 23. 61 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, 234–235.

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sont l’ouvrage de la loi. C’est à la loi seule que les hommes doivent la justice et la liberté. C’est cet organe salutaire de la volonté de tous, qui rétablit dans le droit l’égalite naturelle entre les hommes (OC III, 248).

Die Freiheit des politischen Körpers sei nur dann gewährleistet, wenn dieser sich selbst unter dem Gesetz konstituiere. Dass sich die volonté générale in den Grundgesetzen niederschlagen müsse, an die alle weitere Gesetzgebung gebunden bleibe, hat Rousseau freilich erst im Contrat social mit aller Deutlichkeit formuliert. Im Discours sur l’économie politique konzentriert er sich auf die Aufgaben der Regierung als der politischen Institution schlechthin. Diese müsse den „Geist des Gesetzes“ („l’esprit de la loi“)62 durch den Glauben an das Gesetz stärken. Hierin sieht Rousseau die immanente Pflicht der Exekutive. Gesetzestreue kann für ihn jedoch nur gewahrt werden, wenn die Ungleichheit im Staat nicht zu groß ist und die politische Tugend das Gemeinschaftsgefühl der Bürger stärkt. Das größte Übel ist schon geschehen, wenn man Arme hat, die man verteidigen, und Reiche, die man zurückhalten muß. Bloß im Rahmen des Mittelmaßes können die Gesetze ihre ganze Kraft ausüben; sie sind gleichermaßen ohnmächtig gegen die Schätze des Reichen wie auch gegen das Elend des Armen […]. Es ist demnach eine der wichtigsten Angelegenheiten der Regierung, der außerordentlich großen Ungleichheit der Vermögen vorzubeugen; nicht, indem sie den Besitzern ihre Schätze wegnimmt, sondern indem sie allen die Mittel entzieht, Schätze zu sammeln; nicht, indem sie Spitäler für die Armen baut, sondern indem sie die Bürger davor bewahrt, arm zu werden.63 Le plus grand mal est déjà fait, quand on a des pauvres à défendre et des riches à contenir. C’est sur la médiocrité seule que s’exerce toute la force des lois; elles sont également impuissantes contre les thrésors du riche et contre la misere du pauvre […]. C’est donc une des plus importantes affaires du gouvernement, de prévenir l’extrême inégalité des fortunes, non en enlevant les thrésors à leurs possesseurs, mais en ôtant à tous les moyens d’en accumuler, ni en bâtissant des hôpitaux pour les pauvres, mais en garantissant les citoyens de le devenir (OC III, 258).

Skizziert Rousseau den Unterschied zwischen Rechts- und Verfassungsstaat im Discours sur l’économie politique nur, so arbeitet er ihn im Contrat social weiter aus. Montesquieu hat der Demokratie die Rechtsstaatlichkeit abgesprochen, da sich in ihr die volontés générales immer neu formierten. Rousseau erklärt nun, dass diese These verfehlt sei, da sich der politische Körper selbst erst unter dem Gesetz konstituiere und folglich an dieses gebunden bleibe. Das Grundproblem, dessen Lösung Rousseau anzubieten behauptet, lautet denn auch: „,Wie findet man eine Form des Zusammenschlusses, welche die Person und die Habe jedes Mitglieds mit der ganzen gemein-

62 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, 237 (OC III, 250). 63 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, 245.



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schaftlichen Stärke verteidigt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er war?‘“64 Erst wenn individuelle und gesellschaftliche Freiheit zusammenkommen, so die vorweggenommene These, seien die Bedingungen des Rechts erfüllt und der Staat legitim. Bereits im zweiten Discours hat Rousseau seinen Begriff menschlicher Freiheit angelegt. „Der eigentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier muß also mehr in der Freiheit zu handeln liegen und nicht so sehr im Verstand“, heißt es dort. „Die Natur befiehlt einem jeden Tiere, und das Vieh gehorcht. Der Mensch fühlt denselben Drang, aber er spürt, daß er die Freiheit hat, dem Drang zu folgen oder zu widerstehen.“65 Anders als das Tier müsse sich der Mensch selbst schaffen.66 Er hat „das Vermögen, sich vollkommener zu machen“ („la faculté de se perfectionner“).67 Das verändert freilich den Blickwinkel auf die Legitimität politischer Ordnung. Nicht wie man das Recht als Zwang und den Staat als Friedensordnung rechtfertigen, sondern wie man durch sein eigenes Vernunftvermögen die moralische Qualität seiner Handlungen erkennen und sich von ihnen auch in der Gesellschaft leiten lassen könne, ist die bestimmende Frage Rousseaus.68 Der wesentliche Unterschied zu Burlamaqui besteht nun jedoch darin, dass Rousseau nicht nur das Recht als wesentliche Voraussetzung der Freiheit des Menschen und die Selbstbindung des Willens aus Vernunft deklariert, sondern dass er die moralische Verpflichtung zur Gesetzestreue nur dann gegeben sieht, wenn es sich um ein selbstgegebenes Recht handelt. Denn, so hat es schon Burlamaqui formuliert, Freiheit heißt, sich selbst einer selbstgegebenen Regel zu unterwerfen. Was Burlamaqui als individuellen Freiheitsbegriff entwickelt hat, weitet Rousseau nun auf die politische Gemeinschaft aus. Wie der Mensch sich selbst schaffe, indem er seinen eigenen Handlungen einen Rahmen setze, so schaffe sich ein Volk als moralische und politische Einheit, indem es sich selbstgegebenen Gesetzen unterwerfe. Durch die Analogie, die Rousseau zwischen individueller und kollektiver Freiheit herstellt, kann

64 Jean-Jacques Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckhart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 267–391, hier 280. „,Trouver une forme d’association qui défende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s’unis­­ sant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant?’“ (OC III, 360). 65 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 70. „La Nature commande à tout animal, et la Bête obéit. L’homme éprouve la même impression, mais il se reconnoît libre d’acquiescer, ou de resister“ (OC III, 141–142). 66 Wie Burlamaqui, von dem Rousseau die Begriffe der l’amour de soi-même und der perfectibilité übernimmt, schreibt er dem Menschen nicht nur die Fähigkeit zur Selbsterhaltung zu, sondern hebt auch seine Freiheit zur Selbstfindung und -erschaffung hervor. Vgl. auch Frederick Neuhouser: Rousseaus’s Theodicy of Self-Love. Evil, Rationality, and the Drive of Recognition, Oxford 2008, 28ff. 67 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 71 (OC III, 142). 68 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, 234–235 (OC III, 247–249).

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es eine moralische Verpflichtung des Volkes und jedes Individuums zum Gehorsam jeweils nur dann geben, wenn diese selbst die Schöpfer der Regeln sind, denen sie sich unterwerfen. Denn nur wenn diese Bedingung erfüllt sei, so Rousseau, könne jeder Einzelne als autonom gelten und für sein Handeln verantwortlich gemacht werden. Dementsprechend sieht der Gesellschaftsvertrag bei Rousseau aus: Jeder verpflichtet sich gegenüber sich selbst, die Einzelnen gegenüber allen und alle gegenüber jedem Einzelnen, durch das gemeinsam gegebene Gesetz, die Verfassung, die nicht nur die politische Gemeinschaft als solche begründet, sondern auch die individuellen Rechte ihrer Bürger schützt.69 Damit entkräftet Rousseau zugleich einen Einwand Althusius’ an der Vertragstheorie, dass man nicht an Verpflichtungen gebunden sei, die man sich selbst auferlegt habe, denn, so Rousseau, „es ist ein großer Unterschied, ob man sich gegenüber sich selbst verpflichtet oder gegenüber einem Ganzen, von dem man ein Teil ist“ („il y a bien de la différence entre s’obliger envers soi, ou envers un tout dont un fait partie“).70 Nicht mehr das Naturgesetz bewirke durch seine Verpflichtungskraft, dass die Menschen bereit seien, sich in ihrem Handeln gesetzlichen Regelungen anzupassen, sondern die moralische Verpflichtung erwachse aus der Selbstbindung des Menschen an das selbstgegebene Gesetz. Damit verzichtet Rousseau vollständig auf jeglichen Bezug zum Naturrecht oder den Willen Gottes. Dem Recht wird eine aktive moralische Qualität zugewiesen, die ausschließlich aus der Freiheit des Volkes, sich selbst als moralische Einheit zu schaffen, besteht.71 Rousseaus Gesellschaftsvertrag bezieht sich, und das macht er sehr deutlich, nur auf die Konstituierung der Gesellschaft.72 Er unterscheidet zwar zwischen Zivilgesetzgebung, Strafgesetz und den für die Erhaltung des Rechtszustandes notwendigen Sitten und Gebräuchen, doch betont er ausdrücklich, dass unter diesen verschiedenen Gesetzesformen „einzig die Staatsgesetze“ („les loix politiques“), das heißt die Verfassung, für seinen Gegenstand „von Bedeutung“ („la seule rélative“) seien.73 Wie für Burlamaqui bildet die Begründung des Verfassungsstaates den Kern seiner politischen Theorie.

69 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 294–295 (OC III, 374–375). 70 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 282 (OC III, 362). 71 Wolfgang Kersting betrachtet den Gesellschaftsvertrag als Sinnbild einer ethisch-politischen Metamorphose, durch das der Übergang vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand als „Akt der Menschwerdung schlechthin“ betrachtet werden kann. Rousseau geht es jedoch nicht um die innere Formung des Menschen. Im Mittelpunkt steht der Freiheitsbegriff im Sinne der Selbstbestimmung und Selbstherrschaft eines Volkes, das sich zugleich in einem freien Akt an seine selbst gegebenen Gesetze bindet. Vgl. Wolfgang Kersting: „Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale. Das systematische Zentrum der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus“, in ders. (Hg.): Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden 2003, 81–115, hier 87. 72 Wichtig ist daher der der Schrift vorangestellte Hinweis Rousseaus, dass es sich beim Contrat social nur um einen Teil eines größeren Werkes handele. Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 269 (OC III, 349). 73 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 314 (OC III, 394).



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Aus institutionstheoretischer Perspektive ist aber auch Emer de Vattel, ein Schüler Burlamaquis, für Rousseau prägend gewesen. Dieser schreibt 1758 in seinem Hauptwerk Le droit des gens: „Die Verfassung des Staates ist entscheidend für seine Vervollkommnung und seine Fähigkeit, die Ziele der Gemeinschaft zu erreichen.“74 Indem sich ein Volk eine Verfassung gebe, schaffe es die Grundlagen seiner Selbsterhaltung, seines Gemeinwohls und seiner Vervollkommnung. Während Zivil- und Strafgesetzgebung der Regierung überlassen werden könnten, müsse das politisch vereinte Volk, die Nation, über die Verfassung wachen: „Der Angriff auf die Verfassung, d.h. die Verletzung der Grundgesetze des Staates ist ein schweres Verbrechen gegen die Gemeinschaft.“75 Für Vattel ist es daher notwendig, dass die Nation stets in der Lage ist, „die Verfassung aufzustellen, zu schützen, zu verbessern und nach eigenem Belieben alles, was die Regierung betrifft, zu regeln, ohne daß irgendjemand sie daran hindern darf. Die Regierung ist nur für die Nation eingesetzt, im Hinblick auf ihre Wohlfahrt und ihr Glück.“76 Deshalb dürften und müssten ihre Befugnisse so weit gehen, dass die Nation – und nur die Nation – in der Lage sei, die Grundgesetze des Staates zu verändern. „Denn die Staatsverfassung muss dauerhaft sein, und da die Nation sie zuerst errichtet und alsdann die gesetzgebende Gewalt gewissen Personen anvertraut hat, sind die Grundgesetze von dem ihnen erteilten Auftrag ausgenommen.“77 Damit umreißt Vattel, worum es in der politischen Diskussion der Zeit geht: Die klare Trennung der Gewalten und eine Neudeutung der Souveränitätsfrage. Rousseau hat die Unterscheidung von Souveränität und Regierung, die bei Burlamaqui noch nicht getroffen und bei Vattel gefordert wird, bereits im Discours sur l’économie politique vorgenommen. Die Regierung sei nicht Teil der Souveränität, die allein der Nation zukomme. Im Contrat social verwirft Rousseau daher auch das Repräsentationsprinzip. Wo Bürger Repräsentanten wählen, übertragen sie ihre Souveränitätsrechte und sind nicht mehr autonom. Denn „sobald ein Volk sich Repräsentanten gibt, ist es nicht mehr frei; es ist nicht mehr“ („a l’instant qu’un Peuple se donne des Réprésentans, il n’est plus libre; il n’est plus“).78 Diese Konsequenz ergibt sich ganz plausibel aus der angesprochenen Analogie, die Rousseau zwischen individueller Freiheit und kollektiver Souveränität herstellt. So wenig der Einzelne auf einen freien Willen verzichten könne, so wenig könne ein Volk seinen Willen übertragen, ohne sich als Volk aufzugeben.79 Bemüht Hobbes den Repräsentationsgedan-

74 Emer de Vattel: Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter, übers. v. Wilhelm Euler, Tübingen 1959, 41. 75 Vattel: Völkerrecht, 42. 76 Vattel: Völkerrecht, 43. 77 Vattel: Völkerrecht, 44. 78 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 352 (OC III, 431). 79 „Die Souveränität kann nicht repräsentiert werden, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille läßt sich

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ken, um die Identität von Bürgern und Souverän als eine Fiktion darzustellen und die politische Verpflichtung als Selbstverpflichtung des Souveräns zu deuten, begreift Rousseau das Verhältnis von Bürgern und Souverän als reales Verhältnis und Identität von Herrschenden und Beherrschten. Nur in der vollständigen Wechselseitigkeit von Herrschen und Gehorchen seien die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit aller möglich. „Wenn also das Volk einfach verspricht, zu gehorchen, löst es sich durch diesen Akt selbst auf, verliert seine Eigenschaft als Volk; sobald es einen Herrn gibt, gibt es keinen Souverän mehr, und von da an ist der politische Körper vernichtet.“80 Die Republik mit einer verfassungsmäßig verankerten Volkssouveränität sei damit die einzige Staatsform, die der Gemeinwille zulasse. Das bedeutet nicht, dass Rousseau Regierungen als politische Institutionen ablehnt. Ganz im Gegenteil. Demokratie, Aristokratie, Monarchie und Mischformen sind für ihn mögliche Varianten für die Gestaltung der Exekutive.81 Doch die Grundlage des Handelns der Regierung bilde allein das Gesetz, ja bereits ihre Aufstellung und Zusammensetzung sei ein gesetzlicher Akt und kein Vertrag. Eben deshalb seien die „Träger der vollziehenden Gewalt nicht Herren, sondern Beamte des Volkes“ („les dépositaires de la puissance exécutive ne sont point les maitres du peuple mais ses officiers“), die „ihre staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen, ohne das geringste Recht zu haben, über die Bedingungen zu streiten“ („ils ne font que remplir leur devoir de Citoyens, sans avoir en aucune sorte le droit de disputer sur les conditions“).82 Dies ist für Rousseau entscheidend, insofern nur die klare Trennung zwischen Legislative und Exekutive, die die republikanische von der despotischen Herrschaft unterscheidet, Freiheit garantiert. Republik ist demnach nur derjenige Staat, in dem Volkssouveränität und eine klare rechtliche Rahmengesetzgebung der politischen Institutionen herrschen.83

4 Der institutionentheoretische Beitrag Rousseaus Es gibt in der politischen Theorie nur wenige Werke, die mit dem Contrat social in theoretischer und politischer Wirkung zu vergleichen und ähnlich kontrovers diskutiert worden sind. Grundlage der ausgedehnten Rezeption ist ein Gedanke Rousseaus, den er im Contrat social immer wieder neu formuliert: der ungebundene souveräne Wille des Volkes. Danach ist „ein Volk, wie immer die Dinge stehen mögen, stets Herr seiner

mitnichten vertreten: er ist er selbst, oder aber er ist ein anderer; einen Mittelweg gibt es nicht.“ J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 350 (OC III, 429). 80 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 288–289. „Si donc le peuple promet simplement d’obéir, il se dissout par cet acte, il perd sa qualité de peuple; à l’instant qu’il y a un maitre il n’y a plus de Souverain, et dès lors le corps politique est détruit“ (OC III, 369). 81 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 323–324 (OC III, 402–404). 82 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 355 (OC III, 434). 83 Unbestreitbar ist hier natürlich der Bezug zu Montesquieus De l’esprit des lois.



Zur Legitimation staatlicher Institutionen 

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Gesetze und berechtigt, sie zu ändern, selbst wenn es die besten wären; denn wer hat das Recht, ein Volk daran zu hindern, sich selbst zu schaden, wenn es ihm beliebt?“ („un peuple est toujours le maitre de changer ses loix, mêmes les meilleures; car s’il lui plait de se faire mal à lui-même, qui est-ce qui a droit de l’en empêcher?“)84 Ist für Hobbes der Herrschaftsvertrag die Grundlage des Gesellschaftsvertrages und kommt für ihn die Auflösung der Souveränität einem Rückfall in den Naturzustand gleich, ist für Rousseau der souveräne Wille des Volkes selbst nicht an eine bestimmte Form des Rechts gebunden, sondern entäußert sich erst in einer Verfassung. Ihm zufolge kann das Volk sich mithin jederzeit neue Formen staatlicher Gewalt geben. Es ist Sieyès, der zu Beginn der Französischen Revolution diese Aussage Rousseaus aufnimmt und entsprechend der politischen Lage neu interpretiert. Denn die Frage nach der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Verfassung bestimmte sämtliche politische Debatten seit Einberufung der Generalstände 1788.85 Im Gegensatz zu Rousseau ist der politische Wille der Nation für Sieyès freilich immer ein durch eine repräsentative Körperschaft vermittelter Wille. Die verfassungsgebende Gewalt tritt bei ihm somit stets in repräsentativer Gestalt auf. Die Nation sei zwar Schiedsrichter bei Unstimmigkeiten hinsichtlich der Verfassung, aber für die Ausübung der verfassungsgebenden Funktion selbst brauche es Repräsentativorgane, außerordentliche Stellvertreter mit Spezialmandat. Da sich eine große Nation nicht jedes Mal, wenn außerordentliche Umstände es möglicherweise erfordern, selbst versammeln könne, müsse sie die in solchen Fällen notwendigen Vollmachten außerordentlichen Stellvertretern anvertrauen. An die Stelle der Versammlung dieser Nation trete die Körperschaft der außerordentlichen Stellvertreter. Diese vertrete „die Nation in ihrer Unabhängigkeit von allen Verfassungsformen“.86 Für Sieyès ist ein Machtmissbrauch nahezu ausgeschlossen, sind jene Stellvertreter doch nur, ähnlich wie bei Rousseau der Gesetzgeber, für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit zuständig. Was Sieyès in seiner Schrift Qu’est-ce que le Tiers-État grundlegend von Rousseau unterscheidet, ist seine Deutung des Volkskörpers als eigenständige politische Größe unabhängig von der geltenden Verfassung. Rousseau hat jedoch sehr klar formuliert, dass das Volk nicht getrennt von seiner rechtlichen Konstitution betrachtet werden könne. Erst unter einer Verfassung werde das Volk

84 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 313 (OC III, 394). 85 Siehe dazu Skadi Krause: Die souveräne Nation. Zur Delegitimation monarchischer Herrschaft in Frankreich 1788–1789, Berlin 2008. 86 Die vollständige Passage lautet wie folgt: „An die Stelle der Versammlung dieser Nation tritt nun die Körperschaft der außerordentlichen Stellvertreter. Sie bedarf zwar nicht einer umfassenden Voll­ macht des Nationalwillens, sondern nur einer besonderen Vollmacht, und auch dies nur in seltenen Fällen; aber sie vertritt die Nation in ihrer Unabhängigkeit von allen Verfassungsformen.“ Emmanuel Joseph Sieyès: „Was ist der Dritte Stand?“, in ders.: Politische Schriften 1788–1790, m. Glossar u. krit. Sieyès-Bibliogr., übers. u. hg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 1981, 117–195, hier 170 (Hervorh. i. Orig., Skadi Krause).

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zu einer moralischen Größe und zur politischen Nation. Sieyès hat dies in seinem Preliminaire de la Constitution von 1789, als es darum ging, die Rechtskräftigkeit der Verfassung zu behaupten, selbst eingeräumt. Hier formuliert er, dass die Souveränität ausschließlich „durch die Verfassung begründet“ werde. Als Nation gelte „das Ganze der verbundenen Glieder, die alle vom Gesetz, dem Werk ihres Willens, regiert werden und ihm unterworfen sind“.87 Erst durch die Verfassung als Ausdruck des Allgemeinwillens konstituiere sich die Nation als politische Gemeinschaft, die die nationale Souveränität gleichermaßen legitimiere wie begründe. Dementsprechend bilden auch die Regierenden in Sieyès’ Augen nunmehr „eine von der Gesellschaft geschaffene politische Körperschaft“,88 die durch die Verfassung definiert und begrenzt werden müsse. Das heißt die Ausübung der Souveränitätsrechte der Nation sei selbst wiederum an die Verfassung gebunden. Indem Sieyès die Nation an die Verfassung bindet, insofern für ihn die Nation erst durch ihre Verfassung als souveräne Macht begründet und begrenzt wird, spricht er ihr den naturrechtlichen Status, den er ihr in seinem Traktat Qu’est ce-que le Tiers-État? noch gegeben hatte, ab. Die Nation steht damit nicht mehr über der Verfassung, vielmehr ist die Verfassung Ausdruck der Formierung der Nation und ihres nationalen Willens. Das Volk als Souverän ist folglich erst durch die Verfassung eine organisierte Einheit. Die Nation kann sich nach Sieyès deshalb auch nicht mehr jederzeit eine neue Verfassung geben, sondern das Recht zur Verfassungsänderung muss durch die Verfassung selbst geschaffen und geregelt werden. Dies entspricht auch Rousseaus Begriff der Volkssouveränität, der Souveränität und Legitimität aufs engste miteinander verbindet. Heute ist die Begründung des Verfassungsstaates nur eine Facette der revolutionären Ideen Rousseaus. Die Entdeckung der Gesellschaft und ihrer Institutionen als eigener Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, vor allem aber die Erarbeitung eines wissenschaftlichen Vokabulars zur Beschreibung des Unterschiedes von Gesellschaft und Staat (Gemeinwille, Gemeinwohl, Sitten und Bräuche, Grundgesetz, Bürger etc.) sind aus heutiger Sicht nicht weniger bedeutsam. Sie zeigen, dass Rousseau weder der Verfechter einer utopischen Direktdemokratie ist, noch sich in die bis heute gängige Unterscheidung zwischen direkter und repräsentativer Demokratie problemlos einordnen lässt. Rousseau unterscheidet vielmehr sehr genau zwischen der Repräsentierbarkeit von Macht und einer Nichtdelegierbarkeit des Gemeinwillens, der seinen Ausdruck lediglich in der Verfassung findet. Gerade dies macht aber Rousseau zu einem Vordenker moderner Demokratie.

87 „La Nation est l’ensemble des associés, tous gouvernés, tous soumis à la Loi ouvrage de leurs volontés, tous égaux en droits, & libres dans leur communication & dans leurs engagements respec­ tifs.“ Emmanuel Joseph Sieyès: Préliminaire de la Constitution Françoise. Reconnoissance et Exposition raisonnée. Des Droits de l’Homme & du Citoyen, [o. O.] 1789, 34 (dt. v. Skadi Krause). 88 „Les Gouvernans, au contraire, forment, sous ce seul rapport, un Corps politique de création so­ ciale.“ Sieyès: Préliminaire, 34–35 (dt. v. Skadi Krause).

Tanguy L’Aminot

Rousseau gegen den Staat In seiner zweiten Lettre à Malesherbes, vom Januar 1762, beschreibt Rousseau auf legendäre Weise die Eingebung, die ihm auf dem Weg nach Vincennes gekommen sei: Ach, mein Herr, wenn ich jemals den vierten Teil alles dessen, was ich unter diesem Baume gesehen und empfunden habe, hätte niederschreiben können, mit welcher Deutlichkeit hätte ich alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems gezeigt, mit welcher Kraft hätte ich alle Mißbräuche unserer Einrichtungen dargestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur gut ist, und daß es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden. Alles, was ich von dieser großen Menge Wahrheiten behalten habe, die mich eine Viertelstunde unter diesem Baum erleuchteten, ist sehr schwach in meinen Hauptschriften verstreut erschienen, nämlich in jener ersten Abhandlung, in der über die Ungleichheit und dem Traktat von der Erziehung, welche drei Schriften unzertrennlich sind und zusammen ein einziges Ganzes bilden. Alles übrige ist verloren gegangen, und an dem Orte selbst wurde nichts niedergeschrieben als die Prosopopöie des Fabricius.1 Oh Monsieur si j’avois jamais pû ecrire le quart de ce que j’ai vû et senti sous cet arbre, avec quelle clarté j’aurois fait voir toutes les contradictions du systeme social, avec quelle force j’aurois exposé tous les abus de nos institutions, avec quelle simplicité j’aurois démontré que l’homme est bon naturellement et que c’est par ces institutions seules que les hommes deviennent méchans. Tout ce que j’ai pu retenir de ces foules de grandes vérités qui dans un quart d’heure m’illuminerent sous cet arbre, a eté bien foiblement epars dans les trois principaux de mes ecrits, savoir ce premier discours, celui sur l’inegalité, et le traité de l’education, lesquels trois ouvrages sont inseparables et forment ensemble un meme tout. Tout le reste a été perdu, et il n’y eut d’ecrit sur le lieu meme que la prosopopée de Fabricius.2

Noch bekannter als diese Version vom Ursprung seines politischen Denkens ist eine andere, spätere Passage aus den Confessions, die im Zusammenhang mit Rousseaus Erfahrungen in Venedig steht. Vergleicht man diese beiden Darstellungen, fällt jedoch auf, dass sie sich im Hinblick auf die Bewertung der Institutionen fundamental voneinander unterscheiden. Während die Institutionen im Brief an Malesherbes wegen ihres verderblichen Einflusses auf den Einzelnen kritisiert werden, vermittelt der betreffende Ausschnitt aus den Confessions ein weitaus positiveres Bild. Die Institutionen erscheinen hier in einem milden Licht – und zwar nicht zuletzt aufgrund der Fragen, die sie zu stellen erlauben:

1 Jean-Jacques Rousseau: „Vier Briefe an Malesherbes“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, München, Wien 1978, 483. 2 Jean-Jacques Rousseau: „Quatre Lettres à M. le Président de Malesherbes“, in Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome I, Paris 1959, 1130–1147, hier 1135–1136. Alle Originalverweise auf Rousseaus Werk beziehen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf diese Edition (V tomes, Paris 1959–1969). Sie wird im Folgenden mit dem Sigel OC abgekürzt.

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Ich hatte gesehen, daß alles völlig von der Staatskunst abhing und daß jegliches Volk, wie man es auch anstellen wollte, niemals etwas anderes sein würde als das, wozu die Natur seiner Regierung es machte, und so schien sich mir dann jene große Frage nach der besten Staatsform auf den Satz zu beschränken: wie muß die Regierung beschaffen sein, die geeignet ist, das tugendhafteste, erleuchtetste, weiseste, kurz, das im weitesten Sinne des Wortes beste Volk zu bilden? Ich hatte zu entdecken geglaubt, daß diese Frage ziemlich nahe jener anderen, wenn auch völlig von ihr verschiedenen stände: welches ist die Regierungsform, die ihrem Wesen nach dem Gesetz stets am nächsten kommt? Daraus entstand dann die Frage, was denn das Gesetz sei, und hieraus wiederum viele andere von gleicher Wichtigkeit.3 J’avois vu que tout tenoit radicalement à la politique, et que, de quelque façon qu’on s’y prit, aucun peuple ne seroit jamais que ce que la nature de son Gouvernement le feroit être; ainsi cette grande question du meilleur Gouvernement possible me paroissoit se reduire à celle-ci. Quelle est la nature de Gouvernement propre à former un Peuple le plus vertueux, le plus éclairé, le plus sage, le meilleur enfin à prendre ce mot dans son plus grand sens. J’avois cru voir que cette question tenoit de bien près à cette autre-ci, si même elle en étoit différente. Quel est le Gouvernement qui par sa nature se tient toujours le plus près de la loi? De là, qu’est-ce que la loi? et une chaîne de questions de cette importance (OC I, 404–405).

Leser von Rousseaus Contrat social neigen oftmals dazu, allein diese letztere, positive Bewertung der Institutionen zu betonen und die dezidiert negative Darstellung, wie sie sich zum Beispiel in der zuerst zitierten Textstelle findet, zu verdrängen. Rousseau gilt ihnen als Philosoph des Staates, als Denker von Recht und Gesetz, oder als Verfechter einer politischen Ordnung traditionellen Schlags. Selbst ein so prominenter Vertreter des Anarchismus wie Michail Bakunin sagt im Grunde nichts anderes, wenn er Rousseau vorwirft, den modernen Staatsdespotismus begründet zu haben. Nun wird man einwenden, und dies nicht ganz zu Unrecht, dass Rousseau im ersten Fall von den ‚realen‘ Institutionen spricht, während er im zweiten die Frage nach der besten aller ‚möglichen‘ Regierungen stellt. Diese Unterscheidung absolut zu setzen hieße allerdings zu vergessen, dass Rousseaus Ansichten über die Letzteren ganz wesentlich auf seinen Beobachtungen bezüglich der Ersteren fußen. Rousseau wird nicht müde, in seinen Schriften die existierenden Regierungen in schwärzesten Farben zu malen; und wenn er dann – in seiner Eigenschaft als Philosoph – darüber nachsinnt, wie eine legitime und humane Einrichtung des Gemeinwesens aussehen könnte, hat er immer auch die aktuelle Lage vor Augen; er bekundet seine Skepsis gegenüber dem Verhalten der Regierenden ganz explizit, wenn er sich etwa mit Fragen der Repräsentation oder der Korruption beschäftigt. Für Rousseau gilt also: Was auch immer die Menschen unternehmen mögen, selbst die besten Institutionen verderben, und es gibt grundsätzlich keine Regierung ohne Fehl und Tadel. Ich werde im Folgenden zunächst eine Auswahl von Textstellen präsentieren, die Rousseaus negative Einschätzung der Regierungen belegen und die zeigen, wie

3 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, m. e. Einf. v. Werner Krauss, übertr. v. Ernst Hardt, 7. Aufl., Leipzig 1971, 566–567.



Rousseau gegen den Staat 

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sehr der Staat in seinen Augen dem Individuum abträglich ist. Danach möchte ich darlegen, dass selbst der Contrat social nicht das staatstheoretische Werk ist, für das es gerne gehalten wird, sondern ein Buch, das seine Leser vor den unvermeidbaren Gefahren und Ausartungen politischer Institutionen warnen möchte. Diese Lesart werden wir schließlich im Émile bestätigt finden. Denn auch dieser Text zielt nicht darauf ab, wie man so häufig hört (und zumal heute, wo es wieder in Mode ist, die Auflösung sozialer Bindungen zu beklagen und Herdenmoral und Unterwerfung unter die Obrigkeit zu predigen), eine Erziehung zur Geselligkeit und zum Staatsbürger zu vermitteln. Vielmehr geht es darum, Wege aufzuzeigen, wie der Einzelne in einer mehr oder weniger übergriffigen Gesellschaft bestehen und wie es ihm gelingen kann, sich vor dem Staat und dem ganzen Apparat von Bürokraten und Technokraten, von kleinen und großen Befehlshabern, der damit einhergeht, zu schützen.

1 Rousseau gegen den Staat Bereits im Discours sur les sciences et les arts aus dem Jahr 1750 beschreibt Rousseau das volle Ausmaß der unheilvollen Allianz, welche die Mächtigen mit den Künstlern und Wissenschaftlern geschlossen haben, um die Menschen zu unterdrücken: Wie der Körper hat auch der Geist seine Bedürfnisse. Jene bilden die Grundlage der Gesellschaft, diese machen ihre Annehmlichkeit aus. Während die Regierungen und die Gesetze für die Sicherheit und das Wohlergehen der zusammenwohnenden Menschen sorgen, breiten die weniger despotischen und vielleicht mächtigeren Wissenschaften, Schriften und Künste Blumengirlanden über die Eisenketten, die sie beschweren. Sie ersticken in ihnen das Gefühl jener ursprünglichen Freiheit, für die sie geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Knechtschaft lieben und machen aus ihnen, was man zivilisierte Völker nennt. Das Bedürfnis errichtete die Throne, die Wissenschaften und Künste haben sie befestigt. Mächte der Erde, liebt die Talente und fördert die, welche sie pflegen. Gebildete Völker, pflegt sie! Glückliche Sklaven, ihr verdankt ihnen den zarten und verfeinerten Geschmack, auf den ihr aus seid: jene Geschmeidigkeit des Charakters und jene Weltgewandtheit der Umgangsformen, die bei euch den Verkehr so verbindlich und gewandt machen – kurzum: den Anschein aller Tugenden, ohne eine davon zu besitzen.4 L’esprit a ses besoins, ainsi que le corps. Ceux-ci font les fondemens de la société, les autres en font l’agrément. Tandis que le Gouvernement et les Loix pourvoient à la sûreté et au bien-être des hommes assemblés; les Sciences, les Lettres, et les Arts, moins despotiques et plus puissans peut-être, étendent des guirlandes de fleurs sur les chaînes de fer dont ils sont chargés, étouffent en eux le sentiment de cette liberté originelle pour laquelle ils sembloient être nés, leur font aimer leur esclavage et en forment ce qu’on appelle des Peuples policés. Le besoin éleva les Trônes; les Sciences et les Arts les ont affermis. Puissances de la Terre, aimez les talens, et pro-

4 Jean-Jacques Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, in ders.: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Franzö­ sisch – Deutsch, eingel., übers. u. hg. v. Kurt Weigand, 5. Aufl., Hamburg 1995, 1–59, hier 7, 9.

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tégez ceux qui les cultivent. Peuples policés, cultivez-les: Heureux esclaves, vous leur devez ce goût délicat et fin dont vous vous piquez; cette douceur de caractere et cette urbanité de mœurs qui rendent parmi vous le commerce si liant et si facile; en un mot, les apparences de toutes les vertus sans en avoir aucune (OC III, 6–7).

In der Anmerkung ,a‘, die nach dem Wort „pflegen“ („cultivent“) eingefügt ist, wird Rousseau sogar noch deutlicher: Die Fürsten sehen stets mit Vergnügen, wie sich der Sinn für die geselligen Künste und das Überflüssige, aus denen sich kein Kapitalexport ergibt, unter ihren Untertanen ausbreiten. Denn sie wissen sehr wohl – abgesehen davon, daß sie in ihnen jene zur Untertänigkeit so passende Kleinheit der Seele nähren – daß alle Bedürfnisse, an die das Volk sich gewöhnt, ebensoviel Ketten sind, mit denen es sich belädt. Alexander wollte die Ichthyophagen in Abhängigkeit von sich halten und zwang sie, dem Fischfang zu entsagen und sich von denselben Nahrungsmitteln wie die anderen Völker zu ernähren. Die amerikanischen Wilden, die nackt umherlaufen und nur von den Produkten ihrer Jagd leben, konnten niemals gebändigt werden. In der Tat, welches Joch soll man Menschen auferlegen, die nichts nötig haben?5 Les Princes voyent toujours avec plaisir le gout des Arts agréables et des superfluités dont l’exportation de l’argent ne resulte pas, s’étendre parmi leurs sujets. Car outre qu’ils les nourrissent ainsi dans cette petitesse d’âme si propre à la servitude, ils savent très-bien que tous les besoins que le Peuple se donne, sont autant de chaînes dont il se charge. Alexandre, voulant maintenir les Ichtyophages dans sa dépendance, les contraignit de renoncer à la pêche et de se nourrir des alimens communs aux autres Peuples; et les Sauvages de l’Amérique, qui vont tout nuds et qui ne vivent que du produit de leur chasse, n’ont jamais pu être domptés. En effet, quel joug imposeroit-on à des hommes qui n’ont besoin de rien (OC III, 7)?

Die Herrscher lassen also nichts unversucht, um ihre Untertanen zu versklaven; und hier taucht bereits der Verweis auf die wilden Völker auf, die für Rousseau den Maßstab bilden, an dem sich der Grad der Unterwerfung und der Entfremdung der sogenannten zivilisierten Völker ablesen lässt. Anmerkung ‚c‘ desselben Textes bestätigt diesen Befund; sie zeigt, dass die natürliche Lebensform dieser Völker sogar das von Platon konzipierte Gemeinwesen in den Schatten zu stellen vermag: Ich wage nicht von jenen glücklichen Nationen zu sprechen, die nicht einmal dem Namen nach die Laster kennen, die wir mit so viel Mühe unterdrücken: von jenen Wilden Amerikas, deren einfache und natürliche Ordnung Montaigne nicht zögert, nicht allein den Gesetzen Platons vorzuziehen, sondern auch allem, was sich die Philosophie Vollkommeneres über die Regierung der Völker vorzustellen vermöchte. Er zitiert darüber eine Anzahl erstaunlicher Beispiele, für die, welche sie zu bewundern wissen. „Wie das“, sagt er, „sie tragen keine Kniehosen“.6 Je n’ose parler de ces Nations heureuses qui ne connoissent pas même de nom les vices que nous avons tant de peine à réprimer, de ces sauvages de l’Amérique dont Montagne ne balance point

5 J.-J. Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, 9. 6 J.-J. Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, 19.



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à préférer la simple et naturelle police, non-seulement aux Loix de Platon, mais même à tout ce que la Philosophie pourra jamais imaginer de plus parfait pour le gouvernement des Peuples. Il en cite quantité d’exemples frappans pour qui les sauroit admirer: Mais quoi! Dit-il, ils ne portent point de chausses (OC III, 11–12)!

Der Discours sur l’inégalité ist nicht weniger pessimistisch, was die Funktion des Staates und die Qualität des Regierungshandelns angeht. In diesem Text, der die Entstehung der modernen Gesellschaften nachzeichnet, schildert Rousseau, wie die große Mehrheit der Menschen durch die Habgier einiger Weniger um alles gebracht wurde, und er benennt auch die Mittäterschaft der Intellektuellen an dieser Usurpation. Er beschreibt die Verwerfungen, die mit jener unrechtmäßigen Machtergreifung einhergehen und die in einen Despotismus von der schlimmsten Sorte münden, also in das, was Rousseau als „neuen Naturzustand“ („nouvel Etat de Nature“) bezeichnet,7 und der im Grunde nichts anderes ist als das Ergebnis eines Übermaßes an Korruption. Die Ordnung des falschen Gesellschaftsvertrags, so wie sie existiert hat und immer noch existiert, dient allein den Reichen und Mächtigen: „Die Gesetze und die Ausübung der Gerechtigkeit sind bei uns nur die Kunst, dem Großen und dem Reichen Schutz vor den gerechten Vergeltungsakten des Armen zu gewähren.“8 In einem Fragment, das vermutlich im Jahr 1753, also zwischen den beiden Discours entstanden ist, äußert sich Rousseau unmissverständlich über die Regierungen: Hört, wie unsere Regierenden räsonieren. Sie haben die Verteidigung und den Vorteil des Volkes im Blick, doch betrachtet man ihre Handlungen, so arbeiten sie nur an dessen Unterdrückung. Wer, so sagen sie, verteidigt die Schwachen, wenn sie nicht vom Souverän beschützt werden, dabei ist es der Souverän selbst, vor dem das Volk geschützt werden muss. Wer beschützt sie vor den Angriffen ihrer Feinde, aber kein Feind hat ihnen so viel Böses getan, wie er selbst. Sie sagen sie wachen über das Rechtswesen und handeln selbst in Unrecht, Gewalt und Grausamkeit. Sie tun, als würden sie uns davor beschützen Schlimmes zu tun und halten uns in Wirklichkeit davon ab, Gutes zu vollbringen. Um Frieden sicherzustellen, versetzen sie ihre Untertanen in einen permanenten Kriegszustand und zerstören jene, indem sie vorgeben sie zu beschützen. Ich rate ihnen, sich dieser lächerlichen Maximen nicht mehr zu bedienen, mit denen sie meinen, das Volk in Dummheit zu wiegen. Die Zeit, in der es sich davon blenden ließ, liegt lang zurück. Alle Untertanen erzittern vor der kleinsten Deklaration des Fürsten zu ihren Gunsten und glauben den Untergang nahe, wenn er davon spricht, ihnen etwas Gutes zu wollen.

7  Jean-Jacques Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“, in ders.: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Französisch – Deutsch, eingel., übers. u. hg. v. Kurt Weigand, 5. Aufl., Hamburg 1995, 61–269, hier 261 (OC III, 191). 8 Jean-Jacques Rousseau: „Politische Fragmente“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 507–599, hier 532. „Les Loix et l’exercice de la justice ne sont parmi nous que l’art de mettre le Grand et le riche à l’abri des justes réprésailles du pauvre“ (OC III, 496).

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Ecoutés raisonner nos Politiques. Ils n’ont en vüe que la défense et l’avantage des peuples voyezles agir ils ne travaillent qu’à leur oppression. Qui défendroit disent-ils les foibles s’ils n’étoient protégés par le souverain; et c’est contre le souverain seul qu’ils ont besoin de protection. Qui garantiroit les peuples de l’invasion des ennemis, et quel ennemi leur a jamais tant fait de mal que leur maître: Ils font disent-ils observer la justice et toutte leur conduitte n’est qu’injustice violence et cruauté. Ils font semblant de nous defendre de mal faire et nous empêchent reellement de faire le bien. pour maintenir la paix entre leurs sujets, ils leur font une guerre continuelle et les détruisent à force de les protéger. Je leur conseille de ne plus se servir de touttes ces maximes ridicules dont ils croient bercer la bêtise des peuples. Il y a longtemps que personne n’en est la dupe; Tous les sujets tremblent à la moindre déclaration du Prince en leur faveur, et ils se sentent perdus aussi tôt qu’il parle de leur faire quelque bien.9

In einem weiteren Text, der auf das Jahr 1756 datiert wird, konfrontiert Rousseau die hehren Konzeptionen der Philosophen und Wissenschaftler mit den Verhältnissen der Realität. Diese könnten schwärzer kaum sein; die Regierungen seien Ausdruck einer Herrschaft der Starken und Reichen: Da schlage ich die Rechtsbücher und die Moraltraktate auf, ich lausche den Gelehrten und den Juristen, und tief berührt von ihren beredten Abhandlungen beklage ich das Elend der Natur, bewundere den Frieden und die Gerechtigkeit, die die bürgerliche Ordnung stiftet, segne die Weisheit der öffentlichen Institutionen und tröste mich, ein Mensch zu sein, weil ich ein Bürger bin. Dann schließe ich, wohlunterrichtet über meine Pflichten und mein Glück, die Bücher, verlasse die Schulstube und schaue um mich; da sehe ich unglückliche Völker, die seufzen unter eisernem Joch, das Menschengeschlecht zermalmt von einer Handvoll Unterdrücker, eine darbende Masse, von Schmerz und Hunger überwältigt, deren Blut und Tränen der Reiche in Frieden trinkt, und überall sehe ich den Starken gewappnet gegen den Schwachen mit der furchtbaren Macht der Gesetze.10 J’ouvre les livres de droit et de morale, j’écoute les savans et les jurisconsultes et pénétré de leurs discours insinuans, je déplore les misères de la nature, j’admire la paix et la justice établies par l’ordre civil, je bénis la sagesse des institutions publiques et me console d’être homme en me voyant citoyen. Bien instruit de mes devoirs et de mon bonheur, je ferme le livre, sors de la classe, et regarde autour de moi; je vois des peuples infortunés gémissans sous un joug de fer, le genre humain ecrasé par une poignée d’oppresseurs, une foule affamée, accablée de peine et de faim, dont le riche boit en paix le sang et les larmes, et partout le fort armé contre le foible du redoutable pouvoir des loix (OC III, 608–609).11

9  Jean-Jacques Rousseau: „Fragment sur la liberté“, in Jean-Jacques entre Socrate et Caton. Textes inédits de J.-J. Rousseau (1750–1753), éd. Claude Pichois et René Pintard, Paris 1972, 41–47, hier 43–44 (dt. v. Konstanze Baron). 10 Jean-Jacques Rousseau: „Vom Kriege“, in ders.: Sozialphilosophische und politische Schriften, in Erstübertr. v. Eckhart Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch, Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 405–418, hier 414–415. 11 In ihrer Ausgabe der Schrift über den Kriegszustand stellen Silvestrini und Bachofen diesen Ab­ satz an den Anfang des Textes und verleihen ihm somit zusätzliches Gewicht.



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Die Macht verdirbt diejenigen, die sie innehaben, und lässt sie unmenschlich werden. Über die Herrscher, die ihre Macht doch eigentlich als eine ebenso lästige wie verantwortungsvolle Pflicht empfinden müssten, heißt es bei Rousseau: Aber weit davon entfernt, ihre Macht in Hinsicht auf die mit ihr verbundenen Beschwerlichkeiten und Pflichten zu betrachten, winkt ihnen dabei lediglich die Lust am Befehlen, und da das Volk in ihren Augen nur das Werkzeug ihrer Launen ist, wächst das Bedürfnis zur Usurpation in dem Maße, wie sie Launen zu genügen haben. Und je beschränkter sie sind und je weniger sie verstehen, umso größer und an Autorität mächtiger wollen sie sein.12 Mais loin d’envisager leur pouvoir par ce qu’il a de pénible et d’obligatoire, ils n’y voyent que le plaisir de commander, et comme le Peuple n’est à leurs yeux que l’instrument de leurs fantaisies, plus ils ont de fantaisies à contenter, plus le besoin d’usurper augmente; et plus ils sont bornés et petits d’entendement, plus ils veulent être grands et puissans en autorité (OC III, 617).

Natürlich ist sich Rousseau des Anteils bewusst, den die Individuen selbst an ihrer Versklavung durch eine Minderheit von Reichen und Mächtigen haben. Das Volk ist nicht ganz unschuldig an seiner Unterdrückung; aber man hat es mit einem starken Gegner zu tun, der auch von List und Tücke Gebrauch macht, und dabei bisweilen sogar von den Philosophen unterstützt wird, die ihm Autorität verleihen. Rousseau setzt seine Schilderung der Machtergreifung fort und betont: „All das geschieht friedlich und ohne Widerstand; das ist die Ruhe der Gefährten des Odysseus, die in der Höhle des Kyklopen eingesperrt sind und darauf warten, daß sie verschlungen werden. Man muß seufzen und den Mund halten.“13 Robert Derathé merkt in seinem Kommentar zu dieser Stelle an, dass Rousseau sich bereits in seinen frühen Schriften zum „Anwalt des Naturzustandes gegen die Apologeten der Zivilisation“ gemacht habe. Doch im Contrat social sei seine Haltung nunmehr eine andere: „Er ergreift die Partei der Zivilisation, und bezieht sich direkt auf Hobbes’ De Cive, wenn er im 8. Kapitel des I. Buches die berühmte Rechnung aufmacht: ‚Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt‘.“14 Dabei übersieht Derathé jedoch, dass Rousseau hier gar nicht über den Naturzustand der wilden Völker spricht, wie im ersten Teil des zweiten Discours, sondern über den der zivilisierten Völker, die unter dem Joch ihrer

12 Jean-Jacques Rousseau: „Polysynodie des Abbé Saint-Pierre“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 67– 85, hier 67. 13  J.-J. Rousseau: „Vom Kriege“, 415. „Tout cela se fait paisiblement et sans résistance; c’est la tran­ quillité des compagnons d’Ulysse enfermés dans la caverne du Ciclope, en attendant qu’ils soient dévorés. Il faut gémir et se taire“ (OC III, 609). 14 Robert Derathé: J.-J. Rousseau et la science politique de son temps, Paris 1970, 313 (dt. v. Konstanze Baron).

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Tyrannen stehen. Der Tenor von Rous­seaus Aussage ist immer derselbe, im Discours sur l’inégalité wie in dem Ausschnitt aus L’état de guerre und im Contrat social: Die Regierungen der schlecht geordneten und ungerechten Gesellschaften unterdrücken die Menschen, denen sie eigentlich dienen sollten. In seinem gesamten Werk ergreift Rousseau resolut die Partei der Armen und kritisiert die Reichen, die die Macht an sich reißen und Gesetze schaffen, die ausschließlich ihrem eigenen Vorteil dienen. Nun fehlt es nicht an Kommentatoren, die uns einreden wollen, Rousseau habe nie zur Revolution aufrufen wollen, habe immer Unterwerfung gepredigt, politische Aufstände verurteilt und noch das krasseste Unrecht einer jeden Form von Aufbegehren vorgezogen. Zum Beweis stützen sie sich auf einige – wenige – Stellen seiner Briefe, und zwar immer dieselben, die in der Tat resignative Züge aufweisen. Aber Rousseau hat, wie Yves Vargas richtig bemerkt, immer Völker wie zum Beispiel die Polen oder die Korsen unterstützt, die ihre Tyrannen loswerden wollten. Schließlich hat er auch im Contrat social den Aufstand mit folgenden Worten gerechtfertigt: Wenn ich nur die Stärke betrachtete und die Wirkung die sie hervorbringt, würde ich sagen: Solange ein Volk zu gehorchen gezwungen ist und gehorcht, tut es gut daran; sobald es das Joch abschütteln kann und es abschüttelt, tut es noch besser; denn da es seine Freiheit durch dasselbe Recht wiedererlangt, das sie ihm geraubt hat, ist es entweder berechtigt, sie sich zurückzuholen, oder man hatte keinerlei Recht, sie ihm wegzunehmen.15 Si je ne considérois que la force, et l’effet qui en dérive, je dirois; tant qu’un Peuple est contraint d’obéir et qu’il obéit, il fait bien; sitôt qu’il peut secoüer le joug et qu’il le secoüe, il fait encore mieux; car, recouvrant sa liberté par le même droit qui la lui a ravie, ou il est fondé à la reprendre, ou l’on ne l’étoit point à la lui ôter (OC III, 351–352).

Schon im zweiten Discours konnte man lesen, dass „der Despot nur solange Herr ist, wie er der Stärkste ist. Sobald man ihn vertreiben kann, darf er sich nicht über die Gewalt beklagen“ („que le Despote n’est le Maître qu’aussi longtems qu’il est le plus fort, et que sitôt qu’on peut l’expulser, il n’a point à réclamer contre la violence“).16 Und nicht immer begnügt sich Rousseau damit, bloß die Vertreibung der Tyrannen ins Auge zu fassen, wie man folgender Passage aus L’état de guerre entnehmen kann: „Da die Lakedämonier die Heloten töteten, kann es keinen Zweifel darüber geben, daß die Heloten ihrerseits das Recht hatten, die Lakedämonier zu töten.“17 Der Kriegsfall, so wie ihn Rousseau in diesem Text schildert, setzt nicht unbedingt einen externen Gegner voraus, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit eines Bürgerkriegs – Kampf

15  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusam­ menarb. m. Eva Pietzcker neu übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2011, 6. 16 J.-J. Rousseau: „Über die Ungleichheit“, 263 (OC III, 191). 17  J.-J. Rousseau: „Vom Kriege“, 414. „Il n’est pas douteux que, puisque les Lacédémoniens tuoient les ilotes, les ilotes ne fussent en droit de tuer les Lacédémoniens“ (OC III, 608).



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der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Reichen gegen die Armen, oder auch des Volkes gegen seinen Herrscher, wenn dieser seine Befugnisse überschreitet. Rousseau betont auch, dass Arme und Reiche ihre Verluste nicht gleich gut verkraften, und dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit Merkmale von Gesellschaftsordnungen sind, in denen Letztere das Sagen haben. In diesem Punkt wird er sehr deutlich, etwa im Discours sur l’économie politique, wo er noch einmal auf den falschen Gesellschaftsvertrag zu sprechen kommt, der Gesellschaften wie die des 18. Jahrhunderts oder eben auch wie die unsere prägt: Nicht weniger Beachtung ist der Tatsache zu schenken, daß die Verluste der Armen viel weniger auszugleichen sind als die des Reichen […]. Von nichts kommt nichts; das gilt für die Geschäfte wie für die Physik: Geld ist die Saat des Geldes, und die erste Pistole ist manchmal schwerer zu verdienen als die zweite Million. Mehr noch: alles, was der Arme bezahlt, ist ihm für immer verloren, bleibt in den Händen des Reichen oder kehrt dorthin zurück; und da die Steuereinnahmen früher oder später allein zu den Männern fließen, die an der Regierung teilhaben oder ihr nahe stehen, haben diese, selbst wenn sie ihren Anteil bezahlen, ein spürbares Interesse daran, die Steuern zu erhöhen. Resümieren wir in wenigen Worten den Gesellschaftsvertrag der beiden Stände: Ihr braucht mich, denn ich bin reich, und ihr seid arm; treffen wir also ein Abkommen: Ich werde gestatten, dass ihr die Ehre habt, mir zu dienen, vorausgesetzt, ihr gebt mir das wenige, das euch bleibt, für die Mühe, die ich aufwende, euch zu befehlen.18 Une autre attention non moins importante à faire, c’est que les pertes des pauvres sont beaucoup moins réparables que celle du riche […]. On ne fait rien avec rien; cela est vrai dans les affaires comme en Physique: l’argent est la semence de l’argent, et la premiere pistole est quelquefois plus difficile à gagner que le second million. Il y a plus encore: c’est que tout ce que le pauvre paye, est à jamais perdu pour lui, et reste ou revient dans les mains du riche; et comme c’est aux seuls hommes qui ont part au gouvernement, ou à ceux qui en approchent, que passe tôt ou tard le produit des impôts, ils ont, même en payant leur contingent, un intérêt sensible à les augmenter. Résumons en quatre mots le pacte social des deux états: Vous avez besoin de moi, car je suis riche et vous êtes pauvre; faisons donc un accord entre nous: je permettrai que vous ayez l’honneur de me servir, à condition que vous me donnerez le peu qui vous reste, pour la peine que je prendrai de vous commander (OC III, 272–273).

Karl Marx wird im Kapital genau die kursivierte Passage aus dem zweiten Discours aufnehmen, um sie für seine Zwecke zu nutzen und die bürgerliche Herrschaftsordnung zu kritisieren, in dem er hinter das „ich werde gestatten“ ein „sagt der Kapitalist“ einfügt.19

18 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 333–377, hier 370–371. 19 Karl Marx: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, in: ders./Friedrich Engels: Gesamtaus­ gabe, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und vom Institut für Marxismus

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Rousseau hatte allerdings auch geschrieben, und zwar im Émile: Der Reiche hat keinen größeren Magen als der Arme; er verdaut auch nicht besser. Der Herr hat keinen längeren und stärkeren Arm als der Knecht. Ein Mächtiger ist nicht größer als ein Mann aus dem Volk. Die natürlichen Bedürfnisse sind überall die gleichen. Die Mittel, sie zu befriedigen, sind es ebenfalls.20 [L]e riche n’a pas l’estomac plus grand que le pauvre, et ne digere pas mieux que lui; […] le maître n’a pas les bras plus longs ni plus forts que ceux de son esclave; […] un Grand n’est pas plus grand qu’un homme du peuple; et […] enfin les besoins naturels étant par-tout les mêmes, les moyens d’y pourvoir doivent être par-tout égaux (OC IV, 468).

Die Erziehungsschrift beinhaltet zahlreiche Passagen, in denen Rousseau seinen Argwohn gegenüber den Reichen und den von ihnen geschaffenen Strukturen artikuliert, so dass nunmehr klar sein dürfte, dass es für ihn bei dieser wichtigen Frage keinen Bruch gibt (kein ‚vor‘ und ‚nach‘ dem Contrat social), sondern dass seine Auffassung in allen seinen Schriften konsequent dieselbe bleibt, und als Diagnose eines real existierenden Sachverhalts zu verstehen ist.

2 Der Contrat social, wo nichts funktioniert Nun werden uns Rousseaus Kommentatoren zugestehen, dass diese Kritik der Institutionen und ihrer Auswirkungen für die Gesellschaft des falschen Vertrags zwar durchaus ihre Berechtigung habe; sie halten dem aber in der Regel den Contrat social entgegen, von dem sie glauben, dass er eine ‚Lösung‘ für das Problem enthalte und die Grundlagen für eine legitime Gesellschaftsordnung bereitstelle. In diesem Buch habe Rousseau gezeigt, wie eine Gesellschaft gestaltet sein muss, um die problematische Situation des Ancien Régime, wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, zu vermeiden. Einige von ihnen erkennen allerdings an, „dass für Rousseau, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, die Regierung ein Übel [ist]: ein sicherlich notwendiges und unausweichliches Übel, aber ein Übel allemal. Die bloße Existenz einer Regierung stellt früher oder später eine Bedrohung dar, weil durch sie die Ausübung von Macht personalisiert wird.“21 Auch Robert Derathé vertritt die Auffassung, dass in

beim ZK der SED, seit 1991 v. d. Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam, Abt. 2, Bd. V, Berlin 1983, 598. Vgl. in diesem Zusammenhang auch J.-J. Rousseau: OC III, 1408. 20 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 12. Aufl., Paderborn u. a. 1995, 191–192. 21 Paul Bastid: „Rousseau et la théorie des formes du gouvernement“, in Études sur le Contrat social. Actes des journées d’étude organisées à Dijon pour la commémoration du 200e anniversaire du Contrat social, Paris 1964, 325 (dt. v. Konstanze Baron).



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Rousseaus Augen die Regierung eine „permanente Bedrohung“ darstelle.22 Jean Starobinski entwickelt diesen Gedanken weiter, wenn er schreibt, dass „in der beinahe narzisstischen Beziehung zwischen dem Kollektiv der Bürger in ihrer Eigenschaft als Souverän, und dem Kollektiv der Untertanen (die ja dieselben Menschen sind), die Regierung ein lästiges Zwischenglied“ sei. Und er schlussfolgert: „Das Ideal wäre die direkte Ausübung der Souveränität durch das Volk.“23 In allen diesen Äußerungen spiegelt sich ein gewisses Bedauern oder Unbehagen der Kritiker wieder, die in Rousseaus Überlegungen zu den Institutionen einen Leitfaden für die Lösung gegenwärtiger politischer Fragen suchen und die sich eingestehen müssen, dass diese dafür keine befriedigende Antwort bereithalten. Tatsächlich hat man den Contrat social viel zu lange als ein politisches Handbuch, ja als ein Werk der angewandten Staatskunst gelesen – sofern man es nicht gleich als realitätsferne Utopie oder als Hirngespinst voller Widersprüche abgetan hat. Es gibt jedoch eine Lesart, die diesem Werk einen neuen und, wie ich meine, stimmigen Sinn verleiht: nämlich als eine Untersuchung über das Wesen des Politischen – und zwar nicht mit der Absicht, auf dessen Realisierung in einer wie auch immer gearteten Staatsform hinzuwirken, sondern um die den verschiedenen Staatsformen innewohnenden, charakteristischen Fallstricke, Gefahren und Schwierigkeiten aufzuzeigen, und um schließlich anzuerkennen, dass keine Regierungsform der Welt die Bedingungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erfüllen kann, die für eine gelingende Polis notwendig wären. Lässt man sich auf diese Lesart ein, dann wäre der Contrat social somit als ein Werk zu verstehen, das den Einzelnen in die Lage versetzen soll, zu erkennen, was in seiner jeweiligen Gesellschaft – sei es nun eine Demokratie, eine Aristokratie oder eine Monarchie – funktioniert und was nicht, und vor allem die Gefahren abzuschätzen, die ihm darin drohen, wie zum Beispiel die Beschneidung seiner Freiheiten, der Zwang, dies oder jenes tun zu müssen, Missbrauch von Machtbefugnissen oder die tyrannische Herrschaft einiger weniger. Bei Rousseau kommt es in der Regel immer auf das lebendige, konkrete Individuum an und nicht auf das politische oder pädagogische System. So ist man sich heute beispielsweise einig, dass der Émile die Erziehung revolutioniert hat, indem er das Kind ins Zentrum stellte und diesem die pädagogischen Methoden und Programme unterordnete. Das gleiche gilt nun aber meines Erachtens auch für die Politik beziehungsweise für die politische Theorie, in der ebenfalls weder die Polis noch die volonté générale im Vordergrund stehen, sondern das jeweils konkrete Individuum. Gewiss hat Rousseau eine allgemeine Abhandlung über die politische Ordnung geschrieben, aber er lässt dabei diesen zentralen Gesichtspunkt niemals außer Acht.

22  R. Derathé: J.-J. Rousseau et la science politique de son temps, 306 (dt. v. Konstanze Baron). 23 Jean Starobinski: „La pensée politique de J.-J. Rousseau“, in Samuel Baud-Bovy et al.: Jean-Jacques Rousseau, Neuchâtel 1962, 81–99, hier 96 (dt. v. Konstanze Baron).

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Jedenfalls wäre es falsch zu glauben, dass sich sein Argwohn gegenüber der Macht und den Mächtigen in dem Moment in Luft auflöst, wo er anfängt, sich ernsthaft mit der Staatstheorie zu beschäftigen. Der Contrat social zeigt uns vielmehr, dass er sich nach wie vor der Gefahren voll bewusst ist, denen der Einzelne im Kampf mit den staatlichen Instanzen ausgesetzt ist. Die Tatsache, dass er seine Abhandlung mit einer Darstellung der primitiven Gesellschaften beginnen lässt, mit dem Recht des Stärkeren und der Sklaverei, hat ihren Grund nicht allein in dem Bestreben, diese dem eigentlichen Gesellschaftsvertrag vorausgehenden Zustände als illegitime auszuweisen; es ist damit auch eine mahnende Erinnerung an die zeitgenössische Situation im Ancien Régime verbunden, in der – aufgrund der strukturellen Ungleichheit, der Gesetze und der ausufernden Staatsmacht – die zivilisierten Menschen dazu verurteilt sind, in Unfreiheit zu leben und zu sterben. Diese Situation und die allgemeinen Folgerungen, die sich aus ihr ableiten, stellen die Folie dar, vor welcher wir den Contrat social verstehen müssen. Der Vorwurf, den man gegen Rousseau erhoben hat, er wolle eine totalitäre Gesellschaft rechtfertigen, ist vor diesem Hintergrund schlicht absurd – es sei denn, man unterstellt, Rousseau sei einfach zu dumm gewesen und habe – gewissermaßen ohne es selbst zu bemerken – ein Modell entwickelt, das dem aufs genaueste ähnelt, das er Zeit seines Lebens verurteilt hat. Der Totalitarismus ist seinem Denken wesentlich fremd; es handelt sich bei diesem Vorwurf in der Regel um ein Argument, das in der Auseinandersetzung mit Rousseau nur benutzt wird, um eine andere Ideologie oder ein anderes politisches Regime (meistens den Liberalismus) zu verteidigen. Die ersten beiden Bücher des Contrat social und die Hälfte des dritten definieren auf äußerst präzise und bis dato unerhörte Weise den Vertrag, das Gesetz, die Regierung und ihre verschiedenen Ausprägungen. Der Leser ist versucht, Rousseau hier in der Pose des Gesetzgebers zu sehen, oder gar gleich in der eines Staatschefs beziehungsweise Diktators, der nach Belieben über seine Untertanen verfügt. Aber wie groß wird dann seine Überraschung sein, wenn er den Titel des 10. Kapitels des III. Buches liest, der da lautet: „Vom Missbrauch der Regierung und ihrem Hang zur Entartung“ („De l’abus du gouvernement, et de sa pente à dégénérer“), unmittelbar gefolgt von einem weiteren Kapitel, dessen Überschrift all jene aufrütteln muss, die von einer perfekten Gesellschaft träumen: „Vom Tod der politischen Körperschaft“ („De la mort du corps politique“). Was auch immer der Gesetzgeber unternimmt, wie involviert und vernünftig auch immer die Bürger sein mögen, und ganz gleich auch, welche Staatsform gerade vorherrscht, die Polis wird zwangsläufig degenerieren. Das ist die deutlichste, und zugleich die verstörendste Botschaft des Contrat social. Was auch immer man macht, um den Karren zu steuern, die Räder fahren fest: Wie der Sonderwille unaufhörlich gegen den Gemeinwillen handelt, so lehnt sich die Regierung ununterbrochen auf gegen die Souveränität. Je mehr sich diese Auflehnung verstärkt, umso schwächer wird die Verfassung, und da es hier keinerlei anderen körperschaftlichen Willen gibt, der dem Fürsten widersteht und ihm dadurch das Gleichgewicht hält, muss es über kurz oder lang dazu kommen, dass der Fürst schließlich den Souverän unterdrückt und den Gesellschafts-



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vertrag bricht. Das ist das angeborene und unvermeidliche Gebrechen, das von der Geburt der politischen Körperschaft an unablässig danach trachtet, sie zu zerstören, wie Alter und Tod den Körper des Menschen.24 Comme la volonté particulière agit sans cesse contre la volonté générale, ainsi le Gouvernement fait un effort continuel contre la Souveraineté. Plus cet effort augmente, plus la constitution s’altere, et comme il n’y a point ici d’autre volonté de corps qui résistant à celle du Prince fasse équilibre avec elle, il doit arriver tôt ou tard que le Prince opprime enfin le Souverain et rompe le traité Social. C’est-là le vice inhérent et inévitable qui dès la naissance du corps politique tend sans relâche à le détruire, de même que la vieillesse et la mort détruisent le corps de l’homme (OC III, 421).

Weil Perfektion dem Wesen des Politischen grundsätzlich fremd ist, wird die politische Körperschaft korrumpieren. Genau dies besagt der erste Satz des Émile: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“25 Wenn ich daher bislang nur im Konditional von einer so gearteten Lesart des Contrat social sprach, dann allein deshalb, weil die Mehrzahl der Leser sich nicht eingestehen will, dass in dieser Abhandlung über die Republik und deren Institutionen schlichtweg nichts funktioniert. Rousseau erhebt alle nur denkbaren Einwände gegen das System politischer Repräsentation, weil er genau weiß, wie sehr die Exekutive dazu neigt, auf die Legislative überzugreifen, wie einfach und zugleich wie unvermeidbar die Korruption ist, mit welcher Regelmäßigkeit das Eigeninteresse und die illegitime Einflussnahme kleiner Gruppen den Gemeinwillen und die Belange des öffentlichen Wohls ausstechen. „Nachdem ich alles gründlich untersucht habe“, schreibt Rousseau, „sehe ich nicht, dass es dem Souverän in Zukunft möglich sein wird, seine Rechte auch weiterhin unter uns auszuüben, wenn die Polis nicht sehr klein ist.“26 Ihm ist vollkommen klar, dass die Regierung die Macht an sich reißen wird, und er widmet diesem Sachverhalt mehrere Seiten, wo dann unter anderem zu lesen ist, dass „die Träger der Exekutive nicht Herren, sondern Beamte des Volkes sind“ („les dépositaires de la puissance exécutive ne sont point les maitres du peuple mais ses officiers“)27 und dass sie vom Souverän entlassen werden können, wenn sie gegen ihr Mandat verstoßen. All jene berühmten Sätze, die man bis zum Überdruss zitiert, ohne ihren Sinn oder ihre Tragweite zu verstehen, werden plötzlich klar, wenn man sie in Zusammenhang mit Rousseaus Regierungs-Skepsis betrachtet. So lesen wir etwa im Contrat social: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkom-

24  J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 95–96. 25 J.-J. Rousseau: Emil, 9. „Tout est bien, sortant des mains de l’auteur des choses: tout dégénére entre les mains de l’homme“ (OC IV, 245). 26  J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 108. „Tout bien examiné, je ne vois pas qu’il soit désor­ mais possible au Souverain de conserver parmi nous l’exercice de ses droits si la Cité n’est très petite“ (OC III, 431). 27 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 112 (OC III, 434).

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mene Regierung passt für Menschen nicht.“28  Sowie: „Es bedürfte der Götter, um den Menschen Gesetze zu geben.“29 Nicht zu vergessen auch der eindringliche Satz aus den Considérations sur le gouvernement de Pologne: „Die Freiheit ist eine kräftige Speise, aber schwer zu verdauen; es braucht gesunde Mägen, sie aufzunehmen.“30 Trotz dieser Warnungen und trotz aller Vorkehrungen, die das Volk treffen kann, wird die Regierung weiter verkommen und sich immer autoritärer gegen die Bürger verhalten. Das ist, unabhängig von der jeweiligen Staatsform, der natürliche Gang ihrer Entwicklung. Buch IV kann daher nur noch betonen, dass die volonté générale, was auch immer geschehen mag, unzerstörbar ist und dass ihre Stimme weiter Bestand haben wird, auch wenn sie zu ersticken droht. Im 1. Kapitel von Buch IV kommt Rousseau passenderweise erneut auf die Degeneration der Gesellschaft zu sprechen, „[w]enn […] nach und nach das gesellschaftliche Band sich lockert“ („quand le nœud social commence à se relâcher“), wenn der Staat gar „seinem Untergang nahe ist“ („près de sa ruine“) und nur noch „als eine eingebildete und leere Form“ („par une forme illusoire et vaine“) besteht.31 Rousseaus Abhandlung erreicht hier eine neue Stufe, die sich radikal von dem unterscheidet, was man zu Beginn der Lektüre erwarten mochte. Buch IV beschreibt all jene verzweifelten Maßnahmen, die das Leben des Staates noch ein klein wenig verlängern sollen, wenn dieser schon siechend danieder liegt: die römischen Komitien, das Tribunat, die Diktatur, die Zensur und sogar die Zivilreligion sind allesamt extreme (Hilfs-)Mittel, um noch einmal ein wenig Stabilität und Zusammenhalt in eine Gesellschaft zu bringen, die sich unter dem Druck der Einzelinteressen aufzulösen droht, derweil sich erneut eine Minderheit von Reichen und Mächtigen auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung schadlos hält. Hatte Rousseau nicht bereits in der Lettre à d’Alembert geschrieben, in der Republik sei der Reiche „der wahre Souverän“ („le vrai souverain“), da es ihm ein Leichtes sei, sich dank seines Vermögens über die Gesetze zu erheben?32 Der Contrat social endet also mit einem überaus pessimistischen Bild des Politischen, das noch einmal das tiefe Misstrauen bekräftigt, das Rousseau auch vorher schon gegen die politischen Institutionen und speziell gegen die Regierungen an den Tag gelegt hatte. Wenn er in diesem Buch die Mechanismen der Macht so gründlich zerlegt, dann also

28  J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 76. „S’il y avoit un peuple de Dieux, il se gouverneroit Démocratiquement. Un Gouvernement si parfait ne convient pas à des hommes“ (OC III, 406). 29 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 44. „Il faudroit des Dieux pour donner des loix aux hommes“ (OC III, 381). 30 Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Re­ formierung“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 431–530, hier 455. „La liberté est un aliment de bon suc mais de forte digestion; il faut des estomacs bien sains pour le supporter“ (OC III, 974). 31 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 116 (OC III, 438). 32 Jean-Jacques Rousseau: „Brief an Herrn d’Alembert“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, München, Wien 1978, 333–474, hier 452 (OC V, 105).



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sicher nicht, wie so oft behauptet wird, um darauf eine neue Ordnung zu gründen, die gesünder und demokratischer wäre, als die alte, sondern um den Einzelnen aufzuklären, um ihn anzuleiten zu verstehen, wie eines mit dem anderen zusammenhängt, und – wenn er zu guter Letzt eingesehen hat, dass es keine Lösung gibt – sich in Sicherheit zu bringen, wenn die Staatsmaschine mehr oder weniger offensichtlich diejenigen zermalmt, die sich für echte Bürger halten und die glauben, sie hätten das Heft in der Hand.

3 Émile und der (Staats-)Bürger Der Émile, der zeitgleich mit dem Contrat social erscheint, bestätigt diese Interpretation. Kurz nach der Verurteilung seiner Schriften fasst Rousseau in einem Brief an Christophe de Beaumont noch einmal seine wichtigsten Thesen zusammen: Ich habe das Geheimnis der Regierungen durchdrungen, ich habe es den Menschen enthüllt, nicht etwa, damit sie ihr Joch abwerfen, denn das ist ihnen schlechterdings nicht möglich, aber damit sie in ihrer Versklavung wieder Menschen werden und, wenn sie schon ihren Herren gehorchen müssen, nicht auch noch ihren Lastern unterworfen sind. Denn auch wenn sie keine Staatsbürger mehr sein können, so steht es ihnen doch frei, weise zu sein. Der Sklave Epiktet war ein solcher Weiser. Wer nur die Gesetze der Tugend und die der Notwendigkeit kennt, ist nicht mehr eines Menschen Untertan. Dieser nämlich weiß, was es heißt, in Fesseln zu leben und dabei frei und gut zu sein. J’ai pénétré le secret des gouvernemens, je l’ai revelé aux peuples non pas afin qu’ils secouassent le joug, ce qui ne leur est pas possible, mais afin qu’ils redevinssent hommes dans leur esclavage, et qu’asservis à leurs maitres, ils ne le fussent pas encore à leurs vices. S’ils ne peuvent plus être des Citoyens, ils peuvent encore être des sages. L’esclave Epictéte en étoit un. Quiconque ne reconnoit que les loix de la vertu et celles de la necessité n’est plus asservi aux hommes. Celui-là seul sait être libre et bon dans les fers.33

Rousseau wählt hier seine Formulierung mit Bedacht, um nicht wie ein Aufrührer dazustehen, aber der Sinn seiner Aussage stimmt mit dem Beginn des Émile überein, wo er die Erziehung zum Menschen der Erziehung zum Bürger gegenüberstellt und im Hinblick auf seinen Zögling klar für die Erstere optiert. Die meisten Leser übersehen diese kategorische Unterscheidung; und da die Erziehungsschrift in Buch V das präsentiert, was sie für eine Zusammenfassung des Contrat social halten, sind sie der Meinung, Rousseau selbst habe vergessen, was er am Anfang seines Buches geschrieben habe und präsentiere nun die Erziehung zum Staatsbürger als krönenden Abschluss der Erziehung zum Menschen. Dieser Lesart zufolge stellt der Émile

33 Jean-Jacques Rousseau: Fragments de la Lettre à Christophe de Beaumont, OC IV, 1009–1030, hier 1019 (dt. v. Konstanze Baron).

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eine Fortsetzung beziehungsweise Ergänzung des Contrat social dar; er enthalte die Lösung für die dort aufgeworfenen gesellschaftspolitischen Fragen; Rousseau habe zuerst ein Werk der Staatskunst geschrieben, um diesem dann eine Erziehungsschrift beizufügen, die eigentlich eher eine Anthropologie darstelle – was uns praktischerweise davon entbindet, uns die Frage nach der Erziehung des Einzelnen und ihrer Bedeutung in der heutigen Zeit zu stellen – und die schließlich in ein Programm staatlicher Erziehung münde, die sowohl die existierenden Schulsysteme als auch die damit verbundenen Techniken der Sozialisierung und der Indoktrinierung rechtfertige. Die Einheit von Rousseaus Werk und seines Denkens scheint auf diese Weise gerettet, und alle sind zufrieden. Nun kann man aber nicht ganz so leichtfertig über die von Rousseau vorgenommenen Einschränkungen hinwegsehen. Der (Staats-)Bürger existiert in seinen Augen nicht mehr und kann auch gar nicht mehr existieren; er ähnelt gewissermaßen dem guten Wilden der grauen Vorzeit, der zwar in einigen Geschichten des alten Griechenlands oder Roms noch fortlebt, der aber für den modernen Menschen definitiv außer Reichweite ist. Er ist ein für alle Mal vom Erdboden verschwunden. Den Bürgern der Stadt Genf, an die er seine Lettres écrites de la montagne adressiert, schreibt Rousseau daher ganz unmissverständlich: Ihr seid weder Römer noch Spartaner, ja nicht einmal Athener. Laßt alle diese großen Namen, die euch nicht kleiden, ihr seid Kaufleute, Handwerker, Bürger, die immer mit ihrem Privatinteresse, ihrer Arbeit, ihrem Handel, ihrem Gewinn beschäftigt sind, überhaupt Leute, für die die Freiheit selbst nur ein Mittel ist, ohne Hindernisse erwerben und in Sicherheit besitzen zu können.34 Vous n’êtes ni Romains, ni Spartiates; vous n’êtes pas même Athéniens. Laissez-là ces grands noms qui ne vous vont point. Vous êtes des Marchands, des Artisans, des Bourgeois, toujours occupés de leurs intéréts privés, de leur travail, de leur trafic, de leur gain; des gens pour qui la liberté même n’est qu’un moyen d’acquérir sans obstacle et de posséder en sûreté (OC III, 881).

Die gesamte Welt, vom 18. Jahrhundert bis heute, ist nur von Händlern und Krämern (bourgeois) bevölkert, aber sicher nicht von Bürgern (citoyen), die nach den anspruchsvollen Regeln der Polis zu leben vermöchten. Das Wort ‚Bürger‘ ist heute nur noch ein Begriff ohne Wirklichkeit; er bezeichnet diejenigen, die teilzuhaben glauben, indem sie wählen gehen und sich für die politischen Abläufe interessieren, die sie aber schon lange nicht mehr durchschauen und wo ohnehin schon alles im Sinne einiger mächtiger Konzerne und Konsortien (vor-)entschieden ist. Der Bürger, wie wir ihn heute kennen, ist nicht mehr als ein ‚Pappkamerad‘, eine Fiktion, die allenfalls noch dazu dient, die Illusion von Demokratie und Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten. Der Gesellschaftsvertrag zwischen denen, die befehlen, und denen, die gehorchen,

34 Jean-Jacques Rousseau: „Briefe vom Berge“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 129–369, hier 350.



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existiert aber nicht. Keiner von uns hat ihn je unterschrieben. Und wie ein Kritiker so treffend feststellte, „das Komischste an Verträgen ist der Aspekt der Gegenseitigkeit. Es gehören immer zwei dazu, damit man von einer vertraglichen Vereinbarung sprechen kann. Und natürlich darf keiner der beiden ein professioneller Betrüger sein.“35  Der Contrat social und der Émile stimmen allerdings insofern überein, als beide ihre Leser vor den unheilvollen und unfassbar mächtigen Gewalten, denen diese in den modernen Gesellschaften ausgesetzt sind, warnen wollen. Rousseau gibt uns mit dem Émile einen Schlüssel zum Verständnis seiner politischen Abhandlung an die Hand – und zwar keineswegs als angewandte Staatstheorie, sondern als ein Versuch, die Welt, in der wir leben, schonungslos zu durchleuchten und die Optionen aufzuzeigen, die wir darin (noch) haben, um uns zu schützen. Das ist in seinen Augen das drängendste Problem einer Zeit, die keine Polis und dementsprechend auch keine Bürger (mehr) kennt. Im neunten Brief seiner Lettres écrites de la montagne schreibt Rousseau: Wer wird dann nicht in einem so kleinen Staat, wo sich keiner unter dem großen Haufen verbergen kann, in ewiger Angst leben und jeden Augenblick das Unglück fühlen, seinesgleichen zu Herren zu haben? In den großen Staaten sind die Privatpersonen zu weit von dem Fürsten und den Oberhäuptern entfernt, um bemerkt zu werden, ihre Kleinheit rettet sie, und solange das Volk nur bezahlt, läßt man es in Ruhe.36 Dans un si petit Etat où nul ne peut se cacher dans la foule, qui ne vivra pas alors dans d’éternelles frayeurs, et ne sentira pas à chaque instant de sa vie le malheur d’avoir ses égaux pour maîtres? Dans les grands Etats, les particuliers sont trop loin du Prince et des chefs pour en être vus, leur petitesse les sauve, et pourvû que le peuple paye on le laisse en paix (OC III, 894).

Das ist genau die Situation, die wir auch in unseren heutigen Gesellschaften vorfinden. Es ist nun immer wieder angemerkt worden, dass der im Émile geschilderte Vertrag sich von dem des Contrat social, den Rousseau kurz zuvor veröffentlicht hatte, unterscheidet. Die Gründe dafür hat man allerdings nicht richtig erkannt. Ich habe mich zu dieser Frage bereits mehrfach geäußert, so dass ich mich hier auf einige kursorische Erläuterungen beschränken möchte.37 Der Vertrag, der dem jungen Mann

35 Alfredo M. Bonanno: Et nous serons toujours prêts à nous emparer encore une fois du ciel. Contre l’amnistie, Editions Gaston Lagaffe 2011, 31. 36 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 365. 37 Vgl. Tanguy L’Aminot: „Émile, un décadent au sein de la décadence“, in Le XVIIIe, un siècle de décadence?, éd. Valérie André et Bruno Bernard, Bruxelles 2006, 41–47; ders.: „Émile, lecteur du Contrat social. Ni citoyen, ni sociable, mais anarque“, in Il Principio della Democrazia. Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social (1762). Atti del Seminario di Studi: Sassari, 20–21 settembre 2010, a cura di Giovanni Lobrano e Pietro Paolo Onida, Napoli 2012, 173–194; ders.: „Pour une lecture anarchiste de Rousseau“ in Vitam impendere vero. Hommage à Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, directeurs de l’Edition thématique du Tricentenaire des Œuvres complètes de J.-J. Rousseau, Genève, Paris 2012, 213–234.

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im Émile nahegebracht wird, enthält nur eine Zusammenfassung der ersten beiden Bücher und eines Teils von Buch III des Contrat social. Er begründet, was eine Regierung rechtmäßig macht, erläutert die Bedeutung des Gesellschaftsvertrags, definiert die Gesetze und die einzelnen Staats- und Regierungsformen; nicht erwähnt werden hingegen die staatlichen Verfallserscheinungen und wie man sie vermeiden könne oder gar die Mittel zu ihrer Bekämpfung, wie zum Beispiel das Tribunat oder die Zensur, wie sie in Buch IV des Contrat social beschrieben werden. Der Grund dafür ist nicht, dass Rousseau dieser Fragen inzwischen überdrüssig geworden wäre, sondern dass Emil, der junge Mann von zwanzig Jahren, den Rousseau im Laufe seines Buches als (Roman-)Figur mit einem eigenen Charakter geschaffen hat, diese Dinge gar nicht braucht. Für ihn, der in der repressiven Gesellschaft des Ancien Régime lebt, kann keine Rede davon sein, sich gegen die herrschenden Mächte aufzulehnen oder diese irgendwie reformieren zu wollen. Es genügt, wenn er sie kennt und durchschaut, um die Gefahren zu vermeiden, die sich immer dann ergeben, wenn eine Herrschaft auf Gewalt gegründet ist und unrechtmäßig ausgeübt wird. Bei dem im Émile abgedruckten Text handelt es sich demnach weniger um eine Wiedergabe des Contrat social, als vielmehr um eine konkrete, situationsspezifische Anwendung desselben. Andere Anwendungsbeispiele finden sich etwa im Projet de constitution pour la Corse oder in den Considérations sur le gouvernement de Pologne. Von allen Schriften Rousseaus beinhaltet der Émile allerdings dasjenige Modell, das den Gesellschaften des falschen Vertrags am meisten entspricht, und das uns folglich den besten Zugang zu deren Verständnis ermöglicht. Nach Beendigung ihrer zweijährigen Reise, die sie quer durch Europa geführt und mit den verschiedenen Nationen und deren Einrichtungen vertraut gemacht hat, halten Emil und sein Erzieher inne, um den Platz zu bestimmen, den sie zukünftig unter den Menschen einnehmen wollen. Noch vor der Abreise hatte der Erzieher das gemeinsame Projekt wie folgt umrissen: Wenn es ein rechtmäßiges und sicheres Mittel gibt, ohne Ränke, Machenschaften und Abhängigkeit zu leben, dann ist es, ich gestehe es, von seiner Hände Arbeit zu leben, indem man sein eigenes Land bestellt. Aber wo ist der Staat, wo man sagen kann: Der Boden unter meinen Füßen gehört mir? Ehe du dieses glückliche Land wählst, versichere dich gut, ob du dort den Frieden findest, den du suchst. Paß auf, daß dir keine gewalttätige Regierung, keine unduldsame Religion, keine verderbten Sitten deinen Frieden zerstören. Sichere dich gegen maßlose Steuern, die die Frucht deiner Arbeit verschlingen, gegen endlose Prozesse, die dein Kapital aufzehren. Handle so, daß du rechtschaffen leben kannst, ohne den Rücken zu beugen vor den Steuerbeamten, ihren Vertretern, vor Richtern, vor Priestern, vor mächtigen Nachbarn, vor Schurken aller Art, die immer bereit sind, dich zu quälen, wenn du sie vernachlässigst. Schütz dich vor allem vor den Schikanen der Großen und Reichen.38

38 J.-J. Rousseau: Emil, 503–504.



Rousseau gegen den Staat 

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S’il est quelque moyen légitime et sur de subsister sans intrigue, sans affaire, sans dépendance, c’est, j’en conviens, de vivre du travail de ses mains en cultivant sa propre terre; mais où est l’Etat où l’on peut se dire: la terre que je foule est à moi? Avant de choisir cette heureuse terre, assurezvous bien d’y trouver la paix que vous cherchez; gardez qu’un gouvernement violent, qu’une religion persécutante, que des mœurs perverses ne vous y viennent troubler. Mettez-vous à l’abri des impots sans mesure qui dévoreroient le fruit de vos peines, des procés sans fin qui consumeroient vôtre fonds. Faites en sorte qu’en vivant justement vous n’ayez point à faire vôtre cour à des Intendans, à leurs substituts, à des juges, à des prêtres, à de puissans voisins, à des fripons de toute espéce, toujours prets à vous tourmenter si vous les négligez. Mettez-vous surtout à l’abri des vexations des grands et des riches (OC IV, 835).

Sich schützen in voller Kenntnis der jeweiligen Vor- und Nachteile, die das Leben in dem einen oder dem anderen Land mit sich bringt – das war also das Ziel der Bildungsreise. Ist an dieser Stelle Raum für ein Konzept von Bürgerschaft? Das behaupten all jene, die meinen, von der Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Bürger, wie sie Rousseau im I. Buch des Émile formuliert hatte, absehen zu können. Rousseau aber vergisst diese Unterscheidung nicht, und der Erzieher kommt in seiner Diskussion mit dem jungen Mann erneut darauf zu sprechen: Wenn ich dir die Pflichten des Bürgers aufzählte, so würdest du mich vielleicht fragen, wo denn das Vaterland ist, und du würdest glauben, mich widerlegt zu haben. Trotzdem hättest du dich getäuscht, lieber Emil. Denn wer kein Vaterland hat, hat wenigstens eine Heimat. Immer gibt es eine Regierung und Mockgesetze, unter denen er ruhig gelebt hat. Daß der Gesellschaftsvertrag nicht eingehalten wurde, ist nebensächlich, wenn der Einzelnutz ihn so geschützt hat, wenn das Böse, das er tun sah, ihn das Gute lieben lehrte und wenn unsere Einrichtungen selbst ihn ihre eigenen Ungerechtigkeiten erkennen und hassen ließen. Emil, wo ist der rechtschaffene Mensch, der seiner Heimat nichts schuldet? Wer er auch sei, er schuldet ihr das Kostbarste des Menschen, die Sittlichkeit seiner Handlungen und die Liebe zur Tugend.39 Si je te parlois des devoirs du Citoyen, tu me demanderois peut-être où est la patrie, et tu croirois m’avoir confondu. Tu te tromperois, pourtant, cher Emile, car qui n’a pas une patrie a du moins un pays. Il y a toujours un gouvernement et des simulacres de loix sous lesquels il a vecu tranquille. Que le contract social n’ait point été observé, qu’importe, si l’intérest particulier l’a protégé comme auroit fait la volonté générale, si la violence publique l’a garanti des violences particuliéres, si le mal qu’il a vû faire lui a fait aimer ce qui étoit bien, et si nos institutions mêmes lui ont fait connoitre et haïr leurs propres iniquités? Ô Emile! où est l’homme de bien qui ne doit rien à son pays? Quel qu’il soit, il lui doit ce qu’il y a de plus précieux pour l’homme, la moralité de ses actions et l’amour de la vertu (OC IV, 858).

Diese Rede ist nun aber eindeutig an den Menschen Emil gerichtet, nicht an den Bürger. Der Erzieher ist ohne Illusionen, was die Handlungsspielräume des Einzelnen in den Gesellschaften des falschen Paktes angeht. Im Hinblick auf die Art von Glück, die Emil in Zukunft erwarten könne, sagt er:

39 J.-J. Rousseau: Emil, 523.

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Schon scheint es um Sophies Wohnung wieder aufzublühen. Ihr braucht nur zu vollenden, was ihre würdigen Eltern begonnen haben. Aber, mein lieber Emil, dies süße Leben darf dir nicht die mühevollen Pflichten verleiden, wenn sie dir jemals auferlegt werden. Erinnere dich, daß die Römer vom Pflug zum Konsulat überwechselten. Wenn der Fürst oder der Staat dich zum Dienst für das Vaterland rufen, verlaß alles, um auf dem Posten, den man dir anweist, das ehrenvolle Amt des Bürgers zu erfüllen. Ist dir dieses Amt lästig, so gibt es ein ehrenhaftes und sicheres Mittel, es loszuwerden: es mit solcher Redlichkeit zu verwalten, daß man es dir nicht lange überläßt. Du brauchst übrigens kaum zu fürchten, daß man dich mit solch einem Amt belästigt. Solange es Männer unseres Jahrhunderts gibt, wird man sich nicht an dich wegen eines Staatsamtes wenden.40 Il semble déjà renaitre autour de l’habitation de Sophie; vous ne ferez qu’achever ensemble ce que ses dignes parens ont commencé. Mais, cher Emile, qu’une vie si douce ne te dégoute pas des devoirs pénibles, si jamais ils te sont imposés: souviens-toi que les Romains passoient de la charrüe au Consulat. Si le Prince ou l’Etat t’appelle au service de la patrie, quitte tout pour aller remplir dans le poste qu’on t’assigne l’honorable fonction de Citoyen. Si cette fonction t’est onéreuse, il est un moyen honnête et sur de t’en affranchir; c’est de la remplir avec assés d’intégrité pour qu’elle ne te soit pas longtems laissée. Au reste, crains peu l’embarras d’une pareille charge: tant qu’il y aura des hommes de ce siécle, ce n’est pas toi qu’on viendra chercher pour servir l’Etat (OC IV, 859–860).

Diese letzten Worte lassen keinen Zweifel mehr zu: Emil wird nicht mit dem Staatsdienst in Berührung geraten. Er wird kein Amt versehen, keine offizielle Mission erfüllen, sondern, wie die Fortsetzung, die Rousseau der Erziehungsschrift unter dem Titel Émile et Sophie ou Les Solitaires folgen lässt, zeigt, frei und ohne Rücksicht auf irgendwelche Bindungen durch die Welt streifen. Wenn die Menschen schon keine Bürger sein können, so steht es ihnen doch offen, weise („sage“) zu sein, schreibt Rousseau an Christophe de Beaumont. Die Hoffnung, die er damit zum Ausdruck bringt, zeugt immer noch von einem gewissen Optimismus, der uns heute nach zwei Weltkriegen und einigen atomaren Katastrophen, die nur den Anfang für weitere bedeuten, deutlich schwerer fällt. Emil jedenfalls hat die Art von Erziehung erhalten, die zur Weisheit führt und bekanntlich gilt: „Der Weise braucht keine Gesetze.“41 Trotz alledem ist Rousseau kein Anarchist; er glaubt nach wie vor an die Notwendigkeit des Staates, selbst wenn dieser für ihn nur eine Notlösung darstellt und nicht anders als repressiv zu denken ist; ohne große Hoffnung sinnt er darüber nach, wie eine gute Polis aussehen könnte und sucht noch, so gut es eben geht, vor diesem Hintergrund nach einem Ausweg für das Leid der Menschen. Er glaubt auch, dass die Souveränität eines Tages dem Volk gehören kann und dass dieses sich dann ihrer würdig erweisen wird. Es wird fast noch ein ganzes Jahrhundert dauern, eine große Revolution und einige Verbrechen gegen die Menschheit mehr benötigen, bis auch diese letzten Illusionen fallen und Denker wie Stirner, Proudhon, Bakunin und Kro-

40 J.-J. Rousseau: Emil, 524. 41 J.-J. Rousseau: Emil, 69. „[L]e sage n’a pas besoin de loix“ (OC IV, 320).



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potkin zu dem Schluss kommen werden, dass es für ein Volk keinen größeren Feind gebe als seinen eigenen Staat.42 Der Ausweg, den Rousseau dem Zögling und vermittels seiner, dem Leser weist, um den Tyrannen zu entkommen und sich auch dem stumpfen Druck der Verhältnisse, wie er fast überall von Religion und Sitten ausgeht, zu entziehen, ist der Folgende: im Verborgenen leben, unerkannt und unbehelligt, wie einst die Epikureer, oder auch der Anarch, dessen Porträt Ernst Jünger in Eumeswil gezeichnet hat. Ohne Anteil zu nehmen und ohne sich in die Verhältnisse einzumischen, ohne den Glauben auch, er könne Bürger sein in einer Welt von Krämern, geht dieser mit viel List und Umsicht durch die Geschichte wie durch eine Kolonnade, ohne dabei den zahllosen Mächten und Anti-Mächten auf den Leim zu gehen, „entschlossen, [s]ich auf nichts einzulassen, nichts letzthin ernst zu nehmen – – – allerdings nicht auf nihilistische Weise, sondern eher als ein Grenzposten, der im Niemandslande zwischen den Gezeiten Augen und Ohren schärft“.43 Diese Lösung ist bei weitem nicht so resigniert, wie

42 Vgl. Michel Bakounine: Œuvres complètes, éd. Arthur Lehning, tome 1, Paris 1973, 62. Über das Regierungshandeln heißt es bei Bakunin weiterhin: „All diese politischen Verfassungen verleiten und nötigen das Volk dazu, eine oberste, zentrale Staatsmacht zu errichten, die es von oben herab regieren und die in Wirklichkeit umso despotischer sein wird, je mehr sie den äußeren Anschein eines demokratisch-republikanischen Gebildes hat und auf Grundlage von Gesetzen regiert, die es sich in einem Moment der Unachtsamkeit zu seinem eigenen Nachteil gegeben hat. Die ganze politische, demokratische Freiheit, die auf dem Mehrheitswahlrecht basiert und die der so genannten Volkskontrolle unterliegt, beläuft sich für das Volk lediglich auf das Recht und die Pflicht, sich selbst einen Herrscher zu geben, einen Diktator, der ein Einzelner oder ein Kollektiv sein kann, der aber in jedem Fall eine privilegierte Klasse repräsentiert, die es ausnutzt und unterdrückt, und sei es – in Ermangelung einer anderen Klasse – die der Beamten von Kirche oder Staat. Fazit: Alle politischen Verfassungen, von der absolutistischsten Monarchie bis zur rötesten Republik, nutzen nur den jeweils privilegierten Klassen der Gesellschaft. Aus Sicht des Volkes verkörpern sie alle dieselbe Ausbeutung und denselben Despotismus.“ (Ebd., 173–174, dt. v. Konstanze Baron; Hervorh. i. Orig., Tanguy L’Aminot). 43 Ernst Jünger: „Eumeswil“, in ders.: Sämtliche Werke, Abt. 3, Bd. XVII: Erzählende Schriften 3, Stuttgart 1980, 87f. Die Haltung des Anarchen ist allerdings komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht. Denn wenn der Erzähler von Eumeswil auch von der Unvollkommenheit und der Müßigkeit jeder politischen Bestrebung überzeugt ist („es scheint, als wären die Motive verbraucht und würden weder zu Taten noch zu Untaten, sondern höchstens zu matten Anklängen ausreichen“, ebd., 96), so ist er doch deswegen kein Konservativer im Sinne Chateaubriands. Zwar betrachtet er sich selbst mit Humor, wenn er vor einem Publikum doziert, „das nur auf die plattesten Eintagsköder anbeißt“, bewahrt sich aber ansonsten eine gewisse Ernsthaftigkeit: „Ernst nehme ich also meine Geschäfte innerhalb eines Ganzen, das ich in seiner Bedürftigkeit ablehne. Wichtig ist daran, daß diese Verneinung eben das Ganze angeht und nicht etwa in ihm eine konservative, reaktionäre, liberale, ironische oder irgendwie sozial zu definierende Stellung bezieht. Vom Bürgerkrieg mit seiner stets verschärften Fron sollte man sich freihalten. Unter dieser Voraussetzung kann ich allerdings das, was ich hier treibe, ernst nehmen. Ich weiß, daß sich der Untergrund bewegt, etwa wie bei einem Bergrutsch oder einer Lawine – und gerade deshalb bleiben die Relationen im einzelnen ungestört. Ich liege schief auf einer schiefen Ebene. Die Entfernungen zwischen den Menschen verändern sich nicht. Ich sehe sie

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sie klingt; und wenn sie uns vielleicht doch so vorkommt, dann nur insofern, als sie die Konsequenzen zieht aus jener „wahren, aber betrüblichen Theorie“ („Systême vrai mais affligeant“), an der Rousseau seit seinem ersten Discours gearbeitet hatte: Diese hatte seine Leser schon zu Beginn derart schockiert, dass der Philosoph beschloss, fortan auf ihre „ängstlichen Seelen“ („pusillanimité“) Rücksicht zu nehmen und ihnen die Wahrheit nur in kleinen Stücken zu enthüllen.44 Der von Jünger geschilderte Anarch jedenfalls begegnet der Welt, in die er sich selbst aus der Kontrolle seiner Oberen entlassen hat, eher mit Neugier als mit Furcht. Man könnte sagen, er ist mit sich und seinem Leben im Reinen. In seinem gesamten Werk und insbesondere im Émile, der den Zenit seines politischen Denkens darstellt, bekundet Rousseau tiefen Argwohn gegen den Staat, gegen die politischen Autoritäten, gegen die Gewalten, die immer den Reichen und Mächtigen dienen, gegen die Übergriffe, die zwangsläufig von den Institutionen ausgehen, wie auch gegen die Völker, die sich versklaven lassen und am Ende gar ihre Tyrannen stützen. Er ermuntert die Menschen dazu, sich nicht aufzugeben, und gibt ihnen die Mittel an die Hand, die Mechanismen der gegebenen Machtverhältnisse zu durchschauen und sich vor diesen in Sicherheit zu bringen. Seine Philosophie zielt nicht darauf ab, eine neue Art von Gesellschaftsordnung zu etablieren oder eine andere Art von Herrschaft zu begründen. Es handelt sich um einen Aufruf weder zu Duldsamkeit und zu Unterwerfung unter die bestehenden Gesetze und totalitären Apparate, noch zu vermeintlicher Partizipation in den Gesellschaften des falschen Vertrags, sondern zu äußerster Wachsamkeit und Klarheit. In dem Kampf, der seit jeher von den Staaten gegen die Menschen aus Fleisch und Blut, die wir nun einmal sind, geführt wird, hilft uns Rousseaus Denken zu bestehen und klärt uns über unsere Grenzen und Möglichkeiten auf. Aus dem Französischen übersetzt von Konstanze Baron

sogar schärfer auf dem trügerischen Grund. Ihr Stand so hart am Abgrund ruft auch mein Mitgefühl hervor.“ Ebd., 98. 44 Jean-Jacques Rousseau: „Vorwort zu einem zweiten Brief an Bordes“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 178–182, hier 181 (OC III, 106).

II Historische Modelle

Volker Reinhardt

Rousseau, Calvin, die Reformation in Genf und das Konsistorium Am 19. Juni 1762 ordnete der Kleine Rat der Republik Genf die Exekution zweier Bücher an: Vom Scharfrichter zerrissen und danach verbrannt werden sollten Rousseaus Contrat social und sein Erziehungsroman Émile. Das prompt durchgeführte Autodafé hatte nicht nur für den Verfasser der inkriminierten Texte schwerwiegende, nicht zuletzt psychische Auswirkungen, sondern zeitigte auch für den kleinen, zwischen die übermächtigen Nachbarn Frankreich und Piemont-Savoyen eingezwängten Freistaat an der Rhone weit reichende Folgen.1 Der tief getroffene Rousseau selbst startete mit seinem Brief an den Pariser Erzbischof Christophe de Beaumont, der ebenso wie das Pariser Parlament den Émile verdammt hatte, eine publizistische Gegenoffensive, die europaweit Aufsehen erregte und die Institutionen Genfs zusammen mit der sie beherrschenden classe politique in einem denkbar ungünstigen Licht erscheinen ließ. Denn Rousseau hatte seinen Fall mit großem Geschick zum Fall der Republik, genauer: ihrer von einer kleinen, eigennützigen Clique usurpierten und missbrauchten Konstitution gemacht. Diese generalisierte und politisierte Deutung hatte nicht nur in den Medien, sondern auch in Genf selbst unmittelbare Konsequenzen. Eine Gruppe Genfer Bürger – im alteuropäischen Sinne des Wortes verstanden als Inhaber des Bürgerrechts und dadurch für die höchsten Ämter der Republik wählbar – erhob vor dem Kleinen Rat Beschwerde in drei Punkten, die auf die Unzulässigkeit und Ungültigkeit des gegen Rousseau verhängten Urteils abhoben, und zwar aufgrund nicht eingehaltener Verfahrensregeln und verletzter Kompetenzen. Als Antwort auf die innergenferische Opposition und die von Rousseau selbst lancierte Kampagne verfasste Jean-Robert Tronchin, seines Zeichens Staatsanwalt der Republik Genf und oberster Gutachter im casus Rousseau, im Herbst 1763 unter dem Titel Lettres écrites de la campagne eine Broschüre, die die Rechtmäßigkeit und Verfassungskonformität des Genfer Vorgehens belegen sollte. Diesen literarischen Fehdehandschuh nahm Rousseau seinerseits umgehend auf: In seinen Lettres écrites de la montagne weitete er im Jahr darauf die Erörterung der Ereignisse zu einer regel-

1 Zum historisch-politischen Kontext vgl. Louis Binz: Brève histoire de Genève, Genève 1981; Histoire de Genève, publ. sous la dir. de Paul Guichonnet, 3e éd. mise à jour, Toulouse 1986; Paul Barbey: Etat et gouvernement. Les sources et les thèmes du discours politique du patriciat genevois entre 1700 et 1770, Genève 1990; Martin I. Klauber: The Identity of Geneva: The Christian Commonwealth 1564–1864, Westport/CT 1998; Gabriella Silvestrini: „Le républicanisme de Rousseau mis en contexte: le cas de Genève“, in: Les Etudes philosophiques 83/4 (2007), 519–541.

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rechten tour d’horizon aus.2 Von einer Generalüberprüfung der Genfer Kirchen- und Politikverhältnisse ausgehend, die sich zu gravierenden Anklagen gegen die herrschende Oligarchie zuspitzten, griff seine Argumentation zu den aktuellsten und zugleich umstrittensten Fragen der biblischen Offenbarungskritik und der religiösen Toleranz aus. Von der Genfer Sekundärelite wurden die Briefe des ehemaligen citoyen de Genève Rousseau, der sein Bürgerrecht im Jahr zuvor niedergelegt hatte, als ein Manifest zur Wiederherstellung der rechtmäßigen Souveränität an der Rhone gelesen und hatten daher eine gravierende Krise zur Folge, wie sie Genf, eine der unruhigsten Städte des 18. Jahrhunderts, in regelmäßigen Abständen erschütterte.3 So viel zur Vorgeschichte der Lettres écrites de la montagne, dem wohl am wenigsten bekannten Hauptwerk Rousseaus. Das relativ geringe Interesse an den neun Briefen des Jahres 1764 erklärt sich daraus, dass deren vertieftes Verständnis eine genaue Kenntnis der komplizierten Genfer Verfassungsverhältnisse und der Genfer Geschichte insgesamt voraussetzt. Selbst von Spezialisten dieser Materie kaum beachtet blieb des Weiteren, dass Rousseau in seiner Kombination aus Selbstverteidigung und Plädoyer für die politischen Rechte der Genfer Mittelschicht eine regelrechte Geschichte der Reformation in seiner Heimatstadt entwirft, und zwar unter ausgiebiger Heranziehung von Primärquellen wie etwa Calvins Ordonnances ecclési­ astiques von 1541, der legendären, die Reformationen des atlantischen Europas und das religiöse Leben in den späteren USA profunde prägenden Kirchenordnung, und anderer Dokumente, zum Beispiel zu Prozessen gegen religiöse Abweichler des 16. und 17. Jahrhunderts.4 Die Standardkommentare zu diesen kirchen- und religionshistorischen Ausführungen beschränken sich denn in der Regel auch auf die Feststellung, dass Rousseau die Genfer Reformation und damit das Konfessionelle Zeitalter insgesamt im Licht der Aufklärung deutet und auf diese Weise gründlich verkennt.5 Diese MissdeutungsDiagnose soll hier von einem differenzierteren Urteil abgelöst werden. In Wirklichkeit – so die hier vertretene These – verfolgt Rousseau in seiner Analyse der Genfer

2 Grundlegend zur Entstehungsgeschichte der Briefe ist La religion, la liberté, la justice. Un com­ mentaire des Lettres écrites de la montagne de Jean-Jacques Rousseau, sous la dir. de Bruno Bernardi/ Florent Guénard/Gabriella Silvestrini, Paris 2005. 3 Zum spannungsreichen Verhältnis Rousseaus zu seiner teils idealisierten, teils heftig kritisierten Heimatstadt siehe John Stephenson Spink: Rousseau et Genève, Paris 1934; David Rosenfeld: Rous­ seaus’s Genevan Politics. An Essay in Historical Interpretation, New York 1993; Helena Rosenblatt: Rousseau and Geneva. From the First Discourse to the Social Contract, 1749–1762, Cambridge 1997. 4 Den neuesten Überblick zu den Abläufen und Institutionen der Genfer Reformation bietet Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009. 5 Vgl. die ausführlichen und gut dokumentierten Ausführungen in Jean-Daniel Candaux’ Kommentar zur Standardedition der Lettres écrites de la montagne in Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964, 1575–1732. Das Fazit hat auch fünfzig Jahre später Bestand.



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Reformation und ihrer Auswirkungen eine Mehrfach-Strategie. Zum einen spielt er die Genfer Reformation,6 wie sie ihren eigentlichen Wesenszügen nach wirklich war und daher bis heute bei allen religiösen Auseinandersetzungen als normative Grundlage zu dienen hat, gegen die Reformatoren Guillaume Farel und Jean Calvin aus, die diese Reformation gemacht haben. Zum anderen stellt er das Genfer Konsistorium, seit den Zeiten Calvins das Organ der Inquisition und Sozialdisziplinierung an der Rhone schlechthin, als eine soziokulturelle Institution dar, deren ursprüngliche Ziele nicht die Vernichtung der Andersgläubigen, sondern brüderliche Belehrung der Irrenden, also die Förderung von Eintracht und Liebe im Geist eines großherzig gedeuteten Evangeliums gewesen seien. Zum dritten kehrt er diese Argumentation postwendend um und zeigt, wie intolerant und grausam dieses oberste geistliche Gericht von Genf noch zu Lebzeiten des Reformators Calvin tatsächlich gegen alles vorging, was auch nur der geringsten Abweichung gegen die vorgeschriebene Doktrin und Lebensordnung verdächtig war. Viertens weist er die theologischen Grundlagen dieser Reformation als eine subjektive Interpretation der Bibel aus, die in krassem Gegensatz zu einer anderthalbtausendjährigen Tradition steht und sich damit als ebenso willkürlich wie anfechtbar und zugleich – wie jede Textdeutung, die Monopolcharakter beansprucht – als de facto unwiderlegbar darstellt. Mit eben dieser Bibelauslegung beteuert fünftens Rousseau übereinzustimmen – um an mehr als einer Kernstelle des Texts die Unhaltbarkeit, ja Absurdität Calvinscher Dogmenbildungen zu unterstreichen. Darüber hinaus wirft er sechstens den Genfer Pastoren des 18. Jahrhunderts nicht ohne Süffisanz vor, ihre eigenen theologischen Traditionen vergessen zu haben und zu vernachlässigen, ja geradezu Irrlehren zu vertreten, die deren Verfechter im 16. Jahrhundert das Leben gekostet haben. Das gilt insbesondere für den Vorwurf des Sozzinianismus, einer die Göttlichkeit Christi leugnenden, die Trinität ablehnenden Doktrin, die ihre Begründer, die Italiener Fausto und Lelio Sozzini, ins Exil trieb und den spanischen Arzt Miguel Servet, der ähnliche Theorien vertrat, in Genf auf den Scheiterhaufen brachte.7

6 Zu Rousseau und Calvin beziehungsweise zur Reformation in Genf siehe Thomas I. Cook: „The Influence of the Protestant Atmosphere of Geneva on the Character and Writings of Rousseau“, in Economica 23 (1928), 191–215; Jean-Louis Leuba: „Rousseau et le milieu calviniste de sa jeunesse“, in Jean-Jacques Rousseau et la crise contemporaine de la conscience, Paris 1980, 11–51; Benjamin R. Barber: „How Swiss is Rousseau?“, in Political Theory 13 (1985), 475–496; Pamela A. Mason: „The Communion of Citizens: Calvinist Themes in Rousseau’s Theory of the State“, in Polity 26 (1993), 25–49; Gabriella Silvestrini: Alle radici del pensiero di Rousseau. Istituzioni e dibattito politico a Ginevra nella prima metà del Settecento, Milano 1993; Bernard et Monique Cottret: „Simul Justus, simul peccator. Jean-Jacques Rousseau était-il protestant?“, in Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français 148 (2005), 107–126. Die Ausstellung Rousseau, Calvin, Genève, die vom 19. Mai bis zum 26. September 2012 im Musée Calvin von Noyon zu sehen war, setzte keine neuen thematischen Akzente. 7 Zu diesem Skandalfall des Jahres 1553 vgl. die Dokumentation von Wolfgang F. Stammler: Das Manifest der Toleranz. Sebastian Castellio: Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll, aus dem Lat. v. Werner Stingl, mit einer histor. Darst. v. Hans R. Guggisberg, Essen 2013.

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Alle diese Argumentationsstränge widersprechen sich selbst – wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird – und sind nicht nur deshalb auf keinen Fall mit einem falschen, von den Ideen der Aufklärung irregeleiteten Verständnis des 16. Jahrhunderts zu erklären. Zudem machte Rousseau in zentralen Passagen der Lettres écrites de la montagne mit aller wünschenswerten Klarheit deutlich, dass der verbale Stein des Anstoßes – das in seinen Erziehungsroman Émile eingefügte Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars8 – mit seinem naturreligiös eingefärbten Deismus und seiner vehementen Ablehnung geschriebener Offenbarungen den Grundsätzen der Genfer Kirche und ihrer Lehre, wie immer man diese auch definierte, widersprach. Wozu dann das kunstvoll inszenierte Verwirrspiel um die Reformation, wie sie angeblich war oder nicht war beziehungsweise hätte sein sollen, aus Bekenntnissen, die sich selbst aufheben, Loyalitätsbekundungen, die sich umgehend widerlegen, stilistisch meisterhaft angerichtet mit ,Hier stehe ich, ich kann nicht anders‘-Pathos und Beschwörungen des Jüngsten Gerichts? Heiliger Ernst und ätzende Ironie, Glaubensfestigkeit und Sarkasmus, Credo und Subversivität schließen sich nicht aus, sondern gehen in diesem Irrgarten der Theologien eine Synthese ein, die nicht nur die ehrenfesten Genfer Pastoren gründlich verwirren und zur Weißglut treiben musste. In seiner Sentenz vom 19. Juni 1762 hatte der Kleine Rat den Contrat social und den Émile pauschal als „vermessen, anstößig, unfromm und zur Zerstörung der christlichen Religion und aller Regierungen führend“9 verdammt. Tronchin hatte diese Anklagen dahingehend konkretisiert, dass Rousseau gegen den in den Ordonnances ecclésiastiques vorgeschriebenen Genfer Bürgereid verstoßen habe, welcher allen Einwohnern in zwei getrennten Klauseln vorschrieb, gemäß der Lehre der Reformation zu leben und nicht gegen diese vorzugehen, zum Beispiel mit neuen religiösen Doktrinen. Dieser Vorwurf warf eine Reihe von Fragen auf, zum Beispiel ob Rousseau nach dem Verzicht auf sein Genfer Bürgerrecht von dieser Bestimmung überhaupt betroffen war und ob die namentlich gezeichnete Veröffentlichung eines Buches als subversive Machenschaft gegen die „heilige evangelische Reformation“ („la Sainte Réformation Evangélique“)10 zu verstehen war. Diese – von Rousseau ausführlich und natürlich zu seinen Gunsten beantworteten – Fragen brauchen hier nur am Rande

8 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 13. Aufl., Paderborn u. a. 1998, 275–334 (OC IV, 565–635). Alle Nachweise für Originalzitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 9 Zitiert nach Jean-Daniel Candaux: „Introduction aux Lettres écrites de la montagne“, in: JeanJacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964, CLIX–CXCVIII, hier CLXII (dt. von Volker Reinhardt). 10  Jean-Jacques Rousseau: „Briefe vom Berge“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 129–369, hier 210 (OC III, 756–757; Hervorh. i. Orig., Volker Reinhardt).



Rousseau, Calvin, die Reformation in Genf und das Konsistorium 

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angeschnitten zu werden. Im Zentrum der Erörterung stand naturgemäß die Frage, ob die religiösen Ideen des savoyischen Vikars, die Rousseau als seine Sicht der Dinge anerkannte, mit den von der Reformation herbeigeführten religiösen Zuständen in Genf übereinstimmten oder nicht. Um hier eine Klärung herbeizuführen, war es unumgänglich, das Wesen dieser Reformation zu definieren. Doch das war einfacher gesagt als getan. Heutzutage, so Rousseau, herrscht darüber Unklarheit, und zwar deshalb, weil die Genfer Pastoren es selbst nicht mehr wissen. Um zu einer trag- und konsensfähigen Definition zu gelangen, muss man also an die Anfänge der Reformation selbst zurückgehen. Dieser Urbeginn bestand laut Rousseau darin, dass die Reformatoren der Papstkirche fundamentale Irrtümer in der Auslegung der Bibel vorwarfen und sich mit dieser Begründung aus der römischen Obödienz herauslösten. Kernpunkt des Dissenses war also eine abweichende Exegese und damit für Rousseau, folgt man seiner Argumentation im zweiten Brief der Lettres écrites de la montagne, ein durch und durch individuelles und daher subjektives Motiv: Man fragte sie, mit welcher Autorität sie sich der angenommenen Lehre entzögen. Sie antworteten, vermöge ihrer eigenen Autorität und der ihrer Vernunft. Sie sagten ferner, daß, da der Sinn der Bibel in Heilsfragen für alle Menschen klar und deutlich wäre, so könnte jeder über die Lehre urteilen und die Schrift, die deren Richtschnur ist, nach seinem eigenen Verstande auslegen; alle würden sich demnach über das Wesentliche einigen, diejenigen Punkte aber, worüber man sich nicht einigen könnte, wären nicht wesentlich.11 On leur demanda de quelle autorité ils s’écartoient ainsi de la doctrine reçue? Ils dirent que c’étoit de leur autorité propre, de celle de leur raison. Ils dirent que le sens de la Bible étant intelligible et clair à tous les hommes en ce qui étoit du salut, chacun étoit juge compétent de la doctrine, et pouvoit interpréter la Bible, qui en est la regle, selon son esprit particulier; que tous s’accorderoient ainsi sur les choses essencielles, et que celles sur lesquelles ils ne pourroient s’accorder ne l’étoient point (OC III, 712).

Damit war laut Rousseau die Reformation und zugleich die Genfer Staatsreligion definiert. Sie bestand darin, dass es sie nicht gab: „Hier ist also der eigene Verstand eines jeden als einziger Ausleger der Schrift anerkannt, die Autorität der Kirche verworfen und ein jeder in Glaubensfragen unter seiner eigenen Rechtsprechung.“12 Jeder ist also Theologe, Glaubensrichter und Inquisitor in eigener Sache. Glaube ist Privatangelegenheit, vorausgesetzt, er fußt auf der Bibel; mehr als diese Verwurzelung in der Heiligen Schrift hat den Staat daher auch nicht zu interessieren. Wie die Bibel im Einzelnen ausgelegt wird, ist frei. Die Genfer Reformation wird so zu einem Akt

11  J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 160–161. 12 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 161. „Voilà donc l’esprit particulier établi pour unique interpréte de l’Ecriture; voilà l’autorité de l’Eglise rejettée; voilà chacun mis pour la doctrine sous sa propre jurisdiction“ (OC III, 712).

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nahezu absoluter Gedanken- und Gewissensfreiheit: „Dies sind die beiden Hauptsätze der Reformation: die Bibel als die Richtschnur des Glaubens anzuerkennen und keine andere Auslegung des Sinns der Bibel als seine eigene anzunehmen.“13 Dass das so nicht stimmte, wusste Rousseau – wie nicht zuletzt seine eigenen Ausführungen in den Lettres écrites de la montagne hieb- und stichfest belegen – sehr genau. Dass die Reformation in Genf, als historische Erscheinung betrachtet, von Anfang an alles andere als ein Aufruf und eine Ermächtigung zum uneingeschränkten religiösen Selbstdenken war, wird aus dem weiteren Argumentationszusammenhang überdeutlich abgeleitet. Dass sie es jedoch hätte werden sollen, steht für ihn ebenso zweifelsfrei fest, doch auf einem anderen Blatt, denn hier ist von geschichtlichen Zuständen die Rede. Es geht also nicht an, Rousseaus Bestimmung der Reformation als bloßen Soll-Zustand zu deklarieren. Gewiss ist die tolerante Reformation ein Ideal, doch eines, das es – folgt man seiner Argumentationsstrategie im zweiten Brief – als geschichtlichen Zustand gegeben hat, dessen Verlust daher umso schmerzhafter empfunden werden muss. Wenn Rousseau historische Fakten fälscht – und das tut er im Zusammenhang mit der Reformation in Genf nicht nur an dieser Stelle –, dann, um seine Gegner ins Unrecht zu setzen und mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Ihr hattet es einmal besser, und ihr habt es selbst verdorben. Eine weitere Bestandsaufnahme zur Genfer Reformation widerspricht den historischen Tatsachen so diametral, dass sie eigentlich nur als satirisch eingekleidete Kritik verstanden werden kann. Laut Calvin kannte die Bibel keine dunklen und daher unverbindlichen Stellen. Im Gegenteil, wer (wie zum Beispiel Erasmus von Rotterdam) die Heilige Schrift so auslegte und auf diese Weise nur die eindeutigen Passagen als für den Menschen moralisch verbindlich deklarierte, versündigte sich für ihn geradezu an Gott und seinem Heilswillen.14 Und natürlich wusste Rousseau – dritte Hauptabweichung von den historischen Fakten – sehr genau, dass sich selbst die Theologen der Reformation, die bei ihm als eine ebenso gleichgestimmte wie tolerante Diskussionsrunde auftreten, in zahlreichen dogmatischen Kernpunkten untereinander uneinig waren und blieben, zum Beispiel Luther und Zwingli. Außer dem Prinzip, dass alle ihren Glauben auf der Grundlage der Bibel selbst definieren dürfen und alle Meinungen mit Ausnahme derjenigen, die diese Freiheit der Auslegung bestreitet, toleriert werden müssen, schreibt Rousseau den Reformatoren und Reformationen nur noch eine einzige weitere Gemeinsamkeit zu: die unversöhnliche Opposition zu Rom und dem Papsttum, das genau jenes fatale Deutungsmonopol behauptet, welches die Reformationen abgeschafft haben. Die Stoßrichtung der Argumentation zeichnet sich damit ab: Mit der Leugnung des Rechts

13 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 161. „Tels sont les deux points fondamentaux de la Réforme: reconnoître la Bible pour regle de sa croyance, et n’admettre d’autre interprête du sens de la Bible que soi“ (OC III, 712–713). 14 Vgl. William J. Bouwsma: John Calvin. A Sixteenth-Century Portrait, New York, Oxford 1988.



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auf Selbstauslegung der Bibel, wie sie im offiziellen Genf des 18. Jahrhunderts und seinen Institutionen wie dem Kleinen Rat und dem Konsistorium vorherrscht, wird die dortige Reformation ihren Ursprüngen und sich selbst untreu und verwandelt sich in eine neue Art des Katholizismus, so wie Tronchin als eine Art reformierter Papst auftritt. Dass Rousseau von der historischen Stichhaltigkeit seiner Darlegung überzeugt ist, kann getrost in Abrede gestellt werden. Was er mit diesen historisch mehr als anfechtbaren Argumenten, gewissermaßen zwischen den Zeilen, zeigen will, ist genau das Gegenteil: Alle auf Wort-Offenbarung beruhenden Religionen tendieren gesetzmäßig zur Intoleranz; auch in Genf war und ist es nicht anders. Das aber ist besonders widersinnig, weil gerade die Reformatoren dem Papsttum diese Haltung vorgeworfen und zur Ursache ihrer Abspaltung erklärt haben. In Wirklichkeit sind sie um kein Haar besser. In ihrem Anfangsdisput mit der katholischen Seite – so Rousseau weiter – traten die Reformatoren mit dem Argument auf, dass ihre Auslegung alle Menschen guten Willens von selbst überzeugen müsse.15 Ihre Mission als Sprachrohre Gottes, wie in der christlichen Tradition üblich, mit Wundern zu belegen und zu legitimieren, hielten sie daher für unter ihrer Würde. Unser Wunder ist unsere unwiderlegbare, von allen Verunreinigungen der Papisten freigelegte Exegese der Bibel, so lautete ihre Begründung. Das klingt noch nach der Freiheit des Wortes und des Glaubens, die Rousseau als Markenzeichen aller Reformationen und speziell der genferischen in Anspruch genommen hatte. Doch dieser Schein der Toleranz fällt quasi sofort in sich zusammen. Denn in denselben Diskurs mit den Katholiken flechten die selbst ernannten Erneuerer der christlichen Religion laut Rousseau bereits die erste Drohung ein, mit der alles verloren ist: Wenn ihr der Stimme Christi, die aus unserem Munde spricht, nicht Folge leistet, werdet ihr bestraft werden, und zwar so wie ungetreue Diener, die den ausdrücklich erklärten Willen ihres Herrn nicht erfüllen wollen. Und in diesem Stil geht es nahtlos weiter: „Auf diesem Stand ist nun der Streit geblieben. Man hat nicht aufgehört, über die Stärke der Beweise zu streiten, und dieser Streit wird so lange dauern, wie die Menschen nicht alle einen Kopf haben.“16 Mit anderen Worten: Die Reformation erlaubte nie Gedanken- oder auch nur Auslegungsfreiheit. Rousseaus Behauptung, dass es in Genf nur die eine Staatsreligion der fast grenzenlosen Toleranz gegeben habe und weiter gebe, zeigt sich spätestens jetzt als das, was sie ist: Hohn auf konfessionellen Hader und Dogmatismus sowohl im Allgemeinen, unter den drei konkurrierenden Hauptkonfessionen Europas, als auch im Besonderen, nämlich in Genf, wo die Gewissen nicht frei, sondern von Anfang an versklavt sind. In diesem absurden Streit der Orthodoxiesysteme schneidet die reformierte

15 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 173–176 (OC III, 724–726). 16 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 173–174. „Tel est l’état où la querelle est restée. On n’a cessé de disputer sur la force des preuves: dispute qui n’aura jamais de fin, tant que les hommes n’auront pas tous la même tête“ (OC III, 724).

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Seite sogar noch schlechter ab als ihr altgläubiger Widerpart. Obwohl sich Guillaume Farel, wie vom Ratsprotokoll bezeugt, als Gesandter Gottes bezeichnet,17 bleibt er, wie erwähnt, die Legitimationstitel für diesen Anspruch schuldig und stellt sich damit gegen eine uralte Tradition, die stattdessen die Parteigänger des Papsttums für ihre Dogmen anführen können. Diese erscheinen damit im Licht der Vernunft und der menschlichen Erfahrung zwar als nicht weniger fragwürdig, gewinnen aber immerhin durch den Glauben so vieler Generationen bei vielen Menschen die höhere Glaubwürdigkeit. Dieselbe Methode, einen Idealzustand als zumindest ursprünglich verbürgt und damit in der Folgezeit veruntreut anzusetzen, befolgt Rousseau auch gegenüber der wichtigsten Institution der Genfer Staatskirche, dem Konsistorium.18 Dieses kirchliche Gericht stand – wie Rousseau aufgrund seiner ausgezeichneten Kenntnisse zur Geschichte und speziell zur Reformation seiner Heimatstadt mit Sicherheit wusste – vom Beginn der Reformation an im Zentrum der Debatten und des Kampfes um eine neue Lebensordnung. Calvin hätte sich dieses oberste religiöse und zugleich soziokulturelle Aufsichtsorgan als ein rein geistliches Gremium gewünscht, drang aber mit diesem Desiderat, wie unschwer zu erklären, nicht durch: Ein ausschließlich von Pastoren besetztes Konsistorium hätte Genf zumindest teilweise in eine Theokratie umgewandelt und die classe politique weitgehend unter die moralische und damit auch politische Oberhoheit der Pastoren-Gesellschaft gestellt. Trotzdem wuchsen die Kompetenzen dieses am Ende paritätisch von Pastoren und politischen Amtsträgern besetzten Gerichts bis zum Tod Calvins auf eine für viele Genfer und Genferinnen furchterregende Weise an. Lektüre der falschen, das heißt: verdächtigen oder verbotenen Bücher, Singen unerlaubter, da ‚obszöner‘ Lieder, Kartenspiel, übermäßig opulente Gastmähler, sexuelle Protzerei – das alles fiel jetzt in die Zuständigkeit des Konsistoriums und ging über dessen eigentliche Aufgabenfelder der Rechtgläubigkeitskontrolle weit hinaus.19 Rousseau aber präsentiert das strenge Tribunal als einen Hort der milden Weisheit. Der Eid, den seine Mitglieder abzulegen haben, verpflichtet diese zum Kampf gegen „Abgötterei, Gotteslästerung, Ausschweifungen und andere Dinge […], welche wider die Ehre Gottes und die evangelische Reformation streiten“ („idolâtries, blasphè­ mes, dissolutions, et autres choses contrevenantes à l’honneur de Dieu et à la Réforma­ tion de l’Evangile“).20 Gemäß dieser Auslegung seiner Statuten ist das Konsistorium also eine Art Nothilfe-Organ, das nur in extremen Fällen die Integrität von Kirche

17 Vgl. Henri Naef: Les origines de la Réforme à Genève, tome II: L’ère de la triple combourgeoisie – L’épée ducale et l’épée de Farel, Genève 1968. 18 Vgl. zu diesem Aspekt William G. Naphy: Calvin and the Consolidation of the Genevan Reformation, Manchester, New York 1994. 19 Siehe V. Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend, 190–228. 20 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 163 (OC III, 715 ; Hervorh. i. Orig., Volker Reinhardt).



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und sozialer Ordnung aufrechtzuerhalten hat. In diesem Geist, so Rousseau weiter, ist auch seine Verfahrensordnung gehalten, wie der von ihm im vierten Brief wortgetreu zitierte Artikel 88 der Ordonnances ecclésiastiques belegen soll.21 Er schreibt vor, dass derjenige, der gegen die rechtmäßige Lehre dogmatisiert, zu einer Unterredung eingeladen werden soll. Fügt sich der Abweichler in dieser gütlichen Besprechung den ihm erteilten Unterweisungen, dann soll er ohne Aufsehen und Schande wieder im Schoß der Gemeinde geduldet werden. Beharrt er auf seiner falschen Meinung, so soll er in der Folgezeit mehrfach ermahnt werden, um ihn zur herrschenden Lehre zurückzuführen. Wenn schließlich absehbar wird, dass größere Strenge vonnöten ist, soll er vom Heiligen Abendmahl ausgeschlossen und die weltliche Gerichtsbarkeit mit der Angelegenheit betraut werden. Laut Rousseau spiegelt diese Vorschrift den Geist wahrer Nächstenliebe wider: „Hieraus erhellt nun […] 4. Daß alle diese Wege nachsichtsvoll, nicht entehrend und voller Mitleid sind, so wie es Christen zukommt, nach dem Beispiel ihres Meisters zu verfahren, bei Verstößen, welche die bürgerliche Ordnung nicht stören, sondern bloß die Religion betreffen.“22 Zudem – so heißt es in dieser bizarren Auslegung weiter – erschöpft sich das Strafrepertoire des Konsistoriums mit der Verhängung des Abendmahlsverbots, also mit einer rein geistlichen Buße. Auch diese Argumentation verkehrt sich jedoch postwendend ins Gegenteil. Rousseau selbst merkt unmittelbar darauf trocken an, dass es mit der Exkommunikation eben nicht sein Bewenden hatte. Denn nach dem Konsistorium trat das Strafgericht der Republik auf den Plan, und zwar, wie allen Genfern bekannt sein musste, bei schwereren Fällen obligatorisch, automatisch und vor allem rigoros – in den letzten Jahren Calvins stand zum Beispiel auf Ehebruch die Todesstrafe. Denn das Staatsgesetz, so Rousseau weiter, duldet nur eine Staatsreligion auf dem Staatsgebiet, wer eine andere bekennt, muss aus diesem Staat entfernt werden. Die ‚Humanität‘ des Konsistoriums besteht also nur zum Schein, denn es arbeitet dem intoleranten Staat zu, wie der von Rousseau im Anschluss daran erzählte Fall des religiösen Abweichlers Jean Morély, der Genf in den Jahren 1562 und 1563 beschäftigte, mit aller nur denkbaren Ausführlichkeit belegt. Wie es in Wirklichkeit vor dem Konsistorium zuging, deutet Rousseau auch in einer Fußnote am Ende des zweiten Briefes an: Welcher Mensch war zum Beispiel eigensinniger, herrschsüchtiger, maßgebender und göttlich unfehlbarer nach seiner Meinung als Calvin, für den der geringste Widerstand, der geringste

21 Siehe J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 213 (OC III, 759). 22 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 213. „On voit par là […] 4. Que ces voyes sont pleines de douceur, d’égards, de commisération; telles qu’il convient à des Chrétiens d’en user, à l’exemple de leur maître, dans les fautes qui ne troublent point la société civile et n’intéressent que la Religion“ (OC III, 759).

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Einwand immer ein Werk des Teufels, ein des Feuers würdiges Verbrechen war? Michel Servet war nicht der einzige, den es das Leben gekostet hat, weil er wagte, anders zu denken als Calvin.23 Quel homme, par exemple, fut jamais plus tranchant, plus impérieux, plus décisif, plus divinement infaillible à son gré que Calvin, pour qui la moindre opposition, la moindre objection qu’on osoit lui faire étoit toujours une œuvre de Satan, un crime digne du feu? Ce n’est pas au seul Servet qu’il en a coûté la vie pour avoir osé penser autrement que lui (OC III, 726).

Dass Calvin, der laut Rousseau auf seine schroffe Weise Unfehlbarkeit für sich in Anspruch nimmt und dadurch katholischer ist als die Katholiken selbst, als unbestrittenes Haupt der Kirche eine Religion der absoluten Toleranz und ohne dogmatische Zwänge ins Werk gesetzt haben soll: diese zentrale Ausgangsthese der Lettres écrites de la montagne gewinnt durch das sarkastische Kurzprofil des Reformators erst ihre volle ironische Würze. Und die zahlreichen Menschenleben, die Calvins Anspruch, die Wahrheit der Bibel alleine gefunden zu haben, gekostet hat, gehen Rousseau zufolge selbstverständlich auf das Zusammenspiel von Konsistorium und Kleinem Rat, wie für ihn nicht nur der berühmteste dieser Fälle, die Hinrichtung des spanischen Trinitäts-Leugners Servet im Jahre 1553, beweist. Der Calvin-Steckbrief war eine offene Kampfansage von seltener Massivität und Aggressivität. Calvin blieb im 18. Jahrhundert das offiziell verehrte Haupt der Genfer Kirche und aller reformierten Gemeinden in Europa und in den USA, so unterschiedlich man sein Hauptwerk, die Institutio christianae religionis, im Einzelnen auch auslegte.24 Ihn – wie Rousseau an der zitierten Stelle – als einen menschenverachtenden Fanatiker darzustellen, der seine persönlichen Phantasmagorien zum Staatsdogma erhob und dafür reichlich Blut vergoss, ließ nicht nur jede Verständigung mit den Genfer Obrigkeiten von vornherein aussichtslos erscheinen, sondern zeigte auch nochmals an, worum es Rousseau in den Lettres écrites de la montagne in religiöser und kirchlicher Hinsicht wirklich ging. Dieses Ziel konnte nicht, wie es der Wortlaut der Briefe dem Leser weismachen will, darin bestehen, das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars ‚genf-kompatibel‘ zu machen. Für Rousseau konnte es in Wirklichkeit allein darum gehen, die inneren und äußeren Widersinnigkeiten und Widersprüche aller christlichen Orthodoxien an den Tag zu bringen. In seinem in vieler Hinsicht analogen Unterfangen der Lettres écrites à un provincial hatte Blaise Pascal, dem es darum ging, die Jansenisten von Port-Royal gegen den von römisch-katholischer Seite erhobenen Häresie-Vorwurf zu verteidigen und die Jesuiten mit ihrer laxen KasuistikMoral anzuklagen, ein gutes Jahrhundert zuvor ein anderes literarisches Verfahren gewählt. In den wichtigsten seiner im Stil satirischen, aber zugleich theologisch ernsthaft argumentierenden Briefe wird ein ebenso gutgläubiger wie naiver Kund-

23 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 175. 24 Vgl. dazu Philip Benedict: Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven, London 2002.



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schafter ausgeschickt, der in Erfahrung bringen soll, was die verschiedenen Orden der katholischen Kirche wirklich über Gnade und Prädestination denken – und erlebt dabei Irrungen und Wirrungen, die für den Leser nicht nur erhellend sind, sondern am Ende auch die Richtigkeit der jansenistischen Augustinus-Interpretation belegen und die Jesuiten ins Unrecht setzen. Rousseau hingegen verfolgt weiter die Strategie, seine religiösen Ansichten als für Genf tolerierbar, ja im Kern mit der dort herrschenden Lehre übereinstimmend nachzuweisen, nur um diese scheinbare Konkordanz danach umso nachhaltiger wieder zu zertrümmern und zu zeigen, dass die Reformatoren ihren eigenen Grundsätzen widersprechen. Dieselbe Strategie von Schein-Apologie und nachfolgender ‚Ad absurdum-Führung‘ wird bei der Erörterung von Moral und Dogmatik der reformierten Kirche auf die Spitze getrieben. Die Reformatoren, so hatte Rousseau argumentiert, lehnten es ab, Wunder zu tun und beriefen sich stattdessen auf zweierlei Kriterien für die Rechtmäßigkeit ihrer Abspaltung: auf die allen Menschen guten Willens spontan einleuchtende Wahrheit ihrer Lehre und deren Übereinstimmung mit ihrer eigenen Lebensführung. Leben und Doktrin standen – so Farel und Calvin – nicht wie bei den Katholiken im Widerspruch zueinander, sondern bildeten ein überzeugendes, unteilbares Ganzes. Von dieser doppelten Beweisführung erklärt sich Rousseau, der ja behauptet, nach den Regeln der Reformation zu leben, überzeugt – und damit zum Protestanten.25 Seine Definition dieses Begriffs folgt auf dem Fuß und hat es in sich. Entscheidend für einen Protestanten, so Rousseau, ist das Recht, Zweifel zu äußern, sofern diese nicht den Kern des Credos betreffen. Sein im Émile abgelegtes Credo aber stimme, affirmativ wie es in allen wichtigen Punkten ausfällt, mit dem reformierten Bekenntnis überein. Wie diese Sätze wirklich gemeint sind, zeigt sich gemäß Rousseaus literarischem Verfahren wiederum später und in scheinbar unterschiedlichen Zusammenhängen. Übereinstimmung mit der „Reformation des heiligen Evangeliums“ („la Réformation du St. Evangile“)26 konnte im Textzusammenhang bislang ja zweierlei bedeuten: Zum einen die Vereinbarkeit mit dem Prinzip, das Rousseau als einzig tragfähige Grundlage der Reformation entdeckt zu haben beanspruchte, nämlich die Bibel als Basis aller Lebensbereiche anzusehen und ansonsten grenzenlose Toleranz walten zu lassen. Und zum anderen die Verträglichkeit mit der tatsächlich an der Rhone herrschenden Staatsreligion, die das schiere Gegenteil dieser umfassenden Duldsamkeit bedeutete. In seinem dritten Brief aber macht Rousseau unmissverständlich deutlich, dass beide Auslegungen zu seinen eigenen religiösen Anschauungen in unauflöslichem Widerspruch stehen.

25 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 170 (OC III, 721). 26 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 209 (OC III, 756).

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Denn nicht alles, was in der Bibel steht, ist laut Rousseau von Gott inspiriert,27 also ewig gültige Wahrheit. Damit ist die Heilige Schrift auch nicht mehr die allein verbindliche Richtschnur in allen Glaubensfragen. Im Gegenteil: uneingeschränkt gültig ist sie nur in Sachen Moral, wie sie die Evangelien lehren. Damit aber wird die christliche Offenbarung regelrecht entkernt, was mit dem Genfer Bürgereid, der zur Lebensführung nach dem Evangelium anhielt, selbst bei weitherzigster Auslegung und selbstverständlich auch mit dem Bibelverständnis einer Reformation im Geist der Toleranz absolut unvereinbar war. Selbst wenn diese fiktive, als Kontrastfolie zur tatsächlichen Reformation ausgespannte Idealreformation jedem die Auslegung des Schriftsinns überlassen hätte, wäre damit doch primär der Weg zum Heil und kein innerweltlicher Verhaltenskodex ethisch einwandfreier Mitmenschlichkeit vorgeschrieben gewesen. Mit der doppelten Aussage, dass nicht alles in der Bibel von Gott stamme und nur die Morallehre verpflichtend sei, verabschiedete sich Rousseau 1764 definitiv aus jedem wie auch immer gearteten christlichen Kirchen- und Glaubensverständnis in einen undogmatischen Deismus, den jeder unbefangene Leser ja auch als Botschaft des savoyischen Vikars aufzunehmen in der Lage ist. Warum dann die Beteuerung des offensichtlich unwahren Gegenteils, ‚reformiert‘ zu sein? Durch die bis zum Schluss aufrechterhaltene Gegenbehauptung, reformiert im eigentlichen, das heißt: besseren Wortsinn zu sein, bot sich Rousseau die Möglichkeit, das krause Konstrukt dogmatischer Erfindungen gewissermaßen implodieren zu lassen. Dieses Spiel wird auch in der Auseinandersetzung mit dem theologischen Kern des Calvinismus weiter getrieben. So distanziert sich Rousseau ausdrücklich vom Apostel Paulus, dem eine Reihe von Irrtümern nachzuweisen er sich erbietet.28 Paulus war für alle Reformatoren der theologische Wahrheitszeuge par excellence; aus ihm sprach laut Calvin Gott selbst, der den Christenverfolger Saulus nach seinem unerforschlichen Ratschluss zu seinem vornehmsten Werkzeug machte. Ihm falsche Aussagen zuzuschreiben, hieß, dem Christentum in allen seinen Erscheinungsformen eine Absage zu erteilen. Doch selbst diese Provokation ließ sich noch steigern. Auch wenn die Botschaft Christi gegen die düstere Lehre des Paulus in Schutz genommen und zur höchsten Moral überhaupt erklärt wird, wird auch hier eine definitive Ablösung vollzogen: Christus ist für Rousseau nicht nur der weiseste unter den Sterblichen, sondern auch der liebenswerteste. Christus für sterblich zu erklären aber hieß, ihm die Gottessohnschaft abzusprechen und damit das Christentum von seinem Namen und Ursprung her aufzuheben. Auch das konnte selbst mit der undogmatischsten Auslegung der Bibel und der Genfer Reformation nie und nimmer in Einklang gebracht werden. Für strenge und laxere Calvinisten gleichermaßen anstößig fiel auch die Schilderung aus, die Rous-

27 Siehe J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 203 (OC III, 751). 28 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 207 (OC III, 754).



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seau von Lehre und Lebensstil Christi und seiner Anhänger entwarf. Das Christentum war laut Rousseau nämlich nicht die „ebenso furchtbare wie unangenehme Religion“ („une Religion aussi terrible et déplaisante“), die Reformatoren und Jansenisten aus ihm gemacht haben, vielmehr war es „angenehm und sanft“ („agréable et douce“).29 Dasselbe galt für den weisesten aller Menschen selbst: [A]llein ich kann nicht umhin, zu sagen, daß das, was mir an dem Charakter Jesu am besten gefällt, nicht nur das Sanfte der Sitten, die Einfalt ist, sondern vielmehr das Angenehme, das Gefällige und selbst das Zierliche. Er floh weder die Vergnügungen noch die Feste, er ging zu Hochzeiten, besuchte die Weiber, spielte mit den Kindern, er liebte das Räucherwerk und aß bei den Steuereinnehmern.30 [M]ais je ne puis m’empêcher de dire qu’une des choses qui me charment dans le caractère de Jésus, n’est pas seulement la douceur des mœurs, la simplicité, mais la facilité, la grace et même l’élégance. Il ne fuyoit ni les plaisirs ni les fêtes, il alloit aux noces, il voyoit les femmes, il jouoit avec les enfans, il aimoit les parfums, il mangeoit chez les financiers (OC III, 753–754).

Jesus als formvollendet auftretender Weltmann, der die moderaten Vergnügungen dieser Welt nicht verschmäht und, wie Rousseau im Folgenden erläutert, eine Moral verkündet, die „etwas Anziehendes, Schmeichelndes und Zärtliches“ („quelque chose d’attrayant, de caressant, de tendre“)31 an sich hat und zudem einem empfindsamen Herzen entspringt – schroffer konnte man den Trennstrich zu Genf und allen Reformatoren nicht ziehen. Diese hatten die imitatio Christi als via crucis in einer vom Bösen beherrschten Welt gelehrt; unter Rousseaus Feder verwandelte sich das Christentum in einen milden Hedonismus, der niemanden abschreckte oder ärgerte außer den Bösen, die sich harsche Strafpredigten anhören mussten. Diese Umwertung des Christentums zu einer das Diesseits mit allen Wundern eines gütigen Schöpfergottes selig genießenden Mitmenschlichkeits-Moral war nicht nur der bewusst gesetzte Kontrapunkt zur real existierenden Reformation in Genf, sondern auch eine subversive Kritik an den Genfer Pastoren anno 1764. Diese frönten laut Rousseau selbst einem bedenklichen Laxismus in Lehre und Leben, beriefen sich aber im Gegensatz dazu stets auf die unbarmherzig harten Regeln Calvins und seiner Mitstreiter, predigten also öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein. Eine stärkere Delegitimierung der Reformation, wie sie wirklich war, sowie ihrer Urheber und Nachfolger lässt sich schwerlich denken. Der Kontrast zwischen dem weisen Menschen Jesus Christus und dem, was die Genfer aus dessen milder Botschaft gemacht hatten, fiel so stark aus, dass sich Rousseau zu einer eigentümlichen Ehrenerklärung gegenüber der Bibel gedrängt fühlte: „[A]llein es wird niemals daraus folgen, daß ich das Evange-

29 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 206 (OC III, 753). 30 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 206 (OC III, 753). 31 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 206 (OC III, 754).

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lium zum Spott göttlich finde.“32 Wenn Jesus nicht mehr Gottes Sohn war, stellte sich diese Frage tatsächlich: Was war dann an seiner Predigt noch göttlich? Für Rousseau war die Antwort klar: nicht der Bote im krausen Sinn der Trinität, dieses absurden Theologen-Konstrukts, sondern die Botschaft im Geiste der reinen Moral. Calvin hätte ihn mit solchen Aussagen schnurstracks auf den Scheiterhaufen schicken lassen, und auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren solche Meinungen alles andere als ungefährlich, wenn man wie Rousseau ab 1762 der Protektion höheren Ortes ermangelte. Was Rousseau von der theologischen Basis der tatsächlich vollzogenen Reformation in Genf hielt, schrumpfte demgegenüber fast zur Nebensache. So begnügte er sich denn auch mit einer einzigen, dafür umso heftigeren Attacke auf den schon zu Lebzeiten Calvins umstrittensten und am häufigsten missverstandenen Punkt: Im 16. Jahrhundert gab es viele Streitigkeiten über die Gnadenwahl, die man besser den Schülern zur Belustigung überlassen hätte, aber man machte wie gewöhnlich eine große Staatsaffäre daraus. […] Die wichtige Frage, über die man [im Jahr 1669, V.R.] stritt, war, zu bestimmen, ob Christus bloß für das Heil der Auserwählten oder auch für das Heil der Verdammten gestorben sei?33 Il y eut dans le seizieme siécle beaucoup de disputes sur la prédestination, dont on auroit dû faire l’amusement des écoliers, et dont on ne manqua pas, selon l’usage, de faire une grande affaire d’Etat. […] L’importante question dont il s’agissoit étoit de savoir si Jésus étoit mort seulement pour le salut des élus, ou s’il étoit mort aussi pour le salut des dannés (OC III, 774).

Damit verspottete Rousseau eine Frage, die ein Jahrhundert zuvor in der Tat führende Intellektuelle Europas zutiefst bewegt hatte, nicht nur in Genf, sondern auch und vor allem in Frankreich, wo die Jansenisten um Arnauld, Nicole und Pascal sich – lehramtlich gesehen vergeblich – darum bemüht hatten, ein katholisches Prädestinations-Konzept von der calvinistischen Häresie abzugrenzen, indem sie argumentierten, dass der Mensch die göttliche Gnade zwar theoretisch ablehnen könne, deren Anziehungskraft aber in Anbetracht der psychischen Grundstruktur des Menschen de facto obsiegen müsse. Für diese Feinheiten hatte Rousseau nur noch Hohn übrig, ebenso für die Entscheidung des Hohen Rates, der dem Streit schließlich durch die Feststellung ein Ende gemacht hatte, dass Christus nur für die Erwählten gestorben sein durfte: „Man kann leicht einsehen, daß dieses Urteil Ansichtssache war und daß Jesus für das Heil der Verdammten gestorben wäre, wenn nur Professor Tronchin damals mehr Vertrauen genossen hätte als sein Gegner.“34 Die ganze Lächerlichkeit

32 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 207. „Mais il ne s’ensuivra jamais de-là que ce soit par dérision que je trouve l’Evangile divin“ (OC III, 754). 33 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 229. 34 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 230. „On conçoit bien que ce jugement fut une affaire de faveur, et que Jésus seroit mort pour les dannés, si le Professeur Tronchin avoit eu plus de crédit que son adversaire“ (OC III, 774).



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solcher Haarspaltereien zeigt sich für Rousseau in dieser Entscheidung: etwas mehr Anhang und Anklang des ‚liberalen‘ Sachwalters, der auch noch ausgerechnet Tronchin hieß, in der classe politique, und Jesus’ Opfertod wäre auch den Verdammten zugute gekommen! Die damit an die Theologie, nicht nur die Calvins, erteilte Absage ist von schneidender Endgültigkeit: „Die Entscheidung aller dieser Fragen, welche niemanden betreffen und von denen niemand, wer es auch sei, etwas verstehen kann, muß für immer den Theologen überlassen bleiben.“35 Heilige Bücher, Orakel, Wunder und dickleibige Traktate sind gleichermaßen überflüssig, wie die Gotteswissenschaft als Ganze, denn Gott teilt sich dem Menschen in dessen Seele und durch die Natur mit: direkt, universell und wahrhaft undogmatisch. Rousseaus Kritik an Doktrinen und Institutionen, nicht nur im reformierten Genf, ist von äußerster Radikalität. Das virtuos betriebene Gegeneinander-Ausspielen von Reformation, wie sie angeblich wirklich einmal war, Reformation, wie sie sehr schnell wurde, Reformation, wie sie hätte sein sollen und Gottfindung, wie sie allein möglich ist, mündet auf den ersten Blick in eine artifiziell angerichtete Konfusion, hinter der die vollständige Delegitimierung aller Personen und Institutionen des reformierten Genfs, einst wie jetzt, aufscheint. Ein wahrhaft christliches Staatswesen müsste laut Rousseau nicht nur den Glauben für alle frei geben, und zwar ohne jegliche Anbindung an die „heilige evangelische Reformation“ („la Sainte Réformation Evangélique“),36 die es seiner Ansicht nach – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – ja, wie dargelegt, nie wirklich gegeben hat. Konfessionsbildungen sind ein verhängnisvoller Irrweg, der nie zu Ende ausgeschritten sein wird, solange man über Gott auf der Grundlage von Büchern diskutiert. Diese Fehlentwicklung ist umso fataler, als sie durch systematische Rückbesinnung des Menschen auf die unverschütteten Quellen der Wahrheit vermeidbar gewesen wäre, und zwar von Anfang an; schließlich hat sich die Grundausstattung des Menschen mit amour de soi und pitié im Laufe der Geschichte nicht gewandelt. Der savoyische Vikar alias Jean-Jacques Rousseau legt ja nur dar, was jeder Mensch guten Willens, der nicht mehr den verzerrenden Fanatismen der Orthodoxien ausgesetzt ist, in sich selber finden kann. Insofern sind die Schuldzuweisungen an die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten Genfs massiv. In der Frage der Religion und der religiösen Toleranz läuft Rousseaus so verwirrend anmutende Argumentation auf die Diagnose so umfassender Missstände hinaus, dass diese nur durch eine vollständige Umgestaltung, um nicht zu sagen: durch einen entschlossenen Umsturz der Verhältnisse beseitigt werden könnten. Diese Aussage steht unter dem Strich der fünf ersten Briefe der Lettres écrites de la montagne, die sich mit religiösen und kirchlichen Fragen beschäftigen. Als Überlei-

35 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 230. „La décision de toutes les questions qui n’intéressent personne et où qui que ce soit ne comprend rien doit toujours être laissée aux Théologiens“ (OC III, 774). 36 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 210 (OC III, 756–757; Hervorh. i. Orig., Volker Reinhardt).

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 Volker Reinhardt

tung zu den Briefen sechs bis neun, die in die Genfer Verfassungskonflikte eingreifen, decken die vorangehenden Schreiben einen weiteren fundamentalen Missstand mit potentiell nicht minder revolutionären Konsequenzen auf: Die Verurteilung von Rousseaus Büchern fand nicht nur ohne Anhörung des Beschuldigten statt, was gegen die Ordonnances ecclésiastiques verstößt, sondern wurde, was noch viel gravierender ist, vom Kleinen Rat vorgenommen, der dafür gar nicht zuständig ist. Mit anderen Worten: Die Genfer Oligarchie hat eine Kernkompetenz des Konsistoriums usurpiert und damit nicht nur gegen einen zentralen Buchstaben, sondern auch gegen den Geist der Kirchenordnung, der Verfassung und damit wiederum der Reformation verstoßen.37 Denn diese hatte, so Rousseau, die Aufgaben zwischen Kirche und Staat so verteilt, dass keine der beiden Obrigkeiten die andere überwältigen und unterdrücken konnte. Zu diesem Zweck blieben alle Urteile über Orthodoxie und Heterodoxie der Theologen dem gemischt besetzten geistlichen Gericht vorbehalten. Dass mit dem Staatsanwalt Jean-Robert Tronchin ein Nicht-Theologe das Verdammungsurteil über seine Schriften vorformulierte, welches der dafür ebenso wenig zuständige Kleine Rat dann nachbetete, zeigte Rousseau zufolge nur an, wie dramatisch die Rechts- und Machtverhältnisse an der Rhone in Unordnung geraten waren. Den nachfolgenden Briefen bleibt es denn auch vorbehalten aufzuzeigen, dass diese Machterschleichung weder Zufall noch Einzelfall ist. Im Gegenteil: Das Genfer Patriziat ist auf diesem abschüssigen Weg noch viel weiter und mit noch viel weiter reichenden Konsequenzen vorangeschritten. Dieser Abstieg beziehungsweise Absturz vollzog sich laut Rousseau gesetzmäßig, wie alle Leser seines Contrat social wissen mussten: „Die Grundlagen des Staates sind in allen Regierungsformen dieselben, und diese Grundlagen sind in meinem Buch besser ausgeführt als in irgendeinem anderen.“38 Auf den Punkt gebracht: Regierungen (gouvernemens) sind staatsrechtlich betrachtet ausschließlich ausführende Organe des Souveräns und seines Willens, ihre Kompetenzen sind lediglich delegierte und können ihnen deshalb jederzeit auch wieder entzogen werden. Gerade deshalb aber neigen die Inhaber der exekutiven Gewalt, ob nun ein König oder eine Aristokratie, dazu, die Souveränität an sich zu ziehen und den Souverän derselben zu berauben. Genau das aber ist nach Rousseaus Meinung in Genf durch einen schleichenden Prozess der Aushöhlung bereits seit längerem geschehen: „Die mit der Ausübung eurer Gesetze beauftragte Körperschaft ist deren Ausleger und höchster Richter; sie läßt sie sprechen, wie es ihr gefällig ist; sie kann sie zum Schweigen bringen, sie kann sie sogar verletzen, ohne daß ihr dem

37 Siehe J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 226ff. (OC III, 771ff.). 38 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 272. „Les fondemens de l’Etat sont les mêmes dans tous les Gou­ vernemens, et ces fondemens sont mieux posés dans mon Livre que dans aucun autre“ (OC III, 811).



Rousseau, Calvin, die Reformation in Genf und das Konsistorium 

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Einhalt tun könnt, denn sie steht über den Gesetzen.“39 Anstelle des Generalrats aller Vollbürger hat sich eine schmale Elite an die Spitze des Staates manövriert, um diesen nach ihrem Belieben und in ihrem Interesse zu regieren. In Genf – so Rousseaus bitteres Fazit – wird nicht nur die Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern auch die politische Freiheit unterdrückt. Beide sind untrennbar und können nur durch entschlossene Gegenwehr der Unterdrückten wiederhergestellt werden. Diese ganzheitliche Reformation Genfs aber, die zugleich eine politische Revolution bedeutete, steht weiterhin aus.

39 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 276. „Le corps chargé de l’exécution de vos Loix en est l’inter­ préte et l’arbitre suprême; il les fait parler comme il lui plait; il peut les faire taire; il peut même les violer sans que vous puissiez y mettre ordre; il est au dessus des Loix“ (OC III, 814).

Simone Zurbuchen

Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung In den Lettres écrites de la montagne verteidigte sich Rousseau gegen die vom Kleinen Rat der Stadt Genf erhobene Anklage, mit dem Contrat social und dem Émile zwei Werke veröffentlicht zu haben, welche die Zerstörung der christlichen Religion und aller Regierungen anstrebten.1 Im Folgenden soll es ausschließlich um den zweiten Punkt der Anklage gehen, den Rousseau im sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne aufgreift, um von da ausgehend in drei weiteren Briefen eine ausführliche und detaillierte Analyse des Verfalls der Genfer Verfassung sowie der Heilmittel dagegen vorzulegen. Um diese Ausführungen sowie deren Verhältnis zur politischen Theorie des Contrat social richtig deuten zu können, gilt es die doppelte Strategie zu beachten, die Rousseau im sechsten Brief zu seiner Verteidigung einschlägt. Die erste Strategie baut auf die Feststellung eines bedeutenden Unterschieds zwischen der ursprünglichen Formulierung der Anklage durch den Rat und deren Wiedergabe in Jean-Robert Tronchins Lettres écrites de la campagne,2 auf die Rousseau mit seinen Lettres écrites de la montagne reagierte. Während der Rat von der Absicht der Zerstörung gesprochen habe, sei bei Tronchin von einer höchst gewagten Kritik die Rede. Gesetze umzustürzen und sie zu kritisieren sei jedoch keineswegs dasselbe. Da könne man genauso gut denjenigen, der die Fehler der Ärzte kritisiere, des Mordes an den Kranken anklagen.3 Der Rat in Genf, der den Contrat social habe verbrennen lassen, während er überall in Europa verkauft werde, sei dazu nach geltendem Recht gar nicht befugt gewesen, denn dieser zähle zu den Büchern, in denen es um das Naturrecht und das politische Recht gehe, die immer öffentlich in der Stadt verkauft worden seien.4 Im Contrat social hatte Rousseau dieses Recht auf Kritik eingefordert

1 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Briefe vom Berge“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, Frankfurt/Main 1988, 143 (OC III, 804). An dieser Stelle wird „gouvernement“ mit „Regierungsform“ übersetzt, an anderen Stellen mit „Regierung“. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht die Regierung im Sinn der Exekutive gemeint, sondern im Sinne der politischen Ordnung. Ich halte mich im Folgenden an die gängigen deutschen Übersetzungen von Rousseaus Schriften und verwendende „Regierung“ auch dort, wo die politische Ordnung als Ganze gemeint ist. Alle Nachweise für Original­ zitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 2 Jean-Robert Tronchin: Lettres écrites de la campagne, Genf 1765. 3 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 144 (OC III, 805). 4 Siehe J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 150–152 (OC III, 810–812).

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unter Berufung auf die Pflicht des Bürgers eines freien Landes, sich über die öffentlichen Angelegenheiten zu informieren.5 Obwohl Rousseau den Contrat social der politischen Theorie zuordnet, räumt er gleichwohl ein, er habe darin kein ‚System‘ entwickelt, das man wie Platons Politeia oder Morus’ Utopia ins Land der Chimären hätte verbannen können, sondern mit der Genfer Verfassung einen real existierenden Gegenstand beschrieben und Zeugnis von dessen bevorstehender Zerstörung abgelegt.6 Demnach werden im Contrat social also nicht nur die allgemeinen Prinzipien des politischen Rechts entwickelt, sondern es wird auch deren konkrete Anwendung behandelt. Diese praktische Dimension gehörte nach Rousseau ebenfalls zur Verantwortung des Bürgers, wie er in einem Entwurf des sechsten Briefes festhielt: „In allen freien Ländern, wo ein guter Staatsbürger einen Mangel in der Verfassung findet und ein Mittel kennt, diesen zu beheben, ist er verpflichtet, es zu nennen, und wenn man seinem Vorschlag nicht folgt, so wird man ihn dafür zumindest nicht bestrafen.“7 Rousseaus zweite Verteidigungsstrategie besteht im Nachweis, dass die im Contrat social entwickelte Theorie keine Prinzipien enthalte, welche die Regierungen untergraben. Indem er sich daran macht, sein „System zu erklären“ („exposer ce Sytême“) beziehungsweise eine „Untersuchung des Buches anzustellen“ („faire une analyse du Livre“),8 entwickelt er eine methodische Anweisung, wie der Contrat social zu interpretieren und auf welche Weise er auf die Realität der Genfer Verfassung zu beziehen sei. Im Anschluss an eine Auslegung des Systems auf knapp vier Seiten – auf die ich noch zurückkommen werde – fragt Rousseau seine Ankläger, ob sie darin nicht Zug um Zug „das Bild Ihrer Republik von ihrer Entstehung an bis auf den heutigen Tag“ („l’image de votre République, depuis sa naissance jusqu’à ce jour“) erkennen würden und erklärt: „Ich nahm also Ihre Verfassung, die ich schön fand, als Muster aller politischen Einrichtungen, und indem ich euch Europa als Beispiel vorstellte, gab ich euch die Mittel an die Hand, euch zu erhalten, anstatt daß ich mich bestrebt

5 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, in ders.: Politische Schriften, Übers. u. Einf. v. Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, 60 (OC III, 351). 6 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 149–150 (OC III, 810). 7 „Par tout pays libre un bon Citoyen qui trouve un vice dans la constitution, et qui voit le moyen d’en ôter ce vice, est obligé de le dire (surtout en proposant le moyen d’y pourvoir), et si l’on ne suit pas l’avis qu’il donne, au moins ne s’avisera-t-on pas de l’en punir.“ Zitiert nach Bruno Bernardi: „Rousseau, lecteur du Contrat social: la fonction critique des principes. Lettres écrites de la montagne VI“, in La religion, la liberté, la justice. Un commentaire des Lettres écrites de la montagne de JeanJacques Rousseau, publ. sous la dir. de Bruno Bernardi/Florent Guénard/Gabriella Silvestrini, Paris 2005, 107–126, hier 108 (dt. v. Anastasia Pyschny). Den Hinweis auf den Entwurf verdanke ich Bruno Bernardi. 8 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 145 (OC III, 806). Vgl. dazu auch B. Bernardi: „Rousseau, lecteur du Contrat social“, 101f.



Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung 

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hätte, euch zu zerstören.“9 Wie hätte er aber beabsichtigen können die Regierung Genfs zu zerstören, wenn es ihm doch darum ging zu zeigen, was zu tun sei, um diese zu erhalten? Und wie hätte er die Zerstörung aller bestehenden Regierungen anstreben können, nur weil es eine Regierung gab, die seinem Modell entsprach? Die Frage, wie Rousseaus Aussage zu verstehen ist, er habe sich im Contrat social die Genfer Verfassung zum Vorbild genommen, und wie die Mittel zu beurteilen sind, die er zur Verhinderung von deren Verfall anführt, wurde in der neueren Literatur ausführlich diskutiert. Da diese Diskussion vor allem in den romanischen und anglophonen Ländern geführt wurde, in der deutschsprachigen Literatur dagegen wenig Beachtung fand, werden deren Ergebnisse im Folgenden zunächst dargestellt.10 Wie wir sehen werden, weisen diese Untersuchungen darauf hin, dass Rousseaus Theorie der politischen Institutionen eine zeitliche Dimension eingeschrieben ist, die im Contrat social ab der zweiten Hälfte des dritten Buches, wo es um den Zerfall der Staaten geht, sichtbar wird. In einem zweiten Schritt wird dann die Theorie der Regierungsformen und der republikanischen Institutionen behandelt, die Rousseau als Grundlage dafür dient, den Verfall der Staaten und die Heilmittel dagegen zu analysieren. In diesem Zusammenhang werde ich zeigen, dass Rousseau sich dabei auf die Tradition des Republikanismus bezieht, in der es üblich war, das Problem der Stabilität der Regierungsformen anhand von Modellen oder historischen Beispielen zu diskutieren. Im dritten und letzten Schritt werde ich dann die These vertreten, dass es Rousseau nicht überzeugend gelingt, den Aspekt des zeitlichen Wandels in seine Theorie der politischen Institutionen zu integrieren, wie er sie in den ersten Büchern

9 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 149. „J’ai donc pris votre Constitution, que je trouvois belle, pour modele des institutions politiques, et vous proposant en exemple à l’Europe, loin de chercher à vous détruire j’exposois les moyens de vous conserver (OC III, 809). 10 Vgl. Gabriella Silvestrini: Diritto naturale e volontà generale. Il contrattualismo reppublicano di Jean-Jacques Rousseau, Turin 2010. Verschiedene Teile dieser Monographie sind auch in französischer Sprache zugänglich: Siehe dies.: „Le républicanisme de Rousseau mis en contexte: le cas de Genève“, in Les Études philosophiques 83/4 (2007), 519–541; dies.: „Genève, Rousseau et le modèle politique anglais“, in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 55/3 (2005), 285–306. Vgl. auch die Beiträge im Band La religion, la liberté, la justice. Un commentaire des Lettres écrites de la montagne de JeanJacques Rousseau, publ. sous la dir. de Bruno Bernardi/Florent Guénard/Gabriella Silvestrini, Paris 2005. Ferner Richard Whatmore: „Rousseau and the représentants: The Politics of the Lettres écrites de la montagne“, in Modern Intellectual History 3/3 (2006), 385–413. Zu Rousseau und Genf vgl. auch Helena Rosenblatt: Rousseau and Geneva. From the First Discourse to the Social Contract, 1749–1762, Cambridge 1997; Marc Lahmer: „Rousseau et l’Angleterre dans le contexte politique genevois“, in Genève, lieu d’Angleterre, 1725–1814, publ. sous la dir. de Valérie Cossy, Genf 2009, 63–111; John Stephenson Spink: Jean-Jacques Rousseau et Genève. Essai sur les idées politiques et religieuses de Rousseau dans leur relation avec la pensée genevoise au XVIIIe siècle, Paris 1934; Ralph A. Leigh: „Le Contrat social, œuvre genevoise?“, in Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 39 (1972–77), 93– 111. Einen guten Überblick über die Geschichte Genfs und seiner Institutionen bietet Alfred Dufour: Histoire de Genève, Paris 2001.

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des Contrat social in kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition der naturrechtlichen Vertragstheorien des Staates entwickelt hatte.

1 Die Genfer Verfassung als Gegenstand kontroverser Interpretationen Politischen Philosophen und Schriftstellern ging es oft darum, mit ihren Werken einen Beitrag zur Reform oder zur Neugründung der politischen Institutionen des Staates zu leisten, in dem sie selbst lebten und der sich ihrer Auffassung nach in einer kritischen Situation befand. So gesehen liegt es nahe, Rousseaus Beschäftigung mit der Genfer Verfassung als Versuch eines sich zwar im Exil befindlichen, seiner Vaterstadt aber doch eng verbundenen Bürgers zu verstehen, mit seiner politischen Theorie zur Reform – oder, wie es seine Gegner sahen: zum Umsturz – der bestehenden Verfassung beizutragen. Auch wenn diese Sicht der Dinge nicht falsch ist, so vermag sie allein doch nicht zu erklären, warum gerade die Genfer Verfassung zum Objekt intellektuell hochstehender politischer Debatten wurde, während etwa die Republiken der Alten Eidgenossenschaft, die mit jener Genfs strukturell verwandt waren, in der politischen Theorie nur in wenigen Fällen über die Grenzen des lokalen Kontexts hinaus Beachtung fanden. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich in Genf im Unterschied zu den eidgenössischen Republiken die Institution des Generalrats erhalten hatte, dessen Funktion und Kompetenzen im 18. Jahrhundert höchst umstritten waren. Wie Kenner der Materie betonen,11 war man sich in Genf darüber einig, dass die Stadt aufgrund des Entscheids des Genfer Volkes, sich zugunsten der Reformierten Kirche Calvins von der Katholischen Kirche loszusagen, zu einer freien und unabhängigen Republik wurde, und dass Genf seither ein demokratischer Staat war, der aristokratisch regiert wurde.12 So wählte der Generalrat die Prokuratoren oder syndics und stimmte über wichtige öffentliche Angelegenheiten ab, übertrug aber die gewöhnlichen Regierungsgeschäfte den kleineren Räten der Stadt – dem Rat der 200 (oder Großen Rat) und dem Kleinen Rat der 25. Der zentrale Gegenstand der politischen Debatten, die im 18. Jahrhundert mehrmals zu Unruhen führten, betraf die Interpretation des Verhältnisses zwischen dem Generalrat und den kleineren Räten. Während

11 Der folgende Überblick versammelt Informationen aus R. Whatmore: „Rousseau and the représen­ tants“, 392–399; G. Silvestrini: Diritto naturale e volontà generale, 227–252; dies.: „Le républicanisme de Rousseau“; M. Lahmer: „Rousseau et l’Angleterre“, 73–75. 12 Offiziell bezeichnete sich Genf seit dem frühen 17. Jahrhundert als ‚Republik‘ im freistaatlichen Sinn des Begriffs, um damit gegenüber Savoyen den Anspruch der Stadt auf Souveränität zu unterstreichen. Vgl. Thomas Maissen: „Genf und Zürich von 1584–1792 – eine Allianz von Republiken?“, in Wolfgang Kaiser et al. (Hgg.): Eidgenössische „Grenzfälle“: Mülhausen und Genf, Basel 2001, 295–330.



Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung 

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die Vertreter der Bürgerschaft, deren Position später von den représentants übernommen wurde, die Auffassung vertraten, die alte Verfassung müsse wiederbelebt werden, um die Freiheit der Bürger und die Unabhängigkeit der Republik zu garantieren, verteidigten die Vertreter der Regierung die verschiedenen Edikte, durch die seit den 1530er Jahren die Natur der republikanischen Verfassung geändert worden war. In ihren Augen galt es die Auswüchse der Demokratie zu beseitigen und eine effiziente Regierung zu schaffen, die das wirtschaftliche und politische Überleben der Stadt sicherstellen konnte. Verfassungsreformen waren mit den Edikten von 1543, 1568 und 1570 in die Wege geleitet worden, in denen der Generalrat verschiedene seiner früheren Rechte den kleineren Räten abgetreten hatte. Diese hatten fortan die Kompetenz, ihre Mitglieder jährlich gegenseitig zu wählen, darüber zu bestimmen, welche Vorlagen dem Generalrat zur Abstimmung unterbreitet wurden, die acht Kandidaten für das Amt der Prokuratoren oder syndics vorzuschlagen, von denen der Generalrat dann vier wählte, sowie die Kompetenz, Einkünfte für die Öffentlichkeit zu erheben und neue Steuern festzulegen. Dies bedeutete im Verständnis der Regierenden nicht, dass dem Generalrat die Souveränität abgesprochen worden wäre, sondern dass er diese fortan mit den kleineren Räten teilte und wichtige Aufgaben an diese delegierte. Diese Formulierung zeigt, dass Rousseau keineswegs der erste war, der die politischen Institutionen Genfs in Begriffen der Souveränität analysierte. Bereits Jean Bodin benutzte in seiner Beschreibung der Genfer Verfassung in Les six livres de la république den Begriff der Souveränität, als er erklärte, dem Rat der 200 komme die zeitlich unbegrenzte souveräne Gewalt zu, das Volk habe sich aber gewisse Rechte wie die Wahl der syndics und anderer Magistrate, die Bestätigung der Gesetze und der Verträge über Krieg und Frieden vorbehalten, die ebenfalls zum Recht der Souveränität gehörten.13 Der Begriff der Souveränität wurde dann auch in den politischen Debatten in Genf selbst regelmäßig verwendet. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts übte der Generalrat, der ungefähr 1500 citoyens und bourgeois umfasste und sich zweimal im Jahr in der Kathedrale der Stadt versammelte, die genannten Rechte immer noch aus. Dass die syndics schon über lange Zeit von den kleinen Räten vorgeschlagen wurden und deren Mitglieder sich gegenseitig wählten, hatte allerdings zur Konsequenz, dass die kleinen Räte nunmehr von einer begrenzten Zahl führender Familien dominiert wurden. Diese Tendenz zur Oligarchisierung wurde von Vertretern der Bürgerschaft kritisiert, die seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts forderten, die Souveränität des Generalrats zu stärken und die exekutive Gewalt dem Willen der versammelten Bürger zu unterwerfen. Im Gefolge solcher Forderungen kam es in den 1730er Jahren zu Bürgerunruhen,

13 Siehe Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch I–III, übers. u. m. Anm. vers. v. Bernd Wim­ mer, eingel. u. hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch, München 1981, 378. Vgl. dazu auch R. Whatmore: „Rousseau and the représentants“, 392f.

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die durch Vermittlung von Frankreich, Zürich und Bern mit einer Kompromisslösung beendet werden konnten. Im Reglement der Médiation wurde die Souveränität dem Generalrat zugesprochen, den kleineren Räten jedoch das Vorrecht eingeräumt, vorgängig über die Angelegenheiten zu debattieren und abzustimmen, die erst dann dem Generalrat vorgelegt würden. Als Folge der Médiation spaltete sich die Opposition in zwei Gruppen, von denen die eine an den früheren radikaleren Forderungen festhielt, während die andere eine moderatere politische Linie verfolgte. Die Konflikte zwischen Opposition und Regierung intensivierten sich dann wieder in den 1750er Jahren und sollten mit der Publikation des Contrat social und des Émile, die in Genf öffentlich verbrannt wurden, einen neuen Höhepunkt erreichen. Heute ist allgemein anerkannt, dass Rousseau seit der Zeit, als er sich um die Wiedererlangung des Genfer Bürgerrechts bemühte und die dem zweiten Discours vorangestellte Widmung „An die Republik Genf“ verfasste, die Debatten über die Interpretation der Genfer Verfassung gut kannte.14 Die Auffassungen gehen jedoch darüber auseinander, ob er die Ansichten gewisser Wortführer der in sich selbst gespaltenen Opposition vertrat und ob sich seine Position zwischen der Publikation des Contrat social und der Lettres écrites de la montagne – die er auf Ersuchen der représentants hin verfasste, die ihm dafür auch Materialien zur Verfügung stellten – signifikant änderte.15 Diese Probleme werden hier nicht weiter verfolgt, und auch die Lettres écrites de la montagne werden nicht in die Untersuchung einbezogen. Denn das Interesse dieses Beitrags richtet sich nicht auf die Art und Weise, in der Rousseau in die Genfer Debatte eingriff, sondern auf die Frage, wie er die Genfer Verfassung als Modell in seine politische Theorie integrierte. So muss auch nicht entschieden werden, ob die Widmung des zweiten Discours als ernst gemeintes Lob auf die Genfer Verfassung gedacht war oder eher als Satire gelesen werden wollte. Wichtig ist dagegen, wie Rousseau die Genfer Verfassung beschreibt. Auf das Thema des zweiten Discours anspielend, stellt Rousseau zunächst fest, die natürliche Gleichheit und die durch die Menschen eingeführte Ungleichheit seien

14 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, krit. Ausg. d. integr. Textes, m. sämtl. Fragm. u. erg. Mat. n. d. Originalausg. u. d. Handschr. neu ed., übers. u. kom­ ment. v. Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn 1993, 8–41 (OC III, 111–121). Wenn Rousseau die Widmung mit der Formel „[e]rlauchte, sehr verehrte und souveräne Herren“ eröffnet, so bedient er sich der of­ fiziellen Anredeformel, mit der sich die Genfer an den Generalrat wandten. Er hatte allerdings darauf verzichtet, für die Widmung die Zustimmung des Kleinen Rates einzuholen, wie dies der Konvention entsprochen hätte, da er anlässlich seines Aufenthalts in Genf 1754 wohl zur Überzeugung gelangt war, dass diese kaum zu erhalten gewesen wäre. 15 Vgl. dazu R. Whatmore: „Rousseau and the représentants“. Als représentants wurden ab 1762 die­ jenigen Vertreter der Opposition bezeichnet, die auch für die bourgeois ein uneingeschränktes Recht auf Repräsentation – tatsächlich ein Petitionsrecht – einforderten, das den citoyens schon gewährt worden war. Vgl. Martine Piguet: Art. „Représentants“, in Historisches Lexikon der Schweiz, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D26982.php (21.07.2015).



Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung 

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in diesem Staat glücklich verbunden, um dann fortzufahren, hier würden die „besten Maximen, die der gesunde Menschenverstand hinsichtlich der Verfassung einer Regierung vorschreiben könnte“ („les meilleures maximes que le bon sens puisse dicter sur la constitution d’un gouvernement“), alle praktiziert.16 Die Vorzüge Genfs beziehungsweise die Züge der Verfassung, die er sich gewünscht hätte, beschreibt er in der Folge ausgehend von der Formel „[w]enn ich meinen Geburtsort zu wählen gehabt hätte, so hätte ich“ („[s]i j’avois eu à choisir le lieu de ma naissance, j’aurois“) in hypothetischen Formulierungen.17 Im Mittelpunkt steht dabei der Wunsch, „unter einer weise gemäßigten demokratischen Regierung“ („sous un gouvernement démocratique, sagement tempéré“) zu leben, in der das Volk und der Souverän ein und dasselbe Interesse hätten und „ein und dieselbe Person“ („une même personne“) seien und die es niemandem erlaube zu sagen, er stehe über dem Gesetz.18 Die Bemerkung zur Regierungsform wird anschließend dahingehend präzisiert, dass die Gesetzgebung zwar allen Bürgern gemeinsam zukomme, dass aber das Recht, Gesetze vorzuschlagen, allein den Magistraten vorbehalten sei, die zudem nicht – wie seinerzeit in Rom – von den Beratungen auszuschließen seien. Der Vorzug dieser Kompetenzverteilung wird damit begründet, dass es notwendig sei, „den eigennützigen und schlecht durchdachten Vorhaben und den gefährlichen Neuerungen einen Riegel vorzuschieben“ („pour arrêter les projets intéressés et mal conҫus, et les innovations dangereuses“).19 In die gleiche Richtung geht die Bemerkung, die Einzelnen würden sich damit begnügen, die Gesetze zu sanktionieren, in corpore über die öffentlichen Angelegenheiten zu entscheiden und jährlich die fähigsten ihrer Mitbürger zu wählen, „um die Justiz zu verwalten und den Staat zu regieren“ („pour administrer la Justice et gouverner l’Etat“).20 In Übereinstimmung mit diesem Lob auf die Vorrechte der Regierung spricht sich Rousseau gegen eine Regierung aus, in der das Volk sich die Verwaltung der bürgerlichen Angelegenheiten und die Ausführung seiner Gesetze selbst vorbehalte. Wenn er die „reine“ Demokratie als „rohe Verfassung der ersten Regierungen“ („la grossière constitution des prémiers gouvernemens“) bezeichnet, die unmittelbar aus dem Naturzustand hervorging,21 geht er jedoch davon aus, dass das Genfer Volk sich wie einst das römische Volk – das „Musterbild aller freien Völker“ („ce modéle de tous les Peuples libres“) –, nachdem es sich vom Joch der Tarquinier befreit hatte, zunächst demokratisch regiert und erst mit der Zeit die Demokratie durch die Aristokratie gemäßigt habe.22

16 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 9, 11 (OC III, 111). 17 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 11 (OC III, 111). 18 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 11 (OC III, 112). 19 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 19 (OC III, 114). 20 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 21 (OC III, 114). 21 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 21 (OC III, 114). 22 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 15 (OC III, 113).

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Dass Rousseau am Schluss des Lobs auf die Genfer Verfassung, wo er das Vorrecht der Regierung, dem Souverän Gesetze vorzuschlagen, ausdrücklich bestätigt, an die gegenseitige Wertschätzung von Volk und Magistraten, den Respekt vor den Gesetzen sowie den Geist der Versöhnung appelliert,23 deutet darauf hin, dass er über die politischen Konflikte in Genf gut informiert war, jedoch nicht offen für die Bürgerschaft oder die Regierung Partei ergreifen wollte. Dies wird er erst im Contrat social wagen, dem ich mich jetzt zuwende.

2 Die Genfer Verfassung als Modell im Contrat social Wie Bruno Bernardi in seinem Kommentar zum sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne gezeigt hat, lässt sich die Auslegung seines Systems, die Rousseau dort vorschlägt, als methodische Anleitung zur Interpretation des Contrat social lesen.24 Dabei lohnt es sich, darauf zu achten, wie Rousseau die einzelnen Bücher und Kapitel gewichtet und welche Kapitel er im Blick auf die Anwendung seiner Theorie auf die Genfer Verfassung im Hintergrund lässt. Er konzentriert sich auf vier grundlegende Fragen, deren erste lautet: Worin besteht die Einheit des Staates? Unter Bezugnahme auf Buch I sowie die Kapitel 1–3 des II. Buches des Contrat social erläutert Rousseau die wesentlichen Schritte seiner Argumentation: Die Einheit des Staates bestehe in der Vereinigung seiner Mitglieder, die wiederum auf der Verpflichtung beruhe, die diese miteinander verbinde. Die entscheidende Frage sei dann, welches die Grundlage dieser Verpflichtung sei. Darüber seien sich die Autoren nicht einig, und er habe in Übereinstimmung mit der überzeugendsten Meinung, die dazu vertreten worden sei, die Vereinbarung (convention) der Mitglieder als Grundlage des politischen Körpers bestimmt. Denn jede Verpflichtung (obligation) unter den Menschen beruhe auf der freien Zustimmung (engagement) durch denjenigen, der sich verpflichte. Des Weiteren betont Rousseau, er habe die Natur dieser Zustimmung untersucht, um davon ausgehend zu zeigen, dass es sich beim Gesellschaftsvertrag um einen Vertrag besonderer Art handle, durch den sich jeder gegenüber allen verpflichte, woraus sich die Verpflichtung aller gegenüber jedem ergebe. Die erste Besonderheit des Vertrags bestehe darin, dass er – obwohl absolut, bedingungslos und ohne Vorbehalt – weder ungerecht noch missbrauchsanfällig sei, da der Körper sich nie selbst schaden wollen könne; die zweite darin, dass er die Vertragspartner verbinde, ohne sie irgendjemandem zu unterwerfen, da ja ihr Wille „die Ordnung, die höchste Richtschnur“ („l’ordre, la regle suprême“) verkörpere.25

23 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 21 (OC III, 115). 24 Siehe B. Bernardi: „Rousseau, lecteur du Contrat social“, 109–111. 25 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 147 (OC III, 807).



Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung 

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Souverän (souverain) und Souveränität (souveraineté) werden in gerade einmal zwei Sätzen erläutert, bevor Rousseau zur zweiten grundlegenden Frage übergeht: Was ist ein Gesetz? Er definiert es unter Bezugnahme auf das 6. Kapitel des II. Buches des Contrat social als öffentliche und feierliche Erklärung des Gemeinwillens über einen Gegenstand gemeinsamen Interesses, um dann zu erläutern, dass die gesetzgebende Gewalt, die allein dem Souverän zukomme, einer anderen Gewalt bedürfe, welche das Gesetz, das sich nie auf einen besonderen und einzelnen Gegenstand beziehen könne, auf eben einen solchen Gegenstand gemeinsamen Interesses anwende. Die Errichtung dieser Gewalt, die immer und ausschließlich das Gesetz ausführe, erfolge durch die Einsetzung der Regierung.26 Im Vergleich mit der Abfolge der Kapitel im Contrat social fällt auf, dass Rousseau auf den Inhalt der Kapitel 7–10 des II. Buches, in denen er den Gesetzgeber behandelt und erörtert, welches Volk zu welchem Zeitpunkt für die Gesetzgebung geeignet sei, im sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne nicht zu sprechen kommt. Dies lässt sich leicht damit erklären, dass Genf an dieser Stelle als existierende Republik von ihm vorausgesetzt wird.27 Es ist eine andere Frage, wie sich Rousseau die Entstehung der Republik Genf vorstellt. Im 7. Kapitel von Buch II seines Contrat social verweist er im Zusammenhang mit dem höheren Amt des Gesetzgebers, als dessen Vorbild ihm Lykurg gilt, explizit auf Calvin, den er nicht nur als Theologen, sondern auch als Urheber „unserer weisen Verfügungen“ („nos sages Edits“),28 das heißt als Stifter der politischen Ordnung Genfs verehrt sehen will. Während er hier, wo es ihm auf den Unterschied zwischen den Aufgaben des Gesetzgebers auf der einen und denen der Verwaltung und der Herrschaft auf der anderen Seite ankommt, auf das hinweist, was die griechischen Staaten, die Republiken Italiens und die Republik Genf mit Sparta gemein haben, hatte er im zweiten Discours – und zwar im Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung der politischen Gesellschaften – noch ausdrücklich den Unterschied zwischen Sparta und allen übrigen Republiken betont. So sei es Lykurg als einzigem Gesetzgeber im Verlauf der Geschichte gelungen, „ein gutes Gebäude zu errichten“ („un bon Edifice“), weil er allein die Notwendigkeit erkannt habe, „zunächst die Tenne freizufegen und alles alte Material aus dem Wege zu räumen“ („commencer par nettoyer l’aire et écarter tous les vieux matériaux“).29 Was die übrigen Staaten betreffe, so sei deren politischer Zustand trotz aller Anstrengungen der weisesten Gesetzgeber immer unvollkommen geblieben, „weil er nahezu das Werk des Zufalls war und weil, da er schlecht begonnen hatte, die Zeit dadurch, daß sie die Mängel aufdeckte und Mittel zur Abhilfe anregte, niemals die Fehler der Verfassung wiedergutmachen konnte“ („parcequ’il étoit presque l’ouvrage du hazard, et que mal commencé, le tems

26 Siehe J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 147 (OC III, 808). 27 Vgl. B. Bernardi: „Rousseau, lecteur du Contrat social“, 112. 28 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 101 (OC III, 382). 29 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 227 (OC III, 180).

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en découvrant les défauts, et suggérant des remédes, ne put jamais réparer les vices de la Constitution“).30 Rousseau gibt hier auch einen klaren Hinweis darauf, worin ein „gutes Gebäude“ („un bon Edifice“) besteht: in der Einrichtung einer Regierung, welcher die Aufgabe anvertraut wird, den Beschlüssen des Volkes Geltung zu verschaffen. Während Lykurg dies von vornherein gelungen sei, habe in den übrigen Fällen erst die Vermehrung der Unzuträglichkeiten und der Unordnung dazu geführt. Diese Überlegungen zum Ursprung der politischen Gesellschaften stimmen mit der Erklärung des Ursprungs der Genfer Verfassung in der Widmung des zweiten Discours überein, wo es heißt, diese habe sich erst allmählich von einer reinen zu einer weise gemäßigten Demokratie entwickelt.31 Nach diesem kurzen Exkurs über die Entstehung der Genfer Verfassung komme ich auf den sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne zurück, in dem Rousseau – im Unterschied zur Widmung des zweiten Discours – auf deren Zerstörung zu sprechen kommt, und zwar im Ausgang von einer dritten Frage: Was ist die Regierung? Nachdem er diese als vermittelnde Körperschaft definiert hat, der die Ausübung der Gesetze sowie die Erhaltung der bürgerlichen und politischen Freiheit obliege, geht er in wenigen Sätzen auf die Zerstörung des Staates ein, die aus der Unterordnung der legislativen unter die exekutive Körperschaft resultiert, wobei er betont, dieser Zerstörung gehe ein Wechsel der Regierungsformen durch die gewissermaßen natürliche Tendenz zur Verkleinerung der Regierung voraus. Erst nach dieser extrem kurzen Zusammenfassung der Kapitel 9–17 des III. Buches des Contrat social nimmt er die Ausführungen zu den Regierungsformen aus den Kapiteln 3–6 auf, um dann in einem Halbsatz zu erwähnen, er habe auch über die Mittel gehandelt, um die Zerstörung des politischen Körpers zu verzögern.32 Die Zusammenfassung endet mit einem kurzen Verweis auf die vierte zentrale Frage nach der besten und vorteilhaftesten staatlichen Ordnung, die er im vierten Buch des Contrat social im Vergleich mit der besten Regierung, die je existiert habe, nämlich jener Roms, diskutiert und mit Ausführungen über die Religion abgeschlossen habe.33 Im Anschluss an diese Analyse des Contrat social fragt Rousseau dann seine Genfer Leser, ob sie darin nicht ein Bild der Entwicklung ihrer Republik zu erkennen vermöchten. Zu Beginn des siebten Briefes, wo er die normative Dimension seiner Analyse unterstreicht, indem er zwischen dem ursprünglich rechtmäßigen und dem gegenwärtigen Zustand der Genfer Republik unterscheidet, fasst er deren Verfall so zusammen: Es ist euch, meine Herren, das widerfahren, was allen Regierungsformen, die der eurigen ähnlich sind, zu widerfahren pflegt. Im Anfang sind die gesetzgebende und die ausübende Gewalt,

30 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 225 (OC III, 180). 31 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 15 (OC III, 112–113). 32 Siehe J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 147–149 (OC III, 808–809). 33 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 148 (OC III, 809).



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woraus die Souveränität besteht, nicht unterschieden. Das souveräne Volk will durch sich selbst, und durch sich selbst tut es alles, was es will. Bald aber zwingt die Unbequemlichkeit dieser Übereinstimmung aller zu jeder Sache das souveräne Volk, einige seiner Mitglieder mit der Ausübung seines Willens zu beauftragen. Diese Beamten legen von ihrer Verwaltung Rechenschaft ab und treten wieder in die gemeinschaftliche Gleichheit zurück. Nach und nach werden diese Aufträge häufiger, und endlich bleibend. Unmerklich entsteht nun ein Körper, welcher immer handelt. Ein Körper, der immer handelt, kann nicht mehr von jeder einzelnen Handlung Rechenschaft geben, er gibt sie nur von den vornehmsten und bald darauf von keiner mehr. Je tätiger die handelnde Gewalt ist, desto mehr entkräftet sie die Gewalt, die will. Der gestrige Wille wird stillschweigend auch als der heutige angenommen, anstatt daß die gestrige Handlung nicht davon entbindet, auch heute zu handeln. Schließlich unterwirft die Untätigkeit der wollenden Gewalt sie der ausübenden Gewalt, und diese macht nach und nach ihre Handlungen und bald ihre Willen unabhängig; statt für die wollende Gewalt zu handeln, wirkt sie auf diese ein. Dann bleibt im Staat nur eine handelnde Gewalt übrig, und dies ist die ausübende. Die ausübende Gewalt ist nichts weiter als Stärke, und wo die Stärke allein regiert, ist der Staat aufgelöst. Sehen Sie, mein Herr, so gehen endlich alle demokratischen Staaten zugrunde.34 Il vous est arrivé, Messieurs, ce qu’il arrive à tous les Gouvernemens semblables au vôtre. D’abord la puissance Législative et la puissance exécutive qui constituent la souveraineté n’en sont pas distinctes. Le Peuple Souverain veut par lui-même, et par lui-même il fait ce qu’il veut. Bientôt l’incommodité de ce concours de tous à toute chose force le Peuple Souverain de charger quelques-uns de ses membres d’exécuter ses volontés. Ces Officiers, après avoir rempli leur commission en rendent compte, et rentrent dans la commune égalité. Peu-à-peu ces commissions deviennent fréquentes, enfin permanentes. Insensiblement il se forme un corps qui agit toujours. Un corps qui agit toujours ne peut pas rendre compte de chaque acte: il ne rend plus compte que des principaux; bientôt il vient à bout de n’en rendre d’aucun. Plus la puissance qui agit est active, plus elle énerve la puissance qui veut. La volonté d’hier est censée être aussi celle d’aujourd’hui; au lieu que l’acte d’hier ne dispense pas d’agir aujourd’hui. Enfin l’inaction de la puissance qui veut la soumet à la puissance qui exécute; celle-ci rend peu-à-peu ses actions indépendantes, bientôt ses volontés: au lieu d’agir pour la puissance qui veut, elle agit sur elle. Il ne reste alors dans l’Etat qu’une puissance agissante, c’est l’exécutive. La puissance exécutive n’est que la force, et où regne la seule force l’Etat est dissout. Voila, Monsieur, comment périssent à la fin tous les Etats démocratiques (OC III, 815).

Wie Gabriella Silvestrini überzeugend dargelegt hat, lassen sich die Kapitel, die im III. Buch des Contrat social auf das 10. Kapitel folgen, in dem Rousseau den Hang der Regierung zur Entartung thematisiert, kohärent unter der Voraussetzung interpretieren, dass diese sich auf die drohende Auflösung der Republik Genf beziehen.35 In dem besagten 10. Kapitel des III. Buches behandelt Rousseau nacheinander die beiden Prozesse, die er auch im sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne erwähnt,

34 J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 159. 35 Vgl. Gabriella Silvestrini: „Genève comme modèle dans la pensée politique de Rousseau. Du Second Discours aux Lettres écrites de la Montagne“, in Religion, Liberté, Justice. Un commentaire des Lettres écrites de la montagne de Jean-Jacques Rousseau, publ. sous la dir. de Bruno Bernardi/Florent Guénard/Gabriella Silvestrini, Paris 2005, 211–240.

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nämlich die Verkleinerung der Regierung und die Auflösung des Staates.36 Erstere erläutert er am Beispiel des Überganges von der Demokratie zur Aristokratie, wobei er sich als Vorbild nicht auf Genf, sondern auf Venedig und Rom bezieht. Venedig biete das denkwürdigste Beispiel für diese Abfolge, und es sei erstaunlich, dass die Venezianer nach mehr als 1200 Jahren immer noch auf der zweiten Stufe zu stehen schienen, seit sie 1198 mit dem Serrar de Consiglio begonnen hätten.37 Was die römische Republik betrifft, so wurde oben schon erwähnt, dass Rousseau diese im zweiten Discours so interpretierte, dass es sich dabei ab der Vertreibung der Tarquinier um eine Demokratie handelte, die erst später durch aristokratische Elemente gemäßigt wurde. Genf habe die gleiche Entwicklung durchlaufen.38 Im Contrat social, in dem er sich zudem auf Machiavelli beruft, führt er jedoch eine Differenzierung ein: Die römische Republik habe nach der Vertreibung der Tarquinier noch keine definitive Form angenommen, da man das Patriziat nicht abgeschafft habe. Ihre Regierungsform sei erst mit der Einsetzung der Tribunen gefestigt worden, und erst da seien „eine wirkliche Regierung und eine echte Demokratie“ („un vrai Gouvernement et une véritable Démocratie“) entstanden.39 Auf diese höchst zweifelhafte Berufung auf Machiavelli wird später noch zurückzukommen sein. Im zweiten Schritt behandelt Rousseau im gleichen Kapitel die Auflösung des Staates, die dann erfolge, wenn der Fürst nicht mehr nach den Gesetzen regiere, sondern die souveräne Macht an sich reiße. Der Staat setze sich dann nur noch aus den Gliedern der Regierung zusammen, die für den Rest des Volkes zum Herrn und Tyrannen werde. Damit aber sei der Gesellschaftsvertrag gebrochen.40 Bevor ich auf die Heilmittel eingehe, die Rousseau gegen den Zerfall des Staates empfiehlt, soll der nicht einfach zu interpretierende Vergleich zwischen den Republiken Venedig und Genf in die Betrachtung einbezogen werden, den Rousseau im Zusammenhang mit den Wahlen im 3. Kapitel von Buch IV anstellt. Er behauptet dort, Venedig sei entgegen dem äußeren Anschein keine wirkliche Aristokratie, sondern habe genau wie Genf eine aus demokratischen und aristokratischen Elementen gemischte Regierungsform. Um diese These zu belegen, verweist Rousseau darauf, dass Venedig zwar keinen Generalrat besitze, dass der Große Rat der Stadt aber zahlenmäßig ebenso stark sei wie der Generalrat in Genf. Darin seien eine große Menge verarmter Edelleute (‚Barnaboten‘) vertreten, die nie daran denken könnten, ein Regierungsamt zu versehen und von ihrem Adel nur noch den leeren Titel ‚Exzellenz‘ behalten hätten.41 Silvestrini mag Recht haben, wenn sie vorschlägt, diesen Vergleich

36 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 149–151 (OC III, 422–423). 37 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 149 (OC III, 421). 38 Siehe J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 15 (OC III, 112–113). 39 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 149 (OC III, 422). 40 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 150–151 (OC III, 422–423). 41 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 174–175 (OC III, 442–443).



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auf umgekehrte Weise zu lesen und darin einen Hinweis darauf zu erkennen, dass Genf Rousseau zufolge dabei war, sich in eine Erbaristokratie zu verwandeln, da die Mehrzahl der im Generalrat vertretenen Bürger genau wie die Barnaboten nie auch nur daran denken konnten, irgendein Regierungsamt zu versehen.42 Lässt sich aber Rousseaus Beobachtung, die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung in Genf und Venedig würden sich genau entsprechen, und seine Feststellung, dass die natifs und habitants auf der einen, die Bauern auf der anderen Seite im Generalrat nicht vertreten waren, tatsächlich als Kritik an der Konzentration der Souveränität lesen?43 Dagegen spricht, dass Rousseau den elitären Charakter der antiken und modernen Republiken weder im Contrat social noch in den Lettres écrites de la montagne je prinzipiell in Frage stellt.44 Gegen diese Interpretation spricht meines Erachtens auch der Zusammenhang, in dem Rousseau auf den Vergleich zwischen Venedig und Genf zu sprechen kommt. Er will zeigen, dass die Mischform zwischen Wahl und Los, die beim Dogen von Venedig zur Anwendung kommt, seine These bestätigt, dass das Los der Natur der Demokratie entspreche. Wie auch immer man die Ausführungen in Kapitel 3 von Buch IV zu interpretieren geneigt ist, es bestätigt sich an diesem Vergleich zwischen Genf und Venedig auf jeden Fall noch einmal, dass Rousseau seine Theorie von der Entartung der Regierung und von der Auflösung des Staates am Beispiel dreier Republiken erläutert, deren Regierungen von der Demokratie zur Aristokratie übergehen. Für den Übergang von der Aristokratie zur Monarchie, den er im 10. Kapitel des III. Buches als weitere Möglichkeit erwähnt, scheint es hingegen keine Vorbilder zu geben. Die Heilmittel, die Rousseau zur Verzögerung der Auflösung des Staates vorschlägt, sind bekannt und sollen hier nur kurz erwähnt werden. Er entwickelt diese im Ausgang von der These, die politische Körperschaft habe – wie der menschliche Körper auch – eine natürliche und unvermeidliche Neigung zum Verfall. Da selbst Sparta und Rom untergegangen seien, könne kein Staat hoffen, diesem Schicksal zu entgehen. Der Vergleich zwischen der Verfassung des menschlichen Körpers als Werk der Natur und jener des Staates als Werk der Kunst mündet in die These, dass die Legislative das „Herz“ („le

42 G. Silvestrini: „Genève comme modèle“, 219f. 43 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 174 (OC III, 442–443). Die Bewohner Genfs waren in vier Stände eingeteilt: die citoyens, die in die Regierung gewählt werden konnten, die bourgeois, die am Generalrat teilnehmen, aber nicht gewählt werden konnten, die habitants, die als Fremde vom Magistrat das Recht erhielten, in der Stadt zu wohnen, und deren Söhne, die natifs. Vgl. dazu auch J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 74–75 (OC III, 361–362) samt verschiedenen Anmerkungen Rousseaus und des Herausgebers. 44 G. Silvestrini: „Genève comme modèle“, 220 weist allerdings darauf hin, dass Rousseau in der Histoire de Genève feststellte, in Genf habe es keine dauerhafte Unterscheidung zwischen Bürgern (citoyens) und Einwohnern (habitants) gegeben, solange es eine Demokratie war.

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cœur“) und die Exekutive das „Gehirn“ („le cerveau“) des Staates bildeten, woran zu erkennen sei, dass der Staat durch die legislative Gewalt erhalten werde.45 Gestützt auf seine Definition der Gesetze als Akte des Gemeinwillens postuliert Rousseau, dass der Souverän nur handeln könne, wenn das Volk versammelt sei,46 und betont, es genüge nicht, dass das Volk einmal ein Gesetzeswerk in Kraft setze, sondern es bedürfe fester und regelmäßig wiederkehrender Versammlungen, „die weder aufgehoben noch verschoben werden dürfen“ („que rien ne puisse abolir ni proroger“).47 Daran anschließend folgt die Kritik am Gedanken der Volksvertreter (représentants), den Rousseau auf der Grundlage seiner Theorie der Souveränität, die weder veräußert noch vertreten werden könne, kritisiert. In diesem Zusammenhang findet sich die berühmte Bemerkung, das englische Volk glaube frei zu sein, täusche sich aber gewaltig, denn es sei nur frei während der Parlamentswahl.48 Rousseau bezeichnet die Repräsentation als moderne Erfindung, die auf das Feudalsystem zurückgehe. Wenn sich auch erklären lasse, wie es dazu gekommen sei, so ändere das nichts daran, dass die Regierung das Volk wohl als Exekutive, niemals aber als Legislative vertreten könne.49 Auf Genf gemünzt ist das zweite Heilmittel gegen den Zerfall des Staates, das Rousseau im 18. Kapitel des III. Buches des Contrat social diskutiert und das der Usurpation der Regierung vorbeugen soll. Hier stützt sich Rousseau auf die vorangehenden Kapitel, in denen er erläutert, dass die Einsetzung der Regierung kein Vertrag sei, sondern in einem komplexen Akt bestehe, der sich aus dem Erlass eines Gesetzes und der Ernennung der Regierung, die in einem Einzelakt besteht, zusammensetze.50 Daraus ergebe sich, dass die Träger der Exekutive keine Herren, sondern Beamte des Volkes seien, die das Volk ein- und absetzen könne, wann es ihm gefällt. Dies bedeute jedoch nicht, dass die Regierung notwendig vom Volk gewählt werden müsse, denn es könne durchaus vorkommen, dass das Volk eine erbliche Regierung errichte. Dabei handle es sich jedoch lediglich um „eine vorläufige Form“ („une forme provisionelle“),51 die das Volk der Verwaltung gebe, bis es etwas anderes anordne. Bezogen auf die Genfer Verfassung spricht Rousseau dem Generalrat nicht nur das Recht zu, die Art und Weise, wie die Regierung gewählt werde, zu ändern, sondern

45 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 152 (OC III, 424). 46 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 153 (OC III, 425). 47 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 154 (OC III, 426). 48 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 158 (OC III, 430). 49 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 159 (OC III, 430). Diese These hatte schon Mon­ tesquieu vertreten, der die Repräsentation allerdings als positiv zu bewertende Errungenschaft be­ trachtete. Vgl. dazu Simone Zurbuchen: „Republik oder Monarchie? Montesquieus Theorie der gewal­ tenteiligen Verfassung Englands“, in Oliver Hidalgo/Karlfriedrich Herb (Hgg.): Die Natur des Staates. Montesquieu zwischen Macht und Recht, Baden-Baden 2009, 79–97, hier 95. 50 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 161–163 (OC III, 432–434). 51 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 164 (OC III, 435).



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er weist auch auf ein Problem hin, das er in den Lettres écrites de la montagne dann ausführlich erörtern sollte: Da es gefährlich sei, die Form der Verwaltung zu ändern, sei es nicht einfach, einen rechts- und gesetzmäßigen Akt von einem aufrührerischen Tumult und den Willen des Volkes vom Geschrei einer Partei zu unterscheiden. Genau daraus könne der Regierung jedoch der Vorteil erwachsen, ihre Macht gegen das Volk zu behaupten, ohne dass man sagen könnte, sie hätte diese usurpiert.52 Gegen derartige Machenschaften der Regierung verweist Rousseau auf das Recht der Bürger, nicht nur bei allen Akten des Souveräns abzustimmen, sondern auch „seine Meinung zu sagen, Anträge zu stellen, zu bestreiten oder zu diskutieren; ein Recht, das die Regierung nur ihren Mitgliedern vorbehalten möchte“ („d’opiner, de proposer, de diviser, de discuter, que le Gouvernement a toujours grand soin de ne laisser qu’à ses membres“).53 Dies ist eine bedeutende Abweichung gegenüber der Widmung des zweiten Discours, wo es Rousseau noch als Vorzug der Genfer Verfassung betrachtete, dass der Magistrat dem Volk Gesetze zur Abstimmung vorschlägt.54 Fassen wir kurz zusammen: Nach Rousseaus eigener Lektüreanweisung lassen sich die Schlusskapitel von Buch III und die Anfangskapitel von Buch IV des Contrat social so auf die Genfer Verfassung beziehen, dass er diese als Muster einer ursprünglich demokratischen Regierung beschreibt, deren natürliche Tendenz zum Verfall an der Verkleinerung der Regierung und deren Usurpation der souveränen Gewalt sichtbar wird. Als wichtigste Mittel, um diesen Verfall aufzuhalten, verweist Rousseau auf das Recht des Volkes, über alle Gesetze zu diskutieren und abzustimmen, sowie auf dessen Recht, die Regierungsform abzuändern. Er wendet sich also nicht dagegen, dass in einer Aristokratie nicht das Volk, sondern die Regierung selbst die Regierung wählt (wie dies in Genf tatsächlich der Fall war, wo der Große und der Kleine Rat ihre Mitglieder gegenseitig wählten), beharrt aber darauf, dass dies in der vom Gesetz vorgesehenen Form geschehen müsse55 – einem Gesetz, das vom Souverän abgeändert werden sollte, wenn die einmal errichtete Regierung mit dem Gemeinwohl unvereinbar werde.56 Im letzten Abschnitt soll es vor diesem Hintergrund nun um die Frage gehen, ob sich die Theorie vom Verfall der Staaten, die Rousseau in den besprochenen Kapiteln des Contrat social entwickelt, mit der in Buch I und II sowie zu Beginn von Buch III entwickelten Theorie der Republik zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt.

52 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 164–165 (OC III, 435). Vgl. auch J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 161 (OC III, 816–817). 53 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 169 (OC III, 439). 54 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 19 (OC III, 114). 55 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 173 (OC III, 442). Vgl. auch ebd., 131 (OC III, 406–407). 56 Siehe J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 164 (OC III, 435).

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3 Naturrecht und Republikanismus: Heterogene Bezugspunkte in Rousseaus politischer Theorie Ich greife für meine Interpretation nochmals auf den sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne zurück, in dem Rousseau den Genfern sagt, er habe ihre Verfassung zum Vorbild der politischen Institutionen genommen und diese Europa als Beispiel vorgestellt.57 Silvestrini stellt dieser Aussage eine Bemerkung Rousseaus aus dem Lettre à Perdriau vom 28. November 1754 gegenüber, die das Verhältnis zwischen der Verfassung, die sich aus seinen Prinzipien ergibt, und jener, die in Genf tatsächlich existiert, betrifft.58 Davon ausgehend erläutert sie überzeugend, warum die Annahme, Rousseau habe in seiner politischen Theorie eine bestimmte Verfassung imitiert oder diese als Quelle der Eingebung benutzt, problematisch erscheinen muss. Da die Methode der Wissenschaft des politischen Rechts weder die Induktion noch die Nachahmung sei, müsse zwischen Theorie und dem realen Vorbild oder Muster eine Beziehung der Konvergenz bestehen. Diese stellten jedoch insofern eine Einheit dar, als die Prinzipien, welche die Wissenschaft entdeckt, keine Erfindung des Philosophen seien, sondern jenen Prinzipien entsprächen, deren sich Vernunft und Erfahrung bei der Errichtung politischer Institutionen bedienten.59 Meiner Auffassung nach ist diese Deutung der Beziehung zwischen Theorie und realen Mustern von Verfassungen zu stark auf die Genfer Verfassung beziehungsweise auf Rousseaus Anweisung fixiert, wie die Genfer den Contrat social lesen sollten. Wie bisher dargestellt, spielt die Reflexion auf die Genfer Verfassung in seiner politischen Theorie tatsächlich eine zentrale Rolle. Dies darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass Rousseau im zweiten Discours und im Contrat social die Genfer Verfassung als ein Muster unter anderen behandelt und sich dabei auf die Diskussion von Beispielen republikanischer Verfassungen bezieht, wie sie in der Tradition des klassischen Republikanismus durchaus verbreitet war. Ich verweise in diesem Zusammenhang hier nur etwa auf Machiavelli, der sich in den Discorsi die römische Republik zum Vorbild nahm, die er den Staatsmännern seiner Zeit und vor allem

57 Vgl. J.-J. Rousseau: „Briefe vom Berge“, 149 (OC III, 809): „Ich nahm also Ihre Verfassung, die ich schön fand, als Muster aller politischen Einrichtungen, und indem ich euch Europa als Beispiel vorstellte, gab ich euch Mittel an die Hand, euch zu erhalten, anstatt daß ich mich bestrebt hätte, euch zu zerstören.“ 58 J.-J. Rousseau: „Brief an Pfarrer Jean Perdriau vom 28. November 1754“, in ders.: Korresponden­ zen. Eine Auswahl, hg. v. Winfried Schröder, übers. v. Gudrun Hohl, Leipzig 1992, 94: „Jawohl, Mon­ sieur, von den Übereinstimmungen überrascht, die ich zwischen der Staatsverfassung, welche sich von meinen Grundprinzipien ableitet, und derjenigen feststellte, die in unserer Republik tatsächlich existiert, nahm ich mir vor, ihr meine Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Un­ gleichheit zu widmen“. 59 Vgl. G. Silvestrini: „Genève comme modèle“, 211–214.



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den Herrschern von Florenz zur Nachahmung empfahl,60 sowie auf James Harrington, der in der Oceana eine Art verfassunggebender Versammlung inszenierte, der er die Aufgabe zuwies, die Verfassungen verschiedenster Republiken zu studieren, um daraus ein neues Verfassungsmodell für England zu generieren.61 Wenn man von der Frage ausgeht, in welchen Zusammenhängen im Contrat social historische Beispiele eine Rolle spielen, so wird man leicht feststellen, dass dies, abgesehen vom Kapitel über den Gesetzgeber, vor allem ab dem III. Buch der Fall ist, wo es um die Regierungsformen, den Hang der Regierung zur Entartung sowie den Tod der politischen Körperschaft geht. Im IV. Buch schließlich werden die Grundsätze der Stimmabgabe und der Stimmensammlung in der Volksversammlung gar im Rückblick auf die politischen Einrichtungen Roms entwickelt, die Rousseau, wie Machiavelli, als vorbildlich betrachtet. Die Häufung der Verweise auf Republiken zeigt an, dass Rousseau in den Kapiteln des Contrat social, in denen es um die Erhaltung beziehungsweise den Verfall der politischen Ordnung geht, auf die Tradition des klassischen Republikanismus Bezug nimmt, während er seine Begründung einer legitimen politischen Ordnung in Auseinandersetzung mit der Tradition des Naturrechts und des Gesellschaftsvertrags entwickelte. Die Feststellung, dass Rousseau in seiner politischen Theorie mit dem Naturrecht und dem Republikanismus zwei wesentliche Elemente integrierte, ist an sich nicht originell, wurde sie doch von Maurizio Viroli schon ausführlich erläutert.62 Während Viroli im Zusammenhang mit dem republikanischen Element in Rousseaus Theorie vor allem auf die Rolle der Tugend und die notwendige Kontrolle der Leidenschaften von Bürgern und Regierenden verwies, steht hier jedoch seine Theorie der Institutionen im Vordergrund: Rousseaus Bezugnahme auf Beispiele oder Muster von Republiken zeigt, dass er die Grundlage für eine Theorie des Verfalls beziehungsweise der Erhaltung der politischen Ordnung in der

60 Siehe Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übers., eingel. u. erl. v. Rudolf Zorn, Stuttgart 1977. Zur Idee der Nachahmung vgl. ebd., 4f.; zur Staatsform Roms vgl. ebd., 15–17. 61 Siehe James Harrington: The Commonwealth of Oceana and A System of Politics, ed. by John Greville Agard Pocock, Cambridge 1992, 69–71. Ausführlicher zur Idee der Verfassungsgebung bei Harrington vgl. Alois Riklin: Die Republik von James Harrington 1656, Bern 1999, 120–148. 62 Vgl. Maurizio Viroli: Jean-Jacques Rousseau and the ‚well-ordered society‘, Cambridge 2002, 211f: „The two main elements, essential to Rousseau’s theory of political order, are, on the one hand, the tradition of thinkers advocating some form of social contract and, on the other, classical and modern republican tradition. These are two different traditions which may be combined in a political theory only with difficulty. The first is founded on the premise of a thoroughgoing individualism; the second makes civil virtue the foundation of political order; the former, whose mode of reasoning is normative and abstract, appeals to the calculative rationality of men; the latter emphasizes the importance of the passions, especially love of liberty and of the fatherland. – Rousseau’s doctrine of political order owes much to each of these traditions and it is this weaving together of these two strands of thought within the theory that is responsible in large part for its originality in comparison with the rest of modern political philosophy.“

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Tradition des Republikanismus ausfindig machte. Ich werde zum Schluss die These vertreten, dass dieser Teil von Rousseaus politischer Theorie inkohärent bleibt, weil es dem Autor nicht gelingt, die in der republikanischen Tradition überlieferte Lehre von den Regierungsformen, in der die Mischverfassung eine zentrale Rolle spielt, in eine Theorie der Republik zu integrieren, nach der jede Teilung oder Vertretung der souveränen Gewalt ausgeschlossen ist. Wie Victor Goldschmidt in einer wichtigen Studie ausführte, die Gabriella Sil­ vestrini in Erinnerung rief,63 entwickelte Rousseau bereits im zweiten Discours eine Theorie vom Hang der Regierung zur Entartung und zum Zerfall der Staaten,64 und zwar in Gestalt einer „hypothetische[n] Geschichte der Regierungen“ („l’histoire hypotétique des gouvernemens“),65 die vor dem Hintergrund von Polybios’ Theorie der Anakyklosis zu lesen ist, die Machiavelli in den Discorsi fast wortwörtlich repro­ duzierte. Von Machiavelli übernimmt Rousseau die These, dass Sparta als Vorbild zu betrachten sei, da Lykurg eine stabile Ordnung errichtet habe. Während Machia­ velli Sparta mit Rom vergleicht, das nicht schon in seinen Anfängen eine freiheit­ liche Ordnung gehabt hätte, sondern nur durch Zufall zu staatlicher Vollkommen­ heit gelangt sei, nimmt Rousseau eine Verallgemeinerung vor, indem er Sparta allen anderen politischen Ordnungen gegenüberstellt.66 Diese Abweichung verweist auf die ‚erste‘ grundlegende Neuerung, die Rousseau gegenüber der überlieferten repu­ blikanischen Theorie der Regierungsformen einführt: Machiavelli vertritt mit Poly­ bios die These, alle einfachen Regierungsformen würden entarten, während die Mischung von monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen zu einem vollkommenen Staatswesen führe, das in Sparta auf einmal, in Rom hingegen infolge günstiger Umstände und durch Zufall entstanden sei. Bei Rousseau hingegen fehlt jeder Hinweis auf die Mischverfassung. Die zweite wichtige Neuerung, die Rousseau einführt, betrifft die Abfolge der Regierungsformen. Während nach klassischem Schema, in dem die drei Regierungsformen und ihre Verfallsformen aufeinander folgen, die Monarchie den Anfang macht und die Ochlokratie oder Anarchie, die aus der Entartung der Demokratie resultiert, das Ende des Kreislaufs bezeichnet,67 ist im zweiten Discours nicht von einer Abfolge der Regierungsformen die Rede. Wenn er feststellt, die verschiedenen Regierungsformen hätten ihren Ursprung in den mehr oder weniger großen Unterschieden zwischen den Individuen zum Zeitpunkt der Errichtung der Regierung, scheint Rousseau vielmehr anzunehmen, dass der Prozess der Entartung in Gestalt der Verwandlung von

63 Siehe Victor Goldschmidt: Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau, Paris 1974. Der Verweis auf diese Arbeit findet sich in G. Silvestrini: Diritto naturale et volontà generale, 11. 64 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 251, 253 (OC III, 187–188). 65 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 61 (OC III, 127). Vgl. auch V. Goldschmidt: Anthropologie et politique, 749; N. Machiavelli: Discorsi, 12–17. 66 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 225, 227 (OC III, 180). 67 Vgl. etwa N. Machiavelli: Discorsi, 13–15.



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der legitimen zur willkürlichen Gewalt sich als Folge der zunehmenden Ungleichheit überall vollziehe, unabhängig davon, ob es sich nun um Monarchien, Aristokratien oder Demokratien handle.68 Genau dies wiederholt er auch im Contrat social, wenn er feststellt, der Missbrauch der Regierung, welcher Art er auch sei, heiße allgemein Anarchie. Wolle man verschiedene Formen unterscheiden, so entarte die Demokratie zur Ochlokratie, die Aristokratie zur Oligarchie und das Königtum zur Tyrannis.69 Diese Bemerkung passt allerdings nur schlecht zu der zuvor eingeführten These, die Regierung entarte auch dann, wenn sie sich verkleinere, indem sie von der Demokratie zur Aristokratie und von da zur Monarchie übergehe.70 Ich hatte oben bereits ausführlich dargestellt, wie Rousseau diese Art der Entartung der Regierung an den historischen Beispielen von Venedig und Rom illustriert. Nun gilt es noch zu erläutern, warum seine Berufung auf Machiavelli höchst zweifelhaft erscheint: Machiavelli erklärt, wie Rom (im Unterschied zu Sparta) erst mit der Zeit dank seiner Mischverfassung Stabilität erlangte,71 während Rousseau die „wirkliche Regierung“ („un vrai Gouvernement“) Roms als „echte Demokratie“ („une véritable Démocratie“) preist!72 Wenn man sich auch noch an den Vergleich zwischen Venedig und Genf in Kapitel 3 von Buch IV des Contrat social und an den Anfang des siebten Briefes der Lettres écrites de la montagne erinnert, wo Rousseau den Verfall der Genfer Regierung zusammenfassend beschreibt, so lässt sich der Gedanke kaum abweisen, Rousseau habe unter Bezugnahme auf die klassisch-republikanische Tradition ein Verfallsschema zu konstruieren versucht, das sich auf ideale Weise eignete, um eine Diagnose über den aktuellen (im Gegensatz zum legitimen) Zustand der Genfer Regierung anzustellen. Dass dieser Versuch mit großen Schwierigkeiten behaftet war, zeigt sich am besten an den Widersprüchen, in die sich Rousseau mit Blick auf die ursprüngliche Regierungsform verwickelt. Während er im zweiten Discours erklärte, die Völker, die dem Naturzustand noch am nächsten gewesen seien, hätten eine Demokratie gebildet,73 erklärt er die Demokratie im Contrat social für utopisch und behauptet, die ersten Gesellschaften hätten sich aristokratisch regiert, wie dies die Wilden seiner Zeit in Amerika noch täten, um dann – wie schon im zweiten Discours – die Entwicklung von der natürlichen zu der auf Wahl gegründeten und zur erblichen Aristokratie zu erläutern, wobei er hier ebenfalls eine Tendenz zur Entartung unterstellt, wenn er die erbliche Aristokratie als „die schlechteste aller Regierungen“ („le pire de tous les Gouvernemens“) bezeichnet.74

68 Siehe J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 247, 249 (OC III, 186). 69 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 151 (OC III, 423). 70 Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 149 (OC III, 421). 71 Siehe N. Machiavelli: Discorsi, 16f. 72 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 149 (OC III, 422). 73 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 247, 249 (OC III, 186). 74 J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 131 (OC III, 406); zur Demokratie vgl. ebd., 128 (OC III, 404); zu den verschiedenen Arten von Aristokratie vgl. ebd., 130–132 (OC III, 406–408).

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Im Hinblick auf die prinzipielle Integration einer zeitlichen Dimension in seine Theorie der politischen Institutionen bestand für Rousseau das Problem darin, dass er nur in der republikanischen Tradition einschlägige Überlegungen zum Zerfall und zur Erhaltung von Regierungen vorfand, er aber gleichzeitig die Idee der Mischverfassung als mögliche Lösung daraus eliminieren musste, da sich diese nicht mit seiner zentralen These vereinbaren ließ, wonach die Republik, in der die unteilbare und unveräußerliche Souveränität beim Volk liegt, die einzig legitime Verfassung sei.75 Im Blick auf seine Theorie der legitimen politischen Ordnung erweist sich Rousseau als treuer Schüler seiner absolutistischen Vorgänger. Von Bodin über Hobbes bis zu Pufendorf wurde die republikanische Mischverfassung auf der Grundlage der Theorie der Souveränität kritisiert.76 Wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe, trug gerade Pufendorfs Staatstheorie, die für Rousseau bei der Ausarbeitung des Contrat social einen zentralen Bezugspunkt darstellte, wesentlich zur Diskreditierung der Mischverfassung als eines irregulären Staates bei.77 Eine zusätzliche Motivation, jede Teilung der Souveränität kategorisch abzulehnen, bestand für Rousseau zweifellos darin, dass Jean-Jacques Burlamaqui in seinen Principes du droit politique eine Theorie der Gewaltenteilung entwickelte,78 die er dann in einem Gutachten für eine Interpretation der Genfer Verfassung als einer Mischverfassung fruchtbar machte, mit der er die Position der regierenden Elite stützte.79 Dieser Beitrag ging von der Frage aus, wie Rousseau das Modell der Genfer Verfassung in seine politische Theorie integrierte. Wie wir gesehen haben, kann die im Contrat social entwickelte Theorie der Erhaltung beziehungsweise des Verfalls der Staaten gemäß Rousseaus Anleitung im sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne tatsächlich als Anweisung gelesen werden, wie sich der drohende Verfall der Genfer Verfassung zwar nicht aufhalten, wohl aber verzögern ließ. Diese Untersuchung stützt darüber hinaus die allgemeinere These, dass sich Rousseaus Theorie der politischen Institutionen und des institutionellen Wandels nur verstehen lässt, wenn diese vor dem Hintergrund der Tradition des Republikanismus interpretiert wird, in

75 Auf den Zusammenhang zwischen der antiken Idee der Mischverfassung und der modernen Idee der Gewaltenteilung kann ich hier nicht ausführlicher eingehen. Vgl. dazu Alois Riklin: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006, 286f. passim sowie Simone Zurbuchen: „Republik oder Monarchie?“. 76 J. Bodin: Sechs Bücher über den Staat, 319–334; Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hg. u. eingel. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frankfurt/Main 1966, 145–154. 77 Simone Zurbuchen: „Samuel Pufendorfs Theorie der Staatsformen und ihre Bedeutung für die Theorie der modernen Republik“, in Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden 2009, 138–160. Vgl. dazu auch Merio Scattola: „Pufendorf und die Tradition der Mischverfassung“, in Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden 2009, 97–125. 78 Siehe Jean-Jacques Burlamaqui: Principes du droit politique, [o. O.] 1763, 35, 43f. 79 Vgl. dazu A. Riklin: Machtteilung, 260–267.



Die Theorie der Institutionen im Contrat social und das Modell der Genfer Verfassung 

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der die Bezugnahme auf historische Muster von Verfassungen eine entscheidende Rolle spielte. Auch wenn das moderne Naturrecht mit seiner Theorie des Staates und des Gesellschaftsvertrags für Rousseau zweifellos von großer Bedeutung war, fand Rousseau darin offenbar keine Grundlage, um die zeitliche Dimension politischer Institutionen zu thematisieren. Aus der hier vorgeschlagenen Lektüre des Contrat social ergeben sich allerdings Zweifel daran, ob Rousseau die Integration der republikanischen Institutionentheorie in seine politische Philosophie überzeugend gelang. Das entscheidende Problem bestand für ihn darin, die Mischverfassung daraus verbannen zu müssen, die traditionell als ‚die‘ Lösung für das Problem der Stabilität im Wandel der Zeit angesehen wurde.

Catherine Labro

Wahlsysteme auf dem Prüfstand Rousseau, der Contrat social und das Beispiel Venedig Rousseau war von September 1743 bis August 1744 Sekretär des französischen Bot­ schafters in Venedig, des Grafen Montaigu. Während dieser Zeit, so erinnert er sich in den Confessions, habe er die Gelegenheit gehabt, „die Mängel jener so gerühmten Regierung zu bemerken“ („de remarquer les défauts de ce gouvernement si vanté“)1 und erste Ideen für sein Projekt der Institutions politiques zu sammeln. Allerdings haben die Beobachtungen, die Rousseau während seines Aufenthal­ tes in Venedig anstellen konnte, kaum Eingang in sein politisches Œuvre gefunden. Der Contrat social bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Einer von den ganz wenigen Verweisen, die jene Erfahrungen betreffen, findet sich im 3. Kapitel von Buch IV. Hier erörtert Rousseau das Problem der Wahlen, wobei ein ganzer Paragraph der Dogen­ wahl Venedigs gewidmet ist. Anhand dieses Beispiels, das dem Herzen des venezia­ nischen Institutionengefüges entnommen ist, möchte Rousseau die Komplexität des Wahlaktes demonstrieren, die, wie er glaubt, von Montesquieu nicht richtig erkannt worden war. Rousseaus Bewertung des Wahlvorgangs ist dabei von seiner politischen Theorie beeinflusst. Sie erlaubt es ihm, sich in einer zentralen staatsrechtlichen Frage gegen seinen illustren Vorgänger zu positionieren. Ein nicht weniger berühmter Zeitgenosse und Leser des Contrat social, die Rede ist nun von Voltaire, war jedoch ganz anderer Auffassung. In Voltaires Augen sind die Aussagen Rousseaus über die Dogenwahl Venedigs voller Ungereimtheiten. Zum Kontext: Rousseau führt diese Wahl als Bestätigung des auch von Montesquieu geteil­ ten Grundsatzes an, wonach das beste Mittel, die Regierung zu wählen, in einer Demo­ kratie das Los (le sort) und in einer Aristokratie die Wahl per Stimme (le choix) sei: Das Beispiel der Wahl des Dogen von Venedig ist weit davon entfernt, diese Unterscheidung zu Fall zu bringen, es bestätigt sie vielmehr. Diese Mischform passt zu einer gemischten Regierungs­ form. Es ist nämlich ein Irrtum, die venezianische Regierung für eine wirkliche Aristokratie zu halten. Wenn das Volk dort keinerlei Anteil an der Regierung hat, so ist der Adel dort selbst das Volk. Eine Menge verarmter Edelleute (‚Barnaboten‘) konnte nie auch nur daran denken, irgend­ ein Regierungsamt zu versehen, und hat von seinem Adel nichts als den leeren Titel Exzellenz und das Recht, im ‚Großen Rat‘ zu sitzen.2

1 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, m. e. Einf. v. Werner Krauss, übertr. v. Ernst Hardt, 7. Aufl., Leipzig 1971, 566 (Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes. Édition thématique du Tricentenaire, sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, tome II, Genève 2012, 543). Nachweise, die sich auf diese Ausgabe beziehen, werden im Folgenden abgekürzt mit ET-OC (Anm. d. Verf.). 2 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, i. Zusammenarb. m. Eva Pietzcker neu übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2011, 122.

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 Catherine Labro

L’exemple de l’élection du Doge de Venise confirme cette distinction, loin de la détruire: cette forme mêlée convient dans un gouvernement mixte. Car c’est une erreur de prendre le gouver­ nement de Venise pour une véritable aristocratie. Si le peuple n’y a nulle part au gouvernement, la noblesse y est peuple elle-même. Une multitude de pauvres Barnabotes n’approcha jamais d’aucune magistrature, et n’a de sa noblesse que le vain titre d’Excellence et le droit d’assister au grand Conseil (ET-OC V, 582).

In seinen Idées républicaines hält ihm Voltaire entgegen: All dies ist von empörender Falschheit. Es ist hier nicht das erste Mal, daß behauptet wird, Venedig habe keine gänzlich aristokratische Regierung gehabt. Das ist fürwahr eine Narrheit, aber sie würde im venetianischen Staat hart bestraft. Es ist falsch, daß die Senatoren, die der Verfasser mit dem verächtlichen Namen Barnaboten zu belegen wagt, niemals Ämter innegehabt hätten; ich könnte ihm mehr als fünfzig nennen, welche die wichtigsten Stellen eingenommen haben.3

Voltaires Urteil ist unwiderruflich. Es ist für ihn die Chance, den Contrat social ein für alle Mal aus der Reihe der großen staatsrechtlichen Schriften zu verbannen. Der Autor des Contrat social missachte in seinem Werk das positive Recht der etablierten Regierungen; dieses kennzeichne die Regierung Venedigs gemeinhin als Aristokratie, weshalb es nur der Eigenart Rousseaus geschuldet sein könne, wenn dieser eine so evidente Tatsache ignoriere. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass Rousseau weit davon entfernt war, das positive Recht zugunsten des Staatsrechts zu vernachlässigen; dass es vielmehr (wie das Beispiel Venedig anschaulich belegt) seine genaue Kenntnis der bestehen­ den Institutionen war, die ihn dazu befähigte, die ihnen zugrunde liegenden staats­ rechtlichen Prinzipien zu durchdenken – und zwar mit einer solchen Sorgfalt, wie es bis dato keiner seiner Vorgänger (nicht die Theoretiker des Naturrechts und auch nicht Montesquieu) getan hatte. Zu diesem Zweck werde ich zunächst auf den Dissens zwischen Rousseau und Montesquieu eingehen, um dann – mit Blick auf den Contrat social – nach den theo­ retischen Hintergründen dieser Meinungsverschiedenheit zu fragen. Abschließend wird auf jene bereits zitierte Aussage Rousseaus zurückzukommen sein, die Voltaires Anstoß erregte: „Es ist nämlich ein Irrtum, die venezianische Regierung für eine wirk­ liche Aristokratie zu halten. Wenn das Volk dort keinerlei Anteil an der Regierung hat, so ist der Adel dort selbst das Volk.“ Bevor nun Rousseaus Verständnis der Wahlen, wie es im 3. Kapitel von Buch IV des Contrat social dargestellt wird, sowie der darin enthaltene Konflikt mit Mon­ tesquieu näher umrissen werden können, soll hier zunächst auf die gedankliche Übereinstimmung beider Autoren verwiesen werden, da deren Gegenstand für das

3 Voltaire: Republikanische Ideen, hg. v. Günther Mensching, übers. a. d. Franz. v. Angelika Oppen­ heimer u. a., Frankfurt/Main 1986, 17–18.



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Verständnis von Rousseaus Souveränitätstheorie und des damit verbundenen Zusam­ menspiels der Institutionen maßgeblich ist. Rousseau stimmt mit Montesquieu in der Annahme überein, dass das Losverfahren dem Wesen der Demokratie und das Stimm­ verfahren dem Wesen der Aristokratie entspricht. Für diese Einschätzung sind zwei Gesichtspunkte ausschlaggebend: auf der einen Seite der Charakter der Unparteilich­ keit und der Chancengleichheit, den das Losverfahren der Wahl von demokratischen Staatsbeamten verleiht; auf der anderen die durch Stimmenwahl erfolgende Auslese von einzelnen Individuen aus den Reihen der Wählerschaft, die für die Ausübung eines hohen Staatsamtes besonders geeignet erscheinen.4 Mit diesen Überlegun­ gen reihen sich beide Verfasser in die republikanische Tradition ein, der zufolge der demokratische Effekt des Losverfahrens beziehungsweise der aristokratische Effekt der Stimmenwahl nicht von den Bedingungen und Umständen abhängt, unter denen die Abstimmung durchgeführt wird, sondern in der Natur des Loses beziehungsweise der Stimmenwahl selbst liegt. Nach der Hervorhebung dieser Gemeinsamkeit ist nun auf eine von beiden Autoren angemerkte Besonderheit einzugehen, nämlich die der gemischten Form. Wenn es nämlich zutrifft, dass das Losverfahren eine Gesetzmäßigkeit ist, die unmit­ telbar dem Wesen des demokratischen Regierungssystems entspricht, und das Stimmverfahren dem Wesen des aristokratischen Systems, wie kann es dann sein, dass in der Demokratie von Athen das Stimmverfahren und in den aristokratischen Institutionen Venedigs das Losverfahren zur Anwendung kam? Auch in diesem Punkt widersprechen sich die Antworten beider Autoren nicht. Sie teilen nämlich neben einer gemeinsamen Definition vom Wesen der Demokratie auch die Überzeugung, dass jene praktisch nicht existiere. So muss für Montesquieu in einer Demokratie das „Volk, welches die höchste Gewalt besitzt, […] alles, was es selbst gut leisten kann, selber tun“.5 Rousseau wiederum definiert die Demokratie grundsätzlich als jenes Regierungssystem, in welchem „die Exekutive mit der Legislative gekoppelt ist“ („le pouvoir exécutif est joint au pouvoir législatif “); jedoch, so merkt er sogleich an, „hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, und es wird sie niemals geben“ („il n’a jamais existé de véritable démocratie, et il n’en existera jamais“).6 Diese Aussagen Rousseaus und Montesquieus bezüglich der Wahlverfahren gilt es nun vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen theoretischen Überzeugungen noch etwas genauer zu erläutern. Zu den Grundprinzipien des zweiten Discours gehört, dass die Menschen von ihrem natürlichen Wesen her ungleich sind. Daraus folgt, dass die staatlichen Institutionen, wenn sie sozial gerecht sein wollen, diese natür­ lichen Ungleichheiten (Unterschiede des Alters, der Gesundheit, der körperlichen

4 Vgl. Bernard Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, a. d. Engl. v. Tatjana Petzer, Berlin 2007, 186. 5 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers. u. hg. v. Ernst Forsthoff, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 1992, 20. 6 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 74–75 (ET-OC V, 537).

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und geistigen Fähigkeiten) in ihren Verfahren abbilden müssen; sie müssen also die natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen berücksichtigen, während sie sich gleichzeitig darum zu bemühen haben, die bürgerliche Ungleichheit bezüglich der Besitzunterschiede (Reichtum, Ehre, Macht) unschädlich zu machen. Wenn Rous­ seau demnach im 4. Kapitel von Buch III des Contrat social einerseits versichert, dass diejenige Verfassung die beste sei, in der die vollziehende Gewalt mit der gesetzge­ benden Gewalt verbunden ist, und andererseits betont, dass es dennoch nicht gut sei, wenn derjenige, der die Gesetze macht, sie auch ausführt, dann möchte er damit etwas sehr Einfaches verdeutlichen: Gemäß der in seinem zweiten Discours von Beginn an ausgeschlossenen Hypothese einer Regierung, die imstande wäre, die bürgerlichen Differenzen vollkommen zu reduzieren und sich damit einer idealen Verfassung weitgehend anzunähern, wäre es in Anbetracht der bestehenden Alters-, Kräfte- und Geistesunterschiede gleichwohl nicht wünschenswert, die Exekutive und die Legislative vollkommen ineinander aufgehen zu lassen. Dass es in der Geschichte der Menschheit noch keine wahre Demokratie gegeben habe, ist daher laut Rous­ seau weder den Lastern anzurechnen, die das Leben in zivilisierten Gesellschaften mit sich bringt, noch ist es einer natürlichen Verderbtheit des Menschen geschuldet. Eine echte Demokratie kann es in seinen Augen schon allein deshalb nicht geben, weil die Menschen von ihren natürlichen Fähigkeiten her unterschiedlich sind. Diese Verschiedenheit hindert die Menschen daran, jene Gleichheit der Güter, der Sitten, der Ansichten und des Vermögens auszubilden, die unter anderen Umständen auch die Wahl per Los zum allgemeinen Nutzen bewirken könnte. Denn tatsächlich wäre das Losverfahren nur dann uneingeschränkt von Vorteil, wenn diese natürliche Ungleich­ heit zwischen den Menschen nicht bestünde. In allen anderen Fällen wirke es sich dagegen nachteilig aus. Das ist eine Tatsache, ein natürlicher Grundsatz für Rousseau. Aber auch für Montesquieu gibt es keine wirkliche Demokratie, weil das Volk, wie er meint, nicht alles selber tun kann, was es in einer echten Demokratie tun sollte. Es gibt Dinge, die außerhalb seiner Reichweite liegen, weshalb für diese Tätigkeiten Repräsentanten ernannt werden müssen. Das Volk besitzt zwar die natürliche Fähig­ keit, seine Repräsentanten zu wählen, jedoch wird es nach Montesquieu nicht fähig sein „ein Staatsgeschäft [zu] leiten, Ort, Zeit und richtige Gelegenheiten nutzbrin­ gend wahr[zu]nehmen“.7 Diese Unfähigkeit ist für Montesquieu nicht – wie für Rous­ seau – auf die natürliche Ordnung zurückzuführen, sondern „auf die dauernde Folge erstaunlicher Wahlen […], die die Athener und Römer vornahmen“.8 Er beruft sich daher auf zwei historische Ereignisse aus der römischen und der athenischen Politik, die beweisen sollen, dass sich das Volk bewusst ist, dass es nicht alles tun kann, was es tun müsste:

7 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Bd. I, 20. 8 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Bd. I, 21.



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Obwohl in Rom das Volk bekanntlich das Recht besaß, Plebejer in die höchsten Staatsstellen zu erheben, konnte es sich dazu nicht entschließen. Und obgleich man in Athen auf Grund eines Gesetzes des Aristides die Beamten aus allen Volksklassen nehmen konnte, kam es, wie Xeno­ phon berichtet, niemals vor, daß das niedere Volk solche Stellen beanspruchte, von denen das Wohl und der Ruhm des Staates abhingen.9

Diese Beispiele belegen in Montesquieus Augen die natürliche Fähigkeit des Volkes, echten Verdienst zu erkennen und in seiner Wahl den natürlichen Eliten den Vorzug zu geben. Es existiert mithin für ihn deshalb keine wahre Demokratie, weil es eine natürliche Aristokratie gibt, die ebenso auf Talent beruht, wie sie sich aus jenen privilegierten Gesellschaftsschichten rekrutiert, die durch Geburt, Besitzstand und Prestige hervorgehoben sind. Die Existenz einer natürlichen und bürgerlichen Aris­ tokratie macht die Wahl per Los problematisch und auch das Volk selbst wird, wie Montesquieu meint, von diesem Verfahren Abstand nehmen, wenn es mit legislativer Macht ausgestattet ist. Doch auch wenn sich somit die natürliche und die bürgerliche Ungleichheit nach Rousseau zu einem gewissen Grad in der natürlichen und bürgerlichen Aristokratie nach Montesquieu wiederfinden, sind diese doch nicht gleichermaßen durch das Wahlverfahren per Stimme legitimiert. Die Überlegungen zu den demokratischen Wahlen in Montesquieus De l’esprit des lois gehen davon aus, dass das Volk die bürgerliche Ungleichheit verinnerlicht hat – eine Hypothese, die im Contrat social dagegen nicht zu finden ist. Montesquieu unterscheidet in der Tat nicht zwischen der natürlichen Aristokratie, deren Wesen einzig auf Talent basiert und die insofern den Rückgriff auf die Stimmenwahl in demokratischen Gesellschaften rechtfertigen würde, und der bürgerlichen Aristokratie, die gänzlich auf Prestige, Geburt oder Besitzstand beruht. Dieser Umstand spiegelt sich auch in den Beispielen wider, die er in der erwähnten Passage anführt. Die Fähigkeit des Volkes, den Verdienst derer zu erkennen, an die es seine Autorität abtritt, richtet sich hier auf durchaus unterschied­ liche Aspekte: auf die persönliche Erfahrung – etwa wenn das Volk einen General wählt, von dem es weiß, dass er oft im Krieg war; auf eine Mischung aus persönlicher Tugend und sozialem Status – wenn es zum Beispiel einen Richter aufgrund seines Fleißes und seiner Unbestechlichkeit ins Amt hebt; oder auf eine bloß ererbte Quali­ tät – etwa wenn es einen Bürger aufgrund seiner Pracht und seines Reichtums zum Ädilen ernennt.10 Während also laut Rousseau die Fähigkeit des Volkes, den persönlichen Ver­ dienst zu erkennen, stets durch die bürgerlichen Ungleichheiten korrumpiert ist, fließen diese bei Montesquieu ohne Abstriche in die populäre Zustimmung respektive Ablehnung mit ein.

9 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Bd. I, 21. 10 Vgl. B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 105.

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Diesen Unterschied einmal vorausgesetzt, ziehen Rousseau und Montesquieu gleichwohl dieselbe Schlussfolgerung aus ein und demselben Grundsatz: Die Demo­ kratie sei, ihrer Natur entsprechend, eine Regierung, in der „das Volk in gewisser Hin­ sicht der Monarch, in anderer Hinsicht Untertan [ist].“11 Eine solche Regierung exis­ tiere nun allerdings in dieser reinen Form nicht, denn selbst in den Fällen, in denen das Volk die souveräne Macht erlangt habe, gelte doch in Anbetracht seiner morali­ schen und physischen Eigenschaften sowie der in diesen Fällen historisch belegten Vorkommnisse, dass die vollständige Vereinigung von Subjekt und Monarch keines­ wegs wünschenswert sei und dass sie vernünftigerweise vom Volk selbst auch niemals in Betracht gezogen worden sei. Dieser Realismus, der beiden Autoren gemeinsam ist und der sie dazu veranlasst, die Demokratie aus Sicht der menschlichen Natur und vor dem Hintergrund der politischen Geschichte zu betrachten, führt sie in der Folge auch dazu, eine Einschränkung bezüglich der Gesetze, die das Wesen der demokrati­ schen Regierung betreffen, vorzunehmen: Diese müssten die Trennung von Monarch und Souverän, von exekutiver und legislativer Gewalt in sich aufnehmen. Das gelte auch für die Gesetze, die dem Wahlakt zugrunde liegen. Ihre jeweiligen Konzeptionen des Wahlaktes sind daher in einem Spannungsfeld zwischen Faktizität und Geltung, zwischen Ideal und Wirklichkeit angesiedelt. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie es kommt, dass Rousseau und Monte­ squieu sich trotz ihres gemeinsamen Demokratieverständnisses über das dem Wesen der Demokratie entsprechende Wahlverfahren, die Wahl per Los, uneinig sind. Rous­ seau hält Montesquieu entgegen, dass die Gründe, die dieser für die Legitimation der Loswahl anführe, nicht die richtigen Gründe seien. „Das Los“, so referiert Rousseau die Position seines Landsmanns, „ist eine Art der Wahl, die niemanden verletzt; es lässt jedem Bürger die berechtigte Hoffnung, dem Vaterland dienen zu dürfen.“12 Die Gründe, auf die sich Montesquieu stützt und die von Rousseau angefochten werden, beruhen auf dem Gleichheitsprinzip. Auch sie sind ein klassischer Bestandteil der republikanischen Tradition. Nach Montesquieu sind es vor allem zwei Aspekte, welche das Losverfahren in einer Demokratie notwendig machen. Erstens kränke es niemanden, genauer gesagt: es entehre jene nicht, die bei der Wahl nicht zum Zuge kommen, denn diese wüssten, dass der Zufall genauso gut auch sie hätte auserwäh­ len können. Es beuge somit der Missgunst und dem Neid gegenüber den in ein Amt Gewählten vor. Zweitens entspreche die Loswahl dem Gleichheitsgrundsatz, weil sie jedem Bürger „die Möglichkeit auf die Ausübung eines öffentlichen Amtes“13 zuge­ stehe. Diese Überlegungen werden noch klarer, wenn man sie aus der Perspektive des

11 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Bd. I, 19. 12 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 121. „Le sort […] est une façon d’élire qui n’afflige per­ sonne, il laisse à chaque citoyen une espérance raisonnable de servir la patrie“ (ET-OC V, 581). 13 B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 104.



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institutionellen Modells heraus betrachtet, auf das Montesquieu sich hier bezieht: die athenische Demokratie. Die athenische Demokratie übertrug die meisten Ämter, die die Volksversamm­ lung nicht selbst ausübte, auf Bürger, die per Los gewählt wurden. Mit Ausnahme der Zivilbehörden, der militärischen Stellen und der Finanzämter, die durch Wahlen besetzt wurden, entschied über alle anderen Staatsämter das Los. Die Loswahl garan­ tierte eine gewisse Gerechtigkeit, denn sie gewährte jedem beliebigen Bürger, sofern er sich dazu im Stande fühlte, die Chance auf ein hohes Staatsamt. Aufgrund des Rotationsprinzips waren die Machtverhältnisse im Staat also nicht nur grundsätzlich reversibel, sondern konnten auch erneuert werden.14 Es weist nun in der Tat nichts darauf hin, dass Rousseau die von Montesquieu angeführten Gesichtspunkte als falsch erachtet haben könnte; wohl aber hält er sie für nebensächlich. Für Rousseau sind die Gründe, die die Loswahl zu einem genuin demokratischen Verfahren machen, sehr viel essentieller und fundamentaler als der Aspekt der bloßen Machtumkehrung. (Dabei spielt wohl auch der Umstand eine Rolle, dass Montesquieu in den Passagen von De l’esprit des lois, die seinen Überlegungen zur Loswahl im 2. Kapitel von Buch II vorausgehen, zunächst jenen Punkt außer Acht lässt, den er hinterher als Begrün­ dung anführt, nämlich das Gerechtigkeitspostulat.) Montesquieu leitet den Grundsatz der Wahl (sowohl per Los als auch per Stimme) aus dem ungleich verteilten Wahlrecht ab. Ob per Los oder Stimme gewählt wird, hängt nach Montesquieu davon ab, welche Klassenaufteilung der Gesetzgeber vor­ genommen hat.15 Man kann sich vorstellen, welche Resonanz solche Aussagen bei dem Autor des Contrat social und Verfechter des unveräußerlichen Wesens der Sou­ veränität auslösen mussten. Wenn der Gesetzgeber – und sei es das Volk selbst – das Volk für die Wahl der Staatsmänner in Klassen unterteilte, dann könnte es von diesem Zeitpunkt an keinen einzigen Gesetzesakt mehr bezüglich der Wahl seiner Regenten durchführen, der frei, einheitlich und autonom wäre, da es seine legislative Gewalt ja an eine begrenzte Menge von Bürgern entäußert hätte. Damit aber müsste auch die von Montesquieu betonte egalitäre Funktion des Loses verfallen. Unter Rekurs auf den zentralen Grundsatz des Contrat social, dem zufolge die Souveränität unteilbar und unveräußerlich ist, wird somit deutlich, warum Rousseau zufolge die egalitäre Funktion des Loses für das Überleben einer Demokratie weitaus weniger essentiell ist als seine Bindung an die legislative Gewalt, ohne die letztlich auch die Loswahl ihren egalitären Charakter einbüßen würde. Der Nachteil, der sich ergibt, wenn man die entscheidende Ursache für die ega­ litäre Funktion des Loses allein in der Möglichkeit der Machtumkehr erblickt und in jener gar ihr charakteristisches Merkmal sieht, besteht darin, dass nicht präzisiert wird, von welcher Gewalt eigentlich die Rede ist. So gibt Rousseau zu bedenken, dass

14 Vgl. B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 46. 15 Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Bd. I, 21.

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die egalitäre Wirkung des Loses im Rahmen der Legislative womöglich eine ganz andere sei als im Rahmen der Exekutive. Das Rousseaus Bedenken nicht grundlos sind, beweist das Beispiel Athens, wo den per Los gewählten Bürgern die meisten jener Ämter anvertraut wurden, die die Volksversammlung nicht selbst ausübte. Lediglich in den strikten Grenzen der vollziehenden Gewalt entfaltet die Loswahl dort ihre egalitäre Wirkung. Sie kommt also in den gegenüber der Legislative unterge­ ordneten Funktionen der Exekutive zur Geltung, wobei erstere das exklusive Privileg des Volkes darstellt. Als Teil der Regierung sind die obrigkeitlichen Staatsbeamten nicht mit dem Volk identisch; sie stellen eine vom demos abgesonderte Instanz dar und werden vom Volk auch als solche wahrgenommen.16 Ganz anders verhält es sich dagegen, wenn die Loswahl im Rahmen der Legislative eingesetzt wird, wie zum Bei­ spiel in der römischen Zensusrepublik, wo die Gesetzesinitiative den Staatsbeamten zukam, welche die in Klassen aufgeteilte Volksversammlung einberiefen. In dieser Versammlung besaßen die privilegierten Klassen die Vorherrschaft; sie griffen auf das Losverfahren zurück um zu bestimmen, welche Zenturie unter den Vermögenden zuerst wählen durfte. So liest man auch bei Manin: Das Ergebnis der Auslosung, die der Ermittlung der zuerst abstimmenden Zenturie diente, wurde als ein Zeichen der Götter (omen) gewertet, und auch dem Votum dieser Zenturie kam eine reli­ giöse Bedeutung zu. Das ‚Eröffnungsvotum‘ galt nicht nur als vorweggenommene Widergabe des endgültigen Ausgangs der Abstimmung, sondern als Vorgabe, wie nun abgestimmt werden sollte. Die Entscheidung der zuerst abstimmenden Zenturie beeinflußte daher die nachfolgen­ den Vota […]. Im Gegensatz zu den Athenern setzten die Römer das Losverfahren nicht aufgrund seiner egalitären Eigenschaften ein. In der durch das Zensussystem bestimmten römischen Republik hatte der Losentscheid wegen seiner Neutralität und religiösen Interpretierbarkeit hauptsächlich den Effekt, Stimmen zu vereinen und den politischen Zusammenhalt zunächst unter den besitzenden Klassen und schließlich im ganzen Volk zu fördern.17

Der entscheidende Punkt, der Rousseau von Montesquieu in der Bewertung des Los­ verfahrens und seiner Rolle in der Demokratie trennt, besteht demnach nicht so sehr in der Möglichkeit der Machtumkehrung, die durch das Los gegeben ist, als vielmehr im Verhältnis des (allgemeinen) Gesetzes zur vollziehenden Gewalt beziehungsweise zur Regierung als dem Ort, wo sich die Umkehrung von Machtverhältnissen abspielt: Ohne die grundsätzliche Vorrangstellung des Gesetzes in seiner Allgemeinheit verlöre die Wahl per Los in der Demokratie ihren egalitären Wert. Rousseau selbst macht das in der folgenden Passage deutlich: Wenn man beachtet, dass die Wahl der Oberhäupter eine Aufgabe der Regierung und nicht der Souveränität ist, wird man sehen, warum der Weg durch das Los mehr der Natur der Demokratie entspricht, in der die Regierung in dem Maß besser ist, als ihre Akte weniger vielfältig sind.

16 Siehe B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 26–27. 17 B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 71–72.



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In jeder wahren Demokratie ist ein Amt weniger ein Vorteil als eine Bürde, die man gerechter­ weise nicht dem einen eher als dem anderen auferlegen kann. Einzig das Gesetz kann diese Bürde demjenigen auferlegen, auf den das Los fällt. Dann ist nämlich die Ausgangsbedingung für alle gleich, die Wahl hängt nicht von irgendeinem menschlichen Willen ab, keine besondere Anwendung schränkt so die Allgemeingültigkeit des Gesetzes ein.18 Si l’on fait attention que l’élection des chefs est une fonction du gouvernement et non de la souveraineté, on verra pourquoi la voie du sort est plus dans la nature de démocratie, où l’administration est d’autant meilleure que les actes en sont moins multipliés. Dans toute véritable Démocratie la magistrature n’est pas un avantage mais une charge oné­ reuse, qu’on ne peut justement imposer à un particulier plutôt qu’à un autre. La loi seule peut imposer cette charge à celui sur qui le sort tombera. Car alors la condition étant égale pour tous, et le choix dépendant d’aucune volonté humaine, il n’y a point d’application particulière qui altère l’universalité de la loi (ET-OC V, 581).

Wenn die Loswahl die Gerechtigkeit in der Demokratie gewährleistet, dann liegt dies also weniger daran, dass jene, die heute gehorchen, morgen regieren werden und vice versa, sondern vielmehr an der Tatsache, dass jene, die die Gesetze verabschieden, nichts mit deren Ausführung zu tun haben dürfen, so dass jeder Bürger dazu ange­ halten ist, für die jeweils anderen das zu wollen, was er für sich selbst möchte. Denn die gleichzeitige Ausübung der Exekutiv- und Legislativgewalt durch das Volk bedeu­ tet für die Demokratie ein erhebliches Risiko: „Die Entscheidungen des Volkes in der Eigenschaft als Souverän (Gesetze) können durch eine spezifische Haltung beeinflusst sein, die es annehmen muß, wenn es in der Eigenschaft als Regierung handelt.“19 Das Losverfahren behebt genau diese Problematik. Wenn, wie etwa in Athen, die hohen Staatsbeamten per Los gewählt werden, muss das Volk nur eine einzige Entscheidung treffen, nämlich das Los als Mittel für die Wahl der Staatsbeamten einführen. Dies ist eine Entscheidung allgemeiner Natur, die von ihm einmalig gefällt werden kann; es muss sodann nicht noch einmal zusammentreten, um weitere Maßnahmen wie etwa die Wahl einzelner Individuen zu Staatsbeamten zu veranlassen. Im Gegensatz dazu muss das Volk in einer per Stimme wählenden Demokratie wie Rom gleich zweimal intervenieren: zunächst um das Gesetz des Wahlmodus und dessen Modalitäten zu verabschieden und anschließend noch einmal im steuernden Sinn, um die einzelnen Personen für die hohen Staatsämter zu wählen. Dies birgt die Gefahr, dass bereits die erste Entscheidung des souveränen Volkes im Hinblick auf die zu vergebenden Ämter getroffen wird.20 Das ausschlaggebende Charakteristikum, welches das Losverfahren für Rousseau zu einer geeigneten Wahlmethode macht, ist demnach, dass die hohen Staatsbeamten durch das Los ohne die Intervention partikularer Interessen benannt werden können.

18 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 121–122. 19 B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 107. 20 Vgl. B. Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie, 107.

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Seine Analyse der Wahl verbindet sich logisch mit den Überlegungen, die im Contrat social dargelegt sind, und die Abgrenzung gegenüber Montesquieu einerseits sowie die Verweise auf die antike Tradition andererseits lassen seine Überzeugung nur noch deutlicher hervortreten. Voltaires Kritik bezüglich der venezianischen Regierung und speziell der Wahl des Dogen erweist sich damit – wie so häufig – als überzogen, und zwar sowohl hinsichtlich der Grundprinzipien des Contrat social als auch im Hinblick auf das positive Staatsrecht, zumal dasjenige Venedigs, das Rousseau gut kannte. Kommen wir daher abschließend noch einmal auf dieses Fallbeispiel zurück. Rousseau bezieht sich auf die Dogenwahl, um den Unterschied zwischen dem Wesen der aristokratischen und der demokratischen Regierung darzulegen. Dieser besteht, wie er meint, in der jeweils spezifischen Art und Weise, wie sich der Gesetz­ geber zur Exekutivgewalt verhält: im ersten Fall überträgt er sie, im zweiten übt er sie selbst aus. Dabei ist auf den indirekten Charakter von Rousseaus Formulierung zu verweisen: „Das Beispiel der Wahl des Dogen von Venedig ist weit davon entfernt, diese Unterscheidung zu Fall zu bringen, es bestätigt sie vielmehr. Diese Mischform passt zu einer gemischten Regierungsform.“21  Er antizipiert hier also eine Kritik, welche die Dogenwahl Venedigs anführen könnte, um den Unterschied zwischen der demokratischen und der aristokratischen Regierungsform für nichtig zu erklären. Es gilt also zu verstehen, inwiefern das Beispiel der Wahl im Rahmen der politischen Tradition eine Herausforderung für diese Unterscheidung darstellen kann. Fest steht, dass die Dogenwahl, wie es Jean Georgelin anführt, „auf die merkwür­ digste Art und Weise, die man sich nur vorstellen kann“22 ablief. Die Loswahl, die mit Hilfe von kleinen Kugeln oder ‚ballottes‘ vollzogen wurde, war Teil eines langen und komplexen Auswahlprozesses, im Zuge dessen diejenigen Staatsbeamten des Großen Rates ausgewählt wurden, denen die Aufgabe zukam, den Dogen zu wählen: Um jede Art der illegalen Einflussnahme und Kabale zu vermeiden, unterliegt die Prozedur der Dogenwahl bemerkenswerten Vorkehrungen. Man versammelt aus dem Großen Rat oder der Versammlung der Adligen nur jene, die mindestens dreißig Jahre alt sind. Nachdem man alle, die dieses Alter haben, ermittelt hat, nimmt man die gleiche Anzahl an ballottes oder kleinen Kugeln, von denen dreißig golden, der Rest weiß sind. Diese ballottes werden in ein Gefäß getan, aus dem jeder Adlige ein Los zieht. Jene Dreißig, die ein goldenes Kügelchen gezogen haben, versammeln sich in einem anderen Raum, wo sie ihre Zahl auf neun reduzieren, indem jeder eine der dreißig neu präparierten Kugeln zieht, von denen neun golden sind. Jene, welche die neun goldenen Kugeln gezogen haben, wählen 40 Edelmänner, die durch dasselbe Verfahren der goldenen Kugeln ihre Anzahl auf zwölf verringern; diese zwölf wählen 25, die ihre Anzahl auf elf verkleinern und das sind die elf Edelmänner die die 41 wählen, welche dann den Dogen wählen. Dieser große Kreislauf führt dazu, dass fast alle adligen Familien in den Genuss kommen, an

21 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 122. „L’exemple de l’élection du Doge de Venise confirme cette distinction, loin de la détruire: cette forme mêlée convient dans un gouvernement mixte“ (ET-OC V, 582). 22 Jean Georgelin: Venise au siècle des Lumières, La Haye, Paris 1978, 582 (dt. v. Anastasia Pyschny).



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der Wahl des Dogen teilzuhaben. Ist die Nominierung der 41 vollendet, versammelt sich der Große Rat erneut, um dieser zuzustimmen; nach der Zustimmung schließen sich die 41 Wahl­ männer in den Dogenpalast ein, um den Wahlakt zu vollziehen und verlassen jenen erst, wenn ein neuer Doge gewählt worden ist […]; von den 41 Stimmen bedarf es 25, um zum Dogen gewählt zu werden.23

Nun hatte aber Voltaire in seinen Essais sur les mœurs von 1756 über dieselbe venezi­ anische Dogenwahl Folgendes geschrieben: Unter allen Regierungen Europa’s war die venetianische die einzige geordnete, stabile und gleichförmige. Sie hatte nur einen Grundfehler, der jedoch in den Augen des Senats keiner war: es fehlte ihr nämlich ein Gegengewicht gegen die Patriciermacht und eine Aufmunterung für die Plebejer. Das Verdienst vermochte in Venedig niemals einen einfachen Bürger zu erheben, wie im alten Rom. Die Schönheit der Regierung Englands, seit das Unterhaus an der Gesetzgebung Theil hat, besteht in diesem Gegengewicht und in dem allezeit offenen Wege zu den Ehrenstel­ len für einen jeden, welcher derselben würdig ist; während aber das Volk allezeit im Gehorsam erhalten wird, befestigt sich die Regierung der Adligen auch um so besser und bürgerliche Zwie­ tracht lässt sich leichter fern halten. Man fürchtet da keineswegs die Demokratie, die nur für einen kleinen Schweizerkanton oder für Genf paßt.24

In diesem Passus zeigt sich Voltaire (im Gegensatz zu Rousseau) angetan von dem erblichen, exklusiven Charakter des Großen Rates, weshalb er die Regierung Vene­ digs auch als reine Aristokratie bezeichnet, wohingegen er Genf aufgrund geographi­ scher Aspekte zum Archetypus einer Demokratie erklärt. Vor diesem Hintergrund sind Voltaires Aussagen weit davon entfernt, den Unterschied zwischen demokratischer und aristokratischer Regierung aufzuheben, wie es Rousseau befürchtet, sondern sie bestärken diesen sogar. Es scheint daher, als würde sich die Bemerkung Rousseaus gar nicht zuvorderst auf den Passus aus Voltaires Essai sur les mœurs beziehen. Und dennoch: Legt man das Augenmerk auf diejenigen Aussagen Voltaires, die in diesem Zusammenhang England betreffen, und bezieht man des Weiteren noch die Fußnote mit ein, die sich in der Garnier-Ausgabe von 1878 befindet, dann fällt auf, dass Vol­ taire hier eben denjenigen Unterschied aufhebt, den Rousseau und Montesquieu bezüglich des natürlichen Wesens der demokratischen und aristokratischen Regie­ rung festgestellt hatten, nämlich die Los- und Stimmenwahl. So lautet die angefügte Bemerkung wie folgt: Wenn man unter der Demokratie eine Verfassung begreift, in der die Generalversammlung der Bürger unmittelbar die Gesetze verabschiedet, dann ist evident, dass die Demokratie nur in kleinen Staaten funktionieren kann; versteht man allerdings darunter eine Verfassung, bei der alle Bürger in mehreren Versammlungen die verantwortlichen Deputierten wählen, die den all­

23 J. Georgelin: Venise au siècle des Lumières, 582 (dt. v. Anastasia Pyschny). 24 Voltaire: Über den Geist und die Sitten der Nationen, dt. v. K. F. Wachsmuth, Bd. V, Leipzig 1867, 79.

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gemeinen Willen ihrer Auftraggeber und damit die Nation vertreten, dann wird man unschwer erkennen, dass diese Verfassung auch für große Staaten passend ist.25

Im Unterschied zu Rousseau und Montesquieu, die der Meinung sind, dass die Stimmenwahl dem Wesen der Aristokratie und die Loswahl dem Wesen der Demo­ kratie inhärent ist, glaubt Voltaire also, dass die demokratische oder aristokratische Beschaffenheit einer Regierung von den historischen respektive geographischen Umständen und Bedingungen abhängt, in denen die Los- beziehungsweise Stimmen­ wahl zur Anwendung kommt. So könne die Stimmenwahl auch auf demokratische Weise eingesetzt werden, wie es etwa in England der Fall sei. Die Äußerungen Rousseaus zur Dogenwahl zielen nun darauf ab, genau diese Sicht der Dinge zu hinterfragen. Das Beispiel Venedigs zeigt, dass die demokratische Wirkung der Loswahl (die nicht durchgeführt wird, um die Staatsbeamten, sondern deren Wahlmänner zu ernennen) in keiner Weise beeinträchtigt wird, selbst wenn die höchsten venezianischen Staatsämter in den Händen der einflussreichsten Familien bleiben. In Venedig haben alle Adelsfamilien, selbst die Mittellosesten unter ihnen, das Privileg, an der Dogenwahl teilzunehmen. Die Regierung Venedigs, weit davon ent­ fernt, eine reine Aristokratie zu sein, entpuppt sich damit de facto als eine gemischte Regierung, die demokratische und aristokratische Elemente in sich vereint. Sie ist insofern aristokratisch, als der Große Rat gleichsam Erbcharakter hat, nicht öffentlich ist und nur einen Bruchteil der Bevölkerung umfasst; demokratisch hingegen ist sie insofern, als im Rahmen des Großen Rates nur ein Teil der an der Gesetzgebung betei­ ligten Bürger tatsächlich Zugang zu hohen Staatsämtern hat. In Übereinstimmung mit den grundlegenden Prinzipien des Contrat social, wonach das Wesen der Demo­ kratie auf der unveräußerlichen und unteilbaren Natur des Souveräns in seiner legis­ lativen Funktion beruht, schlussfolgert Rousseau aus Sicht des positiven Rechts für die venezianische Regierung: Diese Regierung mag zwar in dem Sinn aristo­kratisch sein, dass der Große Rat nur einen Teil der Bevölkerung umfasst, nämlich den Adel; doch das ändert nichts daran, dass innerhalb dieser exklusiven Bevölkerungsgruppe die Legislative nicht mit der Exekutivfunktion zusammenfällt; wo die Wahrnehmung der ersteren alle Adligen betrifft, selbst die Mittellosesten, ist die Ausführung der zweiten einer kleinen Anzahl von ihnen vorbehalten (denen nämlich, die nach dem Mischwahlsystem aus Los- und Stimmenwahl gewählt wurden). Wenn Rousseau demnach behauptet, dass der venezianische Adel selbst Volk sei, sagt er damit letztlich weniger, als Voltaire ihm in den Mund legt beziehungsweise unterstellt, wenn er sich über Rousseaus Äußerung mokiert, dass kein Edelmann jemals an der Amtsausführung irgendeiner wichtigen Magistratur beteiligt gewesen

25 Voltaire: „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“, in: ders.: Œuvres complètes de Voltaire, éd. Adrien Jean Quentin Beuchot, Nouvelle édition, tome XII, Paris 1878, hier 172 (dt. v. Anastasia Pyschny; die Fußnote fehlt im Text der deutschen Ausgabe, Anm. d. Übers.).



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sei. Rousseau verweist hier lediglich auf die Tatsache, dass unter den aristokratischen Familien, die Mitglieder des Großen Rates und somit der Legislative sind, die Mittello­ sen in der Regel kein obrigkeitliches Amt innehaben, welches sie mit den wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Exekutive betraut. Auch wenn diese Aussagen inzwischen durch die Forschung widerlegt worden sind,26 ändert das nichts an der Tatsache, dass sich Rousseau im Zusammenhang mit der Dogenwahl nur in dem Maße für das Wahlrecht der venezianischen Regierung in ihrer exekutiven Funktion interessiert, als jenes die Einheit und die Autonomie der Legislative unangetastet lässt. Folglich ist in den Augen Rousseaus der Ausschluss der Edelmänner von den obrigkeitlichen Ämtern Venedigs nicht so gewichtig wie deren Teilhabe an der Legislative, die der venezianischen Regierung ihren demokratischen Charakter verleiht. Bereits im Jahr 1743 misst Rousseau, wie eine Botschaftsdepesche für den König vom 23. November belegt, diesem Sachverhalt eine nicht geringe Bedeutung zu: Seit meinem letzten Brief, den ich die Ehre hatte IHRER MAJESTÄT am Sechzehnten dieses Monats zu schreiben, konnte ich in Erfahrung bringen, dass der Senator, der am Dreizehnten im pregadi [Senat] gewählt wurde, ein Monsieur Bragadin ist, der einen Monsieur Contarini über­ trumpfte und der – obgleich er zur Familie der Bragadin gehört – so wenig Besitztümer sein Eigen nennt, dass man ihn mit den hier als ‚Barnaboten‘ betitelten Adelsmännern nahezu auf eine Stufe stellen kann. Depuis la dernière lettre que j’ai eu l’honneur d’écrire à VOTRE MAJESTÉ le seize de ce mois, j’ai appris que le sénateur qui a été élu dans le prégadi [sénat] du treize est un Monsieur Bragadin qui l’a emporté sur un Monsieur Contarini, et qui, quoique de la même famille que les autres Braga­ dins, a si peu de bien, qu’on le met presque au rang de ces nobles qu’on appelle ici Barnabotes.27

So ist die venezianische Regierung nach Rousseau insofern demokratisch, als alle Mitglieder des Souveräns ungeachtet ihrer Besitzstände, ihres Ehrenstatus und ihrer Machtbefugnisse bevollmächtigt sind, Gesetze zu erlassen, und sie ist insofern aris­ tokratisch, als nur ein Teil des Adels, ergo die Vermögendsten, Ruhmreichsten und Mächtigsten unter ihnen, Zugang zu dieser charge onéreuse, den Magistraturen, hat. Aufgrund der verschiedenen theoretischen Positionen, die in ihm anklingen, ist das venezianische Beispiel im 3. Kapitel von Buch IV des Contrat social also von einer ganz besonderen Komplexität. Rousseau desavouiert damit in einem Atemzug Montes­quieus Begründung für den demokratischen Charakter der Loswahl sowie Voltaires Behauptung, die darauf ausgerichtet ist, den klassischen, republikani­ schen, zu Lebzeiten Rousseaus und Montesquieus noch bekannten Unterschied zwi­ schen dem demokratischen Charakter der Los- und dem aristokratischen Charakter

26  Siehe dazu J. Georgelin: Venise au siècle des Lumières, 647. 27 ET-OC IV, 100 (dt. v. Anastasia Pyschny). In diesem Zusammenhang zeigt sich die herabsetzende Wirkung, die für einen Anwärter auf einen Senatsposten damit verbunden war, wenn seine Familie den Barnaboten zugeordnet wurde.

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 Catherine Labro

der Stimmenwahl aufzuheben. Gegen Montesquieu macht Rousseau geltend, dass sich das demokratische Wesen des Loses nicht an der von ihm bewirkten egalitären Machtverteilung festmacht, sondern allein an der Möglichkeit des Souveräns, Gesetze unter Absehung von den Interessen Einzelner oder der Einflussnahme bestimmter Gruppierungen zu erlassen. Die Unterschiede der Geburt, des Vermögens und der Machtbefugnisse sind in seinen Augen belanglos, sofern sie innerhalb der Regierung verbleiben. Sie gefährden jedoch die Demokratie in ihrem Wesenskern, wenn sie im Rahmen der Legislative zum Tragen kommen. Folglich lehnt der Autor des Contrat social die Idee Voltaires, die Bürger nach englischem Modell auf verschiedene Räte aufzuteilen, wobei „alle Bürger in mehreren Versammlungen die verantwortlichen Deputierten wählen, die den allgemeinen Willen ihrer Auftraggeber und damit die Nation vertreten“, aufs Entschiedenste ab. Denn dann würden sich die Unterschiede der Geburt, des Vermögens und der Machtbefugnis zwangsläufig in der gesetzgeben­ den Versammlung auswirken und dort die Möglichkeit einer rechtmäßigen Anwen­ dung des Gesetzes von Grund auf unterminieren – selbst wenn es sich um eine demo­ kratische Regierung handelte. Die Dogenwahl widerspricht demnach sowohl der These Montesquieus als auch der Voltaires: Gegen Montesquieu macht sie deutlich, dass für einen venezianischen Adligen weniger Ehre in der Ausübung einer Magistratur liegt, als in der Entschei­ dungsgewalt darüber, wer dieses Amt bekleiden darf; für Voltaire hingegen hält sie die Einsicht bereit, dass es eine Sache ist, die Machtausübung an einige wenige zu übertragen, eine ganz andere aber, die Integrität der legislativen Gewalt anzutas­ ten, indem man sie auf mehrere Versammlungen verteilt. Wenn die venezianischen Adligen auch die exekutive Gewalt an einen kleinen Kreis von Auserwählten übertra­ gen, so bleiben sie – wie die Dogenwahl beweist – dennoch Souverän, denn sie üben die gesetzgebende Gewalt nach wie vor – ungeachtet ihrer unterschiedlichen Besitz­ stände, ihres Ehrenstatus und ihrer Machtbefugnisse – gemeinsam aus. So gibt das Beispiel Venedig den Blick frei auf eine für Rousseau charakteristi­ sche Vorgehensweise, die es hier zu beschreiben galt: Stets verbindet sich in seinen Schriften die Analyse faktischer Institutionen mit dem Verständnis ihrer Prinzipien. Aus dem Französischen übersetzt von Anastasia Pyschny

Karsten Holste

(Über-)Setzungen von Institutionen politischer Freiheit Entstehung und Rezeption von Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne,1 ihr Entstehungskontext und ihr Bezug zur zeitgenössischen Situation in Polen-Litauen wurden in der Forschung so ausgiebig behandelt,2 dass es aus der Perspektive der osteuropäischen Geschichte zunächst schwer fällt, dem noch etwas hinzuzufügen.3 Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen daher nicht der Text selbst und seine Darstellung des von 1768 bis 1772 anhaltenden Aufstandes der Barer Konföderation gegen die von Russland militärisch gesicherte Macht des polnischen Königs, die im hohen Maße die Selbstbeschreibung der Konföderierten widerspiegelt.4 Stattdessen sollen mit Blick auf Rousseaus Considérations die Veränderungen nachgezeichnet werden, die Vorstellungen politischer Institutionen beim Transfer zwischen den politischen Diskursen der Gesellschaften im westlichen und östlichen Europa erfuhren. Der 1771 niedergeschriebene Text Rousseaus stellt einen von vielen Vorschlägen westeuropäischer Aufklärer dar, die politischen Systeme im östlichen Europa entsprechend ihren eigenen politischen Leitideen umzugestalten.5 Rousseau ging dabei

1 Erstdruck: Jean-Jacques Rousseau: „Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa ré­ formation projettée“, in Collection Complette des Oeuvres de J.-J. Rousseau, Citoyen de Genève, tome I, Genève 1782, 415–539. Im Folgenden zitiert nach Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Reformierung“, in ders.: Kulturkritsche und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 431– 530. Alle Nachweise für Originalzitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 2 Vgl. u. a. Jerzy Michalski: Rousseau i sarmacki republikanizm, Warszawa 1977; Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford/CA 1995, 235–283; Ethan Putterman: „Realism and Reform in Rousseau’s Constitutional Projects for Poland and Corsica“, in Political Studies 49 (2001), 481–494; Jeffrey A. Smith: „Nationalism, Virtue, and the Spirit of Liberty in Rousseau’s Government of Poland“, in The Review of Politics 65 (2003), 409–437. 3 Siehe Daniel Beauvois: „Francuski świat filozoficzny wobec konfedercji barskiej“, in Anna Buch­ mann/Adam Danilczyk (red.): Konfederacja barska, jej konteksty i tradycje, Warszawa 2010, 265–278, hier 265. 4 Vgl. dazu und zur bis heute anhaltenden Fortwirkung dieser Darstellung D. Beauvois: „Francuski świat filozoficzny“, 273–277. 5 Zur Auseinandersetzung der westeuropäischen Aufklärung mit den Verhältnissen im östlichen

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in den Considérations von derselben Vorstellung eines Zivilisationsgefälles zwischen West- und Osteuropa aus wie seine Zeitgenossen Voltaire und Diderot, um nur die bekanntesten zu nennen. Im Gegensatz zu diesen entwickelte Rousseau allerdings keinen Plan, der eine Überwindung des Zivilisationsgefälles durch Übertragung westlicher politischer Modelle nach Osteuropa vorsah, sondern forderte deren Zurückweisung, um der ‚Degeneration‘ westlicher politischer Kultur zu entgehen. Zugespitzt formuliert, ersetzte Rousseau den Anspruch, Osteuropa die westliche Zivilisation zu lehren, durch den Anspruch, Osteuropa die Kritik westeuropäischer Zivilisation zu lehren. Die während des 18. Jahrhunderts im westlichen Europa entworfenen Vorschläge zu einer Umgestaltung der Gesellschaften des östlichen Europas – sowohl nach eigenem Vorbild als auch, wie von Rousseau vertreten, in dezidierter Abgrenzung davon – wurden von späteren Interpreten bis hin zur jüngeren historischen Forschung vor allem als Teil eines Ideentransfers von West nach Ost erörtert. Abhängig von der Ansicht der Interpreten, ob die gesellschaftliche Entwicklung im westlichen Europa eher als Verheißung oder als Gefahr zu deuten sei, ließen sich die jeweiligen westlichen Entwürfe als Vorlage für Reformbemühungen im östlichen Europa oder als äußere, eine eigenständige Entwicklung behindernde Einmischung verstehen.6 Die verschiedenen Deutungen verband allerdings meist, dass sie dazu tendierten, die Unterscheidung zwischen einem im 18. Jahrhundert politisch und kulturell weiter entwickelten westlichen Teil Europas und einem hinsichtlich verschiedener Entwicklungen relativ rückständigen östlichen Teil als Realität aufzufassen, und zumindest darin den zeitgenössischen Analysen von Autoren des westlichen Europas zu folgen. Die Empfehlungen, die westliche Aufklärer für osteuropäische Politiker verfassten, wurden somit gewissermaßen als Versuche aufgefasst, politische Konzepte, welche

Europa und deren Rezeption vgl. u.  a. Carolyn H. Wilberger: Voltaire’s Russia. Window on the East, Oxford 1976; L. Wolff: Inventing Eastern Europe; Maciej Forycki: Anarchia polska w myśli oświecenia. Francuski obraz Rzeczypospolitej szlacheckiej u progu czasów stanisławowskich, Poznań 2004; Sergej Ja. Karp/Sergej A. Mezin (otv. red.): Evropejskoe Prosveščenie i civilizacija Rossii [russ.] (= Les Lumières européennes et la civilisation de la Russie), Moskva 2004; Inna Gorbatov: Catherine the Great and French Philosophers of the Enlightenment. Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot and Grimm, Bethes­ da 2006. 6 Zur Diskussion um westeuropäische gesellschaftliche Zukunftsentwürfe und ihre Übertragbarkeit nach Russland und Polen vgl. C. H. Wilberger: Russia, 260–267; Marc Raeff: „Russia’s Perception of Her Relationship with the West“, in Slavic Review 23 (1964), 13–19; Julia Oswalt: „Die Grundlegung des Petersburger Imperiums. Das Zeitalter Peters des Großen (1689–1725): Forschungstendenzen“, in Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. II: 1613‒1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, hg. v. Klaus Zernack, I. Halbbd., Stuttgart 1986, 224–229; Jerzy Jedlicki: Die entartete Welt. Die Kritiker der Moderne, ihre Ängste und Urteile, Frankfurt/Main 2007, 68–87; ders.: Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują. Studia z dziejów idei i wyobraźni XIX wieku, Warschau 1988, 19–227 (engl.: A Suburb of Europe. Nineteenth-Century Polish Approaches to Western Civilization, Budapest u. a. 1999).



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die bereits weiter fortgeschrittene Entwicklung im Westen reflektierten, entsprechend den Erfordernissen eines weniger entwickelten Osteuropas zu ,übersetzen‘. Larry Wolff hat 1994 unter dem Titel Inventing Eastern Europe diesen Interpretationsansatz grundlegend in Frage gestellt. Inspiriert von Edward Saїds OrientalismusStudie7 und unter dem Eindruck des Verhaltens westlicher Forscher gegenüber den post-kommunistischen Gesellschaften im östlichen Europa nach 1990 argumentiert Wolff, dass die aufgeklärten Betrachtungen über den östlichen Teil Europas keineswegs nur als Reflexionen über den Unterschied zwischen West- und Osteuropa interpretiert, sondern ebenso gut als Konstruktionen dieses Unterschieds gelesen werden können. Darüber hinaus verbindet Wolff diese Setzungsleistung mit einer dahinterstehenden Zielstellung, das östliche Europa zunächst mental zu unterwerfen, um es reif für spätere Eroberungen zu machen.8 Politisches Denken im östlichen Europa habe unter diesen Voraussetzungen keine andere Chance gehabt, als auf diese Herausforderung zu reagieren und sich an ihr abzuarbeiten. Trotz seines betont kritischen Ansatzes reformuliert Wolff also faktisch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Ost- und Westeuropa, indem er politische Aktivität und systematische Entwürfe im Westen verortet, eine eher diffuse Realität und politische Passivität hingegen im Osten. Im Folgenden werde ich mich bemühen, grundsätzliche Unterscheidungen zwischen west- und osteuropäischer politischer Realität und Denkweise zu vermeiden.9 Stattdessen versuche ich, Überlegungen von Dietlind Hüchtker und anderen aufgreifend,10 die gegenseitige Beeinflussung von Reformvorstellungen und Kulturkontakten zu verdeutlichen und damit zur Historisierung der Vorstellung eines WestOst-Entwicklungsgefälles beizutragen.11 Im Fokus steht dabei am Beispiel der Entstehung und der Rezeption von Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne die Entwicklung von Konzepten politischer Freiheit und politischer Institutionen.12

7 Edward W. Said: Orientalism, New York 1979. Zur anschließenden Debatte vgl. Burkhard Schnepel/ Gunnar Brands/Hanne Schöning: „Neu-Orient-ierungen“, in dies. (Hgg.): Orient‒Orientalistik‒ Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011, 7–14. 8 Vgl. L. Wolff: Inventing Eastern Europe, 1–8 u. 356–374. 9 Zur Problematik von generalisierenden Ost-West-Vergleichen vgl. schon Henry L. Roberts: „Russia and the West. A Comparison and Contrast“, in Slavic Review 23 (1964), 1–30. 10 Siehe Dietlind Hüchtker u. a.: „Über-Setzen: Editorial“, in WerkstattGeschichte 48 (2008), 3–6. 11 Zu diesem Ansatz vgl. Michael G. Müller: „Die Historisierung des bürgerlichen Projekts – Europa, Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit“, in Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), 163–170. 12 Unter Institutionen werden dabei soziale Regulierungen verstanden, denen die Bedeutung zu­ gemessen wird, eine Orientierung politischen Handelns an Leitideen zu fördern, die wie die Idee der Freiheit als Legitimationsgrundlagen von geltenden politischen Ordnungen dienen. Vgl. M. Rainer Lepsius: „Institutionenanalyse und Institutionenpolitik“, in Birgitta Nedelmann (Hg.): Politische In­ stitutionen im Wandel, Opladen 1995, 392–402, hier 394–395.

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Um die Entstehung der Vorstellung osteuropäischer Besonderheit und deren Verbindung zur Entstehung neuer Konzepte politischer Institutionen zu verfolgen, gehe ich zunächst auf die mächtepolitische Situation im östlichen Europa zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein. Anschließend komme ich kurz auf den Umgang Rousseaus mit diesen Konzepten in den Considérations zu sprechen und schließe sodann mit einigen Bemerkungen zur Rezeption dieser Schrift in den polnischen Verfassungsdebatten am Ende des 18. Jahrhunderts.

1 Reform und Freiheit. Politische Verhältnisse in Russland und Polen-Litauen während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Die Entstehung der Vorstellung von Osteuropa – das im Übrigen zu diesem Zeitpunkt noch Nordeuropa genannt wurde – als einer Region, die gesamteuropäischen zivilisatorischen Standards nicht entsprach, sich ihnen aber – im Unterschied zu anderen Regionen der Welt wie Asien – annäherte, lässt sich bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen und mit Voltaires viel gelesener Histoire de Charles XII. in Zusammenhang bringen.13 Die Ergebnisse des Großen Nordischen Krieges hatten dazu geführt, dass die mächtepolitischen Auseinandersetzungen im Osten und Westen Europas in einen engeren Zusammenhang gerieten als zuvor. Dies schlug sich besonders darin nieder, dass Russland nach dem Sieg über Schweden im östlichen Europa eine Vormachtstellung erlangte und russische Truppen in Konflikte des mittleren und westlichen Europas einzugreifen begannen.14 Die Verschiebungen im europäischen Mächtesystem wurden von neuen Formen der Legitimation monarchischer Herrschaft begleitet. Monarchische Herrschaft, Hofgesellschaft und zentralisierte Verwaltung wurden besonders im Russländischen Reich Peters I. nicht nur als Grundlage militärischer Schlagkraft beschrieben, sondern zugleich als Mittel zur Etablierung von rationaler Ordnung und von Wohlstand im In- und Ausland propagiert.15 Es zeichnete sich folglich die Konzeptionalisierung der Monarchie als Institution der Reform ab – eine Legitimationsform von Herrschaft,

13 Siehe dazu L. Wolff: Inventing Eastern Europe, 89–94. 14 Zu den gesellschaftlichen und militärischen Grundlagen dieser Entwicklung vgl. Robert I. Frost: The Northern Wars. War, State, and Society in Northeastern Europe 1558–1721, Harlow 2000. 15 Vgl. exemplarisch Feofan Prokopovič: Leichen-Rede auf das Begräbniß des Aller-Durchlauchtigsten und Großmächtigsten Petri des Großen, Käysers und Souverains vom gantzen Rußlande, Vatern des Vaterlandes [...], [o.  O.] 1725; auch in Rußlands Thränen, oder Kurtze Nachricht vom Tode Petri des Grossen, Kaysers über gantz Rußland. Samt zweyen zu des verstorbenen Kaysers Lobe gehaltenen Reden, Hamburg 1726.



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deren Tradition die nachpetrinische Epoche der Geschichte Russlands bis in das ausgehende 18. Jahrhundert prägte.16 Die in Russland entwickelte Berufung auf die Leistungsfähigkeit der Reformmonarchie wurde von Voltaire erweitert um den Gedanken einer durch die Reform bewirkten ‚Zivilisierung‘ und ‚Europäisierung‘ eines zuvor rein ‚barbarischen‘ Russlands. Die sich anschließenden Debatten in der aufgeklärten Öffentlichkeit verfestigten die Deutung von Russlands monarchischer Herrschaft als Institution des Fortschritts. Das in Russland entwickelte Konzept einer starken Reformmonarchie und das in westeuropäischer Geschichtsphilosophie debattierte Konzept einer Zivilisierung Russlands bedingten und befruchteten einander, auch wenn sowohl die Frage, inwieweit die russländische Gesellschaft in vorpetrinischer Zeit als ‚barbarisch‘ zu gelten habe, als auch die Frage nach dem Ausmaß und der Richtung des Zivilisierungsprozesses in Russland kontroverse Diskussionen hervorriefen.17 Die Außenpolitik Russlands war grundsätzlich aber an einer öffentlichen Debatte über die ,zivilisatorischen Fortschritte‘ des Landes im westlichen Europa interessiert und unterstützte ihre ,Ratgeber‘ auch finanziell ausgiebig, sofern deren Empfehlungen im Bereich des Theoretischen verblieben und mit den Interessen der Monarchie vereinbar schienen.18 Dabei ist festzuhalten, dass das Konzept eines von der Monarchie getragenen Fortschrittes nur unter der Bedingung einleuchtend erscheinen konnte, dass die Gesellschaft Russlands als Gesellschaft im Übergang geschildert wurde, die ohne die neuen Institutionen in den Zustand vor der Reform zurückzufallen drohte. Dies erklärt, warum in der Petersburger Hofgesellschaft des 18. Jahrhunderts erwartet wurde, dass die einheimischen Aristokraten nicht wie Europäer agierten, sondern wie Nichteuropäer, die sich darum bemühten, wie Europäer zu wirken19 – ein Verhalten, das dann westeuropäische Beobachter als Zeichen der nur halbeuropäischen Natur der Russen interpretierten. Polen-Litauen hatte bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung im nördlichen und östlichen Europa Rückschläge erlitten, als sich die monarchischen Zentren in Russland und Dänemark ebenso wie in Schweden und Brandenburg-Preußen daran machten, ihre Fähigkeiten

16 Zur gerade dadurch sinnvoll erscheinenden Epocheneinteilung der Geschichte Russlands vgl. Michael G. Müller: „Das russische Imperium im 18. Jahrhundert (1725–1796): Zum Epochencharakter des nachpetrinischen 18. Jahrhunderts in der Geschichte Rußlands“, in Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. II: 1613‒1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, hg. v. Klaus Zernack, I. Halbbd., Stuttgart 1986, 372–378. 17 Siehe Sergej A. Mezin: „Petr I. kak civilizator Rossii: dva vzgljada“ [russ.], in Sergej Ja. Karp/Sergej A. Mezin (otv. red.): Evropejskoe Prosveščenie i civilizacija Rossii [russ.] (= Les Lumières européennes et la civilisation de la Russie), Moskva 2004, 5–15. 18 Vgl. L. Wolff: Inventing Eastern Europe, 220–234; C. H. Wilberger: Russia, 63–133 u. 174–183. 19 Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Bd. I: From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton/NJ 1995, 85–86.

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zum konzentrierten Einsatz von Ressourcen zu vergrößern.20 Das im 16. Jahrhundert etablierte ständische Herrschaftssystem Polen-Litauens, das einer monarchia mixta entsprach, basierte auf der Kooperation zwischen drei Machtzentren: Der Krone, die über die Vergabe von Ämtern und die damit verbunden Einkünfte entschied, dem Senat, der die hohen geistlichen und weltlichen Würdenträger umfasste, sowie dem Adel (szlachta), dem das Recht der Königswahl, der regionalen Selbstverwaltung auf Landtagen (sejmiki) und der Abstimmung über Steuern und Gesetze durch Abgeordnete zum Reichstag (sejm) zustand. Beschlüsse der sejmiki und des sejms verlangten die allgemeine Zustimmung der Anwesenden, deren Zustandekommen eine deutliche und durchsetzungsfähige Mehrheit voraussetzte. In Konfliktsituationen konnten auf gemeinsame Ziele verpflichtete Konföderationen des Adels gebildet werden, die ihren jeweiligen Anliegen auch militärisch Nachdruck verliehen. Dieses auf Konsensbildung angewiesene politische System wurde im ausgehenden 17. Jahrhundert zunehmend instabil. Verantwortlich dafür war die wachsende Anzahl an Konflikten, die sich zwischen der Krone, den die hohen Ämter verwaltenden und durch umfangreichen Besitz aus dem Adel hervorgehobenen Magnatenfamilien sowie verschiedenen regionalen Gruppen des Adels entzündeten.21 Als der sächsische Kurfürst 1697 zum polnischen König gewählt wurde und den Namen August II. annahm, strebte er nicht nur nach einer Stärkung der königlichen Gewalt im Innern Polen-Litauens, sondern auch nach Gebietsgewinnen gegenüber den Nachbarmächten. Diese Zielsetzungen waren eingebunden in ein umfangreiches Reformprogramm, das – ähnlich wie das Peters I. in Russland – den Ausbau monarchischer Macht mit kultureller und ökonomischer Entwicklung verband.22 Militärische Misserfolge und ein intensiver, von den Nachbarmächten geförderter Widerstand im Innern erlaubten August II. und seinem Sohn und Nachfolger auf dem polnischen Thron August III. aber nur eine sehr eingeschränkte Umsetzung der angestrebten Reformziele. Während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die polnische Politik schließlich für lange Zeit von Auseinandersetzungen verschiedener Faktionen gelähmt, die sich um konkurrierende Magnatengruppen bildeten. Diese Gruppierungen arbeiteten teil- und zeitweise mit dem König zusammen, verbündeten

20 Siehe Andrzej Sulima Kamiński: Republic vs. Autocracy. Poland-Lithuania and Russia, 1686–1697, Cambridge/MA 1993; R. I. Frost: The Northern Wars, 192–262. 21 Vgl. R. I. Frost: The Northern Wars, 148–187; Michael G. Müller: „Polen als Adelsrepublik. Pro­ bleme der neueren verfassungsgeschichtlichen Diskussion“, in Hugo Weczerka (Hg.): Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit, Marburg 1995, 95–110; Hans-Jürgen Bö­ melburg: „Politische Öffentlichkeit und Verfassung zwischen Königsherrschaft, Oligarchie und Adels­republikanismus“, in Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden, Bd. II: Frühe Neuzeit, hg. v. Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2011, 369–396. 22 Siehe Jacek Staszewski: „Pomysły reformatorskie czasów Augusta II. Uwagi o dziełach i pro­ gramach“, in ders.: „Jak Polskę przemienić w kraj kwitnący ...“ Szkice i studia z czasów saskich, Olsztyn 1997, 69–95; ders.: August II Mocny, Wrocław 1998, 185–208.



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sich aber immer wieder auch mit ausländischen Mächten. Ihr jeweiliges Vorgehen legitimierten sie dabei mal mit Verweisen auf die Notwendigkeit von Reformen und einer Rationalisierung des politischen Systems, mal unter Berufung auf das Erfordernis, den politischen status quo im Namen der Freiheit des Adels zu verteidigen.23 Die Gegner einer Stärkung der königlichen Gewalt beriefen sich in Anknüpfung an frühere Auseinandersetzungen zwischen Adel und Krone auf die überlieferte Ständeordnung und die durch sie gewährte ‚goldene Freiheit‘ (słota wolność) des Adels. Das auf Konsens und Kooperation angelegte politische System wurde von ihnen einseitig zu einem System der Sicherung von ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ des Adels umgedeutet. Das Recht zu begründetem Einspruch gegen Mehrheitsbeschlüsse durch eine in ihren Rechten verletzte Minderheit, das liberum veto, wandelte sich zur Behauptung, jeder Adlige habe das Recht zur Blockade der Beschlussfindung und zum ‚Zerreißen‘ von Land- und Reichstagen, liberum rumpto. Der für besondere Konfliktsituationen vorbehaltene Zusammenschluss von Teilen des Adels zu Konföderationen wurde zum Instrument des politischen Alltags. Die verschiedenen überlieferten Organisationsformen und Rechtsbestände wurden somit gewissermaßen als Institutionen traditioneller Freiheit neu konzeptualisiert. Davon ausgehend und in Konkurrenz zu den Reformvorstellungen des Hofes entwickelten sich neue Reformentwürfe, deren ,oligarchische‘ Varianten auf eine Stärkung der Entscheidungsbefugnisse der magnatischen Inhaber senatorischer Würden zielten, während die ,republikanischen‘ Vorschläge darauf ausgerichtet waren, die exekutiven Befugnisse der vom mittleren Adel dominierten Land- und Reichstage zu stärken.24

2 Übersetzung von „polnischer Freiheit“ in den Diskurs der französischen Aufklärung Bereits die Herrschaft des zweiten polnischen Königs aus der sächsischen Dynastie der Wettiner war eng an die Unterstützung durch Russland gebunden. Nach dem Tod Augusts III. versuchte die russische Politik zu direkterer Kontrolle über Polen-Litauen

23 Vgl. Michael G. Müller: Polen zwischen Preußen und Rußland. Souveränitätskrise und Reformpolitik 1736‒1752, Berlin 1983; Jacek Staszewski: August III. Kurfürst von Sachsen und König von Polen. Eine Biographie, Berlin 1996. 24 J. Staszewski: „Pomysły reformatorskie“; Michael G. Müller: „Republicanism versus Monarchy? Government by Estates in Poland-Lithuania and the Holy Roman Empire, Sixteenth to Eighteenth Centuries“, in Manfred Hildermeier (ed.): Historical Concepts between Eastern and Western Europe, New York 2007, 36–47; Hans-Jürgen Bömelburg: „,Polnische Freiheit‘ ‒ Zur Konstruktion und Reich­ weite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs“, in Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Chris­ topher Snigula (Hgg.): Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400‒1850), Frankfurt/Main 2006, 191–222.

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überzugehen und sorgte mit militärischem Druck 1764 für die Wahl Stanisław Antoni Poniatowskis zum neuen und zunächst von Russland vollständig abhängigen König Stanisław II. August. Dieser griff das Konzept der Reformmonarchie erneut auf – nicht zuletzt in der Hoffnung, sich so zumindest ein wenig von russischer Kontrolle emanzipieren zu können. Unter Verweis auf Aufklärungsideen, deren Kenntnis und Förderung er in der Öffentlichkeit unter anderem durch Korrespondenz mit Marie Thérèse Geoffrin zu unterstreichen suchte,25 nutzte er die russische Militärpräsenz zunächst zur Durchsetzung von Reformen der zentralen Administrationsbehörden. Es folgte die Einführung des Mehrheitswahlrechtes bei Wahlen in den regionalen Adelsversammlungen, was der Krone – flankiert durch die stete Drohung von Gewaltmaßnahmen durch königliche Parteigänger sowie durch russische Truppen – einen stärkeren Einfluss auf die Regionalverwaltung sicherte.26 Verständlicherweise stieß die königliche Reformpolitik auf den Widerstand derjenigen Teile der Adelsgesellschaft, die entweder der sächsischen Dynastie verpflichtet waren oder Ämter innehatten, die durch die Reformen an Bedeutung verloren. Versuche, den König durch Denunziation seiner Politik am Zarenhof zu stürzen oder zumindest zu schwächen, führten 1768 zwar zur Einschränkung von dessen Handlungsspielraum, änderten aber nichts an seiner starken Stellung gegenüber der Opposition.27 Stattdessen baute die russische Politik ihre eigenen Einflussmöglichkeiten an der Basis des polnischen politischen Systems durch Durchsetzung gleicher politischer Rechte für nicht-katholische Adlige aus – eine Maßnahme, die zugleich in der Öffentlichkeit die Aufgeklärtheit russischer Politik unterstreichen sollte.28 Angesichts dieser Entwicklung begann die Politik der Opposition in PolenLitauen sich von der Kooperation mit Russland abzuwenden. In der kleinen süd­ ukrainischen Stadt Bar wurde 1768 eine Konföderation des Adels gebildet, die sich im Namen der Verteidigung von Glauben und Freiheit auch militärisch organisierte. Die Erhebung wurde zwar rasch von russischen und königlich polnischen Truppen niedergeschlagen, aber es folgten lokale Aufstände im gesamten Territorium Polen-

25 Vgl. L. Wolff: Inventing Eastern Europe, 242–260. Stanisław II. August orientierte sich insgesamt allerdings vor allem an den englischen Debatten. Siehe dazu Richard Butterwick: Poland’s Last King and English Culture. Stanisław August Poniatowski, 1732‒1798, Oxford 1998. 26 Vgl. Herbert H. Kaplan: The First Partition of Poland, New York 1962, 36–90; Emanuel Rostwo­ row­ski: Ostatni król rzeczypospolitej. Geneza i upadek konstytucji 3 maja, Warszawa 1966, 34–56; Jörg K. Hoensch: Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter, Köln 1973, 286–307; Wojciech Kriegseisen: „Die Reformpolitik Stanisław August Poniatowskis: Grundlage, Pro­ gramme, Trägerschichten, Resultate“, in Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden, Bd. II: Frühe Neuzeit, hg. v. Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2011, 495–511, hier 497–502. 27 Siehe Jerzy Łukowski: „Bar nieudany? Konfederacja radomska 1767–1768 — prekursor Baru“, in Anna Buchmann/Adam Danilczyk (red.): Konfederacja barska, jej konteksty i tradycje, Warszawa 2010, 95–101. 28 Zu diesem Aspekt vgl. Jerzy Michalski: Historia sejmu polskiego, Warszawa 1984, 361–365.



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Litauens. Angesichts des neu ausbrechenden Krieges zwischen Russland und dem Osmanischen Reich sah sich das russische Militär bis 1771 außerstande, die Lage in Polen-Litauen vollständig zu kontrollieren. Die französische Außenpolitik sicherte den Konföderierten Unterstützung zu, in der Erwartung, damit die russische Machtposition im östlichen Europa schwächen zu können.29 Die europäische Öffentlichkeit wurde allerdings von einer prorussischen Sicht auf die Ereignisse beeinflusst, für die vor allem Voltaire verantwortlich zeichnete. Der Aufstand wurde dabei als Ergebnis von barbarischen Sitten, Intoleranz und als Angriff auf die Zivilisation geschildert.30 Der Gesandte des Führungszirkels der Barer Konföderation am Pariser Hof, Graf Michał Wielhorski, bemühte sich in dieser Situation neben diplomatischen Konsultationen mit dem französischen Außenministerium auch um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Er veranlasste eine französische Ausgabe der Verlautbarungen des Führungszirkels der Konföderierten, die unter dem Titel Manifeste de République conféderée de Pologne zu Beginn des Jahres 1771 erschien. Im Zentrum stand die Darstellung von angeblichen Rechtsbrüchen des Königs Stanisław II. August, der beschuldigt wurde, gestützt auf die Macht seiner Verwandten und Russlands, nach absoluter Herrschaft zu streben und die Vorherrschaft der katholischen Kirche anzugreifen.31 Gleichzeitig zeichnete sich in der antirussischen Stoßrichtung der Argumentation eine Neubestimmung der Forderung nach Freiheit als Forderung nach Freiheit von Fremdherrschaft ab.32 In Abstimmung mit dem französischen Außenministerium beauftragte Wielhorski 1770 Gabriel Bonnot de Mably mit der Abfassung von Vorschlägen für ein politisches Programm der Konföderation. Mably entwarf auf Grundlage der von Wielhorski zur Verfügung gestellten Materialen eine Analyse des polnischen politischen Systems. Obwohl er sich bemühte, auf die Ansichten der Empfänger Rücksicht zu nehmen, und trotz seiner grundsätzlichen Bewunderung für die von Wielhorski hervorgehobene polnische Tradition politischer Freiheit lief Mablys Argumentation auf die Forderung nach einer weitgehenden Umgestaltung der Verhältnisse hinaus. Mablys Vorschläge

29 Vgl. dazu Władysław Konopczyński: Konfederacja barska, 2. Aufl., Warszawa 1991; H. H. Kaplan: The First Partition, 91–118; Michael G. Müller: „Die erste Teilung Polens und ihre Folgen“, in Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden, Bd. II: Frühe Neuzeit, hg. v. Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2011, 513–527, hier 519–525. 30 Siehe dazu u.  a. die Ausführungen von C. H. Wilberger: Russia, 160–163; L. Wolff: Inventing Eastern Europe, 261–266; D. Beauvois: „Francuski świat filozoficzny“, 268–271; David Griffith: „To Live Forever: Catherine II, Voltaire and the Pursuit of Immortality“, in Roger P. Bartlett (ed.): Russia and the World of the Eighteenth Century, Columbus/OH 1988, 446–468. 31 Vgl. Jerzy Michalski: Sarmacki republikanizm w oczach francuza. Mably i konfederaci barscy, Wrocław 1995, 18–20. 32 Vgl. Krzysztof Koehler: „Wolnościowa retoryka w piśmiennictwie konfederacji barskiej“, in Anna Buchmann/Adam Danilczyk (red.): Konfederacja barska, jej konteksty i tradycje, Warszawa 2010, 221–236.

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zielten auf Errichtung einer konstitutionellen Erbmonarchie mit strikter Gewaltenteilung, und er deutete auch die Notwendigkeit einer schrittweisen Emanzipation der nicht-adligen Bevölkerungsgruppen an.33 Wielhorski hatte in den Mably zur Verfügung gestellten Materialien hingegen streng legalistisch argumentiert, um die Rechtsbrüche des aktuellen Königs hervorzuheben und die Herrschaftszeit seines Vorgängers zu verklären. Das bisherige politische System wurde dabei einseitig als institutionelle Sicherung der Freiheit gegen Übergriffe der monarchischen Gewalt dargestellt. Allerdings deutete Wielhorski zumindest partiellen Reformbedarf an, indem er ‚Missbräuche‘ einräumte, die durch die ‚ursprüngliche‘ Rechtsordnung nicht gedeckt seien. So hielt er es für notwendig, die Blockademöglichkeiten der Beschlussfassung von Landtagsversammlungen einzuschränken und besitzlose sowie in Privatdienst stehende Adlige von der politischen Partizipation auszuschließen. Ältere ,republikanische‘ Reformideen aufgreifend plädierte Wielhorski in seinen Materialien und Kommentaren für eine Stärkung der Befugnisse des sejm, dem die Präsentation von Kandidaten für den Senat und eine direkte Vertretung in diesem durch Abgeordnete zustehen müsse. Dem König solle hingegen das Vergaberecht der mit den Ämtern verbundenen Krongüter entzogen werden. Diese könnten stattdessen verkauft werden, um eine Kapitalgrundlage zur Finanzierung der Armee zu bilden. Den von Mably empfohlenen Übergang zu einer Erbmonarchie, der auch von Teilen des Führungszirkels der Konföderation in Hinblick auf einen neuen König aus Sachsen erwogen wurde, lehnte Wielhorski als zu großen Eingriff in die Freiheitsrechte des Adels ebenso ab wie den von Mably entworfenen Ausbau der Exekutivorgane. Dem Diskurs der Aufklärung entsprechend äußerte sich auch Wielhorski kritisch zur Leibeigenschaft der bäuerlichen Bevölkerung; abgesehen von kleineren Verbesserungen des bäuerlichen Rechtsstatus hielt er allerdings Änderungen in der Praxis für undurchführbar. In Hinblick auf die inneren Konflikte der polnischen Adelsgesellschaft machte er dem polnischen Moraldiskurs folgend vor allem die Einfuhr von Luxusgütern und die westliche Bildung für die Entfremdung der magnatischen Oberschicht von der Masse des Adels verantwortlich.34 Die von Mably empfohlene radikale Umgestaltung Polen-Litauens konnte den Erwartungen einer Konföderation, die ihren Aufstand mit der Bewahrung der Tradition zu legitimieren suchte, nicht entsprechen und auch Wielhorski gingen Mablys Vorschläge zu weit.35 Noch während der Diskussion mit Mably gelang es Wielhorski im Herbst 1770, Rousseau dazu zu bewegen, die Aufgabe eines Beraters zu über-

33 Näheres dazu bei J. Michalski: Sarmacki republikanizm, 124–150 u. 174–197. 34 Vgl. J. Michalski: Sarmacki republikanizm, 101–123; J. Michalski: Rousseau i sarmacki republikanizm, 18–26. Zur Luxus- und Bildungskritik in Polen-Litauen siehe auch J. Jedlicki: Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują, 147–155. 35 Siehe J. Michalski: Sarmacki republikanizm, 246–249.



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nehmen, wofür er ihm neben den für Mably angefertigten Materialien auch dessen Entwurf sowie seine eigenen Kommentare zur Verfügung stellte.36 Eine wesentliche Rolle für die Entscheidung Rousseaus, den Auftrag anzunehmen, spielte wahrscheinlich die Möglichkeit, auf diese Weise als politischer Kontrahent Voltaires agieren zu können – nicht von ungefähr lassen sich seine Ausführungen auch als Gegenentwurf zu dessen Konzept zivilisatorischen Fortschritts im Rahmen einer Reformmonarchie verstehen.37 Rousseau hatte 1762 in seinem Contrat social konstatiert, dass keine der unterschiedlichen Organisationsformen politischer Verbände in Europa die Orientierung politischer Akteure an gemeinsamen Interessen fördere. Stattdessen dienten sie einzelnen Akteuren als Mittel zur Befriedigung ihrer Eigeninteressen, namentlich der Vergrößerung ihres privaten Besitzes und ihrer persönlichen Macht – eine Situation, die Rousseau zufolge langfristig unweigerlich zur Degeneration und zum Zerfall politischer Ordnung führen musste. Entsprechend seiner negativen Einschätzung der zeitgenössischen europäischen politischen Kultur kritisierte Rousseau dabei denjenigen Prozess, den er, wie die Mehrheit seiner Zeitgenossen, als maßgeblich für die politisch-kulturelle Entwicklung Russlands erachtete – die ‚Europäisierung‘ seiner Einwohner. Er merkte an, dass Russlands Einwohner besser zunächst zu Russen gemacht worden wären, da der eingeschlagene Weg unvermeidlich zu ihrer ‚Degeneration‘ führen müsse und eine Unterwerfung Russlands durch die Tataren wahrscheinlich mache.38 Auch das politische System Polen-Litauens erwähnte Rousseau im Contrat social und beschrieb es wie dasjenige Englands als gemischte Regierungsform. Zwar charakterisierte er die polnische Variante als die im Vergleich zur englischen schlechtere, aber keineswegs konstatierte er dabei einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Polen und dem westlichen Europa.39 Knapp zehn Jahre später, während der Niederschrift der Considérations sur le gouvernement de Pologne, griff Rousseau hingegen das Konzept osteuropäischer ,Andersartigkeit‘ auf und beschrieb das zeitgenössische politische System Polen-Litauens als Alternative zu den Regierungssystemen des westlichen Europas. Unter Verweis auf Wielhorskis Ausführungen, denen zufolge alle Adligen, egal ob arm oder reich, mit Enthusiasmus zu den Waffen gegriffen hätten, um ihre Freiheit und die Unabhängigkeit Polens zu verteidigen, meinte Rousseau festhalten zu können:

36 Vgl. die Hinweise bei J. Michalski: Rousseau i sarmacki republikanizm, 6–9. 37 Siehe dazu L. Wolff: Inventing Eastern Europe, 235–242. 38  Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“, in ders.: Kulturkritsche und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 379–505, hier 418–419 (OC III, 386). 39  Vgl. J.-J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“, 447 (OC III, 413).

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Ich sehe alle Staaten Europas auf ihren Verderb zusteuern. […] Polen indes, […] sprüht […] noch ganz von jugendlichem Feuer; und es erkühnt sich, nach einer Regierung und nach Gesetzen zu verlangen, als ob es gerade erst geboren wäre.40 Je vois tous les Etats de l’Europe courir à leur ruine. […] et la Pologne […] montre encore tout le feu de la jeunesse; et elle ose demander un gouvernement et des loix, comme si elle ne faisoit que de naitre (OC III, 954).

Rousseau interpretierte die Vorlagen Wielhorskis im Kontext seiner Überlegungen aus dem Contrat social und glaubte erkennen zu können, dass der polnische Adel bereit war, den dort seinerzeit von ihm mit Blick auf Russland kritisierten Prozess der Europäisierung zurückzuweisen. Polen wurde von ihm somit zugleich exotisiert und infantilisiert. Dies führte dazu, dass in den Considérations – anders als im Contrat social – nicht die Grundlagen einer dauerhaft stabilen Gesellschaft im Vordergrund standen, sondern die Entwicklung zu einer sich selbst dauerhafte Gesetze gebenden Gesellschaft. Die patriotische Erziehung rückte in den Mittelpunkt – mit Rousseau als außenstehendem Lehrmeister: Womit also lassen sich die Herzen rühren, und wie läßt sich Liebe zum Vaterland und zu seinen Gesetzen erwecken? Soll ich es auszusprechen wagen? Durch kindliche Spiele, durch Einrichtungen, die in den Augen oberflächlicher Menschen müßig erscheinen mögen, die aber liebe Gewohnheiten und unbezwingliche Bindungen ausbilden.41 Par où donc émouvoir les cœurs, et faire aimer la patrie et ses loix? L’oserai-je dire? par des jeux d’enfans; par des institutions oiseuses aux yeux des hommes superficiels, mais qui forment des habitudes cheries et des attachemens invincibles (OC III, 955).

Nicht nur die Erziehung der adligen Jugend sollte sich auf Wettkämpfe in der Beherrschung nationaler Tugenden konzentrieren,42 auch die gesamte Organisation von Administration, politischer Partizipation und Militärdienst, die Rousseau vorschlug, zielte auf permanente Erziehung durch Wettstreit um Auszeichnung in den Nationaltugenden. Alle Ämter – bis zum höchsten, dem des Königs – sollten allen Adligen nur durch Verdienste auf einer jeweils niedrigeren, zunächst regionalen Stufe zugänglich sein, wobei die nur zu einer losen Föderation zusammengeschlossenen, kleinen politischen Gemeinschaften stets neu über die Verdienste der Einzelnen zu befinden hatten.43 Auch die – für eine vage Zukunft geplante – Aufnahme von Nicht-Adligen in die adlige nationale Gemeinschaft sollte durch Wettstreit im Dienste der Nation geregelt werden, denn – so Rousseau – man müsse Leibeigene zunächst „der Freiheit

40  J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 434. 41 J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 436. 42 Vgl. J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 447–451 (OC III, 966–970). 43 Vgl. J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 506–524 (OC III, 1020–1036).



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würdig und fähig machen, diese zu ertragen“ („de rendre dignes de la liberté et capables de la supporter“).44 Das von Wielhorski gezeichnete Bild, das die politische Organisationsform PolenLitauens als Institutionalisierung traditioneller Freiheit beschrieb, bildete freilich nur den Ausgangspunkt für Rousseaus Considérations. Er veränderte dieses Bild in das einer der ursprünglichen ‚Wildheit‘ noch nahestehenden Gesellschaft, die gerade erst Ansätze einer institutionellen Ordnung ausgebildet habe und eben deshalb in der Lage sei, diese in die richtige Richtung weiter zu entwickeln. Aus Wielhorskis Institutionen ‚traditioneller Freiheit‘ wurden in Rousseaus Considérations so Institutionen ‚zukünftiger Freiheit‘.

3 Rückübersetzungen: Rousseaus Freiheitsverständnis und die polnische Politik Rousseaus Enthusiasmus für die Anliegen der Konföderation, die Betonung der Tradition und die Zurückweisung politischer Vorbilder im westlichen Europa entsprachen weitgehend den Vorstellungen seiner Auftraggeber. Mit weniger Verständnis konnten die Details und der utopische Grundzug der Programmschrift rechnen.45 Letztlich stand es den Konföderierten fern, in ihrem König nur einen durch Verdienste aus dem einfachen Adel aufgestiegenen Beamten sehen zu wollen. Gerade der steile Aufstieg der Familie des aktuellen Königs wurde als Zeichen für dessen Abhängigkeit von anderen Mächten kritisiert. Vor allem aber dachte der Führungszirkel der Konföderierten – trotz der rhetorischen Beschwörungen von ‚Gleichheit‘ und ‚Brüderlichkeit‘ – nie ernsthaft daran, die politische Nation auf dem Prinzip der Gleichheit aller Adligen aufzubauen. Gleichheit der Adligen bedeutete in ihren Augen vor allem Gleichheit der reichen Adligen, wobei Reichtum in diesem Falle durchaus den Besitz von einigen Städten und Dutzenden von Dörfern bedeuten konnte. Nur die Macht der allerreichsten Familien, die über Dutzende von Städten und Hunderte von Dörfern verfügten, sollte begrenzt werden. Dem besitzlosen und in Privatdiensten stehenden Adel – das heißt: der überwiegenden Mehrheit aller Adligen, die in der zeitgenössischen politischen Praxis Polen-Litauens ohne eigene Einflussmöglichkeiten und nur als Klientelverbände unterschiedlicher Magnaten von Bedeutung waren – sollten aus Sicht der ,republikanischen‘ Reformprogramme gerade deshalb auch formal möglichst alle politischen Rechte entzogen werden.46

44 J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 456 (OC III, 974). 45 Siehe J. Michalski: Rousseau i sarmacki republikanizm, 107–109. 46 Vgl. D. Beauvois: „Francuski świat filozoficzny“, 274, 276–277.

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Allerdings war die Meinung von Rousseaus direkten Auftraggebern sowieso schon bald nach Fertigstellung der Considérations ohne politischen Belang, da die Barer Konföderation sich auflöste und die polnische politische Öffentlichkeit durch die Okkupation großer Teile Polen-Litauens durch die benachbarten Mächte und die anschließende Teilung von 1772 geschockt wurde. Rousseaus Considérations dürften einer breiteren polnischen Öffentlichkeit daher zunächst unbekannt geblieben sein, bis sie nach dem Tode des Autors 1782 publiziert und 1789 ins Polnische übersetzt wurden. Die Entscheidung des sejms von 1773, eine „Kommission für nationale Erziehung“ zu bilden und dieser die Reorganisation des polnischen Schulwesens zu übertragen, kann folglich kaum auf Rousseaus Considérations zurückgeführt werden,47 während ein Einfluss von Rousseaus in Polen viel diskutierten früheren Schriften zur Erziehung durchaus naheliegt. Die neue Organisation stand zwar unter den Vorzeichen einer Erziehung im Sinne zivilisatorischen Fortschritts und der Übernahme westlicher Vorbilder. Durch Übersetzungen westlicher Literatur ins Polnische, Einführung des Polnischen als alleinige Unterrichtssprache und die Entwicklung eines spezifischen polnischen Unterrichtssystems trug die Kommission aber ohne Zweifel entscheidend zur Ausbildung eines neuen Verständnisses der Zusammengehörigkeit als nationale Gemeinschaft bei.48 Bereits daran wird deutlich, dass es zwischen dem Konzept einer Institutionalisierung zivilisatorischen Fortschritts und Rousseaus Konzept der Institutionalisierung von Freiheit Berührungspunkte gab. Einen ersten Niederschlag im polnischen politischen Denken fand die Arbeit Rousseaus in der 1775 von Wielhorski publizierten Schrift O przywróceniu dawnego rządu,49 die – wenn auch nur partiell – Gedanken aus der fünf Jahre zuvor erfolgten Zusammenarbeit mit Mably und Rousseau aufnahm und als Bindeglied zwischen der älteren Argumentation der polnischen Befürworter eines ,republikanischen‘ Reformprogramms und Debatten der französischen Aufklärung verstanden werden kann.50 Zwischen 1788 und 1792, also fast zwanzig Jahre nach ihrer Niederschrift, spielten Rousseaus Considérations während der Debatten des Vierjährigen Reichstages, deren Höhepunkt die Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai 1791 und ihrer Begleitgesetze bildete,51 schließlich doch noch eine direkte Rolle in den polnischen Verfas-

47 Vgl. J. Michalski: Rousseau i sarmacki republikanizm, 109. 48 Zur Arbeit der Kommission vgl. Ambroise Jobert: La Commission d’éducation nationale en Pologne (1773‒1794). Son œuvre d’instruction civique, Paris 1941; E. Rostworowski: Ostatni król, 107–113. 49 Michał Wielhorski: O przywróceniu dawnego rządu. Według pierwiastkowych Rzeczypospolitey ustaw, [o. O.] 1775 (frz.: Essai sur le rétablissement de l’ancienne forme du gouvernement de Pologne. Suivant la constitution primitive de la Republique, Londres 1775). 50 Siehe Janusz Maciejewski: Dylematy wolności. Zmierzch sarmatyzmu i początki Oświecenia w Polsce, Warszawa 1994, 52–68. 51 Zu den Debatten vgl. Jerzy Jedlicki: Klejnot i bariery społeczne. Przeobrażenia szlachectwa polskie­ go w schyłkowym okresie feudalizmu, Warszawa 1968, 99–205; Yvonne Kleinmann: „Der Vierjährige



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sungsdiskussionen. Die Detailvorschläge Rousseaus dienten dabei allerdings eher den Gegnern der Verfassungspläne als Argument – vor allem die Ablehnung einer Erbmonarchie ließ sich unter Verweis auf Rousseau begründen.52 Gleichwohl finden sich auch in den Gesetzen von 1791 zahlreiche Formulierungen, die mit der grundsätzlichen Argumentation in Rousseaus Considérations in Einklang stehen. Diese hatte die Möglichkeit aufgezeigt, die Vorstellung von der traditionellen polnischen Freiheit in den Diskurs der Aufklärung zu übersetzen und mit dem Konzept zivilisatorischen Fortschritts zu kombinieren. Diese Kombination schlug sich in verschiedenen, scheinbar gegensätzlichen Tendenzen folgenden Bestimmungen der Verfassungsgesetze nieder: Besonders die formale Staatsbürgerschaft aller Adligen, die Vorbedingungen zur Übernahme von Wahlämtern, die Aufnahme in den Adel aufgrund von Verdiensten um die Nation sowie die Reorganisation der regionalen Selbstverwaltung erinnern an die Vorstellungen Rousseaus. Die gleichzeitige Stärkung der Zentralgewalt, die Einführung einer Erbmonarchie und die Betonung des Besitzes als Voraussetzung für politische Partizipation entsprachen hingegen eher den Überlegungen Mablys. Die politische Nation wurde im „Regierungsgesetz“, der „Verfassung vom 3. Mai“ als Nation aller Adligen beschrieben, während in den Vorschriften zu den Landtagen die nichtbesitzenden Adligen von den politischen Rechten ausgeschlossen wurden.53 Persönlich freien Nicht-Adligen wurde im Gesetz über die königlichen Städte jede Form des Grunderwerbs und der Zugang zu den meisten militärischen und zivilen Ämtern ermöglicht. Die Aufnahme in den Adel erfolgte automatisch bei Erwerb von großem Grundbesitz, aber auch bei besonderen Verdiensten sollten regelmäßige Erhebungen in den Adelsstand erfolgen. Zudem erhielten die königlichen Städte das Recht, in die Regierungskommissionen und den Reichstag Vertreter zu entsenden, die allerdings nur begrenzte Kompetenzen erhielten.54 Die bäuerliche Landbevölke-

Sejm – Von der Adelsrepublik zur Staatsbürgergesellschaft?“ und dies.: „Die Verfassung vom 3. Mai 1791 – Inhalt, Kontroversen, nationale und internationale Bedeutung“, beide in Polen in der europä­ ischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden, Bd. II: Frühe Neuzeit, hg. v. Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2011, 529–566 bzw. 567–605. 52 Siehe dazu Zofia Zielińska: „Publicystika pro- i antysukcesyjna w początkach Sejmu Wielkiego“, in Jerzy Kowecki (red.): Sejm Czteroletni i jego tradycje, Warszawa 1991, 109–125, hier 120–123. 53 Vgl. „Ustawa rządowa“, Art. II und „Seymiki“, Art. IV und V, beide in Volumina Legum. Leges, statua, constitutiones et privilegia Regni Poloniae, Magni Ducatus Lithuaniae, Bd. IX, Kraków 1889, 220–225, hier 220–221 bzw. 233–240, hier 234 [dt.: „Polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, Regierungsgesetz“ und „Die Landtage, Gesetz verabschiedet am 24. März 1791“, beide in Rudolf Jaworski (Hg.): Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt/Main u. a. 1993, 129– 143, hier 130 bzw. 151–169, hier 153–154]. Zu den Diskussionen auf dem Reichstag vgl. Adam Lityński: „Problem prawa nieposesjonatów do sejmikowania w dyskusji na forum Sejmu Czteroletnego“, in Henryk Kocój (red.): Cztery lata nadziei. 200 rocznica Sejmu Wielkiego, Katowice 1988, 55–79. 54 Vgl. „Miasta nasze królewskie wolne w państwach Rzeczypospolitej“, Art II, in Volumina Legum. Leges, statua, constitutiones et privilegia Regni Poloniae, Magni Ducatus Lithuaniae, Bd. IX, Kraków

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rung wurde im „Regierungsgesetz“ hingegen zwar als „ergiebigste Quelle der Reichtümer“ und „tüchtigste Kraft des Landes“ beschrieben, die bisherigen Verhältnisse sollten aber lediglich rechtskräftig geordnet und dauerhaft festgeschrieben werden.55 Insgesamt wurden durch die Gesetzgebung des Vierjährigen Reichstages sowohl die zentralen Exekutivbehörden ausgebaut als auch die regionalen Selbstverwaltungen gestärkt und die freien Städte in diese einbezogen.56 Die höheren Positionen der Selbstverwaltung blieben Wahlämter, jedoch wurde die Wählbarkeit auf solche Kandidaten eingeschränkt, die bereits Erfahrungen in einfachen Ämtern gesammelt hatten.57 Nach der von den benachbarten Mächten erzwungenen Rücknahme der Verfassung 1793 und dem Ende der politischen Existenz Polen-Litauens 1795 ermöglichte die Kombination des Konzepts traditioneller Freiheit mit dem Konzept zivilisatorischen Fortschritts die Ausbildung eines neuen Konzepts polnischer Nation, das seinerseits auf andere nationale Bewegungen Europas ausstrahlte – Rousseaus Considérations bildeten dabei einen wichtigen Referenzpunkt.58

4 Zusammenfassung Am Beispiel von Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne lässt sich zeigen, dass sich europäische Ideengeschichte mit Gewinn als eine Geschichte gegenseitiger, stets mit neuen Setzungen verbundener Übersetzungen entwerfen lässt. Im Sinne eines Widerspruchs gegen die Betonung des West-Osttransfers von Ideen

1889, 215–219, hier 216–217 [dt.: „Unsere königlichen freien Städte in den Staaten der Republik“ (16. April 1791), in Rudolf Jaworski (Hg.): Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt/Main u. a. 1993, 144–150, hier 146–148]. 55 Vgl. „Ustawa rządowa“, 221 [„Polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, Regierungsgesetz“, 131–132]. 56 Vgl. „Kommissye województwe i powjatowe w Wielkim Księstwie Litewskim“ [Gesetz über die Ein­richtung der Wojewodschafts- und Kreiskommissionen im Großfürstentum Litauen], actum etc. 19. November 1789 und „Kommissye porządkowe cywilno-wojskowe województw, ziem i powjatów w Koronie“ [Gesetz über die Einrichtung der Zivil-militärischen Ordnungskommissionen der Wojewod­ schaften, Länder und Kreise im Gebiete der Krone Polens], actum etc. 15. Dezember 1789, beide in Volumina Legum. Leges, statua, constitutiones et privilegia Regni Poloniae, Magni Ducatus Lithuaniae, Bd. IX, Kraków 1889, 136–142 bzw. 146–156; „Miasta nasze“, 217 [„Unsere königlichen freien Städte“, 148]. 57 Vgl. „Seymiki“, Art. VII, 234 [„Die Landtage“, 154]. 58 P. Alexander Saydak: „Rousseau’s Imprint on Nineteenth Century Poland: The Impact of JeanJacques Rousseau’s Philosophy on Józef Szaniawski, Joachim Lelewel and Cyprian Norwid“, in The Polish Review 41 (1996), 259–272. Zur europäischen Vernetzung der polnischen Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Hans Henning Hahn: „Die Organisationen der polnischen ‚Großen Emigration‘ 1831–1847“, in Theodor Schieder/Otto Dann (Hgg.): Nationale Bewegung und soziale Organisation I. Vergleichende Studien zur nationalen Vereinsbewegung des 19. Jahrhunderts in Europa, München 1978, 131–279, hier 243–245.



(Über-)Setzungen von Institutionen politischer Freiheit 

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wurde hier von Entwicklungen im Osten ausgegangen. Sowohl das von Rousseau am Beispiel Polens entworfene Projekt zur Erziehung einer Gesellschaft zur Freiheit als auch das von Voltaire am Beispiel Russlands diskutierte Projekt einer dem zivilisatorischen Fortschritt verpflichteten monarchischen Herrschaft griffen auf politische Institutionen und Ordnungskonzepte zurück, die sie in den von ihnen untersuchten Gesellschaften vorfanden. Die in der westeuropäischen Aufklärung geführte Debatte um die zukünftige Richtung der politischen Entwicklung erhielt damit ebenso Anregungen aus dem östlichen Europa, wie die dortigen Debatten von den Diskussionen im westlichen Europa beeinflusst wurden. Gerade an diesen Beispielen lässt sich zeigen, wie nutzbringend es sein kann, Überlegungen zur praktischen Umsetzbarkeit von Vorstellungen institutioneller Ordnung vor dem Hintergrund eines steten ‚Übersetzens‘ und ‚Neusetzens‘ zu interpretieren. Während Konzepte von Andersartigkeit und zu überwindender Rückständigkeit im östlichen Europa gezielt zur Legitimation politischer Reformen eingesetzt wurden, gab ihre Diskussion im westlichen Europa immer wieder Anlass, auch über die Veränderbarkeit der eigenen Gesellschaftsordnung nachzudenken.59 Die Debatten des 18. Jahrhunderts um die Verortung der Gesellschaften des östlichen Europas im Rahmen einer Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte erscheinen in dieser Perspektive als vornehmlich politisch motivierte Auseinandersetzungen, die nicht zuletzt mit dem Ziel geführt wurden, den Macht- und Herrschaftsansprüchen konkurrierender Gruppen die notwendige Legitimation zu verschaffen. Die Dialogstruktur dieser Konstellation wurde erst allmählich von dem von Larry Wolff diskutierten, bevormundenden, quasi kolonialen Verhältnis des westlichen zum östlichen Europa überlagert,60 auch wenn ihre Form dessen Entwicklung sicher begünstigte.

59 Zur Bedeutung der Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in Polen-Litauen für die ideengeschichtliche Entwicklung im vorrevolutionären Frankreich von 1789 vgl. M. Forycki: Anarchia polska, 240–241. 60 Zur Kritik an der Annahme, dass sich die Vorstellung einer grundsätzlichen West-Ost-Dichotomie bereits im 18. Jahrhundert durchgesetzt habe, vgl. Bernhard Struck: Nicht West ‒ nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850, Göttingen 2006.

III Interdisziplinäre Perspektiven

Judith Frömmer

Versuchsanordnungen einer „petite Société“ Zur Institution der Ehe bei Rousseau

1 Institutio und Institution Von der römischen Antike bis in die Renaissance und Reformationszeit hinein werden das lateinische institutio und der Plural institutiones als Gattungsbegriffe für einführende Lehrbücher verschiedener Disziplinen verwendet. Als didaktische Texte verstehen sich diese nicht nur als Organe der Unterweisung, sondern sie etablieren über die Einweisung des individuellen Lesers gleichzeitig auch ihren Gegenstand. Sie vollziehen damit institutio im mehrfachen Sinne des Wortes. So beschränkt sich Quintilians Institutio oratoria nicht auf die Beschreibung rhetorischer Verfahren und Figuren, sondern setzt diese in ebenso buchstäblicher wie geschichtsprägender Weise in Kraft.1 Die Institutiones des Gaius führen nicht nur den juristischen Anfänger in das römische Recht und dessen künftige Kodifikation, sondern gleichzeitig das Institutionensystem in die abendländische Jurisprudenz ein.2 Durch eine Pädagogik des Lesens (seien es die Texte der heidnischen Antike, sei es die Heilige Schrift) zielen Lactanz’ 7 libri institutionum divinarum oder Calvins Institutio christianae religionis letztlich darauf ab, den christlichen Glauben qua Lektüre zu sanktionieren. Über die Unterweisung des individuellen Herrschers versucht Erasmus, mit seiner Institutio Principis Christiani das humanistische Ideal des Herrschers und seiner Erziehung im politischen Imaginären der Neuzeit zu verankern. In all diesen Fällen handelt es sich also um Formen der institutio, die über die Kunst der Unterweisung Normierungs- und Universalisierungsprozesse zeitigen, wie sie auch Institutionen im aktuellen Sinne des Wortes kennzeichnen, über das seit dem 19. Jahrhundert die Sozialwissenschaften die Deutungshoheit erlangt haben.3 Bisweilen ist dort die didaktische und literarische Dimension des Institutionenbegriffs in Vergessenheit geraten, die indes in der Tradition des deutschen Bildungswesens – man denke hier an Begriffe wie den der

1 Vgl. hierzu Anselm Haverkamp: „,Riverrun‘. Quintilian zwischen Livius und Vico“, in Judith Kasper/Cornelia Wild (Hgg.): Rom rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale von Lucan bis Lacan, München 2015, 103–106. 2 Vgl. hierzu Gaius: Institutionen, hg., übers. u. komm. v. Ulrich Manthe, Darmstadt 2004; Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts, München 2000. 3 Für eine historische Übersicht über die verschiedenen Verwendungen und Interpretationen des Institutionenbegriffs vgl. die Dokumentation bei Helmut Dubiel Art. „Institution“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. VI, Basel 1984, Sp. 418–424.

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 Judith Frömmer

‚Bildungsanstalt‘ oder den der ‚Bildungsinstitutionen‘ – und insbesondere im deutschen Bildungsroman lebendig geblieben ist.4 Auch in der französischen Sprache bezeichnet der Begriff der institution nicht nur eine Einrichtung im Sinne einer chose établie, sondern bis ins 18. Jahrhundert hinein verschiedene Formen der (Aus-)Bildung.5 Entsprechend überschrieb Michel de Montaigne seinen Essay über die Kinder- beziehungsweise Knabenerziehung mit De l’institution des enfans, während Jean-Jacques Rousseau seinen Erziehungsroman Émile mit dem Untertitel De l’éducation6 versieht.7 Diese terminologische Differenz ist nicht allein dem Zufall geschuldet. Sie markiert den Übergang von einem aristokratischen Modell der ‚Zucht‘, die den Schüler auf seine öffentlichen Aufgaben vorbereiten und gleichzeitig den Adel als solchen legitimieren sollte,8 zu einem bürgerlichen Bildungsideal. Diese ‚moderne‘ Vorstellung von Erziehung erfasst mit der Vorstellung, die angeborenen Anlagen des Zöglings (gemäß dem lateinischen Etymon educere) aus dem ‚Naturzustand‘ der Kindheit heraus in einen sozialen Zusammenhang zu überführen, den ‚ganzen Menschen‘ und damit sowohl den öffentlichen als auch den privaten Raum.9 Entsprechend endet die Aufgabe des Erziehers im Émile zunächst mit der Heirat seines gleichnamigen Zöglings, der erst Ehemann und Familienvater sein

4 Vgl. hierzu u. a. Wilhelm Voßkamp: „Ein anderes Selbst“. Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 2004. 5 Vgl. jeweils die Einträge „instituer“, in Walther von Wartburg: Französisches Etymologisches Wörter­ buch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, Bd. IV, Basel 1952, 724–725 sowie in Jean Dubois/Henri Mitterand/Albert Dauzat: Dictionnaire étymologique, Paris 2001, 395. 6 Rousseaus Werke werden im Folgenden mit römischen Band- und arabischen Seitenangaben zitiert nach Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 7 Auch bei Rousseau findet sich im Übrigen noch die didaktische Tradition der institutiones. So arbeitete er in den Jahren 1745 bis 1747 an einem Werk zur Chemie, das den Arbeitstitel Institutions chimiques trug. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Institutions chimiques, texte revu par Bruno Bernardi et Bernadette Bensaude Vincent, Paris 1999 und den Eintrag „Institutions chimiques“, in Dictionnaire de Jean-Jacques Rousseau, publié sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric Eigeldinger, Paris 1996, 446. 8 Mit dem Humanismus und insbesondere der Entstehung und dem Aufstieg der noblesse de robe entwickelt dieses Modell der Ausbildung jedoch eine Dynamik, welche die traditionelle Ständeordnung außer Kraft zu setzen beginnt. Insofern könnte Montaignes Verwendung des Begriffs der institution durchaus als programmatische Aussage im Hinblick auf die Ausbildung des Geburtsadels verstanden werden, der seine öffentliche Bedeutung zunehmend legitimieren muss. 9 Es handelt sich daher bei Rousseaus Pädagogik nicht zwangsläufig um ein ‚aufgeklärteres‘ oder emanzipatorisches Konzept von Erziehung, das dem Kind durch eine stärkere Berücksichtigung sei­ ner ‚natürlichen‘ Anlagen mehr Freiräume ließe. Vielmehr liegt Rousseaus Vorstellung von Erziehung gerade aufgrund seiner anthropologischen Fundierung im Grunde ein ebenso totalisierender wie po­ tenziell totalitärer Anspruch zugrunde. Zu diesem Totalitarismus vgl. auch José Harari: „Man born of Man: Rousseau’s Paedagogical Imaginary“, in ders.: Scenarios of the Imaginary: Theorizing the French Enlightenment, Ithaca/NY u. a. 1987, 102–132.



Versuchsanordnungen einer „petite Société“ 

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muss, um zum Bürger werden zu können. Die Erziehung des Émile ist also nicht nur auf den Gesellschaftsvertrag, sondern vor allem auch auf die Institution der Ehe als dessen Bedingung angelegt. Wenn diese Ehe in Rousseaus Postskriptum zu seinem Erziehungsroman, das erst nach Rousseaus Tod unter dem Titel Émile et Sophie ou Les Solitaires in Gestalt von zwei Briefen veröffentlicht wurde, gleich bei der ersten Bewährungsprobe in Paris an der Untreue von Émiles Frau Sophie scheitert, dann zeugt das nicht nur von der (weiblichen) Bedrohung der (männlichen) Konstruktion des Gesellschaftsvertrages,10 aus dem sich Émile in den beiden Briefen an seinen einstigen Erzieher am Ende dezidiert verabschiedet. Vielmehr wird die Ehe zum Prüfstein eines pädagogischen Experiments,11 das Rousseau in seinen Schriften in den verschiedensten Versuchsanordnungen durchspielt und bezeichnender Weise immer wieder scheitern lässt.12 Auf dem Spiel steht hier nicht weniger als die Frage der ins­ titutio des Menschen (und insbesondere der Geschlechter) in die Sphäre des Sozialen und damit die Bedingungen der Möglichkeit dessen, was Rousseau als Contrat social bezeichnet. Der Weg Vom Menschen. Über Erziehung. Zum Bürger verläuft also in Rousseaus Schriften, wie sich bereits hier andeutet, nicht ohne Abwege und Abgründe.13 Gerade weil sich darin auf der Ebene des politischen énoncé kein kohärentes System rekonstruieren lässt, möchte ich im Folgenden das Augenmerk verstärkt auf die Ebene der énonciation richten und Rousseaus gesellschaftstheoretische und politische Schriften und insbesondere seine Romane nicht nur als Texte über Institutionen und Formen der Institutionalisierung lesen, sondern als institutiones im Sinne der antiken Gattungstradition und ihrer frühneuzeitlichen Adaptionen. Eine solche Lektüre von

10 Dies hat Barbara Vinken in ihren Rousseau-Lektüren herausgearbeitet: „Alle Menschen werden Brüder. Republik, Rhetorik, Differenz der Geschlechter“, in Lendemains 71/72 (1993), 112–124 [engl.: „Republic, Rhetoric, and Sexual Difference“, in Anselm Haverkamp (ed.): Deconstruction is/in Ameri­ ca. A New Sense of the Political, New York, London 1995, 181–199]; dies.: „L’espace exotique du sérail et la différence sexuelle chez Jean-Jacques Rousseau“, in Littérature et Exotisme XVIe–XVIIIe siècle, éd. par Dominique de Courcelles, Paris 1997, 61–78. 11 Zu den (Inszenierungs-)Formen des Experiments im Émile und seinen Fortsetzungen sowie insbe­ sondere zur Frage nach der Beziehbarkeit der literarischen Experimentalanordnungen Rousseaus auf politische Realitäten vgl. Jörg Dünne: „Der Mensch als Experiment und Spektakel. Erziehung im Émile und die Folgen“, in Stephan Leopold/Gerhard Poppenberg (Hgg.): Planet Rousseau. Zur heteronomen Genealogie der Moderne, München 2014, 159–172. 12 Besonders deutlich wird das anhand der Figur der ménage à trois, in der Rousseaus Schriften unterschiedliche Formen des sozialen Gelingens und der Geschlechterordnung innerhalb von wech­ selnden Dreieckskonstellationen erproben und scheitern lassen. Vgl. hierzu Judith Frömmer: „Liebe zu dritt: Rousseaus ménages à trois“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, München 2005. Zu triadischen Strukturen in der Nouvelle Héloïse vgl. ferner Bernhard Teuber: „Ursprung und Gewalt bei Rousseau“, in Simon Bunke/Katerina Mihaylova/Antonio Roselli (Hgg.): Rousseaus Welten, Würzburg 2014, 231–263. 13 Vgl. Otto Hansmann: Vom Menschen. Über Erziehung. Zum Bürger. Vorlesungen zu Rousseaus An­ thropologie, Pädagogik und Staatsphilosophie, Würzburg 2012.

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Rousseaus Schriften als Texten, die institutiones buchstäblich ins Werk setzen, aber auch immer wieder hintertreiben, könnte, zumindest was das fiktionale Werk angeht, einen romanistischen Beitrag zu dem leisten, was in der Germanistik derzeit unter dem Gattungsbegriff des ‚Institutionenromans‘ diskutiert und versuchsweise etabliert wird. Während unter diesem Stichwort jedoch in der neueren deutschen Literatur vor allem das mehr oder weniger problematische Verhältnis von Romanhelden zu den Institutionen als demjenigen verhandelt wird, was dem Leben seine Form gibt und es auf diese Weise (un-) erzählbar macht,14 tritt in der französischen Tradition häufig die Frage nach der imaginären Institutionalisierung durch Fiktionen und den Medien ihrer Verbreitung in den Vordergrund. Diese stehen dort bis in die Moderne hinein im Bann derjenigen theologischen Vorbehalte, unter die insbesondere die Jansenisten mit der Literatur und dem Theater jeglichen Versuch gestellt hatten,15 das Imaginäre in sozialverträgliche Formen einzupassen. Nicht zuletzt aufgrund der jansenistischen Imaginationskritik, in der gleichzeitig eine Ästhetik avant la lettre formuliert wird,16 findet die Aufwertung des Imaginären und des Vermögens der Imagination in Frankreich erst mit Verspätung statt. So unterscheidet beispielsweise Voltaire in seinem Encyclopédie-Artikel zwischen einer unkontrollierten „imagination passive“, die der Mensch mit Tieren teilt, und einer „imagination active“, an der auch „réflexion“ und „jugement“ beteiligt sind. Letztere zeichnet Voltaire zufolge insbesondere das künstlerische Genie aus.17 Dagegen dokumentieren und problematisieren Rous­seaus Schriften den Emanzipationsprozess einer Imagination,18 die nicht nur als künstlerisches Vermögen und ästhetische Kategorie, sondern darüber hinaus als Grundlage aller sozialen Kompetenzen fungiert, als solche aber auch unterminiert wird.

14 Als die beiden exemplarischen Modelle gelten hier in der Regel Goethes Wilhelm Meister, dessen Protagonist sich in Auseinandersetzung mit den Institutionen bildet, und Kafkas Prozess, der eben diesen Bildungsprozess durch Institutionen hinterfragt und in formale Aporien des Erzählens über­ führt. Vgl. hier exemplarisch Friedrich A. Kittler: „Über die Sozialisation Wilhelm Meisters“, in Ger­ hard Kaiser/Friedrich A. Kittler (Hgg.): Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gott­ fried Keller, Göttingen 1978, 13–124; Gerhard Neumann: „Der Wanderer und der Verschollene. Zum Problem der Identität in Goethes Wilhelm Meister und Kafkas Amerika-Roman“, in Joseph-Peter Stern (ed.): Paths and Labyrinths, London 1985, 43–65; Rüdiger Campe: „Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß“, in ders./Michael Niehaus (Hgg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schnei­ der, Heidelberg 2004, 197–208. 15 Vgl. Barbara Vinken: Der Ursprung der Ästhetik aus theologischem Vorbehalt. Theorien des Ästhe­ tischen von Port-Royal bis Rousseau und Sade, Dissertation Yale University, New Haven/CT u. a. 1992. 16 Vgl. dazu Barbara Vinken: „The Concept of Passion and the Dangers of the Theater. Une esthétique avant la lettre: Augustine and Port-Royal“, in Romanic Review 83 (1992), 43–59. 17 Vgl. Voltaire: Art. „Imagination, imaginer“, in Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751–1780, tome VIII, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, 560–563. 18 Martina Maierhofer: Zur Genealogie des Imaginären. Montaigne, Pascal, Rousseau, Tübingen 2003, 157–201.



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Diese Skepsis gegenüber dem Imaginären verbindet sich in der französischen Literatur und insbesondere in der französischen Klassik mit einer pessimistischen Anthropologie, die in der Tradition der Moralistik von Autoren wie La Rochefoucauld, Madame de Lafayette, La Fontaine oder Pascal ausgebildet wurde. Diese beschreiben den Menschen als ein durchweg heteronomes Wesen, das aufgrund seines amour propre unfähig zur kritischen Selbsteinsicht und daher in einem Verblendungszusammenhang befangen ist, der bestenfalls ästhetisch bewältigt werden kann: sei es durch einen sozialen art de plaire, der den amour propre im Rahmen einer umfassenden Anerkennungsdialektik in den Dienst gesellschaftlicher Interaktion stellt oder durch die literarische Form des moralistischen Textes.19 Diese „negative Anthropologie“20 droht das positive Menschenbild der Aufklärung mit ihrem Glauben an die Selbstmächtigkeit des Menschen und ihrem moralischen Anspruch ebenso zu untergraben wie Rousseaus (vermeintliches) Dogma vom bon sauvage. Rainer Warning charakterisiert das Schreiben der philosophes in der Aufklärung tout court über den „Konflikt zwischen dem moralischen Optimismus, den sie brauchten, und dem moralistischen Pessimismus, der sich mit den größten Namen ihrer nationalen Geschichte verband und den sie nicht einfach ignorieren konnten“.21 Nicht zuletzt da das ambivalente Vermögen der Imagination maßgeblich an diesem Verblendungszusammenhang beteiligt ist, hat die moralistische Anthropologie mit ihren ästhetischen Implikationen Konsequenzen für den Kanon literarischer Gattungen und die Formen literarischer institutio. Aufgrund der Allianz von Imaginationskritik und ‚negativer Anthropologie‘ wird man in französischen Literaturgeschichten meist vergeblich nach der Gattung des Bildungsromans suchen, da sich die Vorstellung von der Bildung des Individuums im Sinne der Ausbildung naturgegebener Anlagen dort nie in dem gleichen Maße durchgesetzt hat, wie das in Deutschland oder England der Fall war.22 Vor dem Hintergrund der moralistischen Annahme, dass der Mensch beständig durch die Verblendungsmechanismen des amour propre dezentriert wird und daher nicht von Natur aus auf die Gemeinschaft mit anderen angelegt scheint, ist die französische Literatur des Ancien Régime gerade als gesellschaftliche Institution mit der Frage konfrontiert, wie der Einzelne beziehungsweise das Selbst in die Sphäre des Sozialen instituiert

19 Vgl. hierzu exemplarisch Jean Starobinski: „La Rochefoucauld et les morales substitutives“, in Nouvelle Revue Franҫaise 163 (1966), 16–34 und Nouvelle Revue Franҫaise 164 (1966), 211–229. 20 Der Begriff der „negativen Anthropologie“ wurde von Karlheinz Stierle geprägt und als diskursi­ ves Fundament der französischen Klassik in ihren spezifisch ‚modernen‘ Implikationen beschrieben. Vgl. Karlheinz Stierle: „Die Modernität der französischen Klassik: Negative Anthropologie und funk­ tionaler Stil“, in Fritz Nies/Karlheinz Stierle (Hgg.): Französische Klassik: Theorie – Literatur – Male­ rei, München 1985, 81–128. 21 Vgl. Rainer Warning: „Moral und Moralistik in der französischen Aufklärung“, in Romanistisches Jahrbuch 49 (1998), 51–67, hier 54. 22 Vgl. hier ebenfalls Rainer Warning: „‚Éducation‘ und ‚Bildung‘. Zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich“, in Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800, Tübingen 1998, 121–140.

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werden kann. Doch ist der literarische Text als Fiktion immer schon Teil des Problems: Ihm eignet nicht nur die Aufgabe der Sozialisation, sondern auch die potenziell asoziale Kraft der (Selbst-)Verblendung. In dieser Perspektive kreist insbesondere die französische Literatur der Aufklärung um das Problem der Institution(en), in die sie sich und ihre Leser auf verhängnisvolle Weise verstrickt weiß. Sinnfällig wird dieser Zusammenhang in Rousseaus Romanen, die den Bestand der Institutionen an die Frage nach der Formbarkeit eines Imaginären knüpfen, aus dem sich auch politische Vertragstheorien speisen.23 Nicht zufällig entspinnt sich die Handlung dieser Romane aus pädagogischen Situationen, sprich aus Konstellationen der institutio. Das gilt für den Émile und weite Teile der Confessions ebenso wie vor allem für Julie ou La nouvelle Héloïse.24 Dieser Briefroman inszeniert seine Titelheldin als unbelehrbare Schülerin, die zunächst ihrem Hauslehrer verfällt, um durch ihr unstillbares Begehren und ihre unkontrollierbare Imaginationstätigkeit letztlich auch das pädagogische Experiment ihres Ehemanns M. de Wolmar zu hintertreiben, der sie von ebendieser jugendlichen Leidenschaft heilen will.25 Der im Titel evozierte Intertext der Historia calamitatum verweist mit der skandalumwitterten Liebesgeschichte zwischen Abaelard und Heloisa, die sich ebenfalls aus einer Lehrer-Schülerinnen-Konstellation entspinnt, auf die zentrale Rolle literarischer institutio. Und ähnlich wie im Fall Abaelards und Heloisas, denen die Unterweisung zunächst als ‚Deckmantel‘ ihrer Leidenschaft und Vorwand dafür dient, „die Hand vom Buch zum Busen wandern zu lassen“,26 scheitert die institutio Julies – und damit der bürgerlichen Geschlechterordnung, die über die Ehe befestigt werden soll – nicht zuletzt an den Fallstricken der Literatur und eines Lesens, das sich den didaktischen Maßgaben einer Vertragstheorie des Sozialen widersetzt.27 Entsprechend wird, wie die beiden Vorworte zur Nouvelle Héloïse, aber auch die zentrale Rolle von Beobachterfiguren

23 Grundlegend in diesem Zusammenhang ist das erste Kapitel von Victoria Kahn: Wayward Con­ tracts. The Crisis of Political Obligation in England (1640–1674), Princeton/NJ 2009. 24 Bereits Joan DeJean hat diese beiden Texte Rousseaus innerhalb der zeitgenössischen Debatte um die pädagogischen Möglichkeiten der Gattung Roman positioniert. Vgl. Joan DeJean: „Julie and Emile: ‚Studia la Matematica‘“, in dies.: Literary Fortifications. Rousseau, Laclos, Sade, Princeton/NJ u. a. 1992, 112–190. 25 Zu diesem Ergebnis kommen u.  a., in jeweils unterschiedlicher Perspektivierung R. Warning: „Moral und Moralistik“, 59–67; Stephan Leopold: „Gründungsfiguren des Bürgertums: Julie, ou La Nouvelle Héloïse (1761)“, in ders.: Liebe im Ancien Régime. Eros und polis von Corneille bis Sade, München 2014, 345–391; Barbara Vinken: „Von Fall zu Fall: Rousseaus Nouvelle Héloïse“, in Stephan Leopold/Gerhard Poppenberg (Hgg.): Planet Rousseau. Zur heteronomen Genealogie der Moderne, München 2014, 95–112. 26 Vgl. Abaelard: Der Briefwechsel mit Heloisa, übers. u. hg. v. Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart 1989, Brief I, Abs. 14. 27 Vgl. hierzu Judith Frömmer: „Vaterfiktion und weibliche Imagination: Rousseaus Nouvelle Héloï­ se“, in dies.: Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung, München 2008, 189–265. Zum Zusammenhang zwischen Lieben und Lesen in Abaelards Historia calamitatum



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innerhalb der Romanhandlung erweisen, der Leser beziehungsweise Zuschauer in Rousseaus Experimente einbezogen. Wenn sich der vorliegende Band zum Ziel gesetzt hat, Rousseau im Bann der In­ stitutionen zu untersuchen, so betrifft dies nicht nur die sozialtheoretischen, sondern auch die literarischen, rhetorischen und ästhetischen Grundlagen seiner Texte, die mit den Institutionen vor allem um Praktiken der institutio kreisen – sei es die ihrer Figuren, sei es die ihrer Rezipienten. Wie sich bereits in Émile et Sophie ou Les Solitaires als unglücklicher Fortsetzung des zunächst gelingenden Erziehungsexperiments im Émile angedeutet hat und es sich in den verschiedenen Teilen des Eheromans Julie ou La nouvelle Héloïse fortsetzt, ja radikalisiert, scheint Rousseau diese institutio in seinen Texten einerseits zu vollziehen, andererseits zu sabotieren. Dieser Dialektik von Institution und ihrer Destitution will ich im Folgenden anhand der Rousseauschen (De-)Figurationen der Ehe nachgehen. Fungiert die Ehe innerhalb der gesellschaftstheoretischen Schriften Rousseaus als Umschlagplatz nicht nur von Natur und Kultur, sondern, wie ich in einem ersten Schritt zeigen möchte, auch von unterschiedlichen Modi der literarischen Darstellung, so wird sie im Émile und vor allem in der Nouvelle Héloïse, auf die ich mich anschließend konzentrieren werde, zu einer Form der Unterweisung in den Umgang mit sozialen Fiktionen.28 Als pädagogisches Experiment ist die Ehe dabei immer auch Teil einer ästhetischen Versuchsanordnung, die soziale und literarische institutio zusammenschließt. In beiden Fällen knüpft sich die Problematik der institutio an die Frage der Geschlechterdifferenz, die bei Rousseau in der Ehe wie auch im Verhältnis zum literarischen Text ausgehandelt wird.

2 Die Institution der Affekte bei Rousseau Da sie als Affektgemeinschaft auf einer Reglementierung der Imaginationstätigkeit beruht, ist die Institution der Ehe bei Rousseau an der Schnittstelle zwischen der in­stitutio des Imaginären und derjenigen des Sozialen angesiedelt, die sich im Grunde nicht voneinander trennen lassen. Die Ehe markiert bei Rousseau den Übergang zwischen dem Naturzustand und dem Fall in die Gesellschaft, der in der Geschichtsfiktion des Discours sur l’inégalité an die Stelle des biblischen Sündenfalls tritt. Während

vgl. Barbara Vinken: „Die Autorität der Form in Abaelard und Heloise“, in Deutsche Vierteljahrsschrift 76 (2002), 181–194. 28 Maßgebliche Anregungen verdanke ich in diesem Zusammenhang Dagmar Stöferles Überlegun­ gen zur Ehe als Dispositiv, dessen Funktionsweisen im Roman des 19.  Jahrhunderts nicht nur von inhaltlicher Relevanz sind, sondern die Form der Vermittlung als solche betreffen. Dabei vermittelt das, was ich im Folgenden, in einer losen Anlehnung an Paul de Mans Konzept der Trope, als die ‚Figur(en) der Ehe‘ bezeichnen möchte, Stöferle zufolge vor allem zwischen verschiedenen Diskursen rechtlicher, religiöser oder politischer Natur. Vgl. Dagmar Stöferle: „Ehe als Nationalfiktion. Manzonis Promessi Sposi“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, München 2014.

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sich die Interaktion zwischen Mann und Frau im Naturzustand auf die (sprachlose) Paarung und anschließende Trennung beschränkt,29 bildet die Entstehung erster Familienparzellen im Zuge der Sesshaftwerdung des Menschen innerhalb der Logik des zweiten Discours eine Art irdisches Paradies. Semantisch steht dieses indes jenseits von Eden, im Zeichen einer bürgerlichen Empfindsamkeit und der Literalisierung des Geistigen in der subsistance commune: Das war die Epoche einer ersten Revolution, welche die Gründung und die Unterscheidung der Familien hervorbrachte und eine Art von Eigentum einführte [...]. […] Die ersten Entwicklungen des Herzens waren das Ergebnis einer neuen Situation, welche die Ehemänner und die Ehefrauen, die Väter und die Kinder in einer gemeinsamen Wohnung vereinigte; die Gewohnheit zusammen zu leben, ließ die süßesten Gefühle, welche die Menschen kennen, entstehen: die Gattenliebe und die Elternliebe. Jede Familie wurde zu einer kleinen Gesellschaft, die um so einträchtiger war, als die gegenseitige Zuneigung und die Freiheit ihre einzigen Bande waren; und damals kam der erste Unterschied in der Lebensweise der beiden Geschlechter auf, die bis dahin nur ein und dieselbe gehabt hatten. Die Frauen wurden häuslicher und gewöhnten sich daran, die Hütte und die Kinder zu hüten, während der Mann den gemeinsamen Lebensunterhalt suchen ging. Die beiden Geschlechter begannen auch, durch ein ein wenig weichlicheres Leben etwas von ihrer Grimmigkeit und ihrer Kraft einzubüßen […].30 Cet fut-là l’époque d’une premiére révolution qui forma l’établissement et la distinction des familles, et qui introduisit une sorte de propriété [...]. […] Les premiers développemens du cœur furent l’effet d’une situation nouvelle qui réunissoit dans une habitation commune les maris et les Femmes, les Peres et les Enfans; l’habitude de vivre ensemble fit naître les plus doux sentimens qui soient connus des hommes, l’amour conjugal et l’amour Paternel. Chaque famille devint une petite Société d’autant mieux unie que l’attachement réciproque et la liberté en étoient les seuls liens; et ce fut alors que s’établit la premiére différence dans la maniére de vivre des deux Séxes, qui jusqu’ici n’en avoient eu qu’une. Les femmes devinrent plus sedentaires et s’accoutumérent à garder la Cabane et les Enfans, tandis que l’homme alloit chercher la substistance commune. Les deux Séxes commencérent aussi par une vie un peu plus molle à perdre quelque chose de leur férocité et de leur vigeur (OC III, 167, 168).

29 Im Discours sur l’inégalité fällt die Bildung von ersten Familien mit der Entstehung der Sprache zusammen. Davor habe das Paarungsverhalten des Menschen keine sozialen Bindungen hervorge­ bracht, da „in jenem anfänglichen Zustand jeder, da er weder über Häuser noch Hütten noch über Eigen­tum irgendwelcher Art verfügte, sich eine Behausung auf gut Glück einrichtete und oft nur für eine einzige Nacht; Männchen und Weibchen vereinigten sich zufällig, je nach dem Zusammentref­ fen, der Gelegenheit und dem Verlangen, ohne daß die Sprache ein sehr notwendiges Ausdrucksmit­ tel für die Dinge gewesen wäre, die sie sich zu sagen hatten; mit der gleichen Leichtigkeit gingen sie auseinander.“ Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, krit. Ausg. d. integr. Textes, m. sämtl. Fragm. u. erg. Mat. n. d. Originalausg. u. d. Handschr. ed., übers. u. komment. v. Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn u. a. 1993, 119 (OC III, 147). 30 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 181, 183.



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Über die ersten Familienparzellen wird in Rousseaus Geschichtserzählung mit der bürgerlichen Geschlechterordnung eine Form der Affektivität institutionalisiert, die sich implizit gegen die zu seiner Zeit etablierten Institutionen der Ehe und der Familie und insbesondere gegen die dynastische Heiratspolitik und die adelige Trennung von Liebe und Fortpflanzung wendet.31 Im Übergang zwischen Natur und Kultur angesiedelt, stehen diese ersten Familienbildungen innerhalb von Rousseaus Degenerationsgeschichte jedoch stets im Zeichen eines Verlustes, gegen den Rousseau mit allen Mitteln, die der Kulturapparat der Aufklärung aufzubieten hat, anschreibt. Es handelt sich bei den solchermaßen erschriebenen Familien um eine Art Kippfigur zwischen sozialer Utopie und dem Scheitern jedweder Naturalisierung des Sozialen, dessen Gelingen wiederum maßgeblich von der Natur des Bündnisses zwischen den Geschlechtern abhängt. Wie sich bereits in der idealisierenden Darstellung andeutet, hängt das patriarchalische Interim zwischen Natur- und Gesellschaftszustand, sowohl was seinen referenziellen als auch was seinen institutionellen Status angeht, eigentümlich in der Luft. Innerhalb der heuristischen Entwicklungslinie, die der zweite Discours von der imaginierten paradiesischen Gleichheit des Naturzustandes zur faktischen Ungleichheit bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse zeichnet, bildet die Institutionalisierung des Fortpflanzungsverbandes zwischen Mann und Frau eine Scharnierstelle zwischen der Geschichtsfiktion eines hypothetischen Naturzustandes und der sozialen Realität des Ancien Régime. Zur Zeit Rousseaus, das heißt vor der Französischen Revolution, durch die das absolutistische Königtum erst zum Ancien Régime wurde,32 ist die aristokratische Ständeordnung noch weitgehend intakt. Gleichwohl steht die politische Gegenwart häufig im Bann einer im Grunde bereits überkommenen Ordnung und damit im Zeichen alternativer Entwürfe des Gemeinwesens, die sich in ‚uneigentlichen‘ Darstellungsformen zwar artikulieren, aber eben (noch) nicht realisieren können.33 Entsprechend wird die Schrift in Rousseaus Vorwort zum Contrat social zum Medium dessen, der de facto über keinerlei politischen Einfluss verfügt,34

31 Zu diesem sozialgeschichtlichen Wandel und den Formen seiner Codierung vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main 1973; Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1982. 32 Namentlich etabliert wurde die Vorstellung vom Ancien Régime durch Alexis de Tocquevilles L’Ancien Régime et la Révolution, wo jedoch im Grunde gegen den in diesen Begrifflichkeiten sugge­ rierten Bruch argumentiert wird. Vgl. Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, i. d. Übers. v. Theodor Oelckers, durchges. v. Rüdiger Volhard, m. e. Nachw. u. Anm. hg. v. Jacob P. Meyer, 2. Aufl., München 1989. 33 Das zeigt anhand des allegorisch auf den politischen Raum bezogenen Diskurses der Leidenschaft in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts Stephan Leopold: Liebe im Ancien Régime, München 2014. 34 Dort rechtfertigt Rousseau die Tatsache, dass er über Politik schreibt, ohne über politische Macht zu verfügen, unter Rekurs auf den Gegensatz zwischen „sagen“ („dire“) und „tun“ („faire“): „Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, dass ich über Politik schreibe. Nein, antworte ich, und ebendeshalb schreibe ich über Politik. Wenn ich Fürst oder Gesetzgeber wäre, würde ich meine

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und der, so ließe sich im Anschluss an die oben angeführten Überlegungen sagen, seine Vorstellungen erst auf literarischem Wege institutionalisieren muss. Wenn Rousseau, der im Nachhinein zum Wegbereiter der Revolution und damit gewissermaßen zum Verkünder eines ‚Nouveau Régime‘ gemacht wurde, die ständische Ordnung und insbesondere den Absolutismus seiner Zeit immer wieder der Unnatürlichkeit und Künstlichkeit bezichtigt, dann führt diese Gesellschaft des Scheins im Denken Rousseaus von der authentischen menschlichen Wirklichkeit eines Menschseins fort, das eben nur über Fiktionen wie die der Rousseauschen Geschichtshypothese oder die eines unvordenklichen Gesellschaftsvertrages (re-)konstruiert werden kann.35 Es gilt also zu berücksichtigen, dass Rousseau im Grunde kein politisches Sein jenseits gesellschaftlichen Scheins entwirft, sondern dass die politische und soziale Ordnung vielmehr zum Gegenstand einer alle Lebensbereiche umfassenden ästhetischen Reflexion wird. Gesellschaftskritik basiert bei Rousseau daher auf einer grundlegenden Imaginationskritik,36 die alle seine Schriften durchzieht und in die, insbesondere in seinem Eheroman Julie ou La nouvelle Héloïse, auch der Leser involviert ist. Eine wesentliche Aufgabe der Institutionen von Ehe und Familie ist es, ebendiese Scheinproduktion in kontrollierbare Bahnen zu lenken, ja, wenn man so will, zu institutionalisieren. Denn die Familie ist Rousseau zufolge zwar einerseits diejenige Gesellschaftsform, die bereits im Naturzustand vorgesehen ist; andererseits jedoch endet die natürliche Legitimität dieser Sozialform, die lediglich Kinder an ihre Eltern, nicht aber Eheleute aneinander bindet, sobald der Nachwuchs in der Lage ist, sich selbst zu erhalten beziehungsweise zu unterhalten: Die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche ist die der Familie. Und selbst dort bleiben die Kinder nicht länger an den Vater gebunden, als sie seiner zu ihrer Erhaltung bedürfen. Sobald diese Bedürftigkeit aufhört, löst sich das natürliche Band. Die Kinder, befreit vom Gehorsam, den sie dem Vater schuldeten, und der Vater, befreit von der Sorge, die er den Kindern schuldete, beide kehren gleichermaßen in die Unabhängigkeit zurück. Wenn sie weiter zusammenbleiben, geschieht dies nicht mehr natürlich, sondern willentlich, und die Familie selbst wird nur noch durch Übereinkunft aufrechterhalten.37

Zeit nicht darauf verschwenden, zu sagen, was zu tun nötig ist; ich würde es tun oder schweigen.“ Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusammenarb. m. Eva Pietzcker übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2011, 5 (OC III, 351). 35  Diese literarischen Konstruktionen sind, wie auch Jörg Dünne in seiner Analyse des Rousseau­ schen Melodrams L’Isle du genre humain betont hat, nicht so ohne Weiteres auf politische Realitäten übertragbar: „Es gehört sicherlich zu den produktivsten Missverständnissen der modernen Rous­ seau-Rezeption, dass sie [...] tatsächlich den Schritt der Übertragung seiner Träumereien über die Wasser des Bieler Sees, des Mittelmeeres oder des Atlantiks hinweg auf die jenseits der Inselgrenzen liegenden Stadt- und Landschaften im Zeichen revolutionärer Erschütterungen unternommen hat“. J. Dünne: „Der Mensch als Experiment und Spektakel“, 174. 36  Vgl. St. Leopold: Liebe im Ancien Régime, 350ff. 37  J.-J. Rousseau: Gesellschaftsvertrag, 6.



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La plus ancienne de toutes les sociétés et la seule naturelle est celle de la famille. Encore les enfans ne restent-ils liés au pere qu’aussi longtems qu’ils ont besoin de lui pour se conserver. Sitôt que ce besoin cesse, le lien naturel se dissout. Les enfans, exempts de l’obéissance qu’ils devoient au pere, le pere exempt des soins qu’il devoit aux enfans, rentrent tous également dans l’indépendance. S’ils continuent de rester unis ce n’est plus naturellement c’est volontairement, et la famille elle-même ne se maintient que par convention (OC III, 352).

Wenn die natürlichen Bande sich auflösen, wird die patriarchalische Familie durch Konvention zusammengehalten und damit zur Institution im ‚modernen‘ Sinne des Wortes. Als solche wird sie bei Rousseau allerdings nicht durch rechtliche Bande, sondern durch Liebesbande befestigt, in denen sich die Familie auch von staatlichen Institutionen unterscheidet.38 Bereits die ersten Familien im Übergang vom Naturzum Kulturzustand waren dem zweiten Discours zufolge weniger aus materiellen Bedürfnissen denn aus den développemens du cœur entstanden, welche die Eheleute und ihre Kinder aneinander banden. Dabei handelt es sich indes um eine überaus labile Konstruktion, da Rousseau nicht nur den Naturzustand, sondern das menschliche Glück überhaupt über die Abwesenheit der Leidenschaften definiert.39 Der Fortbestand der Familie verdankt sich hingegen einer spezifischen Ökonomie der Affekte, die, wie unter anderem Jacques Derrida ausgehend von Rousseaus zweitem Discours in seiner Analyse des Mitleids gezeigt hat,40 mit der Einfühlung in den anderen die Imaginationstätigkeit des Menschen in Gang und damit das fragile emotionale Gleichgewicht des homme naturel potenziell außer Kraft setzen kann.

3 Experimentalanordnungen der institutio in Julie ou La nouvelle Héloïse Wenn Rousseau in der Nouvelle Héloïse, die nahezu zeitgleich mit dem Contrat social entstanden sein muss, die Institution der Ehe zum Gegenstand eines Briefromans macht, dann ist das Medium hier ebenso wie der Autor Teil des Experiments. Wie sich bereits im ersten Vorwort des Romans andeutet, in dem Rousseau die fiktive Rolle

38 Daher steht der Familienverband bestenfalls in einem metaphorischen Ähnlichkeitsverhältnis zum Gesellschaftsverband. So heißt es wenig später im Contrat social: „Die Familie ist deshalb, wenn man so will, das Urbild der politischen Gesellschaften; das Oberhaupt ist das Abbild des Vaters, das Volk das Abbild der Kinder, und da alle gleich und frei geboren sind, veräußern sie ihre Freiheit einzig zu ihrem Nutzen. Der ganze Unterschied ist, dass in der Familie die Liebe des Vaters für seine Kinder ihn entschädigt für die Sorge, die er an sie wendet, und dass im Staat das Vergnügen zu befehlen jene Liebe ersetzt, die das Oberhaupt für seine Völker nicht empfindet.“ J.-J. Rousseau, Gesellschaftsver­ trag, 7 (OC III, 352, Hervorh. v. Judith Frömmer). 39 Vgl. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 107–117 (OC III, 143–146). 40 Vgl. Jacques Derrida: „Le débat actuel: l’économie de la Pitié“, in ders.: De la grammatologie, Paris 1967, 243–272.

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des Herausgebers annimmt, ist die Grenze zwischen Fiktion und Realität hier Teil einer Fiktion, die von der Unkontrollierbarkeit von Fiktionen erzählt.41 An solchen entzündet sich die leidenschaftliche Liebe zwischen der adeligen Tochter aus gutem Hause, Julie d’Étange, und ihrem namenlosen Hauslehrer, denen ihre gemeinsamen Lektüren der italienischen Liebeslyrik, aber vor allem auch die ihrer eigenen Briefe zum Verhängnis einer Verblendung durch die Leidenschaften werden. Diese durch die Ehe zu bändigenden Affekte zirkulieren mit den Briefen im sozialen Raum des Romans, in dessen Verlauf sie verschiedenen Instanzen der Lektüre und der Beobachtung unterworfen werden. Im Hinblick auf den sozialhistorischen Kontext hat Stephan Leopold auf die zentrale Bedeutung des Standeshindernisses hingewiesen. Im Rahmen seiner großangelegten Studie über die Liebe im Ancien Régime liest er die Nouvelle Héloïse als allegorische Gründungserzählung, wobei die Romanhandlung gerade in der leidenschaftlichen Verkennung ein politisches Erkennen ermögliche. Rousseaus Roman inszeniere die Opfer, die eine Überwindung der Ständeordnung einfordere.42 Dahingegen kann die Mésalliance zwischen Julie und Saint-Preux Wolfgang Matzat zufolge gerade keine neue, bürgerliche Sozialordnung repräsentieren, da die soziale Begründungsfunktion der leidenschaftlichen Liebe in Rousseaus Roman – nicht zuletzt aufgrund seiner moralistischen Wurzeln – in Frage gestellt werde.43 Unabhängig

41 Als fiktiver Herausgeber, der sich gleichzeitig zur Autorschaft bekennt, unterstreicht und demen­ tiert Rousseau in diesem Vorwort beständig die Fiktionalität seines Textes, wobei er diese Frage letzt­ lich der Entscheidung des (potentiell täuschbaren) Lesers überantwortet: „Wiewohl ich hier bloß des Herausgebers Namen führe, habe ich doch selbst mit an dem Buch gearbeitet und mache daraus kein Geheimnis. Habe ich es darum ganz verfertigt, und ist der ganze Briefwechsel erdichtet? Weltleute! Was liegt euch daran? Für euch ist er gewiß Erdichtung. Jeder rechtschaffne Mann muß sich zu den Büchern, die er herausgibt, bekennen. Ich nenne mich also auf dieser Sammlung Titelblatt; nicht, um sie mir anzueignen, sondern um dafür einzustehen. Ist etwas Schlechtes darin, so rechne man es mir zu; steht darin Gutes, so will ich es mir nicht zu Ehren anrechnen. Ist das Buch schlecht, so bin ich um so mehr verpflichtet, es für das meinige zu erkennen; ich mag nicht für besser gehalten werden, als ich bin. Was der Geschichte Wahrheit angeht, so gestehe ich, daß ich, da ich oft in beider Liebenden Lande gewesen bin, niemals vom Freiherrn von Etange noch von seiner Tochter, noch vom Herrn von Orbe, noch vom Lord Eduard Bomston, noch vom Herrn von Wolmar habe reden hören. Ich mache auch darauf aufmerksam, daß man an einigen Stellen grobe Fehler wider die Beschreibung der Gegenden begangen hat; es sei nun entweder, um den Leser leichter zu hintergehen, oder weil der Verfasser es wirklich nicht besser wußte. Das ist alles, was ich sagen kann. Ein jeder denke, wie es ihm gefällt!“ Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, i. d. ersten dt. Übertr. v. Johann Gottfried Gellius, vollst. überarb. u. erg. sowie m. e. Zeittaf. vers. v. Dietrich Leube, m. Anm. u. e. Nachwort v. Reinhold Wolff, 2. Aufl., München 1988, 5 (OC II, 5). 42 St. Leopold: Liebe im Ancien Régime, 38–45 und 345–391. 43 Vgl. Wolfgang Matzat: „Der Bürger und die Frau von Stand: „La Nouvelle Héloïse und die Folgen. Überlegungen zum Verhältnis von Eros und Polis im französisch- und spanischsprachigen Roman“,



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von seiner Beziehbarkeit auf die gesellschaftlichen Umbrüche des 18. Jahrhunderts ließe sich aber auch argumentieren, dass vor allem in den ersten beiden Teilen des Romans das Standeshindernis, das zum Zeitpunkt, als der Roman erscheint, ein etabliertes, um nicht zu sagen abgegriffenes literarisches Motiv darstellt, zum willkommenen Inzitamentum für die Leidenschaft der beiden Liebenden und ihre imaginären Rollenspiele wird.44 So nutzt beispielsweise Saint-Preux in seinen ersten Briefen die soziale Kluft zwischen ihm und Julie, um im Stile Petrarcas in die Rolle eines Liebenden zu schlüpfen, der eine unerreichbare Geliebte besingt.45 Diese Flucht in eine literarische Wirklichkeit bedeutet aber nicht unbedingt eine Kritik, geschweige denn eine Bewältigung des Standeshindernisses, das nicht einmal durch Julies Schwangerschaft außer Kraft gesetzt werden kann. Und auch diese Schwangerschaft Julies, deren Frucht ihr der Vater, ohne von diesen anderen Umständen seiner Tochter zu wissen, in einem Wutanfall aus dem Leib prügelt, wird letztlich zum Anlass für das doux spectacle eines bürgerlichen Rührstücks, das Julie auf dem Schoß ihres Vaters vor den gierigen Augen der Mutter in Szene setzt. Julie berichtet ihrer Cousine Claire von diesen Vorkommnissen im 63. Brief des ersten Teils aus der Rückschau, wodurch sie selbst, die Adressatin ihres Briefes und nicht zuletzt Rousseaus Leser ebenfalls in die Rolle des Publikums einer Inszenierung rücken, deren Regie Julie indes zunehmend entgleitet.46 Das Skript zu dieser inzestuösen Versöhnungsszene vor der malerischen Kulisse des Kamins hat nicht zuletzt Diderots Dramenästhetik des Tableau und damit eine bürgerliche Dramatik geliefert, die gerade keine soziale Sprengkraft entfaltet, sondern die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse befestigt, sprich: Julie die gefügige Rolle der Ehefrau des Aristokraten M. de Wolmar zuweist.47 Daher möchte ich den Fokus vom bürgerlichen Ehemodell und seinen sozialen und psychologischen Konsequenzen zu den ästhetischen und medialen Verfahren seiner Institutionalisierung verschieben. Die Institution der bürgerlichen Ehe ist in Rousseaus Roman von Beginn an auf Zuschauer und Leser angewiesen: Seien es die Leser der Briefe und die Beobachterfiguren innerhalb des Romans, welche die

in Stephan Leopold/Gerhard Poppenberg (Hgg.): Planet Rousseau. Zur heteronomen Genealogie der Moderne, München 2014, 113–130, hier 115–119. 44 Auch Wolfgang Matzat hat im Anschluss an Denis de Rougemonts These vom dialektischen Zu­ sammenhang von Liebe und Hindernis dafür plädiert, dass das äußere (Standes-)Hindernis die emp­ findsam-idealisierende Liebe zwischen Julie und Saint-Preux eher stütze, die hingegen durch das in­ nere Hindernis der klassischen Leidenschaftskonzeption unterminiert werde. Vgl. Wolfgang Matzat: „Rousseau: Leidenschaft und Transparenzideal“, in ders.: Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Af­ fektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen 1990, 17–84, hier 66–67. 45 Vgl. hierzu die Textbelege und die dazugehörigen Interpretationen in dem Kapitel „Die Ver­füh­ rungen der Lektüre“ in J. Frömmer: Vaterfiktionen, 201–221. 46 Vgl. J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 174–179 (OC II, 173–178). 47 Zu Rousseaus Travestie der Diderotschen Ästhetik des Familientableaus vgl. ausführlich J. Fröm­ mer: Vaterfiktionen, 229–234.

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Geschicke der Liebenden wie Julies Cousine Claire von den ersten Briefen über den ersten Kuss und Julies Heirat mit Wolmar bis zum Tod der Titelheldin mit empfindsamer Anteilnahme begleiten – und eben darüber verrückt zu werden drohen;48 sei es der Leser, der das intertextuelle Pastiche dieser Inszenierung und ihre Manipulationsund Verblendungsmechanismen zu durchschauen in der Lage ist und auf diese Weise auch eine distanzierte Position dazu einnehmen kann, aber gleichzeitig in ebenjene Dynamik der leidenschaftlichen Verkennung hineingezogen zu werden droht.49 Der fiktive Herausgeber zeigt sich in diesem Zusammenhang von Beginn an in Sorge um die Unschuld insbesondere seiner weiblichen Leserschaft. Vor allem unerfahrene, junge Leserinnen drohten, wie Julie und ihr im Titel aufgerufenes Vorbild Heloisa, durch die Lektüre des Romans gerade nicht belehrt, sondern verführt zu werden: Diese Sammlung mit ihrem gotischen Tone schickt sich für Frauen besser als philosophische Bücher. Sie kann sogar denen nützlich sein, die sich bei einem unordentlichen Leben noch einige Liebe zur Rechtschaffenheit erhalten haben. Mit den Mädchen ist es eine andere Sache. Niemals hat ein keusches Mädchen Romane gelesen; und diesem hier habe ich einen so bestimmten Titel vorangestellt, damit man gleich beim Öffnen des Buchs wisse, woran man sich zu halten hat. Diejenige, die trotz dieses Titels eine einzige Seite zu lesen wagen wird, ist ein verlorenes Mädchen: Allein, dem Buche schreibe sie ihr Verderben nicht zu; das Übel war schon vorher

48 Claires empathische Anteilnahme am Schicksal ihrer Freundin führt so weit, dass sie dieser am Ende in geistiger Umnachtung nicht nur in die Hysterie, sondern bis ins Grab nachfolgt. Der Roman schließt mit den Wahnvorstellungen Claires, die mit der empfindsamen Freundin, als deren „glas­ klarer“ Spiegel sie (auch namentlich) fungierte, ihre Sprache und Identität zu verlieren droht. „Hier hat sie gelebt. Hier ruht ihre Asche – die Hälfte ihrer Asche. Zweimal in der Woche, wenn ich in die Kirche gehe, sehe ich – ich sehe den traurigen, ehrwürdigen Ort – das ist also, o Schönheit, dein letzter Aufenthalt! – Freundschaft, Vertrauen, Tugenden, Freuden, ausgelassene Spiele; alles hat die Erde verschlungen – ich fühle mich hingezogen – zitternd trete ich näher – ich scheue mich, das geheiligte Erdreich zu betreten – ich glaube zu fühlen, wie es unter meinen Füßen klopft und bebt – ich höre eine leise klagende Stimme – ­ … ‚Clara, o meine Clara, wo bist du? Was machst du fern von deiner Freundin? – ihr Sarg umschließt sie nicht ganz und gar – er wartet auf den Rest seiner Beute – und wird nicht lange warten‘.“ J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 782. Der Zusammenhang von geistiger und sprachlicher Zerrüttung wird im französischen Original und insbesondere in seiner Interpunktion noch deutlicher, weshalb die betreffende Stelle hier ausnahmsweise in voller Länge zitiert werden soll: „C’est ici qu’elle a vecu; c’est ici que repose sa cendre ... la moitié de sa cendre. Deux fois la semaine, en allant au Temple ... j’apperçois ... j’apperçois le lieu triste et respectable ... beauté, c’est donc là ton dernier azile! ... confiance, amitié, vertus, plaisirs, folâtres jeux, la terre a tout englouti ... je me sens entraînée ... j’approche en frissonnant ... je crains de fouler cette terre sacrée ... je crois la sentir palpiter et frémir sous mes pieds ... j’entens murmurer une voix plaintive! ... Claire, ô ma Claire, où es-tu? que fais tu loin de ton amie? ... son cercueil ne la contient pas toute entiere ... il attend le reste de sa proye ... il ne l’attendra pas longtems“ (OC II, 745). 49 So scheint es im Übrigen wohl auch zeitgenössischen Lesern ergangen zu sein, die gerade nicht die distanzierte Lektürehaltung einnahmen, die Rousseau in seinem Vor- und Nachwort einfordert, sondern die Fiktion in der Lebenswelt nachstellten. Vgl. Robert Darnton: „Readers Respond to Rous­ seau: The Fabrication of Romantic Sensitivity“, in ders.: The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, London u. a. 1984, 215–256.



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geschehen. Weil sie aber einmal angefangen hat, so lese sie immer zu; sie hat nichts mehr zu verlieren.50 Ce recueil avec son gothique ton convient mieux aux femmes que les livres de philosophie. Il peut même être utile à celles qui dans une vie déreglée ont conservé quelque amour pour l’honnêteté. Quant aux filles, c’est autre chose. Jamais fille chaste n’a lu de Romans; et j’ai mis à celui-ci un titre assés décidé pour qu’en l’ouvrant on sut à quoi s’en tenir. Celle qui, malgré ce titre, en osera lire une seule page, est une fille perdue: mais qu’elle n’impute point sa perte à ce livre; le mal étoit fait d’avance. Puisqu’elle a commencé, qu’elle achêve de lire: elle n’a plus rien à risquer (OC II, 6).

Romane sind also Ausdruck einer gefallenen Welt, verkörpert von Frauen, die ihre Unschuld durch Liebe und Lektüre verloren haben, nicht zuletzt weil sie sich empathisch mit literarischen Figuren wie Julie oder Heloisa identifiziert haben. Dass diese Identifikation nicht zwingend ist, zeigt unter anderem die kontroverse Rezeptionsgeschichte der Briefe Heloisas. Werden diese in Abaelards Historia calamitatum zum Muster einer gelungenen klösterlichen institutio einer zur Gottesliebe konvertierten erotischen Liebe, die in der Gründung von Ordensgemeinschaften ihre Vollendung findet, so wurde Heloisa von modernen Lesern als unbekehrbare Liebende gefeiert, „die untröstlich ihr Begehren einklagt“.51 Insofern hängt die Frage nach Rousseaus Umschrift der Historia calamitatum, sprich danach, ob im Fall Julies die Konversion von der empfindsamen Geliebten zur bürgerlichen Ehefrau glückt oder scheitert,52 von der Lektüre des mittelalterlichen Briefwechsels und seiner Rezeptionsgeschichte ab; und näherhin davon, ob diese eine Geschichte der conversio vom weltlichen Unheil der calamitatum zum Heil göttlicher Erlösung oder aber diejenige verschiedener Fehlleitungen des Begehrens in dieser Welt erzählt. Zwar spricht einiges dafür, dass Rousseaus Perspektive auf Heloisa stark von der protestantischen Interpretation Pierre Bayles im gleichnamigen Eintrag seines Dictionnaire historique et critique geprägt ist, der in ihren Briefen nicht die Dokumente einer Konversion von der Schülerin und erotischen Geliebten zur Äbtissin und Braut Christi gesehen hatte, sondern die Symptome der Perversion und der hysterischen Pathologie weiblichen Klosterda-

50 J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 6. 51 Zu diesem Lektüreschicksal des Briefwechsels zwischen Abaelard und Heloisa vgl. B. Vinken: „Die Autorität der Form“, 181ff. sowie J. Frömmer: Vaterfiktionen, 239–242. 52 Vgl. hierzu im Detail die Ausführungen von Barbara Vinken, die von einer Umschrift im Sinne einer ‚Perversion‘ der Konversion Heloisas bei Rousseau ausgeht: „Neu – La Nouvelle Héloïse – ist Rousseaus Héloïse auch im formalen Sinne. Denn chiastisch ist die Konversion der neuen Héloïse auf die der alten Heloisa bezogen. Rousseaus so zweifelsfreie wie erfolgreiche Konversion seiner neuen Héloïse ist ein radikales rewriting, eine Verkehrung der zwar erfolgten, aber gerade darin absolut ver­ fehlten, vollkommen perversen Bekehrung ihrer spätmittelalterlichen Namensschwester Heloisa.“ B. Vinken: „Von Fall zu Fall“, 106.

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seins.53 Gleichwohl lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären, ob Rousseau die entsprechenden Einträge in Bayles Dictionnaire tatsächlich gelesen, geschweige denn ob er dessen protestantische Sicht auf den Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloisa übernommen hat.54 Der Ausgang des literarischen Experiments, das Julie ou La nou­ velle Héloïse auf verschiedenen Ebenen durchführt, hängt jedoch im Grunde weniger von Rousseaus Interpretation der Historia calamitatum als von der Lektürehaltung seiner Leser ab. Rousseau inszeniert, wie sich bereits im ostentativen Verweis auf den im Titel evozierten Intertext abzeichnet, seine ‚neue Heloisa‘ als Versuch, gegen den Sündenfall der Kultur und der Gesellschaft durch eine neue, wenn man so will ‚säkularisierte‘ institutio der Geschlechter im Bund der Ehe anzuschreiben. Diese verbindet sich idealerweise mit einer institutio des Romans, die gleichbedeutend mit derjenigen seiner Leser und – hier liegt die crux – seiner Leserinnen ist. Wenn Rousseau hier antritt, die Verblendung der Welt durch ebenjene Gattung zu bekämpfen, die ihm, wie zuvor den Jansenisten, als Inbegriff dieser Verblendung durch die Leidenschaften gilt, dann scheint er auf ein homöopathisches Heilverfahren zu setzen, das Jean Starobinski im Anschluss an eine Stelle aus der ersten Version des Contrat social mit der Formel des remède dans le mal belegt hat.55 In diesem Textpassus aus einem Entwurf zum zweiten Kapitel seines Contrat social empfiehlt Rousseau, das Übel der Vergesellschaftung des Menschen durch die Bildung neuer sozialer Bündnisse zu überwinden: Bemühen wir uns, aus dem Übel selbst das Mittel zu gewinnen, das es heilen soll. Durch neue gesellschaftliche Vereinigungen wollen wir, wenn möglich, den Fehler der gesellschaftlichen Vereinigung beheben.56 [E]fforçons nous de tirer du mal même le reméde qui doit le guérir. Par de nouvelles associations, corrigeons, s’il se peut, le défaut de l’association générale (OC III, 288).

Starobinski verfolgt diese Denkfigur zunächst im Hinblick auf die Differenz zwischen Sein und Schein, nicht zuletzt um auf diese Weise einen Ausweg aus der durchgängigen Struktur des performativen Widerspruchs zu weisen, der das Schreiben Rous­ seaus kennzeichnet: Die Tatsache, dass sich Rousseau virtuos derjenigen Instrumente und Institutionen der Kultur zu bedienen weiß, deren Entfremdungsmechanismen er

53 Vgl. Pierre Bayle: Art. „Héloïse“, in Dictionnaire historique et critique, nouvelle édition augmentée de notes extraites de Chaufepié, Joly [...], réimpression de l’édition de Paris, 1820–1824, tome VII, Genf 1969, 556–571. Zu dieser protestantisch-bürgerlichen Lesart im Hinblick auf die Geschlechterpolitik Rousseaus und der Aufklärung vgl. im Detail J. Frömmer: Vaterfiktionen, 240–242. 54 Dafür plädiert, wenn auch mit starken Differenzierungen, B. Vinken: „Von Fall zu Fall“, 197ff. 55 Vgl. Jean Starobinski: Le remède dans le mal: critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières, Paris 1989. 56 Deutsche Übersetzung hier nach Jean Starobinski: Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Auf­ klärung, a. d. Franz. m. e. Essay v. Horst Günther, Frankfurt/Main 1990, 200.



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anprangert.57 Wie aber der Ursprung dieser Vorstellung eines homöopathischen Heilverfahrens anzeigt, geht es bei Rousseau in jeder Rechtfertigung des Ästhetischen immer auch um die Frage sozialen Gelingens. Dabei betreffen die neuen Bündnisse, die Rousseau hier imaginiert, auch diejenigen zwischen Literatur und Leser. Eine exemplarische Zuspitzung erfährt dieses therapeutische Projekt Rousseaus auf dem literarischen Gutshof von Clarens, der in der Nouvelle Héloïse die Funktion einer Heil- und Pflegeanstalt für die Protagonisten des Romans,58 aber auch die eines Labors zur Erprobung menschlicher Affekte und ihrer Analyse durch verschiedene Instanzen der Beobachtung und des Lesens übernimmt. In der Idylle der Gutsgemeinschaft, in deren Darstellung Rousseau semantisch an die Vorstellung von den ersten Familien als „petite Société“ im zweiten Discours anschließt, soll nicht nur die Titelheldin, sondern gleichzeitig auch ihr ehemaliger Liebhaber Saint-Preux von den Restbeständen ihrer einstigen Leidenschaft geheilt werden. Dies geschieht namentlich im Zeichen einer absoluten Transparenz, die Julies Ehemann Wolmar als Oberhaupt allen Mitgliedern der Gutsgemeinschaft auferlegt: „Ne fais ni ne dis jamais rien que tu ne veuilles que tout le monde voye et entende“ – „Tue und sage niemals etwas, was nicht die ganze Welt sehen und hören könnte“59 lautet das Gebot von Clarens, das soziales Gelingen gewissermaßen an eine vollkommene Demokratisierung der Beobachtungsverhältnisse und deren Internalisierung (oder, wenn man so will, Institutionalisierung) knüpft. Zwar versucht Wolmar sich innerhalb der Gemeinschaft von Clarens, wo sich im ökonomischen Ideal des ‚ganzen Hauses‘ eine ideale Ökonomie der Affekte zu spiegeln scheint, über das (perverse) Phantasma eines œil vivant in die Position eines privilegierten Betrachters zu imaginieren, um die Kontrolle über das soziale Spiel zu behalten. Der Gutsherr, der ähnlich wie es Jörg Dünne im Hinblick auf die Figur des Erziehers im Émile vorgeschlagen hat, als Figur der problematischen „Kontrolle Rousseaus über seinen Text gelesen werden kann“,60 stößt dabei aber genauso häufig an seine Grenzen wie der Leser, der mit einer empfindsam-anteilnehmenden Lektüre in diesen Teilen des Romans nicht wirklich weiterkommt. Besonders deutlich wird dies in Wolmars Versuchen, die Religiosität seiner Ehefrau zu kontrollieren. Dabei muss der sonst so gefasste Wolmar mit ungewöhnlicher Brutalität, brusquement, in das Innere seiner Frau vordringen, die sich in ihr cabinet, einst Ort der erotischen Vereinigung mit Saint-Preux, zum Beten zurückgezogen hat. Dort überrascht sie der Ehemann in Begleitung ihres ehemaligen Liebhabers, dem Wolmar das Spektakel der betenden Julie angeblich zu Zwecken der religiösen

57 Vgl. J. Starobinski: Das Rettende in der Gefahr, 171–177. 58 Eine umfassende Untersuchung des „remède dans le mal“ hat Peter Engelsberger in seiner un­­ veröffentlichten Magisterarbeit vorgelegt, die gleichzeitig das Scheitern dieses Therapieprojekts do­­ ku­mentiert. Vgl. Peter Engelsberger: Rousseaus Apotheke. ‚Le remède dans le mal‘ in Julie, ou la Nou­ velle Héloïse, München 2000. 59 J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 444 (OC II, 424). 60 J. Dünne: „Der Mensch als Experiment und Spektakel“, 168.

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Unterweisung und näherhin zur Unterstreichung seiner Ansichten zum Theodizeeproblem vor Augen führen will. Saint-Preux schildert seinem Freund Mylord Edouard die Episode in einer Briefpassage, die im Akt des Schreibens nicht zuletzt durch eine Multiplikation der Blick- und Beobachterinstanzen das gewaltsame Vordringen des Patriarchen in das weibliche Innere plastisch vor Augen führt, jedoch ohne das Rätsel dieser Innerlichkeit letztlich aufklären zu können: Wir kamen an die Türe des Kabinetts; sie war geschlossen. Er öffnete sie rasch. Mylord, welch ein Anblick! Ich sah Julien auf den Knien, mit gefalteten Händen und ganz in Tränen. Sie sprang schnell auf, trocknete sich die Augen, verbarg das Gesicht und suchte zu entkommen: Niemals hat man eine ähnliche Scham gesehen. Ihr Mann ließ ihr nicht Zeit, zu entfliehen. Er eilte in einer Art leidenschaftlicher Aufwallung auf sie zu. ‚Liebe Frau‘, sagte er zu ihr, indem er sie umarmte, ‚gerade die Inbrunst deiner Wünsche verrät deine Sache. Was fehlt ihnen, um wirksam zu sein? Glaub mir, wenn sie vernommen würden, so würden sie bald erhört werden.‘ ‚Sie werden erhört werden‘, sagte sie mit festem und überzeugtem Ton zu ihm; ‚ich weiß die Stunde und die Gelegenheit nicht. Könnte ich sie doch mit meinem Leben erkaufen! Mein letzter Tag wäre dann am besten angewandt.‘“61 Nous arrivâmes à la porte du cabinet; elle étoit fermée. Il l’ouvrit brusquement. Milord, quel spectacle! Je vis Julie à genoux, les mains jointes, et toutes en larmes. Elle se lève avec précipitation, s’essuyant les yeux, se cachant le visage, et cherchant à s’échaper: on ne vit jamais une honte pareille. Son mari ne lui laissa pas le tems de fuir. Il courut à elle dans une espece de transport. Chere épouse! lui dit-il en l’embrassant; l’ardeur même de tes vœux trahit ta cause. Que leur manque-t-il pour être efficaces? Va, s’ils étoient entendus, ils seroient bientôt exaucés. Ils le seront, lui dit-elle d’un ton ferme et persuadé; j’en ignore l’heure et l’occasion. Puissai-je l’acheter aux dépends de ma vie! mon dernier jour seroit le mieux employé (OC II, 596).

Wenn es für Julie hier noch kein Entkommen vor den entweihenden Blicken der patriarchalischen Macht gibt, so wird sich ihr die Gelegenheit zur Erfüllung ihrer Gebete nur wenig später bieten: Mit ihrem Sprung in den Genfer See, der als chute in Analogie zum Sündenfall der einstigen Schülerin, aber auch zu derjenigen der unerfahrenen Romanleserin gesetzt wird, erkauft sich Julie schließlich das Recht, in ihrem Abschiedsbrief „au prix de ma vie“ mit dem Geständnis ihrer fortwährenden Liebe zu Saint-Preux ein Begehren freizusetzen, für das es innerhalb der Ökonomie von Clarens keinen Ort gab: Ein Begehren, das aus der institutio Julies entstand, das sich aber letztlich allen Versuchen der Institutionalisierung widersetzt, weil es in dieser Welt keinen bleibenden Status erlangen kann. Es wird daher in ein Jenseits verschoben,62 von dem nicht sicher ist, ob es sich nicht ebenfalls der weiblichen Einbildungskraft verdankt.63

61 J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 625–626. 62 Vgl. J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 777–780 (OC II, 740–743). 63 Christine Ott hat für diese Ambivalenz der Religiosität Julies in ihrer Interpretation von Julies Tod die Formel einer „literarischen Anagogik“ gefunden, die sie aus Rousseaus „aufklärerischer“ Anver­ wandlung der Symbolik des christlichen Abendmahls und seinen hermeneutischen Implikationen



Versuchsanordnungen einer „petite Société“ 

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Das alles in allem überraschende Geständnis, durch das Julie in ihrem Abschiedsbrief wenn nicht die soziale Ordnung von Clarens, so doch deren postulierte Transparenz in Frage stellt, wirft die Frage nach der institutio des Lesers auf. Welche Lehren soll er aus diesen Briefen ziehen? Wie soll er den Roman lesen, dessen Therapieprojekt Julie in ihrem Abschiedsbrief als Trugbild bezeichnet, dem sie selbst ebenso wie die verschiedenen Leser der Clarens-Briefe aufgesessen ist? Signifikanterweise schließt der Roman mit einer Poetik des Lesens. Im Entretien sur les Romans, der Rousseau zufolge eigentlich als zweites Vorwort konzipiert war, aber aus Platzgründen als Nachwort fungieren muss und daher nach der ersten Lektüre des Romans zu lesen ist,64 kehrt er nochmals zu seiner Ausgangsfrage nach dem pädagogischen Nutzen der Gattung des Romans zurück.65 In diesem fiktiven Dialog zwischen R., einer fiktiven Autorfigur, und N., seinem anonymen Leser, wird einmal mehr das Problem der Fiktionalität des Briefwechsels verhandelt. Dabei ist es im Grunde unerheblich, ob der Leser Rousseaus, der in der Rolle des namenlosen N., anders als im ersten Vorwort, offensichtlich als männlicher Leser inszeniert und mehrfach von der weiblichen Leserschaft abgegrenzt wird, die Briefe als Fiktion liest oder nicht. Entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit der Distanzierung, wie sie ihm während der Romanlektüre nach und nach antrainiert wird. Der ideale Leser sollte dazu in der Lage sein, sein empfindsames Lektüreverhalten zu überwinden und kritisch zu hinterfragen. Nur diejenigen Leser, die für die leidenschaftlichen Briefe der ersten beiden Teile empfänglich seien, könnten diese Verblendung und die aufgeblasene Sprache der Leidenschaft allmählich durchschauen, um am Ende der Lektüre den entsprechenden Nutzen daraus zu ziehen.66 Während dieser Pakt zwischen dem Autor und seinem männlichen Leser, zwischen denen die Problematik der Geschlechterdifferenz suspendiert ist, zu funktionieren scheint, besteht die kritische Zielgruppe wiederum aus weiblichen Leserinnen, denen es bisher, wie Rousseaus fiktives Alter-Ego R. im Dialog einräumt, an guten „institutions“ gemangelt habe.67 Weibliches Lesen tritt in der insti­ tutio des Lesens, wie sie der Entretien sur les Romans inszeniert, in einen impliziten Kontrast zu den distanziert-ironischen Lese-Kommentaren der beiden männlichen Dialogpartner. Dieses Bündnis zwischen Autor und Leser spiegelt damit in gewisser Weise die „neuen gesellschaftlichen Vereinigungen“ („nouvelles asscociations“), die in der sozialpolitischen Utopie von Clarens ebenfalls an den Trugbildern eines weiblichen Begehrens zu zerbrechen drohen, wie sie in Julies Abschiedsbrief an Saint-Preux eine letzte sprachliche Gestalt annehmen.

ableitet. Vgl. Christine Ott: „Julie als empfindsamer Christus. Speisesymbolik und Imitatio Christi in Rousseaus Nouvelle Héloïse“, in Gesine Palmer (Hg.): Fragen nach dem einen Gott. Die Monotheismus­ debatte im Kontext, Tübingen 2007, 73–99, hier 98. 64 Vgl. J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 7 (OC II, 9). 65 Vgl. J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 8–27 (OC II, 11–30). 66 Vgl. J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 13ff. (OC II, 16ff.). 67 Vgl. J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 21 (OC II, 24).

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 Judith Frömmer

In diesem Schwanengesang des empfindsamen Romans, den Rousseau hier bis zum bitteren Ende aus- und zerschreibt, wird jedoch keineswegs die männliche ‚unempfindsame‘ Lektüre ins Recht gesetzt.68 Die Fähigkeit zur distanzierten Beobachtung, wie sie die Lektüre der Protagonisten des Entretien sur les Romans zu kennzeichnen scheint, wird dem Leser der Nouvelle Héloïse in den Clarens-Briefen vor allem durch die Figur Wolmars exemplarisch vorgeführt. Als Vorstand des oikos hatte dieser das soziale Gelingen der Institution der Ehe durch Apathie garantiert. Er wird damit zum Widerpart nicht nur der empfindsamen Figuren des Romans, sondern auch der Empfindsamkeit des Lesers. Wolmars einzige Leidenschaft ist, wie er in einem Selbstporträt darlegt, das wiederum Julie in einem Brief an ihre Cousine Claire referiert, diejenige der Beobachtung: Ich habe von Natur aus eine ruhige Seele und ein kaltes Herz. Ich gehöre zu den Menschen, denen man recht viel Böses nachzureden glaubt, wenn man sagt, daß sie nichts empfinden; das heißt, sie haben keine Leidenschaft, die sie davon abhalten könnte, dem wahren innern Führer des Menschen zu folgen. Ich bin für Schmerz und Freude wenig empfindlich; selbst das Gefühl der Teilnahme und der Menschenliebe, das uns Freud und Leid andrer zu eigen macht, empfinde ich nur schwach. Wenn es mir weh tut, rechtschaffne Menschen leiden zu sehen, so ist dabei kein Mitleid im Spiele; denn ich empfinde keines, wenn ich Bösewichter leiden sehe. Der einzige Grundsatz, der mich belebt, ist eine natürliche Ordnungsliebe; das wohlgefügte Zusammentreffen der Spiele des Schicksals mit den menschlichen Handlungen gefällt mir so ausnehmend wie die schöne Symmetrie eines Gemäldes oder ein gut aufgeführtes Stück auf dem Theater. Habe ich eine ausgeprägte Leidenschaft, so ist es die Lust am Beobachten. Ich liebe es, in den Herzen der Menschen zu lesen. Da nun das meinige mich selten täuscht, da ich meine Beobachtungen mit kaltem Blute und ohne Eigennutz mache und eine lange Erfahrung mir Scharfblick gegeben hat, irre ich mich selten in meinen Urteilen. Das ist auch die ganze Belohnung, die meine Eigenliebe bei meinen steten Studien kennt; denn ich mag selbst keine Rolle übernehmen, sondern sehe nur gern die andern spielen. Die Gesellschaft ist mir angenehm zur Betrachtung, nicht, um ein Teil von ihr zu sein. Könnte ich die Natur meines Wesens ändern und zu einem lebendigen Auge werden, so tauschte ich gern. Meine Gleichgültigkeit gegen die Menschen macht mich also nicht unabhängig von ihnen; ich habe kein Verlangen danach, daß sie mich sehen, ich aber habe das Bedürfnis, sie zu sehen, und ohne mir lieb und wert zu sein, sind sie mir gleichwohl unentbehrlich.69 J’ai naturellement l’ame tranquille et le cœur froid. Je suis de ces hommes qu’on croit bien injurier en disant qu’ils ne sentent rien; c’est à dire, qu’ils n’ont point de passion qui les détourne de suivre le vrai guide de l’homme. Peu sensible au plaisir et à la douleur, je n’éprouve même que très foiblement ce sentiment d’intérêt et d’humanité qui nous approprie les affections d’autrui. Si j’ai de la peine à voir souffrir les gens de bien, la pitié n’y entre pour rien, car je n’en ai point à voir

68  So hat bereits Roland Galle in seiner Interpretation des Romans darauf beharrt, dass insbesonde­ re das Schlussgeständnis einen differenzbejahenden sprachlichen Akt darstellt, der Wolmars Inter­ pretation des Experiments von Clarens den Boden entzieht. Vgl. Roland Galle: „Die Herausbildung bürgerlicher Subjektivität in Rousseaus La Nouvelle Héloïse“, in ders.: Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik, München 1986, 55–171, hier 165–171. 69 J.-J. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, 511–512.



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souffrir les méchans. Mon seul principe actif est le goût naturel de l’ordre, et le concours bien combiné du jeu de la fortune et des actions des hommes me plait exactement comme une belle simétrie dans un tableau, ou comme une piece bien conduite au théâtre. Si j’ai quelque passion dominante c’est celle de l’observation: J’aime à lire dans les cœurs des hommes; comme le mien me fait peu d’illusion, que j’observe de sang-froid et sans intérêt, et qu’une longue expérience m’a donné de la sagacité, je ne me trompe guere dans mes jugemens; aussi c’est là toute la récompense de l’amour propre dans mes études continuelles; car je n’aime point à faire un rolle, mais seulement à voir jouer les autres: La société m’est agréable pour la contempler, non pour en faire partie. Si je pouvois changer la nature de mon être et devenir un œil vivant, je ferois volontiers cet échange. Ainsi mon indifférence pour les hommes ne me rend point indépendant d’eux, sans me soucier d’en être vû j’ai besoin de les voir, et sans m’être chers ils me sont nécessaires (OC II, 490–491).

Bei Wolmars Ästhetik des Sozialen handelt es sich um ein kaltblütiges Beobachten der Regungen des empfindsamen Herzens. Dieses dient ihm gewissermaßen als Material von Sozialisationsexperimenten, welche die institutio nur um den Preis der Anteilnahme und damit der Empathie als Grundbedingung empfindsamer Bündnisse vollziehen können. Aus dieser Perspektive Wolmars, deren Beschränkungen die Nou­ velle Héloïse jedoch immer wieder ausstellt und die in diesem Brief beispielsweise in impliziten Kontrast zur empathischen Anteilnahme seiner Adressatin Claire tritt, hat Rousseau einen empfindsamen Roman geschrieben, der die institutio empfindsamer Herzen paradoxerweise nur durch den Ausfall der Empfindsamkeit oder deren Unterwerfung durch ‚unempfindsame‘ Institutionen der Kontrolle garantieren kann.70 Diese Apathie aber ist, wie Wolmar selbst einräumen muss, asozial: Der Regisseur des sozialen Dramas von Clarens kann selbst kein Teil der Gesellschaft sein; ja er entbehrt sogar des Mitleids, das Rousseau im Discours sur l’inégalité zur anthropologischen Grundausstattung des homme naturel erklärt, von der alle sozialen Tugenden abhingen.71 Die Frage der institutio und der Institutionen hängt in Rousseaus Experiment der petite Société, die in der Nouvelle Héloïse durch die Ehe begründet werden soll, daher nicht nur am Problem, wie man durch einen empfindsamen Roman unempfindsame Leser (und vor allem Leserinnen) erziehen kann. Vielmehr radikalisiert sich in Rousseaus Eheroman in der institutio der Geschlechter letztlich die Frage, ob man menschliche Gesellschaft und ihre Institutionen der Kontrolle unmenschlicher Instanzen unterwerfen will.

70 Als Wiedergänger des Législateur rückt Wolmar damit, wie Stephan Leopold gezeigt hat, das ins „kalte Licht“, was der Contrat social ausspart. Vgl. Stephan Leopold: „Vom corpus politicum zur biopo­ litischen Körperschaft: Rousseau mit Sade“, in Stephan Leopold/Gerhard Poppenberg (Hgg.): Planet Rousseau. Zur heteronomen Genealogie der Moderne, München 2014, 175–190, hier 187–188. 71 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 141–151 (OC III, 154–156).

Alfred Schäfer

Pädagogik als Anti-Institution

Rousseaus paradoxale Strategie einer normalisierenden Entnormalisierung Wer von Pädagogik redet, scheint es mit einem zeitlosen Geschäft zu tun zu haben. Kinder hat es immer gegeben und ebenso gab es immer Überlegungen, wie man diese in das gesellschaftlich für sinnvoll und wertvoll Gehaltene eingliedern kann. Auch wenn dieses für wertvoll Gehaltene sich von der Antike bis in die Moderne von einem öffentlich zentrierten Tugendkatalog hin zu einer eher individuell zentrierten Selb­ ständigkeit verschoben haben mag, so scheinen sich doch bestimmte Programmati­ ken, Einsichten und Regeln gleichsam aus ihrem historischen Kontext heraus verall­ gemeinern zu lassen. So finden sich im theologisch fundierten Liberalismus Lockes Bezüge auf die Bürgertugenden, die Cicero in seinen Pflichtenkatalog aufgenommen hat; und bei allem Ausschluss eines eigenständigen Willens des Kindes, das noch nicht so recht bei Vernunft ist, lassen sich doch selbst Verbindungen zur Reformpä­ dagogik um die Wende zum 20. Jahrhundert feststellen. Immerhin hat Locke seine Programmatik mit Hilfe spielerischen Lernens durchzusetzen versucht und auch das Erlernen von praktischen Berufen in seine Konzeption des ‚Gentleman‘ aufgenom­ men.1 Ersteres lässt sich mit kindlichem Selbstausdruck,2 Letzteres mit der Arbeits­ schulbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Verbindung bringen und so in den Kontext einer Selbstverwirklichungspädagogik oder einer auf praktische Tätigkeiten und Gemeinschaft zielenden Pädagogik stellen.3 Auch Rousseau mit seiner Orientie­

1 Vgl. Walter Euchner: John Locke zur Einführung, Hamburg 2011, 151ff. Euchner bezieht sich auf Lockes Some Thoughts Concerning Education (1693) und die dort verhandelte Zielvorstellung eines ‚Gentleman‘. Solche Beispiele verweisen nicht nur auf eine Außenwahrnehmung der Pädagogik als Disziplin, sondern sie werden auch disziplinintern gepflegt. Man kann sich über die darin zum Aus­ druck kommende unproblematische Ontologie des Pädagogischen nur wundern. 2 Die Vorstellung, dass die Wahrheit des Kindes und damit zugleich eine soziale Veränderungsmög­ lichkeit dadurch einen Raum gewinnen kann, dass dem Kind ein expressiv verstandener Rahmen für einen freien Selbstausdruck zur Verfügung gestellt wird, ist spätestens seit der Kunsterziehungsbe­ wegung der 1890er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der sogenannten ‚Reformpädagogik‘ ge­ worden. Vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim, München 2005, 113ff.; Alfred Schäfer: Zur Genealogie der Pädagogik. Die Neu-Erfindung des Pädagogischen als ‚praktische Wissenschaft‘, Paderborn 2012, 200ff. In der Literatur wird diese ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ meist auf romantische Vorstellungen, aber auch auf Rousseau zurückgeführt – also warum nicht auch auf Locke oder andere Autoren, die die Äußerung von Individuen nicht vorab schon an eine soziale Funktionalität binden? 3 Die sogenannte ,Arbeitsschulpädagogik‘ geht in Deutschland auf Kerschensteiner zurück. Vgl. Georg Kerschensteiner: Begriff der Arbeitsschule, Leipzig, Berlin 1912. Die Verbindung von Wissens­

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 Alfred Schäfer

rung hin auf eine natürliche Entwicklung und dem Konzept der indirekten Lenkung gilt durchweg als ein solcher Stichwortgeber. Hier liegen Anknüpfungspunkte zum romantischen ‚Erlöserkind‘,4 zu einer ‚Pädagogik vom Kinde aus‘, zu einer Stilisie­ rung gelingender pädagogischer Verhältnisse, die Verbindung zu einer ‚Laissez-fairePädagogik‘, zu Autorisierungen der Erzieherfiguren über eine Rhetorik der Selbstauf­ opferung nahe, die sich auch hinreichend belegen lassen. Solche Beispiele ließen sich beliebig ergänzen und sind doch – wegen ihrer Tendenz zur historischen Dekontextualisierung – erklärungsbedürftig. Zwei Ge­sichtspunkte scheinen dabei (neben anderen) bedeutsam zu sein. Erstens stellt sich pädagogisches Wissen in einer solchen Sichtweise als eine Sammlung von Klugheitsregeln dar. Es geht darum, was man wie unter welchen Bedingungen tun soll, wenn man eine bestimmte Zielperspektive hat. Solche Klugheitsregeln gewin­ nen dabei offensichtlich eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den anvisierten Zwecken – oder anders formuliert: Sie lassen sich auch unabhängig von der sys­ tematischen Programmatik, in der sie formuliert wurden, aufrufen. Regelkataloge statt System: Dies bezeichnet ein wohl grundsätzliches Problem des Theoriestatus pädagogischen Wissens. Ein auf Klugheitsregeln ausgerichtetes pädagogisches Wissen mag zwar das – wie auch immer definierte – Beste wollen, aber die Frage nach den Möglichkeiten und Implikationen der pädagogischen Gegenstandskon­ stitution selbst scheint den jeweiligen historischen Selbstverständlichkeiten über­ antwortet zu sein, die zugleich hinreichend vage bleiben, um dekontextualisierte Klugheitsregeln ins Spiel bringen zu können. Eine solche Problematik, in der die systematische Selbstvergewisserung päd­ agogischer Denk- und Handlungsmöglichkeiten abgeblendet bleibt, wird – zwei­ tens – dadurch begünstigt, dass in solchen Klugheitsregeln eine Konzentration auf die Wirksamkeitshoffnung stattfindet. Die Begründung des Ziels und damit auch die Autorisierung des Erziehers, an der letztlich die Systematizität der Konzeption hängt, wird meist selbst nicht als pädagogisches Problem verhandelt. Ob das zu lösende

vermittlung und schulischer Ausbildung sollte hier zu einer ‚staatsbürgerlichen Gesinnung‘ führen. In der pragmatischen Variante John Deweys (Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philo­ sophische Pädagogik, dt. v. Erich Hylla, 3. Aufl., Braunschweig u. a. 1964) war es die gemeinsame und experimentelle Arbeit an vorgefundenen Problemstellungen, die eine demokratische Haltung und die Einübung in eine demokratische Lebensform ermöglichen sollte. Auch wenn solche Vorstellungen sich mit der Erziehung zum ‚Gentleman‘ auf den ersten Blick nur schwer vereinbaren lassen, so ergibt sich doch der Eindruck einer Gemeinsamkeit, wenn man eine pädagogische Bedeutung des ‚Prakti­ schen‘ ohne Referenz auf die systematischen Begründungskontexte postuliert. 4 Diese Verbindung hat vor allem Heiner Ullrich (Das Kind als schöpferischer Ursprung. Studien zur Genese des romantischen Kindbildes und zu seiner Wirkung auf das pädagogische Denken, Bad Heil­brunn 1999) hervorgehoben. Die ‚Suche nach dem verlorenen Ursprung‘ wird in dieser Interpreta­tionslinie zu einem Motiv, das sich bis in die Gegenwart durchhält. Vgl. Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996.



Pädagogik als Anti-Institution 

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Problem aus der vermeintlichen Natur, einer gesellschaftlichen Ordnung oder aus metaphysischen Mutmaßungen über das Humane konstruiert wird – der Pädagogik scheinen ihre Zielstellungen von außen vorgegeben zu werden. Sie hat sich dann (mit Hilfe von Klugheitsregeln, die nur einer rhetorisch allgemeinen Referenz auf die vor­ gegebene Problemstellung bedürfen) um das Versprechen möglicher Wirksamkeit zu kümmern. Anders formuliert: Ihr Konstitutionsproblem, also die Frage der Begrün­ dung ihrer Möglichkeit, zu der gerade auch das Problem der Legitimierbarkeit des Wirksamkeitsversprechens gehört, scheint keine Frage zu sein, mit der sich die Päda­ gogik selbst zu beschäftigen hätte. Auch wenn eine solche Sichtweise sich noch heute unter dem Signum einer ‚Praktischen Pädagogik‘, also einer Pädagogik von der Praxis für die Praxis findet,5 so lässt sich doch gerade an Rousseau zeigen, dass sich dieses Konstitutionsproblem kaum abweisen lässt. Dabei wird hier davon ausgegangen, dass es nicht zuletzt der Wegfall transzendenter und transzendentaler Sicherungen war, die das pädagogische Konstitutionsproblem für Rousseau dringlich machte. Dieser Zusammenhang soll in einem ersten Schritt aufgerufen werden. Die Formulierung der Konstitutionsproble­ matik des Pädagogischen durch Rousseau – und damit dessen Bedeutung für das moderne pädagogische Denken – möchte ich in einem zweiten Schritt skizzieren. Die These ist hier, dass sich bei Rousseau die Konstitutionsproblematik der Pädagogik am Problem ihrer Unbegründbarkeit entfaltet. In einem dritten Schritt versuche ich dann, den anti-institutionellen Einsatz der identitätsfokussierten Pädagogik Rous­ seaus an der fundierenden Institution der Sprache aufzuzeigen. Hier lautet meine These, dass Rousseau über die imaginäre Konstruktion eines anti-institutionellen Raums versucht, die Möglichkeit einer gelingenden Pädagogik rhetorisch zu erzeu­ gen. Dieses Gelingen scheint wiederum daran zu hängen, dass die Möglichkeit einer Sprache vorgeführt wird, deren Bedeutungen als jedem sozial infizierten und prob­ lematischen Gebrauch vorgängig angenommen werden können. Schließlich will ich – in einem vierten Schritt – zeigen, wie Rousseau dieses imaginierte Ergebnis einer anti-institutionellen Pädagogik in eine differentielle Beziehung zur Problematik der vorgefundenen gesellschaftlichen Institutionen setzt.

5 An anderer Stelle habe ich der Durchsetzung dieser hegemonialen Figur eine ausführliche Untersu­ chung gewidmet. Vgl. Alfred Schäfer: Zur Genealogie der Pädagogik. Die Neu-Erfindung der Pädagogik als „praktische Wissenschaft“, Paderborn u. a. 2012.

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 Alfred Schäfer

1 Die Krise transzendenter und transzendentaler Ordnungsbegründungen Man könnte versucht sein, die angedeutete Verortung pädagogischer Vergewisserun­ gen im Bereich der Klugheitsregeln und Wirkungshypothesen mit Hilfe der Annahme zu plausibilisieren, dass darin ein Vertrauen auf die Ordnung der Welt zum Ausdruck komme. Anders formuliert: Solange die Welt und damit auch die soziale Ordnung transzendent abgestützt war, solange man auf einen Logos oder einen Schöpfergott vertrauen konnte, habe sich das Begründungsproblem des Pädagogischen nicht in voller Schärfe gestellt. Solange die Ordnung der Welt durch ein transzendentales Sig­ nifikat abgestützt war, mochte es zwar auf der Immanenzebene, das heißt bei der Frage konkreter Handlungen und Orientierungen, eine gewisse Unsicherheit geben, aber diese konnte keine systematische oder fundamentale Bedeutsamkeit erlan­ gen. In seiner Rekonstruktion des Verhältnisses von Moderne und Kontingenz hat Makropoulos geltend gemacht, dass in antiken und mittelalterlichen Vorstellungen die Kontingenz, also die Vorstellung, dass etwas nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich ist, sich auf den Bereich von Handlungsweisen und nicht auf den der Ordnung selbst erstreckt habe.6 Solange die Grundlagen des menschlichen Selbstund Weltverhältnisses den Menschen selbst nicht zur Verfügung stehen, kann sich ein möglicher Streit um das Wahre und Richtige folglich nur auf konkrete Auffassun­ gen und Orientierungen beziehen und bleibt damit begrenzt. Nun findet aber eine allzu harmonische Interpretation einer transzendenten Absi­ cherung von Welt und sozialer Ordnung ihre Grenze daran, dass der (transzendente) Grund immer auch das Andere der gegebenen Ordnung ist: Er kann nur solange als Grund behauptet werden, wie er nicht mit dem von ihm Gegründeten zur Einheit zu bringen ist. Von der nicht zu schließenden Differenz von (transzendentem) Grund und Gegründetem wissen schon die Initiationsriten ‚traditioneller‘ Kulturen, die diese Differenz in das (dezentrierte) Subjekt eintragen, das mit der sozialen Funktion zugleich eine (ihm unverfügbare) Identität erhält, die aus der Begegnung mit dem Göttlichen ‚geboren‘ wurde.7 Von ihr wissen auch das platonische Höhlengleichnis sowie die gnostischen und neuplatonischen Stufenlehren, aus denen nicht zuletzt mystische Vorstellungen entstanden sind, die eine voraussetzungsvolle Berührung von transzendentem Grund und Gegründetem beabsichtigen, die sich gegen jede Dis­

6 Vgl. Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München 1997, 16f. 7 Ich bin solchen Initiationsriten im Rahmen verschiedener Feldforschungen nachgegangen. Vgl. Alfred Schäfer: Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo), Berlin 1999 sowie ders.: Das Unsichtbare sehen. Zur Initiation in einen Voodoo-Maskenbund, Münster 2004. An anderer Stelle habe ich die Verbindung der in diesen Riten zutage tretenden Identi­ tätsproblematik mit antiken und christlichen Transzendenztheorien untersucht. Vgl. Alfred Schäfer: Die Erfindung des Pädagogischen, Paderborn u. a. 2009, 25–114.



Pädagogik als Anti-Institution 

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kursivierung sperrt. Ob es überhaupt möglich ist, mit einer immer verliehenen und daher stellvertretenden Autorität im Namen des transzendenten Grundes (sei dieser als Idee des Guten oder als Gott angegeben) zu sprechen, stellt eine mit menschlichen Mitteln kaum hinreichend zu beantwortende Frage dar. Man wird, um einen solchen Anspruch zu rechtfertigen, wohl auf mythische Erzählungen oder Offenbarungen zurückgreifen müssen. Auf diese Weise mag man zwar soziale Hierarchien (von Pries­ ter-Philosophen oder religiös legitimierten Würdenträgern) etablieren können, aber deren Akzeptanz hängt letztlich noch daran, dass diese als Repräsentanten des tran­ szendenten Grundes gelten. Aus politischer, aber auch aus pädagogischer Perspek­ tive wird es unter diesen Voraussetzungen darauf ankommen, diese Repräsentation als solche zu affirmieren. Jenseits solcher Hierarchiebildungen ist ebenso eine Arbeit an sich selbst vorstellbar, die sich um ein tugendhaftes Leben bemüht, in dem sich eine unendliche Wahrheit und endliches Bemühen verschränken sollen, ohne dass Menschen über ein letztes Kriterium des Gelingens verfügen würden. Diese groben Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, dass auch die Einbettung pädagogischer Perspektiven in den Rahmen einer transzendenten Absi­ cherung nicht konfliktfrei verläuft. Und dennoch ist es gerade die unüberbrückbare Differenz von transzendentem Grund und immanenten Auseinandersetzungen, die die Grenzen eines systematischen Kritikanspruchs festlegt. Eine solche Möglichkeit – und damit auch die Perspektive darauf, dass es in den Händen der Menschen liegen könnte, eine Grundlegung ihres eigenen Selbst- und Weltverhältnisses zu leisten – ergibt sich erst nach dem Zerbrechen transzendenter Gewissheiten. Welchen Beitrag zur Auflösung dieser transzendenten Letztsicherun­ gen die Religionskriege des 16. Jahrhunderts, die damit in Verbindung zu sehende radikale Skepsis Montaignes, die allmähliche Transformation des Verhältnisses von Wissen und Glauben oder die aus dieser Transformation resultierende Vergewisse­ rung der Funktion eines ‚transzendentalen‘ (wenn auch noch göttlich gestützten) Subjekts durch Descartes geleistet haben, und wie groß der Einfluss der ‚protestan­ tischen Ethik‘ als Säkularisierungsfigur kapitalistischer Haltungen, der naturrechtli­ chen Begründungen staatlicher Ordnung oder der politökonomischen, zunehmend den Markt in das Zentrum der Vergesellschaftung rückenden Lehren gewesen sein mag, kann hier offen bleiben. Alle diese ‚Herkünfte‘8 rücken die Menschen in ihren gesellschaftlichen (immanenten) Verwicklungen in eine Grundlegungsposition für die eigenen Selbst- und Weltverhältnisse. Dem bis dahin durch transzendente Siche­ rungen eingedämmten Konflikt droht seine Entgrenzung. Wenn aber weder Gott noch andere transzendente Sicherungen ein menschlich nicht in Frage zu stellendes Fundament menschlicher Auseinandersetzungen mehr

8 Ich verwende dieses Konzept hier in der genealogischen Fassung, die ihm (in der Nachfolge Nietz­ sches) Foucault gegeben hat. Vgl. Michel Foucault: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in ders.: Von der Subversion des Wissens, hg. u. übers. v. Walter Seitter, Frankfurt/Main 1987, 69–90.

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darstellen, dann droht sich die Kontingenz der menschlichen Selbst- und Weltverge­ wisserungen zu verselbständigen. Unter diesen Bedingungen wird die Berufung auf das Überkommene oder selbst transzendente Ordnungsmuster als nicht unmöglich, aber eben auch nicht notwendig, als eine bestreitbare Argumentation wahrnehmbar. Die damit verbundene Kontingenz macht zugleich den Horizont einer anderen, einer offenen Zukunft frei. Der Historiker Koselleck spricht davon, dass Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auseinander treten.9 Wenn aber die Gegenwart weder durch die Gegenwart noch durch eine offene Zukunft bestimmt werden kann, dann wird diese durch eine doppelte Kontingenz bestimmt, die als solche den Raum für offene politische (das heißt begründungstheoretische) Auseinandersetzungen bildet. Es war die Natur des Menschen und schließlich seine (einheitliche) Vernunft, die hier eine Grundlegung jenseits endloser Auseinandersetzungen bilden sollte. Natur und Vernunft sollten Ruhepunkte in Form von Kriterien angeben, die selbst dem Streit entzogen sein sollten. War der Rekurs auf die menschliche Natur eher noch metaphysisch konnotiert, so war mit jenem auf die menschliche Vernunft der Anspruch einer transzendentalen Grundlegung verbunden. Seine Vernunft sollte es dem Menschen ermöglichen, sich selbst eine Grundlage seines (empirisch-imma­ nenten) Selbst- und Weltverhältnisses zu geben. Eine solche Funktion könnte die Vernunft aber nur behaupten, wenn sie selbst der Verstrickung in die immanenten Selbst- und Weltverhältnisse der Individuen entzogen wäre, es also die Möglichkeit eines rein transzendentalen Subjekts gäbe. Eine solche Möglichkeit aber kann allen­ falls postuliert werden: Das transzendentale Subjekt bleibt – wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft sagt – ein X, etwas, über das sich nichts aussagen lässt, ohne in eine vorkritische Metaphysik, das heißt in die Vorstellung eines transzendenten Grundes, zurückzufallen.10 Selbst unter der Voraussetzung, dass die Vernunft ein einheitliches menschliches Vermögen darstellt, das nicht mit individuellen oder sozialen Rationa­ litätsvorstellungen zusammenfällt, lässt sich die Möglichkeit einer transzendentalen Gründung von menschlichen Selbst- und Weltverhältnissen allenfalls postulieren.

9 Vgl. Reinhard Koselleck: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategori­ en“, in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, 349–375. Für Koselleck resultieren daraus nicht zuletzt ‚Bewegungsbegriffe‘ (unter die sich auch Erziehung und Bildung subsumieren ließen), über die sich sowohl Fortschrittsvorstellungen als auch -problematisie­ rungen artikulieren lassen. 10 Vgl. Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“, in ders.: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IV: Kritik der reinen Vernunft 2, Frankfurt/Main 1974, 346. Hutter hat Kants Auseinandersetzungen mit der Abgründigkeit eines unbedingten Grundes im Subjekt bis hin zur Kritik der Urteilskraft nach­ gezeichnet. Vgl. Axel Hutter: Geschichtliche Vernunft. Zur Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt/Main 1996 sowie ders.: Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Ham­ burg 2003.



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Es kann hier nicht darum gehen, die romantischen wie auch die dem Deutschen Idealismus zuzurechnenden Reaktionsweisen auf diese Problemlage aufzurufen.11 Auch ist hier zu vernachlässigen, dass man sich seit dem 19. Jahrhundert darum bemüht, die Möglichkeiten des Vernünftigen anthropologisch, zumindest aber in einem Anderen der Vernunft zu fundieren, dass man mithin – wie man mit Foucault sagen könnte – ‚empirisch-transzendentale Dubletten‘ entwirft.12 Entscheidend ist vielmehr, dass nach der Berufung auf eine transzendente Grundlegung auch die Perspektive scheitert, menschliche Selbst- und Weltverhältnisse auf eine transzen­ dentale Vernunft, auf sich selbst als zweifelsfrei vernünftig wahrnehmendes Wesen zu gründen. Weder scheint noch eine Position möglich zu sein, die im Namen einer transzendent verbürgten Ordnung sprechen kann, noch ergibt sich die Möglichkeit einer Begründungsperspektive, die für sich den transzendentalen Standpunkt einer vernünftigen Subjektivität zweifelsfrei reklamieren könnte. Die Geltungsbedingun­ gen und Begründungsmöglichkeiten von Praktiken und Institutionen, aber auch die­ jenigen symbolischer Vergewisserungen werden problematisch. Dass sich diese Problematik nicht zufällig an der Frage der Integration des Nachwuchses in die bestehenden und zugleich problematischen beziehungsweise problematisierbaren gesellschaftlichen Ordnungen aufdrängt, erscheint dabei plau­ sibel. Der Bereich der Erziehung wird gleichermaßen als Medium der Überwindung überkommener Ordnungen wie auch als Hoffnungsträger für die Möglichkeit besse­ rer humaner Lebenswirklichkeiten adressiert. Das wiederum ist nur dann möglich, wenn einerseits die Bindung pädagogischer Programme an vorgegebene transzen­ dente Ordnungsvorstellungen aufgegeben wird, wie sie sich etwa im 17. Jahrhundert noch im pädagogischen Entwurf des Comenius finden.13 Andererseits entfallen aber auch zunehmend funktionale Orientierungsmuster, die sich an der gegebenen Sozi­ alordnung, an deren ständischer Organisation oder auch an ‚Ausbildungsperspekti­ ven‘ orientieren. Das Erziehungsproblem der Moderne weist über die Verstrickungen in soziale Organisationsformen und symbolische Selbstverständlichkeiten hinaus: Es adressiert den ‚Menschen‘ und nicht den ‚Bürger‘. Es zielt auf eine menschliche

11 Zu den frühromantischen Bemühungen um eine immanente Transzendenz gibt es eine Reihe erhellender Untersuchungen. Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vor­ lesungen, Frankfurt/Main 1989; Herbert Uerlings: Friedrich Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991; Dieter Henrich: Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–95), Stuttgart 1992. Zur Bearbeitung der abgründigen Grundlegung im Deutschen Idea­ lismus vgl. Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997; Christian Iber: Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorle­ sungen über den Deutschen Idealismus, Frankfurt/Main 1999. 12 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, a. d. Franz. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1974, 384ff. 13 Einen guten Überblick über das pädagogische Werk von Comenius bietet Klaus Schaller: Johann Amos Comenius. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2004.

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Selbstbestimmung, die sich zu sozialen Gegebenheiten, aber auch zur doppelten Kontingenz von Vergangenheit und Zukunft noch einmal ‚im eigenen Namen‘ ver­ halten kann. Ein solcher ‚Mensch‘ bildet dabei einen imaginären Bezugspunkt, in dem empirisches Sein und transzendentale Intelligibilität zusammenfallen sollen. Zugleich verstrickt dieser Bezugspunkt das moderne pädagogische Denken in eine Paradoxie: Schließlich geht es darum, die Möglichkeit eines solchen Menschen durch soziale Beeinflussung zu erschaffen – eine soziale Beeinflussung, die immer schon mehr und anderes sein muss als ‚nur‘ eine soziale Beeinflussung. Erziehung müsste also etwas (einen autonomen, vernünftigen Menschen) bewirken, was sich als solches nicht bewirken lässt. Kant fasste diese aporetische Konstellation in die Frage, wie man zur Freiheit durch pädagogischen Zwang kommen könne.14 Das moderne päd­ agogische Projekt scheint seine Möglichkeiten somit letztlich vor dem Hintergrund seiner Unmöglichkeit gewinnen zu müssen.

2 Die unmögliche Grundlegung moderner Pädagogik Rousseau war nicht der Erste und auch nicht der Einzige, der die Naturwüchsigkeit der Überlieferung und die Verdorbenheit der gesellschaftlichen Zustände zum Anlass für einen pädagogischen Entwurf nahm. In der Pädagogik gilt er allerdings als der­ jenige, der zuerst das Eigenrecht und die Eigenart des Kindes zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht hat.15 Mit der ‚sinnlichen Vernunft‘ hat er die Anders­ artigkeit des kindlichen Weltzugangs und Selbstverständnisses gegenüber der Per­ spektive der Erwachsenen betont. Wie die ,Wilden‘ wird auch das Kind dem normali­ sierten Erwachsenen gegenüber fremd.16 Als ‚fremdes‘ steht das Kind gleichsam für die Begründungsbedürftigkeit gegebener sozialer Ordnungsmuster und eingespielter Selbstverständlichkeiten, aber auch für die menschliche Möglichkeit einer anderen,

14 Vgl. Immanuel Kant: „Über Pädagogik“, in ders.: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XII: Schrif­ ten zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt/Main 1977, 691–761. Kant entwickelt ein Stufenmodell der Erziehung, das mit der Disziplinierung der Begierden, der kul­ tivierenden Einführung qua Belehrung und der Zivilisierung hin auf den Stand der gesellschaftlich entwickelten Moral einsetzt, das dann aber auf der Stufe der Moralisierung in die hier erwähnte Paradoxie führt. Zum Paradoxieproblem in der Pädagogik vgl. auch Michael Wimmer: Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, Bielefeld 2006. 15 Im Anschluss an Philippe Ariès (Die Geschichte der Kindheit, m. e. Vorwort v. Hartmut v. Hentig, a. d. Franz. v. Caroline Neubaur u. Karin Kersten, München 1975) hat man sich angewöhnt, von einer ‚Entdeckung der Kindheit‘ als einem eigenständigen Bereich zu sprechen, der nicht nur als defizitäre Vorstufe zum Erwachsenen zu verstehen ist. 16 Lévi-Strauss hat Rousseau geradezu als Entdecker der Ethnologie gefeiert, für den der (sympa­ thisierende) Zugang zum Fremden nur auf dem Weg der Selbstbefremdung möglich sei. Vgl. Claude Lévi-Strauss: „Rousseau – Begründer der Wissenschaften vom Menschen“, in ders.: Strukturale An­ thropologie II, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/Main 1975, 35–46.



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einer besseren zukünftigen Ordnung. Man kann einen solchen Gedanken einerseits (gleichsam im Vorgriff auf die Romantik) dahingehend ausbuchstabieren, dass Kinder (wie ,Wilde‘) der Natur näher und deshalb unverdorben seien und als gewissermaßen ‚natürliche Wesen‘ das Versprechen einer besseren Welt transportierten. Für diese Lesart ist Rousseau äußerst folgenreich gewesen: Sie ist durchaus anschlussfähig an die bereits erwähnte Sammellogik von Klugheitsregeln. Alles kommt hier darauf an, dem Kind Entfaltungsräume zu bieten – und das kann auf die unterschiedlichsten Weisen geschehen. Voraussetzung für eine solche Lesart ist allerdings – und diesen Geist atmet ja auch die Argumentationslogik des Émile – die Vorstellung, dass die so angesetzte Fremdheit des Kindes gegenüber dem Erwachsenen von diesem doch entschlüsselt und für seinen Umgang mit Kindern verfügbar gemacht werden kann. Die von Rousseau angenommenen und um das Verhältnis von Wünschen und Fähig­ keiten gruppierten Entwicklungsstufen stellen eine solche Aufhebung der vorausge­ setzten Fremdheit dar: In ihnen wird die Fremdheit des ‚tierischen‘ Naturzustandes übersetzt in eine Logik von Entwicklungsstufen, auf die pädagogisch adäquat rea­ giert werden kann. Eine derartige Lesart, die sich dem Paradox der Fremdheit – der ‚zugänglichen Unzugänglichkeit‘17 – nicht stellt, sondern das Unzugängliche einfach zugänglich macht, ist hier uninteressant, weil sie lediglich die Logik pädagogischer Klugheitsre­ geln fortzuführen erlaubt. Allerdings lässt sich bei Rousseau auch noch ein anderer Umgang mit dieser Paradoxie feststellen. Die Irritation des Selbst- und Weltzugangs der Erwachsenen durch die kindliche Fremdheit wird ja von Rousseau nicht auf tradi­ tionelle Weise so gedacht, dass die kindliche Vernunft defizitär sei und nur ihrer Ent­ wicklung zur erwachsenen Rationalität harre. Sie hat für ihn vielmehr einen – gleich­ rangigen – Eigenwert. Das aber heißt nichts anderes, als dass sie geeignet ist, den alleinigen und daher selbstverständlichen Geltungsanspruch der in der Gesellschaft der Erwachsenen gegebenen Rationalität grundsätzlich in Frage zu stellen: Andere und gleichwertige Rationalitäten sind möglich. Die erwachsene Rationalität hat also kein Recht, die kindliche zu kolonisieren. Noch entscheidender aber ist: Sie kann sie aufgrund ihrer Immanenz nicht einmal verstehen.18

17 Die Paradoxie der Fremdheit in diesem Sinne ist vor allem von Waldenfels expliziert worden. Vgl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zu einer Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt/Main 1997. 18 Über die Fremdheit des Kindes ergibt sich die Unmöglichkeit eines ‚transzendentalen Standpunk­ tes‘ des Erziehers. Rousseau gewinnt auf diesem Weg eine radikale erkenntniskritische Position, die sich noch auf den eigenen Standpunkt erstreckt. Die damit verbundene Frage nach den Grenzen der Begründbarkeit seiner eigenen kritischen Position war schon Gegenstand der Auseinandersetzungen gewesen, die Rousseau und seine Kritiker im Anschluss an den ersten Discours geführt hatten. Seiner­ zeit war es Rousseau nicht gelungen, für seine Kritik an der Aufklärung einen rational begründbaren Standpunkt jenseits des Kritisierten anzugeben.

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Genau damit ist das grundsätzliche Problem der Möglichkeit von Pädagogik als Pädagogik gestellt: Wie soll diese als unmögliches Projekt, als Projekt, dem mit dem Verständnis des Adressaten die Grundlagen und mit seiner Anerkennung als gleich­ wertig und fremd die Legitimation fehlen, dennoch möglich sein? Diese konstituti­ onstheoretische Problematisierung des Pädagogischen ist neu. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen kann man sagen, dass dieses Problem der Päd­ agogik seine Dramatik in einer doppelten Hinsicht gewinnt. Erstens kann man sich nicht mehr auf die Selbstverständlichkeit transzendenter Bezugspunkte stützen: Die Fremdheit der kindlichen Rationalität unterläuft jene metaphysischen Sicherungen, die unter Rekurs auf die eine menschliche Natur oder den einen Gott versucht hatten, das Gegebene als selbstverständlich Gegründetes oder Begründbares auszuweisen. Und zweitens – das ist die eigentlich moderne Wendung – erlaubt es diese kindliche Fremdheit aber auch dem Erwachsenen als Pädagogen nicht mehr, im Rahmen seiner nur noch vermeintlich selbstverständlichen Rationalität für das Kind zu sprechen, dessen eigene Rationalität er letztlich nicht verstehen kann. Damit fällt nach der tran­ szendenten nun auch die transzendentale Sicherung weg.19 Man wird sicherlich nicht sagen können, dass Rousseau diese Konsequenzen vollständig durchdacht hätte, dass er also die aus dem Wegfall transzendenter und transzendentaler Sicherungen sich ergebende Grundlosigkeit als Problem erkannt und sie im Hinblick auf seine Pädagogik konstitutionstheoretisch reflektiert hätte. Gleichwohl trägt er ihr in seinem programmatischen Entwurf insofern Rechnung, als er darin eine Logik des Unwahrscheinlichen formuliert.20 Diese Logik zeigt sich in der eingestandenen und betonten Fiktionalität des ganzen Entwurfs: Die Figur des Erziehers wird von Rousseau immer schon kontrafaktisch mit allen notwendi­ gen Qualitäten versehen, die er zur Durchführung seiner Aufgabe braucht.21 Auch der Adressat der Erziehung wird in seiner Normalität und Durchschnittlichkeit als fiktiver Bezugspunkt eingeführt.22 Die Fiktionalität zeigt sich zudem im Status der von den Personen gemachten Aussagen und im rhetorischen Charakter der pädago­ gischen Programmatik.23 Es mögen weiterhin Klugheitsregeln sein, die sich in dieser

19 Gamm bezeichnet genau diesen doppelten Wegfall transzendenter wie transzendentaler Siche­ rungen als Kennzeichen der Moderne und damit zugleich als Problem jeder normativ-ethischen Be­ gründung. Vgl. Gerhard Gamm: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/ Main 2000, 207ff. 20 Darauf hat Jürgen Oelkers hingewiesen. Vgl. ders.: „Rousseau und die Entwicklung des Unwahr­ scheinlichen im pädagogischen Denken“, in Zeitschrift für Pädagogik 30 (1983), 801–816. 21 „Bei der Lektüre des Buches wird man sehen, mit welcher Freigebigkeit ich mich bedacht habe.“ Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung, Leipzig 1963, 135 (OC IV, 265). 22 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 137, 140f. (OC IV, 266, 268–269). 23 Die Rahmung des Émile erfolgt daher auch über eine rhetorische Figuration der Beteiligten und des pädagogischen Raumes. Dass Erzieher und Zögling niemals getrennt werden dürfen, dass ein Erzieher daher nur ein Kind erziehen kann, dass dieser Erzieher alle Bedingungen des Aufwachsens



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Programmatik finden, aber es handelt sich um Fiktionen auf einem Gelände, auf dem Sicherheiten nur noch rhetorisch hervorgebracht werden können. Die Frage, ob die unterstellten Voraussetzungen überhaupt realistisch sind, klammert Rousseau von vornherein aus: Weiß man denn, zu welchem Grad von Rechtschaffenheit eine menschliche Seele in diesen Zeiten der Würdelosigkeit noch in der Lage ist? Aber nehmen wir an, wir hätten dieses Wunder gefunden. Durch die Betrachtung dessen, was er zu tun hat, sehen wir auch, wie er sein muss.24 En ces tems d’avilissement qui sait à quel point de vertu peut atteindre encore une ame humaine? Mais supposons ce prodige trouvé. C’est en considérant ce qu’il doit faire que nous verrons ce qu’il doit être (OC IV, 263).

Es geht darum, die Leser mit rhetorischen Mitteln von der Richtigkeit einer Program­ matik zu überzeugen, die auf fiktiven Voraussetzungen beruht. Was sich auf diese Weise also mit Rousseau ändert, das ist der Status des Päd­ agogischen: Aufgehängt an imaginären Zielvorstellungen, wie etwa der natürlichen Entwicklung unter sozialen Bedingungen, werden ästhetisch überzeugende Mög­ lichkeitsszenarien entworfen. In diesen Möglichkeitsszenarien werden Passungen, Kohärenzen und Bestimmtheiten erzeugt, deren Überzeugungskraft letztlich davon abhängt, dass ihr kontrafaktischer Charakter zumindest den Anschein einer gewis­ sen Wahrscheinlichkeit erhält.25 Auf diese Weise lässt sich der Problematik Rechnung tragen, dass Erwachsene weder über sie autorisierende Gründe noch über zukunfts­ erschließende Zielperspektiven verfügen, die einen paternalistischen Verfügungs­ anspruch zweifelsfrei begründen könnten. Konstruieren lassen sich allenfalls – und durchaus nicht ohne Begründungsaufwand – imaginäre Möglichkeitsräume. Im Folgenden möchte ich nun zeigen, dass sich der entsprechende Begründungs­ aufwand bei Rousseau mit einem anti-institutionellen Einsatz verbindet. Dieser Einsatz, so lautet die zwar nicht neue, aber hier anders akzentuierte These, besteht im Fluchtpunkt einer Identität mit sich selbst, die über eine bestimmte Vorstellung des Spracherwerbs vermittelt wird.

muss beeinflussen können – diese Grundsätze sollen den pädagogischen Raum bestimmen. Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 134ff. (OC IV, 265–269). 24 J.-J. Rousseau: Emil, 132. 25 Dass diese Figuration sich nicht nur bei Rousseau, sondern auch bei anderen ‚Klassikern‘ der Pädagogik (etwa bei Schiller, Humboldt, Herbart oder Schleiermacher) als Reaktion auf das Problem der Moderne findet, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht. Vgl. A. Schäfer: Erfindung, 231–359.

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3 Die pädagogisch vermittelte Unmittelbarkeit von Authentizität und Weltpräsenz Fasst man Institutionen als verbindliche Ordnungs- und Sinnzusammenhänge, die Rahmungen für individuelles Denken, Urteilen und Handeln vorgeben, dann lautet eine konservative Lesart, dass in diesen individuellen Artikulationen nur Besonderun­ gen eines vorgängigen Allgemeinen zum Ausdruck kommen.26 Eine kritische Lesart wird hingegen die individuellen Entscheidungs- und Signifizierungsspielräume des Subjekts gegenüber den an es herangetragenen Erwartungen betonen. Wenn eine solche Perspektive nicht die Möglichkeit eines intelligiblen Standpunkts postulieren will, steht sie vor dem Problem, dass auch noch die kritische Positionierung in den Horizont des vorausgesetzten Allgemeinen fällt.27 Einer solchen einfachen Oppositi­ onsbildung von sozialer Funktionalisierung des Individuellen und einem gegen das Allgemeine gerichteten Emanzipationsanspruch des individuellen Subjekts kann man entgehen, wenn man das Verhältnis beider im Sinne einer ‚negativen Dialektik‘28 oder differenztheoretisch versteht. In der differenztheoretischen Lesart geht man davon aus, dass das vorausgesetzte ‚Allgemeine‘ das konkrete Handeln nicht hervorbringen kann, sondern dass es selbst als Voraussetzung dieses Handelns in dessen Vollzug (performativ) immer wieder neu hervorgebracht werden muss. Als Paradefall einer solchen differenztheoretischen (medialen) Institutionstheorie gilt die Sprache.29 An ihr lässt sich die Aufhebung der institutionentheoretischen Gegenüberstellung von Subjekt und Institution zeigen. Gemeint ist damit nicht nur, dass die Unterscheidung von Individuum und Ins­ titution selbst ein Moment der Sprache als Institution ist. Gemeint ist auch, dass die Sprache als Institution selbst nur als gesprochene und daher als individuelle eine soziale Erscheinung darstellt. Anvisiert ist damit nicht nur ein ‚Sowohl-als-auch‘

26 In der Spur einer bestimmten Lesart von Hegels Rechtsphilosophie lassen sich hier sowohl kom­ munitaristische als auch strukturfunktionalistische Ansätze verorten. Nicht zuletzt lebt die anthropo­ logische Entlastungstheorie Gehlens von dieser Rahmung. Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spät­ kultur, Frankfurt/Main 1975. 27 So die Kritik Gadamers an der von Jürgen Habermas (Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main 1968) formulierten Idee eines vorgängigen emanzipatorischen Erkenntnisinteresses. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung die Beiträge in Karl-Otto Apel et al. (Hgg.): Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/Main 1971. 28 Adornos Verfahren der negativen Dialektik geht von einer konstitutiven Widersprüchlichkeit bei­ der Seiten aus, die in keiner harmonischen Versöhnung aufgehoben werden kann. Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966. 29 Siehe dazu Jacques Derrida: „Signatur, Ereignis, Kontext“, in ders.: Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, a. d. Franz. v. Gerhard Ahrens, Wien 1988, 291–314. Der Aufsatz ist eine wichti­ ge Inspirationsquelle für die Vertreter einer ‚poststrukturalistischen Sozialwissenschaft‘. Vgl. Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hgg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt/Main 2008.



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derart, dass einerseits die Sprache nur als individuell gesprochene eine soziale Wirk­ lichkeit darstellt und dass andererseits das Individuum sich als Subjekt des Spre­ chens nur mit Hilfe der Sprache verstehen kann. In den Blick gerät damit auch eine Situation der Unentscheidbarkeit, die jeden Grundlegungsversuch einholt: Die Alter­ native, ob das Sprechen der Sprache ein intentionaler Akt ist oder ob dieses Gesche­ hen dem Individuum einen über seine Regelhaftigkeit vermittelten Ort zuweist, den es ohne dieses Geschehen gar nicht hätte, ist nicht zu entscheiden. Dies bedeutet, dass das Subjekt seinen Ort einerseits nur über das institutionellregelhafte Geschehen der Sprache findet, dass aber zugleich dieses institutionelle Geschehen auf eine Intentionalität angewiesen ist, die nie nur die eines einzigen Sprechers ist, sondern darüber hinaus immer auch einen Ort in der Sprache darstellt. Das sprechende Individuum kann sich nur mittels der Sprache, also regelhaft adres­ sieren; zugleich ist es selbst aber so etwas wie eine Unterbrechung der Regel. Die Differenz von Regel und ‚Subjekt‘ zeigt an, dass eine Fundierung des Einen durch das Andere nicht möglich ist. Und sie verweist damit auf eine Grundlosigkeit, die jeden Begründungsversuch im Rahmen dieser Konstellation zu einer rhetorisch-strategi­ schen Operation macht. Es ist diese Differenz von Regel und Unterbrechung, von ‚Gesetz‘ und ‚Indi­ viduum‘, die Unmöglichkeit ihrer Identität, die in Rousseaus Perspektive den stra­ tegischen Raum der Sprachverwendung ebenso eröffnet wie die Rede von der Ent­ fremdung des Individuums. Jedoch ist es wichtig zu berücksichtigen, dass vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen eine Alternative, wie sie in der Forderung nach einer authentischen Verfügung über die Sprache beziehungsweise der Erfindung einer authentischen Sprache zum Ausdruck kommt, gar nicht möglich ist. Schließlich kann es auch eine solche Forderung, wie sie Rousseau erhebt, nur in einem regelgeleiteten Sprechen geben, das als solches dem Sprecher einen Ort anweist, in dem dieser zwar nicht aufgeht, jenseits dessen er aber auch nicht identifiziert werden kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Verweis auf eine Sprache, die ein authentisches Sprechen ermöglichen soll, nur als rhetorische Strategie verstehen. Auch in der kritischen Reflexion kann die Differenz von Regelhaftigkeit und Unter­ brechung nicht aufgehoben, sondern immer nur erneut artikuliert werden. Das war die Erfahrung, die Rousseau nach dem Erfolg seines ersten Discours machen musste, als man ihn nach dem Ort jenseits der von ihm kritisierten sozialen Verkehrsformen fragte, nach der Möglichkeit eines Sprechens, das für sich selbst in Anspruch nimmt, der kritisierten Regelhaftigkeit nicht zu unterliegen. Das Problem der Institution, wie es hier an der grundlegenden Einrichtung der Sprache bestimmt wurde, besteht also darin, dass es keinen angebbaren Ort des Sub­ jekts zu geben scheint, der sich zur Institution anders als institutionell in ein Verhält­ nis setzen könnte, dass es aber gleichzeitig auch keinen Ort gibt, der für sich eine eindeutige Repräsentation des Allgemeinen beanspruchen könnte. Wenn man dieses Problem nun zu der oben beschriebenen Grundsatzproblematik des Pädagogischen in ein Verhältnis setzt, kann man fragen, wie denn überhaupt der Raum jener kind­

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lichen Andersartigkeit als Fremdheit auch gegenüber dem Institutionellen gedacht und in der pädagogischen Programmatik als Versprechen aufrechterhalten werden soll. Die strategische Option für den anti-institutionellen Einsatz einer ‚natürlichen‘ Erziehung, als Gegenentwurf zur verdorbenen Gesellschaft, wird sich gerade hier zeigen müssen. Anders formuliert: Émile wird eine Sprache entwickeln müssen, die jene institutionelle Logik der Unentscheidbarkeit zwischen Subjektivität und Insti­ tution und damit den Raum eines niemals anders als rhetorisch zu begründenden Sprechens unterläuft: Eine Sprache, die zumindest für einen bestimmten Zeitraum – jenen der fremden Kindheit – diesseits dieser Unentscheidbarkeit bleibt. Zunächst wird man festhalten müssen, dass es mit dieser Zielstellung um mehr geht als um die Aufhebung jenes instrumentell-strategischen Gebrauchs der Sprache, jener verlogenen Schmeicheleien und Täuschungen, denen Rousseaus Gesellschafts­ kritik gilt. Es geht – wie er im zweiten Discours auf dieser Linie konsequent feststellt – grundsätzlich um die Gesellschaftlichkeit selbst. Sie bedeutet für Rousseau nicht weniger als den Verlust der Unmittelbarkeit, das Ende des Naturzustands als eines Zustands ohne Sprache und Sozialität. Mit dem Eintritt in die Gesellschaft vollzieht sich zugleich der Eintritt in jene Logik der Unentscheidbarkeit, die es dem Subjekt fortan unmöglich macht, sich in ein gewissermaßen exterritoriales Verhältnis zum Sozialen zu setzen. Vor diesem Hintergrund lautet die unmögliche pädagogische Problemstellung, eine Einführung in die Institution der Sprache und die mit ihr ver­ bundene Sozialität zu geben, bei der das Verhältnis von Individuum und Institution nicht als eines der unentscheidbaren Bezogenheit, sondern als eines der, nun aller­ dings diesseits des Institutionellen liegenden, Identität erscheint. Die Fremdheit des Kindes, seine Vorgängigkeit gegenüber der Institution der Sprache sowie die Sinn­ lichkeit seiner Vernunft eröffnen eine Perspektive, in der Rousseau dies möglich erscheint. Worauf er abzielt, ist also eine Sprache, die als Institution unmittelbar individuell ist, die als ein authentischer Ausdruck dieses Individuums gelten kann. Zugleich aber wird sie als Institution auch unmittelbar allgemein sein müssen: In ihr muss die Wahrheit des sinnlichen Selbst- und Weltverhältnisses einen gleichermaßen unmittelbaren wie allgemein gültigen sprachlichen Ausdruck finden.30 Gefragt wird

30 In seinem Essai sur l’origine des langues hatte Rousseau die Auffassung vertreten, dass die Spra­ che sich aus den Leidenschaften der Menschen entwickelt und zunächst noch deren Sinnlichkeit zum Ausdruck gebracht habe, bevor sie sich dann im weiteren Laufe der menschlichen Entwicklung zunehmend zu einer auf Konventionen beruhenden kognitiven Funktion entwickelt habe. Vgl. JeanJacques Rousseau: „Essay über den Ursprung der Sprache, worin auch über Melodie und musikali­ sche Nachahmung gesprochen wird“, in ders.: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, übers. v. Dorothea Gülke u. Peter Gülke, Wilhelmshaven 1984, 99–168. Obwohl Rousseau diese Entwicklung als einen ‚natürlichen‘ Gang betrachtet, macht er für sie dennoch eine Verlustrechnung auf: So habe es in den ‚glücklichen‘ (warmen) Klimazonen und glücklichen Zeiten, „da die einzigen dringenden Bedürfnisse, die die Menschen einander näher brachten, die des Herzens waren – eine einzige Spra­ che“ gegeben (ebd., 138). Diese Nähe erlaubte Rousseau zufolge eine klare und verständliche sowie



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also nach der Möglichkeit einer Sprache, in der Individualität und Institution, subjek­ tive Sinnlichkeit und Leidenschaft sowie eine gültige Regelung des Weltbezugs sich so verschränken, dass jene Unentscheidbarkeit, die mit der Sozialität der Sprache gegeben ist, ausgeschlossen wird. Diese Unentscheidbarkeit ist – wie schon angedeu­ tet – ein anderer Name für eine Differenz, die sowohl strategisch genutzt als auch als Entfremdung kritisiert werden kann. In der sozialen Institution der Sprache erscheint aus der Sicht Rousseaus das Individuum seinem Wesen entfremdet; gleichzeitig eröff­ net sie dem Einzelnen einen Spielraum für strategische, nicht-authentische Einsätze, in denen es nur um Übervorteilung geht. Wenn gezeigt werden könnte, dass eine Sprache möglich ist, die zugleich als unmittelbarer Ausdruck des Individuums und der institutionellen Wahrheit firmiert, hätte man eine Lösung der Paradoxie einer anti-institutionellen Institution.31 Es ist die Erziehung, die hier als Ansatz zur Auflösung dieser Paradoxie und damit als anti-institutionelle Institution verstanden werden soll. Als soziale Institu­ tion notwendig wird Erziehung durch die Lücke zwischen Wünschen auf der einen Seite und den Fähigkeiten zu ihrer Befriedigung auf der anderen. Diese Lücke zwingt den Menschen, sich sowohl in ein Verhältnis zur Welt als auch zu sich selbst im Ver­ hältnis zur Welt zu setzen: Sie überschreitet damit die Unmittelbarkeit des Naturzu­ stands und erfordert ein vermittelndes Drittes.32 Der Erzieher ist der Name für jenes Dritte, das die Regelhaftigkeit, das heißt die Gesetzmäßigkeit der Verbindung von Wollen und Können gleichermaßen konstituiert wie begrenzt. Erziehung ist von daher immer als Institution zu betrachten, als Differenz der Voraussetzungen und Hervorbringungen einer sozialen und symbolischen Ordnung. Als solche eröffnet sie einen Raum strategischer Optionen, in dem das Wahre und Richtige sich nicht

klangvolle (sinnlich wahrnehmbare) Artikulation, deren Bedingungen jedoch mittlerweile verloren gegangen seien. Ausgehend von diesen Überlegungen ließe sich die von Rousseau angestrebte Erzie­­ hung als eine beschreiben, in der die leidenschaftliche Bindung an die Sprache nicht nur mit einer klaren und eindeutigen Artikulation einhergeht, sondern in der auch die Wirklichkeit zu ihrem Recht kommt. Eine solche Möglichkeit scheint allerdings nur vorstellbar zu sein, wenn die aktuelle Institu­­ tion der Sprache – verstanden als konventionelles System performativer Hervorbringungen – außer Kraft gesetzt wird. Ermöglicht werden soll so eine ‚natürliche Performativität‘, in der das zugleich vorausgesetzte und hervorgebrachte Allgemeine ein unmittelbares (natürliches) Selbst- und Weltver­­ hältnis konstituiert. 31 Die folgenden Ausführungen zum pädagogischen Ansatz Rousseaus beziehen sich auf eine syste­ matisch angelegte Lektüre, die ich an anderer Stelle publiziert habe. Vgl. Alfred Schäfer: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2002. 32 Der Naturzustand des zweiten Discours ist ein unmittelbarer, ein vorsozialer oder auch ,tierischer‘ Zustand. Die Unterscheidung von Wünschen und Fähigkeiten zu ihrer Befriedigung eröffnet den Raum des Sozialen – und damit zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen. Mit ihr taucht das Problem der Institution auf, das dann pädagogisch und antiinstitutionell zu handhaben ist. Diese Handhabung erfolgt dabei auf Entwicklungsstufen, die sich aus der unterschiedlichen Modellierung dieser Differenz ergeben.

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nur ständig iterierend verschiebt, sondern zugleich umstritten bleibt. Die Möglich­ keit, Erziehung dennoch als eine anti-institutionelle Institution im angegebenen Sinne der Verschränkung eines unmittelbaren Selbstausdrucks mit einer als objektiv geltenden (institutionellen) Wahrheit zu verstehen, steht und fällt mit den äußerst unwahrscheinlichen Voraussetzungen, von denen Rousseaus pädagogisches Arran­ gement seinen Ausgang nimmt. Sie müssten plausibel machen, dass die Institution der Erziehung für den Heranwachsenden gerade nicht die Qualität jener grundlosen Differentialität gewinnt, die gleichzeitig für Entfremdung wie strategische Unaufrich­ tigkeit steht. Das pädagogische Arrangement muss verdeutlichen können, dass ein sprachliches Selbst- und Weltverhältnis möglich ist und ermöglicht werden kann, in dem regelgeleiteter Wahrheitsbezug und sinnliche Erfahrung zur Deckung gebracht werden und eine Einheit bilden, die als solche der Unruhe einer performativen Diffe­ renz entzogen ist.33 Zumindest vier dieser unwahrscheinlichen Annahmen sollen hier erwähnt werden. Da ist erstens die bereits erwähnte Qualität eines entsprechend befähigten Erziehers. Seine Befähigung erstreckt sich einerseits auf ein Wissen um die natürli­ chen Entwicklungsstufen des (eigentlich fremden) Kindes und andererseits auf die Suspension seiner eigenen sozialen Vermitteltheit. Dieser Erzieher verkörpert gleich­ sam den anti-institutionellen Charakter der Institution Erziehung. Zweitens ist die Vorstellung einer vollständigen Kontrollierbarkeit der Umstände des Aufwachsens zu nennen. Nichts, keine Konfrontation des Kindes mit der Welt oder mit seiner Mitwelt, geschieht ungeplant: Die scheinbare Freiheit des Kindes vollzieht sich im Rahmen einer umfassenden Kontrolle, die sich über das fiktive Wissen seiner natürlichen Entwicklung legitimiert. Eine solche Vorstellung erlaubt drittens die äußerst unwahr­ scheinliche Annahme, dass sich nicht nur die Effekte der arrangierten Umgebung vorhersagen lassen, sondern gerade auch deren kognitiv-emotionale Verarbeitung durch das Kind. Es ist dies die Fantasie einer Wirksamkeit der eigenen Arrangements, die so zielgenau ist, dass sie es dem Erzieher erlaubt, vorherzusehen, was das Kind denken wird, noch bevor es diesen Gedanken hat.34 Unterstellt wird so nicht nur die Steuerbarkeit des Kindes, sondern – als deren Effekt – auch dessen vollkommene Transparenz für den Erzieher. Die vierte, nicht minder unwahrscheinliche Annahme geht schließlich davon aus, dass dieses perfekte Arrangement vom Kind nicht als solches, das heißt als bloße soziale Veranstaltung durchschaut werden kann: Das soziale Verhältnis zum Erzieher und zu den von ihm arrangierten Situationen wird

33 Derrida hat diesem Versuch Rousseaus, der differentiellen Logik der Supplementierung ‚ur­­ sprünglicher Bedeutungen‘ zu entgehen, eine umfangreiche Untersuchung gewidmet. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, a. d. Franz. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974. 34 „Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne dass ihr wisst, was es sagen will.“ J.-J. Rousseau: Emil, 265–266 (OC II, 363).



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vom Kind nicht als kontingentes, sondern als natürliches, gar nicht anders mögli­ ches Verhältnis wahrgenommen. Daher gibt es keine Auseinandersetzungen und auch kein Macht- oder Legitimationsproblem: Freiheit und Unterwerfung können von Émile nicht unterschieden werden.35 Dass in einer perfekt arrangierten Welt das vom Kind als eigene, sinnliche und schließlich sprachlich artikulierte Erfahrung performativ erzeugte Selbst- und Weltverhältnis zugleich als ein allgemeingültiges, gerade nicht kontingentes erscheint, hängt nicht zuletzt daran, dass Performativität und (konventionelle) Rahmen gerade nicht als Differenz erscheinen. Die Freiheit und Ereignishaftigkeit der Performativität und die Naturgesetzlichkeit der pädagogischen Rahmung erscheinen nicht zuletzt deshalb als harmonische Einheit, weil eine Ver­ hältnissetzung zu dieser Differenz systematisch ausgeschlossen wird. Nun kommt es hier nicht darauf an zu untersuchen, inwiefern die unwahrscheinli­ chen Annahmen, die Rousseau seiner imaginären pädagogischen Welt zugrunde legt, im Verlauf des Erziehungsprozesses immer wieder durch Bezüge auf Selbstverständ­ lichkeiten der sozialen Wirklichkeit durchbrochen werden. Ebenso wenig ist es im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, ob die von Émile gemachten Erkennt­ nisse auf wissenschaftlich produzierte Wahrheiten verweisen oder ob die Einführung des Eigentum-Begriffs im ‚Gärtnerbeispiel‘36 als eine Anpassung an gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten zu verstehen ist. Alle diese Fragen sind hier insofern nicht relevant, als sie bestenfalls dazu dienen könnten, die von Rousseau ohnehin einge­ standene Unwahrscheinlichkeit der Konzeption zu belegen. Bedeutsamer scheint im vorliegenden Zusammenhang zu sein, dass Émile in seinem sprachlich verfassten Welt- und Selbstverhältnis zwar einerseits für den Erzie­ her transparent ist, dass aber diese Transparenz andererseits auf dem durchaus frag­ würdigen Umstand beruht, dass er bis zur Pubertät nicht einmal weiß, was eine Lüge ist.37 Zweierlei ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Zum einen Émiles voll­ ständige Transparenz für den Erzieher, die anzeigt, dass dessen Weltarrangements sprachlich die von ihm vorgesehene eindeutige Repräsentation im Denken und Spre­ chen seines Zöglings hervorgebracht haben. Die sprachliche Repräsentation scheint mit dem Repräsentierten zusammenzufallen. Zum anderen die Unmöglichkeit des Lügens, die verdeutlicht, dass Émile selbst kein Verhältnis zu seiner Sprache hat. Vielmehr ist Émile seine Sprache. Sein Sprechen (und Denken) kann somit einerseits als unmittelbarer Ausdruck seines Selbst verstanden werden; andererseits fällt dieser

35 Damit gewinnt ‚Natürlichkeit‘ den Akzent einer aus der Perspektive des Adressaten wahrzuneh­ menden Naturgesetzlichkeit, die das pädagogische Verhältnis von allen Legitimationsfragen entlas­ tet, die sich auf Weltperspektiven, aber auch auf pädagogische Anforderungen richten könnten. Vgl. A. Schäfer: Jean-Jacques Rousseau, 44ff. 36 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 222ff. (OC IV, 329–333). 37 Bis dahin steht der Zögling unter der ‚natürlichen‘ Leitung, das heißt der Organisation einer ‚wohl­ geordneten Freiheit‘ durch den Erzieher. Und da gilt: „solange ich ihn geleitet habe, hat er weder gefühlt noch gelogen.“ J.-J. Rousseau: Emil, 460 (OC IV, 505).

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unmittelbare Selbstausdruck zugleich mit dem von ihm Repräsentierten zusammen. Seine Sprache ist daher nicht konventionell in einem sozialen Sinne, in dem über Bedeutungen gestritten werden könnte. In ihr fallen Selbst- und Weltrepräsentation zusammen – und das in einer für einen Dritten, den Erzieher, nachvollziehbaren, das heißt sozialen Weise. Fasst man den Dritten als Figur der Institutionalisierung auf, dann ergibt sich das Bild einer gegenüber der sozialen Institution der Sprache antiinstitutionellen Institution. Deren Differentialität, ihre Grundlosigkeit, Uneindeutig­ keit und deren strategische wie entfremdende Effekte spielen in dieser Einheitsfanta­ sie keine Rolle mehr. Zum anderen ist bemerkenswert, dass mit der Kindheit beziehungsweise mit der Pubertät als jenem Entwicklungsabschnitt, in dem sich der Heranwachsende (ver­ mittelt über sein Interesse am anderen Geschlecht) als soziales Wesen entdeckt, auch die pädagogisch abgeschlossene Welt endet. Dadurch verändert sich auch das ima­ ginierte Verhältnis zum Erzieher, das nun als ein soziales fassbar wird. Systematisch betrachtet treffen nun die anti-institutionelle Institution einer eindeutigen Sprache und die sozialen Institutionen in ihrer differentiellen Verfasstheit aufeinander. Und auch hier behilft sich Rousseau mit einer wiederum paradoxal verfassten pädagogi­ schen Fantasie: Das pädagogische Arrangement des Aufeinandertreffens der ‚natür­ lichen‘ Identität von Ich und Institution mit deren differentieller Grundlosigkeit ver­ dankt seine Möglichkeit der ganz und gar sozialen Institution einer vertraglichen Vereinbarung.38 Dass diese Vereinbarung ihrerseits ebenfalls nur durch ein raffinier­ tes Arrangement, nämlich eine kalkulierte Inszenierung des Erziehers als Figur der Selbstaufopferung in einem sorgfältig ausgewählten Szenario und unter Einsatz emo­ tionaler Strategien zustande kommt, verweist einerseits zurück auf die pädagogische Inszenierung der kindlichen Umwelt; andererseits wird daran deutlich, dass sich der Erzieher gegenüber dem Jugendlichen, dem die arrangierte Einheit der ‚natürlichen‘ Identität fragwürdig werden kann, der (nun offensichtlich) strategischen Handha­ bung der differentiellen Grundlosigkeit sozialer Institutionen bedienen muss.

4 Die paternalistische Brücke zwischen pädagogischer Fiktion und sozialer Wirklichkeit Die vermittelte Unmittelbarkeit der Einheit von Aufrichtigkeit und Weltpräsenz erlaubt es nicht, das Verhältnis zu sich selbst und zur Welt seinerseits noch einmal zur Dispo­ sition zu stellen. Es erübrigt sich, Fragen nach dem Richtigen oder dem Falschen als

38 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 662–663 (OC II, 651–652). Émile verpflichtet sich hier – angesichts der ihn bedrohenden Leidenschaften – weiterhin zum nun zwar freiwilligen, aber nicht minder unbedingten Gehorsam gegenüber den Weisungen und Ratschlägen des Erziehers.



Pädagogik als Anti-Institution 

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offene und daher möglicherweise problematische zu formulieren. Das Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt ist von einer unhinterfragbaren Gewissheit. In dieser Welt begegnen sich – zumindest aus der Perspektive des Heranwachsenden – aufrich­ tige Wesen, die sich mit der Ordnung des Seins in Übereinstimmung befinden. Eben dies könnte sich aber ändern, wenn zusammen mit dem Sozialen die (stra­ tegische) Vermitteltheit dieser (vermeintlichen) Unmittelbarkeit deutlich würde. Die bisherige unmittelbare Selbstverständlichkeit könnte als arrangierte, das heißt als pädagogisches Machtverhältnis erscheinen und die Einheit von Freiheit und Zwang daran zerbrechen. Warum sollte das pädagogische Verhältnis anders beurteilt werden als die nun wahrgenommenen sozialen Gepflogenheiten? Hatte die bisherige künst­ liche Welt aufgrund ihrer hermetischen Abgeschlossenheit gegenüber den sozialen Institutionen nicht einen totalitären Charakter? Wenn nun aber der Sündenfall des Eintritts in die soziale Welt nicht rückgängig zu machen ist, so stellt sich die Frage, ob die vermittelte Unmittelbarkeit unter diesen Bedingungen noch einen Ort haben kann. Diese Frage gewinnt ihre Radikalität gerade dadurch, dass als Kennzeichen sozi­ aler Institutionen die differentielle Einheit von Subjekt und Regel angegeben wurde. Es ist demnach eigentlich ausgeschlossen, dass einem durch eine wahre Welt vermit­ telten aufrichtigen Subjekt noch ein Ort jenseits dieser institutionellen Logik zugewie­ sen werden könnte. In der christlichen Weltsicht wird dieses Problem dadurch gelöst, dass dem Subjekt ein solcher Ort durch den Bezug auf Gott gegeben wird: Der Bezug auf Gott als Dritten konstituiert eine andere Welt, ein anderes Regelgefüge, das als solches dem Individuum, das zugleich Teil des weltlichen Institutionengefüges ist, nicht verfügbar ist. Es scheint also der Bezug auf ein transzendentes Drittes gegen­ über der sozialen Institutionenordnung zu sein, der die Perspektive auf eine Subjekt­ position jenseits der sozial-konstitutiven Differenz von Ich und Gesetz eröffnet. Rousseaus Lösungsperspektive schließt hier an. Aber er wendet diese religiöse Figur in die Immanenz des Pädagogischen. Die im Rahmen einer aufwendigen Insze­ nierung vorgebrachten Hinweise des Erziehers auf die Selbstlosigkeit seiner Bemü­ hungen und das Ausmaß seiner Opferbereitschaft bringen das nun soziale Wesen Émile dazu, den Erzieher zu bitten, ihm von nun an (als Dritter) mit Rat zur Verfügung zu stehen. Émile verpflichtet sich gleichsam in einem gegenüber der Logik des Sozi­ alen alternativen Gesellschaftsvertrag, sich diesem Rat zu beugen. Das pädagogische Reich wird so als anti-institutionelle Institution mit sozialen Mitteln re-konstituiert. Es ist der Bezug auf den Erzieher als zugleich sozial-immanente und das Soziale mit der Urteilskraft des ‚Natürlichen‘39 transzendierende Instanz, die Émile einen Ort gibt,

39 Dass dieses ‚Natürliche‘ zugleich mit der Fähigkeit verbunden ist, noch die Stimme des göttlich induzierten Gewissens zu vernehmen, verwundert vor dem dargestellten Referenzrahmen nicht. Ex­ pliziert wird dies im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 590 (OC II, 600–601).

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der es ihm erlaubt, sich weiterhin vermittelt unmittelbar zur differentiellen Logik des Sozialen zu verhalten, dessen Teil er nun geworden ist. Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass auch dieser Versuch einer Verstetigung des Pädagogischen eine äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit darstellt. Irritierend wirkt, zumindest vor dem Hintergrund der modernen Ausgangslage, dass für den Umgang mit der Kontingenz von Selbst und Welt nur das traditionelle Hilfsmittel eines gütigen Paternalismus aufgerufen wird. Irritierend erscheint dies deshalb, weil Rousseaus Entwurf hier dahingehend interpretiert wurde, dass er aus der gleicher­ maßen unmöglichen Referenz auf ein transzendentales Signifikat wie auch auf einen transzendentalen Signifikanten die Konsequenz zog, transzendente Bezugspunkte des pädagogischen Prozesses nur im Rahmen einer rhetorischen Figuration aufzu­ rufen. In der anti-institutionellen Institution der Erziehung, so meine These, werden Immanenz und transzendente (natürliche) Bezugspunkte von Rousseau so aufein­ ander bezogen, dass ein Möglichkeitsraum der Erziehung diesseits von metaphysi­ scher und transzendentaler Grundlegung vorstellbar wird. Ein solcher Möglichkeits­ raum öffnet die Perspektive auf das Pädagogische als Problem – als Raum, in dem Sicherheiten nur im Konjunktiv zu haben sind. Gleichzeitig aber folgt das rhetorische Überzeugungsszenario Rousseaus der Logik einer verfügenden Intentionalität des pädagogischen Handlungssubjekts. Die Fantasie einer vollständigen intentionalen Verfügbarkeit und damit auch Verantwortbarkeit des Erziehungsprozesses erlaubt ihm die Anknüpfung an vormoderne Vorstellungen, in deren Rahmen die Erwachse­ nen noch zweifelsfrei um das für den Nachwuchs (aus welchem Grund auch immer) unabweisbar Gültige wussten. Rousseaus Ansatz besitzt also eine gewisse Ambiva­ lenz, die darin besteht, dass sich das pädagogische Denken hier einerseits mit dem Problem seiner letztlichen Unbegründbarkeit und den Schwierigkeiten seiner Identi­ fizierbarkeit im Spannungsfeld von Fiktion und Realität auseinandersetzt, dass dies aber andererseits in der Form einer traditionell paternalistischen Verfügungsfantasie geschieht. Diese Fantasie bleibt allerdings in ihrem Status als Fantasie eine moderne Option: Sie gibt eine mögliche strategische Operation an, rhetorisch mit der offenen Problematik der Konstitution pädagogischer Räume umzugehen.

Daniel Schulz

Rousseaus politische Ökonomie Worin bestehen die Geltungsvoraussetzungen der modernen politischen Ordnung? Wie kann eine politische Ordnung der Freiheit und der Selbstbestimmung auf Dauer gestellt werden? Welche Faktoren tragen zur Stabilisierung, welche zur Destabilisierung dieser Ordnung bei? Jean-Jacques Rousseau gehört zu denjenigen politischen Theoretikern, die zu diesen Grundfragen des modernen demokratischen Verfassungsstaats maßgebliche Antworten geliefert haben. Auch wenn sich viele seiner Antworten für die Herausforderungen liberaler und pluralistischer Ordnungen mit einer heterogenen kulturellen und religiösen Gesellschaft als wenig tragfähig erwiesen haben, so gehören seine Überlegungen doch zu den unhintergehbaren Reflektionsbeiträgen, mit denen der Umbruch zur demokratischen Ordnung gedeutet, interpretiert und kritisiert wurde, und die inzwischen selbst zum festen Bestandteil der demokratischen Deutungskultur und ihrer Begrifflichkeiten geworden sind. Während aber Fragen der Demokratie, der politischen Kultur und der rechtlichen und politischen Verfassung zumeist die zentralen Gegenstände sind, mit denen sich die politiktheoretische Rousseau-Interpretation beschäftigt, bleibt eine Frage häufig im Hintergrund, die zumindest ebenso wichtig zu sein scheint: Neben den bereits genannten Themenbereichen hat Rousseau auch die wirtschaftlichen Aspekte als Teil der Geltungsvoraussetzungen politischer Ordnung thematisiert und im Rahmen der politische Ökonomie zum Objekt politiktheoretischer Reflektion gemacht. Das Thema sozialer und wirtschaftlicher Differenzen spielt eine zentrale Rolle in seinem zweiten, berühmten Discours sur l’inégalite. Und auch in den Verfassungsentwürfen sowie schließlich im Contrat social ist die Frage nach der Vereinbarkeit rechtlicher und politischer Gleichheit mit der faktischen Differenzierung in Arm und Reich eines der grundlegenden Probleme, die der Verfassungsgeber zu lösen hat. Dabei bleibt der Ort des Ökonomischen in Rousseaus Theorie der politischen Institutionalisierung seltsam unbestimmt – begrifflich operiert er noch vor der klaren Ausdifferenzierung einer eigengesetzlichen Sphäre der wirtschaftlichen Gütererzeugung und der marktförmigen Distribution, wie sie für ein modernes Ökonomieverständnis bestimmend ist und erst mit der Literatur der Physiokraten und vor allem mit der schottischen Moralphilosophie um Adam Smith zum Durchbruch gelangt. Rousseau schreibt also in einer Umbruchphase, in der sich die Beschäftigung mit wirtschaftlichen Dingen als selbstständiges Untersuchungsfeld erst allmählich abzeichnet. Seine politische Theorie hingegen trägt deutlich die Spuren dieses Umbruchs, der die gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit und damit auch die Verhaltensdispositionen seiner Zeitgenossen nachhaltig zu verändern begann. Rousseaus Position sticht aus der Debatte der Aufklärung über die Bewertung und die Folgen der modernen Handels- und Marktgesellschaft, die Rolle von privater Interessenverfolgung, von Industrie und wachsendem Wohlstand insofern heraus, als er in seiner

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normativen Beurteilung von den Auffassungen der Theoretiker des doux commerce ebenso radikal abweicht wie von den Physiokraten und ihren liberalen Reformplänen für den Umbau des Ancien Régime: Im Gegensatz zu Mandeville, Montesquieu und Hume, aber auch anders als Quesnay oder Turgot sieht Rousseau in der Entwicklung eines freien Spiels der Interessen keinen Vorteil für das Gemeinwohl. Aus privat vices folgen für ihn keine public benefits, und aus der Konzentration auf das private Interesse erwächst keine Zivilisierung der Sitten – beides führt in seinen Augen lediglich zu einer Korruption des Gemeinwesens, zu einer Akkumulation und Potenzierung von Habsucht, Gier und Distinktionsbedürfnissen.1 Der vorliegende Artikel konzentriert sich darauf, die ökonomischen Motive im Werk Rousseaus zu seiner politiktheoretischen Fragestellung nach den Geltungsvoraussetzungen politischer Ordnung in Beziehung zu setzen. Rousseau argumentiert in seinem gesamten Werk und auch und gerade in den der Ökonomie gewidmeten Passagen nicht als Ökonom, der an den Eigengesetzlichkeiten marktförmigen Handelns und deren (liberaler) Optimierung oder ihrer (staatlichen) Regulierung interessiert ist, sondern vielmehr als politischer Theoretiker, der die Wechselwirkung von Produktionsweisen, Besteuerung und Fiskalpolitik mit den Grundlagen und soziomoralischen Voraussetzungen der politischen Ordnung untersucht. Die wirtschaftlichen Interessen sind bei ihm nicht, wie bei Montesquieu oder bei den Physiokraten, die rationalisierenden Fesseln der als potentiell transgressiv eingestuften menschlichen Leidenschaften. Im Gegenteil: Für Rousseau geht es darum, angesichts der einsetzenden Industriellen Revolution und der damit einhergehenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen das Gefüge der politischen Leidenschaften zu retten vor den Verhaltensdispositionen einer durch Kalkül, Ehrgeiz und materielles Eigeninteresse geprägten Wirtschaftsgesellschaft, in der für Tugend und das Gemeinwohl kein Platz mehr zu sein scheint.2 Rousseau trennt an keiner Stelle zwischen der Analyse politisch-ökonomischer Strukturen und ihrer normativen, moralphilosophischen Bewertung, wie dies beispielsweise bei Adam Smith zu beobachten ist, der bekann-

1 Zum Verhältnis von Rousseau zum Denken der Physiokraten vgl. Reinhard Bach: „Rousseau et les physiocrates: une cohabitation contradictoire“, in Rousseau: économie politique, dossier établi et dirigé par Reinhard Bach, Montmorency 1999, 9–82 und Iring Fetscher: Rousseaus politische Philo­­ sophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt/Main 1975, 245–254. Für Rous­ seaus Beziehung zu den Theoretikern des doux commerce siehe Albert O. Hirschman: The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton/NJ 1997. Rousseaus Gegnerschaft zu den Wohltaten des freien Handels erklärt Helena Rosenblatt: Rousseau and Geneva. From the First Discourse to the Social Contract, 1749–1762, Cambridge 1997, 52–87. Rosenblatt zeigt, wie die Erfahrungen, die Rousseau in Genf mit der korrumpierenden Wirkung des Reichtums macht, von ihm im ersten und zweiten Discours mit naturalistischen und christlichen Topoi zu seiner Zivili­­ sationskritik verbunden werden. 2 Zum wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund dieser Debatte in der französischen und europä­ ischen Aufklärung vgl. Florian Schui: Early Debates about Industry. Voltaire and his Contemporaries, Basingstoke u. a. 2005.



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termaßen im Wealth of Nations und der Theory of Moral Sentiments ganz unterschiedliche Analyse- und Bewertungsperspektiven fokussiert.3 Im Gegensatz zu Smith und den anderen Vertretern der „Schottischen Aufklärung“ bleibt Rousseau in seiner Bewertung des Ökonomischen an der Schwelle der Industriellen Revolution stets politischer Moralist.4 Wie groß die ideengeschichtliche Distanz ist, die zwischen Rousseau und den Denkern aus der Zeit der Französischen Revolution liegt, verdeutlicht nicht nur ein Vergleich seiner Schriften mit denen von Smith und Sieyès. Auch wenn man Rousseau häufig für das Verhalten der Revolutionäre und ihre antiliberale Gewaltbereitschaft verantwortlich gemacht hat,5 so zeigt doch bereits ein Blick in die maßgeblichen Schriften der Revolutionszeit, etwa in Hérault de Séchelles Théorie de l’ambition (1788), wie wenig die jungen, vom Ehrgeiz getriebenen revolutionären Eliten aus der Provinz mit Rousseaus fundamentaler Kritik der bürgerlichen Gesellschaft noch anfangen können und wie der Tugendbegriff sich bei ihnen zu einem instrumentellen Versatzstück ihrer Aufsteigerrhetorik wandelt.6 Die ambition war die Art von moderner Handlungsmotivation, gegen die sich Rousseau vornehmlich richtete und die er auch in seinen Stellungnahmen zur Ökonomie besonders kritisch diskutierte. Zudem haben Smith und in seiner Folge auch Sieyès die Frage der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erst zum Kennzeichen moderner Wirtschaftsgesellschaften und ihrer gesteigerten Wohlstandsproduktion, dann auch zum Schlüssel einer repräsentativen politischen Ordnung erhoben – und damit als Lösung präsentiert, was für Rousseau noch Teil des Problems war: Die Ablehnung des Prinzips der Repräsentation prägt sein Werk ebenso stark wie eine Skepsis gegen die soziale Differenzierung und die arbeitsteilige Organisation wirtschaftlicher Güterproduktion. Beide – Repräsentation und Arbeitsteilung – bilden für ihn Formen der Vermittlung, welche soziale Bezie-

3 Zu Smiths Ausdifferenzierung von Moralphilosophie, politischer Ökonomie und Rechtstheorie als miteinander verbundenen Perspektiven auf die Handelsgesellschaft vgl. die Beiträge in Istvan Hont/ Michael Ignatieff (Eds.): Wealth and Virtue. The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlight­ enment, Cambridge 1983. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (1767), der als ein frühes Beispiel für die Ausdifferenzierung einer gesell­ schaftswissenschaftlichen Perspektive aus der allgemeinen Moralphilosophie betrachtet werden kann. Vgl. Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. u. eingel. v. Zwi Batscha u. Hans Medick, übers. v. Hans Medick, Frankfurt/Main 1986. 4 Vgl. H. Rosenblatt: Rousseau and Geneva, 196: „Rousseau’s treatment of economic matters [...] was not that of an economist, but rather that of a moral and political thinker.“ Als republikanischem Autor ist Rousseau eine Betrachtung der politischen Eigengesetzlichkeiten keineswegs fremd, wenn auch unter Einbezug des Tugendbegriffs als genuin politischer Leitkategorie. Allerdings bleiben die ökonomischen Fragen bei ihm den Betrachtungen einer politischen Sittlichkeit stets nachgeordnet. 5 So u. a. Jacob D. Talmon: The Rise of Totalitarian Democracy, Boston 1952. 6 Vgl. Hérault de Séchelles: Theorie des Ehrgeizes, hg. u. übers. v. Henning Ritter, München 1997.

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hungen opak werden lassen und die für die Einheit des Gemeinwesens notwendige unmittelbare Beziehung ihrer Mitglieder zueinander gefährden.7 Im Folgenden werde ich zunächst auf das Thema der Ungleichheit im ersten und zweiten Discours eingehen, um vor diesem Hintergrund dann Rousseaus Ansätze zu einer politischen Ökonomie zu untersuchen, wie er sie in seinem Artikel für die Ency­ clopédie, aber auch im Contrat social und in den beiden Verfassungsentwürfen für Korsika und Polen entwickelt hat. Nach einem kurzen Blick auf die private Ökonomie der Familie, die vor allem in der Nouvelle Héloïse skizziert wird, werde ich zum Abschluss zeigen, wie Rousseaus politische Ökonomie als eine paradoxe Ökonomie der Askese und des Überschusses zugleich verstanden werden kann.

1 Ungleichheit und Distinktion Das Thema der ökonomischen Grundlagen politischer Ordnung und ihr Einfluss auf die Sitten und die Verhaltensdispositionen der Menschen beschäftigt Rousseau seit seinem ersten Discours, mit dem er 1750 die Preisfrage der Akademie von Dijon gewann und über Nacht berühmt wurde. Als Leitmotive stehen sich hier die Armut, Einfachheit und Mäßigung als Zeichen der Tugend und der Reichtum und Luxus als Boten des Verfalls gegenüber.8 Das von Rousseau gepriesene Sparta ist für ihn – vor allem im Vergleich mit dem sittlichen Verfall Roms – ein Beispiel dafür, dass eine tugendhafte republikanische Ordnung auf Askese und einfache Sitten angewiesen ist, wenn sie dauerhaft Bestand haben soll.9 Diese holzschnittartige Konfrontation von tugendhafter Armut und korrumpierendem Luxus nutzt Rousseau zu einer rhetorischen Volte gegen die vermeintlich verdorbene Gegenwart: „Die antiken Politiker sprachen ohne Unterlaß von den Sitten und der Tugend, die unseren sprechen nur vom Handel und vom Geld.“10 Das nationalökonomische Kalkül vom Wohlstand der Nationen ist in den Augen Rousseaus auf die monetären Vergleichsmaßstäbe fixiert

7 Zur Leitdifferenz von Transparenz und Opazität beziehungsweise von Unmittelbarkeit und Vermitt­ lung vgl. die Studie von Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle, Paris 1977. Dass der Begriff der Delegation in seinem politischen Ordnungsdenken gleichwohl einen wichti­ gen Platz einnimmt, zeigt Nadia Urbinati: „Rousseau on the Risks of Representing the Sovereign“, in Politische Vierteljahresschrift 53/4 (2012), 646–667. 8 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, in ders.: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750) Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Französisch – Deutsch, eingel., übers. u. hg. v. Kurt Weigand, 5. Aufl., Hamburg 1995, 1–59, hier 19 (Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Berdnard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964, 11). Alle Nachweise, die sich auf diese Ausgabe beziehen, werden im Folgenden abgekürzt mit OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 9 Siehe J.-J. Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, 21–25 (OC III, 12–14). 10 J.-J. Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, 35. „Les anciens Politiques parloient sans cesse de mœurs et de vertu; les nôtres ne parlent que de commerce et d’argent“ (OC III, 19).



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und vergisst darüber die intrinsischen Qualitäten des politischen Gemeinwesens und seiner politischen Kultur, die durch eine zu starke ökonomische Entwicklung und zu großen materiellen Reichtum korrumpiert werden können. Vor allem die Fähigkeit zur Freiheit ist auf diese Weise in modernen Gesellschaften in Gefahr, weil sie auf anderen Grundlagen aufbaut als eine am Ziel der höchsten wirtschaftlichen Effizienz und Produktivität orientierte Ordnung: „Unsere Politiker sollten geruhen, mit ihren Berechnungen inne zu halten [...]. Sie sollten einmal lernen, daß man für Geld alles haben kann – außer Sitten und Bürgern.“11 Der Discours sur l’inégalité von 1755 nimmt dieses Thema wieder auf und spitzt es in der Erzählung vom ursprünglichen Naturzustand und seinem Verfall weiter zu: Die ursprüngliche natürliche Gleichheit verwandelt sich im Laufe des Vergesellschaftungsprozesses zu einer tiefen Ungleichheit,12 die der zunehmenden Aneignung der Natur als Besitz geschuldet ist. Reichtum jedoch stellt für Rousseau eine Form der Bindung an Besitz dar, die Freiheit durch Abhängigkeit ersetzt. Aber nicht nur die Bindung an die Gegenstände des Besitzes, auch die Bindung der Menschen untereinander durch die zunehmende Interaktion stellt in seinen Augen eine Quelle der Abhängigkeit dar und zerstört die ursprüngliche natürliche Freiheit des Menschen: Ohne daß diese Einzelheiten noch unnötig ausgedehnt werden, muß jeder einsehen, daß die Bande der Knechtschaft sich nur in der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander und durch die wechselseitig vereinigenden Bedürfnisse bilden konnten. Daher ist es unmöglich, einen Menschen zu unterjochen, ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, daß er ohne einen andern nicht auskommen kann.13 Sans prolonger inutilement ces détails, chacun doit voir que les liens de la servitude n’étant formés que de la dépendance mutuelle des hommes et des besoins reciproques qui les unissent, il est impossible d’asservir un homme sans l’avoir mis auparavant dans le cas de ne pouvoir se passer d’un autre; situation qui n’existant pas dans l’état de Nature, y laisse chacun libre du joug et rend vaine la Loi du plus fort (OC III, 161–162).

Besitz und soziale Interaktion bilden somit die Voraussetzungen einer Herrschaft, die nach und nach die natürliche Freiheit verdrängt. Den endgültigen Umschlagpunkt dieser Entwicklung von der Freiheit der Natur zur gesellschaftlichen Herrschaft sieht Rousseau in der Entwicklung vom vorrechtlichen Besitz zum rechtlich garantierten

11 J.-J. Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, 37. „Que nos politiques daignent suspendre leurs calculs […], et qu’ils apprennent une fois qu’on a de tout avec de l’argent, hormis des mœurs et des Citoyens“ (OC III, 20). 12 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“, in ders.: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750) Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Französisch – Deutsch, eingel., übers. u. hg. v. Kurt Weigand, 5. Aufl., Hamburg 1995, 61–269, hier 187 (OC III, 161). 13 J.-J. Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit“, 189.

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Eigentum: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ‚Das ist mein‘ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“14 Wenn diese Besitznahme zu einem Rechtszustand und damit zu einer Gesellschaft der Eigentümer führt, wird die Hierarchie zwischen Arm und Reich im Rahmen einer gesetzlich gefestigten Ordnung institutionalisiert und auf Dauer gestellt. Mit einer solchen Ordnung aber verschärft sich die Ungleichheit nur noch weiter. Die in der Natur angelegte Ungleichheit der Fähigkeiten wird durch den gesellschaftlichen Bedarf an spezialisierten Tätigkeiten noch gesteigert und verfestigt: So vollzog sich die Entstehung der Gesellschaft [...] sowie der Gesetze, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Macht gaben. Sie zerstörten unwiderruflich die angeborene Freiheit, setzten für immer das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit fest, machten aus einer listigen Usurpation ein unaufhebbares Recht und zwangen von nun an das gesamte Menschengeschlecht für den Gewinn einiger Ehrgeiziger zur Arbeit, zur Knechtschaft und zum Elend.15 Telle fut […] l’origine de la Société et des Loix, qui donnérent de nouvelles entraves au foible et de nouvelles forces au riche, détruisirent sans retour la liberté naturelle, fixérent pour jamais la Loi de la propriété et de l’inégalité, d’une adroite usurpation firent un droit irrévocable, et pour le profit de quelques ambitieux assujétirent désormais tout le Genre-humain au travail, à la servitude et à la misére (OC III, 178).

Damit geht Rousseau dazu über, in seiner zeitgenössischen Gesellschaft den Verfall der Freiheit zu beklagen. Ihm zufolge ist die „edelste Fähigkeit des Menschen“ („la plus noble des facultés de l’homme“)16 vom Untergang bedroht in einem Umfeld, das ganz auf die Maximierung des persönlichen Erfolgs und der sozialen Anerkennung ausgerichtet ist: Kurzum: da wir immer die anderen darüber befragen, was wir sind, und niemals wagen, uns selbst darüber auszuhören, haben wir inmitten von soviel Philosophie, Humanität, Höflichkeit und erhabenen Grundsätzen nur eine trügerische und leichtfertige Außenseite: Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück. Der Beweis genügt mir, daß dieser Zustand nicht der ursprüngliche Zustand des Menschen ist, und nur der Geist der Gesellschaft und die von ihr heraufbeschworene Ungleichheit alle unsere natürlichen Neigungen so verändern und verderben.17

14 J.-J. Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit“, 191. „Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile“ (OC III, 164). 15 J.-J. Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit“, 229. 16 J.-J. Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit“, 241 (OC III, 183). 17 J.-J. Rousseau: „Über den Ursprung der Ungleichheit“, 267.



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[C]omment, en un mot, demandant toujours aux autres ce que nous sommes et n’osant jamais nous interroger là-dessus nous mêmes, au milieu de tant de Philosophie, d’humanité, de politesse et de maximes Sublimes, nous n’avons qu’un extérieur trompeur et frivole, de l’honneur sans vertu, de la raison sans sagesse, et du plaisir sans bonheur. Il me suffit d’avoir prouvé que ce n’est point-là l’état originel de l’homme, et que c’est le seul esprit de la Société et l’inégalité qu’elle engendre, qui changent et altérent ainsi toutes nos inclinations naturelles (OC III, 193).

Angesichts dieses „Geistes der Gesellschaft“, des unaufhaltsamen Fortschreitens der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft und der mit ihr einhergehenden Verhaltensmuster und normativen Selbstbilder, befällt Rousseau eine republikanische Melancholie über den Verlust der Freiheit, die ihr Echo noch in Max Webers „Geist des Kapitalismus“ findet – nur sind es hier nicht „Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück“, die einem begegnen, sondern „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“ als dominierender Menschentypus der rationalisierten, bürokratischen Herrschaft.18 Gleichwohl hat Rousseau neben dieser kultur- und zivilisationskritischen Perspektive auf die Entwicklung der modernen Wirtschaftsgesellschaft auch einen Versuch unternommen, den Freiheitsbegriff zu retten und die Gelingensbedingungen und Bestandsvoraussetzungen für eine republikanische Ordnung auch politikökonomisch dargelegt. Obgleich er gegenüber den Realisierungschancen einer solchen republikanischen Ordnung skeptisch blieb, lohnt sich doch ein Blick auf diese alternative Perspektive, in der die ökonomischen Fragen in den Dienst der politiktheoretischen Fragestellung nach den Verwirklichungschancen eines freien Gemeinwesens gestellt werden.

2 Politische Ökonomie Eine ausführliche Überlegung zu den ökonomischen Möglichkeitsbedingungen einer republikanischen Ordnung findet sich in Rousseaus Discours sur l’économie politique, der zuerst 1755 als Artikel im fünften Band von d’Alemberts und Diderots Encyclopédie gedruckt wird und damit unmittelbar im Anschluss an den Discours sur l’inégalité erscheint. Auch inhaltlich bildet dieser Text eine Brücke zwischen der frühen Zivilisationskritik des ersten und zweiten Discours auf der einen Seite und dem späteren Contrat social sowie den beiden Verfassungsentwürfen auf der anderen. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen legt Rousseau unmissverständlich dar, dass er den

18 Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Aufl., Tübingen 1988, 17–206, hier 204. Zur Ähnlichkeit von Rous­ seaus und Webers Geschichtsdenken und zur Einordnung Webers in die Tradition von Aristoteles, Machiavelli, Rousseau und Tocqueville vgl. Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, 221: „[I]st die Gelegenheit zur Freiheit einmal verpasst, kommt sie nicht wieder. Weber hat Rous­ seau sehr gründlich studiert und wohl alles Wichtige von ihm gelesen.“

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Begriff der „Ökonomie“ („économie“) in der Tradition der klassischen aristotelischen Philosophie versteht: [D]ieses Wort kommt von oikos (Haus) und nomos (Gesetz) und bedeutete ursprünglich nur die weise und rechtmäßige Führung des Hauses zum Wohl der ganzen Familie. Der Sinn dieses Begriffs ist später ausgedehnt worden auf die Führung der großen Familie, die der Staat darstellt.19 [C]e mot vient de οίχος, maison, et de νόμος, loi, et ne signifie originairement que le sage et légitime gouvernement de la maison, pour le bien commun de toute la famille. Le sens de ce terme a été dans la suite étendu au gouvernement de la grande famille, qui est l’état (OC III, 241).

Daran anschließend unterscheidet er zwischen der Allgemeinen Ökonomie (écono­ mie générale, ou politique), die auch als Politik bezeichnet werden kann und die den Fortgang des Artikels ausschließlich bestimmt, und der häuslichen Ökonomie (éco­ nomie domestique, ou particulière), die sich auch als Hauswirtschaft bezeichnen ließe und der Rousseau – wie noch zu zeigen sein wird – vor allem in der Nouvelle Héloïse mehrere Kapitel widmet. Im Encyclopédie-Artikel verweist er diesbezüglich jedoch nur auf den Eintrag pere de famille. Schaut man im zwölften Band der Encyclopédie nach, so findet sich dort allerdings lediglich der Artikel pere von Jaucourt, der den Begriff im Rahmen des Naturrechts behandelt und ihn als „engste, in der Natur existierende Beziehung“ bezeichnet.20 Trotz der begrifflichen Nähe implizieren die politische Ökonomie und die Ökonomie des Hausverbands für Rousseau jeweils ganz verschiedene Verhaltensregeln. Damit folgt er dem klassischen Vorbild des Aristoteles, der in seiner politischen Philosophie mit der zentralen Unterscheidung von polis und oikos operiert und damit das Reich der Notwendigkeit und der hierarchisch verfassten Herrschaft (oikos) von dem Reich der Freiheit und der egalitären Beziehung der Bürger (polis) trennt.21 Unter Rekurs auf Aristoteles argumentiert er auch gegen die Verwechselung beider Kategorien in Robert Filmers Patriarcha,22 der die monarchische Souveränität in Analogie zur Herrschaftsgewalt des Erstgeborenen in der Nachfolge Adams legitimieren wollte. Rousseau besitzt noch keinen ausdifferenzierten Begriff der Ökonomie, der sich vom politischen Gemeinwesen trennen ließe.23 Ein autonomes, nach eigenen Geset-

19 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 333–377, hier 335. 20 Louis de Jaucourt: Art. „Pere“, in Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres, tome XII, Paris 1765, 338 (dt. v. Anastasia Pyschny). 21 Vgl. Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. u. hg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, I 3, 1253b1. 22 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 338 (OC III, 244). 23 Siehe I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 211.



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zen funktionierendes Wirtschaftssystem ist für ihn nicht denkbar: Vielmehr bleibt alles, die wirtschaftliche Güterproduktion und -verteilung ebenso wie die staatlichen Finanzen, der Integration des politischen Gemeinwesens nachgeordnet, wie das von ihm verwendete Bild vom Staat als politischer Körper anschaulich demonstriert: Der Staat [corps politique] kann, individuell gefaßt, als ein organisierter, lebender Körper betrachtet werden, der dem des Menschen ähnelt. Die souveräne Macht stellt den Kopf dar; die Gesetze und die Gebräuche sind das Hirn, der Ursprung der Nerven und der Sitz der Erkenntniskraft, des Willens und der Sinne; die Richter und Staatsbeamten sind seine Organe; der Handel, die Gewerbe und die Landwirtschaft sind der Mund und der Magen, die für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgen; die öffentlichen Finanzen sind das Blut, das eine weise Ökono­ mie, indem sie die Funktionen des Herzens wahrnimmt, durch den ganzen Körper sendet, um Nahrung und Lebenskraft zu verteilen; die Staatsbürger sind der Körper und die Glieder, die die Maschine in Bewegung setzen, am Leben erhalten und arbeiten lassen […]. Das Leben des einen wie des anderen ist das dem Ganzen gemeinsame Ich, das Empfinden füreinander und die innere Übereinstimmung aller Teile.24 Le corps politique, pris individuellement, peut être considéré comme un corps organisé, vivant, et semblable à celui de l’homme. Le pouvoir souverain représente la tête; les lois et les coûtumes sont le cerveau, principe des nerfs et siége de l’entendement, de la volonté, et des sens, dont les juges et magistrats sont les organes; le commerce, l’industrie, et l’agriculture, sont la bouche et l’estomac qui préparent la subsistance commune; les finances publiques sont le sang qu’une sage économie, en faisant les fonctions du cœur, renvoye distribuer par tout le corps la nourriture et la vie; les citoyens sont le corps et les membres qui font mouvoir, vivre, et travailler la machine […]. La vie de l’un et de l’autre est le moi commun au tout, la sensibilité réciproque, et la correspondance interne de toutes les parties (OC III, 244–245).

Die Organismus-Metaphorik dieser Passage sollte jedoch nicht zu dem Fehlschluss verleiten, Rousseau würde die politische Ordnung als Naturwesen entwerfen. Vielmehr betont er gerade die Künstlichkeit der politischen Verfassungsordnung, die nicht von der Natur, sondern von den menschengemachten Gesetzen her verstanden werden müsse.25 Gleichwohl gilt die Analogie zwischen individuellem und kollektivem Körper insofern, als Rousseau damit demonstrieren will, dass es sich auch beim politischen Gemeinwesen um ein moralisches Wesen mit einem eigenen Willen handeln muss.26 Eben dieser eigene Willen ist es, der für Rousseau das Spezifische der politischen Ökonomie ausmacht und der sich in den Gesetzen manifestiert, die als Resultat des Gemeinwillens die Grundlage für das gemeinsame Handeln liefern. Teil des politischen Gemeinwesens, der politischen Ökonomie, sind die öffentlichen Finanzen. Auch wenn er die Existenz dieser Einrichtung für unabdingbar hält,

24 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 339 (Hervorh. i. Orig., Daniel Schulz). 25 Siehe dazu Daniel Schulz: „Naturerzählungen und republikanische Geltungsbedingungen bei Rousseau“, in Hans Vorländer (Hg.): Demokratie und Transzendenz, Bielefeld 2013, 335–359. 26 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 339 (OC III, 245).

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so wird sie von Rousseau doch auch als Problem angesehen: In erster Linie geht es ihm um die Bedrohung durch Korruption, die sich bei einer arbeitsteiligen Organisation des politischen Gemeinwesens zwischen Bürgern und Magistraten zwangsläufig auftut und gerade im Bereich der öffentlichen Finanzen tendenziell dazu führt, dass der Staat von den Bürgern immer mehr Abgaben fordert, als zur Erfüllung der öffentlichen Bedürfnisse erforderlich und angemessen wären. Damit nicht genug führt die öffentliche Finanzierung staatlicher Einrichtungen, die mit den ihnen zur Verfügung gestellten Mitteln Aufgaben für das Gemeinwohl erfüllen sollen, außerdem zu einer Entfremdung von Bürgern und Staat in dem Sinne, dass den Bürgern hier ihre eigene Unselbstständigkeit stets vor Augen geführt wird und damit der Kern der staatlichen Vereinigung durch Missgunst und Neid auf die politischen Funktionsträger bedroht wird.27 Diese Tendenz ist umso gefährlicher, als es sich bei den öffentlichen Mitteln doch um die Mittel des gesamten Volkes handelt, die auf diese Weise eine ganz eigene Dignität erhalten: Rousseau spricht gar von der Heiligung, welche die Abgaben der Bürger in ihrer Transformation zu Mitteln der Allgemeinheit erfahren.28 Eine Unterschlagung dieser Mittel käme damit einem „Majestätsverbrechen“ („lèse majesté“) gleich.29 Iring Fetscher hat auf die Parallelen hingewiesen, die zwischen diesem Begriff des öffentlichen Eigentums bei Rousseau und dem Volkseigentum in der Sowjetunion bestehen: Das Volkseigentum war dort durch erhöhte Sanktionsdrohungen sehr viel stärker geschützt als das Privateigentum. Ein Angriff gegen Staatseigentum wurde nicht nur als Gesetzesbruch, sondern als Angriff auf den Staat selbst und somit als Verrat geahndet.30 Aber noch eine andere Parallele ist in diesem Zusammenhang von Interesse: Das potentielle Vergehen am Gemeinwesen ist auch der zentrale Kern dessen, was Rousseau durch den Topos der Zivilreligion behandelt wissen will.31 Für die Verfassung Korsikas hatte Rousseau einen Bürgerschwur auf die Verfassungsgrundsätze geplant, und auch in der ersten Version des Contrat social war noch der explizite Schwur in Form eines Glaubensbekenntnisses aller Bürger enthalten.32 Auch

27 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 361 (OC III, 264). 28 Nachdem die Steuermittel durch die parlamentarische Versammlung des Volkes zu öffentliche Mitteln deklariert worden sind, „verändern sie sozusagen ihre Natur, und ihre Einnahmen werden so heilig, daß es nicht nur die verruchteste Art des Diebstahls, sondern ein Majestätsverbrechen ist, den geringsten Teil davon wider ihre Bestimmungen abzuzweigen.“ J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 362 (OC III, 265). 29 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 362 (OC III, 265). 30 Siehe I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 225. 31 Dazu Michaela Rehm: Bürgerliches Glaubensbekenntnis. Moral und Religion in Rousseaus politi­­ scher Philosophie, München 2006. Für ausführlichere Hinweise zum Folgenden vgl. auch D. Schulz: „Naturerzählungen“, 291–292. 32 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Du Contract Social ou Essai sur la forme de la République (première version)“, in ders.: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964, 279–346, hier 340–342. Die Bekenntnisformel des korsischen Bürgerschwurs, die



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wenn die Zeremonie in der endgültigen Fassung nicht mehr erwähnt wird, so bleibt doch die sanktionsbewehrte Verpflichtung der Bürger durch den Souverän auf die Dogmen der Zivilreligion bestehen: die Existenz Gottes, ein Leben nach dem Tode sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze; als negatives Dogma abgelehnt werden muss die Intoleranz, in weltlicher wie in religiöser Hinsicht. Ob das bürgerliche Glaubensbekenntnis in öffentlich-ritualisierter Form gedacht wird oder in der schwächeren Form einer bloßen Verhaltenskonformität: Es bleibt für den öffentlichen Verrat an der geheiligten Verfassung die Todesstrafe.33 Zwar wird über die Verräter am Geist der Gesetze wenig gesagt, gemeint sind jedoch in erster Linie Übergriffe auf die symbolisch-sakrale Dimension der Konstitution, in denen ihr heiliger Verpflichtungscharakter in Frage gestellt wird – eine Art republikanische lèsemajesté, eine Verletzung des künstlich-symbolischen Körpers der Verfassung, die für jedermann sichtbar die Transzendenzbehauptung in Frage stellt und die daher ebenso sichtbar bestraft werden muss, um die Verletzung des Souveräns wieder zu heilen. Problematisch ist dabei die staatliche Deutungshoheit über einen solchen Verrat, der bei weiter Auslegung mit jeglichem Gesetzesverstoß identisch wäre, zumal Rousseau nur ungenau zwischen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen differenziert. In diesem sanktionsbewehrten Verfügungswillen über das Glaubensbekenntnis liegt daher die Illiberalität der ganzen Konstruktion. Die Heiligung der fiskalischen Mittel liegt nun genau auf derselben Linie: Ihre Aneignung durch Korruption oder Betrug kommt in Rousseaus Perspektive einer Verletzung des politischen Körpers, des Gemeinwesens gleich.34 Ein an der eigenen Bereicherung interessierter Betrüger ist damit zugleich mehr als dies, nämlich ein Verräter des republikanischen Geistes. Während aus liberaler Perspektive ein solcher Betrug von Amtsträgern tendenziell dem Straftatbestand im privaten Verkehr angeglichen werden kann, gewinnt dieses Phänomen bei Rousseau ein besonderes Gewicht durch seine symbolische Dimension: Mit dem Verfügungsversuch über die

sich in einem der Fragmente des Verfassungsentwurfs findet, lautet: „Im Namen Gottes des Allmäch­­ tigen und auf die heiligen Evangelien vereinige ich mich durch einen heiligen und unwiderruflichen Schwur mit Körper, Gütern, Willen und all meiner Kraft mit dem korsischen Volk, um ihm gänzlich anzugehören, ich und alles, was von mir abhängig ist. Ich schwöre, für es zu leben und zu sterben, all seine Gesetze zu befolgen und seinen Oberhäuptern und seiner rechtmäßigen Obrigkeit in allem, was mit den Gesetzen übereinstimmt, zu gehorchen. Möge der Herr mir beistehen in diesem Leben und sich meiner Seele erbarmen. Es lebe auf immer die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Republik der Korsen. Amen.“ Jean-Jacques Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, in ders.: Sozial­­ philosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. von Eckardt Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 507–561, hier 554 (OC III, 943). 33 Vgl. J.-J. Rousseau: „Du Contract Social (première version)“, 341. 34 Zur ideengeschichtlichen und politiktheoretischen Verortung des Korruptionstopos vgl. die Bei­ träge in Harald Bluhm/Karsten Fischer (Hgg.): Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Macht. Theorien politischer Korruption, Baden-Baden 2002.

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heiligen, unantastbaren Ressourcen des Gemeinwesens wird zugleich die Geltung der gesamten Ordnung in Frage gestellt. Der Betrugsversuch zerstört die staatliche Sakralitätsbehauptung und macht in der Profanierung die Fragilität der politischen Ordnung wieder sichtbar, die zuvor aufwändig invisibilisiert worden war. Korruption und Betrug im Amt sind zudem sichtbare Zeichen dafür, dass der Gemeinwille, der das Gemeinwesen tragende Gemeinsinn, durch das Privatinteresse der individuellen Bereicherung zerstört wird. Aber nicht erst die gesetzeswidrige Aneignung von Steuermitteln durch korrumpierte Beamte ist ein Symptom für den Verfall eines Gemeinwesens. Rousseaus Position geht hier ebenfalls weit über eine liberale Position hinaus und macht den modernen Steuerstaat selbst zum Gegenstand einer republikanischen Kritik an der Entfremdung der Bürger von der politischen Ordnung. Korruption besteht demnach nicht erst in dem Moment, wenn fiskalische Mittel unbefugt und betrügerisch angeeignet werden. Gegenüber einem herkömmlichen Wirtschaftsbetrug besitzt dies zwar für Rousseau eine weitaus größere Tragweite, da es sich hier um eine Profanierung des Sakralen handelt, um eine individuelle Aneignung ursprünglich dem Gemeinwohl zugeeigneter Mittel der Allgemeinheit, die solchermaßen partikularisiert und damit ihrer Unverfügbarkeit durch den Einzelwillen beraubt werden. Schlimmer noch aber ist es, wenn die politischen Beziehungen im Gemeinwesen auf monetäre Beziehungen reduziert werden und der Bürger mit dem Staat nur noch in seiner Rolle als Steuerzahler verbunden ist: „und man kann sagen, daß eine Regierung die letzte Stufe des Niedergangs erreicht hat, wenn sie keinen anderen Lebensnerv mehr hat als das Geld“ („et l’on peut dire qu’un gouvernement est parvenu à son dernier degré de corruption, quand il n’a plus d’autre nerf que l’argent“).35 Damit generalisiert Rousseau hier für das politische Gemeinwesen, was er im kleinen Maßstab in der utopischen Gemeinschaft von Clarens in der Nouvelle Héloïse literarisch entwirft.36 Geld ist für Rousseau unter allen Formen der Vermittlung sozialer Beziehung die abstrakteste, ja neben dem Recht das abstrakte Mittel schlechthin.37 Seine Kritik des Geldkreislaufs und der Steuern ist damit Teil einer Vermittlungskritik an den modernen Integrationsmedien des Liberalismus, die die Einzelnen über die systemischen, überindividuellen Vermittlungsformen Recht und Markt zu einer Allgemeinheit aggregieren sollen, ohne von den Individuen einen intrinsischen Gemeinsinn einzufordern, der mehr umfasste als die Bereitschaft, sich den äußeren Verhaltenserwartungen der Rechtsbefolgung und der Interessenmaximierung zu unterwerfen. Damit aber wird für Rousseau das höchste normative Ideal der Unmit-

35 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 363 (OC III, 266). 36 Siehe dazu J. Starobinski: Transparence, 131. 37 Die liberale Gegenposition hierzu hat Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes (München, Leipzig 1920) vertreten. Vgl. dazu ausführlich I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 235–237.



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telbarkeit im konkreten Wortsinn verfehlt, das eine gelungene Vergemeinschaftungserfahrung erst möglich machen würde. Rousseau wendet sich gegen die Besteuerung von Land und von landwirtschaftlichen Produkten, da eine Kornsteuer durch die Verteuerung von Lebensmitteln das Wachstum der Bevölkerung beinträchtigen und damit die existenziellen Grundlagen der Nation beschädigen würde. Stattdessen, so Rousseau, könne die Besteuerung des Exportes und des Importes von Waren, die über die notwendigen Bedürfnisse hinausgehen, für hinreichende Mittel sorgen, um die Aufgaben des Staates zu finanzieren. Rousseau dachte dabei explizit an eine Luxus- und Reichensteuer und an einen Freibetrag für ein gewisses Grundeinkommen, um die Subsistenz der Armen steuerfrei zu halten.38 Während die Entlastung der unteren Bevölkerungsschichten dem Staat durch das damit verbundene Wachstum der Bevölkerung keine Nachteile beschere, nutze auch eine Luxussteuer mehr als dass sie – etwa durch einen Rückgang der Nachfrage – schadete: Rousseau macht deutlich, dass es sich hier um conspicuous consumption,39 um eine auf öffentliche Wirkung und soziale Geltung und Distinktion zielende Form des Konsums handelt, die auch durch die Erhebung von Steuern nicht eingeschränkt, sondern eher noch ausgeweitet werden würde, da die Verteuerung bestimmter Produkte zugleich deren exklusiven Distinktionswert steigere: Man erhebe hohe Steuern auf Dienerkleidung, auf Equipagen, Spiegel, Lüster und Mobiliar, auf Stoffe und Vergoldungen, auf die Höfe und Gärten der Wohnsitze, auf Schauspiele aller Art […], mit einem Wort, auf all die Dinge, die dem Luxus, dem Vergnügen und dem Müßiggang dienen, alle Augen blenden und um so weniger verborgen werden können, als ihr einziger Zweck darin besteht, sich zu zeigen, so daß sie unnütz wären, wenn man sie nicht sehen könnte. […] Solange es Reiche gibt, werden sie sich von den Armen unterscheiden wollen, und der Staat kann sich nirgends eine weniger drückende und sicherere Einnahme verschaffen als aus diesem Unterschied.40

38 Zu Rousseaus Ansichten über Steuerpolitik vgl. Rosenblatt: Rousseau and Geneva, 196–203. Ro­ senblatt widmet sich insbesondere der Akzentuierung des individuellen Eigentumsrechts im Dis­ cours sur l’économie, die sich in dieser Form weder im ersten und zweiten Discours noch im Contrat social findet. Ihrer Meinung nach lässt sich Rousseaus Behandlung der Thematik aus der besonde­ ren politischen Konfliktlinie zwischen den Bürgern und den Magistraten im Streit um die Zustim­ mungspflichtigkeit von Steuergesetzen in Genf erklären. Ryan Patrick Hanley unternimmt dagegen den ambitionierten Versuch, aus dem Encyclopédie-Artikel einen vorrangig am Schutz individueller Eigentumsrechte interessierten Rousseau herauszulesen: „a ‚prioritarian libertarianism‘, focused on protecting and maximizing the individual freedoms of the least well off“. Ryan Patrick Hanley: „Po­ litical Economy and Individual Liberty“, in Eve Grace/Christopher Kelly (Eds.): The Challenge of Rous­ seau, Cambridge 2013, 34–56, hier 56. 39 Vgl. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study in the Evolution of In­ stitutions, New York 1899 (dt.: ders., Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der In­stitutionen, dt. v. Suzanne Heintz u. Peter von Haselberg, Köln, Berlin 1958). 40 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, 375.

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Qu’on établisse de fortes taxes sur la livrée, sur les équipages, sur les glaces, lustres, et ameublemens, sur les étoffes et la dorure, sur les cours et jardins des hôtels, sur les spectacles de toute espece […], et en un mot sur cette foule d’objets de luxe, d’amusement et d’oisiveté, qui frappent tous les yeux, et qui peuvent d’autant moins se cacher, que leur seul usage est de se montrer, et qu’ils seroient inutiles s’ils n’étoient vûs. […] Tant qu’il y aura des riches, ils voudront se distinguer des pauvres, et l’état ne sauroit se former un revenu moins onéreux ni plus assuré que sur cette distinction (OC III, 276–277).

An diese ökonomische und fiskalpolitische Grundlagenreflektion des Discours sur l’économie politique schließen die beiden Verfassungsentwürfe und der Contrat social unmittelbar an. Der Gesellschaftsvertrag schafft erst die Möglichkeitsbedingung von Eigentum, indem er dem reinen Besitz einen Rechtstitel verleiht. Damit steht Rousseau hier wie bereits in den ersten beiden Diskursen Hobbes’ Eigentumsbegründung näher als der Lockes, der von einem Eigentumsrecht schon im Naturzustand ausgeht – eine Position, die Rousseau nur im Discours sur l’économie politique anklingen lässt und die er später wieder fallengelassen hat.41 Allerdings hält er nicht jede vertraglich geregelte Verteilung von Besitz für gerechtfertigt: Im Unterschied zum Vertrag „den die ‚riches‘ vorschlagen“,42 knüpft Rousseau an den gerechten Gesellschaftsvertrag die Bedingung einer relativen Gleichheit, die keine zu große Ungleichverteilung des Besitzes zulässt. An die Stelle der ursprünglichen natürlichen Gleichheit tritt mit dem Gesellschaftsvertrag eine „sittliche und rechtliche Gleichheit“, die nur dann Bestand haben kann, wenn sie nicht durch eine radikale materielle Ungleichheit ausgehebelt wird: „Daraus folgt, dass der gesellschaftliche Stand für Menschen nur vorteilhaft ist, soweit sie alle etwas besitzen und niemand zu viel besitzt.“43 Rousseaus Bedingungen für die Errichtung einer Republik sprechen zudem in wirtschaftlicher Hinsicht eine klare Sprache: Nur ein solches Volk ist zu einer erfolgreichen Gründung einer Verfassung in der Lage, „das weder reich noch arm ist und sich selbst erhalten kann“ („qui n’est ni riche ni pauvre et peut se suffire à lui-même“).44 In seinem Entwurf für die Verfassung Korsikas sieht Rousseau in den natürlichen und sozialen Gegebenheiten der Insel buchstäblich einen fruchtbaren Boden für diese Autarkieforderung bei einer relativen Gleichverteilung des materiellen Besitzes; gleichwohl müssen auch institutionelle Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass sich diese Bedingungen dauerhaft erhalten. Hier wird vor allem die Landwirtschaft als der entscheidende

41 Vgl. das berühmte 5. Kapitel über das Eigentum in John Locke: Zwei Abhandlungen über die Re­ gierung, übers. v. Hans Jörn Hoffmann, hg. u. eingel. v. Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/Main 1998, 215–231. 42 I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 49. 43 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusammen­ arb. m. Eva Pietzcker neu übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2003, 26. „D’où il suit que l’état social n’est avantageux aux hommes qu’autant qu’ils ont tous quelque chose et qu’aucun d’eux n’a rien de trop“ (OC III, 367). 44 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 55 (OC III, 390–391).



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ökonomische Faktor beschrieben, der in der Lage sei, die Grundlage für ein freies Gemeinwesen zu bilden.45 Rousseau stimmt in seinem Verfassungsprojekt ein wahres Loblied auf die agrarische Produktionsweise an, die er weniger als Quelle von Reichtum denn als Lebensform preist, da sie die Bürger gegen die insbesondere in den Städten allgegenwärtigen Versuchungen der liberalen Gesellschaft und ihre tugendzersetzenden künstlichen Bedürfnisse immunisiere. Die Landwirtschaft schaffe nicht nur die ökonomischen Bedingungen von Subsistenz und Autarkie, sondern erzeuge auch durch die mit ihr verbundenen soziomoralischen Einstellungen und Habitusformen jene Bindungs- und Verpflichtungsverhältnisse, die von fundamentaler Bedeutung für den Erhalt der Republik seien: „Der Handel erzeugt den Reichtum, doch der Ackerbau sichert die Freiheit.“46 Eine Reihe von Vorkehrungen soll helfen, diesen vorteilhaften Zustand zu erhalten: So können Abgaben sowohl in Form von Geld als auch in Naturalien beglichen werden. Rousseau führt damit konsequent seine Kritik am Steuerwesen fort, die im Discours sur l’économie politique bereits angeklungen war und die dann besonders vehement im Contrat social zum Ausdruck kommt: Sobald der Dienst am Staat aufhört, die hauptsächlichste Angelegenheit der Bürger zu sein, und diese vorziehen, mit der Geldbörse statt mit ihrer Person zu dienen, ist der Staat seinem Zerfall schon nahe. [...] Plackerei in Handel und Künsten, gieriges Gewinnstreben, Schlaffheit und Bequemlichkeitsliebe verwandeln die persönlichen Dienste in Geld. Man tritt einen Teil seines Gewinns ab, um ihn beliebig zu steigern. Gebt Silber, und bald werdet ihr in Eisen liegen. Das Wort Steuer ist ein Sklavenwort; in der Polis ist es unbekannt. In einem wirklich freien Staat tun die Bürger alles eigenhändig und nichts mit Geld.47 Sitôt que le service public cesse d’être la principale affaire des Citoyens, et qu’ils aiment mieux servir de leur bourse que de leur personne, l’Etat est déja près de sa ruine. […] C’est le tracas du commerce et des arts, c’est l’avide intérêt du gain, c’est la molesse et l’amour des comodités, qui changent les services personnels en argent. On cede une partie de son profit pour l’augmenter à son aise. Donnez de l’argent, et bientôt vous aurez des fers. Ce mot de finance est un mot d’esclave; il est inconnu dans la Cité. Dans un Etat vraiment libre les citoy­ ens font tout avec leurs bras et rien avec de l’argent (OC III, 428–429).

Auch die Erbschaftssteuer ist für Rousseau ein Instrument des Egalitarismus, mit dessen Hilfe sich an besonders sensibler Stelle die Ungleichverteilung der Reichtümer korrigieren lässt: „Die Gesetze, welche die Erbfolgen betreffen, müssen allesamt darauf abzielen, die Dinge zur Gleichheit zurückzuführen, so daß ein jeder etwas

45 Vgl. J.-J. Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, 513–515 (OC III, 904–905). 46 J.-J. Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, 514. „Le commerce produit la richesse mais l’agriculture assure la liberté“ (OC III, 905). 47 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 102 (Hervorh. i. Orig., Daniel Schulz).

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besitze und niemand zuviel davon habe.“48 Außerdem beinhaltet die Verfassung eine konsequente Umsetzung der Rousseau’schen Aversion gegen Luxusgüter, die sich beispielsweise in einem kuriosen Verbot von Kutschen auf der Insel äußert, da sie als besonders sichtbares Symbol der Ungleichheit und der überflüssigen Distinktionsbedürfnisse betrachtet werden. Reisen auf Korsika sollen daher nur zu Fuß oder zu Pferde gestattet werden.49 Ähnliche wirtschaftspolitische Überlegungen liegen dem Verfassungsentwurf für Polen zugrunde, wenngleich Rousseau aufgrund des höheren wirtschaftlichen Entwicklungsstandes Polens hier weitaus skeptischer argumentiert als im Falle Korsikas.50

3 Ökonomie des Privaten Nun ist die Organisation des Verhältnisses von Politik und Ökonomie nicht nur für die öffentliche Sphäre des Staates von größter Bedeutung. Auch für die Sphäre des NichtÖffentlichen, der familiären Privatheit, stellt Rousseau Überlegungen an bezüglich der Frage, wie eine richtige Ausgestaltung der wirtschaftlichen Tätigkeit dazu beitragen kann, dem Ideal einer egalitären Tugendgemeinschaft näher zu kommen. Den Bereich der nicht-öffentlichen Ökonomie, also die Verwaltung des Hauses, hat Rousseau in seinem Briefroman La Nouvelle Héloïse ausführlich dargestellt. Der Roman enthält detaillierte Abhandlungen darüber, wie das Verhältnis von Hausherren und Dienstpersonal auszugestalten sei, wie die Besitztümer am vorteilhaftesten zu verwalten und wie schließlich die Kinder zu erziehen seien.51 Dabei handelt es sich allerdings – wie im Émile – nicht um eine Ergänzung der politischen Ordnung, sondern um die Frage, wie sich im Umfeld einer bereits weitgehend verdorbenen Ordnung dennoch eine Form gelingender menschlicher Existenz verwirklichen lasse. Clarens ist daher eine geschlossene Gemeinschaft der gleichen Freiheit, die nur im privaten Raum vorgestellt werden kann, weil die öffentliche Ordnung nach anderen Prinzipien  – Ehrgeiz, Profitgier, Konkurrenz um Anerkennung – funktioniert. Der wirtschaftlichen Grundlage dieser Utopie kommt deshalb eine gesteigerte Bedeutung zu, weil Rousseau hier zeigen will, wie sich eine kleine intakte Gemeinschaft dauerhaft

48 J.-J. Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, 555–556. „Les Loix concernant les succes­ sions doivent toutes tendre à ramener les choses à l’égalité, en sorte que chacun ait quelque chose et que personne n’ait rien de trop“ (OC III, 945). 49 Vgl. J.-J. Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, 556 (OC III, 945). 50 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorge­ schlagene Reform“, in ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, in Erstübertr. von Eckardt Koch […] sowie bearb. u. erg. Übers. a. d. 18. u. 19. Jhdt., m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Eckart Koch u. e. Nachw. v. Iring Fetscher, München 1981, 563–655 (OC III, 951–1041). 51 Siehe dazu die Anmerkung 2 der Herausgeber zu Rousseaus Discours sur l’économie politique (OC III, 1390).



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erhalten kann, indem sie ihren Güteraustausch mit der sie umgebenden Gesellschaft auf das notwendige Mindestmaß reduziert. Erwähnenswert ist zunächst, dass sich Rousseau dem Problem der Erzeugung von Loyalität in diesem Kontext auf eine ganz andere Weise zuwendet, als er es zuvor in seinen politischen Ordnungsentwürfen getan hatte: In der Wirtschaftsgemeinschaft von Clarens bleibt das Zusammenleben von Herren und Dienern hierarchisch gegliedert, aber dennoch durch einen Geist der Gleichheit vereint. Dieser Geist realisiert sich allerdings nur ausnahmsweise im Moment des gemeinsamen Festes und bleibt ansonsten darauf angewiesen, dass den Untergebenen von ihren Herren – entgegen der tatsächlichen Verhältnisse – das Gefühl vermittelt wird, gleichwertige Mitglieder der Hausgemeinschaft zu sein. Die Hausherrin Julie sorgt dabei im alltäglichen Hausgeschäft dafür, ein Gefühl der Aufmerksamkeit und der Achtung vor dem Beitrag jedes einzelnen Mitgliedes der Gemeinschaft zu vermitteln und auf diese Weise die autoritäre Leitung durch das Erteilen direkter Befehle überflüssig zu machen: Nicht die direkte Befehlsgewalt, sondern „die anbetungswürdige und mächtige Herrschaft“ („l’adorable et puissant empire“) der „wohltätige[n] Schönheit“ („la beauté bienfaisante“) ist es,52 auf der die Hausgemeinschaft basiert. Dabei steht hinter dieser Anweisung zur gelungenen Führung der Hausgemeinschaft nicht zuerst eine ethische Idee der Achtung oder der Anerkennung, sondern durchaus ein aufgeklärtes Interesse an der dauerhaften Motivation des Personals und der Förderung eines Gesamtklimas, das der Harmonie der häuslichen Gemeinschaft zuträglich ist. Zudem wird auf diese Weise vermieden, eine allzu hohe Fluktuation des Dienstpersonals in Kauf nehmen zu müssen, die der Kontinuität der Arbeitsabläufe und damit der Gemeinschaft schadete: Wenn man seine eigenen Bedienten auf diese Art ausbildet und erzieht, muß man sich nicht den so verbreiteten, aber so verständnislosen Vorwurf machen: Ich werde sie nur für andre ausgebildet haben. „Bildet sie aus, wie sich’s gebührt“, könnte man ihnen antworten, „so werden sie niemals andern dienen. Denkt ihr bei ihrer Ausbildung nur an euch, so tun sie recht daran, wenn sie nur an sich denken, und von euch weggehen. Beschäftigt ihr euch aber mit ihnen ein wenig mehr, so werden sie euch zugetan bleiben. Nur die Absicht verpflichtet uns […].“53 C’est ainsi qu’en formant et dressant ses propres Domestiques on n’a point à se faire cette objection si commune et si peu sensée: je les aurai formés pour d’autres. Formez-les comme il faut, pourroit-on répondre, et jamais ils ne serviront d’autres. Si vous ne songez qu’à vous en les formant, en vous quitant ils font fort bien de ne songer qu’à eux; mais occupez-vous d’eux un peu davantage et ils vous demeureront attachés. Il n’y a que l’intention qui oblige (OC II, 445–446).

52 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, in der ersten dt. Übertr. v. Johann Gottfried Gellius, vollst. überarb. u. erg. sowie m. e. Zeittaf. vers. v. Dietrich Leube, m. Anm. u. e. Nachwort v. Reinhold Wolff, 2. Aufl., München 1988, 464 (OC II, 444). 53 J.-J. Rousseau: Julie oder die neue Héloïse, 466.

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Die solcherart gestiftete Loyalität dient also der Verstetigung der sozialen Konstellation von Clarens und bildet bei allen Beteiligten ein enges Zugehörigkeitsgefühl aus, das aus der instrumentellen Wirtschaftsgesellschaft eine familienähnliche Gemeinschaft werden lässt und Bindung aus dem Gefühl der Gleichheit und der Gegenseitigkeit der Verpflichtung erzeugt: „Habe ich Unrecht […], wenn ich eine so sehr geliebte Herrschaft mit Vätern und die Bedienten mit ihren Kindern vergleiche?“54 Schließlich beruht auch die Kindeserziehung weder auf der bedingungslosen Unterordnung noch auf der vermeintlichen Gleichheit von Eltern und Kindern. Auch hier geht es Rousseau in erster Linie darum, eine direkte Ausübung der hausväterlichen Gewalt dadurch überflüssig zu machen, dass die ihr Unterworfenen – in diesem Falle die Kinder – das Gefühl der Anerkennung ihrer Bedürfnisse erhalten und ein dadurch erzeugtes gemeinsames Einvernehmen die häusliche Ordnung durch Harmonie stützt. Dies geschieht nicht durch kontrafaktische Gleichheitsbehauptungen, sondern durch die Akzeptanz einer höheren Autorität zum Wohle aller: „[D]as einzige Mittel, sie der Vernunft zugänglich zu machen, besteht nicht darin, daß man mit ihnen vernünftig redet, sondern daß man sie recht überzeugt, daß die Vernunft in ihrem Alter noch nicht vorhanden ist.“55 Dabei bildet Clarens in Rousseaus Vorstellung die literarische Utopie einer egalitären Herzensgemeinschaft, die durch gegenseitige affektive Bindung über die bloße Not- und Produktionsgemeinschaft hinaus eine Einheit bildet. Damit dies möglich wird, bedarf es für Rousseau neben einer auf intrinsische Motivation setzenden Personalführung einer ganz bestimmten Form des Wirtschaftens. Clarens ist als autarke Gemeinschaft der Gütererzeugung entworfen, deren Abhängigkeit von der Außenwelt so gering wie möglich gehalten wird: Alles, was zur Befriedigung der Bedürfnisse dient, wird mit den vorhandenen Mitteln selbst erzeugt. Wichtig ist dabei auch, dass kein zu großer Überschuss produziert wird, da auf diese Weise durch den Eintritt in die Handelsbeziehungen nach außen – den Verkauf von Gütern gegen Geld – die prekäre Balance aus dem Gleichgewicht geraten würde. Allein der Tauschhandel soll gewährleisten, dass nicht vorhandene Güter mit den überzähligen eigenen Gütern getauscht werden können.56 Dem entspricht auch das Prinzip, den eigenen Besitz nicht auf Wachstum und Erweiterung anzulegen, sondern auf den klugen Erhalt und die Verbesserung des Bestehenden. Rousseau fürchtet auch hier die moralischen Korruptionspotentiale des Eigentums – selbst wenn zur Wahrung des Besitzes der nächsten Generation heute

54 J.-J. Rousseau: Julie oder die neue Héloïse, 467–468. „Ai-je tort […], de comparer des maitres si chéris à des peres et leurs domestiques à leurs enfans“ (OC II, 447)? 55 J.-J. Rousseau: Julie oder die neue Héloïse, 602. „[L]e seul moyen de les rendre dociles à la raison n’est pas de raisonner avec eux, mais de les bien convaincre que la raison est au dessus de leur âge“ (OC II, 573). 56 Vgl. zur Ökonomie von Clarens auch J. Starobinski: Transparence, 129–137.



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eine Ausweitung desselben geboten erscheinen sollte, so sei doch die Gefahr zu groß, einem ökonomischen Wachstum nur um des Wachstums willens nachzugeben und damit die eigentlichen Ziele der Subsistenz aus den Augen zu verlieren: Ein Vermögen, das sich nicht vermehrt, kann zwar durch tausenderlei Unglücksfälle vermindert werden. Wenn dies aber ein Grund ist, es einmal zu vermehren, wann wird es aufhören, ein Vorwand zu sein, es stets zu vermehren? […] Auf diese Weise setzt sich die unersättliche Habsucht unter der Maske der Umsicht durch und führt zum Laster, wenn man allzusehr nach Sicherheit sucht.57 Il est vrai qu’un bien qui n’augmente point est sujet à diminuer par mille accidens; mais si cette raison est un motif pour l’augmenter une fois, quand cessera-t-elle d’être un prétexte pour l’augmenter toujours? […] L’insatiable avidité fait ainsi son chemin sous le masque de la pru­ dence, et mène au vice à force de chercher la sureté (OC II, 529).

Damit wendet sich Rousseau wie auch sonst in seiner Eigentumstheorie gegen die Legitimation des ‚Mehr-Haben-Wollens‘, die Pleonexia, und damit gegen die liberale Sichtweise, die im menschlichen Besitzstreben gerade keinen Hinderungsgrund, sondern vielmehr eine Bedingung für das Gemeinwohl gesehen hatte.58

4 Askese und Verschwendung Gemeinhin gilt Rousseau als Kritiker der modernen arbeitsteiligen und marktförmigen Wirtschaft und der Durchgang durch seine Schriften stützt eine solche Lesart mit mehr als ausreichenden Argumenten. Anstatt diesen weitgehend unstrittigen Punkt zum Abschluss ungebührlich zu vertiefen, soll hier auf einen Aspekt eingegangen werden, dem bislang sehr viel weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde, als er möglicherweise verdient. Rousseaus Versuch, eine Ordnung der egalitären Freiheit auf Dauer zu institutionalisieren, ist von einer paradoxen Spannung gekennzeichnet, die aus den widersprüchlichen Mitteln resultiert, derer er sich zur Errichtung seines Ideals einer Republik bedient. So hält Rousseau einerseits fest an einem geradezu asketischen Tugendideal, das in der Ablehnung des Luxus, im Misstrauen gegen die moderne Geldwirtschaft und in der sparsamen bäuerlichen Lebensweise die Garanten einer freien politischen Ordnung und die soziomoralischen Voraussetzungen ihrer dauerhaften Institutionalisierung erblickt, während er andererseits die Bedeutung einer entwickelten republikanischen Festkultur und die Efferveszenz des festlichen

57 J.-J. Rousseau: Julie oder die neue Héloïse, 555. 58 Vgl. Michaela Rehm: „,Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘: Rousseaus bedingte Legitimation des Privateigentums“, in Andreas Eckl/ Bernd Ludwig (Hgg.): Was ist Eigentum? Philosophische Eigentumstheorien von Platon bis Habermas, München 2005, 103–117, hier 112–113.

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 Daniel Schulz

Ausnahmezustandes betont, die im Akt des kollektiven Überschusses die Gesetzmäßigkeiten einer rationalen Ökonomie durchbricht und gerade durch ihre Ökonomie der Verschwendung und des Überschwanges die Integration des Gemeinwesens verstärken soll.59 Dieses Spannungsverhältnis zwischen Askese und Leidenschaft kann als der Versuch einer Substitution beschrieben werden, mit der Rousseau die als unsittlich empfundene Denaturierung im Zustand fortgeschrittener Zivilisation zwar nicht rückgängig machen, wohl aber überwinden zu können glaubt. Öffentliche statt privater Feste sollen, so Rousseaus Hoffnung, durch ihren Glanz und ihren emotionalen Überschwang dazu beitragen, dass der materielle Luxus seine verderbliche Faszination verliert und die Bürger stattdessen ihre eigene Gemeinschaft als Quelle des Reichtums erkennen und schätzen. Während die vom Glanz des privaten Luxus verblendeten Leidenschaften das Gemeinwesen zerstören, weil sie in den Individuen nur Neid oder Bewunderung für einzelne Mitbürger wecken, sollen die durch öffentliche Feste geweckten Gefühle das Gemeinwesen zu einem Gegenstand affektiver Erfahrung machen und damit die Bindungen aller Bürger an die Republik dauerhaft stärken. Wenn der private Luxus das Moment des Außeralltäglichen veralltäglichen will, dann profaniert er diesen ästhetischen Überschuss zugleich und macht ihn nutzlos. Die Feste der Republik jedoch schaffen trotz ihrer ephemeren Qualität einen dauerhaften ästhetischen Mehrwert, der mit Geld nicht zu erlangen ist. Dabei sind die Feste Rousseaus grundverschieden von jener schönen Kunst der Verschwendung, die den höfischen Festen der Zeit und ihrer ökonomischen Maßlosigkeit eignet. Diese monarchischen Feste erschöpfen sich vor allem im Verbrauch von materiellen Ressourcen, die in Gestalt von kostspieligen Feuerwerken und anderen extravaganten Vergnügungen vor aller Augen buchstäblich in Luft aufgelöst werden.60 Sie dienen lediglich zur Überhöhung des Herrschers und sind selbst die Spitze eines Luxus, der nur zur Blendung derer gedacht ist, die ihn betrachten. Demgegenüber plädiert Rousseau für populäre Feste, die zudem im Ressourceneinsatz sparsam sind: Das schönste Fest, so schreibt Jean Starobinski treffend, ist „jenes, das nichts kostet“.61 Die Festkultur, die Rousseau vorschwebt, zieht ihren Reiz nicht aus der Verschwendung von Geld, auch nicht aus einem hohen Einsatz materieller Güter wie Feuerwerk oder teure Speisen und Getränke, sondern aus einer Verschwendung des emotionalen Überschwanges, der kollektiven Efferveszenz. Damit unterliegt sie einer ‚Ökonomie der Verschwendung‘ ganz eigener Art: Ihre Verausgabung ist nicht auf Vermittlung angewiesen, sondern soll sich in reiner Form der Gemeinschaft versi-

59 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Brief an Herrn d’Alembert“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt/Main 1988, 333–474, hier 462–468 (OC V, 114–120); J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung Polens“, 574–575 (OC III, 962–963). Siehe dazu auch D. Schulz: „Naturerzählungen“, 293–295. 60 Siehe dazu Georg Kohler (Hg.): Die schöne Kunst der Verschwendung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte, Zürich, München 1988. 61 J. Starobinski: Transparence, 129 (dt. v. Anastasia Pyschny).



Rousseaus politische Ökonomie 

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chern – eine puritanische Variante der Verschwendung gewissermaßen, die auch im Moment der Ekstase noch ganz bei sich zu bleiben bemüht ist. Auch wenn Rousseau damit möglicherweise das Wesen gelungener Festlichkeit verfehlt, so unterstreicht sein Lob einer öffentlichen Festkultur doch die enge Verbindung, die zwischen seiner Kritik der liberalen Ökonomie und dem Verlangen nach einer stabilen Ordnung des Politischen besteht, die ihren Reichtum nicht aus der Produktion und dem Konsum von materiellen Gütern, sondern aus sich selbst heraus schöpfen soll. Die Idee, affektive Überschüsse für den Zusammenhalt des Gemeinwesens in Dienst zu nehmen, wird von Rousseau aber nicht nur im Hinblick auf öffentliche Feste verfolgt, sondern auch mit Blick auf ein ganz anders geartetes Phänomen: den Krieg. Wie dem öffentlichen Fest, so wohnt auch dem Krieg ein Moment der überschießenden Verschwendung inne, das den Zusammenhalt der Bürger einer Republik zu stärken vermag – allerdings nur, wenn diese selbst zum Waffendienst bereit sind. Dieser höchste Dienst am Gemeinwesen, der nicht durch Geld und Söldner erkauft werden darf, fordert Rousseau zufolge auch die Bereitschaft zum Einsatz des eigenen Lebens: Seine Kritik an den überzogenen und immer mehr ausgeweiteten Steuern zielt also keineswegs nur auf die Wahrung liberaler Eigentumsrechte, sondern speist sich mindestens ebenso sehr aus der Abneigung gegen das Söldnertum, das in der republikanischen Tradition seit jeher als Anfang vom Ende der Freiheit gedeutet wurde. Hier zeigen die Auswüchse der modernen Geldwirtschaft Rousseau zufolge ihre verderblichste Wirkung auf die Politik. Rousseaus Appell an die politische Tugend zielt auch im Fall des Krieges auf eine verschwenderische Entfesselung der Leidenschaften, die der auf einer rein instrumentellen Rationalität aufbauenden Ordnungsbegründung eine affektive Dimension hinzufügen soll. Doch geschieht dies um den Preis, nun selbst eine destruktive Dynamik zu entfachen, an der das Gemeinwesen ungleich dramatischer zu scheitern vermag als an seiner Ökonomisierung.

Reinhard Bach

Rousseaus Verhältnis zu den Institutionen in ideengeschichtlicher Perspektive Richtet man die Frage nach einem Bann der Institutionen an das Werk Jean-Jacques Rousseaus, so wird schon in einer ersten Lektüre eine erstaunliche Präsenz der mit eben dieser Thematik verbundenen Ideen samt ihrer divergierenden Begrifflichkeiten deutlich. Geradezu allgegenwärtig erscheinen unter diesem Gesichtspunkt Reflexionen, die in den verschiedensten Zusammenhängen, im engeren oder weiteren Sinn, die Frage der Institutionen umkreisen. Diffus, möchte man zunächst meinen, nicht selten gar widersprüchlich, versammeln sich Rousseaus Überlegungen zu einem eigenwilligen Kontext, der offenbar in vielfältiger Weise die philosophischen Horizonte der Zeitgenossen herausfordert. In der bisherigen Rousseauforschung fand dieser Aspekt indessen wenig Beachtung. Ideengeschichtlich erscheint zunächst eine Spurensuche verlockend, die von Rousseau zu Montaigne führt. Indiziert wird diese mögliche und durchaus plausible Verbindung nicht zuletzt durch Rousseaus eigenwilligen Umgang mit dem Begriff der Institution, der mitunter durchaus in der Diktion Montaignes die Begriffe éducation und institution in sich vereint. Das zeigen etwa die Formulierungen „instituer un peuple“ („ein Volk bilden“)1 im Kontext des Contrat social oder Rousseaus pädagogische Ermahnung im Émile: „Tandis que le torrent de nos institutions l’entraine, l’attirer en sens contraire par d’autres institutions“.2 Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass Montaigne seine für Rousseaus Erziehungstheorie ausgesprochen wegweisenden Gedanken im Kapitel XXVI der Essais unter dem Titel De lʼinstitution des enfans3 zusammengetragen und dabei durchgängig die vom lateinischen instituere abgeleitete begriffliche Verschmelzung des Gedankens der Institution, des Errichtens und Begründens, mit dem Gedanken der Erziehung zur Geltung gebracht hatte. Gemeinsam ist beiden Autoren darüber hinaus in einem weiteren Sinn das Zusammendenken von Pädagogik und Politik mit dem Ziel staatsbürgerlicher Erziehung und damit verbunden ihr ständiger Bezug auf die Schriften Plutarchs und Platons. Schließlich thematisieren beide Autoren in

1 OC III, 381 (Hervorh. u. Übers. v. Reinhard Bach). Alle Originalzitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Berdnard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959‒1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 2 OC IV, 638–639 (Hervorh. v. Reinhard Bach). „Während ihn der Strom unserer Erziehungsmaßnahmen fortreißt, heißt es nicht, ihn von seinem Platz zu verdrängen, sondern ihn dort festzuhalten, wenn ich ihn durch andere Erziehungsmaßnahmen in die Gegenrichtung ziehe.“ Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 12. Aufl., Paderborn u. a. 1995, 338. 3 Michel de Montaigne: Essais, éd. Maurice Rat, Paris 1965, tome I, 154–192.

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 Reinhard Bach

unterschiedlichen Kontexten die vermeintliche Kluft zwischen den von Menschen errichteten ,Institutionenʻ und den Gegebenheiten der ,Natur‘, verbunden mit dem Gedanken der menschlichen Entfremdung von seiner inclinaison naturelle.4

1 Institutionen und Institutionenkritik Zunächst soll jedoch der Versuch unternommen werden, einen authentischen Eindruck von der Rolle der Institutionen im Denken Rousseaus zu gewinnen, um von hier aus nach ideengeschichtlichen Perspektiven zu fragen, die sich dieser Vorstellungswelt und ihren Impulsen verbinden. Aufschlussreich und offenbar signifikant für Rousseaus tief empfundene, lebenslang währende Abscheu gegenüber jenen Institutionen, die in seinen Augen die zeitgenössische soziale und staatliche Ordnung verkörpern, erscheinen hierbei zunächst einige Bemerkungen, die wir eingangs des zweiten Bandes der Confessions finden: Die Gerechtigkeit und Fruchtlosigkeit meiner Klagen ließen in meinem Herzen einen Keim von Entrüstung über unsere törichten bürgerlichen Einrichtungen zurück, in denen das wahre öffentliche Wohl und die wahre Gerechtigkeit stets irgendeiner sogenannten scheinbaren gesetzlichen Ordnung aufgeopfert werden, die in Wirklichkeit jedoch jede Ordnung zerstört und der Unterdrückung des Schwachen und der Anmaßung des Starken nur die Bestätigung durch die staatliche Obrigkeit verleiht.5 La justice et l’inutilité de mes plaintes me laissèrent dans l’âme un germe d’indignation contre nos sottes institutions civiles, où le vrai bien public et la véritable justice sont toujours sacrifiés à je ne sais quel ordre apparent, destructif en effet de tout ordre, et qui ne fait qu’ajouter la sanction de l’autorité publique à l’oppression du faible et à l’iniquité du fort.6

Wie diese wenigen Worte bereits zeigen, beschränkt sich Rousseaus Sichtweise nicht auf die pure Ablehnung jener ,,törichten bürgerlichen Einrichtungen“ („sottes institutions civiles“), „dieser ungerechten und widersinnigen Regierungsform, in der die menschliche Art herabgewürdigt und wo das Wort Mensch entehrt ist“ („de cet inique et absurde Gouvernement dans lequel l’espece humaine est dégradée, et où le nom d’homme est en deshonneur“).7 Vielmehr impliziert diese Beschreibung des Feudal-

4 Dieses für Rousseau grundlegende Thema findet sich in zahlreichen Andeutungen ebenfalls durch­ gängig bei Montaigne. Vgl. M. Montaigne: Essais, 159 u. 169. 5 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, m. e. Einf. v. Werner Krauss, übertr. v. Ernst Hardt, 7. Aufl., Leipzig 1971, 461. 6 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, tome II, Paris (Gallimard) 1963, 10 (Hervorh. v. Reinhard Bach). 7 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, in Zusammenarb. m. Eva Pietzcker neu übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2011, 106 (OC III, 430).



Rousseaus Verhältnis zu den Institutionen 

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systems auch, gewissermaßen als Orientierungsrahmen und Richtmaß des eigenen Urteils, die offenbar klare Vorstellung einer alternativen Ordnung, eines durch das herrschende Unrecht herausgeforderten ordre, der für „wirkliche Gerechtigkeit“ („la véritable justice“) und „wirkliches öffentliches Wohl“ („le vrai bien public“) steht. Semantisch wird in diesem und ähnlichen Kontexten, infolge der Gegensatzbildung auf gemeinsamer begrifflicher Bezugsebene, das Denotat institutions – gewissermaßen mit umgekehrtem, also nunmehr dem ordre-Begriff Rousseaus kompatiblen Vorzeichen – den alternativen Bezeichnungen le vrai bien public, la véritable justice etc. zugeordnet. Und in der Tat lassen andere, weitergehende Überlegungen Rousseaus erkennen, dass es nicht nur – in einem engeren Sinn – die zivilgesellschaftlichen, quasi vergegenständlichten Institutionen sind, die seine Gesellschaftskritik, seinen Protest herausfordern. Es ist vor allem auch das in Lehrgebäuden ,institutionalisierteʻ, in Politik und Religion fest verankerte Denken, die öffentliche Legitimation und Verklärung des Unrechts, die Rousseau nicht müde wird, in ebenso grundsätzlicher und allgemeiner wie auch präziser und detaillierter Form – nicht selten unter Bezugnahme auf die großen Namen der zeitgenössischen Philosophie – anzugreifen und in Frage zu stellen. Bald, so schreibt er in den Confessions, „sah ich […] in den Lehren unserer Denker nur noch Irrtum und Aberwitz, in unserer Gesellschaftsordnung nur noch Unterdrückung und Elend.“8 Ausdrücklich werden Politik und Religion als geistige Institutionen des herrschenden Unrechts in diese Fundamentalkritik einbezogen, wie Rousseau sehr klar, etwa in der Lettre à Christophe de Beaumont betont: „In der Religion sah ich die nämliche Falschheit herrschen wie in der Politik“.9 Stereotyp, man möchte sagen, gewissermaßen klassisch für die am meisten missverstandene Sichtweise Rousseaus, werden darüber hinaus beide Arten der hier kritisch verworfenen „bürgerlichen Einrichtungen“ („institutions civiles“), die sozialen wie die geistigen, gemeinsam in Opposition zu einem Naturbegriff gesetzt, den es im Lichte unserer Fragestellung näher zu bestimmen gilt. Besonders eindringlich verallgemeinert Rousseau diese Entgegensetzung im Zuge der Rechtfertigung seiner Sozialphilosophie und Pädagogik gegenüber dem Erzbischof von Paris, seinem schärfsten Kritiker. Dabei bezieht er sich auch auf seine – in den Augen Immanuel Kants – wichtigste anthropologische ‚Entdeckung‘: Die Einsicht in die verborgene Natur des Menschen. Denn sie ist es, an der Rousseau den ‚widernatürlichen‘ Charakter der gesellschaftlichen Ordnung festmacht und bemisst. So öffnet sich gleichsam der Blick auf jenen Veränderungsprozess, den er bereits im Discours sur l’inégalité als Kehrseite des Fort-

8 J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 582. „Je ne vis plus qu’erreur et folie dans la doctrine de nos sages, qu’oppression et misère dans notre ordre social“ (OC II, 139). 9 Jean-Jacques Rousseau: „Brief an Christophe de Beaumont“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt/Main1988, 497–589, hier 545. „J’ai vu dans la Religion la même fausseté que dans la politique“ (OC IV, 968).

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 Reinhard Bach

schritts bezeichnet hatte, den „Verfall der Gattung“ („décrépitude de l’espéce“).10 Ihre Analyse sollte ihn bekanntlich auch zur Neubewertung der Theodizeefrage führen: Alle menschliche Entfremdung, jeder Gegensatz des être und paroître, des agir und parler, die die natürliche sociabilité der Menschen untergraben, findet demnach in der historisch begründeten und mit der Ambivalenz des Fortschritts ständig wachsenden Unvereinbarkeit des herrschenden ordre social mit der ,wahren Menschennatur‘ eine systematische Begründung: „Ich fand ihn“, schreibt Rousseau bezüglich dieses Grundes, „in unserer gesellschaftlichen Ordnung, welche in allem der Natur, die durch nichts zerstört werden kann, zuwider ist, sie beständig tyrannisiert und sie ohne Unterlaß ihre Rechte zurückfordern läßt.“11 Und weiter heißt es im Sinne jener anthropologischen und eben auch theologisch relevanten These: „Hieraus schloß ich also, daß es nicht nötig sei, den Menschen als durch seine Natur böse anzunehmen, weil man den Ursprung und den Fortgang seiner Bosheit bestimmen konnte.“12 Nichts anderes als die Generalisierung dieses Gegensatzes zwischen den von Menschenhand und Menschengeist zu verantwortenden ,Institutionen‘ einerseits und der als Schöpfung verstandenen ,Natur‘ andererseits, finden wir – ganz sicher nicht zufällig – in den jeweils prophetisch daherkommenden Anfangssätzen der in enger Korrelation verfassten Hauptwerke Émile ou de l’éducation und Du contrat social ou Principes du droit politique: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen“,13 heißt es hier und: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“,14 lautet dort das politische Pendant. Entscheidend für diese sehr spezifische Art der Verschmelzung von Anthropologie und Sozialkritik ist dabei eben jener alternative und zugleich ambivalente Fortschrittsbegriff, den Rousseau bereits im Discours sur l’inégalité zur Grundlage seiner Philosophie der Geschichte erhoben hatte. Sein neuralgischer Punkt ist bekanntlich die Kritik an der historisch verorteten Institutionalisierung des Eigentums, die Rousseau zum eigentlichen Sündenfall der menschlichen Geschichte erhebt. Denn im Unterschied zur zeitgenössisch vorherrschenden Lesart des Fortschrittsbegriffs, wie etwa

10 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, a. d. Franz. übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 183–318, hier 249 (OC III, 171). 11 J.-J. Rousseau: „Brief an Beaumont“, 543. „Je la trouvai dans notre ordre social, qui de tout point contraire à la nature que rien ne détruit, la tirannise sans cesse, et lui fait sans cesse réclamer ses droits“ (OC IV, 966, Hervorh. v. Reinhard Bach). 12 J.-J. Rousseau: „Brief an Beaumont“, 543. „D’ou je conclus qu’il n’étoit pas nécessaire de supposer l’homme méchant par sa nature, lorsqu’on pouvoit marquer l’origine et le progrès de sa méchan­ ceté“ (OC IV, 967). 13 J.-J. Rousseau: Emil, 9. „Tout est bien, sortant des mains de l’auteur des choses: tout dégénére entre les mains de l’homme“ (OC IV, 245). 14 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 6. „L’homme est né libre, et partout il est dans les fers“ (OC III, 351).



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Turgot, d’Alembert, Diderot, Condorcet und andere ihn prägen, war eben hier ein ‚moralischer Verfall‘ des Sozialverhaltens, eine décrépitude de l’espéce als ethische Dimension an die Seite jener perfection de l’inidividu gestellt, deren verbreitete Einseitigkeit es zu kritisieren und zu überwinden galt. In nahezu prophetischer Weise nimmt Rousseau damit auch die Auseinandersetzungen künftiger Generationen zur sozialen Ethik einer ausschließlich dem Individualismus verpflichteten Idee der Menschenrechte vorweg. Doch was auf den ersten Blick als eine nur negativ besetzte, diffuse oder gar paradoxe Kritik an geschichtlich gewachsenen Institutionen der menschlichen Gesellschaft erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen – von Anfang an – eben auch als wohlbegründete konstruktive Sozialkritik, der es – allem Missverstehen zum Trotz – durchaus nicht an optimistischen Visionen und einem gesunden Fortschrittsglauben mangelt. Wie sonst würde man erklären können, dass die in vollem Bewusstsein als ,Institution‘ gedachte und so bezeichnete Begründung einer in die Zukunft weisenden Pädagogik, ebenso wie der Entwurf alternativer Prinzipen des politischen Denkens, gleichermaßen nahtlos aus dieser Fundamentalkritik der herkömmlichen Institutionen menschlicher Geschichte hervorgehen?

2 Naturbegriff Hinterfragt man diesen besonderen Umstand, so stößt man auch hier auf den Zusammenhang der Sozialkritik Rousseaus mit der Spezifik seines Naturbegriffs: „Natur, die durch nichts zerstört werden kann“ und „ohne Unterlaß ihre Rechte zurückfordert“ („la nature que rien ne détruit [...] qui réclame sans cesse ses droits“), meint auch, dass das, was als retrospektive Suche nach dem Urzustand von Mensch und Gesellschaft daherkommt, gerade nicht als kulturfeindliches ,Zurück zur Naturʻ zu verstehen ist. Vielmehr geht es um die Suche nach jener ursprünglichen Menschennatur, die als Teil der Schöpfung in jedem neugeborenen Menschen wieder ersteht, jene „unzerstörbare“ („que rien ne détruit“), tief unter dem Schleier des paraître verborgene, ,wahre‘ Natur des Menschen, an die Rousseau ebenso glaubt wie an den Schöpfer selbst und um deren Wiedergewinnung sich sein gesamtes Schaffen dreht. Am Beispiel der Sprache, die er als première institution civile qualifiziert und die unter dem Einfluss der wachsenden sozialen Ungleichheit allmählich zum wichtigsten Werkzeug der politischen und sozialen Manipulation gerät,15 erläutert Rousseau eine Perspektive, in der die ‚Institutionenʻ zu Instrumenten des Unrechts werden, gleichsam zu ,widernatürlichen Wegmarkenʻ einer fehlgeleiteten Geschichte. Damit aber werden sie auch zu herausgehobenen Angriffspunkten der Sozialkritik Rous-

15 Rousseau behandelt diese Thematik ausführlich in seinem Essai sur l’origine des langues wie auch im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité.

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 Reinhard Bach

seaus. Auf geistiger Ebene stellt er ihnen die ,natürlichenʻ Anlagen der Menschen, jene voix intérieure, jenes principe inné de justice et de vertu wörtlich als ,alternative Institutionenʻ gegenüber, um – in der Lesart Kants – die Menschenwürde („la dignité de l’homme“) – zurückzugewinnen beziehungsweise eine alternative, auf Freiheit und Solidarität gründende soziale Ordnung zu erschaffen. Im pädagogischen Konzept des Émile heißt es daher beispielsweise: „Während ihn der Strom unserer Erziehungsmaßnahmen fortreißt, heißt es nicht, ihn von seinem Platz zu verdrängen, sondern ihn dort festzuhalten, wenn ich ihn durch andere Erziehungsmaßnahmen in die Gegenrichtung ziehe.“16 Und im politischen Konzept des Contrat social lautet die zentrale Vorgabe Rousseaus: ,,Wer sich daran wagt, ein Volk zu bilden, muss sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum […] zu verwandeln“.17 Natürlich darf hier die Semantik der Wendungen „die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum […] zu verwandeln“ („changer la nature humaine; de transformer chaque individu“) ebenso wenig missverstanden werden, wie der tiefere Sinn der Behauptung: „Gute soziale Einrichtungen entkleiden den Menschen seiner eigentlichen Natur“.18 Denn die auf Rousseaus sehr spezifischem Freiheitsbegriff beruhende ,Institutionalisierung‘ eines Volkes soll nicht etwa die menschliche Natur verleugnen, sondern die stattgefundene Entfremdung aufheben, die natürliche sociabilité zugunsten einer höheren Sozialethik reaktivieren. So verbindet sich der Gedanke der ,Institution‘, also des ,Begründens‘, ,Errichtens‘19 einer republikanischen Ordnung für Rousseau in selbstverständlicher und innigster Weise mit der ,Institutionʼ einer staatsbürgerlichen Erziehung („former des citoyens“): Das Vaterland kann ohne Freiheit nicht bestehen, die Freiheit nicht ohne Tugend, die Tugend nicht ohne Staatsbürger; ihr werdet alles haben, wenn ihr Staatsbürger heranbildet, ansonsten werdet ihr nur böswillige Sklaven haben, angefangen bei den Führern des Staates. Staatsbürger heranzubilden ist allerdings nicht das Werk eines Tages; damit sie es im Mannesalter sind, muß man sie im Kindesalter erziehen.20 La patrie ne peut subsister sans la liberté, ni la liberté sans la vertu, ni la vertu sans les citoyens; vous aurez tout si vous formez des citoyens, sans cela vous n’aurez que de méchans esclaves, à

16 J.-J. Rousseau: Emil, 338. „Tandis que le torrent de nos institutions l’entraîne, l’attirer en sens contraire par d’autres institutions“ (OC IV, 638–639, Hervorh. v. Reinhard Bach). 17 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 45. ,,Celui qui ose entreprendre d’instituer un peuple doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine; de transformer chaque individu“ (OC III, 381, Hervorh. v. Reinhard Bach). 18 J.-J. Rousseau: Emil, 12. „Les bonnes institutions sociales sont celles qui savent le mieux dénaturer l’homme“ (OC IV, 249, Hervorh. v. Reinhard Bach). 19 Lat.: instituere. 20 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die politische Ökonomie“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, a. d. Franz. übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 333–377, hier 355 (Hervorh. v. Reinhard Bach).



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commencer par les chefs de l’état. Or former des citoyens n’est pas l’affaire d’un jour; et pour les avoir hommes, il faut les instruire enfans (OC III, 259, Hervorh. v. Reinhard Bach).

Eine besondere Achse ideengeschichtlicher Betrachtung ergibt sich demnach, wie diese wenigen Beispiele bereits zeigen, entlang der sich wandelnden Begrifflichkeiten von „Natur“ („nature“), „Freiheit“ („liberté“) und „Fortschritt“ („progrès“), in denen sich Rousseaus Angriff auf die ,Institutionenʼ des herrschenden ordre apparent, destructif en effet de tout ordre materialisiert und die ihrerseits bewusst mit dem Anspruch ,alternativer Institutionen‘ des Denkens und Handelns ausgestattet werden. Besonders eindringlich erläutert Rousseau selbst diese Sichtweise und diese Absicht im fünften Buch des Émile. Hier mündet seine Kritik der politischen Ideengeschichte, das heißt der ,etablierten‘, auf Grotius, Hobbes, Pufendorf, Locke und Montesquieu gründenden politischen Philosophie, in die selbstbewusste Formulierung: „Das politische Recht muß erst geschaffen werden“.21 Den pessimistisch klingenden Zusatz, „es ist anzunehmen, daß es nie geschaffen wird“ („il est à présumer qu’il ne naitra jamais“), relativiert er sogleich mit der zu seinen alternativen Vorschlägen hinleitenden, ganz und gar programmatischen Bemerkung: „[man] muß wissen, was sein muß, um das, was ist, richtig zu beurteilen“ („il faut savoir ce qui doit être pour bien juger de ce qui est“).22 Abgesehen von dem hier formulierten Vergleich ‚bestehender Institutionen‘ („ce qui est“) mit ihrer ,gedachten Alternative‘ („ce qui doit être“), meint diese Formulierung auch die Abgrenzung des eigenen Denkens – und seiner alternativen Begrifflichkeit – von der institutionalisierten science politique. Sie illustriert aber in erster Linie den wechselseitigen ‚Bann‘ – um diesem Denkmuster zu folgen – der die bestehenden Institutionen mit ihren gedachten Alternativen als begriffliche Gegensätze auf einer semantischen Bezugsebene verbindet und sich oft sogar in gemeinsamen ,Worthüllen‘, man könnte sie ,semantische Oppositionen dritten Grades‘23 nennen, manifestiert (zum Beispiel: Natur, Fortschritt, Freiheit). Und im Sinne der Erhebung der von ihm selbst entwickelten Prinzipien des politischen Rechts zum moralischen „Maßstab“ („échelle“), an dem gemessen wird, was sein soll („ce qui doit être“) führt Rousseau weiter aus: „Man muß sich einen Maßstab aufstellen, nach dem man die genommenen Maße ausrichtet. Dieser Maßstab sind unsere Grundsätze des politischen Rechts. Unsere Maße sind die politischen Gesetze eines jeden Landes.“24

21 J.-J. Rousseau: Emil, 504. „Le droit politique est encore à naître“ (OC IV, 836). 22 J.-J. Rousseau: Emil, 504–505 (OC IV 836–837, Hervorh. v. Reinhard Bach). 23 Vgl. die Veröffentlichungen der von Ulrich Ricken angestoßenen Hallenser Semantikforschung der 1970er bis 1990er Jahre. 24 J.-J. Rousseau: Emil, 505. „[I]l faut se faire une échelle pour y rapporter les mesures qu’on prend. Nos principes de droit politique sont cette échelle. Nos mesures sont les loix politiques de chaque pays“ (OC IV, 837, Hervorh. v. Reinhard Bach).

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 Reinhard Bach

Hieran anschließend finden wir, durchaus folgerichtig in diesem fünften Buch des Émile, nochmals die ausführliche Erläuterung all jener politischen Schlüsselbegriffe, die Rousseaus Positionen („nos principes de droit politique“) von denen der etablierten science politique unterscheiden, deren gewissermaßen ,homonyme‘ Lexik sie jedoch in den sprachlichen Kontext der zeitgenössischen Diskussion integriert. Als ,Institutionen alternativen politischen Denkens‘ auf der Ebene ,alternativer Begrifflichkeiten‘ werden beispielsweise die folgenden Schlüsselbegriffe einzeln und in jeweiliger Abgrenzung zu herkömmlichen begrifflichen Prägungen im Kontext anderer Autoren und ihrer Lehrgebäude erläutert: contrat social, corps politique, Etat, souverain, puissance, peuple, citoyen, sujets, patrie, volonté générale, liberté naturelle, civile et politique, loi („wenn das ganze Volk über das ganze Volk bestimmt“25), intérêt général, intérêt particulier, représentans, gouvernement, magistrats, etc. Eine Ergänzung zum vorher Gesagten erscheint allerdings notwendig, da sie einen nicht unwesentlichen gedanklichen Hintergrund der durch Rousseau etablierten begrifflichen Institutionen, genauer gesagt, vor allem ihre tiefergehende moralische Legitimation anbelangt. Denn auch sie, diese moralische Legitimation, verbindet sich seiner Überzeugung von der ,wahren Natur‘ des Menschen und bestätigt bzw. ergänzt damit jenen philosophischen Entwurf, den man als ,Theorie der sozialen Entfremdung‘ bezeichnen kann, sinnfällig ausgedrückt als décrépitude de l’espéce. Wir wissen, dass Rousseau die von Menschen geschaffenen, historisch gewachsenen Institutionen als ordre apparent, destructif en effet de tout ordre begreift, dagegen den ordre de la nature oder ordre naturel als das eigentlich ,Ordnung‘ stiftende Prinzip, als ewige ,Institution‘ der unfehlbaren Schöpfung: „[D]ie ewigen Gesetze der Natur und der Ordnung bleiben bestehen“,26 lesen wir diesbezüglich im Émile. Der Naturbegriff Rousseaus, der auch für seinen kritischen Umgang mit Religion, Politik und deren Ideengeschichte den wichtigsten Bezugspunkt bildet, ist in dieser Hinsicht, das heißt als Ordnung stiftende Institution, alles andere als diffus. Stattdessen begründet er seinerseits beispielsweise den Gedanken und den Begriff der ,negativen Erziehung‘, die Philosophie des Émile. Denn diese beruht wesentlich und expressis verbis auf einer Zurücknahme menschlicher Institutionen der Erziehung zugunsten der gestaltenden und ordnenden Kraft der Natur. So empfiehlt Rousseau im Vertrauen auf diese gestaltende und ordnende Kraft unter anderem pädagogische Zurückhaltung angesichts erwachender Leidenschaften: „Wollt ihr Ordnung und Zucht in die keimenden Leidenschaften bringen, verlängert den Zeitraum, indem sie sich entwic-

25 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 41. „[Q]uand tout le peuple statue sur tout le peuple“ (OC III, 379). 26 J.-J. Rousseau: Emil, 522. „Mais les loix éternelles de la nature et de l’ordre existent“ (OC IV, 857, Hervorh. v. Reinhard Bach).



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keln, damit sie sich der Reihe nach ordnen können. Denn nicht der Mensch ordnet sie, sondern die Natur selbst. Eure Sorge sei nur, sie ihr Werk tun zu lassen.“27 Selbst das Gewissen, jene innere Stimme, die als Richtschnur moralischen Handelns nach Rousseau einem göttlichen Instinkt gleichkommt, folgt nur der „Ordnung der Natur“ („s’obstine à suivre l’ordre de la nature contre toutes les loix des hommes“).28 „Gewissen! Gewissen!“, ruft der savoyische Vikar, „Göttlicher Instinkt! Unsterbliche und himmlische Stimme! Sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber verständigen und freien Wesens! Untrüglicher Richter über Gut und Böse, der den Menschen gottähnlich macht! Du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Sittlichkeit!“29 So bildet das Gewissen eine zugleich göttliche und natürliche Institution („c’est qu’il nous parle la langue de la nature“),30 die jeder Moralphilosophie überlegen ist, sie gar als eine von Menschengeist geschaffene Institution überflüssig macht: „Dank dem Himmel“, lässt Rousseau den Vikar ausrufen, „sind wir nun von dem ganzen abstoßenden Getriebe der Philosophie befreit: Wir können Menschen sein, ohne Gelehrte sein zu müssen.“31 Diese Darstellung zwingt uns nun, jenes ordnende Prinzip, das Rousseau der Schöpfung zuerkennt und das sich in seinen Augen als langue de la nature offenbart, selbst als eine wohlgeordnete, dem Menschen vorgegebene Institution anzuerkennen. Das Konzept einer éducation négative ergäbe ohne diese Anerkennung keinerlei Sinn. Ebenso wenig das im Contrat social verfolgte Konzept einer auf die ersten Antriebe natürlicher sociabilité zurückgreifenden dénaturation de l’homme, seiner in die Zukunft verlegten Promotion zum citoyen, dem mündigen Staatsbürger eines in Freiheit und Gleichheit gedachten demokratischen ordre. Denn nichts anderes offenbart sich in dieser ,Institution‘, die außerhalb der Sozialgeschichte der Menschheit steht, als jener sehr konkret gedachte göttliche Wille, der das Universum bewegt und es ordnet: Dass „ein Wille das Weltall bewegt“ („une volonté meut l’univers“) und „die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird“ („le monde est gouverné par une volonté puissante et sage“),32 so lautet – stellvertre-

27 J.-J. Rousseau: Emil, 219. „Voulez-vous mettre l’ordre et la régle dans les passions naissantes? étendez l’espace durant lequel elles se dévelopent, afin qu’elles aient le tems de s’arranger à mesure qu’elles naissent. Alors ce n’est pas l’homme qui les ordonne, c’est la nature elle-même; vôtre soin n’est que de la laisser arranger son travail“ (OC IV, 500, Hervorh. v. Reinhard Bach). 28 J.-J. Rousseau: Emil, 275 (OC IV, 566). 29 J.-J. Rousseau: Emil, 306. „Conscience, conscience! Instinct divin, immortelle et céleste voix, guide assuré d’un être ignorant et borné, mais intelligent et libre; juge infaillible du bien et du mal, qui rends l’homme semblable à Dieu; c’est toi qui fais l’excellence de sa nature et la moralité de ses actions“ (OC IV, 600–601). 30 J.-J. Rousseau: Emil, 306 (OC IV, 601). 31 J.-J. Rousseau: Emil, 306. ,,Grace au ciel nous voila délivrés de tout cet effrayant appareil de phi­ losophie; nous pouvons être hommes sans être savans“ (OC IV, 601). 32 J.-J. Rousseau: Emil, 284, 288 (OC IV, 576, 580).

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tend für Rousseaus eigene Überzeugung – das Credo, das sich im ersten Glaubenssatz des savoyischen Vikars manifestiert („mon premier dogme ou mon premier article de foi“).33 Dabei bedarf es, was etwa die Richtschnur ethischen Handelns angeht, gerade nicht der religiös vermittelten Offenbarung, die gar als ‚Degradierung‘ Gottes34 betrachtet wird, sondern lediglich jener Instanz, die allen Menschen unmittelbar gegeben ist, eben jener „inneren Stimme des Gewissens“: „[D]ieses Prinzip nenne ich Gewissen.“35 Beschrieben ist mit dieser, außerhalb der Sozialgeschichte der Menschheit angesiedelten und doch für jeden Menschen über Herz und Gewissen unmittelbar erreichbaren Institution gleichsam der letzte, allerdings wohlgeordnete Rückzugsort, der Rousseaus alternative Prinzipien des politischen Rechts, seine Anthropologie und seine Pädagogik legitimiert und in allen Einzelheiten begründet.

3 Der Sündenfall der Sprache Ein weiterer Aspekt, dem besondere Bedeutung für die ideengeschichtliche Relevanz unserer Thematik zukommt, ergibt sich aus Rousseaus sprachphilosophischen Überlegungen und ihrer Rezeption. Denn zum einen zwingt ihn die Neuartigkeit seiner Positionen, wie bereits angemerkt, zur sprachlichen Abgrenzung gegenüber dem herkömmlichen politischen und philosophischen Diskurs, was auch sprachphilosophisch als wichtige Zäsur in die politische Ideengeschichte eingeht.36 Zum anderen gilt ihm die Sprache selbst, wie bereits angedeutet, als willfähriges Instrument der Unterdrückung und wichtigstes Medium der sozialen Entfremdung. Und auch diese, von Rousseau erstmals systematisch entwickelte Sichtweise sollte ihren Niederschlag bereits in der unmittelbaren historischen Nachfolge finden: Zum einen in umfassenden Theoriebildungen zum Thema opinion publique im Zuge der Herausbildung des modernen politischen Liberalismus durch die französischen Physiokraten.37 Zum anderen in deren praktischem Bemühen um die Popularisierung einer dem ökonomischen und politischen Liberalismus zuträglichen Lesart der scheinbar zum Egalitarismus tendierenden republikanischen Begriffswelt mittels einer Flut sogenannter Caté-

33 J.-J. Rousseau: Emil, 284 (OC IV, 576). 34 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 312 (OC IV, 607). 35 J.-J. Rousseau: Emil, 303. „[À] ce principe […] je donne le nom de conscience“ (OC IV, 598). 36 Man denke an Louis-Sébastien Merciers Notions claires sur les gouvernements, Paris 1787 und vergleichbare Schriften zum Bewusstmachen sprachlicher Umwälzungen besonders im Umkreis der Französischen Revolution. 37 Vgl. Reinhard Bach: „Conduire l’opinion publique en 1796: Roederer et les métamorphoses de la physiocratie“, in Peter-Eckhard Knabe (Hg.): Opinion, Berlin 2000, 265–275.



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chismes der Bürgermoral.38 Beide Aspekte sind eng miteinander verbunden, lassen sich jedoch methodisch getrennt betrachten. Was Rousseaus allgegenwärtiges Bemühen um sprachliche Klarheit und begriffliche Abgrenzung anbelangt, so sei an dieser Stelle – mit einem Seitenblick auf die Ébauches der Confessions – an jene denkwürdige Bemerkung erinnert, die das Dilemma der Befangenheit alternativen Denkens in herkömmlichen Begriffen, das heißt in den überlieferten Institutionen der Sprache aufblitzen lässt: „Il faudrait pour ce que j’ai à dire inventer un langage aussi nouveau que mon projet.“39 Oder denken wir an ein ganz ähnliches Bedenken, gerichtet an den Erzbischof von Paris, das exakt die gleiche Problematik in einem anderen Zusammenhang zum Ausdruck bringt: „Was für eine Sprache können wir zusammen sprechen […]?“40 Allenthalben stoßen wir aus diesem Grund in Rousseaus Reflexionen auf sprachkritische Äußerungen, auf das Umformen und Neuprägen von Begriffen, die die Schlüsselelemente seiner alternativen Sozialphilosophie bezeichnen. Man wird die Bewusstheit dieser Problematik daher schwerlich überschätzen können. Diesen Bemühungen Rousseaus, die eigene Begrifflichkeit gegenüber allen herkömmlichen Konventionen des Denkens abzugrenzen, verbindet sich, wie bereits angedeutet, eine weitere, sehr grundlegende Überlegung seiner Sprachkritik. Sie ist gleichermaßen Teil seiner Anthropologie, seiner Sozialkritik und seiner in Teilen sensualistischen Auffassung zur Frage der menschlichen Erkenntnis beziehungsweise des zeitgenössisch viel diskutierten Zusammenhangs von Sprache und Denken. Was das letztere Thema angeht, so bestätigt Rousseau zunächst Condillacs Auffassung vom instrumentellen Charakter des sprachlichen Zeichens und der gemeinsamen Entwicklung von Sprache und Denken.41 Er verbindet den Sprachursprung jedoch sogleich mit dem Ursprung sozialer Beziehungen und diskutiert in der historischen Perspektive seiner Sozialkritik wohl als Erster die Komplexität der Wechselbeziehungen von Sprache, Denken und sozialem Umfeld. Wie bereits erwähnt, nennt er die Sprache in diesem Zusammenhang la première institution sociale. Die Herausbildung der sozialen Ungleichheit und ihr Übergang zu politischer Ungleichheit gehen jedoch einher mit einem manipulativen Gebrauch der Sprache, den Rousseau konsequent aus dem Missbrauch des kognitiven Charakters sprachlicher Zeichen herleitet. Er erläutert diese Wechselbedingtheit der Entwicklung von Gesellschaft, Sprache und Denken eindringlich an dem berühmt gewordenen Beispiel der Entstehung des Eigentums

38 Vgl. Reinhard Bach: „La démocratie purgée de tous ses inconvéniens“, in Actuel Marx 32 (2002), Deuxième semestre, 73–83 und Reinhard Bach: Rousseau et le discours de la Révolution. Au piège des mots: Les Physiocrates, Sieyès, les Idéologues, Uzès 2011. 39 „Für das, was ich zu sagen habe, müsste man eine Sprache erfinden, die genauso neu ist wie mein Konzept“ (OC I, 1153, dt. v. Anastasia Pyschny). 40 J.-J. Rousseau: „Brief an Beaumont“, 499. „Quelle langue commune pouvons-nous parler“ (OC IV, 927)? 41 Vgl. J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 222–228, (OC III, 146–151).

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im Discours sur l’inégalité beziehungsweise sehr ausführlich im Essai sur l’origine des langues. Der ,Sündenfall der menschlichen Geschichte‘ gerät in dieser Sichtweise somit auch zum ,Sündenfall der Sprache‘. Sie ermöglicht und befestigt dabei nicht nur die Institutionen der sozialen Ungleichheit und der politischen Entmündigung des Volkes, sondern gerät damit selbst zu einem Instrument der Unterdrückung, zu einer Institution des Unrechts („diese Blendnamen der Gerechtigkeit und der Unterordnung [dienen] als Instrumente der Gewalt“42). Von hier an verbindet sich dieser zweite Aspekt der kritischen Sprachreflexionen Rousseaus dem zuerst genannten. Die Sprache wird selbst zum wichtigsten Element des paraître, wie Rousseau in unzähligen Formen und Wendungen zu zeigen bemüht ist: „Der Mann von Welt verbirgt sich ganz hinter seiner Maske“;43 „sie verbergen mit ihren Reden die Taten“;44 „[s]ie wechseln ihre Sprache wie ihre Kleider“;45 „[d]iese komischen und lächerlichen Namen ändern nichts an der Natur der Dinge.“46 Es besteht kein Zweifel, dass Rousseaus Auseinandersetzung sowohl mit den aufklärerischen als auch den staatstragenden Institutionen des zeitgenössischen Denkens ihrerseits zu einer durch massive und dauerhafte Rezeption getragenen alternativen Institution des politischen, und allgemein, des philosophischen Denkens hinleitet. Damit aber unterliegt dieser ideengeschichtliche Impuls von Anfang an auch den jeweiligen Rezeptionsbedingungen und -absichten, in denen sich alternative ,Ideologien‘ selbst definieren oder darstellen. Leider haben wir an dieser Stelle nicht den Raum, um ausführlich zu zeigen, wie die so entstehenden unterschiedlichen „begrifflichen Paradigmen“47 alternativer ideologischer Ansätze einander überlagern und zu welcher Art sprachlicher Verfälschungen dies bereits im Vorfeld der Französischen Revolution, insbesondere aber während der Revolution führen wird. Eine Problematik übrigens, die nach wie vor in der Historiographie unterschätzt wird. Und wie schon erwähnt, ist es eine zwar häufig beobachtete, noch immer aber längst nicht ausreichend erforschte Tatsache, dass beispielsweise der republikanische Diskurs der Französischen Revolution teilweise erheblich von den Ideen Rousseaus, man könnte sagen: von den ,begrifflichen Institutionen‘ des Contrat social abweicht, sich gleichwohl aber durchweg der Sprache des Contrat social bedient. Ein Indiz hierfür sind die verschiedenen, sprachlich einander ähnelnden Fassungen der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Französischen Revolution, die indessen auf

42 J.-J. Rousseau: Emil, 240. „[C]es noms spécieux de justice et de subordination serviront d’in­ strumens à la violence“ (OC IV, 524). 43 J.-J. Rousseau: Emil, 232. „L’homme du monde est tout entier dans son masque“ (OC IV, 515). 44 J.-J. Rousseau: Emil, 242. „[I]ls montrent leurs discours et cachent leurs actions“ (OC IV, 526). 45 J.-J. Rousseau: „Brief an Beaumont“, 542. „[I]ls changent de langage comme d’habit“ (OC IV, 966). 46 J.-J. Rousseau: Emil, 258. „Les noms badins et ridicules ne changent rien à la nature des choses“ (OC IV, 544). 47 Vgl. Reinhard Bach: Weichenstellungen des politischen Denkens in der Literatur der französischen Aufklärung, Tübingen 1995, 14–27.



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heftig umstrittene Inhalte hindeuten. Diese innere Widersprüchlichkeit gilt in besonderem Maße auch für die erste und bedeutendste Déclaration des droits de lʼhomme et du citoyen vom 26. August 1789. Eine der wichtigsten Forschungsarbeiten der jüngeren Vergangenheit zur Französischen Revolution nahm übrigens von dieser – als überraschend eingestuften – Feststellung ihren Ausgang.48 Vor allem geht es uns in diesem Zusammenhang um die Tatsache, dass der durch Rousseau begründete republikanische Diskurs sich bereits im Zeitraum zwischen dem Erscheinen der Hauptwerke Rousseaus und dem Ausbruch der Französischen Revolution wesentlich auf zwei verschiedenen Ebenen entwickelt, deren politische Ethiken sich gegenseitig ausschließen. Konkret heißt das, die durch Rousseau in einem theoretischen Zusammenhang entwickelten Schlüsselbegriffe des modernen republikanischen Denkens werden, je nach politischem Glaubensbekenntnis, entweder in einer dem Individualismus beziehungsweise der Ethik des Utilitarismus entsprechenden Weise ,umgeprägtʼ49 und erscheinen historisch als Vorläufer des politischen und ökonomischen Liberalismus (hierfür stehen Sieyès, Condorcet, Cabanis, Roederer und selbstverständlich die Gruppe der Idéologues um Destutt de Tracy50), oder man interpretiert sie etwa im Geiste Mablys, Robespierres, Babeufs und Buonarrotis – allesamt vereint durch ihre Kritik am Liberalismus – in einer der Lesarten des Egalitarismus. Abgesehen davon, dass ohne Zweifel keine dieser Lesarten dem tieferen Sinn der Vorstellungen Rousseaus gerecht wird, hat die ideengeschichtliche Betrachtung doch von der Existenz dieser einander widersprechenden Formen des durch Rousseau begründeten modernen Republikanismus und seiner begrifflichen Institutionen auszugehen. Bisher geschieht dies jedoch eher sporadisch, ohne eine systematisch getrennte Erfassung dieser beiden mit alternativen Begriffen, jedoch weitgehend übereinstimmender Lexik in der Ideengeschichte verankerten Rezeptionslinien. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass Zeitgenossen oder Historiker jeweils nur eine Lesart des Republikanismus, nämlich die für authentisch gehaltene Fassung der entsprechenden Begriffe, mit Rousseau verbinden. Doch es lassen sich auch Beispiele für die prinzipielle historiographische Erfassung dieses Phänomens einer begrifflichen Duplizität aufzählen. So unterscheidet etwa der bekannte amerikanische Philosoph John Rawls zwischen zwei von der Aufklärung ausgehenden ethischen Konzepten des Republikanismus, deren eines er als eine „Moral […] der gegenseitigen Achtung und der Selbstachtung“51 auf Rousseau und Kant zurückführt, und deren Alternative

48 Stéphane Rials: La déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Paris 1988. Im Avant-propos erklärt der Autor seinen eigenen Perspektivwandel u. a. mit den Worten: „Je ne pensais pas cependant que je serais peu à peu conduit à modifier aussi sensiblement mon interprétation d’ensemble de la Déclaration“ (ebd., 13). 49 S. Rials: La déclaration des droits de l’homme et du citoyen, 13. 50 Vgl. R. Bach: Rousseau et le discours de la Révolution. 51 John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, 9. Aufl., Frankfurt/Main 1996, 289. In einer Fußnote zu dieser Definition verweist Rawls auf Bernard Williams: The Idea of

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er als utilitaristische Ethik des Liberalismus charakterisiert. Als Zeitgenosse spricht bereits Buonarroti etwa im gleichen Sinn von „grundlegenden Differenzen, die jene voneinander trennten, die sich damals unter dem Banner der Republik zusammenfanden“ („différences essentielles qui nuançaient ceux qui se rangèrent alors sous les bannières de la république“) und setzt hinzu: „On a nommé ordre d’égoïsme [...] celui des économistes, et celui de Rousseau ordre d’égalité.“52 Bentham spricht 1780 vom principe de l’utilité und seinem Gegenteil, dem principe de l’ascétisme als möglicher, jedoch alternativer, einander ausschließender Grundlagen der principes de législation. Und ebenso wie Buonarroti signalisiert Bentham das Problem einer politischen Lexik, die mit übereinstimmenden Bezeichnungen gegensätzliche Begriffe zum Ausdruck bringt: Die Verwirrung in Hinsicht dieser Frage geht aus einer Art von Verkehrtheit in der Sprache hervor. Man stellt gewöhnlich die Tugend als im Gegensatze mit der Handlungsweise dar, welche sich durch den Nutzen bestimmen läßt. Die Tugend, sagt man, besteht in der Aufopferung unserer Interessen für unsere Pflichten.53 […] [Aber] der allgemeine Nutzen [muss] das entscheidende Prinzip für die Gesetzgebung sein.54

Doch im Gegensatz zu Kant oder Buonarroti, führt Bentham – ganz ähnlich wie in jüngster Zeit Zeev Sternhell55 – das Prinzip der individuellen Interessiertheit beziehungsweise der ,Glückseligkeit‘, wie es im Sprachgebrauch der Zeit heißt, in völliger Verkennung der Positionen Rousseaus auf den Contrat social zurück, unter Bezugnahme auf dessen Sprache und die vermeintlich dahinterstehenden Begriffe. Immanuel Kant hatte dagegen, gewissermaßen im Namen Rousseaus, das „Prinzip der eigenen Glückseligkeit [für] am meisten verwerflich“ erklärt, „weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt […] und der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit vernichten, indem sie die Bewegursache zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren.“56 Eine durchaus noch als zeitgenössisch einzustufende Beobachtung von Pierre Leroux bezüglich der Koexistenz der hier angesprochenen ,ethischen Alternativen

Equality, Oxford 1962, 115f. sowie auf Lewis White Beck, A Commentary on Kant’s „Critique of Practical Reason“, Chicago 1960, 233–236. 52 „Man bezeichnete die Ordnung der Ökonomen als ‚Ordnung des Egoismus‘ und diejenige Rousseaus als ‚Ordnung der Gleichheit‘.“ Philippe Buonarroti: Conspiration pour lʼégalité dite de Babeuf, préf. de Georges Lefebvre, tome I, Paris 1957, 25, 32 (dt. v. Anastasia Pyschny). 53 Jeremy Bentham: Grundsätze der Civil- und Criminal-Gesetzgebung, hg. v. Étienne Dumont mit Anmerkungen v. Friedrich Eduard Beneke, Bd. I, Berlin 1830, 46 (Hervorh. v. Reinhard Bach). 54 J. Bentham: Grundsätze der Civil- und Criminal-Gesetzgebung, 35. 55 Zeev Sternhell: Les anti-Lumières. Du XVIIIe siècle à la guerre froide, Paris 2006. 56 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Theodor Valentiner, Stuttgart 1984, 98.



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des republikanischen Diskurses‘, lässt die damit verbundene politische Dramatik und ihre tatsächlichen Auswirkungen im Zusammenhang mit der Französischen Revolution erahnen: Diese Disposition ist nicht neu, sie existierte bereits zur Zeit der Revolution; die fortschrittlichsten Männer teilten sie. In Robespierres Déclaration des droits finden Sie zum Beispiel das Prinzip der Vergemeinschaftung hinsichtlich der Gleichheit aller Menschen in seiner absolutesten und nachdrücklichsten Form formuliert. Allerdings finden Sie zwei Zeilen zuvor auch das Prinzip des Individualismus auf nicht minder absolute und nachdrückliche Weise formuliert. Und nichts vereint, nichts stimmt beide Prinzipien aufeinander ab. Beide werden somit auf den Altar gehoben, nichts versöhnt die beiden Grundsätze, die gleichsam endlos und ohne Grenzen sind, zwei Gegenspieler, die sich bedrohen, absolute und souveräne Gewalten, die sich bis zum Himmel erheben und die den ganzen Erdball umfassen. Diese beiden Prinzipien werden genannt und Sie können nicht anders, als sie anzuerkennen, denn Sie spüren die Rechtmäßigkeit beider in ihrem Herzen; aber gleichzeitig spüren Sie, dass diese einen grausamen Krieg hervorrufen werden. Auch Robespierre kam in seiner Erklärung nicht umhin, beide Prinzipien zu benennen; die Revolution war dann in der Folge das blutige Theater ihres Kampfes: die aufeinander gerichteten Schusswaffen haben sich entladen. Cette disposition, n’est pas nouvelle; elle existait déjà dans la Révolution; les hommes les plus avancés l’éprouvaient. Prenez la Déclaration des Droits de Robespierre: vous y trouverez formulé de la manière la plus énergique et la plus absolue le principe de société, en vue de l’égalité de tous mais, deux lignes plus haut, vous trouverez également formulé de la manière la plus énergique et la plus absolue le principe de l’individualité de chacun. Et rien qui unisse, qui harmonise ces deux principes, placés ainsi tous deux sur l’autel; rien qui concilie ces deux droits également infinis et sans limites, ces deux adversaires qui se menacent, ces deux puissances absolues et souveraines qui s’élèvent toutes deux jusqu’au ciel et qui envahissent chacune toute la terre. Ces deux principes se nomment, et vous ne pouvez vous empêcher de les reconnaître, car vous sentez la légitimité dans votre cœur; mais vous sentez en même temps que, nés tous deux de la justice, ils vont se faire une guerre atroce. Aussi Robespierre et la Convention n’ont-ils pu que les proclamer tous deux, et ensuite la Révolution a été le sanglant théatre de leur lutte: les deux pistolets chargés l’un contre l’autre avaient fait feu.57

4 Das liberale Missverständnis der republikanischen Idee Betrachten wir abschließend eine bestimmte Lesart der republikanischen Idee, die sich expressis verbis auf Rousseau und seinen Contrat social bezieht – man könnte sagen, die im Bann der begrifflichen Institutionen des Contrat social steht – gleich-

57 Pierre Leroux: „De l’individualisme et du socialisme“ [1833], in ders.: De l’égalité: précédé de De l’individualisme et du socialisme, préf. de Bruno Viard, Paris, Genève 1996, 66–67 (dt. v. Anastasia Pyschny).

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wohl aber deren Gegenteil propagiert, indem sie den dort verankerten Freiheitsbegriff seiner politischen Funktion entkleidet, die Prioritäten von ,Gemeinwohl‘ und ,Partikularinteresse‘ ausschließlich ökonomisch begreift und in umgekehrter Reihenfolge propagiert, damit jedoch den Egozentrismus anstelle eines sozialen Engagements zur Grundlage des Gemeinwesens erhebt. Le Mercier de la Rivière formuliert wie folgt: Wollen sie, dass eine Gesellschaft die höchste Stufe ihres Reichtums, ihrer Bevölkerung und folglich ihrer Macht erreicht? Dann überlassen sie ihre Interessen der Freiheit; veranlassen sie, dass diese allgemein sei; mittels dieser Freiheit, die allein den Arbeitseifer befördert, wird das Streben nach Genuss, durch Konkurrenz angestachelt und durch Erfahrung und Beispiele angeleitet, dafür sorgen, dass ein Jeder im Sinne seines größtmöglichen Vorteils handelt, und folglich mit all seiner Macht beiträgt zur Steigerung jener Summe aller Partikularinteressen, deren Vereinigung das formt, was man das Allgemeininteresse der Gesellschaft nennen kann. Voulez-vous qu’une société parvienne à son plus haut degré possible de richesse, de population, et conséquemment de puissance? Confiez ses intérêts à la liberté; faites que celle-ci soit générale; au moyen de cette liberté, qui est le véritable élément de l’industrie, le désir de jouir irrité par la concurrence, éclairé par l’expérience et l’exemple, vous est garant que chacun agira toujours pour son plus grand avantage possible, et par conséquent concourra de tout son pouvoir au plus grand accroissement possible de cette somme d’intérêts particuliers dont la réunion forme ce qu’on peut appeler l’intérêt général du corps social.58

Die Aktualität des Spannungsverhältnisses zwischen gleichlautenden, begrifflich jedoch inkompatiblen Lesarten des wesentlich auf Rousseau zurückgehenden republikanischen Diskurses kann kaum handfester ausfallen. Freiheit, im politischen Sinn, konnte es für Rousseau nur als Folge politischer Gleichheit geben: Die volonté générale des Contrat social lässt beide Begriffe, „Freiheit“ („liberté“) und „Gleichheit“ („égalité“) miteinander verschmelzen und verbindet so die Partikularinteressen widerspruchsfrei mit der Priorität des Gemeininteresses. Damit steht dieser Freiheitsbegriff auch für eine Ethik der individuellen Verantwortung, wie Rousseau nicht müde wird zu betonen: „Auf seine Freiheit verzichten“, lesen wir, „heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. […] Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen.“59 Doch ,Freiheit‘ in der Sprache des ökonomischen und politischen Liberalismus wurde, wie das oben gezeigte Beispiel belegt, bereits 1767 alternativ unter direkter Bezugnahme auf das Gemeinwohl und die verbale Logik des Contrat social in der

58 Pierre-Paul Le Mercier de la Rivière: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques [1767], texte revu par Francine Markovits, Paris 2001, 47 (Hervorh. v. Reinhard Bach; dt. v. Anastasia Pyschny). 59 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 11–12. „Renoncer à sa liberté, c’est renoncer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité, même à ses devoirs. […] Une telle renonciation est incompatible avec la nature de l’homme, et c’est ôter toute moralité à ses actions que d’ôter toute liberté à sa volonté“ (OC III, 356).



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folgenden, uns Heutigen sehr vertrauten Weise bestimmt:60 „Le plus grand bonheur possible pour le corps social consiste dans la plus grande abondance possible d’objets propres à nos jouissances, et dans la plus grande liberté possible d’en profiter.“61 Rousseaus Auseinandersetzung mit den Ursachen, den Bedingungen und den Folgen der sozialen Ungleichheit sowie mit denjenigen Institutionen, die in Staat und Gesellschaft ihrer politischen Legitimation verbunden waren, ebenso wie sein Bemühen, alternative Institutionen zu denken, sie sprachlich zu artikulieren und ihnen eine begriffliche Konsistenz zu verleihen, bilden somit nur den Anfang neuer Verwerfungen, die sich als soziale und politische Gegensätze, aber auch als Gegensätze des Denkens und der Sprache etabliert haben. Doch ideengeschichtlich stehen diese Denkanstöße als begriffliche Institutionen „außerhalb der Zeit, außerhalb jeder Zeit“ als „Zeuge[n] eines unsichtbaren Gesetzes, das keine Gesellschaft ganz erfüllt und keine ganz verleugnet.“62 Jeder neuen Generation stehen sie zur Verfügung, vermitteln sie Impulse im ständigen Ringen um die Menschenwürde und für eine gerechte Ordnung der Zivilgesellschaft.

60 Was die Bewusstheit der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Sprache und Begrifflich­ keiten des Contrat social angeht, ist auch der folgende Passus, ebenfalls aus der Feder Le Mercier de la Rivières, äußerst aufschlussreich: „Ceux qui ont adopté l’idée de déférer à une nation le pouvoir législatif, ont encore imaginé de la considérer comme ne formant qu’un seul corps; et delà ils ont conclu que ce corps ne devait avoir d’autre Législateur que lui-même, parce qu’il ne pouvoit recevoir des loix que de ses propres volontés. C’est ainsi que les termes que nous employons au figuré, sont sujets à nous égarer par le peu de justesse qui regne dans leur application. Nous regardons une nation comme un corps; nous disons qu’elle forme un corps, sans examiner ni pourquoi, ni comment. Il est certain qu’elle forme un corps dans tous les cas où un intérêt commun et connu imprime à tous ceux qui la composent une volonté commune: [...] pour qu’il y eût unité de volonté, il faudroit qu’il y eût unité d’intérêt.“ P.-P. Le Mercier de la Rivière: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, 132. 61 „Das größtmögliche Glück der Gesellschaft besteht im größtmöglichen Überfluss an Dingen unse­ res Bedarfs sowie in der größtmöglichen Freiheit, jene zu nutzen“ (P.-P. Le Mercier de la Rivière: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, 39; Hervorh. v. Reinhard Bach; dt. v. Anastasia Pyschny). 62 Stefan Zweig: „Einleitung“, in J.-J. Rousseau: Émile oder Über die Erziehung, m. e. Einl. v. Stefan Zweig, Leipzig, Weimar 1980, 7–16, hier 9.

IV Subjekt und Revolution

Frederick Neuhouser

Jean-Jacques Rousseau und die Ursprünge der Autonomie Die Idee der Autonomie – verstanden als ein auf Personen und nicht nur auf politische Gemeinschaften anwendbares Ideal – hat eine lange Geschichte in der modernen westlichen Philosophie. Genau genommen reicht diese Geschichte 250 Jahre zurück, denn es war im Jahr 1762, als Jean-Jacques Rousseau mit dem Contrat social jenen Text veröffentlichte, der die mittlerweile jahrhundertelange Tradition des philosophischen Nachdenkens über die Natur personaler Autonomie begründete. Im Rahmen dieser Tradition gab es zahlreiche Versuche, das Wesen der Autonomie und ihren Wert zu ergründen, und in vielerlei Hinsicht ist die zeitgenössische Diskussion der Thematik über Rousseaus Konzept der Autonomie weit hinaus. Nichtsdestotrotz fehlt es auch in der Zeit nach Rousseau nicht an Entwürfen zur Moralphilosophie und zur politischen Philosophie, die die eine oder andere Variante von Autonomie ins Zentrum ihrer jeweiligen Auffassung vom guten Leben rücken. Ganz offensichtlich ist dies der Fall bei Rousseaus engsten intellektuellen Gefolgsleuten – Kant, Hegel und Marx –, aber es gilt auch für Philosophen, die häufig als Kritiker Rousseaus und der Aufklärung angesehen werden, wie etwa Nietzsche und Freud. Bei diesen späteren Denkern hat sich das Ideal der Autonomie zwar größtenteils in ein Ideal der Selbstherrschaft verwandelt – man denke beispielsweise nur an Freuds Charakterisierung der Neurose als eine Art Selbstversklavung, bei der das Ich nicht mehr „Herr ist im eigenen Hause“.1 Gleichwohl speist sich die Anziehungskraft, die die Idee der Selbstherrschaft auf diese späteren Denker ausübt, aus der gleichen Quelle, der auch Rousseaus Bewunderung für die Bedeutung der Autonomie entspringt. Wenn wir die verwickelte und umkämpfte Geschichte des Konzepts der Autonomie durchdringen wollen, ist es notwendig, an den Ausgangspunkt des Nachdenkens über personale Autonomie zurückzukehren, um zu verstehen, in welcher Form und aus welchen Gründen Autonomie in den modernen philosophischen Diskurs des Westens Einzug gehalten hat. Das ist es, was ich in meinem Aufsatz vorhabe. Zu diesem Zweck will ich nachfolgend vier Aspekte des ursprünglichen Konzepts personaler Autonomie beleuchten, die auch heute noch Beachtung verdienen. Erstens wird Autonomie von Anfang an als eine Form von Freiheit gedacht, doch wird sie in den philosophischen Diskurs ausdrücklich als Gegenmodell zu einer anderen, rein negativen Form von Freiheit eingeführt: dem Recht oder der Fähigkeit zur ungehinderten Durchsetzung der eigenen Willkür. (Dieses Konzept von Freiheit

1  Sigmund Freud: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in ders.: Gesammelte Werke, unter Mitwirkung von Marie Bonapard, Prinzessin Georg von Griechenland, hg. v. Anna Freud u. a., Bd. XI, Frankfurt/Main 1999, 295.

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ist deshalb negativ, weil es in der Abwesenheit von etwas besteht – namentlich in der Abwesenheit äußerer Hindernisse bei der aktiven Umsetzung des eigenen Willens, insbesondere in Form von Gewalt oder Zwang seitens anderer Akteure.) Die Entwicklung eines Konzepts von Freiheit als Autonomie wird als notwendig erachtet, um die Schwäche beziehungsweise Unzulänglichkeit eines rein negativen Freiheitsverständnisses zu kompensieren. (Ich werde später erklären, worin diese Schwäche Rousseau zufolge besteht.) Zweitens wird ein solches Konzept von Freiheit als Autonomie, einmal artikuliert, nicht nur als eine notwenige Ergänzung zu der als Abwesenheit äußerer Hindernisse gedachten Form von Freiheit angesehen, sondern auch als eine höhere, edlere oder wertvollere Form von Freiheit. Wenn man versteht, warum Autonomie für Rousseau eine höhere Form von Freiheit darstellt als die rein negative, begreift man auch, warum Autonomie – und eben nicht nur Freiheit (im Sinne von liberty) – im Denken der Gegenwart nach wie vor eine herausgehobene Rolle spielt. Der dritte und vierte Aspekt von Rousseaus Konzept personaler Autonomie verdienen besondere Beachtung aufgrund der heutzutage weit verbreiteten Tendenz, Autonomie ausschließlich als individuelle Befähigung zum unabhängigen und selbstbestimmten Urteilen zu definieren. In diesem Sinne autonom zu sein bedeutet, für sich selbst zu entscheiden, wobei für sich selbst zu entscheiden eine Aktivität einzelner Subjekte beschreibt, die sich von ihrer eigenen Einsicht leiten lassen. Da es auch zu meiner Absicht gehört, nach dem Ursprung und dem Wert dieses Verständnisses von Autonomie zu fragen, kommt den Punkten drei und vier besondere Bedeutung zu. So besteht mein dritter Punkt in der Behauptung, dass Autonomie in ihrer ursprünglichen Form gerade nicht individualistisch gedacht wird. Vielmehr ist Rousseau der Meinung, dass Individuen nur dann zur Autonomie fähig sind, wenn sie – in einem noch zu erläuternden Sinn – ihren Status als Individuen zumindest teilweise aufgeben und durch den Zusammenschluss mit anderen zu Mitgliedern einer größeren sozialen Einheit werden, die in ihrer Gemeinschaftszugehörigkeit ein wesentliches und keineswegs bloß beliebiges Merkmal ihrer Identität erblicken. Dem Anschein nach – und das ist schließlich der vierte Punkt – besteht zwischen Autonomie in ihrer ursprünglichen Gestalt und dem Ideal autonomen Urteilens im Sinne selbständigen Entscheidens keinerlei Verbindung. In Wahrheit jedoch ist die Angelegenheit komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint, weshalb ich am Ende meines Textes kurz darlegen möchte, welcher Zusammenhang zwischen Autonomie in der von Rousseau favorisierten Form und Autonomie im Sinne einer individuellen Befähigung zum selbstbestimmten Urteilen besteht. Bevor ich mich diesen Punkten zuwende, gilt es jedoch zunächst zu zeigen, an welcher Stelle in Rousseaus Texten – und damit, sofern meine frühere Behauptung zutreffend ist, auch in der Geschichte der modernen Philosophie – Autonomie als ein auch auf Personen und nicht nur politische Gemeinschaften anwendbares Ideal erstmals ausdrücklich in Erscheinung tritt. Gegen Ende des Ersten Buches seines Contrat social vergleicht Rousseau die Vorteile der vorpolitischen Existenzweise – des Natur-



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zustands – mit denen der politischen – dem Gesellschaftszustand –, um zu zeigen, warum es für den Einzelnen rational ist, den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags zuzustimmen, der den Naturzustand beendet und eine am „Gemeinwillen“ („volonté générale“) orientierte Form politischer Gemeinschaft etabliert. Hier findet sich die erste Stufe des Vergleichs zwischen dem politischen und dem vorpolitischen Zustand: Führen wir diese […] Gegenüberstellung auf leichter vergleichbare Begriffe zurück! Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt. Damit man sich bei diesem Ausgleich nicht täuscht, ist es notwendig, die natürliche Freiheit, die ihre Schranken nur in der Stärke des Individuums findet, deutlich von der bürgerlichen Freiheit zu unterscheiden, die durch den Gemeinwillen begrenzt ist […].2 Réduisons […] cette balance à des termes faciles à comparer. Ce que l’homme perd par le contract social, c’est sa liberté naturelle et un droit illimité à tout ce qui le tente et qu’il peut atteindre; ce qu’il gagne, c’est la liberté civile et la propriété de tout ce qu’il possede. Pour ne pas se tromper dans ces compensations, il faut bien distinguer la liberté naturelle qui n’a pour bornes que les forces de l’individu, de la liberté civile qui est limitée par la volonté générale (OC III, 364–365).3

Obwohl dies von Lesern oft übersehen wird, werden hier sowohl die natürliche als auch die bürgerliche Freiheit als Formen negativer Freiheit charakterisiert, denn beide beinhalten ein Recht zur ungehinderten Durchsetzung des eigenen Willens. In beiden Fällen ist die negative Freiheit jedoch begrenzt: Während es im vorpolitischen Zustand allerdings nur die Grenzen der eigenen Stärke sind, die der individuellen Willkür Schranken setzen, sind es in der wohlgeordneten Gesellschaft die ‚normativen‘ Schranken der auf dem Gemeinwillen beruhenden Gesetze, die einen für alle Bürger in gleicher Weise gültigen Bereich negativer Freiheit umschreiben und sichern. Man beachte, dass selbst für den Fall, dass Rousseaus Vergleich hier enden würde, die Einwilligung in den Gesellschaftsvertrag ein vorteilhaftes Geschäft wäre, da die zusätzlichen Beschränkungen, die der eigenen Freiheit im Gesellschaftszustand durch die Gesetze auferlegt werden, vernachlässigenswert sind im Vergleich zu der staatlich garantierten Sicherheit, die eigenen Ziele ungehindert durch andere verfolgen zu können (zumindest solange diese Ziele nicht in Widerspruch zu den Gesetzen oder zum Gemeinwillen stehen). Aber bekanntlich endet Rousseaus Vergleich hier nicht; er schreitet vielmehr voran, indem er den Gesellschaftszustand als Verwirklichungsbedingung einer neu-

2 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusam­ menarb. m. Eva Pietzcker neu übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2003, 22. 3 Alle Nachweise für Originalzitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.).

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artigen Form von Freiheit charakterisiert, die sich strukturell sowohl von der natürlichen als auch der bürgerlichen Freiheit unterscheidet: Man könnte nach dem Vorhergehenden zum Erwerb des bürgerlichen Standes noch die sittliche Freiheit hinzufügen, die allein den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst macht; denn der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit.4 On pourroit sur ce qui précede ajouter à l’acquis de l’état civil la liberté morale, qui seule rend l’homme vraiment maitre de lui; car l’impulsion du seul appetit est esclavage, et l’obéissance à la loi qu’on s’est prescritte est liberté (OC III, 365).

Auch wenn Autonomie als Begriff in diesem Abschnitt nicht vorkommt, bringt die darin enthaltene Bestimmung sittlicher beziehungsweise moralischer Freiheit (liberté morale) – als Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz – doch in vollkommener Weise das Wesen der Autonomie zum Ausdruck, wie es durch die beiden Begriffskomponenten auto (selbst) und nomos (Gesetz) definiert wird. Offensichtlich handelt es sich beim Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz um mehr als um negative Freiheit, da er nicht durch die Abwesenheit von etwas (wie die Einmischung oder die Autorität anderer), sondern durch die positive Anwesenheit des Gesetzes charakterisiert wird, und zwar eines Gesetzes, dessen Eigentümlichkeit zudem darin besteht, dass es von den selben Wesen gemacht wurde, die ihm unterworfen sind. (Das ist auch der Grund, warum eine politische Gemeinschaft, in der Autonomie herrscht, und nicht bloß negative Freiheit, Rousseau zufolge notwendigerweise eine Demokratie sein muss, in der die Individuen gleichzeitig Gesetzgeber und Gesetzesunterworfene sind. Die Verwirklichung negativer Freiheit hingegen ist, wie Isaiah Berlin gezeigt hat,5 sehr wohl auch ohne Demokratie möglich: Ebenso gut oder sogar besser kann ein liberal gesonnener Despot dafür sorgen, das legitime Recht jedes Untertanen zur ungehinderten Durchsetzung seines eigenen Willens zu schützen.) Das Bild, das daraus resultiert, ist das eines wohlgeordneten Gemeinwesens, in dem jeder Bürger einen Bereich negativer Freiheit besitzt, der durch Gesetze begrenzt wird, die den Gemeinwillen zum Ausdruck bringen, dessen Ziel eben darin besteht, für jeden Bürger einen gleich großen Bereich negativer Freiheit hervorzubringen. Die Bürger dieses Gemeinwesens sind vollkommen frei, so lange sie keine Ziele verfolgen, die mit den gesetzlich festgelegten Grenzen kollidieren. Es ist genau diese einschränkende Bedingung, die Rousseau dazu veranlasst, ein zusätzliches Konzept von Freiheit (in Form der Autonomie) einzuführen. Denn in all den Fällen, in denen die Gesetze mich an der Verwirklichung meiner Absichten hindern, erfährt mein Wille

4 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 23. 5 Isaiah Berlin: „Zwei Freiheitsbegriffe“, in ders.: Freiheit. Vier Versuche, aus dem Englischen v. Rein­ hard Kaiser, Frankfurt/Main 1995, 197–256, hier 209f.



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eine Beschränkung durch etwas ihm Äußerliches, was zur Folge hat, dass ich nicht frei bin – es sei denn, dass die Gesetze, die meinen Handlungsspielraum begrenzen, ebenfalls von mir stammten (oder anders ausgedrückt: es sei denn, dass ich in irgend einer Weise der Autor der mich beschränkenden Gesetze wäre). In diesem Fall erführe ich zwar immer noch eine Beschränkung, aber nicht mehr durch etwas mir Äußerliches. Denn indem ich Gesetzen gehorchte, die von mir stammen, würde ich letztendlich nur mir selbst gehorchen, und eben darin – im ausschließlichen Gehorsam gegen sich selbst – besteht für Rousseau das Wesen jeder Form von Freiheit.6 Während der Variantenreichtum späterer Autonomiekonzepte nicht zuletzt aus den Nuancen resultiert, in denen sie sich in ihrem jeweiligen Verständnis der Idee der Selbstgesetzgebung voneinander unterscheiden, kommt dieser Idee zumindest am Beginn dieser Traditionslinie noch eine recht klar umrissene Bedeutung zu: Für Rousseau bedeutet Selbstgesetzgebung, dass tatsächlich die Bürger eines Staates, und nicht ihre Repräsentanten, zusammenkommen, um sich selbst Gesetze zu geben, die festlegen, was das Gemeinwohl – der Gegenstand des Gemeinwillens – ihrer gemeinsamen Ansicht nach von ihnen verlangt.7 Rousseau führt das Konzept der Autonomie also in die politische Theorie ein mit der Absicht, die Schwäche oder Unzulänglichkeit all jener Theorien zu kompensieren, die menschliche Freiheit ausschließlich negativ verstehen. Die Schwäche ist die: Wäre negative Freiheit die einzige Art von Freiheit, derer sich die Bürger eines wohlgeordneten Gemeinwesens erfreuten, dann wären sie nicht vollkommen frei (wie all die Fälle verdeutlichen, in denen ihre eigenen Absichten den Gesetzen zuwiderlaufen). Wenn die Individuen frei sein und nur sich selbst gehorchen sollen, und zwar nicht nur, wenn ihnen ein gesetzlich nicht geregelter Freiraum zur Verwirklichung ihres Willens zur Verfügung steht, sondern auch dann, wenn sich ihr Handeln innerhalb der Grenzen des Gesetzes vollzieht – ja, wenn sie selbst dann noch frei sein sollen, wenn sie durch gesetzliche Verpflichtungen gegenüber anderen gebunden sind –, dann ist dies nur möglich, wenn sich die Bindung an das Gesetz und der ausschließliche Gehorsam gegen sich selbst miteinander in Einklang bringen lassen, und eben dafür stellt die Idee der Autonomie das geeignete theoretische Rüstzeug bereit. Ich komme jetzt zu der zweiten eingangs formulierten These, die besagt, dass das Konzept der Autonomie nach seiner Einführung in die Moralphilosophie und politische Philosophie nicht nur als eine Ergänzung zur negativen Freiheit, sondern als eine höhere, wertvollere Form der Freiheit betrachtet wird. Diese Sichtweise wird bereits in dem oben zitierten Abschnitt aus dem Contrat social deutlich. Dort behauptet Rousseau, dass der Mensch erst durch die sittliche beziehungsweise moralische Freiheit – und nicht allein durch die negative Freiheit – „zum wirklichen Herrn seiner

6 Vgl. J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 17f. (OC III, 360f.). 7 Für ausführlichere Anmerkungen zu diesem Konzept staatsbürgerlicher Autonomie vgl. Joshua Cohen: Rousseau. A Free Community of Equals, Oxford 2010, 45f., 73ff., 80ff.

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selbst“ („vraiment maitre de lui“) wird, und er fügt dieser rätselhaften Behauptung eine nicht minder rätselhafte Erklärung hinzu: „denn der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei“ („car l’impulsion du seul appetit est esclavage“).8 Damit nicht genug, betont er zwei Absätze zuvor ausdrücklich, dass es die sittliche beziehungsweise moralische Freiheit des Menschen ist, durch die sich „seine ganze Seele erhebt“ („son ame toute entiere s’éleve“) und so überhaupt erst dafür sorgt, dass sich der entscheidende Wandel von „einem stumpfsinnigen und beschränkten Lebewesen“ („un animal stupide et borné“) in „ein intelligentes Wesen und einen Menschen“ („un être intelligent et un homme“) vollzieht.9 Diese Aussagen werfen zwei Fragen auf: Warum und in welcher Hinsicht betrachtet Rousseau Autonomie als eine Form der Selbstherrschaft, die die Menschen erhebt? Und warum und in welcher Hinsicht sind Menschen, denen es an Autonomie gebricht, zu einer Art sklavischer Existenz verurteilt? Explizite Antworten auf diese Fragen lassen sich in Rousseaus Texten nur schwer finden, gleichwohl ist es aufgrund des großen Einflusses, den sie auf spätere Autonomievorstellungen ausgeübt haben, außerordentlich wichtig, sich darum zu bemühen, entsprechende Antworten herauszuarbeiten. Tatsächlich gibt es zwei Gründe, warum Rousseau Autonomie mit einem Ausgang aus der Sklaverei und einer höheren Form der Selbstherrschaft in Verbindung bringt, und ich werde zwischen diesen beiden Gründen differenzieren, indem ich einmal auf die subjektiven und einmal auf die objektiven Implikationen der Autonomie eingehe, auch wenn im Augenblick noch völlig unklar ist, was ich mit diesen beiden Begriffen meine. Mit dem ersten Begriff beziehe ich mich auf das, was man als die von der Autonomie vorausgesetzte Struktur der Subjektivität bezeichnen könnte – eine Struktur, die komplexer und deshalb auch zu anspruchsvolleren Operationen fähig ist als die Art von Subjektivität, die Rousseau zufolge für die Ausübung rein negativer Freiheit erforderlich ist. Mit objektiven Implikationen beziehe ich mich hingegen auf Zustände, in der äußeren Welt, die sich mittels Autonomie verwirklichen lassen – Zustände, die nicht nur innerlicher Art sind, sondern in der mit anderen Subjekten geteilten sozialen Welt ihre Existenz haben. Was diesen zweiten Aspekt von Rousseaus Sichtweise so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass diese äußeren Zustände selbst als ein Ausdruck von Freiheit verstanden werden, er also letztlich nichts anderes behauptet, als dass Autonomie die Individuen dazu befähigt, ihre eigene Freiheit zu verwirklichen, das heißt auch in der äußeren Welt, und nicht nur in ihrer Subjektivität, eine Daseinsform zu erlangen, die (in einem noch zu erläuternden Sinn) als frei erachtet werden kann, und die zu erlangen ihnen ohne Autonomie nicht (oder kaum) möglich ist. Ich wende mich zunächst den subjektiven Implikationen zu. Rousseau ist der Ansicht, dass Autonomie eine im Vergleich zur negativen Freiheit höhere Form der Freiheit darstellt, weil ihr eine anspruchsvollere Form der Selbstbestimmung eigen

8 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 23 (OC III, 365). 9 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 22 (OC III, 364).



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ist als ihrem Gegenstück. Wenn Rousseau sich Individuen vorstellt, die im negativen Sinne frei sind, insofern sie ihre Absichten ungehindert verfolgen können, dann denkt er dabei an Wesen, die von unterschiedlichsten Begierden und Bedürfnissen angetrieben werden und die zudem die Fähigkeit besitzen, zu entscheiden, welchen dieser Begierden und Bedürfnisse gemäß sie handeln und wie genau sie sie befriedigen. Mit anderen Worten: Selbst von Wesen, die lediglich im negativen Sinn frei sind, nimmt Rousseau an, dass sie ein Maß an Willensfreiheit besitzen, das Tieren abgeht – nämlich die Freiheit, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen beziehungsweise ihren jeweils aktuellen Begierden nachzugeben oder auch nicht. Der entscheidende Punkt besteht nun darin, dass die mit der negativen Freiheit einhergehende Art des Wählens eine durchaus willkürliche und prinzipienlose sein kann; zwischen ihr und der vollkommen beliebigen Auswahl aus einer vorgegebenen Menge an Alternativen besteht letztlich keinerlei Unterschied. Demgegenüber verlangt die mit Autonomie einhergehende Art des Wählens die Anwendung eines Kriteriums, das es ermöglicht, qualitative Unterschiede zwischen den vorhandenen Begierden festzustellen und einigen Handlungsweisen aufgrund ihrer größeren Angemessenheit den Vorzug vor anderen zu geben. In dem von Rousseau erörterten Fall ist das von den autonomen Wesen angewandte Kriterium die Freiheit selbst. Wenn die Bürger des wohlgeordneten Gemeinwesens sich selbst Gesetze geben, dann suchen sie den Gemeinwillen zu eruieren, was letztlich auf die Frage hinausläuft: Welche Gesetze tragen dazu bei, unsere eigene Freiheit zu steigern oder zu erhalten? Richten wir den Blick noch einmal zurück auf meine frühere Erläuterung der Gründe, die Rousseau zur Einführung der Autonomie in die politische Theorie veranlassten, so sehen wir ein mustergültiges Beispiel genau der Frage vor uns, die gesetzgebende Bürger sich stellen, wenn sie den Gemeinwillen zu eruieren suchen, und die da lautet: Welche Gesetze sind geeignet, jedem von uns in gleicher Weise einen größtmöglichen Bereich negativer Freiheit zu garantieren? Autonomie besteht für Rousseau also darin, den eigenen Willen derart zu bestimmen, dass er in Einklang steht mit Prinzipien, die das verkörpern, was man für den Kern des eigenen Wesens beziehungsweise sein wichtigstes Wesensmerkmal hält (was Rousseau zufolge im Fall des Menschen die Freiheit ist). Anders ausgedrückt: Autonomie bedeutet für Rousseau also freie Wahl im Einklang mit einem Entwurf der eigenen Identität, das heißt einem Selbstverständnis, das dem autonomen Wesen Gründe dafür liefert, einige seiner Begierden als handlungsleitende Motive anzuerkennen und andere als unvereinbar mit der eigenen Natur zurückzuweisen. Diese Form der Selbstbestimmung erfordert eine anspruchsvollere Struktur der Subjektivität als sie Personen zu eigen ist, die sich in ihrem Wahlverhalten nicht an Prinzipien orientieren, denn sie verlangt, dass ein Teil des Selbst (eine Vorstellung von dem, was man seinem Wesen nach ist) einen anderen Teil des Selbst (die als potentielle Kandidaten für handlungsleitende Motive fungierenden Begierden) leitet beziehungsweise bestimmt. Bei dieser Form der Selbstbestimmung macht ein Teil des Selbst einen anderen Teil desselben also zu seinem Objekt: Das Selbst bezieht sich also gewisser-

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maßen auf sich selbst, eine Leistung, die für Rousseau und die meisten der in seiner Tradition stehenden Denker, einschließlich Nietzsche und Freud, geradezu den Inbegriff menschlicher Subjektivität ausmacht. Die Idee dabei ist, dass erst mit der Fähigkeit, zu den vorhandenen Begierden auf Distanz zu gehen, sie reflektierend zu bewerten, und sich einige von ihnen zu eigen zu machen und andere zurückzuweisen, ein ‚Selbst‘ im eigentlichen Sinne des Wortes in Erscheinung tritt. Diese anspruchsvollere Struktur der Subjektivität ist der Grund, warum autonome Wesen zu einer substantielleren Form der Selbstbestimmung fähig sind als nicht-autonome Wesen. Letztere mögen zwar dazu in der Lage sein, sich von Fall zu Fall für eine ihrer vorhandenen Begierden zu entscheiden und diese zum Bestimmungsgrund ihres Handelns zu machen, aber nur Erstere sind fähig, ihre Wahl im Einklang mit einem Kriterium zu treffen, das ihren Handlungen ein gewisses Maß an qualitativer Kohärenz verleiht und diese Handlungen damit in Ausdrucksformen der eigenen Person verwandelt – Ausdrucksformen einer eigenen Identität beziehungsweise eines eigenen Selbstverständnisses.10 Aus dieser Perspektive heraus wird auch verständlich, was Rousseau meint, wenn er von Selbstherrschaft spricht: Der autonom Handelnde ist insofern Herr seiner selbst, als er in der Lage ist, sämtliche Begierden zurückzuweisen, die seinem eigenen Persönlichkeitsideal widersprechen, und nur diejenigen Begierden zu akzeptieren und in die Tat umzusetzen, die dieses Selbstverständnis am besten zum Ausdruck bringen. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass derartige Akteure nicht länger blindlings ihren Begierden folgen (oder zwischen ihnen wählen), sondern sich dazu entschließen, auf der Basis von Gründen zu handeln, die ihrem Selbst entspringen und diesem Ausdruck verleihen. Zu verstehen, warum Rousseau denkt, dass Autonomie eine Form von Subjektivität voraussetzt, die substantielle Selbstbestimmung ermöglicht, macht zwar begreiflich, warum er Autonomie mit Selbstherrschaft in Verbindung bringt, aber es erklärt noch nicht, warum er Autonomie darüber hinaus für nötig hält, um einem Zustand der Selbstversklavung zu entgehen, den er mit einem „Antrieb des reinen Begehrens“ („l’impulsion du seul appetit“) gleichsetzt. Um auch diesen Aspekt von Rousseaus Sichtweise zu verstehen, ist es notwendig, die objektiven Implikationen der Autonomie in den Blick zu nehmen – die Idee also, dass es bestimmte Zustände in der äußeren Welt gibt, die sich als Abwesenheit von Sklaverei beschreiben und mittels menschlicher Autonomie verwirklichen lassen. Es ist natürlich möglich – das ist der Weg, den Kant in seiner Nachfolge Rousseaus beschritten hat –, der Idee der

10 Christine Korsgaards Konzept einer praktischen Identität, mit dessen Hilfe sie den Ursprung nor­ mativer Verpflichtungen aus einer kantischen Perspektive zu erklären sucht, beruht im Wesent­lichen auf dieser Idee Rousseaus. Vgl. Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996, 100ff. In Hegels Moralphilosophie und politischer Philosophie spielt die Idee sogar eine noch größere Rolle. Vgl. dazu Frederick Neuhouser: Actualizing Freedom. Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge 2000, Kap. 3.



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Versklavung durch das Begehren eine rein subjektive Fassung zu geben, der zufolge wir durch das Begehren (oder wahlweise auch Begierden, Neigungen oder Affekte) versklavt werden, wann immer unser Streben nach Glückseligkeit, und nicht reine Vernunft, unser Handeln bestimmt. Versteht man, wie Kant es tut, Glückseligkeit als die größtmögliche Erfüllung der eigenen Neigungen, dann lässt sich die Versklavung durch das Begehren in dem Umstand erblicken, dass es letztlich nur das kontingente Ensemble der individuellen Begierden ist, die das eigene Tun bestimmen, und nicht etwas Erhabeneres, wie etwa eine Vorstellung von sich selbst als einem freien Wesen. Versklavt ist man nach dieser Ansicht deshalb, weil man sich in seinem Wollen nicht an einem Selbstbild orientiert, dem zufolge das eigene Selbst mehr ist als ein bloßes Bündel von Begierden, sondern sich in seinem Wahlverhalten statt dessen von demjenigen Teil des eigenen Selbst leiten lässt, der gänzlich der Natur verhaftet ist. Es wäre töricht, die Bedeutung dieser kantischen Lesart schmälern zu wollen oder gar zu leugnen, dass sie sich in abgewandelter Form auch bei Rousseau finden lässt. Aber wenn wir die mit der Autonomie verbundene Fähigkeit, der Versklavung durch die eigenen Begierden zu entkommen, derart auf ein rein subjektives Phänomen reduzieren, dann übersehen wir, wie schon viele von Rousseaus Nachfolgern, einen wichtigen Aspekt seiner Argumentation zugunsten der Bedeutung der Autonomie. Einer der Gründe dafür, dass viele von Rousseaus Lesern diesen Aspekt übersehen, besteht darin, dass sie sich auf den Text beschränken, in dem die Idee der Autonomie am deutlichsten ausformuliert wird, nämlich auf den Contrat social, und dabei das Ausmaß unterschätzen, in dem der Discours sur l’inégalité für ein umfassendes Verständnis seines politischen Denkens erforderlich ist. Dieser Text, der das Problem formuliert, das im Contrat social gelöst werden soll, zeigt bis ins kleinste Detail, wie Menschen, denen es an Autonomie gebricht, infolge ihrer Natur und ihres unüberlegten Wahlverhaltens mehr oder weniger zwangsläufig dahin kommen, eine Welt zu errichten, in der die Herrschaft11 anderer – also eine Form der Sklaverei – allgegenwärtig ist.12 Die im Zentrum des zweiten Discours stehende Idee sozialer Herrschaft beruht implizit auf einem Konzept von Freiheit – nämlich Freiheit von Herrschaft –, das anders ist als alle hier bislang behandelten, und eben diese Pluralität von Freiheitskonzepten ist es, die ein Verständnis von Rousseaus Theorie der Autonomie so sehr erschwert. Diese Komplexität sollte gleichwohl nicht als eine Schwäche im Denken Rousseaus angesehen werden, sondern als reflektierter Ausdruck des Facettenreichtums, der dem Phänomen menschlicher Freiheit innewohnt. Nach meiner Lesart besteht der besondere Beitrag, den der Discours sur l’inégalité zu Rousseaus Theorie der Autonomie leistet, darin, dass er uns auf eine Art von Frei-

11 Im amerikanischen Original ist hier und nachfolgend von „domination“ die Rede (Anm. d. Übers.). 12 Ich thematisiere diesen Aspekt eingehender in Frederick Neuhouser: Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rousseau, a. d. Amerik. v. Christian Heilbronn, Frankfurt/Main 2012, Kap. 2 u. 3.

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heit aufmerksam macht – die Freiheit, nicht von anderen beherrscht zu werden –, die sich mit keinem der beiden im Contrat social entwickelten Konzepte der natürlichen und der bürgerlichen Freiheit deckt. Aus dem zweiten Discours lässt sich die Behauptung herauslesen, dass selbst die beste Sicherung der bürgerlichen Freiheit – durch individuelle, staatlich garantierte Rechte, die dem Schutz der Bürger vor der Einmischung anderer dienen – mit einer Art sozialer Herrschaft einhergehen kann, die ein wohlgeordnetes Gemeinwesen zu verhindern oder zu verringern bestrebt sein sollte. Für Rousseau resultiert diese Form von Herrschaft daraus, dass jemand in der Lage ist, sich bei anderen regelmäßig und erfolgreich „Gehorsam zu verschaffen“ („s’en faire obéir“).13 Diese Herrschaft entspringt weder aus Pflichten gegenüber anderen, noch resultiert sie aus einer derart unmittelbaren Beeinträchtigung meiner Handlungsmöglichkeiten durch andere, wie sie die bürgerlichen Freiheitsrechte verhindern sollen. Sie resultiert vielmehr daraus, dass man willentlich dem Befehl oder geäußerten Wunsch einer anderen Person gehorcht, auch wenn dies den eigenen anderweitigen Handlungsabsichten zuwiderläuft. Eine Möglichkeit, den besonderen Zusammenhang zwischen freiwilligem Gehorsam und Herrschaft zu beschreiben, besteht darin, zu sagen, dass die Bereitschaft, etwas zu tun, und zwar insbesondere etwas, von dem jemand anderes wünscht, das man es tut, manchmal gleichwohl mit Unfreiheit einhergehen kann, ohne dass damit eine Verletzung der bürgerlichen Freiheitsrechte verbunden wäre. Anders ausgedrückt: Es ist sehr wohl möglich, unfrei – beherrscht – zu sein, selbst wenn man keinerlei Form von Zwang im engeren Sinn unterworfen ist (das heißt selbst wenn niemand einem eine Pistole an den Kopf hält oder einem mit körperlicher Gewalt seinen Willen aufzwingt). Es ist zweifelsohne schwierig, die Grenze zwischen freiwilliger Kooperation und Herrschaft exakt zu bestimmen, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass diese Art von Herrschaft existiert und dass sie in unseren Gesellschaften weit verbreitet ist. Ein offenkundiges Beispiel stammt aus einer Radiosendung, die vor kurzem in den Vereinigten Staaten zu hören war: Eine Immigrantin, die ohne gültige Papiere in New York lebt, ist verzweifelt auf der Suche nach Arbeit, aber weil sie sich illegal in den Staaten aufhält, bleibt ihr kaum eine andere Beschäftigungsmöglichkeit, als sich in den Häusern der Reichen als Haushaltshilfe zu verdingen. Aber auch diese Möglichkeiten sind in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise rar gesät und selbst wenn man eine Stelle gefunden hat, kann einem jederzeit fristlos und ohne Angabe von Gründen gekündigt werden. Nach wochenlanger Suche wird der Frau schließlich eine Stelle als Kindermädchen angeboten, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich zuvor einem HIV-Test unterzieht, was ihr aus persönlichen Gründen zuwider ist. (Unter anderem deshalb, weil ihr selbst für den Fall, dass sie positiv getestet würde,

13 Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, krit. Ausg. d. integr. Textes, m. sämtl. Fragm. u. erg. Mat. n. d. Originalausg. u. d. Handschr. neu ed., übers. u. komment. v. Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn u. a. 1993, 165 (OC III, 161).



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die für eine medizinische Behandlung notwendige Krankenversicherung fehlt.) Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Geschichte ausgeht: In ihrer Verzweiflung, endlich eine Anstellung zu finden, stimmt die Frau schließlich doch einem HIV-Test zu, um die irrationale Befürchtung ihrer Arbeitgeberin zu zerstreuen, dass sie im Zuge des tagtäglichen Kontakts eines der anderen Haushaltsmitglieder anstecken könnte. Indem sie dies tut, erweist sie sich für Rousseau als unfrei (beherrscht), weil sie einem fremden Willen anstelle des eigenen gehorcht. Und nur damit diesbezüglich keine Missverständnisse aufkommen: In abgewandelter Form wird sich das geschilderte Szenario im Verlauf ihrer Anstellung noch etliche Male wiederholen; Herrschaft manifestiert sich nicht in einem einzelnen Akt des Gehorsams gegenüber einem fremden Willen, sondern in der Ausprägung eines entsprechenden, beständig wiederkehrenden Verhaltensmusters. Rousseau ist nun der Ansicht, dass unsere menschliche Natur, sofern sie nicht durch äußere Umstände korrumpiert ist, uns danach streben lässt, so oft als möglich lieber unserem eigenen Willen als dem eines anderen zu folgen. Angesichts dieser Annahme einer starken natürlichen Neigung, sich den Anordnungen anderer zu widersetzen, verlangt die Allgegenwärtigkeit von Herrschaft in menschlichen Gesellschaften nach einer Erklärung, und das gerade genannte Beispiel hilft, eine solche zu finden. Der wichtigste Teil dieser Erklärung in Rousseaus eigenen Worten lautet wie folgt: Ohne diese Einzelheiten unnötig fortzuführen, muß jeder sehen, daß, da die Bande der Knechtschaft nur aus der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen und den gegenseitigen Bedürfnissen, die sie verbinden, geknüpft werden, es unmöglich ist, einen Menschen zu knechten, ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, nicht ohne einen anderen auskommen zu können […].14 Sans prolonger inutilement ces détails, chacun doit voir que les liens de la servitude n’étant formés que de la dépendance mutuelle des hommes et des besoins reciproques qui les unissent, il est impossible d’asservir un homme sans l’avoir mis auparavant dans le cas de ne pouvoir se passer d’un autre (OC III, 161–162).

Mit anderen Worten: Herrschaft manifestiert sich in der menschlichen Gesellschaft als Folge einer Grundgegebenheit des menschlichen Daseins – unserer materiellen (aber auch psychologischen) Bedürftigkeit. Genau genommen stellt die Bedürftigkeit des Menschen jedoch nur deshalb ein Problem für die Freiheit dar, weil sie mit einer weiteren Grundgegebenheit des menschlichen Daseins einhergeht – unserer allgemeinen Unfähigkeit, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, ohne auf die Kooperation mit anderen angewiesen zu sein. Es ist diese Unfähigkeit – unser Mangel an Selbstgenügsamkeit –, die Rousseau als Abhängigkeit bezeichnet, und man übertreibt nicht, wenn man behauptet, dass diese Gegebenheit und die aus ihr resultierenden Probleme des Menschen die zentralen Anliegen von Rousseaus Philosophie sind. Abhängigkeit von

14 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 165, 167.

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anderen ist für Rousseau deshalb so bedeutsam, weil er in ihr das bei weitem größte Hindernis der Freiheit erblickt.15 Und das wiederum ist deshalb so, weil Abhängigkeit eine Erklärung für die Möglichkeit von Herrschaft liefert; sie erlaubt uns das andernfalls unerklärliche Phänomen zu begreifen, warum man einem fremden Willen anstelle des eigenen gehorcht. So fällt es nicht schwer, sich Situationen vorzustellen, in denen die zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse erforderliche Kooperation mit anderen es notwendig erscheinen lässt oder nahezu unwiderstehliche Anreize dafür bietet, den eigenen Willen dem eines anderen unterzuordnen. Gleichwohl ist Abhängigkeit nun aber eine allgemeine Grundgegebenheit des menschlichen Daseins. Da wir alle normalerweise auf die Hilfe anderer angewiesen sind, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, ist diese Abhängigkeit normalerweise auch nicht einseitig, sondern wechselseitig. Diese Tatsache scheint den freiheitsgefährdenden Konsequenzen der Abhängigkeit zuwiderzulaufen: Denn wenn jeder von uns in gleicher Weise vom anderen abhängt – wenn ich auf die Kooperation mit Ihnen genauso dringend angewiesen bin wie Sie auf die Kooperation mit mir –, dann ist nur schwer zu sehen, wie es zwischen uns zur Entstehung dauerhafter Herrschaftsverhältnisse kommen sollte. Rousseau erkennt diese Tatsache sehr wohl an, und eben das ist auch der Grund, warum er meint, dass es neben Bedürftigkeit und Abhängigkeit noch der Berücksichtigung einer dritten Gegebenheit bedarf, um das Bild zu vervollständigen und das Phänomen weitverbreiteter Herrschaft zu erklären. Dieser dritte Faktor ist die soziale Ungleichheit (jede dauerhafte Abweichung in der Verteilung von Wohlstand, Ansehen oder Einfluss), und ihre Bedeutung für das Verständnis von Herrschaft erklärt, warum Rousseau eine ganze Abhandlung über den Ursprung und die Auswirkungen der Ungleichheit schreibt. Eines der Hauptargumente des Textes lautet, dass immer dann, wenn soziale Ungleichheit und Abhängigkeit zusammenkommen, dies beinahe zwangsläufig dazu führt, dass die weniger Begünstigten sich in einer Position wiederfinden, in der sie sich zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse regelmäßig dem Willen der stärker Begünstigten unterordnen müssen. Beispiele für soziale Ungleichheiten, die sich in asymmetrische Machtbeziehungen übersetzen und die Herrschaft der Mächtigen über die Machtlosen zur Folge haben, sind in der westlichen Gesellschaft so weit verbreitet, dass sich jede weitere Diskussion des Themas eigentlich von selbst erübrigt. Es ist genau dieses Phänomen, das Adam Smith im Blick hat, wenn er darauf hinweist, dass Lohnauseinandersetzungen im Kapitalismus fast immer zugunsten der Kapitalisten entschieden werden, weil diese den Profit weniger nötig haben als die Arbeiter das Essen.16 Weil sie sich gegenüber denjenigen,

15 Abhängigkeit von anderen schadet der Freiheit und „erzeugt alle Laster“. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, vollst. Ausg., in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 13., un­ veränd. Aufl., Paderborn u. a. 1998, 63 (OC IV, 311). Für eine ausführliche Erörterung dieser Thematik vgl. F. Neuhouser: Actualizing Freedom, 64–73. 16 Vgl. Adam Smith: The Wealth of Nations [1776], New York 2000, 75f.



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zu denen sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, in einer benachteiligten Position befinden, läuft es für die Arbeiter am Ende in der Regel darauf hinaus, dass sie für einen Lohn arbeiten, der ihren Bossen zum Vorteil gereicht, was ein hervorragendes Beispiel für den Gehorsam gegenüber einem fremden Willen darstellt. Es ist nun an der Zeit, den roten Faden dieses Aufsatzes wieder aufzunehmen und die Frage zu stellen, was diese Überlegungen mit dem Thema der Autonomie zu tun haben: Wenn das Zusammenspiel von Bedürftigkeit, Abhängigkeit und sozialer Ungleichheit dazu führt, dass Herrschaft ein allgegenwärtiges Merkmal nahezu jeder menschlichen Gesellschaft darstellt, was bedeutet das für Rousseaus Konzept von Autonomie? Eine der wichtigsten Prämissen des Contrat social lautet, dass die Bürger selbst in einer Republik, die ihnen ihre mit der bürgerlichen Freiheit verbundenen Rechte garantiert, so lange unfrei bleiben, wie das Problem der Herrschaft keine politische Lösung erfährt. Eine mögliche Lösung des Problems wird durch Rousseaus Sicht auf die Ursache jeder Form von Herrschaft nahegelegt: Warum nicht einfach jede Form von Abhängigkeit abschaffen, wenn man dadurch die alles entscheidende Voraussetzung beseitigen könnte, die Herrschaft allererst ermöglicht? Im Discours sur l’inégalité diskutiert Rousseau diese Lösung und weist sie leidenschaftlich zurück.17 Das dort von ihm entworfene Bild des ursprünglichen Naturzustands kann als Versuch verstanden werden, sich vorzustellen, wie das Leben von Individuen aussehen würde, die einen Zustand vollkommener Herrschaftslosigkeit um den Preis vollständiger Selbstgenügsamkeit erlangt hätten. Rousseaus Antwort auf dieses Szenario lautet, dass der Preis für eine auf diese Weise erlangte Form von Freiheit, selbst wenn sie möglich sein sollte, zu hoch wäre, da sich die durchgängige Selbstgenügsamkeit, die es zur Aufrechterhaltung eines derartigen Zustands bräuchte, nur durch den Verzicht auf jede Art dauerhafter zwischenmenschlicher Beziehungen aufrecht erhalten ließe. Wie Rousseau jedoch deutlich macht, können die völlig beziehungslosen, unabhängigen Wesen jenes vorgestellten Naturzustands keine menschlichen Wesen sein: Das Fehlen aller sozialen Bande verunmöglicht nämlich die Ausprägung einer ganzen Reihe von Gütern und Fähigkeiten, die wesentlich zur menschlichen Existenz gehören und von so großem Wert sind, dass sie nicht um der Freiheit willen geopfert werden dürfen. Vollkommene Unabhängigkeit verhindert nicht nur Liebe und andere Formen zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern auch Sprache, Vernunft, Tu­gend – ja, sogar die Ausprägung eines eigenen Selbst. Da im gegenwärtigen Diskurs „Autonomie“ oft gleichbedeutend mit „Selbstgenügsamkeit“ verwendet wird, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Idee der Autonomie ihre ursprüngliche Formulierung der Einsicht verdankt, dass individuelle Selbstgenügsamkeit für menschliche Wesen weder möglich noch erstrebenswert

17 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 319ff. (OC III, 207f.). Siehe dazu auch die Ausführungen im Manuscrit de Genève, der ersten Version des Contrat social (OC III, 288).

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ist. Vielmehr ist Autonomie die Antwort auf die Frage: Wie können durch und durch abhängige Wesen dennoch frei sein beziehungsweise selbstbestimmt leben? Da völlig unabhängige Individuen sich nicht als menschliche Wesen identifizieren lassen, zielt Rousseaus politische Strategie zur Versöhnung unserer Abhängigkeit mit unserer Freiheit nicht auf die Abschaffung der Abhängigkeit, sondern auf ihre Reorganisation, und die Prinzipien, nach denen diese Reorganisation erfolgen soll, sind seinem Konzept des Gemeinwillens eingeschrieben: Wenn der Zweck des Gemeinwillens darin besteht, die Freiheit aller Bürger zu verwirklichen, dann muss er nicht nur die formalrechtlichen Garantien der bürgerlichen Freiheit institutionalisieren, sondern auch soziale Einrichtungen und Gesetze hervorbringen, die Abhängigkeit derart reorganisieren, dass Herrschaft eliminiert beziehungsweise stark reduziert wird. Wenn Freiheit für alle Wirklichkeit werden soll – wenn es den Bürgern nicht nur von Gesetzes wegen erlaubt sein soll, zu tun, was sie wollen, sondern wenn sie tatsächlich dazu befähigt werden sollen, sich selbst und nicht anderen zu gehorchen –, dann müssen die Gesetze eines wohlgeordneten Gemeinwesens sich der wahren Ursachen annehmen, die der allgemeinen Verbreitung von Herrschaft zugrunde liegen. Es überrascht nicht, dass die Antwort auf die Frage, wie sich die schmerzlichen Konsequenzen der Abhängigkeit lindern lassen, darin besteht, für Gleichheit zwischen den Bürgern zu sorgen, und zwar insbesondere für ein nennenswertes Maß an materieller Gleichheit. Die Gesetze eines wohlgeordneten Gemeinwesens haben nicht die Aufgabe für eine absolute Gleichverteilung des Reichtums zu sorgen; sie sollen lediglich die Entstehung großer materieller Ungleichheiten verhindern, wie sie mit jeder Form unkontrollierter wirtschaftlicher Aktivität unweigerlich einhergehen.18 Wie Rousseau selbst mit Blick auf die Gleichheit schreibt, „so darf unter diesem Wort nicht verstanden werden, daß das Ausmaß an […] Reichtum ganz genau gleich sei, sondern daß […] kein Bürger derart vermögend sei, sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, daß er gezwungen wäre, sich zu verkaufen“ („il ne faut pas entendre par ce mot que les degrés de […] richesse soient absolument les mêmes, mais que […] nul citoyen ne soit assez opulent pour en pouvoir acheter un autre, et nul assez pauvre pour être contraint de se vendre“).19 Rousseaus konkrete Vorschläge zur Begrenzung der materiellen Ungleichheit reichen von Gesetzen zur Beschränkung von Erbschaften über die Erhebung von Steuern auf Luxusgüter bis hin zu der Ansicht, dass die Existenz einer Klasse besitzloser Individuen unvereinbar

18 Den Polen gibt Rousseau den Rat: „Die Gesetzgebung soll stets die große Ungleichheit an Ver­ mögen und Macht zu mindern suchen, durch die ein allzu großer Abstand […] entsteht, welcher durch natürliches Fortschreiten noch immer wächst.“ Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Reformierung“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 431–530, hier 486 (OC III, 1002). 19 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 56–57 (OC III, 391–392).



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mit der Freiheit aller Bürger sei.20 Weitaus wichtiger als die Details dieser Vorschläge ist die Idee, die ihnen zugrunde liegt: Die Verringerung des Abstands zwischen den Extremen der Wohlstandsverteilung sorgt für ein ausgeglichenes Maß an wirtschaftlicher Abhängigkeit und verringert damit die Wahrscheinlichkeit, dass die weniger Begünstigten sich zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse dem Willen anderer unterwerfen müssen. Gesetze, die soziale Ungleichheit effektiv verringern, können nicht umhin, der individuellen Willkürfreiheit Grenzen zu setzen. So werden Individuen beispielsweise nicht die Freiheit besitzen, grenzenlosen Reichtum anzuhäufen, wenn es dadurch zu einer Beeinträchtigung der Rahmenbedingungen kommt, die es braucht, um allen ein von Herrschaft weitgehend freies Leben zu ermöglichen. Anders ausgedrückt: Die gesetzlichen Maßnahmen, die notwendig sind, um Herrschaft zu verringern (jene, die das Ausmaß sozialer Ungleichheit mindern), gehen zwangsläufig mit einigen Beschränkungen der negativen Freiheit eines jeden einher. Damit diese Beschränkungen nicht zu einer Quelle der Unfreiheit werden, müssen die ihnen unterworfenen Bürger in der Lage sein, sie als Ausdruck ihres gemeinsamen Willens anzusehen – sie müssen in der Lage sein, die gesetzlich auferlegten Beschränkungen als gut oder gerecht anzuerkennen. Nur in diesem Fall wären die Bürger nämlich nicht durch einen fremden Willen beschränkt, sondern durch ihre eigenen Prinzipien: Indem sie nur selbstgegebenen Gesetzen gehorchten, blieben sie nach wie vor selbstbestimmt beziehungsweise frei im Sinne von autonom. Wir sind jetzt in der Lage, den zweiten Grund zu verstehen, weshalb Rousseau Autonomie im Vergleich zur negativen Freiheit als überlegen betrachtet. (Der erste Grund bestand darin, dass Autonomie eine komplexere Struktur der Subjektivität voraussetzt, die eine anspruchsvollere Form der Selbstbestimmung ermöglicht als die einfache prinzipienlose Wahl.) Der zweite Grund besteht darin, dass Autonomie eine Reihe bestimmter objektiver Voraussetzungen für die Freiheit von Individuen sichert. Das hängt damit zusammen, dass Autonomie für Rousseau bedeutet, sich selbst nicht beliebige Gesetze aufzuerlegen, sondern eben jene Gesetze, die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen jeder von uns frei von sozialer Herrschaft ist. Anders ausgedrückt: Im Ergebnis trägt Autonomie nicht nur dazu bei, die menschliche Seele zu erheben, sondern auch dazu, äußere Zustände hervorzubringen, die einen Zugewinn an Freiheit ermöglichen, indem sie Individuen die tatsächliche Fähigkeit, und nicht bloß die formalrechtliche Erlaubnis verleihen, regelmäßig nur ihrem eigenen Willen zu gehorchen. Das Verständnis der Beziehungen zwischen Abhängigkeit, Ungleichheit und Herrschaft ermöglicht es uns also, zu begreifen, inwiefern der Antrieb des reinen Begehrens einen Zustand der Sklaverei zur Folge haben kann. Rousseaus

20 Siehe Jean-Jacques Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 371–429, hier 422.

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Discours sur l’inégalité erzählt davon, wie Wesen, denen die notwendigen Bedingungen ihrer eigenen Freiheit unbekannt sind, eine Reihe freier, weil nicht von anderen erzwungener Entscheidungen treffen, mittels derer sie, ohne dass sie dies wüssten oder beabsichtigten, schließlich eine Welt erschaffen, deren – durch verschiedene Formen sozialer Ungleichheit gekennzeichnete – Verhältnisse es ihnen unmöglich machen, frei von Herrschaft zu leben. Es ist für Rousseau ein zwar kontingentes, aber gleichwohl grundlegendes Faktum der menschlichen Natur, dass die Bereitschaft, jeder nur denkbaren Begierde nachzugeben, ohne sie auf ihre Vereinbarkeit mit unserer eigenen Freiheit hin zu bewerten, am Ende fast immer dazu führt, dass wir den Ursachen unserer Beherrschung in geradezu naiver Weise selbst den Boden bereiten. Der Antrieb des reinen Begehrens ist gleichbedeutend mit Sklaverei, weil unsere Begierden, die wir als menschliche Wesen haben, uns nur allzu oft Ziele (wie etwa Luxus, Prestige, grenzenlose Bewunderung oder Zustimmung) verfolgen lassen, die uns von dem ablenken, was unser wohlverstandenes Eigeninteresse – vor allem unsere Freiheit – von uns verlangt. In den verbleibenden Abschnitten möchte ich nun noch kurz auf die letzten beiden der vier Punkte eingehen, die ich am Anfang meines Aufsatzes skizziert habe. Der erste besteht darin, dass Autonomie, zumindest in ihrer ursprünglichen Form, nicht individualistisch verstanden wird, sondern als etwas, dass Menschen nur erlangen können, wenn sie ihren Status als Individuen zumindest teilweise aufgeben. Einer der Gründe, warum es vereinzelten, selbstgenügsamen Individuen nicht möglich ist, Autonomie zu erlangen, liegt auf der Hand: Die kognitiven Kapazitäten, derer es zur Ausübung von Autonomie bedarf – unter anderen Sprachvermögen, Reflexionsvermögen sowie die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme –, lassen sich nur in einer Gesellschaft entwickeln, in der Individuen dauerhafte und bedeutsame Beziehungen zu anderen unterhalten. Aber dieser Gedanke, so wichtig er ist, erfasst noch nicht den eigentlichen Grund, weshalb Autonomie die teilweise Aufgabe des eigenen Status als Individuum verlangt. Genau genommen macht Autonomie eine Aufgabe des Status als Individuum aus zweierlei Gründen erforderlich. Zum einen ist die Bildung des Gemeinwillens – also die Formulierung von Gesetzen, die dem Gemeinwohl (der Freiheit aller) dienen – darauf angewiesen, dass die Bürger sich um mehr als nur ihre jeweils besonderen Interessen sorgen. Dieser Umstand kann auch als eine Erweiterung ihres Selbstverständnisses beschrieben werden: Statt sich selbst ausschließlich als Individuen mit rein privaten Interessen zu betrachten, müssen autonome Bürger sich zudem als Mitglieder eines größeren Gemeinwesens begreifen, deren lebenswichtige Interessen auch die lebenswichtigen Interessen anderer umfassen (also ihr Interesse an Leben, Sicherheit und vor allem Freiheit).21 Die Notwendigkeit für dieses erweiterte Verständnis des eigenen Selbst

21 Vom Individuum im Naturzustand heißt es im Contrat social, dass es „von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist“, ein Wesen, das „nur sich selbst im Auge“ hat und ausschließ­



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und der eigenen lebenswichtigen Interessen folgt aus der durchgängigen wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen. Wenn ich zur Verwirklichung meiner fundamentalen Interessen auf die Kooperation mit anderen angewiesen bin – wenn gemeinschaftliches Handeln nicht nur zur Sicherung des Überlebens nötig ist, sondern auch zur Bewahrung der Freiheit (und der Vermeidung von Herrschaft) –, dann verlangen sowohl meine körperlichen als auch meine moralischen Bedürfnisse von mir, dass ich mich an dem kooperativen Gemeinschaftsprojekt einer Verwirklichung der fundamentalen Interessen aller Gesellschaftsmitglieder beteilige, und eben darin besteht nach Rousseau die Aufgabe des Gemeinwillens. Um den Gemeinwillen als meinen eigenen Willen anzuerkennen, muss mir an dem Ziel dieser kollektiven Anstrengung  – der Verwirklichung des Gemeinwohls anstelle meines eigenen privaten Nutzens – gelegen sein, und das setzt voraus, dass ich das Wohlergehen anderer nicht als ein Hindernis, sondern als einen integralen Bestandteil meines eigenen ansehe. Rousseau zufolge muss ein Bürger, der sich selbst die Gesetze gibt, in der Lage sein, „das Glück eines jeden“ („le bonheur de chacun“) zu wollen, und das bedeutet, nach Gesetzen zu streben, die mit einer erweiterten Vorstellung der eigenen Identität in Einklang stehen; denn es gibt niemanden in der Gesellschaft, der, wenn er sich selbst das Gesetz gibt, „sich dieses Wort Jeder nicht zu eigen macht und der nicht an sich denkt, wenn er für alle stimmt“ („qui ne s’approprie ce mot chacun, et qui ne songe à lui-même en votant pour tous“).22 Der zweite Grund, weshalb autonome menschliche Wesen ihren Status als Individuum teilweise aufgeben müssen, folgt aus der Überlegung, dass die Verwirklichung der eigenen fundamentalen Interessen jeden zur Mitwirkung an einem gemeinschaftlichen Prozess nötigt, dessen Ablauf gesetzlich geregelt ist. Wenn diese Gesetze, die „sich auf alle zu beziehen“ („s’appliquer à tous“) haben, auch „von allen ausgehen“ („partir de tous“) sollen – wenn jeder von uns Autonomie genießen soll –, dann kann niemand die Autorität zur Gesetzgebung nur für sich allein beanspruchen.23 Wenn wir kollektiv handeln müssen, damit jeder von uns leben und frei sein kann, und wenn jeder von uns die Möglichkeit haben soll, Autonomie zu erlangen, dann muss

lich seine privaten (rein egoistischen) „Sonderinteressen“ verfolgt. Demgegenüber betrachtet sich ein Bürger als jemand, der „Teil eines größeren Ganzen“ ist, von dem er „in gewissem Sinn sein Leben und Dasein empfängt“, und der aufgrund seines Selbstverständnisses in der Lage ist, „das Glück eines jeden“ zu wollen. J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 43, 22, 45, 43, 33 (OC III, 381, 364, 383, 381, 373). Und im Discours sur l’économie politique schreibt Rousseau: Bürger betrachten „ihre Person niemals anders als in Beziehung zum Staatskörper“; sie sind es gewohnt, sich „mit diesem größeren Ganzen zu identifizieren“ und „sich als Glieder des Vaterlandes zu fühlen“. Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über die Politische Ökonomie“, in ders.: Kulturkritische und politische Schrif­ ten in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 333–377, hier 356 (OC III, 259). 22 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 33 (OC III, 373, Hervorh. i. Orig., Frederick Neuhouser). 23 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 33 (OC III, 373).

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auch der Prozess der Gesetzgebung kollektiver Natur sein, was nichts anderes heißt, als dass die Prinzipien, die unser Handeln leiten, ebenfalls von uns allen stammen müssen, und nicht nur von mir oder Ihnen oder irgend einem anderen Individuum. Das bedeutet, dass autonome Bürger ihren jeweiligen Anspruch aufgeben müssen, allein darüber zu befinden, was gut (oder gerecht) ist und eigenmächtig zu entscheiden, welche Verpflichtungen sie eingehen. Mit anderen Worten: Sie müssen Einschränkungen ihrer moralischen Souveränität akzeptieren. Damit ist ein komplexes demokratietheoretisches Problem angesprochen, das über den begrenzten Umfang dieses Aufsatzes weit hinausgeht. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass die Akzeptanz von Einschränkungen der eigenen moralischen Souveränität nicht mit einem vollständigen Verzicht auf sie gleichzusetzen ist. Rousseau ist in diesem Zusammenhang der Überzeugung, dass mit dem Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand das Ideal uneingeschränkter individueller Souveränität abgelöst wird durch das neue Ideal gleicher geteilter moralischer Souveränität. Das bedeutet, dass Rousseaus Konzept von Autonomie, um kohärent zu sein, das offensichtliche Paradox erklären können muss, inwiefern autonome Individuen in moralischer Hinsicht zugleich souverän und nicht souverän sind. Genauer gesagt: Es muss möglich sein, zu verstehen, wie die einzelnen Mitglieder eines Kollektivs sowohl Anteil an einer kollektiven Souveränität haben als auch ihre ursprüngliche, wenn auch begrenzte Souveränität behalten können.24 Dieser Gedanke führt uns zu dem letzten Punkt, den ich hier in Zusammenhang mit Rousseaus Konzept von Autonomie erörtern möchte. Was ich zuvor über die eingeschränkte moralische Souveränität autonomer Wesen gesagt habe, könnte den Eindruck erwecken, dass Rousseaus Theorie keinen Raum ließe für ein Ideal von Autonomie, das vor allem auf die individuelle Fähigkeit zur eigenständigen Urteilsbildung beziehungsweise zum selbständigen Vernunftgebrauch abstellt, ja, dass sie einem solchen Ideal geradezu ablehnend gegenüberstünde. Ein solcher Eindruck wäre jedoch falsch. Als Beweis für diese Behauptung mag die Tatsache dienen, dass das von mir bislang noch nicht erwähnte philosophische Hauptwerk Rousseaus, der Émile, die Fähigkeit zur unabhängigen, selbstbestimmten Urteilsbildung sogar zum zentralen Gegenstand seiner Untersuchung hat. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass es im Émile vor allem um die Frage geht, wie Menschen zum selbständigen Denken beziehungsweise Urteilen erzogen werden können. Ob dieses Anliegen zu dem des Contrat social in Widerspruch steht oder es vielmehr ergänzt, ist eine Frage, die unter den Interpreten Rousseaus durchaus kontrovers diskutiert wird. Meiner Ansicht nach lässt Rousseaus demokratisches Verständnis einer gleichberechtigten, aber eingeschränkten Souveränität von Individuen es nicht nur zu, dass Bürger über die im Émile erörterte Fähigkeit zur unabhängigen Urteilsbildung verfügen, sondern setzt deren Existenz geradezu voraus. Da es für Rousseau weder einem Gott noch

24 Vgl. F. Neuhouser: Pathologien der Selbstliebe, 259ff.



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einem allmächtigen Souverän Hobbesscher Provenienz zukommt, den Gemeinwillen zu interpretieren – also Aussagen darüber zu treffen, was das Gemeinwohl jeweils konkret erfordert –, kann nur eine von wirklichen Menschen gebildete Körperschaft diese Aufgabe übernehmen. Wenn jedoch jeder von uns in moralischer Hinsicht die gleiche Autorität besitzt – was nichts anderes bedeutet, als dass niemand für sich beanspruchen kann, über eine privilegierte Kenntnis des Guten zu verfügen –, dann kann die gesetzgeberische Autorität nur aus den gleichberechtigten Stimmen aller resultieren. Unter diesen Bedingungen steht zu vermuten, dass die Beratungen einer solchen gesetzgebenden Versammlung dann besonders vertrauenswürdig geführt werden, wenn die Versammlung aus einer großen Anzahl moralisch unabhängig urteilender Personen besteht, die jeweils eigenständig denken,25 und nicht aus einer Masse von Bürgern, die sich von fadenscheinigen Argumenten, die im Gewand moralischer Autorität daherkommen, verleiten lassen. Was Autonomie damit Rousseau zufolge voraussetzt, sind Individuen, die fähig sind, moralisch selbständige Urteile zu fällen, die aber zugleich auch anerkennen, dass ihre eigenen wohlüberlegten Urteile darüber, welche Gesetze ihnen am zuträglichsten sind, fehlbar sind, und dass diesen Urteilen, solange sie nur die Zustimmung einiger weniger für sich haben, die nötige Autorität fehlt, die es braucht, um Gesetze zu machen und anderen Verpflichtungen aufzuerlegen. Mit anderen Worten: Autonomie verlangt von Individuen beides, nämlich sowohl die Fähigkeit, für sich selbst zu entscheiden, als auch die Bereitschaft, die eigenen moralischen Urteile kritisch zu hinterfragen, wenn sie von den Urteilen anderer abweichen. Diese Haltung gegenüber den eigenen Urteilen lässt sich auch als eine Haltung gegenüber anderen beschreiben: Zur Autonomie gehört demnach die Ausbildung einer Haltung des Respekts gegenüber den moralischen Urteilen anderer, eines Respekts, der sich in der Bereitschaft äußert, den moralischen Urteilen anderer eine gewisse, wenn auch keineswegs vollkommene Berechtigung zuzugestehen, und zwar auch jenen, die nicht mit den eigenen Urteilen übereinstimmen. So zu handeln heißt anzuerkennen, dass andere Individuen mit dem gleichen Recht beanspruchen können, das Richtige zu erkennen, das ich für mich selbst reklamiere. Dieser Fähigkeit zu entbehren bedeutet hingegen, die Tugend des unabhängigen Urteilens zu pervertieren und sie in ein Laster zu verwandeln, das sich, mit Kant gesprochen, als moralischer Selbstbetrug bezeichnen lässt. Es spricht für Rousseau, dass er nicht versucht, genau zu bestimmen, an welchem Punkt gesundes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit in moralischen Selbstbetrug umschlägt, denn es dürfte unmöglich sein, allgemeingültige Aussagen darüber

25 Diese Sichtweise liegt auch Rousseaus Darstellung vom Verhalten der Bürger in der gesetzgebenden Versammlung zugrunde, der zufolge im Anschluss an die öffentliche Debatte ein jeder sich selbst befragt, ob ein bestimmtes Gesetz seiner Auffassung vom „Gemeinwillen entspricht“. J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 117 (OC III, 441).

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zu treffen, wo genau hier die Grenze verläuft. Philosophen fühlen sich in der Regel unwohl, wenn Trennlinien derart unscharf gezogen werden, insbesondere wenn es dabei um so wichtige Dinge geht wie die Frage: Woher stammt moralische Autorität? Rousseaus Position legt nahe, dass es keine einzig richtige Antwort auf diese Frage gibt, dass moralische Autorität vielmehr aus zwei potentiell widerstreitenden Quellen entspringt, nämlich einerseits dem Urteil des einzelnen Individuums, und andererseits dem kollektiven Konsens der größeren Gemeinschaft, der es angehört. Rousseaus Überlegungen zur Autonomie laufen also auf das Resultat hinaus, dass sich Autonomie nur insoweit erlangen lässt, wie das Individuum, das sich um ein moralisches Urteil bemüht, bereit ist, sich als ein mit der gleichen eingeschränkten Autorität wie alle anderen versehener Teilnehmer eines wesentlich kollektiven Unterfangens zu verstehen, bei dem es darum geht, zu bestimmen, was richtig ist, und die Prinzipien Gesetz werden zu lassen, die unsere Pflichten festlegen. Dass eine Spannung zwischen diesen beiden Quellen moralischer Autorität existiert, die sich auch durch philosophische Reflexion nicht auflösen lässt, ist nicht zwangsläufig ein Hinweis darauf, dass Rousseau sich geirrt hat; vielmehr ist es ein Anzeichen für seine kluge Einsicht in die Ambivalenz, die nahezu allem wahrhaft Menschlichen zu eigen ist, einschließlich, wie ich hier zu zeigen versucht habe, des Ideals der Autonomie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karsten Malowitz

Konstanze Baron

Richter in eigener Sache

Rousseau im Bann der Gerechtigkeit Die Dialogues ou Rousseau juge de Jean-Jacques galten lange als besonders abseitiges, ja sogar befremdliches Werk Rousseaus. Dieser im weitesten Sinne autobiographische Text, formal in einer Grauzone zwischen Monolog und Dialog angesiedelt, in dem „Rousseau“ mit einem „Franzosen“ über den Charakter und das Werk von „Jean-Jacques“ diskutiert, ist heute noch eines der am wenigsten gelesenen Bücher des Genfers. Es gilt als Zeugnis seines wachsenden Verfolgungswahns, als Ausdruck eines geradezu pathologischen Bedürfnisses, mit seinen echten oder auch nur vermeintlichen Feinden abzurechnen und sein eigenes Bild in der Öffentlichkeit zu kontrollieren.1 Es ist das große Verdienst Michel Foucaults, diesen Text in seiner Einleitung zu der Ausgabe von 1962 aus dem Bereich der ‚Klinik‘, der psychiatrischen Diagnose herausgeholt und ihn der ‚Kritik‘ zugänglich gemacht zu haben.2 Als einer der ersten Interpreten hat zudem Gérard Allard für eine genuin politische Lektüre des Werkes plädiert.3 Allard liest die Dialogues als eine Wiederaufnahme Platonischer Fragestellungen. Anhand seiner eigenen Leidensgeschichte, seiner eigenen ‚Passion‘ verhandele Rousseau darin das Motiv des vollständig gerechten Mannes, der in der Polis zu Unrecht beschuldigt und verfolgt wird. Zusammen mit der ebenfalls sehr einflussreichen Lesart von Jean-Marie Goulemot, die den Akzent auf die Instanz der öffentlichen Meinungsbildung (opinion publique) und deren mögliche Verfehlungen legt,4 eröffnet sich damit eine politische, konkret sogar eine gerechtigkeitstheoreti-

1 Ein historischer Abriss dieser Interpretationstradition findet sich bei Claude Wacjman: Fous de Rousseau. Le cas de Rousseau dans l’histoire de la psychopathologie, Paris 1992. Die Paranoia-Diagnose zieht sich bis in die gegenwärtige Forschung durch. Allerdings wird sie hier dann in der Regel nicht mehr als eine individuelle Problematik Rousseaus, sondern als Ausdruck einer bestimmten sozialen und historischen Konstellation, beispielsweise des für die damalige Zeit neuen und somit potenziell verstörenden Phänomens der célébrité, gesehen. Vgl. Antoine Lilti: „The Writing of Paranoia: JeanJacques Rousseau and the Paradoxes of Celebrity”, in Representations 103/3 (2008), 53–83. 2 Vgl. Michel Foucault: „Introduction“, in Jean-Jacques Rousseau: Rousseau juge de Jean-Jacques. Dialogues, Paris 1962, VII–XXIV. Im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck gleichen Titels in Michel Foucault: Dits et Ecrits (1954-1988), éd. établie sous la direction de Daniel Defert et Franҫois Ewald, avec la collab. de Jacques Lagrange, tome I, Paris 1994, 172–188. 3 Vgl. Gérard Allard: „La Pensée politique des Dialogues. Le juste, l’injuste et le juge“, in Études JeanJacques Rousseau 7 (1995), 117–142. 4 Siehe Jean-Marie Goulemot: „Stratégies et positions dans les Dialogues de Rousseau juge de JeanJacques“, in Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3 (1979), 43–64. Zur Rolle der öffentlichen Meinung liegt zudem eine umfangreiche Studie vor, die sich in ihrem zweiten Teil ausführlich mit den politischen Implikationen der öffentlichen Meinung in den Dialogues befasst. Vgl. Colette Ganochaud: L’opinion publique chez Jean-Jacques Rousseau, Lille 1980.

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sche Perspektive auf Rousseaus Werk: Weit davon entfernt, einfach nur ein peinlicher Ausrutscher eines ansonsten groß(artig)en Sozialtheoretikers zu sein, greift der Text die zentralen Anliegen des politischen Oeuvres auf und treibt sie an einigen entscheidenden Punkten, etwa in Fragen der Gerechtigkeitslehre, sogar weiter als je zuvor. Ich möchte mich dieser Lesart hier anschließen. Ausgehend von der zentralen Einsicht, dass das Persönliche bei Rousseau stets politisch ist und umgekehrt, soll es im Folgenden darum gehen, den Zusammenhang zwischen Autobiographie und Sozialtheorie in den Dialogues genauer zu eruieren.5 Der Hinweis auf Platon, aber auch auf die antike Philosophie insgesamt erweist sich dabei als durchaus hilfreich: So gehe ich davon aus, dass die aufklärerische Debatte über die gute oder gerechte Polis in starkem Maße von Platons Überlegungen zum Gemeinwesen (polis) geprägt ist.6 In deren Zentrum steht ein Theorem, das unserer heutigen Auffassung von Politik denkbar fremd, für die klassische republikanische Staatsauffassung jedoch wesentlich ist: Demnach ist der gute oder gerechte Staat abhängig vom Charakter seiner Bürger. Anders ausgedrückt: Politik ist mit der Charakterbildung der Akteure systematisch verknüpft – wobei klar ist, dass der Charakter einerseits auf natürlichen Anlagen beruht, auf die einzuwirken kaum möglich ist, aber andererseits auch der Erziehung anheimgestellt ist, die sich um die mores, das heißt die sittliche Verfasstheit des Gemeinwesens, ansetzend bei jedem Einzelnen, zu kümmern habe. Rousseau hatte sich dieses Problems bis dato von einer rein pädagogischen Warte aus angenommen und seine Vorschläge dazu im Émile festgehalten. In den späten, autobiographischen Schriften drängt es sich ihm nunmehr erneut auf – wenn auch in einer etwas abgewandelten Form. Hier geht es ihm, wie ich zeigen möchte, nicht mehr in erster Linie um Fragen der Erziehung (sei es nun zum Menschen oder zum Bürger), sondern um

5 Einen interessanten Vorschlag zur Formulierung dieses Verhältnisses macht Judith Butler in ihren Frankfurter Adorno-Vorlesungen. Dort vertritt sie die Auffassung, dass das individuelle ‚Ich‘ nicht „losgelöst von seinen gesellschaftlichen Bedingungen“ (ethische Normen, soziale Rahmenvorgaben etc.) zu denken sei. Versuche ein solchermaßen dezentriertes ‚Ich‘ nun, über sich selbst Rechenschaft abzulegen, so könne „es sehr wohl bei sich beginnen, aber es wird feststellen, dass dieses Selbst bereits in eine gesellschaftliche Zeitlichkeit eingelassen ist, die seine eigenen narrativen Möglich­ keiten überschreitet. Ja, wenn das ‚Ich‘ Rechenschaft von sich zu geben sucht, Rechenschaft oder eine Erklärung seiner selbst, die seine eigenen Entstehungsbedingungen mit angeben muss, dann muss es notwendig zum Gesellschaftstheoretiker werden.“ Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. AdornoVorlesungen 2002, aus dem Engl. von Reiner Ansén, Frankfurt/Main 2003, 19–20 (Hervorh. i. Orig., Konstanze Baron). Wendet man diese Überlegung auf Rousseau an, dann stünden Autobiographie und Sozialtheorie einander nicht unvermittelt gegenüber, sondern wären – im Herzen des autobio­ graphischen Projekts – miteinander verwoben. 6 Diderot z. B. entwickelt in seiner Erzählung Entretien d’un père avec ses enfants (ca. 1770) die Idee einer gerechten Gesellschaft, die an Platons Konzept der ‚Idiopragie‘ (als Übereinstimmung von öf­ fentlicher Funktion bzw. öffentlichem Amt und charakterlicher Veranlagung) anschließt. Vgl. Denis Diderot: „Entretien d’un père avec ses enfants ou Du danger de se mettre au-dessus des lois“, in ders.: Contes, ed. with an introduction by Herbert Dieckmann, London 1963, 83–118.



Richter in eigener Sache 

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Fragen der Erkenntnis beziehungsweise des moralischen Urteils: Woran erkennt man einen (guten oder schlechten) Charakter? Wie bildet man sich ein – angemessenes, gerechtes – Urteil über den Charakter eines Menschen? Und vor allem: Wie gelingt es, den eigenen Charakter öffentlich und doch möglichst unverfälscht unter Beweis zu stellen? Während Rousseau das Interesse an den ersten beiden Fragen mit etlichen seiner Zeitgenossen (unter anderen mit dem ehemaligen Freund und späteren Erzfeind Diderot7) teilt, ist ihm die Beschäftigung mit der letzten ganz und gar eigentümlich. Denn Rousseau hat, wie wir wissen, seinen eigenen Charakter direkt oder indirekt zum Prüfstein seiner politischen Schriften gemacht. In allen seinen Werken steht, zusammen mit dem jeweiligen Inhalt, stets auch seine eigene Person mit auf dem Spiel. Oder anders ausgedrückt: Die Glaubwürdigkeit der Werke steht und fällt mit der Integrität seines Charakters.8 Die Frage nach dem (eigenen) Charakter und dessen öffentlicher Wirksamkeit ist daher für Rousseau kein Nebenschauplatz, sondern ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt seiner politischen Bemühungen insgesamt. Hinzu kommt bei ihm die – durchaus reale – Erfahrung von Anfeindung und Verfolgung im Zuge der Veröffentlichung des Contrat social und des Émile. Die Rede von einem „Bann“ der Institutionen im Titel dieses Bandes ist daher keineswegs nur metaphorisch zu verstehen; Rousseau beziehungsweise seine Texte wurden verbannt, sie standen öffentlich am Pranger und nicht selten war die Argumentation der Ankläger dabei eine moralische. Die Frage, wer über wen legitimer Weise und in welcher Hinsicht urteilen darf, welche Instanzen in ethischen oder religiösen Dingen die entscheidenden sind, hat, ausgehend von diesen Erfahrungen, auch für seine theoretische Reflexion wichtige Impulse gesetzt. Die Selbst-Rechtfertigung in den autobiographischen Schriften kann daher als Fortsetzung eines Unterfangens gelesen werden, das mit den Lettres écrites de la montagne begonnen hat und dessen Tragweite mit dem Verweis auf eine bloß persönliche Apologetik nicht angemessen erfasst ist. Die folgenden Ausführungen widmen sich vor diesem Hintergrund Rousseaus Umgang mit der Problematik der charakterlichen Selbst- und Fremdbeurteilung. Mit Blick auf das Thema dieses Bandes gilt das Interesse dabei insbesondere jenem Teil seiner Argumentation, den man vielleicht am besten ‚prozeduralistisch‘ nennen könnte. So scheint Rousseau davon auszugehen, dass der (wahre) Charakter eines Menschen am ehesten im Rahmen eines Prozesses zutage tritt, der durch das Widerspiel von Anklage und Verteidigung geprägt ist und dem Angeklagten das Recht der

7 Zu Diderots Umgang mit dem Charakter-Konzept vgl. Konstanze Baron: Diderots Erzählungen. Die Charaktergeschichte als Medium der Aufklärung, Paderborn 2014. 8 „Es ist Teil von Rousseaus Vorhaben, den Urheber des Œuvre der Nachwelt als Zeugen der Wahrheit zu vergegenwärtigen.“ Heinrich Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus „Rêveries“, München 2011, 37. Zum „Beweis, der in der Lebensführung liegt“ (ebd.), siehe auch die Studie von Christopher Kelly: Rousseau’s Exemplary Life. The „Confessions“ as Political Philo­ sophy, Ithaca/NY 1987.

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freien (Selbst-)Aussage zugesteht. Tatsächlich stellt die Forderung nach einem fairen, öffentlichen Prozess und einer damit verbundenen Anhörung des Angeklagten das mit Abstand wichtigste politische Signal der Dialogues dar. Allerdings geht dem auf Seiten Rousseaus eine Enttäuschung über das Scheitern einer unmittelbaren Transparenz des Charakters voraus. Ein solcher, quasi-‚utopischer‘ Glaube an die Transparenz des Charakters liegt bereits dem (früheren) Projekt der Confessions zugrunde und kommt, wie ich zeigen möchte, am Anfang der Dialogues noch einmal zum Tragen. Ohnehin wird die Forderung nach einem öffentlichen Prozess von Rousseau in dem zuletzt genannten Werk nicht konsequent aufrechterhalten. Sie wird ebenfalls unter Utopie-Vorbehalt gestellt und durch andere Formen der Evidenzerzeugung ersetzt.9 Doch auch wenn Rousseau letztlich davon Abstand nimmt, den Prozess um seine Person auf öffentlicher Bühne auszufechten, so übernimmt er gleichwohl die damit verbundene Rhetorik, um sie in die formale Architektur seines Textes zu integrieren. In den Dialogues stellt insbesondere die Gerichtsszene eine wirkmächtige Topik bereit, die das Spannungsfeld zwischen der Ermittlung des Charakters und seiner öffentlich-wirksamen Vermittlung absteckt. Erst in den Rêveries, und mit diesem perspektivischen Ausblick werde ich schließen, überwindet Rousseau die dem Tribunal inhärente Polemik, um sich ganz auf sich beziehungsweise auf das Projekt einer radikalisierten Selbsterkenntnis zu konzentrieren.

1 Autobiographie als Prozess Auch wenn die Dialogues die Urteilsproblematik erstmals plakativ im Titel (Rousseau juge de Jean-Jacques) tragen, so ist die Beschäftigung mit ihr doch nicht ganz neu. Bereits in den Confessions drängt die Frage nach dem Charakter (Rousseaus) und dessen Beurteilung durch andere mit Macht in den Vordergrund. Man denke etwa an die berühmte Eröffnungspassage des ersten Buches: Die Posaune des Jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will, ich werde vor den höchsten Richter treten, dies Buch in der Hand, und laut werde ich sprechen: „Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse gesagt. Vom Bösen habe ich nichts verschwiegen, dem Guten nichts hinzugefügt, und sollte es mir widerfahren sein, irgendwo im Nebensächlichen ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem anderen Grunde geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die mein Gedächtnis verursacht hat. Ich habe für wahr halten dürfen, was meines Wissens hätte wahr sein können, niemals aber etwas, von dem ich wußte, daß es falsch sei. Ich habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und groß, wo ich es war: ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist. Ver-

9 Die von Derrida aufgezeigte Logik des ‚Supplements‘ erweist sich hier einmal mehr als zutreffend. Vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris 1967, 203–234 (dt.: Grammatologie, übers. v. HansJörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974, 244–282).



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sammle um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen, sie mögen meine Bekenntnisse anhören, mögen ob meiner Schändlichkeiten seufzen und rot werden ob meiner Schwächen. Jeder von ihnen entblöße am Fuß deines Thrones sein Herz mit derselben Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es dann noch wagt, der mag geruhig hervortreten und sprechen: ‚Ich war besser als dieser Mann dort.‘“10 Que la trompette du jugement dernier sonne quand elle voudra; je viendrai ce livre à la main me présenter devant le souverain juge. Je dirai hautement: voila ce que j’ai fait, ce que j’ai pensé, ce que je fus. J’ai dit le bien et le mal avec la même franchise. Je n’ai rien tu de mauvais, rien ajouté de bon, et s’il m’est arrivé d’employer quelque ornement indifférent, ce n’a jamais été que pour remplir un vide occasionné par mon défaut de mémoire; j’ai pu supposer vrai ce que je savois avoir pu l’être, jamais ce que je savois être faux. Je me suis montré tel que je fus, méprisable et vil quand je l’ai été, bon, généreux, sublime, quand je l’ai été: j’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’as vu toi-même. Etre éternel, rassemble autour de moi l’innombrable foule de mes semblables: qu’ils écoutent mes confessions, qu’ils gémissent de mes indignités, qu’ils rougissent de mes miséres. Que chacun d’eux découvre à son tour son cœur aux pieds de ton trône avec la même sincérité; et puis qu’un seul te dise, s’il l’ose: je fus meilleur que cet homme-là (OC I, 5; Hervorh. i. Orig., Konstanze Baron).

Gleich zu Beginn des Textes beschwört Rousseau eine imaginäre Gerichtsszene herauf. Es ist die – für die Bekenntnisliteratur durchaus topische – Szene des Jüngsten Gerichts: Der Mensch tritt am Ende seines Lebens vor seinen Schöpfer, um Rechenschaft über seine Zeit auf Erden abzulegen. Rousseau tut dies mit einem Buch in der Hand, das nichts anderes ist als eben jene Confessions, zu deren Lektüre der Leser gerade ansetzt. Der ganze Gestus ist selbstbewusst, ja geradezu herausfordernd. Den höchsten Richter, der ihn zu sich beruft, glaubt Rousseau offenbar nicht fürchten zu müssen; dessen Urteil werde wohl zu seinen Gunsten ausfallen. Dabei ist der Szene auch ein anderes, agonales Element eingeschrieben, das sein Verhältnis zu den Mitmenschen betrifft. Diese werden hier nicht als Richter adressiert, sie sind eher Mitstreiter oder Rivalen in einem Wettkampf, sollen sie sich doch einer ähnlich eingehenden Prüfung unterziehen und dann ebenfalls Rechenschaft ablegen von dem, was sie als Personen ausmacht. Die anderen (das heißt also auch wir als Leser) sollen sich mit und an Rousseau messen; und auch hier wird klar, dass Rousseau selbstbewusst davon ausgeht, dem Vergleich jederzeit standhalten zu können. Diese zu Recht berühmten Zeilen, die Elemente der traditionellen Bekenntnisliteratur zitieren, nur um sie ihrer Intention nach völlig umzukehren, setzen den Ton für das gesamte Projekt der Confessions. Wichtig ist mir hier vor allem die Tatsache, dass Rousseau seine Autobiographie von Anfang an unter das Vorzeichen der Gerichtssemantik und des Urteils stellt.11 Die Urteilssituation der Confessions ist dabei eine

10 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, m. e. Einf. v. Werner Krauss, übertr. v. Ernst Hardt, 7. Aufl., Leipzig 1971, 37–38. 11 Rousseaus Bezugnahme auf die klassische Justizrhetorik untersucht Béatrice Didier: „Le fantasme du jugement et la rhétorique judiciaire dans les Dialogues“, in Méthode! Revue de littératures française

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offene – eingeschränkt allenfalls in dem Sinne, dass Rousseau mit einem positiven Urteil von Seiten des höchsten Richters fest zu rechnen scheint. Natürlich weiß er, dass er im Laufe seines Lebens nicht unfehlbar war; in der Darstellung der eigenen Persönlichkeit halten sich daher Stärken und Schwächen durchaus die Waage. Und doch ist Rousseau von der natürlichen Güte seines Wesens und, was vielleicht noch wichtiger ist, deren Erkennbarkeit für und durch andere, zutiefst überzeugt. Wie sonst wäre zu erklären, dass Rousseau sich selbst darauf beschränkt, vor dem Leser alles offenzulegen, „was mir widerfahren ist, was ich getan, was ich gedacht, was ich gefühlt“ („tout ce qui m’est arrivé, tout ce que j’ai fait, tout ce que j’ai pensé, tout ce que j’ai senti“),12 diesem aber die Entscheidung über das Gelesene anheimstellt? Ganz explizit sagt Rousseau, dass er dem Leser kein Urteil über seinen Charakter diktieren möchte; stattdessen liefert er ihm, im Rahmen seiner Möglichkeiten, die Fakten, auf deren Grundlage dieser sich ein solches selber bilden möge.13 Nahezu unbemerkt rückt dabei der Leser an die Stelle, die in der eingangs zitierten Stelle noch Gott als oberster Richter eingenommen hatte. Damit findet der Text der Confessions allerdings erst seine wahre Bestimmung: Denn natürlich geht es Rousseau nicht in erster Linie um ein Zwiegespräch mit seinem Schöpfer, sondern um den Dialog mit seinem Leser, mit dem zeitgenössischen Publikum. Das Gericht, an das sich seine Bekenntnisse wenden, ist ein durchaus weltliches – und soll es auch sein. Die rhetorische Situation der Confessions ist also im Grunde eine ganz einfache. Rousseau ist überzeugt von seinem eigenen Gutsein, und auch davon, dass es ihm schon irgendwie gelingen werde, diese Überzeugung zu kommunizieren und mit anderen zu teilen.14 Daher auch die Betonung seiner Ehrlichkeit (franchise, sincérité), denn die viel gerühmte Beispiellosigkeit seines Vorhabens liegt weniger in dem, was er darstellt, als vielmehr in der Art und Weise, wie er das tut, nämlich mit denkbar größter und bislang noch nie erreichter Aufrichtigkeit. Es scheint Rousseaus Prämisse zu sein, dass er, wenn er nur in seiner (Selbst-)Darstellung die größtmögliche Genauigkeit walten lässt, die Leser schon für sich werde gewinnen können. Allerdings schlägt just dieser Teil seines Projektes fehl. Das wissen wir nicht nur aus externen Quellen.15 Die Confessions sind nicht zuletzt deshalb ein so eindrück-

et comparée semestrielle 5 (2003), 133–141. Zum Zusammenhang von autobiographischer Literatur und Gerichtsrhetorik vgl. auch Gisèle Mathieu-Castellani: La scène judiciaire de l’autobiographie, Paris 1996. 12 J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 260 (OC I, 175). 13 Vgl. J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 260–261 (OC I, 175). 14 So heißt es auch an einer zentralen Stelle der Confessions: „Je voudrois pouvoir en quelque façon rendre mon ame transparente aux yeux du lecteur, et pour cela je cherche à la lui montrer sous tous les points de vue, à l’éclairer par tous les jours, à faire en sorte qu’il ne s’y passe pas un mouvement qu’il n’apperçoive, afin qu’il puisse juger par lui-même du principe qui les produit“ (OC I, 175). 15 Vgl. u. a. Bernard Gagnebin: „L’étrange accueil fait aux Confessions de Rousseau au XVIIIe siècle“, in Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 38 (1969–1971), 106–126, sowie Raymond Trousson:



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licher Text, weil sie selber, vor allem im zweiten Teil, ihre eigene schwierige Rezeption reflektieren. Zwar wurden die Confessions zu Lebzeiten ihres Autors gar nicht veröffentlicht;16 aber Rousseau hatte im Dezember 1770 damit begonnen, das Manuskript (vor allem Ausschnitte des ersten, aber auch des zweiten Teils) im kleinen Kreis einer ausgewählten Schar von Zuhörerinnen und Zuhörern vorzutragen, um deren Reaktionen zu testen. Eine dieser denkwürdigen Situationen aus dem Frühjahr 1771 ist im zweiten Teil der Confessions dokumentiert: So schloß ich meine Vorlesung, und jedermann schwieg. Frau von Egmont war die einzige, die mir bewegt schien: sie zitterte sichtlich, faßte sich jedoch bald wieder und schwieg wie alle anderen. Das war die Frucht, die ich aus meiner Vorlesung und aus meiner Erklärung erntete.17 J’achevai ainsi ma lecture et tout le monde se tut. Made d’Egmont fut la seule qui me parut émue; elle tressaillit visiblement; mais elle se remit bien vîte, et garda le silence ainsi que toute la compagnie. Tel fut le fruit que je tirai de cette lecture et de ma déclaration (OC I, 656).

Die Passage belegt Rousseaus wachsende Entfremdung von seinen Zeitgenossen, die ihre Schatten auf das gesamte zweite Buch wirft. Der triumphale Gestus der Eröffnungsszene ist verschwunden; stattdessen offenbart sich das ganze Ausmaß, in dem Rousseaus Erwartungen an die potenziellen Leser enttäuscht wurden. Statt Sympathie und Anerkennung erntet er nur eisernes Schweigen – ein Schweigen, das er zwangsläufig als Missbilligung und Befremden auslegen muss.18 Lediglich eine einzige Zuhörerin zeigt eine winzige Regung der Sympathie, aber auch diese ist (vermutlich wegen des sozialen Drucks) nicht imstande, ihre Anteilnahme öffentlich zu bekunden. Rousseau steht nach seinem Vortrag isoliert, ja geradezu beschämt da. Wie weit sind wir hier vom Optimismus der Eröffnungssequenz entfernt! Betrachtet man die Confessions, wie ich das in diesem Beitrag versuche, nicht allein von der Warte ihrer Konzeption, sondern vom Ergebnis her, dann wird man feststellen müssen, dass das Werk ganz offensichtlich gescheitert ist – gescheitert, wohlgemerkt, nicht in einem ästhetisch-literarischen Sinne (das wird wohl niemand behaupten!), aber doch in seiner Eigenschaft als Sprechakt.19 Rousseau hat seine Intention, durch die Aufrichtigkeit seiner Darstellung das Publikum für sich zu gewin-

Rousseau jugé par ses contemporains. Du „Discours sur les sciences et les arts“ aux „Confessions“, Paris 2000, 471–525. 16 Der erste Teil der Confessions erschien im Mai 1782, der zweite 1789. 17 J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 900. 18 Zum Schweigen als Abwesenheit von Resonanz siehe M. Foucault: „Introduction“, 180–183. 19 Ich verwende hier den Begriff des Sprechaktes im Anschluss an John L. Austin: How to Do Things with Words. The William James Lectures Delivered at Harvard University in 1955, Cambridge/MA 1962 (dt.: Zur Theorie der Sprechakte, dt. Bearb. v. Eike v. Savigny, Stuttgart 1972). Da es sich bei den Werken Rousseaus um eminent rhetorische Texte handelt, halte ich für deren Analyse am Begriff der ‚Inten­ tion‘ fest, auch wenn dieser als Interpretationsgrundlage bekanntlich problematisch ist.

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nen, nicht erreicht. Kaum jemand ist ihm in der Bewertung seiner Person gefolgt – ganz im Gegenteil: Noch während er an den Confessions schreibt, verschlechtert sich sein öffentliches Ansehen, wächst die Zahl seiner Gegner und damit seine soziale und moralische Isolation.20 Dem trägt auch das im Buch inszenierte Verhältnis zum Leser Rechnung. Immer seltener werden die Stellen, an denen Rousseau seine Rezipienten zu einem eigenständigen Urteil herausfordert. Wie bescheiden seine Erwartungen geworden sind, lässt sich schließlich an dem Umstand ablesen, dass Rousseau gegen Ende auf nur noch wenige verständnisvolle Leser zu hoffen wagt: „Ich wünsche sehnlichst, einer meiner Leser möchte, vom Eifer für Wahrheit und Gerechtigkeit beseelt, die Briefe vom Berge noch einmal ganz durchlesen …“.21 Längst spricht der Verfasser nicht mehr zu der Masse der Leser („die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen“), sondern seine Hoffnung ruht nunmehr ganz auf einem (wenn auch unbestimmten) Einzelnen: Von dem grandiosen öffentlichen Auftritt vor Gott und der Welt ist nur noch die Sehnsucht nach einer treuen und verständnisvollen Seele geblieben; von der Erwartung einer großen Gefolgschaft die Vorstellung eines einzigen wahren Freundes, der Rousseau quasi in privatim die Treue hält und ihn somit – den öffentlichen Anfeindungen zum Trotz – in seinem Charakter bestätigt. Dass die Confessions als Mitteilung, als Versuch der Verständigung gescheitert sind, dass auch Rousseau selbst sein Vorhaben als gescheitert betrachtet haben dürfte, zeigt sich unter anderem daran, dass er den ursprünglich geplanten dritten Teil niemals geschrieben hat. Die ihrerseits dreiteiligen Dialogues, an denen Rousseau 1772 zu arbeiten beginnt, stellen insofern keine Neuauflage und erst recht keine Fortsetzung der Confessions dar. Vielmehr handelt es sich bei diesem Werk um ein ganz und gar eigenständiges Projekt, das sich von den Confessions vor allem durch eine grundsätzlich gewandelte Kommunikationssituation unterscheidet. Gingen die Confessions noch davon aus, dass das Urteil des göttlichen beziehungsweise des weltlichen Tribunals ein günstiges, zumindest aber ein strukturell offenes sein würde, so setzen die Dialogues eines als bereits gegeben voraus: die Tatsache nämlich, dass Rousseau auf ebenso umfassende wie für ihn unerklärliche Weise öffentlich in Misskredit geraten ist; dass er, der an seiner natürlichen Güte keinen Moment lang zweifelt, bei seinen Zeitgenossen als „Ungeheuer“ („monstre“) und „Abschaum der Menschheit“ („l’horreur du genre humain“) verschrien ist.22 Neben dem persönlichen Drama, das dies unzweifelhaft für ihn bedeutet, handelt es sich für Rousseau allerdings auch um einen Skandal theoretischer Natur: Wie kann es sein, so fragt er sich, dass ausge-

20 Die Querelle mit dem britischen Philosophen David Hume im Jahr 1766 ist dabei, neben dem Zer­ würfnis mit Diderot und den Enzyklopädisten, ein wichtiger Meilenstein. 21 J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 856. „Je désire ardemment que quelqu’un de mes lecteurs, animé du zèle de la vérité et de l’équité veuille relire en entier les Lettres écrites de la Montagne“ (OC I, 623). 22 Jean-Jacques Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques. Gespräche“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, München, Wien 1978, 253–636, hier 305 (OC I, 705). Ähnliche Stellen finden sich u. a. ebd., 336, 345 (OC I, 732, 740).



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rechnet bei ihm, dem natürlichsten aller Menschen, das wahre Wesen, der persönliche Charakter und dessen öffentliche Interpretation so eklatant auseinanderfallen?23 Was musste geschehen, dass er von seinen Mitmenschen derartig falsch eingeschätzt wurde? Und wie kann er die anderen dazu bringen, seine echte Menschennatur zu erkennen, wo doch überall in der Öffentlichkeit nur Zerrbilder24 von ihm kursieren? Auf alle diese Fragen versuchen die Dialogues eine – auch philosophisch fundierte – Antwort zu geben; sie sind folglich als Rousseaus Beitrag zum Projekt einer aufgeklärten ‚Charakterologie‘ zu begreifen.25 Nicht alle Facetten seiner Analyse können im Rahmen dieser Untersuchung angemessen behandelt werden.26 Ein wesentliches Strukturmerkmal will ich an dieser Stelle jedoch sogleich herausstreichen: Auf das skandalöse Auseinanderfallen seines Charakters (in ein öffentliches Zerrbild und dessen natürliches Original) reagiert Rousseau in den Dialogues auch formal mit der Verdoppelung seiner literarischen Persona. Jean-Jacques Rousseau teilt sich auf in die zwei Figuren „Rousseau“ und „Jean-Jacques“, wobei „Rousseau“ eine der dramatis personae des fiktiven Dialogs ist, die mit einem beträchtlichen Redeanteil versehen ist und in der ersten grammatischen Person spricht, während „JeanJacques“ (als bekannt vorausgesetzte und gleichzeitig ihrem Wesen nach unbekannte

23 Diese Frage beschäftigt nicht nur Rousseau, sondern nahezu die gesamte Literatur des 18. Jahr­ hunderts, sofern sie für anthropologische Bezüge aufgeschlossen ist. Vgl. David Oakleaf: „Marks, Stamps and Representations: Character in Eighteenth-Century Fiction”, in Studies in the Novel 23/3 (1991), 295–311. Oakleaf zeigt, dass die Kluft zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘, innerem Wesen und äußerlicher Darstellung die Auseinandersetzung mit dem Charakter in der englischsprachigen Litera­ tur dominiert. Dabei wird eine Spannung offenbar, die auch für Rousseau einschlägig ist, sofern sie im Begriff des Charakters (als Zeichen, Spur, Mal) selbst angelegt ist: Charakter bedeutet demnach sowohl „an autonomous authority inscribing identity from within“ (ebd., 297) als auch „a publicly cir­ culated sign“ (ebd., 299). Für den französischen Kontext siehe auch die Arbeiten von Patrick Coleman: „Character in an Eighteenth-Century Context“, in The Eighteenth Century 24/1 (1983), 51–63, sowie ders.: „The Idea of Character in the Encyclopédie”, in Eighteenth-Century Studies 13/1 (1979), 21–47. 24 Eine medientheoretische Lesart der erwähnten ‚Bilder‘ wäre nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert, kann aber in diesem Kontext nicht geleistet werden. Festzuhalten ist, dass die Rede von ‚(Zerr-)Bild‘ und ‚Portrait‘ in Rousseaus Text mehr als nur eine metaphorische Bedeutung hat. Im konkreten Fall nimmt Rousseau Anstoß an Porträts des Kupferstechers Fiquet und des Malers Allan Ramsay, der ihn während seines England-Aufenthaltes im Jahr 1766 gemalt hatte. Vgl. OC I, 777–778. 25 Vgl. diesbezüglich u. a. Monika Sproll: „,Charakter‘ – Die Konkurrenz einer metaphorischen und einer begrifflichen Erkenntnisform des Nicht-/Wissens vom Menschen“, in Hans Adler/Rainer Godel (Hgg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München 2010, 325–343. 26 So werde ich u. a. die Tatsache, dass Rousseau die Existenz einer geheimen, aber nahezu allum­ fassenden Verschwörung (ligue) gegen seine Person unterstellt, in der Betrachtung außen vor lassen. Einen guten Überblick zu den bisherigen Schwerpunkten der Forschung liefern die Beiträge des Ta­ gungsbandes Rousseau juge de Jean-Jacques. Etudes sur les „Dialogues“, sous la dir. de Philip Knee et Gérald Allard, Paris 2003.

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öffentliche Figur) in der Regel derjenige ist, über den gesprochen wird.27 Die Figur „Rousseau“ ist dabei nicht mit dem Autor zu verwechseln; aus den Andeutungen des Textes geht hervor, dass er mit den Schriften von „Jean-Jacques“ bestens vertraut ist, diesen aber nicht persönlich kennt. Grundsätzlich ist „Rousseau“ voller Wohlwollen gegenüber „Jean-Jacques“ und hofft sogar darauf, sich diesen eines Tages zum Freund zu machen. Bei seinem Gesprächspartner hingegen handelt es sich um einen gleichfalls fiktiven „Franzosen“, der die Meinung der Öffentlichkeit repräsentiert und der weder „Jean-Jacques“ noch dessen Bücher persönlich kennt. Allerdings ist er mit einer gewissen Vernunft begabt und auch zur (selbst-)kritischen Einsicht fähig. Insofern ist der im Text dargestellte „Franzose“ zugleich ein ganz normaler, durchschnittlicher Repräsentant der öffentlichen Meinung und ein idealer Gesprächspartner.28

2 Formen der Beweisführung in den Dialogues Das formale Setting der drei Dialogues trägt der veränderten Kommunikationssituation Rechnung. Statt mit einer einfachen, linearen Konstruktion wie in den Confessions (Autor/Rousseau öffnet, in der ersten Person sprechend, sein Herz gegenüber Gott/Leser/Richter) haben wir es nun mit einer komplexen Dreiecksstruktur (Rousseau und der Franzose verhandeln über Werk und Charakter eines Dritten namens Jean-Jacques) zu tun; zu einer direkten Adressierung des Lesers durch den Autor kommt es nur noch in den – gleichwohl bedeutsamen – Paratexten, das heißt neben den Anmerkungen auch im Vor- und im Nachwort. In dem Vorwort mit dem Titel Du sujet et de la forme de cet écrit erläutert Rousseau den Grund seines Vorgehens: „Ich habe es oft gesagt, daß, wenn man mir von einem anderen Menschen dieselbe Meinung beigebracht hätte, die man meinen Zeitgenossen von mir beigebracht hat, ich mich gegen ihn nicht so betragen hätte, wie sie gegen mich tun.“29 Es ist dies ein Satz, den man schnell überliest, auch wenn – oder vielleicht gerade weil – er der erste des gesamten Textes ist. Doch er trägt ein ganz entscheidendes methodisches

27 Einige Passagen wiedergegebener direkter Rede vor allem im zweiten Gespräch stellen die Aus­ nahme dar. 28 Der „Franzose“ verkörpert demnach das Ideal des honnête homme im Sinne Rousseaus. Dieser schreibt dazu in seinem Vorwort: „En prenant un François pour mon autre interlocuteur, je n’ai rien fait que d’obligeant et d’honnête pour le nom qu’il porte, puisque je me suis abstenu de le rendre complice d’une conduite que je désaprouve […]. J’ai même eu l’attention de le ramener à des sentimens plus raisonnables que je n’en ai trouvé dans aucun de ses compatriotes, et celui que j’ai mis en scene est tel qu’il seroit aussi heureux pour moi qu’honorable à son pays qu’il s’y en trouvât beaucoup qui l’imitassent“ (OC I, 663). 29 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 255. „J’ai souvent dit que si l’on m’eut donné d’un autre homme les idées qu’on a données de moi à mes contemporains, je ne me serois pas conduit avec lui comme ils font avec moi“ (OC I, 661).



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Gewicht. Rousseau klagt darin das Verhalten seiner Zeitgenossen an – ein Verhalten, das er als dezidiert ungerecht empfindet, das aber, und darin liegt der eigentliche Stein des Anstoßes, auf Seiten der Betroffenen mit keinerlei Unrechtsempfinden verbunden ist: Ich schloß also daraus, daß das Publikum in der vollkommenen Überzeugung, daß man nicht gerechter noch anständiger gegen mich handeln könne, als man wirklich tat, auch überzeugt war, daß ich unrecht gehabt hätte, es nicht nachzuahmen. Ich glaubte sogar, in seinem Selbstvertrauen hierin einen gewissen geringschätzigen Hochmut zu bemerken, der nur aus der großen Meinung entstehen kann, die es von der Tugend seiner Führer und von seiner eigenen in dieser Sache hegt.30 J’ai conclu de là que le public, parfaitement sûr de l’impossibilité d’en user plus justement ni plus honnêtement qu’il ne fait à mon égard, l’étoit par consequent que dans ma supposition j’aurois eu tort de ne pas l’imiter. J’ai cru même appercevoir dans sa confiance une hauteur dédaigneuse qui ne pouvoit venir que d’une grande opinion de la vertu de ses guides et de la sienne dans cette affaire (OC I, 661).

Es handelt sich also um das, was man mit Lyotard als einen Widerstreit (différend) in Fragen der Moral und der Gerechtigkeit (das Wort justice wird in diesem Vorwort unzählige Male wiederholt) bezeichnen könnte. Das schreiende Unrecht, das Rousseau – seiner Auffassung nach – von Seiten seiner Zeitgenossen widerfährt, wird von diesen offenbar als rechtmäßig empfunden und sogar mit einer gewissen tugendhaften Genugtuung zur Schau gestellt. Demnach prallen hier zwei kategorial verschiedene, logisch unvereinbare Maßstäbe der Gerechtigkeit aufeinander, zwischen denen kein vermittelnder sensus communis existiert. Das hindert Rousseau aber nicht daran, für eine gerechtere Wahrnehmung seiner Person in der Öffentlichkeit zu streiten – auch wenn er genau das vordergründig in Abrede stellt: „Allein, ich bezeuge hiermit, daß diese Beweggründe jetzt nicht mehr von der Hoffnung, ja beinahe nicht einmal mehr von dem Verlangen begleitet sind, endlich von denen, die mich gerichtet haben, die Gerechtigkeit zu erhalten, die sie mir verweigerten und die sie fest entschlossen sind, mir immer zu verweigern.“31 Er verteidigt sich jedoch nicht, wie er eigens betont, auf dem klassischen Wege der Apologie beziehungsweise der Selbst-Rechtfertigung, sondern indem er sich auf eine quasi-experimentelle Untersuchung einlässt, die in erster Linie der Billigkeit (équité) Genüge tun soll. Um in eigener Sache ein gerechter Richter sein zu können, so Rousseau, „mußte ich notwendigerweise sagen, mit welchen Augen ich, wenn ich ein anderer gewesen wäre, einen solchen Menschen, wie ich bin, betrachtet hätte“ („il

30 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 255. 31 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 255–256. „Mais je proteste qu’il n’entre plus dans ces motifs l’espoir ni presque le desir d’obtenir enfin de ceux qui m’ont jugé la justice qu’ils me refusent et qu’ils sont bien déterminés à me refuser toujours“ (OC I, 661–662).

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falloit necessairement que je disse de quel œil, si j’étois un autre, je verrois un homme tel que je suis“).32 Nicht den eigenen Standpunkt leidenschaftlich zu verteidigen, ist Rousseaus Anliegen in diesem Text, sondern sich an die Stelle eines – beliebigen – anderen zu versetzen und sich mit dessen Augen zu betrachten. Und er fügt dann noch hinzu: „Ich habe mich bemüht, eine so beschwerliche Pflicht mit aller Unparteilichkeit und Billigkeit zu erfüllen.“33 Ich möchte nun meinerseits behaupten, dass sowohl das hier verwendete Vokabular der Gerechtigkeit (im Sinne von équité und impartialité) als auch das von Rousseau beschriebene Verfahren deutliche Parallelen zu Adam Smiths Konzept des unparteiischen Beobachters (impartial spectator) aufweisen. Dieses sieht einen imaginären Rollentausch vor; es gilt, in Fällen eines sozialen Dissenses, sich an die Stelle (s)eines Gegenübers zu versetzen, um von dort aus auf die eigene Person und deren Empfindungen zu reflektieren.34 Genau ein solcher Perspektivenwechsel wird auch in Rousseaus Vorwort beschrieben. Allerdings ist es Rousseau dabei – im Gegensatz zu Smith – nicht so sehr um das Austarieren von Emotionen und die Regulierung der sozialen Affekte zu tun (auch wenn er seine modération und retenue preist und semantisch damit erneut einen Anschluss an Smith herstellt). Es geht ihm vielmehr um die Eröffnung einer doppelten Urteilsperspektive: zum einen die Perspektive auf sich selbst, die durch die Identifikation mit einem fremden Blick gewissermaßen ‚objektiviert‘ wird; zum anderen aber auch die Markierung einer kritischen Distanz gegenüber der öffentlichen Meinung, von der Rousseau gleich im ersten Satz zu verstehen gibt, dass er sich mit ihr nicht vorbehaltlos identifizieren kann. Meine These lautet also, dass Rousseau in den Dialogues nicht als Anwalt in eigener Sache wahrgenommen werden will, sondern als fairer und möglichst unparteiischer Richter, der sowohl die eigene Sache als auch die Belange der öffentlichen Meinung in den Blick nimmt und beide miteinander verhandelt. Nun hat gerade dieser Anspruch Rousseaus, als sein eigener Richter35 (und nicht etwa als Apologet) aufzu-

32 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 260 (OC I, 665). 33 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 260. „J’ai tâché de m’acquitter équitablement et impartialement d’un si difficile devoir“ (OC I, 665). 34 Smith verhandelt das Konzept des „impartial spectator“ im dritten Teil seiner Theory of Moral Sentiments (1759), der mit den „foundations of our judgments concerning our own sentiments and conduct, and of the sense of duty” befasst ist. Dort spricht er auch von dem „man within” oder dem „judge within” und belegt damit die enge Verbindung zwischen dem „impartial spectator“ und der Instanz des Gewissens. Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments, ed. by Knud Haakonssen, Cam­ bridge 2002, 158 u. 156. 35 Schon am Anfang seines ersten Discours verwendet Rousseau die Formel „juge en sa propre cause“ (OC III, 5). Insofern schließt sich mit den Dialogues auch inhaltlich ein Kreis, hatte doch Rous­ seau bereits im ersten Discours den Verlust charakterlicher Transparenz als eine der wichtigsten Be­ gleiterscheinungen der Zivilisation angeprangert. Das Motiv der Selbstbeurteilung zieht sich dagegen durch sein gesamtes Werk. So sagt etwa der Baron d’Etanges in einem kritischen Moment zu seiner Tochter Julie: „jugez vous vous-même“ (OC II, 349).



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treten, bei den Lesern aller Generationen immer wieder Unverständnis und Unbehagen hervorgerufen. In der Tat mutet das Vorhaben, wie es sich auch im Titel des Buches niederschlägt, einigermaßen merkwürdig an. Gleichwohl macht es meines Erachtens durchaus Sinn, und zwar insbesondere dann, wenn man es mit Smiths Konzept des unparteiischen Beobachters in Verbindung bringt, der ja als reale Person auch nicht existiert, sondern der lediglich eine – imaginäre – Beobachterperspektive markiert, die theoretisch von jedem eingenommen werden kann und sogar werden soll.36 Dieses Konzept dürfte auf Rousseau – just in dem Moment, in dem er meint, der ‚Sympathie‘ des französischen Publikums verlustig gegangen zu sein – einen ganz besonderen Reiz ausgeübt haben. Die pragmatische Intention der Dialogues ist es also, die Differenz Rousseaus mit dem französischen Publikum zu überwinden und wenn schon keine regelrechte Übereinstimmung, so doch zumindest eine gewisse Form der Versöhnung oder Verständigung zu bewirken. Dafür sind zwei Dinge erforderlich, die ihre jeweilige sinnbildliche Entsprechung in der Konzeption der beiden dramatis personae des Textes finden: Zum einen braucht es die möglichst objektive und unvoreingenommene Untersuchung (instruction) des eigenen Charakters. Diese Aufgabe wird im Text der Figur „Rousseau“ zugewiesen, der sich eigens aufmacht, um „Jean-Jacques“ zu besuchen und diesen in seinem Alltag zu ‚studieren‘, wobei, wie ich an geeigneter Stelle ausführen werde, auch Fragen der Methodik nicht zu kurz kommen. Zum anderen bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung oder opinion publique, die im Gespräch zwischen „Rousseau“ und dem „Franzosen“ stattfindet. „Rousseau“ obliegt dabei die Aufgabe, den „Franzosen“, der zunächst als naiver Verfechter der öffentlichen Meinung auftritt, schrittweise zu einer kritischen Hinterfragung derselben zu animieren und ihm schließlich zu einem eigenständigen, von vorgefassten Meinungen befreiten Urteil über „Jean-Jacques“ zu verhelfen. ‚Bewegen‘ müssen sich also in dem Text beide Protagonisten: „Rousseau“, indem er sich auf die Reise macht und „Jean-Jacques“ in seinem gewöhnlichen Lebensumfeld aufsucht (dies erfolgt im fiktiven Zeitraum zwischen dem ersten und dem zweiten Dialog und wird in Form eines Berichtes wiedergegeben); und der „Franzose“, indem er sich Schritt für Schritt von der öffentlichen Meinung emanzipiert. Letzteres geschieht vor allem dadurch, dass er – angeleitet durch „Rousseau“ – lernt, die Motive der Anführer des jugement public zu hinterfragen. Das Kalkül von „Rousseau“ ist dabei offensichtlich: Wenn der „Franzose“ erst einmal einsieht, dass die öffentliche Empörung gegenüber „Jean-Jacques“ nicht, wie er glaubt, aus edelmütigen Motiven resultiert, sondern allein auf dem (gekränkten?) amour-propre einer kleinen

36 Smith selbst lässt keinen Zweifel daran, dass die Perspektive des unparteiischen Beobachters einem auch in normativer Hinsicht herausgehobenen Standpunkt entspricht: „We should view our­ selves, not in the light in which our own selfish passions are apt to place us, but in the light in which any other citizen of the world would view us.“ A. Smith: Theory of Moral Sentiments, 162.

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Gruppe von Meinungsführern beruht, dann ist deren Position sogleich als unmoralisch diskreditiert und die von „Jean-Jacques“ im Umkehrschluss gerechtfertigt.37 Dass diese Strategie im weiteren Verlauf des Dialogs durchaus erfolgreich sein wird, sei hier zumindest kurz angedeutet, auch wenn ich diesen Strang der Argumentation, der der ‚Bekehrung‘ des „Franzosen“ gewidmet ist, zunächst nicht weiter verfolgen kann. Ich möchte stattdessen etwas ausführlicher auf die Problematik des Charakters eingehen, die am Beispiel (am Fall!) von „Jean-Jacques“ verhandelt wird. Dabei soll hier wiederum weniger das ‚Was‘ als vielmehr das ‚Wie‘ dieser Analyse im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Der Rousseau der Dialogues, so möchte ich behaupten, entwickelt eine ausgefeilte Reflexion darüber, wie ein Charakter – und sei es ein so heterodoxer wie der eigene – wahrgenommen und ‚gelesen‘ werden kann. Die wichtigsten Prämissen dieser Reflexion seien im Folgenden kurz geschildert.

2.1 Der monde idéal – Ein Traum von Transparenz Barbarus hic ego sum, quia non intelligor illis lautet das Motto der Dialogues.38 Im Zentrum steht also das Motiv der Fremdheit, der wesenhaften Nicht-Übereinstimmung zwischen Rousseau und seinen Mitmenschen. Doch besagt das Motto auch, dass diese Entfremdung keine unausweichliche Notwendigkeit darstellt, denn Rousseau ist nur „hier“ ein Fremder – was bedeutet, dass er in einer anderen Welt durchaus heimisch sein könnte. Ein ‚Bild‘ dieser anderen Welt wird gleich am Anfang der Dialogues entworfen; es ist, wie so häufig bei Rousseau, deutlich als gedankliches Konstrukt erkennbar, in diesem Fall als hypothetischer Entwurf einer „ideale[n] Welt“ („monde idéal“).39 Die Bewohner dieser idealen Welt befinden sich in einem Zustand, der sich von dem der Natur nicht entfernt hat; sie tragen noch deren „ursprünglichen Charakter“ („caractére originel“).40 Da sie mit keinerlei künstlichen „Hindernisse[n]“ („obstacles“)41 zu kämpfen haben, kann sich ihr natürliches Wesen voll entfalten; sie leben und streben nach Maßgabe des amour de soi, der hier – wie bereits in früheren Schriften Rousseaus – dem amour propre als Inbegriff der „untergeordnete[n]

37 Rousseau argumentiert hier unverhohlen als Moralist. Die entlarvende Rückführung vermeint­ lich moralischer Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Wirkungsmacht des amour-propre ist als Thema schon bei La Rochefoucauld präsent. Vgl. [Franҫois de] La Rochefoucauld: „Reflexionen oder Moralische Sentenzen und Maximen“, in Die französischen Moralisten. La Rochefoucauld – Vau­ venargues – Montesquieu – Chamfort, übers. u. hg. v. Fritz Schalk, 2. Aufl., Bremen 1980, 63–121, hier 63, 67, 73, 99, 101 u.ö. 38 Zu deutsch: „Ich bin hier ein Fremder, denn sie verstehen mich nicht.“ 39 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 263 (OC I, 668). 40 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 264 (OC I, 669). 41 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 264 (OC I, 670).



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und abgelenkte[n] Leidenschaften“ („passions secondaires et défléchies“)42 entgegengestellt wird. Das bedeutet nun nicht zwangsläufig, dass diese Wesen ganz und gar tugendhaft seien, oder dass sie keinerlei Emotionen kennen würden; Rousseau betont jedoch ausdrücklich, dass deren Leidenschaften, sofern sie denn existieren, erstens sanftmütiger und zweitens – in einem positiven Sinne – weitgehend selbstbezogen und daher sozial weniger schädlich seien. Denn wer sich selbst zu lieben wisse, müsse die anderen nicht fürchten (und erst recht nicht hassen). Die Meinung und das Vorurteil gelten in dieser Welt folglich wenig; die Bewohner des monde idéal ziehen ihre Freiheit der Macht und dem Reichtum vor. Statt sich um ihr Ansehen bei den anderen zu kümmern, praktizieren sie lieber die hohe „Kunst des Genusses“ („art de jouir“).43 Dementsprechend greifen sie auch nur höchst selten zur Feder, um ihre Gedanken aufzuschreiben und zu publizieren. Damit es soweit kommt, müssen sie von einer mächtigen und vor allem noblen, das heißt gemeinnützigen Motivation ergriffen werden: „Eine glückliche Entdeckung bekannt zu machen, eine schöne und große Wahrheit auszubreiten, einen allgemeinen und schädlichen Irrtum zu bestreiten, kurz alles, was das allgemeine Wohl befördern kann.“44 Die bloße Geltungssucht jedenfalls veranlasst hier niemanden zum Schreiben, und auch das métier des Schriftstellers ist den Bewohnern der idealen Welt fremd. Kaum verschlüsselt entwirft Rousseau damit gleich zu Beginn seines Textes ein kritisches Spiegelbild des vermeintlich vom amour-propre zerfressenen parti philosophique und der Berufsschriftsteller seiner Zeit, wobei er zugleich auf die zentralen terminologischen Weichenstellungen seines zweiten Discours (wie etwa die Unterscheidung von amour de soi und amour-propre) zurückgreift. Gerade im Verhältnis zu dieser früheren Schrift wird jedoch ein neuer Aspekt eingeführt, der Beachtung verdient. Denn die ideale Welt ist, bei aller Entrücktheit, nicht völlig außer Reichweite; ihre Bewohner leben gewissermaßen unter uns; und sie erkennen sich gegenseitig an einem „charakteristische[n] Zeichen“ („signe caracteristique“), das ihrer Existenz ein besonderes „Gepräge“ („empreinte“) verleiht.45 Schließlich, folgert Rousseau, sei es

42 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 266 (OC I, 670). 43 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 267 (OC I, 671). 44 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 268. „Quelque heureuse découverte à publier, quelque belle et grande vérité à répandre, quelque erreur générale et pernicieuse à combattre, enfin quelque point d’utilité publique à établir“ (OC I, 673). 45 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 268 (OC I, 672). Einen ähnlichen Traum von charakterlicher Transparenz lässt Diderot seine Protagonistin Mirzoza in Les bijoux indiscrets formu­ lieren. Dort ist das „signe caractéristique“ allerdings ein individuelles; es gibt die jeweils dominie­ rende Eigenschaft einer Person äußerlich zu erkennen: „Ah, s’il m’était donné seulement pour vingt-­ quatre heures d’arranger le monde à ma fantaisie, je vous divertirais par un spectacle bien étrange: en un moment j’ôterais à chaque âme les parties de sa demeure qui lui sont superflues, et vous verriez chaque personne caractérisée par celle qui lui resterait. […] il ne resterait à une joueuse que deux bouts de mains qui agiteraient sans cesse des cartes; à un glouton, que deux mâchoires toujours en mouvement; à une coquette, que deux yeux; à un débauché, que le seul instrument de ses passions.“

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unvorstellbar, dass „Wesen von so besonderer Beschaffenheit“ („des êtres si singulierement constitués“)46 sich nicht auch in ihrer persönlichen Ausdrucksweise – sei es nun im Leben oder in ihren Schriften – von den anderen Menschen unterscheiden: Es ist unmöglich, daß bei so verschieden modifizierten Seelen der Ausdruck ihrer Empfindungen und ihrer Gedanken nicht das Gepräge dieser Modifikationen tragen sollte. Obgleich dieses Gepräge denjenigen unsichtbar ist, die keinen Begriff von einer solchen Beschaffenheit haben, so entgeht es doch denjenigen nicht, die es kennen und selbst davon bestimmt werden. Es ist das charakteristische Zeichen, an welchem die Eingeweihten einander erkennen, und was diesem […] Zeichen einen noch größeren Wert gibt, ist, daß es nicht nachgeahmt werden kann, daß es nur an seiner Quelle selbst wirksam ist, und daß, wenn es nicht aus dem Herzen derjenigen kommt, die es nachahmen, es auch die Herzen derjenigen nicht rührt, die es unterscheiden können; sobald es aber dahin gelangt, so kann man es nicht verkennen, denn es ist wahr, sobald man es empfindet.47 Il est impossible qu’avec des ames si differemment modifiées, ils ne portent pas dans l’expression de leurs sentimens et de leurs idées l’empreinte de ces modifications. Si cette empreinte échappe à ceux qui n’ont aucune notion de cette maniére d’être, elle ne peut échapper à ceux qui la connoissent et qui en sont affectés eux-mêmes. C’est un signe caracteristique auquel les initiés se reconnoissent entre eux, et ce qui donne un grand prix à ce signe […] est qu’il ne peut se contrefaire, que jamais il n’agit qu’au niveau de sa source, et que quand il ne part pas du cœur de ceux qui l’imitent il n’arrive pas non plus aux cœurs faits pour le distinguer; mais sitôt qu’il y parvient, on ne sauroit s’y méprendre; il est vrai dès qu’il est senti (OC I, 672).

Die Bewohner der idealen Welt, die Rousseau in dieser Passage beschreibt, nur um sich sogleich als einer von ihnen zu erkennen zu geben, sind also nicht nur der Natur wesenhaft verbunden; sie sind auch durch sie gezeichnet, und zwar in ihrer gesamten Lebens- und Ausdrucksweise. Sie tragen gewissermaßen den Stempel (empreinte) der Natur auf ihrer Stirn, und dieses Merkmal, dieses Erkennungszeichen (denn nichts anderes ist ein signe caractéristique) ist auch für andere lesbar. Vielleicht nicht für alle anderen, wohl aber für diejenigen, auf die es ankommt und die ähnlich verfasst sind. Das ist der Hintergrund des von „Rousseau“ gleich zu Beginn der Dialogues gegenüber dem „Franzosen“ geäußerten Vorbehalts: „Ich will mich erklären, obgleich ich einsehe, daß diese Mühe ganz vergeblich und überflüssig sein wird, denn alles, was ich Ihnen sagen werde, kann nur von denjenigen verstanden werden, denen man es zu erklären nicht nötig hat.“48

Denis Diderot: „Les bijoux indiscrets“, in ders.: Œuvres complètes, éd. critique par Jean Fabre, Herbert Dieckmann, Jacques Proust et Jean Varloot, tome III, Paris 1978, 124–125. 46 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 268 (OC I, 672). 47 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 268 (OC I, 672). 48 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 263. „Je m’expliquerai: mais ce sera prendre le soin le plus inutile ou le plus superflu: car tout ce que je vous dirai ne sauroit être entendu que par ceux à qui l’on n’a pas besoin de le dire“ (OC I, 668).



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Gleich auf den ersten Seiten seines Textes führt Rousseau die Semantik des Charakters ein, um diese sodann kommunikationstheoretisch fruchtbar zu machen. Der Charakter ist ein Zeichen, das entziffert und unter gewissen Umständen auch fehlinterpretiert werden kann. In jedem Fall aber, und darauf kommt es hier an, ist er lesbar. Der caractére originel der Bewohner der idealen Welt muss nicht in ihrem Innersten verborgen bleiben; er kann sich anderen mitteilen, ohne dadurch an Authentizität einzubüßen. Wohl kann (und wird) er von all denen, die mit dieser speziellen Welt und ihren Werten nicht vertraut sind, missverstanden werden; doch andere werden sich in ihm wiedererkennen und sich seinen Trägern folglich verbunden fühlen. Durch den Rekurs auf die Zeichenhaftigkeit des Charakters versucht Rousseau also, die Kluft zwischen dem inneren, dem wahren Wesen einer Person und deren äußerer Darstellung beziehungsweise Wahrnehmung zu überbrücken. Die Lebensführung eines Menschen (la conduite de la vie), aber auch seine Schriften und anderen Erzeugnisse fungieren dabei gleichsam als Medien, in denen sich der Charakter (als Stil?) manifestiert. Gleichwohl weiß Rousseau natürlich um die Fehlbarkeit der genannten Medien; gerade darum setzt er auf eine unmittelbare Art der Kommunikation, die (nur) zwischen Menschen gleichen Charakters stattfinden kann. Die ideale Kommunikation ist daher bei Rousseau, wie das obige Zitat zeigt, immer tautologisch; sie besagt im Grunde nichts Neues, sondern bestätigt nur, was das charakterlich entsprechend disponierte Gegenüber ohnehin schon weiß. Dieser Umstand wirkt sich zwangsläufig auf Rousseaus Konzeption des Charakters aus: Es geht ihm bei diesem Thema weniger um die Originalität beziehungsweise die Individualität der Persönlichkeit (beide werden im 18. Jahrhundert bereits mit dem Begriff des Charakters assoziiert), als um ein Sich-Wiederfinden im Anderen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Rousseaus ‚Charakteristik‘ signifikant von der seiner Zeitgenossen, etwa derjenigen Diderots: Bei Rousseau liegt der Akzent ganz auf dem anerkennungstheoretischen Aspekt; den Charakter eines anderen zu erkennen heißt, ihn als seinesgleichen anzuerkennen und ihn dadurch in seiner Wahrhaftigkeit zu bezeugen („il est vrai dès qu’il est senti“).

2.2 Ein Recht auf Rechtfertigung – Das prozeduralistische Argument Bis hierher sind wir Rousseau in die Gefilde des monde idéal gefolgt. In der Realität allerdings haben dessen Bewohner, die êtres sublunaires, mit Widrigkeiten zu kämpfen, die sie in ihrer idealen Heimat nicht kennen.49 Wir leben, hic et nunc, in einer Welt, in der die Verständigung über den Charakter nicht selbstverständlich ist. Rousseaus Schicksal ist das beste Beispiel für die Vielzahl an Schwierigkeiten, die

49 Zum wechselseitig konstitutiven Verhältnis von Transparenz(-ideal) und Widerstand siehe die maß­gebliche Studie von Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle, Paris 1971, 240–282.

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aus dem ‚weltlichen‘ Missverstehen eines eigentlich unverdorbenen Charakters hervorgehen können. Das Schlimmste daran aber ist, wie Rousseau nicht müde wird zu betonen, weniger die Gewalt der Anfeindungen, denen er sich ausgesetzt sieht, als vielmehr das allgemeine Schwiegen, das Geheimins (secret), das diese umgibt. Die Machenschaften der Komplotteure sind seiner Einsicht entzogen. So weiß er weder, welche Beschwerde gegen ihn geführt wird, noch von wem.50 In dieser Situation kann er sich nicht gegen seine Feinde zur Wehr setzen und die Vorwürfe, welcher Art auch immer, entkräften. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Rousseau sich in den Dialogues nicht nur mit den kommunikationstheoretischen Aspekten der charakterlichen (Selbst-)Rechtfertigung auseinandersetzt, sondern verstärkt auch auf deren politische und rechtliche Implikationen eingeht. Dabei räumt er insbesondere der Forderung nach einem fairen und öffentlichen Prozess breiten Raum in seinen Ausführungen ein. So nennt er zum Beispiel die Anhörung des Angeklagten ein „geheiligtes Recht“ („droit sacré“) und sieht in der Einhaltung fairer Verfahrensregeln „das erste und heiligste aller gesellschaftlichen Gesetze“ („la prémiére et la plus sainte des loix sociales“).51 „Rousseau“ hat also gar keine Einwände dagegen, dass die Öffentlichkeit über „Jean-Jacques“ zu Gericht sitzt; ganz im Gegenteil: Er bedauert vielmehr, dass ein solcher Prozess niemals en bonne et due forme stattgefunden habe. Denn nur so gebe es eine echte Chance, die Wahrheit über dessen Charakter zu ermitteln: Der Grund dafür ist, daß, um vor den Augen der Menschen die Wahrheit von den Leidenschaften befreit darzustellen, die Leidenschaften sich kreuzen und widerstreiten müssen und daß die Leidenschaft, die anklagt, ein Gegengewicht an der findet, die verteidigt, damit die Vernunft und die Gerechtigkeit allein das Gleichgewicht aufheben und die Waage zur Neigung bringen können.52 La raison en est que pour faire sortir aux yeux des hommes la vérité du sein des passions il faut que ces passions s’entrechoquent, se combattent et que celle qui accuse trouve un contrepoids égal dans celle qui défend, afin que la raison seule et la justice rompe l’équilibre et fasse pancher la balance (OC I, 732).

Im Fall eines Konfliktes, so lautet das Argument dieser Passage, stehen sich unterschiedliche Interessen (Leidenschaften) gegenüber; ein Prozess, in dem nur die eine

50 Vgl. J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 584 (OC I, 947). Dies ist auch der Tenor des Briefes an Saint-Germain vom 26. Februar 1770. Darin diskutiert Rousseau die Anschuldigungen gegen ihn und wirft leitmotivisch immer wieder die Frage auf: „De quoi m’accuse-t-on?“ Vgl. „Rous­ seau à Claude Aglancier de Saint-Germain“ [n. 6673], in Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, éd. critique, établie et annotée par Ralph Alexander Leigh, tome XXXVII, Genève, Oxford 1980, 248–271. 51 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 342, 339 (OC I, 737, 735). 52 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 336.



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Seite Gehör finde, könne nicht der Wahrheitsfindung dienen, sondern müsse unweigerlich zu einer Verfälschung der Tatsachen führen. Um fair (gerecht) urteilen zu können, brauche der Richter demnach die Darstellungen beider Seiten; da er nicht allwissend sei wie Gott, müsse er, zum Zweck der Unparteilichkeit, einen Ausgleich der Interessen anstreben, da nur so die Vernunft und nicht die Leidenschaften den Ausschlag für das Urteil geben könne. In einer Welt struktureller epistemischer Ungewissheit bedarf es geregelter Verfahren, um die Wahrheit über den Charakter einer Person und die Motive ihres Handelns ans Licht zu bringen. Liegt ein (Meinungs-)Konflikt vor, müssen stets beide Seiten gehört werden – und sei es dass, wie in dem vorliegenden Fall, zwei divergierende Auffassungen über den Charakter eines Menschen zur Debatte stehen. Rousseaus Argumentation bringt insofern ein prozeduralistisches Wahrheitsverständnis zum Ausdruck, als er zu glauben scheint, dass die Wahrheit sich unter den nicht-idealen Bedingungen der wirklichen Welt nur aus der Konfrontation gegenläufiger Positionen (im Sinne von gr. agon) herauskristallisieren könne. Wahrheitsfindung bedeutet hier also Objektivität durch die Herstellung von Unparteilichkeit im Verfahren. Doch auch damit ist die Tragweite seiner Argumentation noch nicht hinreichend erfasst. Denn es gibt für Rousseau darüber hinaus noch eine andere Art von Wahrheit – eine Wahrheit, die nur der Angeklagte selber kennt. Es ist dies seine subjektive Wahrheit oder conviction, ohne deren Einbeziehung „Rousseau“ zufolge kein legitimer Richtspruch, geschweige denn eine Verurteilung erfolgen kann: „Solange man den Beklagten nicht angehört hat, ermangeln die Beweise, die ihn verdammen, so stark und überzeugend sie immer scheinen mögen, des Siegels, wodurch sie bestätigt werden.“53 Erst die Aussage des Angeklagten, die in sein Geständnis mündet, besiegelt mithin die Wahrheitsfindung und verleiht den vorhandenen Indizien (als Zeichen) die nötige Beweiskraft. Hier liegt die theoretische Hauptdifferenz zwischen „Rousseau“ und dem „Franzosen“, der davon ausgeht, dass es so etwas wie eine ‚objektiv zwingende‘ Beweislage gegen den Angeklagten auch ohne dessen Anhörung geben könne. Dagegen wendet „Rousseau“ ein: Ohne die conviction des Angeklagten, das heißt ohne die rechtmäßige Verhandlung seiner Sache im Zuge eines Prozesses, aber auch ohne dessen innere Überzeugung oder Zustimmung seien sämtliche preuves, und seien sie zahlenmäßig noch so erdrückend, wertlos. Nur die rechtmäßige Verurteilung des Angeklagten nach dessen Anhörung könne für sich in Anspruch nehmen, die Wahrheit über den Betroffenen zu sagen, „weil die Evidenz des Verbrechens wesentlich auf der Überführung des Beklagten beruht, und jede andere Evidenz oder Nachricht falsch und irrig sein und die Bestrafung eines Unschuldigen zuwege bringen kann“ („parce que l’évidence du crime consiste essenciellement dans la conviction de l’accusé, et

53 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 334. „Tant qu’on n’a pas entendu l’accusé, les preuves qui le condannent, quelque fortes qu’elles soient, quelque convainquantes qu’elles pa­ roissent, manquent du sceau qui peut les montrer telles“ (OC I, 731).

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que toute autre évidence ou notoriété peut être fausse, illusoire et causer le supplice d’un innocent“).54 Das Insistieren auf einem fairen und öffentlichen Gerichtsverfahren ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil es die Einforderung eines heiligen und unhintergehbaren (Menschen-)Rechts55 unmittelbar mit einem konkreten institutionellen Arrangement verknüpft. Genauer gesagt: Wenn „Rousseau“ gegenüber dem „Franzosen“, der ein solches Verfahren geringschätzig als „Formalitäten“ („formalités judiciaires“) abtut,56 auf die Einhaltung einer „rechtmäßige[n] Form“ („une forme legale“) pocht,57 dann ist seine Argumentation exakt auf der Schwelle zwischen Natur- und positivem Recht angesiedelt. So kann er zwar einerseits die Einhaltung strikter Verfahrensregeln als „das erste und heiligste aller gesellschaftlichen Gesetze“ („la prémiére et la plus sainte des loix sociales“) beziehungsweise als „die Grundfeste und das Siegel aller Gerechtigkeit“ („base et sceau de toute justice, sans lequel la societé humaine crouleroit par ses fondemens)“ bezeichnen;58 doch gibt er andererseits auch zu verstehen, dass ein solches Verfahren, das dem Angeklagten bestimmte Rechte (allen voran das Recht auf eine öffentliche Anhörung) einräumt, mitnichten den realen Gegebenheiten des französischen Justizwesens entspricht: „Alles bestätigt und bezeugt uns die Unzulänglichkeit der Gesetze und die Gleichgültigkeit der Richter gegenüber dem Schutz der beklagten Unschuldigen.“59 Zum Beleg der Mangelhaftigkeit der zeitgenössischen Institutionen führt er eine Serie von Justizirrtümern an, von denen die Gazetten der Zeit berichten, und in denen sich ein zunächst für schuldig Befundener nachträglich – auf mehr oder weniger tragische Weise – als unschuldig herausstellte.60

54  J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 340 (OC I, 735). 55 Als solches ist es heute u. a. in der Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 verbürgt. 56 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 335 (OC I, 731). 57 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 308 (OC I, 708). 58 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 339, 335 (OC I, 735, 731). 59 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 343. „Tout nous montre ou nous fait sentir l’insuffisance des loix et l’indifférence des juges pour la protection des innocens accusés“ (OC I, 738). Für eine überblicksartige Darstellung des zeitgenössischen Justizwesens und seiner Praktiken siehe den Artikel „Justice criminelle“ in Dictionnaire des institutions de la France aux 17e et 18e siècles [1923], par Marcel Marion, Paris 1993, 316–318. 60 Diese spektakulären Fälle werden von fast allen Aufklärern gerne zitiert und für ihre jeweiligen Polemiken instrumentalisiert. Bei Rousseau dienen sie als Argument dafür, dass der Angeklagte in jedem Fall selbst angehört werden müsse. Und er fügt noch hinzu: „Ces exemples sont plus fréquents en Angleterre où les procédures criminelles se font publiquement, au lieu qu’en France“ (OC I, 736). Die Tatsache, dass in England mehr Justizirrtümer nachgewiesen werden, spricht in seinen Augen also nicht per se gegen das englische System. Vielmehr sei es der Vorteil des dort waltenden Prinzips der Publizität, dass diese Irrtümer aufgedeckt werden, während ähnliche Fälle in Frankreich gar nicht erst zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangten.



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Mit seiner Forderung nach einem fairen Gerichtsverfahren reiht sich Rousseau in einen prominenten Strang der europäischen Aufklärung ein, der sich der Reform des Justizwesens verschrieben hat. Cesare Beccarias einflussreiche Schrift Dei delitti e delle pene von 1764 ist hier ebenso zu nennen wie Voltaires publikumswirksames Engagement in den Fällen Calas und Sirven. Doch das Anliegen Rousseaus unterscheidet sich bei genauerer Betrachtung erheblich von dem Voltaires (zum Zeitpunkt der Dialogues einer seiner Hauptwidersacher): Denn Rousseau streitet – einer scheinbar universalistischen Rhetorik zum Trotz – nicht in erster Linie für andere, sondern vor allem in eigener Sache; auch ist ihm die Idee anwaltlichen Beistands oder überhaupt die Art von Rechtsvertretung, wie Voltaire sie – und sei es postum – für seine Schützlinge übernommen hat, fremd. Was Rousseau in den Dialogues einfordert, ist vielmehr ein Recht auf Rechtfertigung,61 das heißt das Recht des Angeklagten auf eine Darlegung seiner Sicht der Dinge, sowie eine dem entsprechende Pflicht auf Seiten der Ankläger, den Angeklagten mit ihrer Beschwerde sowie den dafür einschlägigen Beweisen zu konfrontieren. Unterbleibe eine solche confusion des Angeklagten durch seine Verfolger, dann sei deren Urteil nicht nur schändlich, sondern auch unwirksam. Bedeutet das nun aber für Rousseau in letzter Konsequenz, dass niemand gegen sein Gewissen verurteilt werden darf? Vermutlich schon.62 Sein Begriff der conviction ist jedenfalls ambivalent: Denn damit ist einerseits ein rechtmäßiges Verfahren gemeint, das durch das Für und Wider der Parteien und ihrer entgegengesetzten Interessen (le choc des intérêts opposés) geprägt ist und schließlich in einen fairen, da unparteilichen Schiedsspruch durch einen Richter mündet; andererseits aber auch die subjektive Überzeugung des Angeklagten, die sich in dessen Selbst-Aussage (und nur dort) artikuliert.63 Das Recht auf Rechtfertigung legt also die Latte für eine Ver-

61 Ich verwende hier die prägnante Formulierung von Rainer Forst (Forst 2007) – wohl wissend, dass es einen bedeutenden Unterschied zwischen Forsts Konzeption und derjenigen Rousseaus gibt. Gera­ de diese Differenz kann jedoch die Singularität von Rousseaus Position erhellen: So ist bei Rousseau das Subjekt, anders als bei Forst, nicht der Adressat der Rechtfertigung, sondern deren Quelle; es geht für ihn also in erster Linie darum, die eigene, singuläre Geschichte darlegen zu können und nicht darum, universell akzeptable Normen zu begründen. 62 Die Rolle des Gewissens ist einer der offenen und besonders sensiblen Streitpunkte zwischen Rousseau und Diderot. Während Rousseau sich in seiner Korrespondenz wiederholt auf das eigene Gewissen beruft, relativiert Diderot dessen Bedeutung und zieht, in einem Brief vom Oktober 1757, den Alleinvertretungsanspruch des Gewissens in Fragen der moralischen (Selbst-)Beurteilung in Zweifel: „Je sçais bien que, quoique vous fassiez, vous aurez pour vous le temoignage de votre con­ science; mais ce temoignage suffit-il seul? et est-il permis de negliger jusqu’à certain point celui des autres hommes.“ „Denis Diderot à Rousseau“ [n. 542], in Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, tome IV, Genève 1967, 292–294, hier 292. 63 Der Dictionnaire de Trévoux von 1743 bringt den Begriff conviction einerseits mit dem rhetorischen Projekt der persuasio in Verbindung („Persuasion claire & évidente d’une vérité qu’on avoit niée“), andererseits mit der Beweisaufnahme im Strafverfahren („preuve même pour convaincre le cou­ pable“). Dictionnaire universel françois et latin, vulgairement appelé Dictionnaire de Trévoux, tome II,

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urteilung hoch: So fordert „Rousseau“ nicht nur, dass der Angeklagte die Gelegenheit erhalten muss, sich öffentlich selbst zu verteidigen; der Prozess kann zudem erst dann wirklich als ‚besiegelt‘ gelten, wenn die Einsicht des Angeklagten mit den Punkten der Anklage zur Deckung kommt. Dies ist in der Tat ein hoher Anspruch, der die öffentliche Verurteilung an die subjektive Einsicht koppelt. Die „falsche Überredung“ („fausse persuasion“),64 das heißt die bloße Überzeugung der Ankläger, so viel ist jedenfalls sicher, reicht „Rousseau“ als Beleg für die Schuld eines Angeklagten nicht aus. Damit hat „Rousseau“ nun einen wichtigen Schritt getan, um sich beziehungsweise „Jean-Jacques“ argumentativ vor dem „Franzosen“ ins Recht zu setzen. Doch eine weitere Schwierigkeit in seiner Argumentation ist nicht so leicht auszuräumen. Denn auch das droit d’être entendu dans sa défense, das „Rousseau“ einfordert, ist – trotz seiner scheinbaren Unumstößlichkeit – nicht frei von Ambivalenzen. Das französische Wort entendre ist – ähnlich wie das zuvor genannte conviction – semantisch mehrdeutig: So kann entendre einerseits anhören (im Sinne von écouter – jemandem Gehör schenken) bedeuten; es kann damit aber auch, anspruchsvoller, verstehen (im Sinne von comprendre) gemeint sein. Damit wäre, in einer einzigen Vokabel, das Ausmaß des Dilemmas, vor dem Rousseau steht, benannt: Denn man kann – und tut dies heute ja auch – jemandem vor Gericht durchaus das Recht auf Rechtfertigung im Sinne einer Anhörung zugestehen; doch ein Recht darauf, von den anderen auch in dem gewünschten Sinne verstanden zu werden, gibt es nicht. Wer könnte ein solches Recht schon garantieren? Aber genau darum, um das Recht darauf, von den anderen nicht nur (an-)gehört, sondern auch in seinem Sinne verstanden zu werden, geht es Rousseau.65 Er kann es daher nicht bei der Forderung nach einem fairen Prozess belassen, sondern muss, wie ich im Folgenden darlegen möchte, eine eigene Untersuchung (instruction) anstrengen, die neben der causa „Jean-Jacques“ die Maßstäbe des Verfahrens selbst zum Gegenstand hat.

Paris 1743, 511. Der Dictionnaire de l’Académie Françoise in der 2. Ausgabe von 1696 kennt zudem noch die Formel „atteint & convaincu“, die traditionell von den Strafrichtern im Schuldspruch verwendet wurde. Vgl. Le Dictionnaire de l’Académie Françoise, dédié au Roy, tome II, Paris 1694, 609. 64 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 288 (OC I, 689). Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle etwas vereinseitigend. Rousseau geht es in diesem Zusammenhang vor allem um den Aspekt des Für-wahr-Haltens aufgrund von Behauptungen oder Indizien. 65 Wie Yves Citton in einem sehr lesenswerten Artikel angemerkt hat, belässt es Rousseau also nicht bei der klassisch-aufklärerischen Forderung nach dem Recht auf freie Meinungsäußerung („liberté d’expression“), sondern richtet stattdessen das Augenmerk auf die – ungleich komplexeren – Be­din­ gungen der Rezeption bzw. der Rezipierbarkeit von gesellschaftlich heterodoxen Aussagen: „Ce qu’il décrit […] esquisse en fait une approche radicalement nouvelle du problème, envisagé cette fois non plus du côté de l’émission de la parole potentiellement subversive, mais du côté de sa réception.“ Yves Citton: „Fabrique de l’opinion et folie de la dissidence dans le complot selon Rousseau“, in Rousseau juge de Jean-Jacques. Etudes sur les „Dialogues“, sous la dir. de Philip Knee et Gérald Allard, Paris 2003, 107–121, hier 115.



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2.3 Die Grundlagen des Urteils: Hören, Sehen, Lesen Die Untersuchung, die den Hauptteil der Dialogues ausmacht, besteht also nicht zuletzt in einer (Meta-)Kritik ihrer eigenen Verfahrensgrundlagen. Es geht darin, neben dem Charakter des Betroffenen selbst, stets auch um das „Verfahren […], das man gewählt hat, um J.-J. zu beurteilen“ („la méthode qu’on a prise pour juger J.-J.“), sowie um „die […] Mittel […], mit denen man ein unparteiisches, untrügliches und erleuchtetes Urteil hätte fällen können“ („les vrais moyens de porter sur son compte un jugement impartial, infaillible, éclairé“).66 Dazu erfolgt zunächst eine harsche Kritik des Hören-Sagens als Quelle der Information und des moralischen Urteilens. Der „Franzose“ muss sich vorhalten lassen, dass er sich viel zu sehr auf die Meinung anderer verlassen habe; sein Urteil sei ein bloßes „Echo“ der von den Meinungsführern ausgegebenen Parolen.67 Er möge sich zunächst in den Stand versetzen, „mit Kenntnis der Sache zu urteilen“ („de prononcer […] avec connoissance de cause“),68 lautet daher der Rat „Rousseaus“. Dem blinden Gehorsam gegenüber der öffentlichen Meinung stellt dieser sein eigenes, autonom-kritisches Verhalten als Maßstab gegenüber: „In Dingen, die ich selbst beurteilen kann, werde ich niemals das Urteil des Publikums zur Richtschnur des meinigen nehmen.“69 Nicht die Autorität der anderen, sondern die eigene Beobachtung ist für ihn ausschlaggebend: „Ich für mein Teil habe, um […] mein eigenes Urteil zu bestimmen, Erklärungen und eigene Beobachtungen nötig.“70 Selber-Urteilen lautet also die Devise, und sie wird auch sogleich in die Tat umgesetzt; „Rousseau“ und der „Franzose“ schließen einen Vertrag, in dem sie sich gegenseitig dazu verpflichten, sich ein aufgeklärtes Urteil über „Jean-Jacques“ zu bilden, indem sie sich ihm – als dem Gegenstand ihrer Untersuchung – jeder auf seine Weise weiter annähern: „Rousseau“, indem er „Jean-Jacques“ persönlich aufsucht und sich über dessen Charakter anhand direkter Beobachtung ins Bild setzt, und der „Franzose“, indem er endlich dessen Werke liest. Es gilt also, all jene „Mittler“ („intermediaires“), das heißt alle dem eigenen Urteil vorgreifenden vermittelnden Instanzen auszuschalten,71 die das öffentliche Bild von „Jean-Jacques“ verfälscht haben und die einer wahren Kenntnis seiner Person und seines Charakters im Wege stehen. Doch gibt es auch – zumindest auf Seiten der Figur „Rousseau“ – ein Bewusstsein darüber, dass es gar nicht so einfach ist, den Charakter eines anderen unvoreingenommen zu sehen: „Es ist schwerer, als Sie vermutlich

66 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 349 (OC I, 743). 67 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 297 (OC I, 698). 68 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 295 (OC I, 697). 69 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 278. „Dans les choses dont je peux juger par moi-même, je ne prendrai jamais pour régles de mes jugemens ceux du public“ (OC I, 682). 70 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 370–371. „[J]’ai besoin d’éclaircissemens et d’ob­servations faites par moi-même“ (OC I, 761). Vgl. auch ebd., 297 (OC I, 698). 71 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 547 (OC I, 914).

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glauben, einen Menschen, so wie er ist, richtig zu beurteilen, von dem man schon im voraus eine günstige oder ungünstige Meinung hegt.“72 Er betont daher, dass es wichtig sei, sich von den eigenen Vorstellungen zu lösen, um den Dingen, wie sie wirklich sind, auf den Grund gehen zu können: „Denn ich will ihn nicht sehen, wie ich ihn mir vorstelle, sondern so, wie er wirklich ist.“73 Insbesondere der zweite Dialog thematisiert die Schwierigkeiten des Jemanden-so-sehens-wie-er-wirklich-ist. Indem er seine Begegnung mit „Jean-Jacques“ schildert, reflektiert „Rousseau“ gleichzeitig auch die – epistemologischen und moralischen – Bedingungen, die für eine adäquate Wahrnehmung des Charakters erfüllt sein müssen. Dazu zählt zunächst das Kriterium der Unvoreingenommenheit: So misstrauisch „Jean-Jacques“ auch gegenüber Fremden sei, so offenbare er sich doch bereitwillig all denjenigen, die ohne eine andere Absicht als die der reinen Erkenntnis zu ihm kommen.74 Ferner sei es angeraten, den Betroffenen in seinen normalen Lebensumständen zu beobachten, bei seinen ganz alltäglichen Verrichtungen. Dabei, so betont „Rousseau“, dürfe keinesfalls eine einzelne Handlung isoliert betrachtet und aus dem Zusammenhang gerissen werden. Der Charakter sei schließlich die Summe aller Handlungen, Gedanken und Empfindungen, gewissermaßen der Stempel, den diese dem Leben des Betroffenen in seiner Gesamtheit aufdrückten. Der zweite Dialog beinhaltet eine groß angelegte empirische Studie, eine regelrechte Charakterologie, wobei zu bedenken ist, dass es sich bei dem zu Untersuchenden – aus der Sicht der Investigatoren – um einen Fremden (das heißt um einen Barbaren, wie Rousseau sich in dem der Schrift vorangestellten Motto selbst nennt) handelt. Man könnte daher auch von einer Ethnologie avant la lettre sprechen.75 Doch wer glaubt, es ginge in dieser Studie um die reine Empirie, um die bloße Überhöhung des Sehens, der hat sich getäuscht. Denn wie zuvor bereits in seinen anderen Werken arbeitet Rousseau auch hier mit der Methode der logischen Deduktion. Dies wird an einer entscheidenden Stelle des Textes ersichtlich, in der „Rousseau“ sein Gegenüber auffordert, sich gemeinsam mit ihm auf ein Gedankenexperiment einzulassen. Zu diesem Zweck, so „Rousseau“, „wollen wir alle Tatsachen einen Augenblick entfernen, als bekannt nur das Temperament annehmen, das ich Ihnen beschrieben habe, und sehen, was natürlicherweise bei einem Wesen, von dem wir keine anderen Begriffe

72 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 347. „Il est plus difficile que vous ne semblez le croire de voir exactement tel qu’il est un homme dont on a d’avance une opinion décidée, soit en bien, soit en mal“ (OC I, 741). 73 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 373. „Je ne cherche point à le voir tel que je me le figure, je cherche à le voir tel qu’il est“ (OC I, 763). 74 Der Charakter des Beobachtenden und dessen Intentionen beeinflussen also das Ergebnis der Untersuchung. Das ist – wissenschaftshistorisch gesehen – eine durchaus moderne Erkenntnis, die Rousseau hier vertritt. 75 Jean-François Perrin: Politique du renonçant: Le dernier Rousseau, des „Dialogues“ au „Rêveries“, Paris 2011, Kap. 3.



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haben, daraus entstehen würde“ („écartons un moment tous les faits, ne supposons connu que le temperament que je vous ai décrit, et voyons ce qui devroit naturellement en resulter dans un être fictif dont nous n’aurions aucune autre idée“).76 In der fiktiven Konstruktion wird also die Frage verhandelt, wie sich ein Mensch in seinem Alltag verhielte, der genau das gleiche Temperament wie „Jean-Jacques“ besitzt. Das Temperament übernimmt im Rahmen des Gedankenexperiments gewissermaßen die Funktion der Hypothese, von der die weiteren Verhaltensweisen (als dessen notwendige Ausdrucksformen) abgeleitet werden. Führt man dieses Gedankenspiel konsequent durch, so kommt man laut „Rousseau“ zu genau dem Ergebnis, das er bei „Jean-Jacques“ beobachten konnte.77 Mit anderen Worten: „Jean-Jacques“ ist genau der Mann, zu dem ihn sein Temperament gemacht hat, ja machen musste. Seine typischen Verhaltensweisen, die auf andere sonderbar und geradezu anstößig wirken (wie zum Beispiel seine Liebe zum Notenkopieren), sind als direktes Resultat seines Temperaments zu verstehen.78 Daraus folgt für „Rousseau“: „Jean-Jacques“ provoziert nicht etwa aus Absicht, schon gar nicht aus einer bösen Absicht heraus, sondern er tut ganz einfach das, was ihm sein Temperament, seine Vorlieben und Launen diktieren. Dass ihn das nicht sogleich zu einem besseren, tugendhafteren Menschen macht (wie ja auch die Bewohner des monde idéal nicht unbedingt tugendhafter sind als alle anderen), ist klar; aber es ist zumindest ein Beweis seiner Harmlosigkeit und, vielleicht noch wichtiger, seiner grundsätzlichen Unbeeindrucktheit durch die Menschen seiner Umgebung. Dank der strengen methodischen Vorgaben, die „Rousseau“ an die Begegnung mit „Jean-Jacques“ knüpft, ist es nunmehr möglich, zu einer „natürliche[n] und vernünftige[n] Erklärung seiner Aufführung bei allen Gelegenheiten“ („une explication naturelle et raisonnable de sa conduite en toute occasion“) zu gelangen.79 Diese „reichen hin, um das Naturell des Menschen und seinen Charakter gründlich kennenzulernen“ („pour connoitre à fond le naturel de l’homme et son caractére“) und „in das dunkle Geheimnis seines Charakters einzudringen“ („pénétrer plus avant dans le mistére obscur de son caractére“).80 Das Ziel einer wirklich intimen Kenntnis des Charakters von „Jean-Jacques“ (intùs et in cute)81 ist damit erreicht. Alles in allem

76 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 437 (OC I, 820). 77 Vgl. J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 443 (OC I, 825). 78 In diesem Zusammenhang ist auch Rousseaus Projekt einer morale sensitive zu erwähnen, das beabsichtigte, geistig-moralische Phänomene von ihren physiologischen Grundlagen her zu erklären. Das Projekt mit dem Arbeitstitel Le matérialisme du sage stammt schon aus dem Jahr 1756 und ist daher zeitgleich mit dem Vorhaben der Institutions politiques zu datieren; wirklich virulent wird es aber erst in den Altersschriften. Rousseau berichtet über dieses Vorhaben u. a. in den Bekenntnissen, 571–573 (OC I, 408–409). 79 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 501 (OC I, 874). 80 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 500, 301 (OC I, 874, 701). 81 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 537 (OC I, 905; Hervorh. i. Orig., Konstanze

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stellt sich der Betroffene dem aufmerksamen Beobachter als ebenso harmloser wie selbstgenügsamer Zeitgenosse dar: Er findet Erfüllung im privaten Kreis, erfreut sich an den Dingen seiner unmittelbaren Umgebung, vor allem der Natur, und vermag selbst den Anfeindungen seiner Gegner noch durch die Rückbesinnung auf seine inneren Reichtümer (die heißgeliebten chimères) etwas Positives entgegen zu setzen. Weit davon entfernt, böse Absichten gegen andere zu hegen, überlässt er sich lieber seinen eigenen, harmlosen Launen. Diesen ist er bisweilen so hilflos ausgeliefert, dass man ihn eher in einem moralisch-neutralen Sinne als ‚schwach‘ denn in einem anspruchsvollen Sinne als ‚gut‘ bezeichnen müsste. So manche Widersprüchlichkeit in seinem Verhalten ist jedenfalls eine unmittelbare Konsequenz seines „gemischte[n] Temperament[s]“ („temperament mixte“).82 Bei aller Komplexität ist seine Persönlichkeit dabei im Großen und Ganzen relativ schlicht. Jeglicher Anflug von Bosheit ist ihr von Grund auf fremd. Das in der Öffentlichkeit verbreitete Zerrbild des „Ungeheuers“ entpuppt sich damit als Fiktion. Es ist ein (fehlerhaftes) Konstrukt, das mit „Jean-Jacques“, so wie er wirklich ist, rein gar nichts gemein hat. Soviel zum Bericht „Rousseaus“. Und der „Franzose“? Er ist relativ schnell bereit, sich der Diagnose seines Gesprächspartners anzuschließen, auch wenn diese für ihn wiederum nur auf dem Hören-Sagen beruht. Allerdings hat auch er seinen Teil des Vertrags erfüllt und sich aufs Land zurückgezogen, um dort in aller Ruhe die Schriften von „Jean-Jacques“ zu studieren. Sein Bericht dazu fällt jedoch relativ lakonisch aus. Wer nun im dritten Teil der Dialogues eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem politischen Oeuvre des Autors erwartet, der wird durch den Zusammenschnitt einiger weniger Zitate sicherlich enttäuscht. Doch erfüllt dieser äußerst selektive und wohl auch etwas rhapsodische Durchlauf gleichwohl seinen Zweck: So geht es Rousseau an dieser Stelle weniger darum, eine weitreichende Interpretation seines ‚Systems‘ vorzulegen oder die innere Einheit des Werkes zu beweisen (denn das ist bereits im ersten Teil geschehen). Sein Ziel ist es vielmehr zu zeigen, dass die solchermaßen verfassten Schriften, also: Schriften ‚dieses Charakters‘, bei einem Publikum von der Art, wie es das zeitgenössische Publikum unter der Meinungsherrschaft des parti philosophique ist, Anstoß erregen mussten. Es geht ihm also letztlich darum, die seinen – im Kontext der Dialogues freilich „Jean-Jacques’“ – Schriften zuteil gewordene öffentliche Ablehnung als ein unvermeidliches Resultat von geradezu schicksalhafter Notwendigkeit erscheinen zu lassen: So wie „Jean-Jacques“ gar nicht anders könne, als nach einer inneren Notwendigkeit zu handeln, wenn er seinem Temperament folgt, so könne auch das Publikum, dem die Aufrichtigkeit und Lauterkeit des Autors

Baron). Zu deutsch: „Ins Innere und unter die Haut.“ Intùs et in cute lautet auch das Motto des ersten Buches der Confessions. Rousseau übernimmt den Ausdruck aus den Satiren des römischen Dichters Aulus Persius Flaccus. 82 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 419 (OC I, 804).



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(wesens-)fremd sei, gar nicht anders, als sich über dessen rückhaltlos ehrliche und eben deshalb schonungslose Kritik zu empören. Die Dialogues enden demnach mit der Feststellung einer doppelten Notwendigkeit: Der Notwendigkeit des Charakters bei „Jean-Jacques“ einerseits, der Notwendigkeit des Konflikts mit dem (so disponierten) Publikum andererseits. Vermutlich ist dies auch der Grund dafür, warum „Rousseau“ die zwischenzeitlich erhobene Forderung nach einem förmlichen Prozess gegen Ende des Buches fallen lässt: Allzu gering wären, unter den gegebenen Umständen, dessen Aussichten auf Erfolg.83 Doch ist das nicht die einzig mögliche Erklärung. Man könnte das Fallenlassen der Prozess-Forderung auch so verstehen, dass sich die Sache inzwischen, das heißt nach dem dritten Buch der Dialogues, ohnehin erledigt hat. Schließlich wurde die causa „Jean-Jacques“ – im Gespräch zwischen „Rousseau“ und dem „Franzosen“ – erfolgreich abgehandelt. Nach dieser Lesart tritt der Text der Dialogues an die Stelle des juridischen Prozesses; er ersetzt diesen gewissermaßen.84 Der Leser, der das Buch aus den Händen legt, hat dem Prozess nicht nur beigewohnt – er hat ihn regelrecht durchlaufen.85 Das Hauptziel war dabei, wie ich zu zeigen versucht habe, eine instruction im zweifachen Sinne: Neben der Untersuchung des Gegenstandes (der Person „Jean-Jacques“ und ihres Charakters) auch die Unterweisung des Rezipienten hinsichtlich der richtigen Art und Weise einer solchen Untersuchung, das heißt ihrer epistemologischen und moralischen (Vor-)Bedingungen. Der skandalösen Vorverurteilung seiner Person in der Öffentlichkeit entgegnet Rousseau in den Dialogues also mit einer Analyse der Bedingungen eines gerechten Urteils in Fragen des Charakters beziehungsweise der moralischen Persönlichkeit. Die instruction des Lesers in diesem Zusammenhang ist keine bloße Propädeutik, sondern sie ist der Prozess selbst als Form der legitimen Urteils- und Wahrheitsfindung. Als solche steht sie einer anderen Art der instruction gegenüber, jener perfiden Anstiftung nämlich, anhand derer die Initiatoren des Komplotts ihre Anhänger ideologisch auf Linie bringen.

83 Damit schließt sich „Rousseau“ der Sicht des „Franzosen“ an, der die Meinungsführerschaft der Philosophen und damit die Hegemonie des atheistischen Lagers in Frankreich für historisch unaus­ weichlich hält. Letztlich wird anhand dieser Frage, die auch die – grundsätzliche – nach der Verän­ derbarkeit der Gesellschaft umfasst, das geschichtsphilosophische Potenzial des Textes ersichtlich, das diesen mit den anderen Schriften Rousseaus verbindet. Vgl. dazu den Beitrag von Bruno Bernardi in diesem Band. 84 „[L]es Dialogues sont écrits […] au lieu de l’impossible.“ Jean-François Perrin: Le dernier Rousseau, 123. 85 So heißt es auch im dritten Gespräch: „Ainsi l’explication juridique et décisive qu’il n’a pu jamais obtenir et qu’il a cessé de desirer étoit plus pour nous que pour lui“ (OC I, 949).

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3 Neue Wege der Selbsterkenntnis: Jenseits von Gut und Böse Der Text der Dialogues substituiert den juridischen Prozess, indem er eine umfangreiche Beweisaufnahme anstrengt und im Zusammenspiel mit dem „Franzosen“ (als einem fiktiven Rezipienten) versucht, zu einem fairen und ausgewogenen Urteil über „Jean-Jacques“ zu gelangen. Dabei geht es, wie bereits angedeutet, weniger darum, ein möglichst vollständiges und richtiges ‚Bild‘ (Porträt) von „Jean-Jacques“ zu zeichnen, auch wenn das sicher ein zentrales Anliegen vor allem des zweiten Dialogs ist. Noch wichtiger ist es aber, die Art und Weise einer korrekten Form der Beweisaufnahme zu thematisieren. Immer wieder kreist das Gespräch der beiden Diskutanten um die Frage: Was ist ein – zulässiger – Beweis?86 Welche Beweise haben Autorität, sind also für das Urteil von Belang? Welche Indizien führen dagegen in die Irre? Diese und ähnliche Fragen sind alles andere als marginal; schließlich soll ein tragfähiger Zugang zu dem signe caractéristique, das die Person beziehungsweise den Autor „Jean-Jacques“ kennzeichnet, gefunden werden. Im Prozess der Lektüre muss dieses signe caractéristique entschlüsselt werden; dazu muss man wissen, wie die von beiden Seiten vorgebrachten Indizien zu lesen sind. Implizit und nicht ganz überraschend geht es in den Dialogues also auch um eine Theorie des richtigen Lesens.87 Gleich auf den ersten Seiten gibt „Rousseau“ seinem Gegenüber den Schlüssel für ein adäquates Verständnis des Werkes an die Hand: Man lese […] alle diese Stellen in dem Sinn, den sie natürlicherweise dem Geist des Lesers darbieten und den sie bei dem Verfasser hatten, als er sie schrieb, man lese sie an ihrer Stelle mit dem, was vorhergeht, und dem, was nachfolgt, man untersuche die Stimmung des Herzens, und alsdann wird man imstande sein, über ihren wahren Sinn richtig zu urteilen.88 Mais lisez tous ces passages dans le sens qu’ils presentent naturellement à l’esprit du lecteur et qu’ils avoient dans celui de l’auteur en les écrivant, lisez-les à leur place avec ce qui précéde et ce qui suit, consultez la disposition de cœur où ces lectures vous mettent; c’est cette disposition qui vous éclairera sur leur véritable sens (OC I, 695).

Dieser Hinweis richtet sich ganz klar gegen die unrechtmäßige Interpretation des Werkes durch die Feinde, die Textstellen aus dem Zusammenhang reißen und deren Sinn dadurch entstellen. Der „Franzose“ soll dagegen die Schriften „Jean-Jacques’“

86 Zum Begriff der preuve vgl. auch die bereits zitierte Studie von B. Didier: „Le fantasme du juge­ ment“, 135. 87 Als zentrale Problematik schon früh, aber noch relativ unscharf erkannt von Christie McDonald: „The Model of Reading in Rousseau’s Dialogues“, in Modern Language Notes 93/4 (1978), 723–732. Später noch einmal erschienen in dies.: The Dialogue of Writing. Essays in Eighteenth-Century French Literature, Waterloo/Ontario 2012, 33–46. 88 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 294.



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nicht nur in ihrem angemessenen Zusammenhang wahrnehmen; er soll auch deren natürlichen und originären Sinn erhellen. Dies sei jedoch nur möglich, so „Rousseau“, wenn er sich selbst und seine eigenen Reaktionen bei der Lektüre konsultiere. Die eigene disposition du cœur, das heißt die Resonanz seines eigenen Herzens werde ihm Aufschluss über die charakterliche Disposition des Verfassers geben.89 Stellt sich bei der Lektüre ein belebender Effekt der Sympathie ein, sind beide gerechtfertigt: der Autor und sein Leser. So heißt es auch an einer Stelle, an der „Rousseau“ seine eigene Lektüre-Erfahrung mit Bezug auf „Jean-Jacques“ beschreibt: „Ich erkannte in seinen Schriften den Menschen, den ich in mir selbst wiederfand.“90 ‚Richtig lesen‘ heißt für Rousseau somit im Grunde nichts anderes, als den Blick nach innen zu richten, auf die eigene Seele, das eigene Herz, und dort dem Widerhall der gelesenen Schriften nachzuspüren. Die grundlegenden Wahrheiten werden nicht gesehen (voir), sondern empfunden (sentir); das Herz stellt die höchste Autorität der Wahrheitsfindung dar. Solchermaßen lautete bekanntlich schon das Credo des Vicaire Savoyard im Umgang mit dem höchsten Wesen. Die damals im Hinblick auf die Religion begründete Methode kommt nun auch hier zur Anwendung, wenn es darum geht, den Charakter von „Jean-Jacques“ zu eruieren. Beide, die Religion und der Charakter, sind letztlich eine Frage der Gewissheit, der conviction. Diese kann (und soll) zwar intersubjektiv vermittelt werden; doch gründet sie, als subjektive, stets im Herzen des Einzelnen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn trotz aller Bemühungen der beiden Protagonisten um eine wissenschaftlich-fundierte Beweisaufnahme in den Dialogues die Empirie letztlich in den Hintergrund tritt. Das zentrale Element der Wahrheitsfindung – in Sachen des Charakters – ist und bleibt die SelbstPrüfung. Eine (Er-)Kenntnis des Anderen ist nur möglich in der beziehungsweise als Selbst-Erkenntnis; das Ziel des Werkes muss daher nicht (nur) die Selbst-Aussprache seines Verfassers, sondern auch die Selbst-Prüfung des Rezipienten sein. Rousseau bleibt also seiner Einsicht treu: Auf den Einzelnen (Leser) kommt es an, nicht auf die große Masse.91 Die Wahrheit spielt sich im Inneren ab; sie ist, wenn wir sie richtig verstehen, ein Selbst-Verhältnis. In den Rêveries nun lebt diese wichtige Einsicht weiter fort und wird doch auf entscheidende Weise neu interpretiert. Denn so, wie die Dialogues keine einfache Fortsetzung der Confessions darstellen, knüpfen auch die Rêveries ihrerseits nicht einfach an die Dialogues an. Es sieht vielmehr so

89 Der Charakter des Rezipienten befindet also über den Charakter des Verfassers; umgekehrt bringt erst die Wirkung seiner Texte auf den Leser dessen Charakter ans Licht. 90 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 331. „Je reconnoissois dans ses écrits l’homme que je retrouvois en moi“ (OC I, 728). 91 Dies bekräftigt der Sprecher „Rousseau“, wenn er über seine Begegnung mit „Jean-Jacques“ sagt: „Il m’a dit cent fois qu’il se seroit consolé de l’injustice publique, s’il eut trouvé un seul cœur d’homme qui s’ouvrit au sien, qui sentit ses peines et qui les plaignit; l’estime franche et pleine d’un seul l’eut dédomagé du mépris de tous les autres“ (OC I, 950). Vgl. auch J.-J. Rousseau: Bekenntnisse, 856 (OC I, 623).

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aus, als habe Rousseau die Lektüreanweisung der Dialogues für sich selbst in die Tat umgesetzt, wenn er nunmehr zu einer erneuten Selbst-Prüfung anhebt. Fast hat es den Anschein, als könne das Projekt der Selbsterkenntnis erst jetzt, nach zwei vollendeten autobiographischen Schriften, richtig beginnen. Tatsächlich treten uns die Rêveries in einem ganz neuen Gewand entgegen: So verzichtet Rousseau zum ersten Mal auf eine (didaktische, apologetische oder sonstwie geartete) Außenwirkung; er muss nun offenbar niemandem mehr etwas beweisen. Die rhetorische Struktur dieses Textes unterscheidet sich, wie Heinrich Meier und andere Kommentatoren richtig gesehen haben, fundamental von der seiner früheren Schriften. Auch von derjenigen der Confessions: Mit der Ausblendung des Rezipienten, der noch in den Dialogues eine so zentrale Rolle spielte, ist keine Rückkehr zur Unmittelbarkeit der Kommunikationssituation der Confessions impliziert. Das liegt nur zum Teil daran, dass Rousseau zum Zeitpunkt der Rêveries an der Möglichkeit einer unverstellten, harmonischen Verständigung mit anderen Menschen (ver-)zweifelt. Der wirkliche Grund ist wohl ein anderer: Ihm ist das eigene Herz, die eigene charakterliche Verfassung, deren Wahrheit er nach wie vor aussprechen möchte, in gewisser Weise fremd geworden. War Rousseau in den Confessions noch davon ausgegangen, nicht nur anderen, sondern vor allem sich selbst gegenüber vollkommen transparent zu sein, so steht er nun sich selbst als einem Anderen gegenüber. In den Rêveries ist Rousseau dazu bereit, all seine überkommenen Überzeugungen über seine eigene Person noch einmal völlig neu auf den Prüfstand zu stellen. Er nimmt die kleinen Begegnungen und Beobachtungen des Alltags, aber auch die Lektüre anderer Autoren wie Plutarch oder Montaigne zum Anlass, um sich selbst einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. In Frage stehen dabei letztlich so grundlegende Dinge wie sein Verhältnis zur Wahrheit und zur Tugend. Beides ist, wie die genaue Selbstprüfung zeigt, weitaus problematischer, als er bisher gedacht hatte. Zwar hatte Rousseau schon früh sein Leben und sein Werk unter die stolze Devise vitam impedere vero gestellt. Doch hat er tatsächlich, so fragt er sich nun, in seinem Leben immer die Wahrheit gesagt? War er stets so aufrichtig, wie er es vor anderen und vor sich selbst vorgegeben hatte?92 Diese und andere Gewissheiten geraten auf einmal ins Wanken. Ein neues Selbstverständnis kommt zum Vorschein in dem Moment, wo Rousseau die moralischen Normen ‚wahr‘ und ‚gut‘, über die er sich bislang definierte, nicht mehr einfach als gegeben voraussetzt. Stattdessen unterzieht er sich in den Rêveries einem Prozess der Selbsterkundung und -erforschung, der umso radikaler ist, als sein Ergebnis nicht von vornherein feststeht. Rousseaus Selbstbild erfährt in den Rêveries eine deutliche Komplexitätssteigerung. Auch wenn sich in diesem Text etliche Passagen aus den Dialogues nahezu im Wortlaut wiederfinden, und dem aufmerksamen Leser seines Werkes viele Motive

92 Diese Fragen werden in der vierten Promenade der Rêveries verhandelt. Zum Wahrheitsbegriff der Rêveries siehe auch Perrin: Le dernier Rousseau, 203–220.



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bekannt vorkommen werden, so ändert sich doch Entscheidendes. Dies liegt vor allem an der Offenheit, mit der Rousseau sich nunmehr selbst begegnet und mit der er sich darauf einlässt, sich selbst neu und anders zu sehen. Es ist, als hätte der in den Dialogues vorgenommene Durchlauf durch die Stationen des Gerichtsprozesses Rousseau nicht nur dazu befähigt, sich selbst mit anderen Augen beziehungsweise – im Sinne von Adam Smith – mit den Augen eines anderen zu sehen; auch das, was er sieht, ist neu. So ist sich Rousseau auf gewisse Weise wieder selbst zum Rätsel geworden. Der Verlust an Gewissheit eröffnet ihm aber zugleich neue, ungeahnte Möglichkeiten. So gelingt es ihm zum ersten Mal, die lebenslange und zuletzt immer dominantere Obsession mit dem Urteil der Anderen, mit der Wahrnehmung und Beurteilung seiner Person in der Öffentlichkeit abzuschütteln, um sich stattdessen ganz auf sich und die Erforschung seiner eigenen, (a-)moralischen Persönlichkeit zu konzentrieren. Der drängende Wunsch nach Gerechtigkeit für die eigene Person ist dem Bedürfnis gewichen, sich selbst als Person überhaupt erst kennenzulernen. Mit diesem ‚Prozess‘ ist tatsächlich ein Zugewinn an Freiheit verbunden: die Freiheit, neue Wege zu beschreiten – jenseits von Gut und Böse. Überblickt man die Ergebnisse meiner Untersuchung, dann offenbart sich die spezifische Produktivität der Gerichtsszene für Rousseau. Sie steht, so kann man nun mit einiger Fundiertheit sagen, für eine quasi-transzendentale Befragung der Bedingungen der Möglichkeit eines gerechten Urteils über den Charakter – wobei der heterodoxe Charakter Rousseaus, der ‚eigene‘ Charakter, nicht nur als Exempel, sondern auch als Grund und Telos der Untersuchung fungiert. Die Gerichtsszene als solche ist nämlich nicht statisch; dem hier beschriebenen Prozess wohnt vielmehr, wie die – wenn auch kursorische – Gesamtschau der drei autobiographischen Schriften zeigen konnte, eine charakteristische Entwicklungsdynamik inne, mündet er doch in das immer stärkere Bekenntnis zu den eigenen Idiosynkrasien. Die transzendentale Fragestellung führt bei Rousseau also nicht, wie im Kant’schen Modell einer Kritik der Vernunft, zur Aufdeckung menschlicher Universalia; sie mündet im Gegenteil in die Offenbarung der ganz eigenen, unverwechselbaren Singularität. Damit ist zugleich auch die Ambivalenz des institutionellen Paradigmas bei Rousseau benannt: Die Institutionen werden von ihm zwar immer wieder ins Spiel gebracht, doch nur, um sich sogleich von ihrer Wirkungsmacht umso effektiver zu befreien. Der „Bann der Institutionen“ beschreibt daher nicht nur den Ausschluss Rousseaus von den beziehungsweise durch die Institutionen (wie zum Beispiel im vorliegenden Fall die Verweigerung eines öffentlichen Gerichtsverfahrens); er kann auch verstanden werden als Form eines regelrechten Selbst-Ausschlusses: Rousseau belegt die Institutionen mit einem Bann, um sich in seiner Eigenheit zu behaupten. Er ist somit das Subjekt dieses Bannes im doppelten Sinne: derjenige, der den Bann ausübt, und derjenige, der ihm unterliegt. Als Figur der Vermittlung bleiben die Anderen – und mit ihnen die Institutionen – gewiss zentral; doch sein Weg führt ihn unbeirrbar zum eigenen Selbst (zurück).

Bruno Bernardi

Der Begriff der Revolution im Werk Rousseaus1 Will man eine klarere Vorstellung davon gewinnen, wie Rousseau sozialen Wandel denkt, so wird man nicht umhin kommen, sich seinen höchst komplexen Gebrauch des Revolutionsbegriffs einmal genauer anzusehen. Dies hat sich der vorliegende Beitrag zum Ziel gesetzt, um auf diesem Wege zugleich zu klären, was es mit jenem berühmten Satz aus dem Émile auf sich hat: „Wir nähern uns einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen.“2 Für dieses Zitat sind drei verschiedene Interpretationen denkbar. Eine erste Lesart könnte, ausgehend von dem quasi-prophetischen Unterton, in Rousseau nicht nur einen Vorreiter der Französischen Revolution (einen ihrer „ersten Autoren“, wie es bei Louis-Sébastien Mercier heißt3), sondern gar deren Propheten erblicken. Und man ginge fehl, wenn man dieser Deutung nicht mit dem nötigen Ernst begegnete.4 Für Rousseau war klar, dass sich die Zukunft einer Gesellschaft, oder besser gesagt: die Abwesenheit einer solchen, auf der Grundlage ihrer aktuellen Verfassung vorhersehen lässt. Ganz in diesem Sinne sind auch seine Aussagen zu Korsika (im Contrat social) und zu Genf (in den Lettres écrites de la montagne) zu verstehen, die systematisch zwischen Diagnose und Prognose oszillieren.5 Eine zweite Lesart des ÉmileZitats würde nach der politischen Bewertung dieser Prognose durch Rousseau fragen: Ist die Revolution für ihn eine Katastrophe, welche die Zerstörung des politischen Körpers einleitet, oder vielmehr ein heilsamer Umbruch, der zu dessen Wiederherstellung beiträgt? Lange schon, mindestens aber seit 1793, gehen die Meinungen der

1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Version eines Aufsatzes mit dem Titel „‚Nous approchons de l’état de crise et du siècle des révolutions‘: Sur la problématique du changement chez Rousseau“, in Les Cahiers du GERHICO 12 (2008): Crise et conflit dans la pensée de J.-J. Rousseau, sous la dir. de JeanClaude Bourdin, 39–59. 2 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 12. Aufl., Paderborn u. a. 1995, 192. „Nous approchons de l’état de crise et du siècle des révolutions“ (OC IV, 468). Alle Originalzitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus JeanJacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Berdnard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959‒1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 3 Vgl. James Swenson: „De Jean-Jacques Rousseau considéré comme un des premiers auteurs de la révolution“, in Rousseau et la Révolution, sous la dir. de Bruno Bernardi, Paris 2012, 26–44. 4 So wird das fragliche Zitat bei Reinhardt Koselleck als Prophezeiung ausgelegt: „Critères historiques du concept de ,révolution‘ des Temps modernes“, in Le futur passé, Contribution à la sémantique des temps historiques, Jochen Hoock et Marie-Claire Hoock-Demarle trad., Paris 1990, 63–80, hier 69 (dt.: Reinhardt Koselleck: „Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs“, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, 67–86). 5 Für einen ausführlichen Kommentar zu letzterem Werk siehe La religion, la liberté, la justice. Un commentaire des Lettres écrites de la montagne de Jean-Jacques Rousseau, sous la dir. de Bruno Bernardi/Florent Guénard/Gabriella Silvestrini, Paris 2005.

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Rousseau-Interpreten hierzu auseinander. Die einen sehen in ihm – gleich dem Platon der Nomoi – einen Feind aller Veränderung, die immer schon als Entartung ausgelegt würde.6 Sie können sich dabei auf eine Stelle aus den Dialogues (Rousseau richtet über Jean-Jacques) berufen, in der Rousseau seinen „Widerwillen“ gegenüber den Revolutionen bekundet.7 Für andere wiederum zielen seine Principes du droit politique auf die Herausbildung „neuer Assoziationen“, wie es im Manuscrit de Genève lautet, die mithilfe der „vervollkommneten [politischen] Kunst“ („l’art [politique] perfectionné“) die durch die einmal „begonnene Kunst“ („l’art commencé“) verursachten Übel beseitigen würden.8 Nur mithilfe einer Revolution könne es einer korrumpierten Gesellschaft gelingen, sich zu erneuern. Ist Rousseau damit nun ein Konservativer oder ein Revolutionär? Mag sie auch ein wenig holzschnittartig formuliert sein, ist diese Frage doch alles andere als banal. Indes werde ich hier einer dritten Lesart den Vorzug geben: Bevor überhaupt danach gefragt werden kann, ob Rousseau ‚die‘ Revolution vorhersah, beziehungsweise ob er ‚eine‘ Revolution herbeisehnte oder eher fürchtete, muss es für uns zunächst darum gehen zu bestimmen, welches Verständnis er diesem Terminus zugrunde legte, und seine Konturen (wie auch jene des Krisenbegriffs,9 insofern beide, wie etwa im Eingangszitat, zusammen gedacht werden) genau nachzuzeichnen. Verfügt Rousseau über ein eigenes Konzept von Revolution? Variiert dieses, je nach Kontext, innerhalb seines Werks? Um hierauf eine Antwort zu geben, werde ich im Folgenden die Entwicklung des Revolutionsbegriffs im Denken Rousseaus darlegen. Die Frage nach dem Stellenwert, den Rousseau innerhalb der weiter zu fassenden Begriffsgeschichte des modernen Revolutionskonzepts einnimmt, wird dabei nur indirekt und gewissermaßen am Rande zur Sprache kommen.10

6 Vgl. Platon: „Gesetze“, in ders.: Sämtliche Dialoge, in Verb. m. Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter u. Gustav Schneider hg. u. m. Einl., Literaturübersichten, Anm. u. Reg. vers. v. Otto Apelt, Bd. VII, Hamburg 1993, 797e–798b. 7 Jean-Jacques Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, Frankfurt/Main 1988, 253–636, hier 570 (OC I, 935). 8 Jean-Jacques Rousseau: Du contract social ou Essai sur la forme de la République (Ms de Genève), texte établi par Bruno Bernardi, commentaire sous la dir. de Blaise Bachofen/Bruno Bernardi/Gilles Olivo, Paris 2012, I. 2 (dt. von Aleksandra Ambrozy). 9 Zum Krisenkonzept im Allgemeinen siehe Georges Benrekassa: Le langage des Lumières, Paris 1995, 23–46. 10 Die Geschichte des Krisenbegriffs steht im Zentrum des bereits zitierten Aufsatzes von Reinhardt Koselleck (siehe Anm. 4), der in seinem Bemühen, die entscheidende Zäsur in der begriffsgeschicht­ lichen Entwicklung für das Jahr 1789 nachzuweisen, Rousseau nur einige wenige Linien widmet. Die vorliegende Untersuchung könnte den Anstoß geben, einige der von Koselleck vorgebrachten Thesen noch einmal kritisch zu prüfen, darunter jene, wonach die Geschichte des modernen Revolutionskon­ zepts durch einen Übergang gekennzeichnet sei von einem strikt politischen Gebrauch des Begriffs während der Französischen Revolution hin zu einem sozialen, der sich erst später durchgesetzt habe (mit Babeuf als dessen Vorreiter).



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Mein methodisches Vorgehen ist vergleichsweise einfach: Nach einem kurzen Überblick über die zeitgenössischen Semantiken des Revolutionsbegriffs gehe ich über zu einer wenn schon nicht erschöpfenden, so doch zumindest systematischen Analyse seiner Verwendungen im Werk Rousseaus. Chronologische wie konzeptionelle Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichtigend konzentriert sich die Untersuchung zunächst auf den ersten und zweiten Discours, um dann anschließend zum Contrat social und den späteren politischen Texten überzugehen. In diesem Zusammenhang unterscheide – und entfalte – ich einen sozio-historischen und einen politisch-historischen Revolutionsbegriff. Ein weiterer, psychologisch-biographischer Revolutionsbegriff, wie er zum Beispiel in der Nouvelle Héloïse und den autobiographischen Schriften zum Tragen kommt, würde in diesem Zusammenhang ebenfalls eine ausführliche Behandlung verdienen. Diese muss hier aus Platzgründen leider unterbleiben.11

1 Kausalität, Kontingenz, Wandel: Das sozio-historische Konzept der Revolution in den Discours In der ersten Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie Françoise (1694) liest man unter dem Stichwort „Revolution“: Die Rückkehr eines Planeten, eines Sterns an den Anfang seiner Umlaufbahn. Die Revolution der Planeten, die Revolutionen am Himmel, die Revolution der Jahrhunderte, der Zeiten. Mit Revolution der Säfte ist jene außer-ordentliche Regung der Säfte bezeichnet, welche die Gesundheit schwächt. Im übertragenen Sinne auch Wechselfälle, große Veränderung in den Geschicken der Welt. Große, schnelle, plötzliche, unerwartete, verwunderliche, wundersame, erstaunliche Revolution, der Gewinn oder Verlust einer Schlacht verursacht große Revolutionen in einem Staat, die Zeit bringt merkwürdige Revolutionen mit sich, die Dinge dieser Welt sind Revolutionen unterworfen (dt. v. Aleksandra Ambrozy). Le retour d’une Planete, d’un Astre au mesme point d’où ils estoient partis. La revolution des Planetes. les revolutions celestes. la revolution des siecles, des temps. On appelle, Revolution d’humeurs, Un mouvement extraordinaire dans les humeurs qui altere la santé. Il signifie aussi fig. Vicissitude, grand changement dans la fortune, dans les choses du monde. Grande, prompte, subite, soudaine, estrange, merveilleuse, estonnante revolution. le gain

11 Die wichtigsten Texte in dieser Hinsicht sind La Nouvelle Héloïse, Brief XVIII des dritten Teils (OC II, 340–365) und der dritte Spaziergang der Rêveries du promeneur solitaire (OC I, 1011–1023, hier 1015). Es ist durchaus nachweisbar, dass Rousseau auf das Konzept der „große[n] Umwälzung“ („grande révolution“) rekurriert, um den bedeutenden biographischen Veränderungen bei Julie und bei sich selbst Rechnung zu tragen, auch wenn er dieses zunächst im Zusammenhang mit dem sozialen Wan­ del entwickelte, wie wir noch gleich sehen werden.

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ou la perte d’une bataille cause de grandes revolutions dans un Estat. le temps fait d’estranges revolutions dans les affaires. les choses de ce monde sont sujettes aux revolutions.12

Bezogen auf die Welt des Makrokosmos bezeichnet ‚Revolution‘ im wörtlichen Sinne zunächst die in die Zeit eingeschriebene geometrische Figur des Kreises ‒ den Umlauf der Planeten also, der eine Wiederkehr des Immer-Gleichen impliziert. Ganz anders dagegen verhält es sich in der Welt des Mikrokosmos, das heißt in jener des menschlichen Körpers: dort ist Revolution Synonym für Unregelmäßigkeit. Abrupt und unerwartet auftretend, durchweg negativ konnotiert, bedeutet sie nichts anderes als Entartung bzw. Verschlechterung (altération) eines (Ausgangs-)Zustands.13 Von jener zweiten Definition leitet sich auch die übertragene Bedeutung des Revolutionsbegriffs her; dieser bleibt folglich eng mit dem moralischen Topos der vanitas verknüpft. Während die primäre Bedeutung im Laufe des 18. Jahrhunderts weitgehend konstant bleibt, wird der figurative Sinn nunmehr verstärkt in Zusammenhang mit spezifischpolitischen Umwälzungen gebraucht (von Revolutionen im Plural ist dann die Rede). Nicht angeführt wird in dem Wörterbuchartikel allerdings, wie schon Koselleck und Benrekassa angemerkt haben, ein weiteres, drittes Modell von Revolution, das sich zum Teil mit den beiden ersten überschneidet: der Kreislauf der Staatsformen, wir er schon bei Platon zur Theorie erhoben und bei Polybios als anakuklosis begrifflich fixiert wurde. Das Zirkularitätsprinzip entspricht dort einer Logik stetigen Verfalls. Dieses dritte Modell bleibt in den politischen Schriften des klassischen Zeitalters weiterhin präsent. Rousseau nimmt seinen Ausgang, wie wir noch sehen werden, von dieser dreifachen Semantik, um seinen eigenen Revolutionsbegriff zu entwickeln. Im Discours sur les sciences et les arts tritt der Revolutionsterminus – sieht man einmal von den Ausführungen zur Astronomie in den pädagogischen Schriften ab – das erste Mal unter Rousseaus Feder auf. Er verwendet ihn an drei verschiedenen Stellen, jedes Mal mit einer unterschiedlichen Bedeutung. Der „Umlauf der Planeten“ („révolutions des planètes“) zählt zu den „eitlen“ Kenntnissen („vaines“), ohne moralischen oder sozialen Nutzen, nach denen die Wissenschaften streben.14 (Diese Bedeutungsfacette sei hier nur kurz erwähnt, weil sie die erste Nennung des Revolu-

12 Dictionnaire de l’Académie Francoise, dedie au Roy, tome II, Paris 1694, 406. 13 Die „Revolution der Körpersäfte“, die für den medizinischen Krisendiskurs von entscheidender Bedeutung ist, zeigt ihre eigene, wenn auch paradoxe Relevanz in der Nouvelle Héloïse und den Rêve­ ries du promeneur solitaire: So hat Claire Crillon de Oliveira überzeugend dargelegt, dass sich Rous­ seau jeder „Medikalisierung der Existenz“ strikt widersetzt; vgl. dies.: „D’une controverse médicale au refus de la médicalisation des crises: Bordeu et Rousseau“, in Crise et conflit dans la pensée de J.-J. Rousseau, 7–22 (siehe Anm. 1). 14 Jean-Jacques Rousseau: „Von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 preisgekrönte Abhandlung über die von dieser Akademie aufgeworfene Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe. Von einem Bürger Genfs“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, a. d. Franz. übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 49–82, hier 68 (OC III, 18).



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tionsbegriffs im Discours darstellt. Ich übergehe die zahlreichen anderen Verwendungen dieser Art, die über das gesamte Œuvre Rousseaus verstreut sind.) Eine zweite Bedeutungsvariante taucht an der Stelle auf, wo es für Rousseau gilt, einen Zusammenhang zwischen dem Fortschritt der Wissenschaften und Künste einerseits und dem Verfall der Sitten andererseits herzustellen: Nehmt Griechenland, einst von Heroen bevölkert, die Asien zweimal besiegten, das eine Mal vor Troja, das andere Mal auf eigenem Boden. Die junge Gelehrsamkeit hatte noch nicht die Verderbtheit in die Herzen seiner Bewohner gepflanzt; aber der Fortschritt der Künste, der Zerfall der Sitten und das Joch des Makedoniers folgten dicht aufeinander, und Griechenland, das immer gelehrte, immer wollüstige, und immer versklavte Griechenland, erlebte seine Revolutionen nur noch als Wechsel der Herren. Alle Beredsamkeit des Demosthenes konnte einen Körper niemals wieder beleben, den der Luxus und die Künste entkräftet hatten.15 Voyez la Grece, jadis peuplée de Heros qui vainquirent deux fois l’Asie, l’une devant Troye et l’autre dans leurs propres foyers. Les Lettres naissantes n’avaient point porté encore la corruption dans les cœurs de ses Habitans; mais le progrès des Arts, la dissolution des mœurs et le joug du Macedonien se suivirent de près; et la Gréce, toujours savante, toujours voluptueuse, et toujours esclave n’éprouva plus dans ses révolutions que des changemens de maîtres. Toute l’éloquence de Démosthéne ne put jamais ranimer un corps que le luxe et les Arts avoient énervé (OC III, 10).

Die Rede von Revolutionen an dieser Stelle verweist ganz klar auf die politischen Verwerfungen, die im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. infolge von inneren Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen Stadtstaaten das antike Griechenland erschütterten. Das legt unter anderem der Hinweis auf Philipp von Makedonien nahe. Hier erkennen wir das Modell der „Wechselfälle“ („vicissitudes“) aus dem Dictionnaire de l’Académie wieder. Jedoch lässt die einschränkende Formulierung („erlebte nur noch als“/„n’éprouva plus que“) vermuten, dass es früher, in einer glorreicheren Vergangenheit Griechenlands, Revolutionen gegeben haben mag, in denen es ‚ums Ganze‘ ging, das heißt in denen noch die Alternative von Freiheit oder Knechtschaft auf dem Spiel stand. Sollte es für Rousseau am Ende zwei Arten von Revolutionen geben, oberflächliche und andere, wirklich tiefgreifende? Diese Fragestellung wird im Folgenden zu erörtern sein. Die letzte Spielart des Revolutionsbegriffs, die im ersten Discours Verwendung findet (genaugenommen die erste; aus Gründen der Beweisführung kehre ich hier die Reihenfolge um), ist von allen auch die interessanteste. Nachdem Rousseau zunächst eine kurze und ironische Lobeshymne auf das Erwachen des menschlichen Geistes in der Moderne angestimmt hat, geht er auf jene Epoche ein, die man später als ‚Renaissance‘ bezeichnen wird:

15  J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Wissenschaften und Künste“, 59.

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Alle diese Wunder sind seit wenigen Generationen immer wieder geschehen. Europa war in die Barbarei der früheren Zeiten zurückgefallen. Die Völker dieses heute so aufgeklärten Teils der Welt lebten vor einigen Jahrhunderten in einem Zustand schlimmster Unwissenheit. Ich weiß nicht, welcher wissenschaftliche Jargon, verächtlicher noch als Unwissenheit, sich des Namens Wissen bemächtigt hatte und seiner Wiederkehr ein beinahe unüberwindliches Hindernis entgegensetzte. Es bedurfte einer Revolution, um die Menschen zum Gemeinsinn zurückzubringen, und sie kam schließlich von einer Seite, von der man sie am wenigsten erwartet hätte. Der stumpfsinnige Muselman, ewige Geißel der Gelehrsamkeit, ließ sie unter uns wieder erstehen. Durch den Sturz des Konstantinischen Throns kamen die Trümmer des alten Griechenlands nach Italien. Frankreich bereicherte sich seinerseits an dieser kostbaren Beute.16 Toutes ces merveilles se sont renouvellées depuis peu de Générations. L’Europe étoit retombée dans la Barbarie des premiers âges. Les Peuples de cette Partie du Monde aujourd’hui si éclairée vivoient, il y a quelques siècles, dans un état pire que l’ignorance. Je ne sais quel jargon scientifique, encore plus méprisable que l’ignorance, avoit usurpé le nom du savoir, et opposoit à son retour un obstacle presque invincible. Il falloit une révolution pour ramener les hommes au sens commun; elle vint enfin du côté d’où on l’auroit le moins attendue. Ce fut le stupide Musulman, ce fut l’éternel fléau des Lettres qui les fit renaître parmi nous. La chute du Trône de Constantin porta dans l’Italie les débris de l’ancienne Grece. La France s’enrichit à son tour de ces précieuses dépouilles (OC III, 6).

Die translatio studiorum, die Europa aus der mittelalterlichen und scholastischen ‚Finsternis‘ herausführt, kommt einer Revolution gleich. Die Äquivalenz zwischen Revolution und Renaissance ‒ ein Begriff nimmt schlicht und ergreifend den Platz ein, den die Geschichtsschreibung dem anderen zuweisen wird ‒ ruft erneut das Modell der anakuklosis ins Gedächtnis. „Zurückfallen“ („retomber“), „erneuern“ („renouveler“), „zurückbringen“ („ramener“): Ganz klar handelt es sich hier um ein zyklisches Denkmuster. Folglich sind wir noch weit entfernt von der Begrifflich­ keit, mit der Condorcet in der siebten und vor allem achten Epoche seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain einmal denselben historischen Moment charakterisieren wird: als einen (weiteren) Schritt des menschlichen Geistes (auf seinem Weg in eine verheißungsvolle Zukunft). Im Unterschied zu Condorcet denkt Rousseau, zumindest hier, Revolution und Fortschritt zunächst noch getrennt. Doch sollten wir ob dieses negativen Befundes nicht einen anderen, positiven und in diesem Zusammenhang zweifelsohne entscheidenderen übersehen: Das Modell der anakuklosis war ein strikt politisches; es bezog sich ganz konkret auf die Abfolge der Staatsformen (politeiai). In seiner platonischen Version (weniger bei Polybios) ist zwar bereits die Rede von den ‚Sitten‘, aber das hat rein gar nichts mit dem zu tun, was Rousseau hier ‒ in einem ganz und gar modernen Sinne ‒ als ‚Kultur‘ bezeich­ net. Dass Rousseau dieses Denkmuster im Kontext einer Argumentation verwendet, die alles andere als eine Apologie der Wissenschaften, der Künste und der Literatur darstellt, ändert nichts an der grundsätzlichen Tatsache: jener nämlich, dass er dem

16 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Wissenschaften und Künste“, 55.



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Revolutionskonzept hier, mit seiner Übertragung auf das Feld der Kultur, ein ganz neues semantisches Feld eröffnet. Diese Innovation trägt hinterrücks zu einem tief­ greifenden Wandel des Geschichtskonzepts bei, der ‒ wie wir noch sehen werden ‒ nicht folgenlos bleiben sollte. Hatte der erste Discours das Revolutionskonzept gewissermaßen noch auf seine Potentiale hin getestet und ihm dabei allenfalls eine untergeordnete argumentative Funktion zugestanden, kommt ihm im zweiten Discours, dort vor allem im zweiten Teil, nunmehr eine herausgehobene Stellung zu.17 Zunächst aber registriert man drei weniger bedeutsame Verwendungen. In seiner Widmung (Dédicace) erneuert und verallgemeinert Rousseau den bereits gegenüber dem Griechenland des vierten Jahrhunderts vor Christus formulierten Vorbehalt. Einmal an die Knechtschaft gewöhnt, gebe ein Volk wenig Anlass zu der Hoffnung, dass es seinen Zustand der Unfreiheit durch eine Revolution überwinden könnte: „Versuchen sie, ihr Joch abzuschütteln, rücken sie der Freiheit desto ferner. Indem sie diese mit wilder Zügellosigkeit, die gerade ihr Gegenteil ist, verwechseln, liefern ihre Revolutionen sie fast immer Verführern aus, die ihre Ketten nur noch fester schmieden.“18 Im ersten Teil des Discours schließlich wird das astronomische Revolutionsmodell auf die Gesamtheit der natürlichen Kreisläufe ausgeweitet (vier solcher Verwendungen sind für den Essai sur l’origine des langues19 dokumentiert). Schon aufgrund ihrer Regelmäßigkeit erscheinen diese allerdings wenig geeignet, die Neugier des natürlichen Menschen auf sich zu ziehen: „Das Schauspiel der Natur ist ihm derart vertraut geworden, daß es ihn gleichgültig läßt. Immer derselbe Ablauf, immer dieselben Wechsel; ihm fehlt es an Geist, um über die größten Wunder zu staunen, und nicht bei ihm darf man die Philosophie suchen, deren der bedarf, um einmal auf das achten zu können, was er alle Tage sieht.“20 Eine weitere, nicht minder traditionelle Vorstellung von Revolution („die Umwälzungen,

17 Einige Aspekte der folgenden Analyse sind der Einleitung entnommen, die Blaise Bachofen und ich zu der kommentierten Ausgabe des zweiten Discours verfasst haben. Vgl. Blais Bachofen/Bruno Bernardi: „Introduction“, in Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, introd., notes, bibliogr. et chronolog. par Blaise Bachofen et Bruno Bernardi, Paris 2008, 7–32. 18 Jean-Jacques Rousseau: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fon­ tius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 183–315, hier 187. „S’ils tentent de secouer le joug, ils s’éloignent d’autant plus de la liberté que prenant pour elle une licence effrénée qui lui est opposée, leurs révolutions les livrent presque toujours à des séducteurs qui ne font qu’aggraver leurs chaînes“ (OC III, 113). 19 Vgl. J.-J. Rousseau: Essai sur l’origine des langues, Kap. VIII u. IX (OC V, 394, 402 u. 404 mehrf.). 20 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 220. „Le spectacle de la nature lui devient indifférent, à force de lui devenir familier. C’est toujours le même ordre, ce sont toujours les mêmes révolutions; il n’a pas l’esprit de s’étonner des plus grandes merveilles; et ce n’est pas chez lui qu’il faut chercher la philosophie dont l’homme a besoin, pour savoir observer une fois ce qu’il a vu tous les jours“ (OC III, 144).

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die die Zeit notwendigerweise mit sich bringt“/„les révolutions que le temps amène nécessairement“) ruft im gleichen Text die Diskussion über den Ursprung der Sprachen auf.21 Auch hier, also, nichts Neues in Sicht. Ganz anders verhält es sich dagegen im zweiten Teil des zweiten Discours. Bekanntlich läuft die gesamte Argumentation Rousseaus in dieser Schrift auf eine zentrale These hinaus: Der Übergang aus dem Natur- in den Gesellschaftszustand sowie die Gesamtheit all jener Veränderungen, die damit für den Menschen einhergehen ‒ allen voran die Entstehung von Knechtschaft und Unfreiheit ‒ können nicht allein aus dessen natürlichen Anlagen erklärt werden. Dazu muss erst eine Reihe von Zäsuren eintreten, die zwar jede für sich ganz konkrete Ursachen haben mögen, der menschlichen Natur als solcher indes allesamt äußerlich sind. Nachdem diese Beobachtung im ersten Teil des zweiten Discours zunächst anthropologisch begründet wurde, folgen im zweiten Teil Mutmaßungen darüber, worin diese Brüche, sofern sie sich denn aus der Natur der Dinge ableiten lassen, bestanden haben dürften. Es sei hier nur noch einmal daran erinnert: Die ‚grundlegende‘ Zäsur stellt die Einführung des Eigentums (von Grund und Boden) dar. Damit war eine gänzlich neue Ordnung entstanden. Diese auf Dauer einzurichten, zu ‚institutionalisieren‘, bedurfte es einer weiteren Zäsur: der Einsetzung einer – hier noch unspezifisch verstandenen – Regierung beziehungsweise Herrschaftsform. Für die genauere Beschreibung dieser Brüche greift Rousseau nun systematisch auf den Revolutionsbegriff zurück. So legt er dar, wie auf die zunächst langsamen und unmerklichen Fortschritte, die mit dem Sammeln, Jagen und Fischen für die Herausbildung technischer Fertigkeiten und die zwischenmenschlichen Beziehungen einhergehen, plötzlich eine abrupte Beschleunigung folgte: Jene ersten Fortschritte befähigten die Menschen schließlich zu rascheren. Je heller der Verstand, desto größer wurde das Geschick. Bald hörte man auf, sich unter dem erstbesten Baum schlafen zu legen oder sich in Höhlen zurückzuziehen. Man erfand verschiedenartige Äxte aus harten, scharfkantigen Steinen, deren man sich bediente, um Holz zu spalten, die Erde umzugraben und Hütten aus Reisig zu bauen. Bald verfiel man darauf, sie mit Tonerde oder Schlamm zu bestreichen. Das war die Epoche einer ersten Revolution, die zur Niederlassung und Unterscheidung von Familien und zu einer Art Eigentum führte, aus dem vielleicht schon zahlreiche Streitigkeiten und Kämpfe erwuchsen.22 Ces premiers progrès mirent enfin l’homme à portée d’en faire de plus rapides. Plus l’esprit s’éclairoit, et plus l’industrie se perfectionna. Bientôt cessant de s’endormir sous le premier arbre, ou de se retirer dans des Cavernes, on trouva quelques sortes de haches de pierres dures, et tranchantes, qui servirent à couper du bois, creuser la terre, et faire des huttes de branchages, qu’on s’avisa ensuite d’enduire d’argile et de boüe. Ce fut-là l’époque d’une premiére révolution qui forma l’établissement et la distinction des familles, et qui introduisit une sorte de propriété; d’où peut-être naquirent déjà bien des querelles et des Combats (OC III, 167).

21 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 224 (OC III, 148). 22 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 244–245.



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Das hier geltend gemachte Revolutionskonzept unterscheidet sich in drei Aspekten ganz wesentlich von seinen Vorgängern. Der erste Unterschied liegt offensichtlich in dem Wegfall jeder zyklischen Vorstellung. Alles andere als eine Rückkehr, ob im Sinne des Verfalls oder der Erneuerung, bedeutet Revolution nunmehr die Entstehung von etwas radikal Neuem. Was sie hervorruft, und hierin besteht zugleich ihr zweites Unterscheidungsmerkmal, ist keine einzelne Begebenheit, kein isolierter Vorfall, sondern von der Qualität jener allgemeinen Vorgänge, die in der Natur der Dinge selbst verankert sind. Der dritte und wohl entscheidende Unterschied ist aber der, dass eine solche Revolution neue Sozialformen ins Leben ruft: Sie konstituiert die Familie, das heißt eine „kleine Gesellschaft“ („une petite Société“), wenn auch noch nicht die bürgerliche Gesellschaft, und „eine Art Eigentum“ („une sorte de propriété“), womit noch nicht das Grundeigentum gemeint ist.23 Die Einschränkungen erklären, warum der Text an dieser Stelle von „établissement“ und nicht von „institution“ spricht. Rousseau beharrt im Übrigen auf der Stabilität des daraus hervorgehenden „Zustand[s]“ („état“), der für die Menschheit ein dauerhafter hätte bleiben können und sollen – wenn nicht eine neuerliche Zäsur diese Ordnung durchbrochen hätte: „Je mehr man darüber nachdenkt, desto deutlicher wird einem, daß jener Zustand am wenigsten störbar und für den Menschen am besten gewesen ist und daß er ihn nur infolge irgendeines unglückseligen Zufalls, der zum Wohle aller besser niemals eingetreten wäre, hat verlassen können.“24 Es bedurfte des Auftretens neuer, nicht der Immanenz einer Entwicklung entspringender Faktoren: Solange sich die Menschen mit ihren anspruchslosen Hütten zufrieden gaben, solange sie sich damit begnügten, sich mit Hilfe von Dornen oder Fischgräten Kleider aus Tierhaut zu nähen, sich mit Federn und Muscheln zu schmücken, den Körper bunt zu bemalen […] kurz, solange sie sich nur mit Dingen abgaben, die einer allein herstellen konnte, und nur Fertigkeiten pflegten die nicht das Zusammenwirken mehrerer Hände erforderten, lebten sie so frei, gesund, gut und glücklich, wie sie ihrer Natur nach sein konnten […]: Doch von dem Augenblick an, da ein Mensch die Hilfe eines anderen brauchte und man gewahr wurde, daß es einem einzelnen Nutzen brachte, Vorräte für zwei zu besitzen, schwand die Gleichheit dahin, wurde das Eigentum eingeführt und die Arbeit notwendig. Da wandelten sich die weiten Wälder in blühende Felder, die man mit menschlichem Schweiß düngen musste [...]. Die Metallbearbeitung und der Ackerbau waren die beiden Künste, deren Erfindung jene große Umwälzung zustande brachte. Für den Dichter sind es Gold und Silber, für den Denker aber Eisen und Getreide, die den Menschen zivilisiert und die menschliche Gattung verdorben haben.25

23 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 245 (OC III, 168, 167). 24 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 248–249. „Plus on y réfléchit, plus on trouve que cet état était le moins sujet aux révolutions, le meilleur à l’homme, et qu’il n’en a dû sortir que par quelque funeste hasard qui pour l’utilité commune eût dû ne jamais arriver“ (OC III, 171). 25 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 249. Die hier vorgenommenen Auslassungen verdeutlichen die historische Überhitzung, die Rousseau beschreibt.

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Tant que les hommes se contentérent de leurs cabanes rustiques, tant qu’ils se bornérent à coudre leurs habits de peaux avec des épines ou des arrêtes, à se parer de plumes et de coquillages, à se peindre le corps de diverses couleurs […] En un mot tant qu’ils ne s’appliquérent qu’à des ouvrages qu’un seul pouvoit faire, et qu’à des arts qui n’avoient pas besoin du concours de plusieurs mains, ils vécurent libres, sains, bons, et heureux autant qu’ils pouvoient l’être par leur Nature […]: mais dès l’instant qu’un homme eut besoin du secours d’un autre; dès qu’on s’aperçut qu’il étoit utile à un seul d’avoir des provisions pour deux, l’égalité disparut, la propriété s’introduisit, le travail devint nécessaire, et les vastes forêts se changérent en des Campagnes riantes qu’il falut arroser de la sueur des hommes [...]. La Métallurgie et l’agriculture furent les deux arts dont l’invention produisit cette grande révolution. Pour le Poёte, c’est l’or et l’argent, mais pour le Philosophe ce sont le fer et le bled qui ont civilisé les hommes et perdu le Genre-humain (OC III, 171).

Hatte der Bau von Hütten eine „erste Revolution“ („premiére révolution“) in Gang gesetzt, so bewirken Metallverarbeitung und Ackerbau nun eine „große Umwälzung“ („grande révolution“). Die zweite weist alle Merkmale der ersten auf (das heißt Neuheit, Allgemeinheit der Entstehungsbedingungen, Gründungseffekte), verfügt darüber hinaus jedoch noch über einige weitere. Der Unterschied zwischen diesen beiden Revolutionen ist somit nicht in erster Linie ein chronologischer, sondern ein qualitativer: Die zweite Revolution ist „groß“ („grande“), insofern sie, im Vergleich zur ersten, die menschliche Natur viel weitreichender affiziert und Folgen nach sich zieht, die unumkehrbar sind. Zugleich wird das Konzept von Revolution an eben dieser Stelle im Discours in ein neues Verhältnis zur Kausalität gesetzt: Von der bloßen Mutmaßung gelangen wir zu immer größerer Gewissheit, von der zeitlichen Korrelation zur kausalen Folge. Die Metallverarbeitung und der Ackerbau machen Arbeitsteilung notwendig, befördern die Produktion, die wiederum die Anhäufung von Gütern ermöglicht, und so führen beide Faktoren gemeinsam geradewegs in die Einführung und Verstetigung26 des Eigentums und der Ungleichheit. Die (Weiter-) Entwicklung von Anbautechniken setzt eine steigende Nachfrage voraus (und wird durch selbige überhaupt erst notwendig), sowie die Bereitstellung von Werkzeugen, mittels derer sie realisiert werden kann: Die Metallverarbeitung erzeugt diese Nach­ frage und stellt zugleich die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Diese Verkettungen werden im weiteren Verlauf des Textes detailliert ausgeführt. Dies hindert Rousseau im Übrigen nicht daran, so manche Entwicklung auf rein kontingente Umstände zurückzuführen (dies gilt etwa für die geradezu wundersame Erfindung der Schmie­ dekunst sowie jene der Sprache). Kurzum: Unter ‚Revolution‘ wird ein unumkehrba­

26 Wenn hier im französischen Original und in Anlehnung an Rousseau von der „institution de la propriété et de l’inégalité“ die Rede ist, dann zielt dies auf einen Aspekt von „institution“, den das Französische als den performativen und (an)geleiteten Akt der Entstehung einer Institution kennt. Entsprechend unterscheidet der Trésor de la langue française unter dem Stichwort „institution“ zwi­ schen der „action d’instituer“ und dem „résultat de cette action“. Beim deutschen Pendant do­miniert die Ergebnisdimension. Ein aktivischer Gebrauch ist auf lexikalischer Ebene nicht dokumentiert (Anm. d. Übers.).



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rer und zugleich Neues stiftender Bruch verstanden, der selbst ein Resultat verschie­ dener Faktoren ist (ein komplexes Zusammenspiel von Kausalität und Kontingenz), seinerseits aber auch Folgen zeitigt, die von ihrem Wesen und ihrer Reichweite her jene Ausgangsbedingungen bei Weitem übersteigen. Halten wir an dieser Stelle also fest: Die Wirkung einer Revolution geht immer über das, was in ihren Entstehungsbe­ dingungen angelegt war, hinaus. Von der Entfaltung dieser (Aus-)Wirkungen handelt nun im Wesentlichen der Rest des zweiten Discours. Rousseau zeigt zunächst, wie in dem neuen Zustand die natürlichen Unterschiede Ungleichheiten des Vermögens und des Standes nach sich ziehen, nur um dann hinzuzufügen: „Nachdem die Dinge bis zu diesem Punkt gediehen waren, kann man sich das übrige leicht ausmalen.“27 Die Menschen sind dem Naturzustand für immer entrissen: Fortan kann, auf der Ereignis-Ebene, die Kausalität uneingeschränkt walten; auf der Textebene weicht die Mutmaßung der strengen Deduktion. In der Gesamtökonomie des Textes wiederum hat das Konzept der Revolution maßgeblich dazu beigetragen, den fundamentalen Bruch zwischen Natur- und Gesellschaftszustand zu plausibilisieren. Damit ‒ so könnte man meinen ‒ hat es seinen Zweck eigentlich erfüllt und könnte verabschie­ det werden. Doch dem ist nicht so. Im Rückblick auf diejenigen Passagen, in denen er die Gründung28 von politischen Gemeinschaften und die sich stetig verschärfende Ausprägung von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen thematisiert hatte, greift Rousseau das Revolutionskonzept noch einmal auf: Wenn wir verfolgen, wie in diesen verschiedenen Umwälzungen die Ungleichheit voranschritt, werden wir finden, daß die Einführung der Gesetze und des Eigentumsrechtes ihre erste Stufe, die Einsetzung der Obrigkeit die zweite war, die dritte und letzte schließlich die Umwandlung legitimer Macht in Willkürherrschaft. Dabei hat die erste Etappe den Stand von arm und reich besiegelt, die zweite den von Macht und Schwäche, die dritte schließlich den von Herrn und Knecht, der den äußersten Grad an Ungleichheit und das Ende darstellt, zu dem schließlich all ihre Formen führen, bis neue Revolutionen die Regierung vollständig auflösen oder sie einer legitimen Institution wieder annähern.29 Si nous suivons le progrès de l’inégalité dans ces différentes révolutions, nous trouverons que l’établissement de la Loi et du Droit de propriété fut son premier terme; l’institution de la Magistrature le second; que le troisième et dernier fut le changement du pouvoir légitime en pouvoir arbitraire; en sorte que l’état de riche et de pauvre fut autorisé par la premiere Epoque, celui de puissant et de foible par la seconde, et par la troisiéme celui de Maître et d’Esclave, qui est le dernier dégré de l’inégalité, et le terme auquel aboutissent enfin tous les autres, jusqu’à ce que de

27 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 252. „Les choses étant parvenües à ce point, il est facile d’imaginer le reste“ (OC III, 174). 28 Auch an dieser Stelle spricht der Autor, abermals dem Sprachgebrauch Rousseaus folgend, von „institution“. Die in Fußnote 24 gemachten Erläuterungen treffen hier wie auf nahezu alle weiteren Verwendungen der Substantive „Gründung“, „Errichtung“, „Einsetzung“ usw. zu (Anm. d. Übers.). 29 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 267.

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nouvelles révolutions dissolvent tout à fait le Gouvernement, ou le rapprochent de l’institution légitime (OC III, 187).

Um die Tragweite dieses Textes zu erfassen, müsste man sich ansehen, wie jede ein­ zelne dieser Phasen von Rousseau dargestellt wird, und sich insbesondere auf die – viel diskutierte – Frage einlassen, wie es um jenen ersten Scheinvertrag zwischen Armen und Reichen genau bestellt ist. Das würde jedoch den Rahmen dieser Studie übersteigen. Ich will mich vielmehr darauf beschränken zu erklären, warum Rous­ seau diese drei Momente jeweils als ‚Revolutionen‘ bezeichnet und welche Bedeu­ tung er dem so verwendeten Begriff hier zukommen lässt. Ein erster Hinweis findet sich bereits in der Abfolge der Termini établissement, institution und changement: Von einem Übergang in eine andere Ordnung ist hier die Rede – einem Übergang, von dem jeweils Institutionalisierungseffekte ausgehen. Faktizität geht in Recht über; die ungleiche Verteilung von Reichtum, Macht und Ansehen wird nach und nach „besie­ gelt“ („autorisées“). Insofern kann man sagen: Revolutionen institutionalisieren. Jede dieser ‚Institutionen‘ geht aber zugleich auch mit einer ‚Destitution‘ einher, nämlich der einer bestimmten Form von Gleichheit. Indem es den Akt der Inbesitznahme auf Dauer stellt, zerstört das Eigentum das natürliche Gleichheitsprinzip, wonach „die Früchte allen gehören und die Erde keinem“ („que les fruits sont à tous, et que la Terre n’est à personne“).30 Die Obrigkeit wiederum, welche die einen zu Sachwaltern des Rechts der anderen erhebt, zerstört die Gleichheit vor dem Gesetz, das „keinen bevor­ zugen“ („ne fassent acception de personne“) sollte.31 Das Erbrecht schließlich, das die einen zum Besitz der anderen macht, tilgt die Gleichheit der Menschen als Rechts­ personen. Wir können also weiterhin formulieren: Revolutionen zeugen, indem sie zerstören. Nicht weniger entscheidend ist aber auch diese Bestimmung: Eine Revolu­ tion ist nur deshalb Beginn, weil sie zugleich etwas beendet, sie ist nur deshalb eine Ursache, weil sie selbst aus etwas folgt. Das legt der gleich an drei Stellen erwähnte Begriff „terme“32 nahe: Das Eigentum ist eine Folge der großen Revolution der Metall­ verarbeitung und des Ackerbaus, die Einsetzung der Obrigkeit resultiert aus dem Krieg, den das Eigentum entfacht, und das Erbrecht wiederum ist eine unvermeidbare Konsequenz der Standesunterschiede. Der erstaunliche konzeptionelle Einfallsreichtum, der die Verwendungsweisen der Revolutionsvokabel bei Rousseau ausmacht, ist damit aber noch längst nicht erschöpft. Das beweist auf besonders eindrückliche Weise die erneute Wende, die sich in den letzten Zeilen unseres Zitats abzeichnet: Der „äußerste Grad an Ungleichheit“ („le dernier dégré de l’inégalité“) ist kein Endpunkt, sondern ein neuer Anfang – der Anfang nämlich einer neuen Gleichheit, ob sie nun den anomischen Zustand der

30 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 241 (OC III, 164). 31 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 256 (OC III, 176). 32 Im deutschen Text übersetzt als „Stufe“, bedeutet aber auch „Endpunkt“/„(End-)Ergebnis“ (Anm. d. Übers.).



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Anarchie (durch Auflösung der Regierung) kennzeichnet oder die Implementierung einer legitimen Herrschaftsform. Einige werden nun denken, dass es sich bei dieser Gleichheit um eine alte Bekannte handelt, taucht hier doch erneut die Grundidee der anakuklosis auf: Im/Am Ende kehrt der Anfang wieder. Jedoch macht die Anverwandlung dieser Vorstellung durch Rousseau eine solche Deutung hinfällig. Wenn zwei verschiedene Ausgänge denkbar sind, so haben wir es hier gleichwohl nicht mit einer zyklischen Wiederkehr, sondern mit zwei möglichen, einander wechselseitig ausschließenden Konsequenzen zu tun. Die anakuklosis der Griechen betrachtete den Durchgang durch das Chaos als Bedingung für die Wiederherstellung des alten Zustands. Rousseau macht daraus ein klares Entweder-Oder, wobei den beiden Teilen der Alternative jeweils ein unterschiedlich akzentuiertes Verständnis von Revolution zugrunde liegt. Das Modell der ‚Auflösung‘ verweist auf ein atomistisches Chaos, das nur noch formal eine Ähnlichkeit mit der vereinzelten Lebensweise des Naturmenschen aufweist. Das andere Modell hingegen, das die legitime Einrichtung („institution“) näherbringt, rekurriert auf die Vorstellung einer Erneuerung auf der Basis eines Rechtsprinzips, für die es – nebenbei gesagt – im zweiten Discours kein eindeutiges historisches Beispiel gibt. Eine solche Erneuerung aber hieße nichts anderes, als zu etwas zurückzukehren, das vorher noch nicht da war; kein erneuter Anfang also, sondern ein echter Neuanfang. Das ist genau die Denkfigur, die das Manuscrit de Genève bald darauf entwickeln wird: Die (vervollkommnete) Kunst heilt die Übel, welche die Kunst angerichtet hat. Die von Rousseau aufgemachte Alternative aber ist ‒ womit wir gewissermaßen im Kern seines Denkens angelangt wären ‒ strukturell eine offene. Gerade weil die Geschichte jeglicher Notwendigkeit entbehrt und ihr Verlauf somit im Wesen unbestimmt ist, können die Krisen der Ungleichheitsgesellschaft sowohl in ihre Auflösung als auch in die Konstituierung einer neuen Einheit münden. Die ‚Revolution‘, in der Kausalität und Kontingenz zusammenfallen, bringt genau diese Unentscheidbarkeit auf den Begriff. Indem Rousseau die Idee des Zyklus nach Platon und Polybios durch die Alternative Auflösung versus legitime Herrschaft ersetzt, dramatisiert er das Revolutionskonzept. Aus dieser Perspektive erscheint schließlich auch seine ambivalente Haltung zur Revolution noch einmal in einem anderen Licht. Die eigentliche Frage für Rousseau ist dann nicht etwa die, ob wir eine Revolution fürchten oder erhoffen sollen, sondern jene, was wir von ihr erwarten dürfen: die Regenerierung des politischen Körpers oder dessen Auflösung. Alles wird nunmehr zu einer Frage der richtigen ‚Diagnose‘. Dies anschaulich zu belegen und auszuführen wird Aufgabe der Texte mit politischem Anwendungsbezug (über den Abbé de Saint-Pierre zu Europa, sowie über Genf, Korsika und Polen) sein. Um eine Diagnose dieser Art überhaupt stellen zu können, wird man zuvor jedoch die Bedingungen bestimmen müssen, unter denen die positive Hypothese Form annehmen kann. Das soll wiederum der Contrat social einlösen. Für den Augenblick jedoch spielt Rousseau auf den letzten Seiten seines zweiten Discours die entgegengesetzte Hypothese durch: Der Despotismus tilgt die Alternative; aus ihm kann nur noch die Auflösung des politischen Körpers folgen:

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Aus dem Schoß dieser Unordnung und dieser Revolutionen würde allmählich der Despotismus sein grässliches Haupt hervorrecken, alles verzehrend, was er im Staat, wo auch immer, an Gutem und Gesundem erblickt, bis es ihm schließlich gelänge, Gesetz und Volk mit Füßen zu treten und sich auf den Trümmern der Republik niederzulassen. […] Hier ist die letzte Stufe der Ungleichheit, der äußerste Punkt erreicht, an dem der Kreis sich schließt und unseren Anfang berührt: hier werden alle Individuen wieder gleich, weil sie alle nichts sind, und da die Untertanen kein anderes Gesetz mehr haben als den Willen des Herrn und dieser keine andere Richtschnur hat als seine Leidenschaften, werden die Begriffe vom Guten und die Grundsätze der Gerechtigkeit erneut hinfällig. Hier läuft alles auf das alleinige Recht des Stärkeren hinaus, auf einen erneuten Naturzustand, der sich von dem, mit dem wir begonnen haben, darin unterscheidet, daß der eine die reine Form des Naturzustandes, dieser andere aber aus einem Übermaß an Verderbnis hervorgegangen ist. Der Unterschied zwischen den beiden Zuständen ist übrigens so gering und der Regierungsvertrag durch den Despotismus so weitgehend aufgelöst, daß der Despot nur so lange Herrscher bleibt, wie er der Stärkere ist, und daß, wenn es gelingt, ihn davonzujagen, er sich über diesen Gewaltakt nicht zu beschweren braucht. Der Aufstand, der damit endet, daß ein Sultan erdrosselt oder entthront wird, ist eine ebenso rechtliche Handlung, wie es diejenigen waren, kraft deren er tags zuvor über Leib und Gut seiner Untertanen verfügte. Allein die Stärke hielt ihn an der Macht, Stärke allein kann ihn stürzen. So geschieht alles gemäß der natürlichen Ordnung, und was sich auch immer in jenen kurzen und häufigen Umstürzen ereignet, niemand kann sich über die Ungerechtigkeit eines anderen beklagen, sondern nur über seine eigene Torheit oder sein Unglück.33 C’est du sein de ce désordre et de ces révolutions que le Despotisme élevant par degrés sa tête hideuse et dévorant tout ce qu’il auroit aperçu de bon et de sain dans toutes les parties de l’Etat parviendroit enfin à fouler aux pieds les Loix et le Peuple, et à s’établir sur les ruines de la République. […] C’est ici le dernier terme de l’inégalité, et le point extrême qui ferme le Cercle et touche au point d’où nous sommes partis: C’est ici que tous les particuliers redeviennent égaux parce qu’ils ne sont rien, et que les Sujets n’yant plus d’autre Loi que la volonté du Maître, ni le Maître d’autre regle que ses passions, les notions du bien, et les principes de la justice s’évanouissent de rechef. C’est ici que tout se ramene à la seule Loi du plus fort, et par conséquent à un nouvel Etat de Nature différent de celui par lequel nous avons commencé, en ce que l’un étoit l’Etat de Nature dans sa pureté, et que ce dernier est le fruit d’un excès de corruption. Il y a si peu de différence d’ailleurs entre ces deux états, et le Contract de Gouvernement est tellement dissous par le Despotisme, que le Despote n’est le Maître qu’aussi longtems qu’il est le plus fort, et que, sitôt qu’on peut l’expulser, il n’a point à réclamer contre la violence. L’émeute qui finit par étrangler ou détrôner un Sultan est un acte aussi juridique que ceux par lesquels il disposoit la veille des vies et des biens de ses Sujets. La seule force le maintenoit, la seule force le renverse; toutes choses se passent ainsi selon l’ordre Naturel; et quel que puisse être l’événement de ces courtes et fréquentes révolutions, nul ne peut se plaindre de l’injustice d’autrui, mais seulement de sa propre imprudence, ou de son malheur (OC III, 190–191).

Wir kehren hier zu jenem Muster zurück, von dem bereits das alte Griechenland ein trauriges Zeugnis abgelegt hatte: Der Despotismus löst den politischen Körper auf

33 J.-J. Rousseau: „Abhandlung über die Ungleichheit“, 271–272. Zu den Auslassungen vgl. den Kom­ mentar in Anm. 23.



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derart radikale Art und Weise auf, dass dieser sich nicht mehr regenerieren kann. Die Revolutionen können hier keine wahrhaftigen mehr sein; häufig auftretend und immer nur von kurzer Dauer, bleiben sie am Ende wirkungslos. Sie sind nichts weiter als oberflächliche Tumulte. Von dieser Seite her also ist der Kreislauf abgeschlossen; ein Neuanfang ist nicht mehr möglich.

2 Freiheit, Umstände, Wandel: Das politischhistorische Konzept der Revolution in den Schriften über Politik Wie wir gesehen haben, unterzieht Rousseau das Revolutionskonzept im zweiten Discours einer in erkenntnistheoretischer wie in politischer Hinsicht tiefgreifenden Revision. Sie ermöglicht es ihm, zunächst auf der Ebene der Epistemologie, die Kategorien der Kausalität und der Kontingenz so miteinander zu verschränken, dass er einerseits einen Bruch zwischen der Zivilisation und dem Naturzustand postulieren kann, erstere also nicht aus der Immanenz des zweiten ableiten muss, andererseits aber ein aus der Natur der Dinge entnommenes, konjekturales Wissen darüber abzuleiten vermag, wie ein solcher Bruch überhaupt eintreten konnte. Zu der spezifischen Leistungsfähigkeit des Konzepts gehört außerdem, das Auftreten von etwas Neuem in der Ordnung der Dinge zu ermöglichen, und zwar konkret als den Überschuss der Wirkung der Revolution gegenüber ihren Ursachen. In dieser Hinsicht kann das sozio-historische Konzept der Revolution als ein zentraler Bestandteil von Rousseaus historischer Anthropologie gelten. Besonders auf den letzten Seiten des zweiten Discours rückt dann verstärkt die politische Funktion des Konzepts in den Blick. Diese ist vor allem kritischer Art. Zwei verschieden besetzte Revolutionsbegriffe werden hier, entsprechend der oben aufgezeigten Alternative, gegeneinander in Stellung gebracht: Gemäß der einen Vorstellung wohnt der Revolution die Möglichkeit einer Regenerierung der bürgerlichen Gesellschaft nach einem Prinzip legitimer Herrschaft inne (und verweist insofern voraus auf die Principes du droit politique), gemäß der anderen versandet das revolutionäre Aufbegehren in unproduktiven Tumulten, welche die unumkehrbare Auflösung des politischen Körpers anzeigen. Deren Ursache ist die Korruption der Bürgergesellschaft, der Despotismus ihre Folge. Die Unentschiedenheit eines so gefassten Revolutionskonzepts ist nun aber mitnichten ein Zeichen theoretischer Unentschlossenheit auf Seiten des Autors. Vielmehr spiegelt sie eine strukturelle Bivalenz wider, die letztlich der Geschichte selbst eignet. Zudem verweist sie auf eine zentrale Problematik in Rousseaus Theoriegebäude: Die Principes du droit politique stellen bekanntlich die Kriterien bereit, nach denen existierende Gesellschaften evaluiert werden können (so wie Rousseau es gegenüber Montesquieu eingefordert hatte). Aber können sie auch als Konstruktionsprinzipien zum Aufbau einer legitimen

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politischen Ordnung dienen? Ich will im Folgenden zeigen, dass 1) diese Frage in den politischen Schriften Rousseaus derjenigen nach den Möglichkeitsbedingungen einer wahrhaftigen Revolution entspricht und 2) dass die Antwort, die er darauf gibt, von einer weiteren, nicht minder grundsätzlichen Unentschiedenheit gekennzeichnet ist: Alles wird zu einer Frage der Umstände, der jeweiligen historischen Situation. Ich gehe auf diese Punkte ein, indem ich nacheinander die Schriften zum Abbé de SaintPierre, den Contrat social und schließlich die Texte mit politischem Anwendungscharakter zu Genf, Korsika und Polen heranziehe. Der Abbé de Saint-Pierre hatte zwei ehrgeizige Projekte vor Augen: die Reformierung der französischen Monarchie (Polysynodie) und die Gründung eines föderalen Europas (Projet de paix perpétuelle). In seiner Bewertung dieser Projekte unterscheidet Rousseau die Frage nach ihrer grundsätzlichen Richtigkeit (die er bejaht) von der ihrer Realisierbarkeit (die er bestreitet). Bezüglich der Letzteren greift er an mehreren Stellen auf den Revolutionsbegriff zurück. Mit seinem Wunsch nach einer Föderation der europäischen Völker erweise sich der Abbé als Utopist, bedenke er doch nicht, was der gegenwärtige Zustand des Kontinents überhaupt zulasse. Das aus souveränen Mächten zusammengesetzte Europa habe eine natürliche Tendenz zur kriegerischen Auseinandersetzung, die nur durch ein Gleichgewicht eben dieser Mächte verhindert werden könne: „Dem Gefüge Europas wohnt just jener Grad von Festigkeit inne, der es in ständiger Unruhe zu halten vermag, ohne es gänzlich umzustürzen; und vermögen unsere Übel auch nicht noch größer zu werden, so können sie doch ebenso wenig enden, denn jegliche große Revolution ist fernerhin unmöglich.“34 Das in einer doppelten Logik der Mächte und der Despotismen gefangene Europa könne nur falsche Revolutionen hervorbringen, nicht aber jene „große Umwälzung“ („grande révolution“), welche ganz andere gesellschaftliche Voraussetzungen habe (was unter anderem auch der Abbé de Saint-Pierre nicht ausreichend bedacht habe). Ein ähnliches Urteil fällt Rousseau in seinem Jugement über Heinrich IV., der zwar kurz davor war, die europäischen Mächte mit einer Mischung aus Stärke und politischer Klugheit zu einigen, am Ende jedoch scheiterte:

34 Jean-Jacques Rousseau: „Auszug aus dem Plan eines ewigen Friedens des Herrn Abbé SaintPierre“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 7–36, hier 14 (Hervorh. v. Bruno Bernardi). „Le systême de l’Europe a précisément le degré de solidité qui peut la maintenir dans une agitation perpétuelle, sans la renverser tout-à-fait; et si nos maux ne peuvent augmenter, ils peuvent encore moins finir, parce que toute grande révolution est désormais impossible“ (OC III, 570, Hervorh. v. Bruno Bernardi). Für einen ausführlichen Kommentar dieses und des folgenden Abschnitts vgl. meinen Beitrag „Rousseau et l’Europe: sur l’idée de société civile européenne“ in Jean-Jacques Rousseau: Principes du droit de la guerre, écrits sur le Projet de paix perpétuelle de l’Abbé de Saint-Pierre, édition établie et présentée par Bruno Bernardi/Gabriella Silvestrini, commentaire sous la dir. de Blaise Bachofen/Céline Spector, Paris 2008, 295–330.



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Europa hatte seine Absichten nicht durchschaut, es beobachtete seine ungeheuren Zurüstungen und wartete mit einer Art Bangen auf ihre Wirkungen. Ein leichter Vorwand sollte diese große Umwälzung einleiten. Ein Krieg, welcher der letzte sein sollte, bereitete einen unsterblichen Frieden vor, als ein Ereignis, dessen schreckliches Geheimnis das Entsetzen noch steigern muß, die letzte Hoffnung der Welt auf alle Zeit bannte. Derselbe Dolchstoß, der den Tagen dieses guten Königs ein Ende setzte, stürzte Europa zurück in immerwährende Kriege, die endigen zu sehen es nicht mehr hoffen kann. Doch wie dem auch sei, dies waren die Mittel, die Heinrich IV. vereint hatte, um der gleichen Einrichtung Gestalt zu verleihen, die der Abbé Saint-Pierre mit einem Buch zu begründen gedachte.35 Sans avoir pénétré ses vües, l’Europe attentive à ses immenses préparatifs en attendoit l’effet avec une sorte de frayeur. Un léger prétexte alloit commencer cette grande révolution. Une guerre qui devoit être la dernière, préparoit une paix immortelle, quand un événement, dont l’horrible mistère doit augmenter l’effroi, vint bannir à jamais le dernier espoir du monde. Le même coup qui trancha les jours de ce bon Roi replongea l’Europe dans d’éternelles guerres qu’elle ne doit plus espérer de voir finir. Quoi qu’il en soit, voilà les moyens qu’Henri quatre avoit rassemblés pour former le même établissement que l’Abbé de St Pierre prétendoit faire avec un livre (OC III, 599).

Ohne nun diesen Text überbewerten zu wollen, lassen sich hier zwei Grundaussagen herauslesen, die sich nur scheinbar widerstreiten: 1) Sobald von Revolution die Rede ist, tritt die Kontingenz auf den Plan (in diesem Fall die Ermordung Heinrichs IV. durch Ravaillac); 2) die Möglichkeit einer Revolution ist eine Frage der Praxis und hängt letztlich von den aktuell vorherrschenden Kräfteverhältnissen ab. Politik wird nicht in Büchern gemacht. Eines aber wird hier ebenfalls deutlich: Eine Revolution hat immer ihren Preis. An diesen dritten Punkt erinnert eine Passage am Ende des Jugement: „Man kann sich föderative Bündnisse allein durch Revolutionen herbeigeführt denken, und wer von uns wollte auf solcher Grundlage zu behaupten wagen, ob dieses europäische Bündnis mehr zu wünschen oder zu fürchten sei? Vielleicht würde es auf einen Schlag mehr Unheil anrichten, als es auf Jahrhunderte verhüten könnte.“36 Fürchtet Rousseau hier die Folgen einer Revolution im Allgemeinen oder nur die solcher Revolutionen, die in Europa überhaupt noch denkbar sind? In diese zweite Richtung weist die Wiederkehr eines – hier nun etwas breiter ausgeführten – Arguments in Rousseaus Jugement über die Polysynodie: Erneut befindet er, dass der Abbé die Bedingungen für die Errichtung einer Räteregierung unter- und die Möglichkeit ihrer Einberufung überschätzt habe:

35 Jean-Jacques Rousseau: „Gutachten über den Plan eines ewigen Friedens“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 38–48, hier 47–48. 36 J.-J. Rousseau: „Gutachten über den Plan eines ewigen Friedens“, 48. „On ne voit point de Ligues fédératives s’établir autrement que par des révolutions, et, sur ce principe qui de nous oseroit dire si cette Ligue Européenne est à désirer ou à craindre? elle feroit peut-être plus de mal tout d’un coup qu’elle n’en préviendroit pour des siécles“ (OC III, 600).

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Um nichts weniger als Revolution handelt es sich nämlich in der Polysynodie, und wenn man gegenwärtig Räte an den Fürstenhöfen vorfindet und auch hier Räte vorgeschlagen werden, glaube man ja nicht, daß zwischen beiden Systemen wenig Unterschied bestehe. Der Unterschied ist so groß, daß man damit beginnen müsste, alles Bestehende zu zerstören, um der Regierung die vom Abbé Saint-Pierre erdachte Form zu geben; und niemand verkennt, in welcher Gefahr ein großer Staat im Augenblick der Anarchie und der Krise gerät, der der Begründung einer neuen Staatsform notwendig vorausgeht. Schon die Einführung der geheimen Wahl musste zu einem schrecklichen Umsturz führen und alle Teile des Körpers eher in zuckende, ständige Bewegungen versetzen als ihm neue Stärke verleihen. So ermesse man erst jene Gefahr, die es bedeutet, einmal die gewaltigen Massen zu erregen, aus denen die französische Monarchie besteht! Wer wird die bewirkte Erschütterung noch zügeln oder all die Auswirkungen voraussehen können, die sie herbeiführen mag? […] Es reicht nicht hin, die Mittel zu erwägen, die man anzuwenden gedenkt, wenn man nicht auch die Menschen ins Auge faßt, deren man sich bedienen will. Wenn aber eine ganz Nation sich nur noch mit Albernheiten zu befassen weiß, welches Augenmerk vermag sie dann den großen Dingen zuzuwenden, und was sollen in einem Land, wo die Musik zur Staatsaffäre geworden ist, die Staatsangelegenheiten anderes sein, denn Lieder?37 En effet: ce n’est rien moins qu’une revolution dont il est question dans la Polysynodie, et il ne faut pas croire, parce qu’on voit actuellement des Conseils dans les Cours des Princes et que ce sont des Conseils qu’on propose, qu’il y ait peu de différence d’un sistême à l’autre. La différence est telle qu’il faudroit commencer par détruire tout ce qui existe pour donner au Gouvernement la forme imaginée par l’Abbé de St Pierre; et nul n’ignore combien est dangereux dans un grand Etat le moment d’anarchie et de crise qui précéde nécessairement un établissement nouveau. La seule introduction du scrutin devoit faire un renversement épouvantable et donner plutôt un mouvement convulsif et continuel à chaque partie qu’une nouvelle vigueur au corps. Qu’on juge du danger d’émouvoir une fois les masses énormes qui composent la monarchie Françoise! qui pourra retenir l’ébranlement donné, ou prevoir tous les effets qu’il peut produire? […] Il ne suffit pas de considérer les moyens qu’on veut employer, si l’on ne regarde encore les hommes dont on se veut servir; Or quand toute une Nation ne sait plus s’occuper que de niaiseries, quelle attention peut elle donner aux grandes choses, et dans un paїs où la Musique est devenue une affaire d’Etat, que seront les affaires d’Etat, sinon des chansons? (OC III, 637–638)

Lassen wir den prophetischen Unterton, den man dieser Passage entnehmen kann, einmal beiseite und wenden uns der weitaus interessanteren Diskussion zu, die Rousseau der Frage der Wahl der Räte widmet. So übersehe der Abbé de Saint-Pierre einen wichtigen Unterschied, den nämlich zwischen einem Rat, den ein Fürst einberuft, um sich bei der Entscheidungsfindung beraten zu lassen, und einem solchen, der das Volk repräsentiert, also letztlich den Unterschied zwischen nominierten und gewählten Amtsträgern. Vor allem aber durchschaue der Abbé nicht, dass sein Vorschlag im Grunde darauf hinausläuft, das Wahlprinzip an die Stelle des Erbrechts als neues Fundament der politischen Ordnung zu setzen. Darüber hinaus sei er sich nicht darüber im Klaren, dass das Wahlrecht allein noch lange keinen Bürger macht. Dazu brauche

37 Jean-Jacques Rousseau: „Gutachten über die Polysynodie“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 86–97, hier 89–90.



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es mehr: eine öffentliche Meinung und ein politisches Bewusstsein, oder um es mit Rousseau zu sagen, eine Transzendierung der Einzelwillen zu einem Gemeinwillen, wovon in Frankreich noch keine Rede sein könne. Zwei Lektionen zieht Rousseau aus seiner Lektüre. Die eine ist offensichtlich: Frankreich liegt in einem Zustand darnieder, der eine wahrhaftige Erneuerung des politischen Körpers unmöglich macht. Im besten Falle, so lautet es einige Zeilen weiter, hätte sich der Abbé fragen können, „[u]nter welchen Umständen […] eine erbliche Monarchie ohne Revolutionen durch Formen gemäßigt werden [könne], die sie der Aristokratenherrschaft annähern?“38 Aber selbst diese Option erscheint Rousseau zweifelhaft. Die zweite Lektion hingegen ist eine implizite: Nicht der institutionelle Rahmen als solcher, sondern erst das Bewusstsein der Bürger schafft die Voraussetzungen, die für eine politische Gemeinschaft erforderlich sind. Diese beiden Themen stehen auch im Mittelpunkt der Texte, denen ich mich im Folgenden zuwende. Wie müssen die Umstände beschaffen sein, damit aus ihnen eine wahrhaftige Revolution erwachsen kann, das heißt eine solche, auf die sich eine legitime politische Ordnung gründet? Der Text, in dem Rousseau dieser Frage nachgeht, ist bekanntlich der Contrat social. War das erste Buch noch damit befasst (wie aus dem Inhaltsverzeichnis der Ausgabe von 1762 ersichtlich wird), die „notwendigen Bedingungen des Vertrags“ („conditions essentielles du pacte“) aufzuzeigen,39 geht der erste Teil des zweiten Buches über zur Frage der Souveränität, des Gesetzes und des Gesetzgebers ‒ oder, um es einmal in aristotelischer Terminologie auszudrücken: Nachdem die Form- und Bewegursachen der Gesetzgebung bestimmt wurden, geht es nun darum, sich deren Stoffursache, das heißt also: der Realität der Völker zuzuwenden. Entsprechend sind die Kapitel acht bis zehn ein- und derselben Frage gewidmet, die schließlich auch explizit formuliert wird: „Welches Volk ist also für die Gesetzgebung geeignet?“40 Damit ist zugleich auch ein für Rousseau entscheidendes Problem berührt, nämlich das, welchen praktischen Nutzen der Contrat social haben kann. Dass die Principes du droit politique zu unterscheiden helfen, was legitim ist und was nicht, dass sich mit ihnen die Werke großer Gesetzgeber im historischen Verlauf identifizieren und Auflösungsprozesse politischer Gemeinschaften nachvollziehen lassen, scheint klar. Aber bleiben die Prinzipien damit auf eine rein normative und retrospektive Funktion beschränkt, oder lässt sich ihnen auch eine praktische Seite abgewinnen? Es handelt sich hier um keine geringere Frage als die, ob eine „große

38 J.-J. Rousseau: „Gutachten über die Polysynodie“, 90. „Quelles sont les circonstances dans les­ quelles une Monarchie hereditaire peut, sans révolutions être tempérée par des formes qui la ra­ prochent de l’aristocratie?“ (OC III, 639). 39 Dieses Inhaltsverzeichnis, das in der Ausgabe der Pléiade fehlt, findet sich in der vom Verf. besorgten Edition Du contrat social ou Principes du droit politique, 2. Aufl., Paris 2012, 37–39 (Hervorh. v. Bruno Bernardi). 40 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, hg. u. übers. v. Hans Brockard, Stuttgart 2011, 56. „Quel peuple est donc propre à la législation?“ (OC III, 390).

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Umwälzung“ („grande révolution“) möglich ist, und Rousseau wird hierauf nur eine äußerst zurückhaltende Antwort geben. Tatsächlich nähert er sich dem Thema zögerlich an und beginnt zunächst damit, die ‚traurige Lehreʼ der Geschichte der Sitten in Erinnerung zu rufen: „Wenn die Sitten erst einmal eingeführt sind und die Vorurteile eingewurzelt, ist es ein gefährliches und vergebliches Bemühen, sie abändern zu wollen; das Volk erträgt nicht einmal, dass man an seine Fehler rührt, um sie auszumerzen, jenen einfältigen und mutlosen Kranken vergleichbar, die beim Anblick des Arztes zittern.“41 Und sollte es tatsächlich ein Fenster geben, durch das man, wie es in Kapitel I des Contrat social heißt, dem Wandel der gesellschaftlichen Ordnung „Rechtmäßigkeit verleihen“ („le rendre légitime“) könne,42 so würde es nur ein sehr enges sein: Wie einige Krankheiten den Menschen den Kopf verwirren und ihnen die Erinnerung an Vergangenes rauben, so gibt es gelegentlich im Bestehen der Staaten Epochen der Gewalt, in denen Revolutionen bei den Völkern dasselbe bewirken wie bestimmte Krisen bei den Individuen, in denen das Grauen vor dem Vergangenen an die Stelle des Vergessens tritt und der Staat, durch Bürgerkriege in Brand gesteckt, sozusagen aus seiner Asche wiederersteht und, den Armen des Todes entrinnend, die Kraft der Jugend wiedergewinnt. So Sparta zu Zeiten Lykurgs, so Rom nach den Tarquiniern; und so bei uns Holland und die Schweiz nach der Vertreibung der Tyrannen. Aber solche Fälle sind selten; es sind Ausnahmen, deren Grund immer in der besonderen Verfassung gerade dieses außergewöhnlichen Staates liegt. Sie werden beim selben Volk auch kein zweites Mal stattfinden können, denn es kann sich befreien, solange es noch ungesittet, aber es kann dies nicht mehr, wenn der bürgerliche Schwung erlahmt ist. Dann können Unruhen es zerstören, ohne dass Revolutionen es wiederaufrichten können, und sobald seine Ketten gesprengt sind, zerfällt es in Stücke und ist nicht mehr. Es braucht in Zukunft einen Herrn und keinen Befreier. Freie Völker, erinnert euch dieser Maxime: Man kann die Freiheit gewinnen, aber man kann sie niemals wiedergewinnen.43 Ce n’est pas que, comme quelques maladies bouleversent la tête des hommes et leur ôtent le souvenir du passé, il ne se trouve quelquefois dans la durée des Etats des époques violentes où les révolutions font sur les peuples ce que certaines crises font sur les individus, où l’horreur du passé tient lieu d’oubli, et où l’Etat, embrasé par les guerres civiles, renaît pour ainsi dire de sa cendre et reprend la vigueur de la jeunesse en sortant des bras de la mort. Telle fut Sparte au tems de Lycurgue, telle fut Rome après les Tarquins; et telles ont été parmi nous la Hollande et la Suisse après l’expulsion des Tirans. Mais ces événemens sont rares; ce sont des exceptions dont la raison se trouve toujours dans la constitution particulière de l’Etat excepté. Elles ne saurient même avoir lieu deux fois pour le même peuple, car il peut se rendre libre tant qu’il n’est que barbare, mais il ne le peut plus quand le ressort civil est usé. Alors les troubles peuvent le détruire sans que les révolutions

41 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 49. „[Q]uand une fois les coutumes sont établies et les préjugés enracinés, c’est une entreprise dangereuse et vaine de vouloir les réformer; le peuple ne peut pas même souffrir qu’on touche à ses maux pour les détruire, semblable à ces malades stupides et sans courage qui frémissent à l’aspect du médecin“ (OC III, 385).  42 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 6 (OC III, 351). 43 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 49–50.



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puissent le rétablir, et sitôt que ses fers sont brisés, il tombe épars et n’existe plus: Il lui faut désormais un maitre et non pas un libérateur. Peuples libres, souvenez-vous de cette maxime: On peut acquérir la liberté; mais on ne la recouvre jamais (OC III, 385).

Die Bedeutung dieser oft zitierten Zeilen, in denen Revolution und Krise zusammen gedacht werden, lässt sich meines Erachtens besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass Rousseau hier die im zweiten Discours aufgemachte Alternative zwischen dem „Zerfall“ („dissolution“) des politischen Körpers und seiner „legitimen Institution“ („institution légitime“) noch einmal aufruft, und zwar bis in den Wortlaut hinein: Die Revolution zeigt sich ein erstes Mal in ihrem regenerativen Potential, ein zweites Mal als unproduktive Störung. Im Contrat social geht Rousseau der ‚positiven‘ Spur nach, die jedoch ähnlich unberechenbar ist wie eine Durchquerung der Nordwestpassage. Dass es gelingt, dem degenerierenden Kreislauf der gesellschaftlichen Verderbnis zu entkommen, kann nur die Ausnahme sein, ein Ereignis also, in das notwendigerweise Kontingentes eingreift: eine Revolution. Nichtsdestotrotz handelt es sich dabei ‒ das macht Rousseau verschiedentlich geltend ‒ keineswegs um einen absoluten Anfang, eine tabula rasa, eine Wirkung ohne Ursache. Mit Blick auf das obige Zitat halten wir zunächst fest, dass der Vergleich der Revolution mit einer ‚Krise‘ des Individuums zugleich auch eine Opposition markiert. In dem einen Fall ist es die Amnesie, die Auslöschung der Vergangenheit, die befreiend wirkt; in dem anderen ist es die Überpräsenz der Erinnerung. Das „Grauen“ („l’horreur“), das die Vergangenheit bereitet, ist exakt das, was einem Volk die Kraft gibt, sich von ihr zu lösen. Doch gehen wir noch einen Schritt weiter: Es ist nicht so sehr die Dringlichkeit einer gegenwärtigen Not, als vielmehr der Wille, die Last einer unerträglich gewordenen Vergangenheit abzuschütteln, der für Rousseau am Beginn der wahren Revolutionen steht. Das ist auch der Grund, warum die Krise nicht als eine innere, sondern als äußere Ursache der Revolution gehandelt wird. Die Krise ist der Umstand, aus dem heraus es möglich wird, die Vergangenheit zu überwinden. Was das zehnte Kapitel über die Gesetzgebung aussagt, gilt somit auch für die Revolution: „Was das Werk der Gesetzgebung mühselig macht, ist weniger das, was man aufbauen, als das, was man zerstören muss.“44  Hinsichtlich des zuvor Erwähnten gilt außerdem: Die revolutionären Ausnahmen haben, wenn sie denn auftreten, nichts Willkürliches an sich. Das Kontingente bei Rousseau ist niemals das Zufällige.45 Eine Ausnahme hat immer ein oder zwei Ursachen, die es in der „Verfassung“ („constitution“) des betrachteten Volkes zu suchen gilt. Was darunter genau zu verstehen ist, wird erst im zehnten Kapitel ersichtlich, wo Rousseau die notwendigen Bedingungen für die Gründung eines Volkes rekapi-

44 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 57. „Ce qui rend pénible l’ouvrage de la législation, est moins ce qu’il faut établir que ce qu’il faut détruire“ (OC III, 391). 45 Diese konzeptionelle Unterscheidung ist ganz klar, auch wenn das Vokabular dieser Stringenz nicht immer folgt.

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tuliert. Eine Analyse dieser Voraussetzungen muss hier unterbleiben, von denen im Übrigen viel zu oft und ungerechtfertigter Weise nur jene zitiert wird, wonach es sich um „kleine Staaten“ („petits états“) handeln müsse. Sie sind insgesamt so restriktiv, dass Rousseau daraus schließt: „Alle diese Bedingungen, es ist wahr, finden sich schwerlich beisammen. Man sieht deshalb auch nur wenig gut verfasste Staaten.“46 Von viel größerer Bedeutung scheint mir aber noch sein grundsätzliches Anliegen zu sein, die Ausnahme in die Ordnung des Möglichen sowie – vice versa – das Mögliche in die Ordnung der Ausnahme einzuschreiben: So führt er im achten Kapitel zwei Beispiele aus der Antike an (Sparta und Rom), zwei weitere aus der jüngeren Geschichte (die Schweiz und Holland); das zehnte Kapitel endet gar mit einem Beispiel aus der Zukunft! (Es handelt sich um die berühmte Prophezeiung zu Korsika.) Kein Zweifel, dass hier eine Stelle aus dem siebten Kapitel des dritten Buches widerhallt: „Die Grenzen des Möglichen sind im Moralischen weniger eng, als wir denken. Es sind unsere Schwächen, unsere Laster, unsere Vorurteile, die sie enger ziehen. Niedrige Seelen glauben nicht an große Menschen: gemeine Sklaven lächeln spöttisch beim Wort Freiheit.“47 Die Revolution erscheint an dieser Stelle des Contrat social geradezu als der Drehund Angelpunkt, in dem das Mögliche das Reale durchdringt, als der Ort, an dem sich die Umstände mit jenem Willen kreuzen, der sie zu verändern sucht. Sind die Einschränkungen, mit denen Rousseau diese sehr eng bemessene Option versieht, letztlich Ausdruck seines wachsenden historischen Pessimismus? Diese Lesart hat bekanntlich Konjunktur. Ich will hier nur am Rande darauf hinweisen, dass zwei Korrekturen, die er in seinem persönlichen Exemplar angebracht hat und die später in die Ausgabe von 1782 eingeflossen sind, genau in die entgegensetzte Richtung weisen.48 Aber das scheint mir an dieser Stelle gar nicht das Entscheidende zu sein. Rousseau will vielmehr betonen, und nichts anderes besagt ja letztlich die Rede von der ‚Ausnahme‘, dass eine Revolution da entsteht, wo Gelegenheit und Wille zusammentreffen. Bedingung eines solchen Zusammentreffens ist, dass wir fähig sind, die Grenzen des moralisch Möglichen zu verschieben, ohne dabei die Zwänge der Notwendigkeit aus dem Blick zu verlieren. Ein Zusammentreffen also, das die ‒ aus Sicht der Anthropologie Rousseaus eigentlich fast unmögliche ‒ Vereinigung von morali-

46 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 57. „Toutes ces conditions, il est vrai, se trouvent difficile­ ment rassemblées. Aussi voit-on peu d’Etats bien constitués.“ (OC III, 391). 47 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 101. „Les bornes du possible dans les choses morales sont moins étroites que nous ne pensons: Ce sont nos foiblesses, nos vices, nos préjugés qui les rétrécissent. Les ames basses ne croyent point aux grands hommes: de vils esclaves sourient d’un air moqueur à ce mot de liberté “ (OC III, 425). 48 In der ursprünglichen Fassung des Kapitel VIII des Contrat social stellt Rousseau noch die all­ gemeine These auf, dass ein Volk nur in seiner Jugend eine Gesetzgebung erhalten könne. Die erste Korrekturversion hebt hervor, dass diese Regel auch Ausnahmen kennt, die zweite wiederum macht eine Unterscheidung zwischen dem Stadium der Jugend und der Kindheit auf.



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schen und intellektuellen Bedingungen voraussetzt; eine Vereinigung, die im Übrigen auch den Gemeinwillen ausmacht (und man könnte sich fragen, ob die Revolution nicht gerade dessen intensivste Ausprägung verlangt). Im Augenblick der allerersten Konstituierung einer Gemeinschaft vermag noch der Affekt die Vernunft bei der Willensbildung zu ersetzen. Im Moment der Revolution hingegen ist beider Zusammenschluss notwendig. Folglich ist es schwieriger, eine Gesellschaft zu erneuern, als sie erstmals zu konstituieren. Das ist es auch, was den Ausnahmecharakter einer Revolution ausmacht. Hierin scheint mir folglich der tiefere Sinn dieses Textes zu liegen: Rousseau verleiht der Gründung eines Volkes den Status einer Ausnahme, denn nur so ist ihre Möglichkeit denkbar. Man darf sich an dieser Stelle – trotz des Anachronismus – durchaus an die Einheit von ‚Pessimismus des Verstandes‘ und ‚Optimismus des Willens‘ erinnert fühlen, wie Gramsci sie später von Romain Rolland übernehmen wird. Der Unentschiedenheit, die Rousseaus Konzept der Revolution auszeichnet, kommt somit im Contrat social eine neue Bedeutung zu: Sie ist der unhintergehbaren Kontingenz eingeschrieben, die das Politische ausmacht. Bereits ein kurzer vergleichender Blick auf die Texte Rousseaus zu Korsika und Polen hilft, die bemerkenswerte Kohärenz zwischen den dort gemachten Aussagen und dem zu erschließen, was wir aus der Lektüre der Schriften zum Abbé de SaintPierre und des Contrat social herausgearbeitet haben. Nun macht Rousseau in seinem Verfassungsentwurf für Korsika (Projet de Constitution pour la Corse) nur ein einziges Mal vom Revolutionsbegriff Gebrauch – und noch dazu in einem Zusammenhang, der jede Überbewertung eigentlich verbietet.49 Trotzdem scheint mir diese Passage Beachtung zu verdienen. Rousseau bekundet hier nämlich sein allgemeines Misstrauen gegenüber den Städten, die er durch eine Allianz mit den genuesischen Besatzern zusätzlich kompromittiert sieht. Sie haben, so Rousseau, „ihre Nation verkauft“ („ont vendu leur nation“) für ein paar Privilegien, sie „bleiben […] die Brutstätten der Tyrannei“ („les nids de la Tyrannie“).50 Demgegenüber preist er den Patriotismus der in „Landkreisen“ („pièves“) organisierten Bauern: „Die Kraft eurer Landkreise hat die Revolution erzeugt, ihre Entschlossenheit hat sie getragen; diesen unerschütterlichen Mut, dem kein Rückschlag etwas anzuhaben vermag, habt ihr ihnen zu verdanken.“51 Bemerkenswert ist zunächst das Syntagma „die Revolution erzeugen“ („faire la révolution“), das an dieser Stelle womöglich das erste Mal im Französischen auftritt. Ob Rousseau hier etwas vorschnell seine

49 Jean-Jacques Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, in ders.: Kulturkritische und poli­ tische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 371–429, hier 384 (OC III, 911). 50 J.-J. Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, 384. 51 J.-J. Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, 384. „C’est la vigueur de vos piéves qui a fait la révolution, c’est leur fermeté qui l’a soutenue; cet inebranlable courage que nul revers ne peut abattre vous vient d’elles“ (OC III, 911).

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Prophezeiung aus dem Contrat social realisiert sehen will, sei einmal dahingestellt. Der wesentliche Punkt liegt woanders. An erster Stelle zählt, dass er die Revolution als vollbracht ansieht: Auf dieser Grundlage hält er es nunmehr für möglich, dass sich Korsika Institutionen gibt. Nicht die Gesetzgebung macht die Korsen frei, sondern ihre Freiheit ist es, die eine solche Gesetzgebung ermöglicht. Die Stoßkraft der Revolution ist zunächst aber eine rein moralische: Die Standhaftigkeit, der Mut – sie sind die Kehrseite jenes „Grauen vor dem Vergangenem“, von dem der Contrat social sprach. Die Revolution erscheint hier ganz deutlich als eines jener Konzepte, in denen – wie ja durchaus auch im Gemeinwillen – Moral und Politik miteinander konvergieren. Diese enge Verbindung von Freiheit und Institution ist meines Erachtens viel zu wenig beachtet worden. Dabei unterscheidet sich Rousseau genau in diesem Punkt von der sogenannten „vernünftigste[n] Partei“ („la plus saine partie“)52 jener modernen politischen Denker, von denen im sechsten Brief der Lettres écrites de la montagne die Rede ist (vorneweg Locke und Sidney).53 Seine Position besteht nicht darin, Institutionen zu fordern, die die Freiheit respektieren und schützen (wie dies ja unter anderen auch bei Montesquieu der Fall ist), sondern darin, die Freiheit überhaupt erst zur Möglichkeitsbedingung gesellschaftlicher Institutionen zu machen. Dieser Unterschied wird noch deutlicher, wenn wir uns die Schrift zu Polen anschauen. Der Revolutionsbegriff kommt dort zwar rein zahlenmäßig häufiger vor ‒ er zieht sich unter anderem durch das gesamte dreizehnte Kapitel ‒, ist dabei aber durchweg negativ konnotiert. Kommt Rousseau hier also zu einer anderen Bewertung? Sollte sich die für Korsika so segensreiche Revolution für Polen am Ende als das genaue Gegenteil erweisen? Keinesfalls. Oder sagen wir eher: Die Dinge verhalten sich hier etwas anders. Die Freiheit der Korsen bezeichnet zugleich die politische Freiheit des Volkes und deren Unabhängigkeit als Nation. Für die Polen jedoch kann von Freiheit nur im letzteren Sinne die Rede sein. Allzu weit sind sie noch von einer politischen entfernt. Als es darum geht, den Zugang zu den öffentlichen Ämtern zu regeln (und zwar nach Art eines cursus honorum), merkt Rousseau an: Dies also erscheint mir als eine recht wohl abgestufte Laufbahn für den entscheidenden Teil des Ganzen, der für alles die Mitte bildet, nämlich Adel und hohe Würdenträger; doch es fehlen uns noch die beiden Extreme, nämlich Volk und König. Beginnen wir mit dem ersten, das bislang als nichts galt, aber nun endlich als etwas gelten muß, wenn denn Polen eine gewisse Kraft und Beständigkeit erlangen soll. Nichts ist heikler als ein Vorgehen in diesem Punkt, denn obwohl jedermann spürt, welch großes Übel der Republik daraus erwächst, daß die Nation gewissermaßen auf die Ritterschaft beschränkt ist und die übrigen, Bauern und Stadtbürger, sowohl in der

52 Jean-Jacques Rousseau: „Briefe vom Berge“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 129–369, hier 267 (OC III, 806). 53 Siehe dazu Bruno Bernardi: Le principe d’obligation, Paris 2007, Kap. I.



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Regierung als auch bei der Gesetzgebung als nichts gelten, entspricht ebendies der alten Verfassung. Es wäre im Augenblick weder wohlbedacht noch möglich, sie unversehens zu ändern; wohl aber kann sie allmählich herbeigeführt werden, so, daß ohne spürbare Umwälzung der zahlenmäßig stärkste Teil der Nation Zuneigung zum Vaterland und selbst zur Regierung entwickelt. Dies läßt sich durch zwei Mittel erreichen: das erste ist eine strenge Wahrung der Gerechtigkeit, so daß Leibeigener und Bauer niemals ungerechte Behelligung vom Adligen zu fürchten haben und darum von der Abneigung, die sie von Natur aus gegen ihn empfinden müssen, genesen. Dies verlangt eine große Reform bei den Gerichten und besondere Sorgfalt bei der Bildung des Advokatenstandes. Das zweite Mittel, ohne welches das erste gar nichts ist, besteht darin, den Leibeigenen ein Tor zu öffnen, damit sie die Freiheit erlangen, und den Stadtbürgern eines, damit sie zum Adel aufsteigen können.54 Voilà, ce me semble, une marche assez bien graduée pour la partie essentielle et intermédiaire du tout, savoir, la noblesse et les magistrats; mais il nous manque encore les deux extrêmes, savoir, le peuple et le Roi. Commençons par le premier jusqu’ici compté pour rien, mais qu’il importe enfin de compter pour quelque chose, si l’on veut donner une certaine force, une certaine consistance, à la Pologne. Rien de plus délicat que l’opération dont il s’agit, car enfin, bien que chacun sente quel grand mal c’est pour la République que la nation soit en quelque façon renfermée dans l’ordre equestre, et que tout le reste, Paysans et Bourgeois, soit nul tant dans le Gouvernement que dans la législation, telle est l’antique Constitution. Il ne seroit en ce moment ni prudent ni possible, de la changer tout d’un coup; mais il peut l’être d’amener par degrés ce changement, de faire sans révolution sensible, que la partie la plus nombreuse de la nation s’attache d’affection à la Patrie et même au Gouvernement. Cela s’obtiendra par deux moyens: le premier, une exacte observation de la justice, en sorte que le serf et le roturier n’ayant jamais à craindre d’être injustement vexés par le noble, se guerissent de l’aversion qu’ils doivent naturellement avoir pour lui. Ceci demande une grande reforme dans les tribunaux, et un soin particulier pour la formation du corps des avocats. Le second moyen, sans lequel le prémier n’est rien, est d’ouvrir une porte aux serfs pour acquerir la liberté et aux Bourgeois pour acquerir la noblesse (OC III, 1024).

Von einer politischen Machtkonzentration, wie sie die korsischen Landkreise kennzeichnet, kann hier noch nicht die Rede sein. Die Realität der polnischen Gesellschaft, ihre Geschichte, erlauben nur ein bescheideneres Ziel: Denkbar ist allenfalls eine Mischverfassung, die keine wahrhaft republikanische sein kann. Politische Gleichheit (das heißt die gleichberechtigte Teilnahme aller an der Gesetzgebung) steht hier außer Reichweite. Im besten Fall führt die Gleichbehandlung vor dem Gesetz zur Herausbildung eines gewissen Gemeinschaftsgefühls. Eine Revolution wäre nicht nur unmöglich, sie wäre geradezu unangemessen angesichts der nur partiellen Gleichheit, mit der sich die Polen fürs Erste begnügen müssen. Wenn Rousseau jedoch diese Notlösung als eine echte Alternative betrachtet, glaubt er dann nicht vielleicht doch an die Möglichkeit einer progressiven Regenerierung des politischen Körpers? Dies zumindest legt ein an zwei Stellen formulierter Ausblick nahe:

54 Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Re­ formierung“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 431–530, hier 510–511.

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Wenn nacheinander eine gewisse Anzahl Familien in einem Bezirk freigelassen wären, könnte man zur Freisprechung ganzer Dörfer übergehen, in ihnen allmählich Gemeinden bilden, ihnen, wie in der Schweiz, einiges Grundvermögen, ein paar Gemeindeländereien zuweisen sowie Gemeindebeamte einsetzen. Und wenn man stufenweise die Dinge soweit vorangebracht hätte, um ohne merklichen Umsturz den Vorgang im großen vollenden zu können, dann könnte man ihnen schließlich das von der Natur verliehene Recht zurückgeben, an der Verwaltung ihres Landes durch Entsendung von Abgeordneten in den Landtag teilzuhaben. […] Nach diesem Plan, der in seiner Ausführung abgestuft wäre als ein allmählicher Fortgang, den man je nach Erfolg oder Mißerfolg beschleunigen, verlangsamen oder sogar anhalten könnte, würde man nur nach eigenem Willen und geleitet durch Erfahrung vorwärtskommen. In allen niederen Ständen würde ein brennender Eifer, zum Gemeinwohl beizutragen, entfacht: man würde endlich alle Teile Polens mit neuem Leben erfüllen und so miteinander verbinden können, daß sie nur noch ein einziges Ganzes bilden, dessen Kräfte und Stärke im Vergleich zu den heutigen mindestens verzehnfacht wären, und dies bei dem unschätzbaren Vorteil, daß jede heftige, jähe Veränderung und die Gefahr von Revolutionen vermieden wären.55 Quand on auroit affranchi successivement un certain nombre de familles dans un canton, l’on pourroit affranchir des villages entiers, y former peu à peu des communes, leur assigner quelques biens-fonds, quelques terres communales comme en Suisse, y établir des officiers communaux, et, lorsqu’on auroit amené par dégrés les choses jusqu’à pouvoir, sans révolution sensible achever l’opération en grand, leur rendre enfin le droit, que leur donna la nature de participer à l’administration de leur pays en envoyant des députés aux Dietines. […] Sur ce plan, gradué dans son exécution par une marche successive qu’on pourroit précipiter, ralentir, ou même arrêter selon son bon ou mauvais succés, on n’avanceroit qu’à volonté, guidé par l’expérience, on allumeroit dans tous les états inferieurs un zéle ardent pour contribuer au bien public, on parviendroit enfin à vivifier toutes les parties de la Pologne, et à les lier de manière à ne faire plus qu’un même corps, dont la vigueur et les forces seroient au moins décuplées de ce qu’elles peuvent être aujourdhui, et cela avec l’avantage inestimable d’avoir évité tout changement vif et brusque et le danger des révolutions (OC III, 1026–1027, 1028).

Zur besseren Einordnung dieser Passagen gilt es zunächst zu bestimmen, worauf sie sich beziehen und welche Absicht ihnen zugrunde liegt. Thema sind hier nicht die Principes du droit politique als solche, sondern deren Anwendung auf einen konkreten historischen Fall, nämlich den Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um diese Differenz zu ermessen, bedarf es der Erkenntnis, dass 1) Rousseau für Polen eben jenes „System der Volksvertreter“ akzeptiert, das er im Contrat social strikt ablehnt, 2) dass er hier nicht wie sonst die Souveränität gegen die Verwaltung ausspielt, worauf sich diese Abweichung letztlich gründet, und 3) dass er für Polen sogar die Notwendigkeit eines Königs einräumt (das ist Gegenstand des nächsten Kapitels in den Considérations), obwohl er sich im Contrat social eigentlich weigert, in der Monarchie auch nur die geringste Art von „republikanischer Regierung“ („le gouvernement […] républicain“)56 zu sehen. Wir haben es hier folglich nicht mit zwei verschiedenen Modalitäten der Einsetzung einer legitimen Herrschaft zu tun ‒ einer

55 J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 513, 515. 56 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 82 (OC III, 410).



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graduellen und einer revolutionären ‒, sondern mit der Bestimmung des einzig möglichen Wegs, auf dem Polen zu der soliden politischen Gemeinschaft werden kann, die es jetzt noch nicht ist. Die Reichweite dieser Passagen auf den konkreten Anwendungsfall zu beschränken, soll aber nicht heißen, ihre Bedeutung zu schmälern. Ziel der Institutionen, die Rousseau für Polen vorsieht, ist die Erweckung und Beförderung „ein[es] brennende[n] Eifer[s], zum Gemeinwohl beizutragen“ („un zéle ardent pour contribuer au bien public“)57 – genau das also, was im Polysynodie-Projekt des Abbé de Saint-Pierre fehlte und es somit zur einer bloßen Utopie degradierte. In diesem „Eifer“ („zéle“), dessen Triebfeder der polnische Patriotismus ist, finden wir jene moralische Dimension wieder, ohne die sich kein Gemeinwille herausbilden kann. Was für Frankreich unmöglich, für Korsika realistisch ist, bewegt sich für Polen im Bereich des Möglichen. Daher kann es bei einer Reform der polnischen Institutionen nur darum gehen, diesen Möglichkeitsraum weiter auszudehnen. So erklärt sich auch die Spannung zwischen der Identität des Prinzips, das Rousseaus Reflexionen zu Korsika und Polen anleitet, und den unterschiedlichen Konsequenzen, die er in beiden Fällen daraus zieht. Im einen wie im anderen Fall ist es jeweils die von den einzelnen Mitgliedern ausgeübte Souveränität des Volkes, die den Horizont der Legitimität absteckt: die Lebenskraft der korsischen Landkreise auf der einen Seite, das Recht eines jeden Polen, an der Verwaltung seines Landes mitzuwirken, auf der anderen. Und dennoch bleibt es bei der Feststellung, dass die Revolution in dem einen Fall die Möglichkeitsbedingung der Institution der Freiheit ist und in dem anderen ein Gefahrenpotential darstellt: Es gilt, „die Gefahr von Revolutionen“ („le danger des révolutions“)58 zu vermeiden, um es dem polnischen Volk, das bisher „nichts“ war, zu ermöglichen „etwas“ zu werden.59 Weder handelt es sich um einen Widerspruch im Denken Rousseaus, noch um eine vermeintliche Weiterentwicklung seiner Position in dieser Frage. Vielmehr manifestiert sich hier ein konkreter politischer Erwartungshorizont, der sich aus den verschiedenen historischen Realitäten der beiden Völker ergibt: In dem einen Fall ist die Revolution Inbegriff der Gründung eines freien Volkes, in dem anderen wäre sie nichts anderes als zielloser Tumult, der die Sehnsucht nach Freiheit, die im polnischen Unabhängigkeitskampf durchscheint, ersticken würde. In diesen Texten, die sich durch ihren politischen Anwendungscharakter auszeichnen, kommt demnach der Bipolarität des Rousseau’schen Revolutionskonzepts, so wie es auf den letzten Seiten des zweiten Discours postuliert

57 J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 515 (OC III, 1028). 58 J.-J. Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen“, 515 (OC III, 1028). 59 Es ist zu vermuten, dass diese Formulierungen Sieyès zu seinen eigenen, so berühmten Passagen inspiriert haben. Vgl. Emmanuel Joseph Sieyès: „Was ist der Dritte Stand?“, in ders.: Politische Schriften 1788–1790, m. Glossar u. krit. Sieyès-Bibliogr., übers. u. hg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 1981, 117–195, hier 119.

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und im zweiten Buch des Contrat social weiter ausgearbeitet wurde, eine eminent kritische Funktion zu. Wenden wir uns abschließend noch einmal dem Eingangszitat aus dem Émile zu, von dem unsere Überlegungen ihren Ausgang genommen haben, und betrachten wir seinen Kontext etwas genauer. Im Verlauf des dritten Buches wird die Frage in den Raum gestellt, wie Émile seine Existenz sichern könne.60 Er kennt sich bereits bestens aus mit der Landwirtschaft, doch fehlt ihm, um ein Landwirt zu sein, noch ein Stück Land; das Problem beim Landbesitz ist jedoch, dass er einem auch wieder genommen werden kann. Der Beruf des Landwirts ist zwar „der ehrenhafteste“ („le plus noble“), doch jener der Handwerker ist „am wenigsten […] abhängig“ („la plus indépendante“). Daher ergeht der berühmte Aufruf des Lehrers an seinen Schüler: „Lern ein Handwerk!“61 Émile wird also Tischler. Als es darum geht, diese Ausbildung in Angriff zu nehmen, legt Rousseau Wert darauf, „Beruf“ („métier“) und „Stand“ („état“) zu unterscheiden. In der Erziehung, die er Émile angedeihen ließ, wurden die sozialen Stände ganz bewusst außer Acht gelassen: „Bisher habe ich die Menschen nicht nach Stand, Rang und Glücksgütern unterschieden und ich werde es auch in Zukunft nicht tun.“62 Dies hat zunächst einen ganz allgemeinen Grund: Es ist der „Beruf des Menschen“ („métier de l’homme“), der mit der Erziehung anvisiert wird: „Richtet die Erziehung des Menschen auf den Menschen aus und nicht nach dem, was er nicht ist.“63 Aber es gibt noch einen weiteren, konkreten Grund. Wer für einen bestimmten Stand erzogen wurde, kann in jedem anderen nur unglücklich werden: Ein adeliger Herr, der zum Landstreicher wird, ist lächerlich und verkommt zum Schurken, ein verarmter Reicher büßt seine Würde ein, wenn er sich in niederen Diensten bewähren muss. Nichts aber hängt mehr von den Wechselfällen des Zufalls ab, als die soziale Ordnung, die den Ständen zugrunde liegt: Ihr verlasst euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, daß sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und daß ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt. Der Große wird klein, der Reiche arm, der Monarch Untertan. Sind denn Schicksalsschläge so selten, daß ihr damit rechnen könnt, davon verschont zu bleiben? Wir nähern uns einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen. Wer kann sich für das, was aus euch wird, verbürgen? Alles, was der Mensch aufgebaut hat, kann er wieder zerstören. Unvergänglich ist nur die Natur, und sie bringt weder Fürsten noch Richter oder große Herren hervor.64

60 Rousseau spricht von „Selbsterhaltung“ („le soin de se conserver“). Siehe ders.: Emil, 191 (OC IV, 467). 61 J.-J. Rousseau: Emil, 194. „Apprends un métier“ (OC IV, 470). 62 J.-J. Rousseau: Emil, 191. „Jusqu’ici je n’ai point distingué les états, les rangs, les fortunes, et je ne les distinguerai guères plus dans la suite“ (OC IV, 468). 63 J.-J. Rousseau: Emil, 192. „Appropriez l’éducation de l’homme à l’homme et non pas à ce qui n’est point lui“ (OC IV, 468). 64 J.-J. Rousseau: Emil, 192 (OC IV, 468).



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Vous vous fiez à l’ordre actuel de la société, sans songer que cet ordre est sujet à des révolutions inévitables, et qu’il vous est impossible de prévoir ni de prévenir celle qui peut regarder vos enfans. Le Grand devient petit, le riche devient pauvre, le monarque devient sujet: les coups du sort sont-ils si rares que vous puissiez compter d’en être exempt? Nous approchons de l’état de crise et du siécle des révolutions. Qui peut vous répondre de ce que vous deviendrez alors? Tout ce qu’ont fait les hommes, les hommes peuvent le détruire: Il n’y a de caracteres inéfaçables que ceux qu’imprime la Nature, et la Nature ne fait ni princes, ni riches, ni grands Seigneurs (OC IV, 468–469).

Bettet man das fragliche Zitat, wie hier geschehen, in seinen Kontext ein, so führt es uns mitten in die Problematik des zweiten Discours. Die Revolution, mit der wir es hier zu tun haben, ist eine der sozialen Ordnung: Sie betrifft jene drei aufeinanderfolgenden Revolutionen, welche die Ungleichheiten des Reichtums, der Macht und des Ansehens ins Leben gerufen hat. Es handelt sich hier um eine allgemeine Erschütterung der sozialen Ordnung in ihren Fundamenten und nicht allein um eine (oberflächliche) Infragestellung der Regierungsformen; sie ist mehr eine gesellschaftliche denn eine politische Revolution. Doch beachte man auch die von Rousseau verwendeten Begrifflichkeiten etwas genauer: Wenn er von einem Zustand der Krise und von einem Jahrhundert der Revolutionen im Plural spricht, handelt es sich dabei wirklich um einen Hinweis auf jene große Revolution, welche – nach dem Modell des zweiten Buches (Kapitel VIII) des Contrat social – die soziale Ordnung, gleich einem Phönix aus der Asche, wiederauferstehen lässt? Wohl kaum. Ein Zustand impliziert stets eine Dauer; eine „Krise“ („état de crise“) ist ein Zustand permanenter Unruhen, und Revolutionen, die sich wiederholen, sind Revolutionen, die scheitern, die sich unfähig erweisen, eine neue Ordnung zu schaffen. Nichts anderes besagt denn auch folgende Fußnote: Ich halte es für unmöglich, daß die großen Monarchien Europas noch lange bestehen werden. Sie haben alle geglänzt, aber jeder Staat, der glänzt, befindet sich auf dem Abstieg. Ich habe noch bessere Gründe für meine Meinung als diese Maxime, aber es ist nicht ratsam, sie auszusprechen. Jeder kennt sie nur zu gut.65 Je tiens pour impossible, que les grandes monarchies de l’Europe aient encore long-tems à durer; toutes ont brillé, et tout Etat qui brille est sur son déclin. J’ai de mon opinion des raisons plus particuliéres que cette maxime; mais il n’est pas à propos de les dire, et chacun ne les voit que trop (OC IV, 468).

Dieses Mal besteht kein Zweifel daran, dass Rousseau hier auf das Kapitel VIII des zweiten Buches des Contrat social verweist, in welchem er diese allgemeine Maxime aufgestellt hatte. Die großen Monarchien haben ein solches Stadium des Despotis­ mus und der Korruption erreicht, dass eine große Revolution ihnen fortan versagt ist. Zu erwarten ist nur noch ihre Auflösung in Anarchie und ein Kreislauf unproduktiver

65 J.-J. Rousseau: Emil, 192 (OC IV, 468).

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Revolutionen und Unruhen, der diesen Auflösungsprozess unweigerlich begleiten wird. Wenn schon bei Rousseau von einer Prophezeiung oder einer politischen Dia­ gnose die Rede sein soll, so besteht diese nicht etwa in der Ankündigung ‚der‘ Revo­ lution, sondern in der Vorhersage einer langen Periode (eines Jahrhunderts) sozialer und politischer Umbrüche, denen er nicht zutraut, eine Erneuerung der Gesellschaft welcher Art auch immer herbeizuführen. Ob diese Prognose zutreffender ist als jene, die man ihm gemeinhin zugeschrieben hat? Dazu möchte ich mich hier nicht einlas­ sen. Fest steht jedenfalls, dass er, um eine solche Prognose stellen zu können, alle Ebenen der Reflexion mobilisiert, die er seit dem ersten Discours zum Begriff der Revolution angestellt hatte; in der Zusammenschau bilden diese die Grundlage für eine ausgreifende Theorie des sozialen und politischen Wandels, der aus meiner Sicht bisher nur ungenügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Aus dem Französischen übersetzt von Aleksandra Ambrozy

Harald Bluhm

Burke und Rousseau über institutionellen Wandel Schichten eines Gegensatzes1 Der Republikaner Rousseau, dessen im Horizont von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität formulierte politische Theorie ihn zu einem der geistigen Väter der Französischen Revolution avancieren ließ, hat mit Edmund Burke, dem konservativliberalen Verteidiger der parlamentarischen Monarchie, auf den ersten Blick wenig gemein. Zwar beginnen beide ihre Karriere als Außenseiter, doch schlagen sie ganz unterschiedliche Wege ein: Während der eigensinnige Zivilisationskritiker Rousseau sich als Philosoph und Schriftsteller einen Namen macht und in den illustren Pariser Salons zeitweise Prominentenstatus genießt, reüssiert der irisch-stämmige Burke – der dem Franzosen an Eigensinn und Prominenz nicht nachsteht – als politischer Denker, Philosoph, Politikberater und Parlamentarier. Die unterschiedlichen Lebenswege haben auch Einfluss auf die von beiden geübte Institutionenkritik. Denn im Unterschied zu Rousseau, dem stolzen Genfer Bürger, der zwar Verfassungen entwarf, aber nie ein politisches Amt bekleidete und politische Prozesse nur publizistisch von außen zu steuern suchte, wirkte der in der politischen Klasse Englands verankerte Praktiker Burke von innen heraus an der Umgestaltung der etablierten politischen Institutionen in Großbritannien mit. Infolge seines politischen Engagements machte sich Burke nicht nur als Verteidiger des britischen Institutionensystems und seiner sozialen Grundlagen einen Namen, sondern auch als vehementer Kritiker der Französischen Revolution und ihrer Protagonisten, von denen nicht wenige sich als geistige Erben Rousseaus verstanden. Nicht zuletzt aufgrund dieses von vielen Interpreten zudem bewusst stilisierten und zugespitzten Gegensatzes steht der eine, Rousseau, heute in dem Ruf, das Muster eines revolutionären institutionellen Wandels zu favorisieren, während dem anderen, Burke, nachgesagt wird, er sei Anhänger eines evolutionären Wandels. Ich möchte demgegenüber erstens zeigen, dass und wie dieser vermeintliche Gegensatz durch eine wirkungsmächtige Rousseau-Lesart schon von Burke selbst inszeniert wurde, und welche werkgeschichtlichen Differenzierungen zu beachten sind, wenn man der von Burke ausgelegten Fährte nicht blindlings folgen will. Über das Freilegen verschiedener Schichten hinaus will ich zweitens aufzeigen, dass ein zu strikt gedachter Gegensatz zwischen dem bekennenden Institutionalisten Burke und dem (vermeintlichen) Anti-Institutionalisten Rousseau systematische Gemeinsamkeiten beider Autoren in Fragen des Verständnisses von institutionellem Wandel ebenso verdeckt wie deren maßgebliche Quellen und Voraussetzungen.

1 Ich danke Karsten Malowitz und Rainer Schmalz-Bruns für Hinweise und Kritiken.

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 Harald Bluhm

Mein ideengeschichtlicher Essay zur Kontroverse zwischen Burke und Rousseau hat mehrere Voraussetzungen: Theoretisch nutze ich die Unterscheidung von normativer politischer Theorie und politischem Denken, wobei unter Ersterer eine systematisierte Theorie verstanden wird, die die Bedingungen der Möglichkeit von normativen Ideen erörtert, sie begründet, auf ihre Geltung hin diskutiert und diagnostisch ausmünzt. Politisches Denken hingegen steht für einen weniger systematischen Zugang, der meist stärker beim Gegebenen und diagnostischen Motiven ansetzt und um diese kreist.2 Dieser Gegensatz ist nicht strikt und im Falle von Rousseau, der für die Systembauten an normativer Theorie von Kant und Hegel wegweisend war, muss er eingeschränkt werden, denn so sehr der Genfer in dieser Linie steht, ist er doch primär Problemdenker, der in immer neuen Anläufen sein Projekt durchdenkt und variiert. Burke hingegen kommt aus dem praktischen Feld und denkt auf dieses hin, aber das heißt nicht, dass es keine systematischen Linien in seinem Denken gibt, vielmehr stecken solche in seinem ästhetischen Frühwerk, wie ich noch zeigen werde. Darüber hinaus schließe ich an jüngere Revisionen im Verständnis von Rousseaus Beziehung zur Revolution und der Terreur an, die seinen geistigen Einfluss auf die Revolutionäre vermittelter begreifen und teilweise sogar ganz auflösen.3 Burkes Kritik an Rousseau erscheint in dieser veränderten Perspektive als eine Art Vorwegnahme späterer totalitarismustheoreti­scher Rousseau-Deutungen, die sein Werk in eine zu enge Beziehung zur Revolution und der Terreur setzt. Es lohnt sich allerdings, Burkes wiederholte Kritik an Rousseau näher zu betrachten und werkgeschichtlich verschiedene Phasen der Kritik zu differenzieren. Dafür bietet die jüngere angelsächsische Burke-Forschung (eine nennenswerte deutsche Burke-Forschung gibt es momentan nicht) viele Anstöße.4 In dieser Forschung sind die politischen und theoretischen Voraussetzungen der in den Reflections on the French Revolution vorgebrachten Rousseau-Kritik umfassend geklärt und zugleich wichtige Anstöße zu ihrer

2 Zum politischen Denken als Oberbegriff vgl. Henning Ottmann: „In eigener Sache: Politisches Denken“, in Politisches Denken Jahrbuch 1995/96, hg. v. Henning Ottmann u. a., Stuttgart 1996, 1–8. Den Gedanken, normative politische Theorie deutlich enger und generell als Rekonstruktion der Be­ dingungen der Möglichkeit zu lesen, verdanke ich Rainer Schmalz-Bruns. Eine analytische Unter­ scheidung von politischer Theorie im genannten Sinne und politischem Denken, das dann enger und unter Ausschluss dieser Form von Theorie gefasst wird, nutzt politisches Denken nicht primär als Oberbegriff für alle Formen der mehr oder weniger systematisierten Form politischer Betrachtungen. 3 Vgl. u. a. Holger Ross Lauritsen/Mikel Thorup (eds.): Rousseau and Revolution, London 2011 sowie den Ausstellungskatalog zum 300. Jubiläum von Rousseaus Geburtstag Rousseau et la Révolution, Paris 2012. 4 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Hennig Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. III: Neuzeit, Teilband III: Die politischen Strömungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 2008, 4–15, und von Robert Zimmer: Edmund Burke zur Einführung, Hamburg 1995. Zur angelsächsischen Forschung und ihrem Potential für eine politiktheoretische Burke-Deutung vgl. Harald Bluhm: „Romantische Motive in Edmund Burkes Revolutionskritik“, in Klaus Ries (Hg.): Romantik und Revolution. Zum politischen Reformpotential einer unpolitischen Bewegung, Heidelberg 2012, 115–139.



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weiteren Analyse gegeben worden. Eine solche Untersuchung soll im Folgenden mit Blick auf den zentralen Streitpunkt der Auseinandersetzung, nämlich die Institutionenauffassungen der beiden Autoren und deren jeweiligen theoretischen Rahmen, unternommen werden. Ich gehe dazu in drei Schritten vor. Zuerst (I.) skizziere ich, wie Burke zu seiner wirkungsgeschichtlichen Lesart Rousseaus kommt und was sie beinhaltet. Anschließend (II.) erkunde ich in einem längeren Abschnitt Quellen theoretischer Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Burke und Rousseau. Der Exkurs (III.) zum Eigentum als Basisinstitution der modernen Gesellschaft soll in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Gegensatz exemplifizieren. Das abschließende Resümee (IV.) sucht die Ergebnisse der Untersuchung zu bergen.

1 Burkes wirkungsgeschichtliche Lesart von Rousseau In seinem Werk hat Burke Rousseau nachträglich und primär aus wirkungsge­schicht­ lichen Motiven zum Vater eines voluntaristischen ‚Jakobinismus‘ und zu einem Anti-Institutiona­listen stilisiert.5 In den Erläuterungen zu Burkes Kritik werden zwei Gesichtspunkte allerdings nur selten beachtet: Zum einen, dass Rousseau in den Reflections on the Revolution in France (1790, im Folgenden Reflections) nur eine Nebenrolle spielt; ins Zentrum der Auseinandersetzung rückt der Genfer ab Burkes rascher Antwort auf Kritiken an den Reflections ab Januar 1791 sowie schließlich weiter zugespitzt in den Briefen zum Regicide Peace (1796; 3. Brief 1797). Tatsächlich erfährt Burkes Kritik an Rousseau im Zeitraum zwischen 1791 und 1796 eine erhebliche Radikalisierung. Fragt man nach den Ursachen dieser Verschiebung, fällt auf, dass Burkes Kritik von dem Moment an immer schärfer wird, in dem die französischen Revolutionäre dazu übergehen, Rousseau in einen säkularen Heiligen zu verwandeln, indem sie Statuen von ihm aufstellen und die Lektüre seiner Schriften propagieren.6 Kritisiert Burke in den Reflections (November 1790) noch recht nüchtern den „acci-

5 Burke hält selbst fest, dass er Rousseau von dessen Wirkung her liest: „However, I less consider the author than the system of the Assembly in perverting morality through his means.“ Edmund Burke: „Letter to a Member of the National Assembly“, in ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, gen. ed. Paul Langford, Vol. VIII: The French Revolution 1790–1794, Oxford 1989, 294–335, hier 318. 6 Capel Lofft, Anwalt und Gelegenheitsautor, verteidigt Rousseau gegen Burkes Angriffe, mit ex­ plizitem Bezug auf die Reflections und den Brief an ein Mitglied der Nationalversammlung (19ff.), und weist in genereller Form die Identifikation von Rousseau mit dessen selbsternannten Schülern zurück, wie übrigens – auf ihre Weise – auch Mary Wollstonecraft. Lofft vergleicht außerdem die He­ loise mit Richardsons Clarissa. Auf S. 49 erklärt er Rousseau schließlich zu „one of the first Writers“. Capel Lofft: Remarks on a Letter of Mr. Burke to a Member of the National Assembly, London 1791. Vgl. dazu auch Lynn Hunt: Inventing Human Rights. A History, New York, London 2007. Beachtung ver­ dient in diesem Zusammenhang vor allem das erste Kapitel, in dem sie über die politische Bedeutung von Romanen und den Wandel in der Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts schreibt.

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dental effect“, den Rousseaus Rhetorik auf die Revolutionäre gehabt hätte, während er gleichzeitig auch andere Aufklärer wie Helvétius attackiert,7 so beklagt er wenige Monate später im Letter to a Member of the National Assembly (1791) bereits lautstark den Umsturz der Moral durch den „insane Socrates of the National Assembly“.8 1796, in Burkes letzter Stellungnahme zu Rousseau, gilt der Autor des Contrat social ihm schließlich vollends als geistiger Vater der Königsmörder und als Inbegriff der Verbindung von „Jacobinism, and of atheism […] a correspondent system of manners“.9 Burkes Stilisierung von Rousseau zum verantwortlichen Urheber einer „bewaffneten“ Doktrin und zum Vordenker französischer Expansion ist also stark durch die politischen Umstände motiviert.10 Wie Iain Hampsher-Monk zu Recht herausgestellt hat, sind es erst diese Stellungnahmen, die Burke von einem konservativen zu einem konterrevolutionären Denker mutieren lassen.11 Nach dem Bruch mit dem Parteifreund und Oppositionspolitiker Charles James Fox im Jahr 1791 erfolgt bei Burke eine Radikalisierung, die mit einer noch entschiedeneren Verteidigung von Englands bestehender Ordnung sowie der Forderung nach einem Krieg gegen die Königsmörder einhergeht – eine Entwicklung, die durch die nahezu ausschließliche Fixierung vieler Interpreten auf die Reflections oft geradezu verdeckt wird. Vor diesem Hintergrund gilt es festzuhalten, dass Rousseau die Antwort auf Vorwürfe, er sei ein revolutionärer Aufrührer, seinerseits bereits in den Dialogues (1772–1775) vorweg genommen hat, wo er – über sich selbst in der dritten Person sprechend – schreibt: „Sie fingen damit an, daß sie alle seine Grundsätze entstellten, indem sie einen strengen Republikaner in einen aufrührerischen, unruhigen Kopf, seine Liebe zur gesetzlichen Freiheit in eine zügellose Willkür und seine Ehrfurcht vor den Gesetzen in Fürstenhaß verwandelten.“12 Wenig später verwahrt er sich im

7 Edmund Burke: „Reflections on the Revolution in France“, in ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, gen. ed. Paul Langford, Vol. VIII: The French Revolution 1790–1794, Oxford 1989, 53–293, hier 137, 181f.; dt.: ders./Friedrich Gentz: Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, hg. u. m. e. Anhang vers. v. Hermann Klenner, Berlin 1991, 177. Dort heißt es: „Wir sind nicht Rousseaus Proselyten, wir sind nicht Voltaires Schüler: Helvétius hat keinen Eingang bei uns gefunden.“ 8 E. Burke: „Letter to a Member of the National Assembly“, 314 9 Edmund Burke: „Letters on a Regicide Peace“, in ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, gen. ed. Paul Langford, Vol. IX: I. The Revolutionary War 1794–1797, II. Ireland, Oxford 1991, 187–386, hier 242 (Hervorh. i. Orig., Harald Bluhm). 10 Sie wird in dem Maße zugespitzt, wie sich im revolutionären Frankreich der Rousseau-Kult mani­ festiert. Erst dann schreibt Burke über die Revolutionäre: „Rousseau is their canon of holy writ.“ E. Burke: „Letter to a Member“, 312. 11 Iain Hampsher-Monk: „Burke’s Counter-Revolutionary Writings“, in David Dwan/Christopher J. Insole (eds.): The Cambridge Companion to Edmund Burke, Cambridge 2012, 209–220. 12 Jean-Jacques Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, in ders.: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Bd. II, Frankfurt/Main 1988, 253–636, hier 515. „Ils commencerent par dénaturer tous ses prin­ cipes, par travestir un républicain severe en un brouillon séditieux, son amour pour la liberté légale



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gleichen Text dagegen, Aufruhr und Umwälzungen das Wort geredet zu haben. Seine Adressaten, so Rousseau weiter, seien vor allem die kleinen Staaten, zudem wolle er die Welt nicht in die Barbarei zurückstoßen, vielmehr habe er „im Gegenteil immer die Erhaltung der einmal bestehenden Institutionen gefordert und behauptet, dass ihre Zerstörung nur die Linderungsmittel wegnehmen, die Laster aber lassen und so statt der Verderbnis Räuberei einführen würde“.13 Ebenso sehr hat Rousseau sich stets dagegen verwahrt, als anti-institutioneller Denker verstanden zu werden. Das klassische Zitat im neunten Buch der Confessions lautet: Von den verschiedenen Werken, an denen ich arbeitete, waren meine ‚Staatlichen Einrichtungen’ dasjenige, über das ich bisher am meisten und mit der größten Lust nachgedacht hatte, an dem ich mein ganzes Leben lang arbeiten wollte und das, wie ich hoffte, meinem Rufe die Krone aufsetzen sollte. Es war schon dreizehn oder vierzehn Jahre her, daß mir die ersten Gedanken dazu eingefallen waren, als ich bei meinem Aufenthalt in Venedig Gelegenheit fand, die Mängel jener so gerühmten Regierung zu bemerken. Seitdem hatte sich meine Einsicht noch beträchtlich durch das Studium der Geschichte der Moral geweitet. Ich hatte gesehen, daß alles völlig von der Staatskunst abhing und daß jegliches Volk, wie man es auch anstellen wollte, niemals etwas anderes sein würde als das, wozu die Natur seiner Regierung es machte […].14 Des divers ouvrages que j’avois sur le chantier, celui que je méditois depuis plus longtems, dont je m’occupois avec le plus de gout, auquel je voulois travailler toute ma vie, et qui devoit selon moi mettre le sceau à ma réputation étoit mes Institutions politiques. Il y avoit treize à quatorze ans que j’en avois conceu la prémiére idée, lorsqu’étant à Venise j’avois eu quelqu’occasion de remarquer les défauts de ce Gouvernement si vanté. Depuis lors, mes vues s’étoient beaucoup étendues par l’étude historique de la morale. J’avois vu que tout tenoit radicalement à la politique, et que, de quelque faҫon qu’on s’y prit, aucun peuple ne seroit jamais que ce que la nature de son Gouvernement le feroit être (OC I, 404).

Institutionen, vornehmlich politische, aber auch gesellschaftliche und kulturelle, sind für den Zivilisationskritiker Rousseau also wesentliche Voraussetzungen der menschlichen Existenz, auch wenn er viele der Einrichtungen seiner Zeit für künstlich, repressiv oder zumindest problematisch hält. Darüber hinaus wird die Frage, wie Burke 1789 so rasch erkennen konnte, was die Konsequenzen der Revolution sein würden, auch heute noch oft ohne Kenntnis der jüngeren angelsächsischen Burke-Forschung15 diskutiert, welche die hierzulande gern ignorierten Voraussetzungen für seine ‚Prophetie in aller Deutlichkeit heraus-

en une licence effrenée, et son respect pour les loix en aversion pour les Princes“ (OC I, 887). Alle Ori­ ginalzitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, V tomes, Paris 1959–1995, kurz: OC I bis OC V (Anm. d. Verf.). 13 J.-J. Rousseau: „Rousseau richtet über Jean-Jacques“, 570 (OC I, 935). 14 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, übertr. v. Ernst Hardt, Leipzig 1955, 515. 15 Vgl. H. Bluhm: „Romantische Motive“, 116.

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gearbeitet hat: So war Burke nach den Wilkes-Debatten in den 1770er Jahren und der Auseinandersetzung um die Gordon Riots Anfang der 1780er Jahre gedanklich schon darauf vorbereitet, einen gewaltsamen Umsturz erklären und deuten zu können. Wie sehr die zeitgenössischen englischen Debatten über diese Ereignisse und die mit ihnen einhergehende Mobilisierung der allgemeinen Öffentlichkeit ihn beschäftigt und geprägt haben, möchte ich nachfolgend knapp umreißen. Die Relevanz der in den 1770er Jahren beginnenden Debatte um den Freiheitshelden und Lebemann John Wilkes für Burke hat Christopher Reid rekonstruiert.16 Die der Debatte zugrundeliegenden Fakten lassen sich rasch resümieren. Der unkonventionelle Lebemann Wilkes gilt als Freiheitsheld, der sich für die Pressefreiheit eingesetzt hat. Ihm ist dann bei Wahlen mehrfach das gewonnene Mandat aberkannt worden. Am Ende aber musste seine Wahl in Middlesex anerkannt werden. Burke diagnostiziert in dieser Debatte, an der er sich aktiv beteiligt hat, einen Wandel der Öffentlichkeit. Kennzeichnend für diesen Wandel ist nicht einfach die Entstehung einer neuen demokratischen Öffentlichkeit, die über die verhältnismäßig kleine, auf die Schicht der Wahlberechtigten beschränkte parlamentarische Öffentlichkeit (eine Wählerschaft von ca. 400.000) hinausreicht, sondern auch die Herausbildung einer plebejischen Teilöffentlichkeit, die sich massiv bemerkbar macht und den Lebemann und Frauenhelden Wilkes in außerparlamentarischen Aktivitäten und Massenmobilisierungen als Freiheitshelden feiert. Burke begreift diesen Wandel mit ästhetischen Kategorien und spricht von den Protesten als einem counter-theatre. Damit will er, der selbst ein dramaturgisch-rhetorisches Politikmodell nutzt,17 verdeutlichen, dass es sich um ein künstlich inszeniertes Geschehen handelt. Die Gordon Riots vom Juni 1780, die Burke unmittelbar erlebt, stellen eine weitere gravierende Erfahrung von Massenmobilisierung und gewaltsamen Protesten der Unterschichten dar, die ebenfalls prägende Wirkung hat.18 Vorausgegangen war den Gordon Riots eine seitens der Regierung betriebene vorsichtige Öffnung von Ämtern für Katholiken. Nach dem Bekanntwerden dieser Maßnahme setzt sich der Seeoffizier Lord Gordon öffentlich für deren Rücknahme ein. Die von ihm eingereichte Petition weist nicht weniger als 45.000 Unterschriften auf und stößt auf große öffentliche Resonanz. Am 2. Juni 1780 kommt es zu einem Aufstand in London, an dem sich nach Schätzungen zwischen 40.000 und 60.000 Personen beteiligen. Im Zuge der Proteste werden unter anderem katholische Haushalte verwüstet sowie die Bank

16 Vgl. Christopher Reid: Edmund Burke and the Practice of Political Writing, Dublin u. a. 1985, Part III. Vgl. zudem die exzellente Biographie von Arthur H. Cash: John Wilkes. The Scandalous Father of Civil Liberty, New Haven, London 2006. 17 Vgl. Paul Hindson/Tim Gray: Burke’s Dramatic Theory of Politics, Aldershot u. a. 1988; H. Bluhm: „Romantische Motive“, 121ff. 18 Vgl. dazu David Bromwich: The Intellectual Life of Edmund Burke. From the Sublime and Beautiful to American Independence, London 2014, 348–350, 383–386 und Jesse Norman: Edmund Burke. The Visionary Who Invented Modern Politics, London 2013, 99f.



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von England und Gefängnisse angegriffen. Auch Burke, der sich in London nicht versteckt, sondern erhobenen Hauptes seiner Wege geht, wird heftig angefeindet.19 Der Einsatz der Armee, der am 5. Juni beginnt, beendet schließlich innerhalb von zehn Tagen die Unruhen. Am Ende der Riots sind rund 500 Tote und noch weitaus mehr Verletzte zu beklagen. Darüber hinaus kommt es zu zahlreichen Verhaftungen und Prozessen, wobei der namensgebende Initiator der Proteste, Lord Gordon, allerdings frei bleibt. Mit Blick auf das Ausmaß der Unruhen schreibt Uwe Böker: „We have to bear in mind that the riots of 1780 were the most severe excesses in England during the 18th and 19th centuries“.20 Von Bedeutung für den hier interessierenden Zusammenhang sind nun weder die Verhaftung und Verschonung Gordons, noch dass Burke sich und seiner Linie auch in diesem Fall treu bleibt und für Mäßigung im Umgang mit den Aufrührern plädiert, sondern die politiktheoretischen Konsequenzen, die Burke aus den Riots zieht. Die wichtigste dieser Konsequenzen besteht in der allgemeinen Diagnose, nach der die größte Gefahr für die politische Ordnung nun nicht mehr von radikalen Sprechern einer sich etablierenden außerparla­mentarischen Öffentlichkeit ausgeht, sondern von der Mobilisierbarkeit politisierter Massen. Solche Massenmobilisierungen, wie im Fall der Spektakel um Wilkes und der Gordon Riots, gelten Burke nicht nur als emotive, sondern zudem auch als höchst irrationale Formen der Vergemeinschaf­ tung, auf die sich nicht primär mit Vernunftgründen antworten lässt. Als Folge dieser Einsicht erfährt die ohnehin schon beträchtliche Skepsis gegenüber demokratischen Bewegungen eine nochmalige Steigerung. Statt eines Ausbaus demokratischer Parti­ zipationsmöglichkeiten betont Burke nun die stabilisierende Funktion symbolischer Integrationsformen und die Relevanz tradierter Sitten. Aus Sicht der neueren Inter­ preten revidiert er damit sein bis dahin weitgehend elitäres, am Typus des Gentleman orientiertes Politikkonzept. Noch stärker als bisher sieht Burke sich gezwungen, nach der politischen Bedeutung von Emotionen und Affekten zu fragen, was dazu führt, dass neben der bereits etablierten Relevanz des Schönen für die Politik (vertraute Ordnung, überkommene Werte und Symbole) nun auch die Kategorie des Erhabenen auf neue Weise für sein Denken wichtig wird. So haben Stephen K. White und Frans de Bruyn gezeigt, dass nun, nach der Wilkes-Affäre und den Gordon Riots, das „false sublime“21 für Burke zu einem wichtigen Thema wird; das heißt, das Erhabene wird

19 Vgl. D. Bromwich: Intellectual Life, 386. Die nachfolgenden Zahlenangaben entnehme ich J. Nor­ man: Edmund Burke, 99f. 20 Uwe Böker: „,The People that the maddest times were ever plagued with‘. English Justice and Fair Trials after the Gordon Riots (1780)?“, http://webdoc.gwdg.de/edoc/ia/eese/artic23/boeker/5_2003. html (19.07.2015). 21 Stephen K. White: Edmund Burke. Modernity, Politics, and Aesthetics, Thousand Oaks/CA 1994, 74f.; ähnlich auch Iain Hampsher-Monk: „Rhetoric and Opinion in the Politics of Edmund Burke“, in History of Political Thought 9/3 (1988), 455–484, sowie Frans de Bruyn: The Literary Genres of Edmund Burke: The Political Uses of Literary Form, Oxford 1996.

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jetzt von Burke nicht mehr nur als Kategorie legitimer Politik betrachtet, sondern erfährt – mit Blick auf das Phänomen des counter-theatre – auch als Kategorie ille­ gitimer Politik Berücksichtigung. Der Sache nach grenzt Burke in diesem Kontext das authentische Erhabene von einem falschen Erhabenen beziehungsweise einem Pseudo-Erhabenen ab. Seinen Ort hat Letzteres nach Burke bei Kundgebungen, Auf­ ständen und Unruhen, also bei radikaler Politik, wo es seine mobilisierende Kraft entfaltet. Es fordert die legalen, etablierten Formen der Politik heraus und basiert auf künstlichen, spektakulären Formen politischer Inszenierung, die das rationale Wesen politischen Handelns unterlaufen. Statt sich als abwägendes Agieren in institutionel­ len Kontexten zu vollziehen, wird Politik auf diese Weise vielmehr entgrenzt. Dieser nicht mehr nur auf exklusive Räume und Akteure bezogenen Form der Politik gilt es Burke zufolge in zweifacher Hinsicht entgegenzutreten. Einesteils mit einer Politik des großen Stils und der Tugendhaftigkeit, die geeignet erscheint, den falschen Cha­ rakter des Pseudo-Erhabenen zu entlarven, und anderenteils mit einer Politik, die nicht nur das Recht und die Institutionen verteidigt, sondern darüber hinaus auch wert- beziehungsweise traditionsgebunden agiert und inszeniert. Auf diese Weise soll die affektive Bindung der Menschen an die bestehende politische Ordnung ermög­ licht und aufrechterhalten werden. Systematisch birgt Burkes Konzept Untiefen in sich, denn er kennt auch „wohltätige Täuschungen“ und „köstliche Nebenideen“,22 für die es keine einfachen Kriterien der Zuordnung zum angemessenen oder falschen Erhabenen gibt. Sachlich handelt es sich um eine ästhetisch angelegte Kritik von Populismus und massenmobilisierender Politik, die leicht den Akteuren entgleitet, die sie ins Werk setzen. Stephen K. White hat diese Erkenntnisse und den neuen Aus­ gangspunkt trefflich resümiert: „when the French revolution breaks out in 1789, Burke is in a fundamental conceptual sense ready for it. He understands what kind of under­ lying affective orientations a people must have toward its traditional institutions.“23 Die politischen Kritikpunkte, die Burke in den Reflections dann vor diesem Hintergrund gegen Rousseau vorbringt, werden vor allem an einem von dessen englischen Schülern, nämlich Richard Price, exemplifiziert, wobei Burke zusammen mit Price auch noch andere Kritiker der bestehenden britischen Ordnung erledigen zu können meint, wie etwa Mary Wollstonecraft, Thomas Paine oder Catharine Macaulay.24 Burkes politiktheoretische Offensive zur Kritik der Französischen Revolution

22 Vgl. dazu Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fik­ tive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt/Main 2007, 251. 23 S. K. White: „Modernity“, 56. 24 Die großartige Macaulay, eine republikanische Gegenspielerin Burkes, war ihm schon mehrfach entgegengetreten (u. a. mit den Observations on a Pamphlet, entitled, „Thoughts on the Cause of the Present Discontent“). Vgl. dazu Vera Nünning: A Revolution in Sentiments, Manners, and Moral Opin­ ions. Catharine Macaulay und die politische Kultur des englischen Radikalismus 1760–1790, Heidelberg 1998. Nünning zeigt, dass Burke vor dieser eindrucksvollen Pamphletistin erheblichen Respekt hatte: „Burke hielt die Observations für sehr wirkungsvoll und machte nur einen halbherzigen Scherz, als er



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und zur Verteidigung des britischen status quo richtet sich in erster Linie gegen folgende Punkte: Die Idee unmittelbarer Volkssouverä­nität, eine abstrakte und nicht institutionell gehegte Auffassung von Freiheit, einen radikalen Subjektivismus, die von politischer Praxis unbefleckte Vorstellung einer voluntativ gestaltbaren Ordnung sowie die Ablehnung gradualistischer Reformstrategien zugunsten eines revolutionären Umbaus von Staat und Gesellschaft, der auch den Einsatz gewaltsamer Mittel zulässt. Soweit Burke explizite Kritik an Rousseau übt, macht er diese allerdings nicht an dessen politischen Texten fest, sondern vor allem an der Nouvelle Héloïse und den Confessions, in denen Burke die wichtigsten Quellen einer neuen nicht-christlichen Moral erkennt, die er zugleich als Moral der Eitelkeit verurteilt. In diesem Sinn deutet Burke Rousseau als den für die Französische Revolution verantwortlichen Theoretiker, dessen Auffassungen geradezu zwangsläufig die Terreur zur Folge haben mussten. Im Gegensatz zu den späteren totalitarismustheoretischen Deutungen Rousseaus25 setzt Burkes Kritik allerdings nicht an dessen radikalem Demokratiekonzept an, sondern an den moralphilosophischen Grundlagen desselben. „Rousseau“, so lautet Burkes Urteil, „is a moralist or he is nothing“.26 Die offensichtliche Strategie der Personalisierung und der Deutung von der Wirkungsgeschichte her, die den Autor retrospektiv für vermeintliche praktisch-politische Folgen seiner theoretischen Entwürfe verantwortlich macht, wird von Burke in den kommenden Jahren sogar noch weiter gesteigert. Denn mit voller Wucht wird Rousseau erst in den Letters on a Regicide Peace von 1796 attackiert.27 Hier wird die trinitarische Formel von „Regicide, Jacobinism, Atheism“ geprägt.28 Zugleich findet sich jedoch im selben Text, was leicht übersehen wird, eine Passage, in der auch eine große gedankliche Nähe der beiden Antipoden aufscheint, nämlich die bereits erwähnte Aussage: „Manners are of more importance than laws.“29 Dieser Satz ist sachlich wichtig, weil er den großen theoretischen Stellenwert der Sitten im Denken Burkes zum Ausdruck bringt; er ist aber auch für die Stoßrichtung seiner Polemik gegen Rousseau von Bedeutung, denn nur mit Blick auf die Folgen für die Sitten und die Moral kann Burke von Rousseau behaupten, er sei der geistige Vater der franzö-

einer seiner Bewunderinnen schrieb ‚I have been afraid to answer her‘ [Macaulay, H. B].“ V. Nünning: Revolution in Sentiments, 228. 25 Z. B. Jacob Talmon: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, i. Dt. übertr. v. Efrath B. Kleinhaus, Köln, Opladen 1961, Kap. 3 und Ernst Fraenkel: „Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie“ [1964], in ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Alexander von Brünneck, Bd. V: Demokratie und Pluralismus, Baden-Baden 2007, 256–280. 26 E. Burke: „Letter to a Member“, 313. 27 Von den vier Briefen wurden am 26.10.1796 zunächst nur zwei veröffentlicht, die anderen beiden wurden erst posthum ediert. 28 E. Burke: „Regicide Peace“, 240. 29 E. Burke: „Regicide Peace“, 242.

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sischen „compleate revolution“,30 die sich nicht auf die Politik beschränke, sondern beabsichtige, die ganze Gesellschaft und Kultur von Grund auf neu zu gestalten. Die Pointe von Burkes politisch motivierter Lesart Rousseaus besteht also in dem Vorwurf, der radikale Zivilisationskritiker habe die Mittel zur Untergrabung der Sitten bereitgestellt. Dieser Hauptvorwurf Burkes an die Adresse Rousseaus bedarf allerdings der Kontextualisierung, um ihn angemessen verstehen zu können. So müssen Burkes Überlegungen im Zusammenhang eines größeren Sittendiskurses verstanden werden, der für das zeitgenössische Verständnis von Gesellschaft und Politik ebenso wichtig ist wie die intensiv geführte Debatte um die commercial society. Von zentraler Bedeutung ist dabei das doux-commerce-Argument, an dessen Ausarbeitung und Popularisierung neben Adam Smith und David Hume auch andere Autoren aus Burkes Bekanntenkreis beteiligt waren. Dieses Argument besagt, wie insbesondere Albert O. Hirschman sehr schön herausgearbeitet hat,31 dass der Handel die Sitten verfeinert und somit auf lange Sicht eine gleichermaßen zivilisationsfördernde wie kriegshemmende Wirkung entfaltet. Burke nimmt nun – wie John G. A. Pocock einmal treffend bemerkt hat – förmlich eine Inversion dieses Argumentes vor.32 Für ihn passen sich die Sitten nicht den Institutionen an, vielmehr sind es die Sitten, die die Grundlage der Institutionen und des Reichtums bilden. Ihr gradueller Wandel – und nicht der fortschreitende Handel – gilt ihm als Basis für den gesamten evolutionären gesellschaftlichen Wandel, den Burke in Maßen durchaus befürwortet. Da die Sitten und mit ihnen auch die Tugenden bei Burke insgesamt in eine christlich-hierarchische Weltordnung eingebettet sind, sind die gestalterischen Spielräume der Individuen und ihrer jeweiligen Subjektivität von vornherein in doppelter Hinsicht begrenzt: Zum einen durch die Religion, und zum anderen durch die von ihr imprägnierten Sitten. Die derart verstandenen Sitten sind für den Iren Burke33 das Medium sozialer

30 Edmund Burke: „A Letter to a noble Lord“ [1796], in ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, gen. ed. Paul Langford, Vol. IX: I. The Revolutionary War 1794–1797, II. Ireland, Oxford 1991, 145–187, hier 147. 31 Albert O. Hirschman: „Der Streit um die Bewertung der Marktgesellschaft“, in ders.: Entwick­lung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen, a. d. Amerik. v. Joachim Milles u. Hartmut Strahl, Frankfurt/Main 1989, 192–225 sowie ders.: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, autorisierte Übersetzung v. Sabine Offe, Frankfurt/Main 1987 (engl.: The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton/NJ 1977). Zu Hirschman vgl. Ingo Pies/Martin Leschke (Hgg.): Albert Hirschmans grenzüberschreitende Ökonomik, Tübingen 2006. 32 Vgl. John G. A. Pocock: „The Political Economy of Burke’s Analysis of the French Revolution“, in ders.: Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge, New York 1985, 193–212, hier 197f. 33 Die irischen Einflüsse sind seit der Biographie von Connor Cruise O’Brien: The Great Melody. A Thematic Biography and Anthology of Edmund Burke, London 1993 ein wesentliches Thema der BurkeForschungen. Vgl. Luke Gibbons: Edmund Burke and Ireland: Aesthetics, Politics, and the Colonial Sub­ lime, Cambridge 2003 und Michel Fuchs: Edmund Burke, Ireland, and the Fashioning of Self, Oxford 1996.



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Integration schlechthin, und sie sind es, die er durch den Individualismus und Subjektivismus, der ihm aus Rousseaus Schriften entgegenscheint, gefährdet sieht. Burkes Kritik an Rousseau lautet daher, dass dieser eine „Philosophy of Vanity“, eine „Philosophie der Eitelkeit“ entworfen und einem unumschränkten voluntaristischen Individualismus das Wort geredet habe. Diese Philosophie, so Burke, habe nicht nur die individuelle Maßlosigkeit befeuert, sondern auch zu einer Ästhetisierung der Politik geführt, die deshalb gefährlich sei, weil sie sich einer falschen Form der Theatralisierung bediene, nämlich der Inszenierung von Politik zum Zweck der Generierung von Aufmerk­samkeit für radikale Bewegungen und ihre rigorosen Forderungen nach gesellschaftlichem Wandel. Diese durchaus medienkritischen Aussagen zielen mit ihrer vehementen Ablehnung des Individualismus gewissermaßen auf den Glutkern von Rousseaus feurigem Denken, von dem Burke mit Blick auf die Wirkungsgeschichte meint, dass es sich als gefährlicher Brandsatz erwiesen habe. Indem der polemisch beschlagene Parlamentarier und Publizist den rhetorisch so geschickten Autor des Contrat social damit zum geistigen Brandstifter erklärt, dessen philosophisches Feuerwerk ganz Europa bedrohe, stilisiert er sich – nicht eben bescheiden – zum Brandmeister, von dessen Wachsamkeit der Bestand des Empire, ja des Kontinents abhingen. In diese Richtung weist auch Burkes Behauptung, dass der zum Antipoden stilisierte Genfer Philosoph sein „Geheimnis“ an David Hume verraten habe, wie es in einer berühmten Passage der Reflections heißt,34 die ihrerseits ein weiteres gutes Beispiel für Burkes Fähigkeit zur Selbst- und Fremdstilisierung bietet. Es gelte, so sei ihm entschlüpft, in der Moderne das Wundervolle auf neue Art und Weise ins Spiel zu bringen: demnach blieb dem Schriftsteller nichts mehr übrig „als eine einzige Art des Wundervollen, die aber, wenn sie geschickt genutzt wurde, den Zweck nicht leicht verfehlen konnte, nämlich: das Wundervolle im Leben, in Sitten und Charakteren, in außerordentlichen Situationen des Men­schen“ darzustellen. Diese, methodisch nicht am Normalfall, sondern an der Ausnahme orientierte Form des Denkens, so Burke, führe dazu, dass immer neue und überraschende Behauptungen zu Politik und Moral in Umlauf gebracht würden, die sich wechselseitig an Radikalität zu überbieten suchten. Nach dieser dramatischen Steigerung, in der Rousseau fast schon eine Art Alleinverantwortung für den Ausbruch der Französischen Revolution und ihre Folgen aufgebürdet wird, muss man allerdings daran erinnern, dass Burke sehr wohl gelegentlich auch zwischen Rousseau und seinen revolutionären ‚Schülern‘ differenziert, und das durchaus mit der Absicht, Ersteren gegen Letztere auszuspielen. Trickreich behauptet Burke schon in den Reflections: „Wenn Rousseau selbst noch lebte, er würde in mancher seiner hellen Stunden die praktische Narrheit seiner Schüler beseufzen, die

34 E. Burke/F. Gentz: Betrachtungen, 307f. (E. Burke: „Reflections“, 219, Hervorh. v. Harald Bluhm).

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paradox sein wollen und sklavische Nachbeter sind, gegen Aberglauben eifern und in ihrem Unglauben blinde Sektierer werden.“35 Eine Entlastung, gar ein Freispruch Rousseaus, ist mit dieser Relativierung freilich nicht verbunden. Aus dem umrissenen Blickwinkel, der nicht auf die theoretischen Konzepte Rousseaus im Einzelnen eingeht, sondern eine vermeintliche politische Stoßrichtung seines Denkens und seiner Persönlichkeit attackiert, bleibt Rousseau für Burke gleichwohl mit dem Makel behaftet, der geistige Vater der Französischen Revolution zu sein. Schon die Tatsache, dass die Revolutionäre sich auf ihn berufen und ihn nicht nur als Gewährsmann für ihre atheistische Politik nutzen, sondern seinen Namen auch verwenden, um das falsche Erhabene, das gräuliche Schauspiel der Revolution zu inszenieren, spricht nach Burke gegen ihn. In einer Schlüsselpassage seiner Revolutionskritik, die sich in dem Letter to a Member of the National Assembly von 1791 findet, heißt es in diesem Zusammenhang: „If the system of institution, recommended by the assembly, is false and theatric, it is because their system of government is of the same character.“36 Der Punkt, den Burke markiert, besteht also nicht allein in der Entgrenzung des Politischen, die seiner Ansicht nach nahezu zwangsläufig Maßlosigkeit und Gewalt zur Folge haben muss. Vielmehr stellt er darauf ab, dass es zu einer Ästhetisierung und symbolischen Inszenierung von Politik in der allgemeinen Öffentlichkeit kommt, die sich um die Funktionsvoraussetzungen politischer Institutionen eben so wenig schert wie um die Grundsätze praktischer Klugheit. Nach Burke entspringen die Anstöße für Rousseaus Ästhetisierung der Politik aus zwei spezifischen Quellen, die beide wesentlich mit Poesie und Literatur zu tun haben: So würden nämlich zum einen die Poeten bewusst den Leidenschaften schmeicheln, und zwar, wie Burke kritisch bemerkt, sowohl den natürlichen als auch den unnatürlichen. Und zum anderen ließen sich insbesondere demokratische Öffentlichkeiten (politische und solche des Theaters) leicht durch Innovationen beeindrucken. Statt Mäßigung, graduellem Wandel und Stärkung der Sitten avancierten dadurch ständige Neuerungen und deren jeweilige Inszenierung zum Hauptgeschäft der Politik. Die große Wirkung von Rousseaus Schriften, so die Schlussfolgerung Burkes, resultiere daraus, dass dieser es meisterhaft verstanden habe, beide Anstöße aufzunehmen und umzusetzen. Dadurch, dass er seine Reflexionen zur Politik Kraft seiner Rhetorik in berückende literarische Formen kleiden konnte, habe Rousseau seine Leser weniger überzeugt, als vielmehr verführt – und genau diese Verführungskunst ist es, die seine selbsternannten Schüler sich Burke zufolge von ihrem Meister abgeschaut haben.

35 E. Burke/F. Gentz: Betrachtungen, 309 (E. Burke: „Reflections“, 219). 36 E. Burke: „Letter to a Member“, 315.



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2 Das Sittenverständnis und die systematischen Gemeinsamkeiten und Gegensätze Will man die Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Burkes und Rousseaus Denken tiefer ausloten, dann sollte man sie, so meine These, beide als Teil des in seiner gesamteuropäischen Dimension bislang nach wie vor wenig beachteten Sittendiskurses des 18. Jahrhunderts begreifen, wobei sie ähnliche Denkfiguren nutzen, die allerdings divergierend ausbuchstabiert werden.37 Hinzu kommt in systematischer Hinsicht, dass hier eine Wurzel für ihr Verständnis von Institutionen und politischer Rationalität liegt. Rousseau ist seit dem großen Erfolg seines ersten Discours sowie infolge seiner Montesquieu-Rezeption tief in den breiten französischen Sittendiskurs eingebunden, dem er zugleich eine neue Wendung gibt. Burke seinerseits gehört primär in den schottisch-britischen Strang des Sittendiskures, der stärker die äußeren Verhaltensformen als die inneren Befindlichkeiten thematisiert. Aber auch ihm ist der französische Diskurs selbstverständlich geläufig. Die beste Untersuchung des umfangreichen französischen Sittendiskurses im 18. Jahrhundert stammt von Georges Benrekassa. Bei ihm lässt sich studieren, wie die mœurs seit Voltaire und Montesquieu zu einem „mot-clé“38 avancieren und wie das Verhältnis von Gesetz und mœurs insbesondere durch Montesquieu eine ebenso eingehende wie differenzierte Untersuchung erfährt. In Rousseau erkennt Benrekassa einen vornehmlich an Fragen der Tugend orientierten Sozialphilosophen, dessen spezifischer Beitrag zur zeitgenössischen Debatte um mœurs und sociabilité in der Politisierung der mœurs liegt.39 Ähnliche Untersuchungen zu den Werken der schottischen und englischen Aufklärer sowie deren Rezeption in Deutschland, wo die angelsächsische moral philosophy zunächst in eine empirische und schließlich in eine weitgehend normativistische Sittenlehre verwandelt wird, stehen noch aus. Sie wären dringlich, weil die Schriften zur moral philosophy neben den besser untersuchten Debatten um die commercial society eine weitere wichtige Quelle des modernen Gesellschaftsbegriffes bilden. Mindestens drei Aspekte lassen sich nennen, die dafür sprechen, den jenseits des Kanals entstandenen Abhandlungen über Sitten und Gebräuche und ihrer kontinentalen Rezeption verstärkte Aufmerksamkeit zu

37 Am Rande sei vermerkt, dass schon Friedrich Gentz in seiner kommentierten Übersetzung von Burkes Reflections durchaus auf Nähen zwischen Rousseau und Burke hingewiesen hat. Vgl. E. Burke/F. Gentz: Betrachtungen, 308–310. 38 Vgl. Georges Benrekassa: Art. „mœurs“, in Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hgg.): Hand­ wörterbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Heft 16–18, München 1996, 159–206, hier 171. 39 Vgl. dazu auch die 24 Fragmente zum zweiten Discours beziehungsweise zu einer Geschichte der mœurs in Jean-Jacques Rousseau: „Politische Fragmente“, in ders.: Politische Schriften, Übers. u. Einf. v. Ludwig Schmidts, Paderborn u. a. 1977, 209–282, hier 278–282 (OC III, 554–560).

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schenken: 1) die in ihnen enthaltene deskriptive Darstellung von Gesellschaft und Geselligkeit; 2) die darin formulierten Momente eines weiten Institutionenbegriffs beziehungsweise eines Verständnisses der Voraussetzungen von Institutionen; 3) die mit den Sitten entwickelte Vorform des Gesellschaftsbegriffes, die Relationen und Praktiken zusammenbringt. Alle drei Punkte stützen die Präferenz beider Autoren für gradualistischen Wandel. Für ein adäquates Verständnis der im Sittendiskurs verhandelten Bedeutung von Institutionen und institutionellem Wandel sind stets die dabei jeweils wirksamen normativen Leitorientierungen der einzelnen Theoretiker zu beachten. In Rousseaus politischer Theorie stehen bekanntlich Freiheit – im Sinne von Autonomie40 – und Gleichheit an der Spitze. Wiewohl er beide Grundwerte als für Individuen wie auch für Kollektive gleichermaßen verbindliche Maßstäbe betrachtet, hält er ihre Realisierung doch nur unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt für möglich, nämlich nur in einem sozial homogenen republikanischen Gemeinwesen. Auch in Burkes politischem Denken fungiert die Idee der Freiheit als normativer Orientierungspunkt, doch im Gegensatz zu Rousseau versteht er unter Freiheit stets eine in Einklang mit religiösen und sittlichen Werten geordnete Form der Freiheit. Während Rousseau zufolge die Menschen als Bürger eines politischen Gemeinwesens jederzeit souverän über die Bedingungen ihres Zusammenlebens entscheiden und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, ist Burke der Auffassung, dass das Individuum und die politische Gemeinschaft in einen komplexen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet sind, der sich nicht als Ganzes umgestalten, sondern stets nur partiell reformieren lässt. Gleichwohl sind die Institutionenauffassungen des Republikaners Rousseau und des Parlamentariers Burke weniger gegensätzlich, als es auf den ersten Blick erscheint und als Letzterer suggeriert. Vielmehr lassen sich einige theoretischsystematische Gemeinsamkeiten zwischen beiden politischen Schriftstellern feststellen, die vor allem die Frage des institutionellen Wandels betreffen. In kritischer Distanz zu Burkes politisch motivierter Behauptung einer völligen Gegensätzlichkeit ihrer Konzepte möchte ich nachfolgend wesentliche Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem vermeintlichen geistigen Vater der Französischen Revolution und seinem selbsternannten Richter erläutern und so den Kern einer impliziten Kontroverse und deren gemeinsamen Bezugspunkt freilegen. Dabei kommt es mir darauf an zu zeigen, wie die Verklammerung von Ratio und Emotion über Sitten und Institutionen die Präferenz für gradualistischen institutionellen Wandel stützt, wiewohl Rousseau im Unterschied zu Burke von radikalem Wandel fasziniert bleibt. Mit der Liste der von mir in diesem Zusammenhang behandelten Punkte verbinde ich weder einen Anspruch auf Vollständigkeit, noch beabsichtige ich damit, eine Rangfolge hinsichtlich der Relevanz der behandelten Punkte zum Ausdruck zu bringen.

40 Zur Autonomiekonzeption Rousseaus vgl. den Beitrag von Frederick Neuhouser in diesem Band.



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A. Beide Autoren weisen Institutionen einen zentralen Stellenwert für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen zu. Die zeitliche Perspektive und auch der Horizont ihrer Betrachtungen divergieren allerdings erheblich. Für den Liberalen Burke, der trotz aller konservativen Tendenzen seines Denkens eine gemäßigte Fortschrittsperspektive einnimmt, ist institutioneller und damit auch gesellschaftlicher Wandel eine intergenerationelle Aufgabe. Um sie erfolgreich zu bewältigen, dürfen die Angehörigen einer Nation sich nicht nur von ihren gegenwärtigen Wünschen leiten lassen, sondern müssen sich auch an ihren aus der Vergangenheit überlieferten Sitten und Traditionen orientieren. Idealerweise, so Burke, sollte sich der institutionelle Wandel einer Gesellschaft so vollziehen, wie es seiner verklärenden Darstellung zufolge in Großbritannien seit der Magna Charta der Fall gewesen ist, nämlich in Form eines organischen, graduellen Wachstumsprozesses. Der Zivilisationskritiker Rousseau, der ebenfalls in großen historischen Zeiträumen denkt, nimmt hingegen eine Perspektive ein, bei der dekadenztheoretische Motive deutlich überwiegen. Aber auch er ist davon überzeugt, dass der Wandel der Institutionen meist graduell, häufig schleichend vor sich geht und dass gesellschaftliche Reformen an die bestehenden Voraussetzungen anknüpfen und sie nicht revolutionär verändern sollten. Wenn Burke gradualistischen Wandel in Form organischen Wachstums zum Ideal erhebt, dann tut er das nicht zuletzt unter Rekurs auf das Komplexitätsargument. Diesem Argument zufolge stellt die bestehende Ordnung einer Gesellschaft ein vielfältig miteinander verwobenes Geflecht von Institutionen dar, das zu komplex ist, um es vollständig und von Grund auf zu erneuern. Zwar nutzt auch Rousseau dieses Argument, doch räumt er kontingenten Umständen und Ereignissen dabei einen deutlich größeren Stellenwert ein. Seine Dekadenzperspektive und Burkes gemilderter Fortschrittsglaube prallen hier aufeinander. Dies zeitigt Folgen, die insbesondere für die unterschiedliche Beurteilung der Eigenlogik von Institutionen und des Umfangs von Handlungsspielräumen wichtig werden. Bemerkenswert ist zudem, dass beide Autoren mit dem Komplexitätsargument über ein stabiles Widerlager gegen überzogene rationalistische Politikbegriffe verfügen, die weitgehende Gestaltungsannahmen von politischer und auch gesellschaftlicher Ordnung mit sich führen. B. Sowohl Burke als auch Rousseau begreifen den bestehenden Zusammenhang politischer Institutionen als eine Gesamtordnung. Einig sind sich beide auch in der Annahme, dass die spezifische Form der politischen Ordnung und die umfassendere institutionelle Ordnung der gesamten Gesellschaft wechselseitig aufeinander einwirken, und folgerichtig interessieren sich auch beide Denker für das Verhältnis zwischen diesen beiden Ordnungen. Erkennt Burke eine eigene Logik von Politik und Gesellschaft beziehungsweise Wirtschaft an, so sieht Rousseau dies auch, begreift das Auseinandertreten von Politik und Gesellschaft aber als problematische Entwicklung. Die Einbettung der Politik in die soziale, gesellschaftliche Ordnung ist in seiner politischen Theorie besonders auffällig, weil er die „gesellschaftliche Ordnung“ („ordre social“) ausdrücklich als „geheiligtes Recht“ („droit sacre“),

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bestimmt.41 Damit erkennt Rousseau nicht nur ausdrücklich die Notwendigkeit staatlicher Ordnung an, sondern erteilt auch allen Versuchen, gesellschaftliche Veränderungen mit Gewalt durchzusetzen, eine klare Absage. Gleichwohl entscheidet sich die Legitimität des politischen Systems für ihn an der Frage, inwieweit dessen Institutionen die normativen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit praktisch wirksam werden lassen. Burkes politisches Denken hingegen setzt bei den bestehenden sozia­ len Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen der civil & commercial society Großbritanniens mit ihren vorhandenen Ungleichheiten an, die er nicht abschaffen, sondern durch Anpassung an die sich wandelnden Bedingungen so weit wie möglich erhalten will. Seine vielfältigen Vorschläge zur Reform des politischen Institutionensystems orientieren sich allerdings nicht an abstrakten Prinzipien, sondern an den normativen Vorgaben der historisch gewachsenen und überlieferten mœurs und manners, deren Fortbestand sie zugleich sichern sollen.42 Ungeachtet ihrer divergierenden Zielsetzungen stimmen allerdings beide darin überein, dass sie Institutionen in ihrer ganzen Breite – von den politischen über die sozialen bis hin zu den kulturellen – zum Thema machen. Ich werde auf diese Gemeinsamkeit im nächsten Abschnitt noch einmal zurückkommen und sie exemplarisch anhand der Institution des Eigentums etwas näher erläutern. C. Die weit ausgreifende Thematisierung von Institutionen hat ihren Grund nicht zuletzt darin, dass beiden Autoren ein weites Institutionenverständnis zu eigen ist, das Sitten und Gebräuche, die heute vielfach als Voraussetzungen von institutionellen Regelungen begriffen werden, einschließt. Sie gehen damit über das enge, juridisch-instrumentelle Institutionenkonzept, wie es vor allem durch Hobbes geprägt wurde, deutlich hinaus. In diesem Zusammenhang nehmen beide darüber hinaus eine Invertierung der doux-commerce-These vor. Ihnen geht es nämlich nicht um die Effekte, welche die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und die Verbreitung des Handels auf das Recht und die Zivilisierung von Gesellschaften haben, sondern sie betonen umgekehrt, dass politische und soziale Institutionen gleichermaßen anspruchsvolle sozio-moralische Voraussetzungen haben, ohne die ihre Stabilisierung kaum verständlich wird. Praktisches Wissen wird prinzipiell mit Institutionen und Erfahrungen verknüpft. Auf divergierende Weise prägen beide Autoren in diesem Kontext die seinerzeit verbreitete ‚Ideologie der Sitten‘ um. Tragend ist jeweils die

41 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, in Zusammenarb. m. Eva Pietzcker neu übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2011, 6 (OC III, 351). 42 Burke attackiert in der Person von Rousseau auch hier wieder dessen französische und englische ‚Schüler‘, gegen deren Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen und der englischen im Besonderen er die politischen Grundsätze der alten Whigs und das England des Klassenkompromis­ ses verteidigt. Zu nennen sind hier mit Blick auf England insbesondere Richard Price und Mary Woll­ stonecraft. Zur revolutionary debate vgl. Daniel O’Neill: The Burke-Wollstonecraft Debate. Savagery, Civilization, and Democracy, University Park/PA 2007 und Marylin Butler (ed.): Burke, Paine, Godwin and the Revolution Controversy, Cambridge 1984.



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Absicht, Sitten in Form von Praktiken und Gewohnheiten handlungsleitend wirksam werden zu lassen und sie als Vehikel zur Implementierung normativ erwünschter Verhaltensweisen zu nutzen. Während Rousseau auf diesem Wege Sein und Schein der bürgerlich-zivilisierten Gesellschaft harsch und systematisch konfrontiert, betont Burke die Notwendigkeit des schönen Scheins und der zivilisierten Umgangsformen als essentiell für die Stabilität politischer Ordnung. D. Burke steht in der Tradition der schottischen Moralphilosophie und bettet die Politik nicht nur in die Sitten ein, sondern auch in die Gesellschaft im engeren Sinn, also die civil & commercial society. Er nimmt aber den empirischen Akzent der Schotten bei der Bestimmung der Sitten als äußerer Verhaltensformen auf. Insbesondere folgt er hier Adam Smith und streicht die Situation heraus, in der gehandelt wird und in der etwa Sympathie entwickelt wird.43 Zudem erachtet er innerhalb seiner dezidiert praktischen politischen Wissenschaft bestehende Sitten als Ausdrucksformen praktischer Klugheit, weil er annimmt, in der Tatsache ihrer historischen Überlieferung und ihres Fortbestands schon einen hinreichenden Ausweis ihrer Tauglichkeit erblicken zu können. Weil der anti-spekulative Burke sein Konzept der Sitten als Verkehrs- und Umgangsformen an die Klugheit, aber nicht an besondere Tugenden koppelt, gerät er so in den Sog der normativen Kraft des Faktischen und der Tradition. Der Genfer Rousseau verfolgt ein nahezu entgegengesetztes Ziel, denn ihm geht es in erster Linie um die Einpflanzung der Sitten ins Innere der Individuen, um auf diese Weise eine emotive Stabilisierung normativ gebotener Verhaltensweisen bei den Bürgern zu ermöglichen. Mittels einer geeigneten Ordnung der politischen, sozialen und kulturellen Institutionen sollen Praktiken und Verhaltensweisen verbindlich gemacht werden, die im Zuge ihrer Habitualisierung schließlich die Einstellungen und handlungsleitenden Motive der Bürger derart wandeln, dass diese von sich aus wollen, was sie in normativer Hinsicht sollen. Hier handelt es sich – abgesehen von der anti-pluralistischen Körper- und Maschinenmetaphorik, derer er sich häufig bedient – um einen besonders problematischen Punkt in Rousseaus politischer Theorie: Im Fragment De Mœurs, das Teil seines Entwurfes für eine – letztlich ungeschriebene – Geschichte der Sitten ist, heißt es unter Punkt eins: Der Irrtum der meisten Moralisten war schon immer, den Menschen für ein im wesentlichen vernünftiges Wesen zu halten. Der Mensch ist aber nur ein fühlendes Wesen, das einzig und allein seine Leidenschaften beim Handeln befragt, und dem die Vernunft nur dazu dient, um die Dummheiten auszubügeln, die er ihretwegen begeht.44

43 Vgl. Burkes Brief an Adam Smith vom 10. September 1759 zu dessen Theory of Moral Sentiments, in Selected Letters of Edmund Burke, ed. and with an introd. by Harvey C. Mansfield, Jr., Chicago/IL u. a. 1984, 92–93. Hume hatte, wie Mansfield ebenda festhält, dafür gesorgt, dass Burke ein Exemplar der Schrift bekam. 44 J.-J. Rousseau: „Politische Fragmente“, 278.

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L’Erreur de la plupart des moralistes fut toujours de prendre l’homme pour un être essentiellement raisonnable. L’homme n’est qu’un être sensible qui consulte uniquement ses passions pour agir, et à qui la raison ne sert qu’à pallier les sottises qu’elles lui font faire (OC III, 554).

Und unter Punkt 6 heißt es dann erläuternd: „Das Gesetz wirkt nur von außen und regelt nur die Handlungen. Die Sitten allein dringen ein und lenken den Willen.“45 Letzteres ist insofern eine paradoxe Behauptung, als ja auch Institutionen und Sitten nichts anderes als äußere Verhaltensformen beziehungsweise Praktiken sind. Indem Rousseau das Gesetz in den Herzen der Menschen verankern und diese – unter anderem mit Hilfe der religion civile – gewissermaßen konditionieren will, limitiert er auf empfindliche Weise deren Freiheits- und Selbstbestimmungsspielräume. Er kommt nicht zur Konsequenz des liberalen Rousseau-Bewunderers Alexis de Tocqueville, der von selbstbestimmten, demokratischen habits of the heart spricht, und damit jene Formel prägt, die rund 150 Jahre später zu einem Leitmotiv der Kommunitaristen avancieren sollte.46 In Rousseaus politisch-praktischen Schriften zu Korsika und Polen dominiert eingangs die republikanische Verfallsperspektive. So heißt es in der Korsikaschrift: „Mit allen Dingen wird – oft unvermeidlich – Mißbrauch getrieben, und der Mißbrauch politischer Institutionen folgt ihrer Einführung so dicht auf dem Fuß, daß sich kaum die Mühe lohnt, sie zu schaffen, da sie so schnell entarten.“47 Im Rahmen des von ihm ausgearbeiteten Entwurfs einer polnischen Verfassung weist er darauf hin, dass es darauf ankomme, politische Institutionen mit den Vorlieben, Sitten, Vorurteilen und Fehlern der Völker zu verbinden. In diesem Zusammenhang werden auch das Leitmotiv des emotiven Subjektes und die Idee des in den Herzen der Bürger zu verankernden Gesetzes wieder aufgenommen: „Niemals wird es eine gute und festgegründete Verfassung geben, wenn nicht das Gesetz über die Herzen der Bürger herrscht.“48 Die geeigneten Mittel dazu sind nach Rousseau unter anderem Spiele und Feste – im

45 J.-J. Rousseau: „Politische Fragmente“, 279. „La loi n’agit qu’en dehors et ne règle que les actions; les mœurs seules pénétrent intérieurement et dirigent les volontés“ (OC III, 555). 46 Vgl. Robert N. Bellah et al: Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life, Berkeley/CA u.  a. 1985. Vgl. zudem Harald Bluhm/Skadi Krause: „Tocquevilles erfahrungswissen­ schaftliche Analyse der Demokratie. Quellen, Konturen und Leistungsfähigkeit eines Konzeptes“, in Leviathan 42/4 (2014), 635–656; zur Nähe von Tocqueville und Rousseau (ebd., 639–641). 47 Jean-Jacques Rousseau: „Entwurf einer Verfassung für Korsika“, in ders.: Kulturkritische und poli­ tische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 371–429, hier 373. „Toutes choses ont leurs abus souvent nécessaires et ceux des établissemens poli­ tiques sont si voisins de leur institution que ce n’est presque pas la peine de la faire pour la voir si vite degenerer“ (OC III, 901). 48 Jean-Jacques Rousseau: „Betrachtungen über die Regierung von Polen und ihre beabsichtige Re­ formierung“, in ders.: Kulturkritische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. II, Berlin 1989, 431–530, hier 435. „Il n’y aura jamais de bonne et solide constitution que celle où la loi régnera sur les cœurs des citoyens“ (OC III, 955).



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weitesten Sinne also politisch-kulturelle Institutionen, die eine primär symbolische Form der Integration ermöglichen sollen.49 Institutionen sind für den Denker des emotiven Subjektes, das vor allem mit sich selbst in Übereinstimmung, das heißt authentisch leben soll, zumeist etwas Künstliches. Sie gelten ihm nur dann als normativ angemessen, wenn sie für die Bürger gleichermaßen überschaubar und gestaltbar sind. Die Transparenz der Beziehungen zu den Dingen und den Menschen beziehungsweise den Bürgern ist es, die Rousseau in den Mittelpunkt rückt und die er auf verschiedenen Ebenen einer relationalen Betrachtung unterwirft. Verselbständigte, undurchsichtige Verhältnisse, also Verhältnisse, für die die Individuen nicht kompetent sind, das heißt für deren Gestaltung es ihnen an den richtigen Praktiken und Deutungsmustern fehlt und die zudem nicht in den Sitten befestigt sind, stellen ihm ein Gräuel dar. Das Erfordernis der Transparenz ist für Rousseau derart bedeutsam, dass er der modernen Idee, Transparenz mittels einer medial vermittelten Öffentlichkeit zu schaffen, ausgesprochen kritisch gegenübersteht. Seiner Meinung nach führen Medien eher dazu, Vorurteile zu produzieren und partikularen Meinungen auf intransparente Weise zur Durchsetzung zu verhelfen, als eine vernünftige Diskussion zu ermöglichen. Das Verdikt, etwas Künstliches, also etwas durch den Menschen Geschaffenes und nicht etwas von Natur aus Vorgegebenes zu sein, trifft nach Rousseau auch die Sprache, in der er die erste Institution der Menschen sieht. Sie entspringt zwar natürlichen Bedürfnissen und erlaubt Mitleid und Kommunikation. Doch zugleich ermöglicht sie es der Phantasie, abzuschweifen, das heißt sich von den wichtigen und vertrauten Dingen abzuwenden. Damit nicht genug, öffnet sie dem permanenten Vergleich mit anderen und damit der Verführung, der Schmeichelei und der Lüge das Tor. Hierin, in der Ambivalenz der Sprache, liegt der Schlüssel zum Verständnis von Rousseaus vehementer Kritik an den Folgen des Genusses von Literatur, Theater und anderen kulturellen Einrichtungen. Gerade die von den Aufklärern ob ihrer zivilisierenden Wirkung so gepriesenen Werke der Kultur sind es, die Rousseau zufolge eine erhebliche Mitschuld daran haben, dass sich die Menschen von ihren eigenen Erfahrungen und damit auch vom sensus com­ munis, vom gesunden Menschenverstand, abbringen lassen und zusammen mit dem Gemeinsinn letztendlich auch das Gemeinwohl aus den Augen verlieren. Die Wurzel der Entfremdung des Individuums von sich selbst und seinen natürlichen Bedürfnissen liegt für den Zivilisationskritiker Rousseau, der die Aufklärung über ihre eigenen negativen Folgen aufzuklären sucht, somit schon in der ersten Institution begründet. Sie wird durch moderne Medien und Kultureinrichtungen verstärkt und führt schließlich zur vollständigen Entfernung und Entfremdung des Menschen von seinen natürlichen Anlagen und Bedürfnissen.50 Das Schlüsselzitat im ersten Discours, das auf

49 Vgl. dazu den Beitrag von Daniel Schulz in diesem Band. 50 Zum Motiv der Transparenz bei Rousseau vgl. Marshall Berman: The Politics of Authenticity. Ra­ dical Individualism and the Emergence of Modern Society, London, New York 2009; Jean Starobinski:

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Transparenz und Authentizität abstellt, lautet: „Wie angenehm wäre es, unter uns zu leben, wenn äußerliche Zurückhaltung immer das Spiegelbild der Veranlagungen des Herzens wäre.“51 E. Politische Handlungsspielräume werden von beiden Theoretikern nicht nur nach dem bestimmt, was als normativ angemessen gilt, sondern unter Rekurs auf Situationen und Gelegenheiten sowie auf Akteure näher ausbuchstabiert. Besondere Aufmerksamkeit widmen beide dem Problem des Wandels von Verfassungsordnungen. Während Burke holistische Entwürfe ablehnt, die einen radikalen Um- oder Neubau des politischen Institutionensystems anstreben, steht Rousseau entsprechenden Vorhaben zwar sehr skeptisch, aber nicht grundsätzlich abgeneigt gegenüber. Einschlägig für seinen Umgang mit der Materie sind – neben dem Contrat social – insbesondere seine Verfassungsentwürfe für Korsika und Polen. In den jeweiligen Schriften beklagt der republikanische Dekadenztheoretiker zwar die Fragilität institutioneller politischer Ordnungen und erklärt es für fast schon müßig, sich Gedanken um ihre Verbesserung zu machen, da sie notorisch instabil und korruptionsanfällig seien. Dennoch konstatiert er ein begrenztes Zeitfenster, in dem die Realisierung von Vorschlägen zur Verfassungsänderung durchaus Aussicht auf Erfolg habe. Auch der Berufspolitiker Burke ist davon überzeugt, dass es in der Politik auf das Handeln zum richtigen Zeitpunkt ankommt. Ausgehend von dieser Überzeugung hat er selbst immer wieder in die Politik interveniert und zahlreiche Reformvorschläge zur Veränderung der englischen Politik gegenüber Irland, Frankreich, den USA und Indien unterbreitet. Allerdings geht Burke davon aus, dass die besonderen Gelegenheiten und Umstände nur von erfahrenen Akteuren mit besonderer Klugheit und Urteilskraft erkannt und erfolgreich genutzt werden können. Während Burke zufolge die Angehörigen der politischen Klasse – also König, Premierminister sowie Parlamentarier – dazu prädestiniert sind, die verantwortungsvolle Aufgabe der Gesetzgebung und der Verfassungsreform zu übernehmen, sieht Rousseau dazu den weisen Verfassungsgeber sowie den Reformer und den Philosophen berufen. Über den Bereich intendierter Handlungen hinaus gesteht Rousseau zudem besonders wirkmächtigen Ereignissen beziehungsweise Aktionen einen spezifischen, Legitimität begründenden Stellenwert zu. Augenfällig wird dies etwa anhand der berühmten Passage, der zufolge derjenige,

Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a. d. Franz. v. Ulrich Raulff, Frankfurt/Main 1993; Greg Hill: Rousseaus’s Theory of Association. Transparent and Opaque Communities, London 2006. 51  Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 preisgekrönte Abhandlung über die von dieser Akademie aufgeworfene Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe. Von einem Bürger Genfs“, in ders.: Kulturkri­ tische und politische Schriften in 2 Bänden, hg. v. Martin Fontius, übers. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. I, Berlin 1989, 49–82, hier 57. „Qu’il seroit doux de vivre parmi nous, si la contenance extérieure étoit toûjours l’image des dispositions du cœur“ (OC III, 7).



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der als erster ein Stück Land umzäunte und erfolgreich für sich reklamierte, der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft und der Erfinder des Privateigentums sei.52 F. Der Whig-Politiker und der Genfer Intellektuelle vertreten unterschiedlich angelegte rhetorisch-dramaturgische Modelle politischen Handelns, mit denen sie die Vorstellungen von Rationalität beziehungsweise Klugheit präzisieren. Burkes Konzept ist primär auf das Parlament bezogen, während Rousseaus direktdemokratisches Modell – trotz aller Skepsis gegenüber der allgemeinen modernen Öffentlichkeit – primär auf dieses institutionelle Medium setzt. Daraus erwachsen divergierende Perspektiven auf den institutionellen Wandel. So setzt sich der politische Denker Burke entschieden für das Prinzip parlamentarischer Repräsentation ein, da sich der Komplexitätsgrad moderner Politik nur durch ein entsprechend arbeitsteiliges Verfahren politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung mit Aussicht auf Erfolg bewältigen lasse. Sein elitärer Ansatz vertraut in diesem Zusammenhang vor allem auf das institutionell gebundene Wissen und die erfahrungsgesättigte Kompetenz der Angehörigen der politischen Klasse, also die Mitglieder der Regierung und der beiden Häuser des Parlaments. Diese sind zwar der breiteren Öffentlichkeit gegenüber verantwortlich, von der sie auch ihre Legitimation erhalten. Doch lässt Burke keinen Zweifel daran, dass es den zum Publikum versammelten Repräsentierten an der Fähigkeit fehlt, die Handlungen der Repräsentanten en détail auf ihre Angemessenheit hin zu beurteilen. In der politischen Theorie von Rousseau stellt sich die Sache anders dar. Er will Delegation nur auf der Ebene der Exekutive zulassen und auch hier nur im Rahmen imperativer Mandate. Die Aufgabe der Gesetzgebung jedoch ist für ihn das exklusive und vornehmste Recht der Bürgerschaft, welches diese niemals aufgeben darf, wenn sie nicht zugleich ihre Freiheit opfern will. Der Erfolg ihrer politischen Bemühungen, das heißt die Verwirklichung des Gemeinwohls, hängt dabei für Rousseau weniger von der Sachkompetenz der Bürger als von ihrer Tugendhaftigkeit ab. Damit diese sich ihre Reinheit des Herzens und damit zugleich auch ihren gesunden Menschenverstand bewahren, hält er es für notwendig, die Bürger vor den verderblichen Einflüssen der allgemeinen Öffentlichkeit zu schützen und diskursive Auseinandersetzungen zu verhindern. Aus diesen Gründen setzt Rousseau auf unmittelbare Versammlungsöffentlichkeit und nicht auf Repräsentation. G. Beide Autoren machen in beinahe schon exzessiver Weise von der Kunst der Rhetorik Gebrauch, um ihr jeweiliges Publikum zu überzeugen und zum Handeln zu motivieren. Die Rhetorik ist das Medium, dessen sie sich bedienen, um sowohl mit dem Ideologie- als auch dem Legitimitätsproblem fertig zu werden. Burke sucht seine rhetorischen Fähigkeiten jeweils adressatenspezifisch einzusetzen und hält sich dazu an die jeweils etablierten Foren, also Wahlversammlungen, Parlamentsdebat-

52 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, krit. Ausg. d. integr. Textes, m. sämtl. Fragm. u. erg. Mat. n. d. Originalausg. u. d. Handschr. neu ed., übers. u. komment. v. Heinrich Meier, 4. Aufl., Paderborn u. a. 1997, 173 (OC III, 164).

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ten sowie Appelle an die allgemeine Öffentlichkeit.53 Das Komplexitätsmanagement moderner Politik macht aus seiner Sicht nicht nur den Rekurs auf Repräsentation und Experten erforderlich, sondern auch die Beachtung einer Vielzahl von äußerlichen Regelungen und Vorschriften. Burkes Rhetorik ist deshalb eine Rhetorik, die stark das Decorum berücksichtigt. Eine unabhängige politische Öffentlichkeit jenseits von Parlament und Krone stellt für Burke die Legitimität moderner Politik infrage, da sie letztlich dazu führt, dass Intellektuelle, also politische Schriftsteller ohne institutionelle Einbindung und ohne entsprechende praktisch-politische Erfahrungen, sich Urteile über Zusammenhänge anmaßen, die sie nicht durchschauen.54 Dies impliziert für Burke die reale Gefahr, dass es den Intellektuellen, wie im Fall der Wilkes-Affäre, gelingt, Massen politisch zu mobilisieren und zu radikalisieren. Rousseaus politische Rhetorik hingegen verfolgt andere Ziele. Sie ist, vor dem Hintergrund seiner freiheitlichen und egalitaristischen Orientierungen, darauf angelegt, die Legitimität von Institutionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Er spricht sein Publikum nicht als Praktiker oder Staatsmann an, sondern als Philosoph, der sich via Publikationen an die allgemeine Öffentlichkeit und damit an den einzigen und wahren politischen Souverän wendet. Nicht das Decorum in verschiedenen politischen Arenen ist hier entscheidend, sondern der Versuch, Vorurteile aufzubrechen und Prinzipien durchzusetzen. Vordringlich ist das Ziel, die Leser zur Ein- und Umkehr zu bewegen und sie zu einem authentischen Leben zu befähigen. Zu diesem Zweck setzt Rousseau nicht nur auf eine eindringliche Sprache, sondern versucht zudem, über narrative Strategien und romanhafte Darstellungsformen die Herzen seiner Leser – und Leserinnen – zu erreichen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Änderung innerer Einstellungen die unverzichtbare Vorbedingung aller nachhaltigen institutionellen Veränderungen ist. Dabei beschränkt sich Rousseau jedoch keineswegs auf die appellative Dimension, sondern strebt stets danach, seine Ansichten durch sachlich gerechtfertigte Kritik an vorhandenen Institutionen und deren Effekten zu untermauern. Vor dem Hintergrund der Verkopplung von Rationalität mit Institutionen und Sitten messen beide Theoretiker den Meinungen, die Menschen von Institutionen und deren Wirkungen haben, ausschlaggebende Bedeutung zu. Was aus der Sicht der jeweiligen Konzepte als vernünftig und machbar erscheint, muss sich nicht mit den Meinungen decken, denn dafür ist der Raum der Einbildungskraft, den beide Autoren betonen, zu groß. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit divergieren freilich sowohl der theoretische Rahmen als auch die normativen Bewertungen beider Denker deutlich. So kritisiert Rousseau prinzipiell den schönen Schein der Zivilisation und die

53 Vgl. Paddy Bullard: Edmund Burke and the Art of Rhetoric, Cambridge u. a. 2011. 54 Burkes Konzept politischer Klugheit ist die Grundlage seiner Kritik an den Men of Letters, also den französischen Aufklärern und ihren Nachfolgern, die in seiner Darstellung als wenig kompetente und unverantwortliche politische Schriftsteller erscheinen.



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vielen Vorurteile seiner sich für gebildet und aufgeklärt haltenden Zeitgenossen, die er mit seinen Paradoxien aufbrechen will. Geradezu leitmotivisch heißt es im Emil: „Ich ziehe den Widerspruch dem Vorurteil vor.“55 Für den Praktiker Burke, der sich an das Gegebene hält, dienen Vorurteile hingegen dazu, Komplexität zu reduzieren, weshalb er sie für funktional unentbehrlich erachtet. Der Wunsch der Aufklärer nach einer Abschaffung aller Vorurteile zeugt seiner Auffassung nach von rationalistischen Missverständnissen und schlechter Menschenkenntnis. Allerdings kennt Burke – ähnlich wie in der Ästhetik, wo er verschiedene Formen des Erhabenen behandelt – auch Vorurteile unterschiedlicher Art, die er ebenfalls nicht konsistent differenzieren kann. Neben Vorurteilen, die er für angemessen und auf Erfahrung gegründet hält, gibt es für ihn auch die politischen Vorurteile der Intellektuellen und jene der Massen, die höchst selten Gnade vor seinen Augen finden. Hinzu kommt, dass für ihn auch im Falle der Wirtschaft eine „multitude of ill-founded popular prejudices“ existiert.56 Aber dass politische Rationalität erfahrungsbasiert sein sollte und in Distanz zu rein theoretischer Vernunft steht, eint beide Theoretiker, deshalb wird sie als in Kontexte und Sitten eingebettet gedacht. Die damit verschränkte Problematik gesellschaftlicher Komplexität ist beiden Autoren ebenfalls wichtig, aber während es Burke in erster Linie darum geht, den Umgang mit Komplexität institutionell zu ermöglichen, zielen Rousseaus Vorschläge zur Umgestaltung von Institutionen vor allem darauf ab, die Komplexität moderner Gesellschaften drastisch zu reduzieren. Aus beiden Sichtweisen entspringt ein skeptisches Verhältnis zur Öffentlichkeit. Während Burke sich darum bemüht, Vorurteile nach ihrer normativen Wünschbarkeit und funktionalen Zweckdienlichkeit zu sortieren, um diejenigen, die ihm angemessen erscheinen, sodann der richtigen Tradition zuzuordnen und mit ihr zu verbinden, steht Rousseau, seiner eigenen schreibenden Aktivität zum Trotz, nahezu allen frühen Formen von Öffentlichkeit, deren manipulative Seite er geißelt, skeptisch bis feindlich gegenüber. Beide Autoren sind also – ungeachtet aller Gegensätze – mit dem Legitimitätsproblem moderner Politik sehr wohl vertraut, weshalb ihr Gegensatz nicht nur systematisch, sondern auch ideologisch kodiert ist. Rousseau, den man durchaus als

55 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, in neuer dt. Fassung besorgt v. Ludwig Schmidts, 11. Aufl., Paderborn 1993, 72. „[J]’aime mieux être homme à paradoxes qu’homme à préjugés“ (OC IV, 323). Die von Siegfried Schmitz überarbeitete deutsche Erstübertragung von 1762 ist ein wenig genauer, nutzt aber auch ‚Widerspruch‘ statt ‚Paradox‘ und sei daher noch ergänzend angeführt: „Schlichte Leser, verzeiht meine scheinbar widersprüchlichen Überlegungen; man muß sie anstellen, wenn man nachdenkt, und was ihr auch sagen könntet, so will ich doch lieber ein Mensch des Widerspruchs als ein Mensch mit Vorurteilen sein.“ Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen, m. e. Zeittaf. v. Dietrich Leube, Anm. v. Otto Dudle u. e. Nachwort v. Robert Spaemann, 2. Aufl., Düsseldorf, Zürich 1997, 87. 56 Edmund Burke: „Thoughts and Details on Scarcity“, in ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, gen. ed. Paul Langford, Vol. IX: I. The Revolutionary War 1794–1797, II. Ireland, Oxford 1991, 119–145, hier 120.

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paradoxen Konservativen begreifen kann, wird von Burke als Revolutionär attackiert. Zwar steht Rousseaus Gesellschaftsmodell tatsächlich in einem Gegensatz zu der von Burke verherrlichten Form der britischen Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung, bei der in sozialstruktureller Hinsicht die landed interests wegen ihrer langfristigen Orientierung über die monied interests dominieren sollen, doch macht ihn das noch lange nicht zu einem Revolutionär. Wenn Burke – wie bereits erwähnt – formuliert: „Manners are of more importance than Law“ (und – so müsste man ergänzen – Institutionen),57 wenn er zudem die manners der Jakobiner kritisiert und den Verlust der Ritterlichkeit und der mit ihr verbundenen Sitten als eine weitere Ursache der Französischen Revolution ausmacht, dann ist er Rousseau näher, als er selbst glaubt und glauben machen will. Schließlich hat Rousseau im Contrat social die Sitten als vierte Form von Gesetzen, als Gesetze des Herzens und als entscheidende Grundlage der Institutionen behandelt.58 Die politisch-wirkungsgeschichtliche Kritik geht demnach von der Moral über die Sitten zur Politik; bei den Auffassungen bezüglich institutionellen Wandels argumentieren beide Autoren, systematisch gesehen, nahezu umgekehrt. H. Beide Autoren eint schließlich ein historisierender Umgang mit dem Naturrecht, dessen Abstraktheit ihnen ein Dorn im Auge ist. Im Gegenzug werden die politischen Institutionen nicht nur in die Sitten im Sinne einer politischen Kultur eingebettet, sondern mal mehr – wie im Falle Rousseaus – oder mal weniger systematisch, aber ebenso entschlossen – wie im Falle Burkes – auf die Gesellschaft (civil society) sowie deren soziale Ordnung und ihre entsprechenden Institutionen bezogen. Mit dieser gesellschaftstheoretischen Orientierung transzendieren beide Autoren die im engeren Sinne vertragstheoretisch-naturrechtlichen Konzeptionen ihrer Vorgänger. Rousseau geht in seiner Zivilisationskritik mit einem kritisch-normativen Naturbegriff allerdings radikaler vor als Burke, denn er historisiert so deutlich, dass man förmlich von einem Wandel der Rationalität in ihrer ursprünglichen Form zu jener im Stadium der Zivilisation beziehungsweise deren Verfall sprechen kann. Damit ist de facto der Rahmen des Naturrechtes gesprengt. Man muss allerdings auch die Institutionen, die Burke und Rousseau bei ihrer Kritik am Naturrecht im Blick haben, näher betrachten, um deren Stoßrichtung zu begreifen. So ist das Parlament zur Zeit von Burke eines, das die Kommunen (commu­ nities) und Grafschaften repräsentiert – als solches stellt es eine Vorstufe des modernen, auf umfassende Öffentlichkeit und breitere Repräsentation hin angelegten Parlaments dar. Dies gilt es, nebenbei gesagt, auch mit Blick auf die zum Teil zeitlich vor Burkes politischen Ämtern liegenden kritischen Aussagen Rousseaus zu beachten. Auch sie beziehen sich auf das britische Parlament des 18. Jahrhunderts, nicht jenes nach den Wahlrechtsreformen im 19. Jahrhundert. Wenn man Rousseau zum

57 E. Burke: „Regicide Peace“, 242. 58 Vgl. J.-J. Rousseau: Gesellschaftsvertrag, 121 (OC III, 394).



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Vater der Parlamentarismuskritik macht, wofür es durchaus Gründe gibt, muss man zumindest die historische Gestalt des Parlamentarismus beachten, gegen die seine Kritik gerichtet war. Nimmt man die aufgelisteten Punkte zusammen, so wird deutlich, dass die Akzentuierung der Sitten Burke und Rousseau dazu bringt, einen weiten Institutionenbegriff zu favorisieren. Nur so können sie die Regeln mit Praktiken und Rationalitätsvorstellungen verknüpfen sowie Institutionen generell in die politische und gesellschaftliche Ordnung einbetten. Aus beiden Strategien erwächst die jeweils spezifische Präferenz für graduellen Wandel bei Burke und Rousseau. Die Folge eines derart weiten Institutionenverständnisses ist, wie sich auch am Beispiel des Eigentums zeigen wird, dass die institutionellen Regeln und ihr Funktionieren weniger für sich genommen, sondern stets auf ihre Voraussetzungen und Effekte hin betrachtet werden. Während Burke dabei den Preis eines zu großen Pragmatismus und Empirismus zahlt, hat Rousseau nur andeutungsweise zu zeigen vermocht, inwieweit sein normatives institutionelles Modell, abgesehen von den Sonderfällen Korsika und Polen, für langfristige gradualistische Reformen politischer Ordnungen praktisch nutzbar gemacht werden kann.

Exkurs: Eigentum als eine Basisinstitution Eine exemplarische Vertiefung der Überlegungen zu Rousseau und Burke erscheint schon deshalb als notwendig, weil Burkes ökonomische Ansichten selten näher erörtert werden.59 Rousseau betont bekanntlich die Entstehung des Privateigentums und dessen problematische Folgen, den kontemporären Wandel der sozio-ökonomischen Verhältnisse hingegen spart er weitgehend aus. Burke seinerseits kommt aus politischen Gründen auf das Eigentum zu sprechen, bei ihm rückt die Bewahrung der Institution des modernen Privateigentums in den Fokus. Es sind vor allem zwei Texte, die dabei zu beachten sind, die Speech on Economical Reform (1780) und die Thoughts and Details on Scarcity (1795).60 Während Rousseau das Eigentum historisiert und entnaturalisiert, geht Burke den umgekehrten Weg. Er naturalisiert das Eigentum und die landed aristocracy, tut das aber keineswegs naiv. Das Eigentum wird von Burke und Rousseau zwar auf

59 Vgl. Richard Whatmore: „Burke on Political Economy“, in David Dwan/Christopher J. Insolde (Eds.): The Cambridge Companion to Edmund Burke, Cambridge 2012, 80–91 sowie J. G. A. Pocock: „Political Economy“, 193ff. 60 Vgl. Edmund Burke: „Speech on Economical Reform“ [11. February 1780], in ders.: The Writings and Speeches of Edmund Burke, gen. ed. Paul Langford, Vol. III: Party, Parliament, and the American War 1774–1780, Oxford 1996, 483–551 und E. Burke: „Thoughts and Details on Scarcity“, 119–145. Die Thoughts and Details on Scarcity sind 1800 aus dem Nachlass aus zusammengefügten Texten ediert worden.

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divergierende Weise, aber jeweils als eine besondere Institution der modernen Gesellschaft begriffen. Es ist ihnen wichtiger als andere Institutionen, weil es Auswirkungen auf die sozialen und politisch-kulturellen Prozesse hat, ohne dass jedoch einer von beiden diese Auswirkungen nach dem Marxschen Muster sozio-ökonomischer Determination begreifen würde. Was Rousseau auszeichnet, ist, dass er die Entstehung des Privateigentums nicht geschichtsphilosophisch begründet, sondern philosophisch rekonstruiert. Es gibt nach seiner Ansicht keine zwangsläufige Entwicklung, die zur Entstehung des Privateigentums führen musste, und damit auch keine strikte Notwendigkeit für den Erhalt dieser Institution. Rousseau zufolge gehen der Entstehung des Privateigentums vielmehr eine Reihe kontingenter Veränderungen im Zusammenleben der Menschen voraus, die schließlich nicht intendierte, aber dennoch weitreichende Folgen zeitigen. Dazu gehören zum einen die Entdeckung der Metalle, und zum anderen die Ausbreitung der landwirtschaftlichen Produktion, in deren Folge sich Sesshaftigkeit und Vorratswirtschaft entwickeln, die das freie Leben und Herumziehen der Hirten- und Erntevölker beschränken.61 Der entscheidende Akt jedoch, der schließlich zur Entstehung des Privateigentums führte, bestand nach Rousseau darin, dass jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt – quasi willkürlich handelnd – Pflöcke einschlug, und das derart umzäunte Stück Land mit Erfolg exklusiv für sich beanspruchte. Dieser Akt ist für Rousseau in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstens wird Eigentum auf diese Weise durch ursprüngliche Aneignung und Bearbeitung konstituiert – ganz ähnlich, wie bei John Locke, für den Eigentum durch Arbeit geschaffen wird.62 Aber die ursprüngliche Aneignung führt bei Rousseau noch nicht zum Eigentum, sondern nur zum Besitz. Damit der Besitz zum Eigentum wird, bedarf es Rousseau zufolge einer zweiten Voraussetzung. Diese besteht in der Anerkennung des derart angeeigneten Besitzes durch andere. Es war, wie es bei Rousseau über diesen Vorgang der Eigentumserklärung und deren Legitimierung heißt, essentiell, dass derjenige, der als erster ein Stück Land umzäunte und in Besitz nahm, „Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben“ („trouva des gens assés simples pour le croire“); erst dadurch avancierte derjenige, der das Land mit Erfolg für sich reklamierte, zum „wahre[n] Gründer der bürgerlichen Gesellschaft“ („le vrai fondateur de la société civile“).63 Eigentum existiert für Rousseau – im Gegensatz zu Locke – mithin nicht schon im vorgesellschaftlichen Zustand, sondern erst als von anderen anerkannter Rechtstitel. Mit der Entstehung des Eigentums wird der von Rousseau historisierte und stark entnaturalisierte Naturzustand also beendet. Dies hat weiterhin zur Folge, dass die Menschen nun beginnen, sich in institutionell verfestigter Weise wechselseitig vergleichend zu schätzen, und auch ihre emotionale Herzensbildung

61 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 197ff. (OC III, 171ff.). 62 Vgl. John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, übers. v. Hans Jörn Hoffmann, hg. u. eingel. v. Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/Main 1998, 215ff. 63 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 172 (OC III, 164).



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verändert sich nun erheblich.64 Damit setzt nach Rousseau jene gesellschaftliche Dynamik der modernen Zivilisation ein, die zwar zu permanenten Veränderungen und auch zu technischen und wissenschaftlichen Fortschritten führt, aber gerade nicht zu moralischer Vervollkommnung. Denn zusammen mit der Ausbreitung des Eigentums an Land, Produktionsinstrumenten und anderem mehr wächst nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch die soziale Ungleichheit, was wiederum dazu führt, dass Unrecht und Ungerechtigkeit um sich greifen. Dieser Prozess wird von Rousseau als Dekadenz im Sinne moralischen Verfalls begriffen, den er aber – ungeachtet seiner enormen Folgewirkungen – keineswegs für irreversibel hält. Ein (revolutionärer) Umschlag in der Geschichte der Menschheit ist für Rousseau keineswegs ausgeschlossen.65 Weil das Eigentum sich auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft auswirkt, auf die sozialen Beziehungen ebenso wie auf die politischen und kulturellen Verhältnisse (Meinungen und Sitten), die zunehmend solche vergleichender Konkurrenz werden, bildet es für ihn eine Basisinstitution moderner Gesellschaften. Was Burke betrifft, so folgt dieser auf dem Gebiet der Politischen Ökonomie in vielen Punkten Adam Smith, der seinerseits keine ökonomistisch verengte Auffassung des Eigentums hat. Während aber sowohl Rousseau als auch Smith sich auf unterschiedliche Weise mit der Entstehung des modernen Eigentums auseinandersetzen, ist dessen Ursprung für Burke kein Thema. Er bezieht die Institution des Privateigentums, das er als einen Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung begreift, stets auf die konkrete politische Ordnung. Das gilt für den wichtigen späten Aufsatz Thoughts and Details on Scarcity ebenso wie für die schon erwähnte Rede über ökonomische Reformen.66 In seiner großen Parlamentsrede aus den 1780er Jahren insistiert Burke insbesondere auf einer Ökonomisierung und Rationalisierung von Ausgaben der Krone.67 Er fordert weniger Verwaltungstätigkeit seitens der Krone und schlägt vor, deren Verwaltungen in England, Wales, Chester und anderen Orten allesamt einer gemeinsamen Leitung zu unterstellen. Darüber hinaus geht es ihm um eine Professionalisierung und Ordnung der Pensionen, die häufig willkürlich verliehen und dotiert werden. In diesem Zusammenhang spricht er sich schließlich für die Professionalisierung des öffentlichen Dienstes aus und fordert geregelte Bezahlungen für die Ausübung von Ämtern und Diensten. Ausdrücklich wendet er sich gegen den Heroenkult, den die großen Männer der Erbaristokratie pflegen, und warnt davor, die Funktionsfähigkeit der politischen Ordnung vom Fortbestand heroischer Tugenden unter den Angehörigen der politischen Klasse abhängig zu machen. Dieser Punkt ist

64 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 183 (OC III, 168). 65 Vgl. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité, 261f. (OC III, 190f.). Siehe dazu auch den Beitrag von Bruno Bernardi in diesem Band. 66 Vgl. die Darlegung der Prinzipien des öffentlichen Haushaltes in E. Burke: „Economical Reform“, 496f. 67 Ich folge hier der Interpretation von D. Bromwich: Intellectual Life, 351–368.

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in doppelter Hinsicht interessant: Einerseits greift Burke hiermit bereits vorhandene Tendenzen zu einer Rationalisierung und Verbürgerlichung des Staates auf, denen er mit seiner Umdeutung von Aristokratie in Leistungsaristokratie zusätzlich Nachdruck verleiht; andererseits bezieht er entschieden Position gegen Rousseau, dessen Republikanismus ohne die Existenz heroischer Figuren, seien es idealistische Gesetzgeber oder opferbereite Bürger, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, nicht auszukommen vermag. Wie sehr Burke eine Suprematie des Parlamentes am Herzen liegt, erkennt man an seinem Plädoyer zugunsten der Forderung, eben dieser Institution die verantwortungsvolle Funktion des Board of Trade zuzuweisen, da der Handel sowieso in die Kompetenz des Parlamentes falle. Was die Durchführung ökonomischer Reformen angeht, erweist Burke sich damit nicht nur als ausgesprochen marktfreundlich, sondern auch als sehr viel reformfreudiger als im politischen Bereich. Die ökonomischen Grundvorstellungen lassen sich in den berühmten späten Thoughts and Details on Scarcity sehr deutlich ablesen. In diesem Text wird Arbeit als eine Ware bestimmt und der Mechanismus von Angebot und Nachfrage naturalisiert. („Labour is a commodity like every other, and rises and or falls according to the demand. This is in the nature of things.“68) Die labouring poor gelten ihm als poor, weil sie viele sind und nur immer mehr materielle Bedürfnisse haben. Ausdrücklich wird der Marktmechanismus gelobt: „The balance between consumption and production makes price. The market settles, and alone can settle, that price. Market is the meeting and conference of consumers and producers, when they mutually discover each other’s wants.“ Regierungseinmischung in Wirtschaftsfragen hingegen wird ebenso ausdrücklich abgelehnt: „The moment that Government appears at market, all the principles of market will be subverted.“69 In diesem Kontext werden Gruppen, die eine politische Gestaltung von Märkten anstreben, polemisch als „zealots of the sect of regulation“ qualifiziert.70 Burke lässt sich in seiner Auseinandersetzung mit der Institution des Eigentums weit mehr auf praktische Fragen der Politischen Ökonomie ein als Rousseau, der einer ihrer frühen Kritiker ist. Die Bereitschaft zur Durchführung institutioneller Reformen auf politischem und ökonomischem Gebiet ist bei diesen Autoren unterschiedlich stark ausgeprägt. Während Rousseau letztlich auf beiden Feldern radikalen Lösungen den Vorzug gibt, ohne sich jedoch zur Institution des Eigentums in der Marktgesellschaft näher zu äußern, ist Burke in Fragen der Ökonomisierung des Haushaltes ein entschlossenerer Gradualist71 als auf dem Feld der politischen Institutionen im

68 E. Burke: „Thoughts and Details on Scarcity“, 122. 69 E. Burke: „Thoughts and Details on Scarcity“, 133, 135. 70 E. Burke: „Thoughts and Details on Scarcity“, 126. 71 Vgl. E. Burke: „Economical Reform“. Hier fallen auch die berühmten Sätze zu gradualistischem Wandel: „But as it is the interest of government that reformation should be early, it is the interest of the people that it should be temperate. It is their interest, because a temperate reform is permanent; and because it has a principle of growth. Whenever we improve, it is right to leave room for further



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engeren Sinn. Gemeinsam ist beiden, dass sie das immobile Landeigentum gegenüber dem mobilen Eigentum präferieren. Rousseau erblickt im – freilich gleichmäßig verteilten – Landeigentum die beste Gewähr für eine einfache, sittliche Lebensweise. Burke seinerseits begreift die Träger der verbürgerlichten landed aristocracy mit ihren langfristigen ökonomischen Interessen als notwendiges Gegengewicht zur Gruppe der sich nur in kurzfristigen Horizonten bewegenden Eigentümer mobilen Kapitals, und das nicht nur in England. Hier überlappen sich in einem kleinen Bereich kapitalismuskritische Motive, die bereits spätere Entwicklungen vorwegnehmen, in deren Verlauf die Eigentumsfrage schließlich zu einem wesentlichen Streitpunkt der politischen Theorie wird.

Resümee Ungeachtet der aufgezeigten Gemeinsamkeiten bleiben die tiefgreifenden Differenzen zwischen dem Republikaner Rousseau, der das normative Ideal der Selbstgesetzgebung ins Zentrum seiner politischen Theorie rückt, und dem politischen Denken des parlamentarisch-konstitutionellen Monarchisten Burke als dem Erfinder der gewachsenen prescriptive constitution72 bestehen. In ihrer jeweils spezifischen Ausformung repräsentieren Rousseaus politische Theorie und Burkes politisches Denken nicht nur divergierende Varianten der Konzeptualisierung von Politik, sondern nahezu prototypisch zwei gegensätzliche Muster institutionellen politischen Wandels, nämlich das der rational-voluntaristischen Verfassungsgebung auf der einen Seite und das des historisch-evolutionären Wandels auf der anderen.73 Rousseaus politische Theorie erkundet systematisch die Bedingungen der Möglichkeit von individueller und kollektiver Freiheit, Burkes politisches Denken hingegen kreist um den Erhalt und Ausbau gewachsener Freiheiten. Freiheit systematisch zu erkunden wie Rousseau, heißt für ihn, die Grenzen der Erfahrung und Klugheit zu verlassen und Revolutionen und Populismus Vorschub zu leisten. Institutioneller Wandel unterhalb der Ebene des politischen Systems wird von beiden Autoren allerdings jeweils als gradualistisch, schleichend und zudem oft nicht intendiert gedacht. Diese Schicht an Gemeinsamkeit schattet Burke in seiner Kritik an Rousseau zugunsten des prinzipiellen Gegensatzes völlig ab. Auf der Ebene der allgemeinen Theorie gibt es bei beiden aufklärerischen Aufklärungskritikern74 hingegen einige weitere erstaunliche Gemeinsamkeiten, was

improvement. It is right to consider, to look about us, to examine the effect of what we have done.“ Ebd., 492. 72 Francis Canavan: „Burke on Prescription of Government“, in Review of Politics 35/4 (1973), 454–474 73 Zur Unterscheidung dieser beiden Verfassungstraditionen vgl. Hans Vorländer: Die Verfassung. Idee und Geschichte, 3. überarb. Aufl., München 2009, 15f. 74 Während Rousseau kaum aus der Aufklärung hinaus eskamotiert wird, versucht man dies bei Burke öfter. Ich folge hingegen der Sicht von Pocock, der festgehalten hat: „I argue that Burke himself

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den Rekurs auf bestimmte Argumentationsbausteine betrifft.75 So spielt bei beiden nicht nur das emotive Subjekt eine große Rolle, sondern beide setzen auch stärker auf praktische Klugheit als auf eine abstrakt verstandene Rationalität. Eingespannt sind diese Gemeinsamkeiten allerdings in divergierende konzeptionelle Rahmen: So stehen Rousseaus Überlegungen im Kontext einer in verschiedenen Ansätzen entworfenen politischen Philosophie, während Burkes politisches Denken in historischpolitisch ausgelegten Schriften entfaltet wird und aus diesen destilliert werden muss. Beide Autoren verstehen Institutionen nicht als Regelsysteme im engeren Sinne, sondern in einem weiten Sinn als verbindlich gemachte (oder zu machende) Regelungen, die auf anspruchsvollen sozio-moralischen Voraussetzungen (Sitten) und Deutungen (Meinungen, Vorurteilen etc.) beruhen. Sie können beide zu Recht als Väter einer protosoziologischen Institutionenanalyse bezeichnet werden. Burke votiert dabei stärker für einen empirisch-normativen Ansatz, während Rousseau eher für einen vergleichend-normativen Ansatz plädiert; beide Autoren schreiben in diesem Zusammenhang – wie ich gezeigt habe – den Sitten jeweils die Rolle eines vermittelnden Gliedes zu. In ihrem Stil sind die großen Rhetoriker Burke und Rousseau sehr verschieden. Steht Burke für eine modernisierte klassische politische Rhetorik, kann Rousseau als Urheber einer neuartigen Rhetorik der Unbedingtheit und der Authentizität gelten. Ungeachtet dessen kritisieren sie jeweils die Insuffizienz der Vernunft: Burkes Plädoyer für die praktische Klugheit geht mit einer Rehabilitierung komplexitätsreduzierender Vorurteile einher, wohingegen Rousseau bestehende Vorurteile und damit verbundene Denkblockaden gerade durch Paradoxien aufzubrechen sucht. Beide stellen auf eine kontextgebundene Urteilskraft ab. Ganz offensichtlich ist dies bei dem parlamentarischen Praktiker Burke der Fall, demzufolge Politik, wenn sie nicht in Metaphysik stecken bleiben soll, beides braucht, nämlich „the use both of a fixed rule and an occasional deviation“.76 Dagegen erscheint Rousseau jedoch nur auf den ersten Blick als ein rein normativistischer Theoretiker der Volkssouveränität, der sich ausschließlich für die kohärente Konstruktion rechtlicher Prinzipien und die

was an Enlightened figure, who was himself defending Enlightened Europe against the gens de lettre and their revolutionary successors, and that he stands for Counter-Enlightenment, in Isaiah Berlin’s phrase, only in the sense that his is one kind of Enlightenment in conflict with another.“ John G. A. Pocock: Barbarism and Religion, Vol. 1: The Enlightenments of Edward Gibbon, 1737–1764, Cambridge 1999, 7. 75 Diese Gemeinsamkeiten arbeiten von den wenigen vergleichenden Arbeiten weder David Cameron: The Social Thought of Rousseau and Burke. A Comparative Study, London 1973 noch Ian Harris: „Rousseau and Burke“, in British Philosophy and the Age of Enlightenment, ed. by Stuart Brown, London, New York 1996, 354–378 heraus. Speziellen Problemen widmen sich Iain Hampsher-Monk: „Rousseau, Burke’s Vindication of Natural Society, and Revolutionary Ideology“, in European Journal of Political Theory 9/3 (2010), 245–266 und Paddy Bullard: Edmund Burke and the Art of Rhetoric, Ch. 6. 76 E. Burke: „Reflections“, 72.



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logische Verknüpfung politischer Institutionen interessiert und nicht von der Praxis her denkt. Tatsächlich jedoch ist er ein dezidierter Partikularist, der Normen stets im Kontext der jeweiligen politischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen und der Sitten eines Landes betrachtet und der deshalb auch die Frage des institutionellen Wandels stets mit Bezug auf spezifische politische Gemeinschaften und deren jeweilige Umstände erörtert. Das Konzept der mœurs, der Sitten, dient ihm in diesem Zusammenhang sowohl als eine Klammer als auch als eine Quelle des Gesellschaftsbegriffes und der systemischen Betrachtung von Politik. Was das Problem der symbolischen Produktion und Reproduktion von Legitimität anbelangt, gehen die Vorstellungen von Burke, der repräsentative Institutionen der hierarchischen Ordnung einer ständisch geprägten parlamentarischen Monarchie präferiert, und Rousseau, der die stets prekäre Legitimität republikanischer Ordnungen mittels Zivilreligion und identitätsstiftenden Festen und Gebräuchen absichern will, deutlich auseinander. Die von mir herausgestellte Ideologie der Sitten ist für beide wichtig, aber Burke setzt im Sinne der schottischen moral philosophy mehr auf äußere Verkehrsformen, während Rousseau vorrangig an die berühmten habitudes du cœur, also die schon erwähnte vierte Art von Gesetzen denkt, die in die Herzen der Bürger eingeschrieben und dort unmittelbar handlungsleitend wirksam werden sollen. In dem weiten semantischen Feld, in dem Burke und Rousseau institutionellen Wandel thematisieren, ist besonders das Moment der Sitten und Gebräuche hervorzuheben. Denn mit dem Sittenkonzept sind der Gesellschafts- und der weite Institutionenbegriff noch eng verbunden. Insbesondere stellen Burke und Rousseau mit den Sitten auf die sozio-moralischen Voraussetzungen von Institutionen ab, die in ihren jeweiligen Konzeptionen als eine Verknüpfung von Ideen und verstetigten Praktiken erscheinen, deren Wandel institutionelle Veränderungen nach sich zieht. Indem sie diesen Akzent setzen, nehmen beide Autoren eine partielle Dezentrierung des Subjektes durch dessen Einbettung in Institutionen, Sitten und Gebräuche vor. Wenn sie dabei insbesondere die Bedeutung von Traditionen und der natürlichen Sittlichkeit in den Vordergrund rücken, so tun sie dies in dem Wissen, dass Traditionen und Bindungen nicht nur erzeugt und geschaffen, sondern auch gepflegt und erhalten werden müssen, um ihre stabilisierende Wirkung zu entfalten. Burkes wirkungsgeschichtliche Argumentationsstrategie, die Rousseau gleichermaßen für schrankenlose Volkssouveränität, Atheismus und Chaos verantwortlich zu machen sucht, blendet die konservativen Motive von dessen Theorie aus. Rousseau ist aber kein Theoretiker späterer nationalstaatlicher Revolution, sondern ein kulturkonservativer Republikaner, der zwar einer radikal egalitären Verfassung das Wort redet, aber nicht deren gewaltsamer Durchsetzung. Sowohl Rousseau als auch Burke bewegen sich im Bannkreis der Institutionen, die ihr Denken mal affirmativ und mal kritisch umkreist, von denen es sich aber niemals löst – ein Umstand, den Burke bei seinem selbstgewählten Widersacher (bewusst) verkennt. Wenn der späte Burke sich von der in vielen Passagen der Reflec­ tions eifernden Kritik immer mehr verabschiedet, um in den nachfolgenden Schriften

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zunehmend zur geifernden Kritik überzugehen, so verfolgt er zwar seine politischen Ziele nach wie vor mit Vehemenz, entfernt sich dabei jedoch immer mehr von den Prämissen seines eigenen, auf Mäßigung abstellenden klugheitstheoretischen Ansatzes. Doch macht ihn dies noch nicht zu dem Reaktionär, zu dem ihn viele seiner Interpreten stempeln wollen. Im Gegensatz zu denjenigen, die der Rückkehr zu den alten Zuständen das Wort reden, hat Burke stets sehr genau zwischen der vorrevolutionären Verfassung Frankreichs und der tatsächlichen Regierungspraxis seiner Herrscher unterschieden und wurde nie müde, die Tyrannei und den Despotismus Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger zu geißeln. In seinem aristokratischen Eintreten für rechtsstaatlich geordnete Verhältnisse und eine begrenzte Regierung liegt die Konstante seines politischen Denkens, der er – trotz der Maßlosigkeit seiner Polemik – auch nach 1791 nicht untreu wird. So wandeln sich mit den Adressaten seiner Kritik, die von den absolutistischen Herrschern über die Vertreter der monied interests und die pure merchants bis zu den praxisfernen und ideologisch verblendeten men of letters reicht, auch die jeweils in strategischer Absicht von ihm entwickelten Argumente, die normative Zielrichtung der Kritik jedoch bleibt nahezu unverändert. Was freilich die Kritik an Rousseau betrifft, so dürfte die Schärfe derselben zu einem Gutteil dem Umstand geschuldet sein, dass der kampferprobte Parlamentarier Burke in seinen späten Jahren mehr und mehr in dem auf Zuspitzung und persönliche Konfrontation gerichteten Stil der Auseinandersetzung gefangen blieb, den er sich in zahllosen Unterhausdebatten angeeignet hatte. Wie er Warren Hastings, den früheren Generalgouverneur Indiens, in dem von ihm angestrengten Impeachement-Prozess (1788–1795) zum Ausbund aller Missstände und zum Inbegriff der moralischen Verkommenheit der ostindischen Kompanie macht, so stilisiert er in seinen revolutionskritischen Schriften Rousseau zum hauptverantwortlichen geistigen Urheber aller Übel und Schrecken der Französischen Revolution. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Berechtigung, wenn Jennifer Welsh schreibt, dass Burke sich in seinen späteren Schriften zur Französischen Revolution vom Propagandisten eines historischevolutionären Konstitutionalismus in einen „crusader“ verwandelt habe.77 Aber auch der alte Burke besitzt immer noch eine geschärfte politische Wahrnehmung, mit der er sich Einsichten erschließt, die anderen verborgen bleiben. Sein Geist war eben nicht nur vom Hass auf die Revolutionäre geblendet, sondern auch, wie es Alexis de Tocqueville so treffend zum Ausdruck gebracht hat, „vom Haß erleuchtet“.78

77 Jennifer M. Welsh: Edmund Burke and International Relations. The Commonwealth of Europe and the Crusade against the French Revolution, Oxford 1995, 91. 78 Alexis de Tocqueville: Der Alte Staat und die Revolution, i. dt. Übers. v. Theodor Oelckers, durchges. v. Rüdiger Volhard, m. e. Nachw. u. Anm. hg. v. Jacob P. Meyer, München 1978, 20.

Personenregister Abaelard 208, 217, 218 Adams, John 77 Adorno, Theodor W. 236 Agamben, Giorgio 16, 41 d’Alembert, Jean Le Rond 86, 87, 251, 271 Alexander der Große 108 Allard, Gérard 307 Althusius, Johannes 100 Arendt, Hannah 79 Ariès, Philippe 232 Aristides 173 Arnauld, Antoine 95, 142 August II. 188 August III. 188,189 August, Stanisław II. 190, 191 Austin, John Langshaw 313 Babeuf, François-Noël 279, 340 Bachofen, Blaise 110, 345 Bakunin, Michail 106, 124, 125 Barbeyrac, Jean 44 Bayle, Pierre 95, 217, 218 Beaumont, Christophe de 119, 124, 129 Beccaria, Cesare 327 Benoist, Alain de 17, 41–43 Benrekassa, Georges 342, 381 Bentham, Jeremy 280 Berlin, Isaiah 20, 46, 290, 398 Bernardi, Bruno 154 Betts, Christopher 55 Bodin, Jean 151, 166 Böker, Uwe 375 Bonnet, Charles 94 Bruyn, Fransz de 375 Buonarroti, Filippo 279, 280 Burke, Edmund 31, 32, 369–385, 388–393, 395–400 Burlamaqui, Jean-Jacques 97, 99, 100, 101, 166 Butler, Judith 308 Cabanis, Pierre Jean Georges 279 Calvin, Jean 21, 130, 131, 136–143, 150, 155, 203 Cassirer, Ernst 28 Chateaubriand, François-René de 125 Cicero 225 Citton, Yves 328 Cladis, Mark S. 68

Cohen, Joshua 35, 46, 51 Cole, George Douglas Howard 55 Comenius, Johann Amos 231 Condillac, Étienne Bonnot de 277 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat Marquis de 271, 279, 344 DeJean, Joan 208 Dent, Nicholas 29 Denzau, Arthur T. 11 Derathé, Robert 111, 114 Descartes, René 229 Derrida, Jacques 15, 213, 240, 310 Dewey, John 226 Diderot, Denis 24, 37, 43, 52, 53, 86, 184, 215, 251, 271, 308, 309, 314, 321, 323, 327 Dünne, Jörg 205, 212, 219 Dupin, Claude 73, 74 Dupin, Louise-Marie-Madeleine 73, 74 Engelsberger, Peter 219 Epiktet 119 Erasmus von Rotterdam 134, 203 Fabricius 105 Farel, Guillaume 131, 136, 139 Ferguson, Adam 247 Fetscher, Iring 31, 63, 254 Filmer, Robert 44, 252 Fiquet, Etienne 315 Flaccus, Aulus Persius 332 Fontaine, Jean de La 207 Forschner, Maximilian 46 Forst, Rainer 327 Foucault, Michel 229, 231, 307 Fox, Charles James 372 Freud, Sigmund 287, 294 Gadamer, Hans-Georg 236 Gaius 203 Galle, Roland 222 Gamm, Gerhard 234 Gehlen, Arnold 236 Gentz, Friedrich 381 Geoffrin, Marie Thérèse 190 Georgelin, Jean 178 Giannotti, Donato 71

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 Personenregister

Goldschmidt, Victor 164 Goulemot, Jean-Marie 307 Gramsci, Antonio 361 Grimm, Friedrich Melchior 85, 86 Grotius, Hugo 44, 45, 60, 71, 273 Habermas, Jürgen 36, 236 Halas, Franz 18 Hampsher-Monk, Iain 372 Hanley, Ryan Patrick 257 Harrington, James 71, 72, 89, 163 Hastings, Warren 400 Hauriou, Maurice 49 Hayek, Friedrich August von 38 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 29, 46, 81, 236, 287, 294, 370 Heinrich IV. 354, 355 Heloisa 208, 216–218 Helvétius, Claude Adrien 31, 372 Herbart, Johann Friedrich 235 Hirschman, Albert O. 378 Hobbes, Thomas 20, 45, 86, 89, 91, 97, 101, 103, 111, 166, 258, 273, 384 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 31 Hüchtker, Dietlind 185 Humboldt, Wilhelm von 235 Hume, David 246, 314, 378, 379, 385 Hutter, Axel 230 Inston, Kevin 48, 64 Jesus Christus 21, 141–143 Jünger, Ernst 21, 125, 126 Justi, Heinrich Gottlob 95 Kant, Immanuel 23, 29, 35, 46, 51, 59, 81, 230, 232, 269, 272, 279, 280, 287, 294, 295, 305, 370 Kerschensteiner, Georg 225 Kersting, Wolfgang 59, 100 Koch, Eckhart 55 Korsgaard, Christine 294 Koschorke, Albrecht 14 Koselleck, Reinhard 230, 339, 340, 342 Kratz, Peter 42 Kropotkin, Peter 124, 125 Laclau, Ernesto 41 Lactanz 203 Lafayette, Marie-Madelaine de 207

Leibniz, Gottfried Wilhelm 95 Leopold, Stephan 211, 214, 223 Lepsius, Mario Rainer 11, 185 Leroux, Pierre 280 Leszczynski, Stanislaw I. 83, 87, 89 Lévi-Strauss, Claude 232 Locke, John 20, 42, 89, 94, 225, 258, 273, 362, 394 Lofft, Capel 371 Lolme, Jean Louis de 58 Gordon, George Lord 374, 375 Ludwig XIV. 93, 400 Ludwig IX. 75 Luther, Martin 134 Lykurg 155, 156, 164, 358 Lyotard, Jean-François 317 Mably, Gabriel Bonnot de 24, 191–193, 196, 197, 279 Macaulay, Catharine 376 Machiavelli, Niccolò 69, 71, 76, 158, 162–165, 251 Makropoulos, Michael 228 Malebranche, Nicholas 95 Malesherbes, Chrétien-Guillaume de Lamoignon 85, 105 Man, Paul de 15, 16, 209 Mandeville, Bernard de 84, 246 Manin, Bernard 176 Mansfield, Harvey C. 385 Marx, Karl 35, 113, 287 Matzat, Wolfgang 214, 216 Meier, Heinrich 7, 15, 22, 42, 336 Mercier, Louis-Sébastien 339 Montaigne, Michel de 27, 108, 204, 229, 267, 268, 336 Montaigu, Pierre-François 169 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de 19, 23, 45, 64, 72–77, 96, 102, 169–176, 178– 182, 246, 273, 353, 362, 381 Morély, Jean 137 Morus, Thomas 148 Moses 67 Mouffe, Chantal 41 Nicole, Pierre 142 Nietzsche, Friedrich 229, 287, 294 North, Douglass C. 11 Nünning, Vera 376 Oakleaf, David 315

Personenregister  Oliveira, Claire Crillon de 342 Olsen, Mancur 60 Ott, Christine 220 Paine, Thomas 376 Pascal, Blaise 95, 138, 142, 207 Pateman, Carole 18, 35, 42, 52 Paulus 140 Peter I. 186, 188 Petrarca, Francesco 215 Philipp von Makedonien 343 Platon 108, 109, 148, 267, 308, 340, 342, 351 Plinius 93 Plutarch 267, 336 Pocock, John G. A. 69, 378, 397 Polybios 164, 342, 344, 351 Price, Richard 376, 384 Proudhon, Pierre-Joseph 124 Pufendorf, Samuel 44, 81, 97, 166, 273 Quesnay, François 246 Quintilian 203 Ramsay, Allan 315 Rawls, John 59, 279 Ravaillac, François 355 Raynal, Guillaume Thomas François 84 Rehberg, Karl-Siegbert 11 Reid, Christopher 374 Richardson, Samuel 371 Riley, Patrick 46 Le Mercier de la Rivière, Pierre-Paul 282, 283 Robespierre, Maximilien de 279, 281 Rochefoucauld, François de La 207, 320 Roederer, Pierre-Louis 279 Rolland, Romain 361 Rougemont, Denis de 215 Saage, Richard 64 Saїd, Edward 185 Saint-Pierre, Charles-Irénée Castel Abbé de 351, 354–356, 361, 365 Schiller, Friedrich 235 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 235 Schmidts, Ludwig 55 Schmitt, Carl 17, 18, 35, 36, 39–43, 47–50, 52 Schumpeter, Joseph Alois 20 Hérault de Séchelles, Marie-Jean 247 Servet, Miguel 131, 138 Sidney, Algernon 362

 403

Sieyès, Emmanuel Joseph 47, 48, 77, 103, 104, 247, 279, 365 Silvestrini, Gabriella 14, 22 110, 157, 158, 162, 164 Simmel, Georg 256 Smith, Adam 245–247, 298, 318, 319, 337, 378, 385, 395 Solon 75 Sozzini, Lelio 131 Sozzini, Fausto 131 Spann, Othmar 43 Starobinski, Jean 115, 218, 248, 264 Sternhell, Zeev 280 Steuckers, Robert 42 Stierle, Karlheinz 207 Stirner, Max 124 Stöferles, Dagmar 209 Strauss, Leo 9, 15 Talmon, Ya’acov Leib 17, 41 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 279 Tocqueville, Alexis de 211, 252, 386, 400 Tönnies, Ferdinand 42 Tronchin, Jean-Robert 22, 129, 132, 135, 142, 144, 147 Turgot, Anne Robert Jacques 246, 271 Ullrich, Heiner 226 Vargas, Yves 112 Vattel, Emer de 101 Vaughan, Charles E. 59 Vergil 66 Vinken, Barbara 205, 217 Viroli, Maurizio 163 Voltaire 23, 24, 31, 169, 170, 178–182, 184, 186, 191, 193, 199, 206, 327, 373, 381 Waldenfels, Bernhard 234 Warning, Rainer 207 Welsh, Jennifer 400 White, Stephen K. 375, 376 Wielhorski, Michał 191–196 Wilkes, John 374, 375 Wolff, Larry 185, 199 Wollstonecraft, Mary 371, 376, 384 Xenophon 173 Zwingli, Huldrych 134