Ist Krieg heilbar?: Anregungen für ein tiefenpsychologisch inspiriertes Politikverständnis [1 ed.] 9783896448125, 9783896730435

Eine tiefenpsychologisch inspirierte Deutung politischen Geschehens, die unter anderem verständlich macht, wie scheinbar

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German Pages 236 [237] Year 1998

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Ist Krieg heilbar?: Anregungen für ein tiefenpsychologisch inspiriertes Politikverständnis [1 ed.]
 9783896448125, 9783896730435

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Ist Krieg heilbar ? Anregungen für ein tiefenpsychologisch inspiriertes Politikverständnis

Für Peter Gelder Geiger, „my dear blotting paper", mein Echolot, mein geduldiger Zuhörer und guter Geist des Widerspruchs in vielen Bettgesprächen

Irmgard Geiger

Ist Krieg heilbar ? Anregungen für ein tiefenpsychologisch inspiriertes Politikverständnis

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Geiger, Irmgard: 1st Krieg heilbar ?: Anregungen für ein tiefenpsychologisch inspiriertes Politikverständnis. / Irmgard Geiger - Sternenfels ; Berlin : Verl. Wiss, und Praxis, 1998 ISBN 3-89673-043-6

ISBN 3-89673-043-6 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 1998 Nußbaumweg 6, D-75447 Sternenfels Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrecht­ lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren­ zen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sy­ stemen.

Printed in Germany

Inhalt Einführung................................................................................. 7

Neue Wissenschaften............................................................7 Die Leib-Seele-Einheit............................................................. 17 Aggression bei Tieren..............................................................23

Die „Kränkung"....................................................................... 29 Aggression beim Menschen................................................ 29

Gewissen und Gesellschaft.................................................... 35 Verdrängung, Projektion und Gemeinschaft......................... 45

Angst und Angstbewältigung.................................................. 53 Wettbewerb und Leistungsgesellschaft.................................. 61

Anpassungsneigung und Ambivalenz.................................... 69 Das Feindbild...........................................................................77

Perversion in Sexualität und Aggression................................ 85 Verformungen des Sexualtriebes als Denkmodell für die Deviationen der Aggression.................................... 85 Mögliche Vorteile von Krieg................................................... 91

Kommunikation statt Krieg.................................................. 91 Territoriale und „Soziale" Verteidigung................................. 97

Streiten verbindet.................................................................. 105 Die Verinnerlichung der Gewaltstrukturen.........................113

Nachfolge..............................................................................121 Das Rätsel unsinniger Gewalt............................................... 127 Selbstbehauptung und Destruktivität................................... 135 Identität - fanatisch verteidigt............................................... 141 Suggestion und Bewußtseinswandel.................................... 147

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Inhalt

Minoritäten und die pluralistische Gesellschaft.................. 155 Der Scheingegensatz Individuum - Gesellschaft................ 161

Die politische Instrumentalisierung unbewußter Prozesse............................................................ 171 Geschwisterrivalität...........................................................171 Vaternachfolge.................................................................. 173

Meinungskonvergenz...................................................... 173

Die Feindbildprojektion................................................... 175 „Die Revolution frißt ihre Väter"........................................ 179

Kollektive Regression........................................................179 Reform versus Revolution..................................................... 187

Die Bildung von Machtstrukturen aus Oben und Unten............................................................. 195 Herkunft der Macht aus der Familienstruktur.................. 196

Die Spirale des Machtstrebens..........................................197 Die Verinnerlichung der jeweiligen Machtstrukturen................................................................. 198 Die Verführung zur Macht................................................ 199 Die Pathologie der Macht..................................................... 203 Was ist „Charisma"?..............................................................211 Glück im Werden................................................................. 217 Selbstzeugung....................................................................... 223

Extractum...............................................................................229

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Einführung Neue Wissenschaften Das zwanzigste Jahrhundert brachte der Menschheit eine Zunahme von Wissen, wie sie bisher nie gesehen wurde. Die unvermeidliche Folge ist, daß sich unser Weltbild grundle­ gend wandelt. Nicht mehr der Mensch ist das Maß aller Din­ ge; er muß vielmehr erkennen, daß der Maßstab, den er den Dingen anlegt, allzu menschlich ist. Daran gemessen er­ scheint die kopernikanische Wende zu Beginn der Neuzeit wie ein frühes Wetterleuchten.1 Die umstürzenden Ergebnisse neuer Forschung waren indessen nicht eigentlicher Anlaß meines Buches. Vielmehr bewegt mich mit zunehmender Erfahrung immer mehr die Verzweiflung über die Sinnlosig­ keit und Leidträchtigkeit gewisser politischer Vorgänge, die unbeeinflußt bleiben von Einsichten, die das Übermaß an Leid reduzieren könnten. Die Irrationalität, von der sich Massen in den Ausbrüchen von überschäumender Begeisterung oder blinder Kriegsleiden­ schaft ergreifen lassen, ist nicht weniger beängstigend als Na­ turkatastrophen, Erdbeben oder Vulkanausbrüche, als Wirbel­ stürme oder Sturmfluten. Irrationalität, die zum Auslöser dra­ matischer Entwicklungen werden kann, lenkt nicht nur die Massen, auch die politisch Maßgebenden sind im angebli­ chen Zeitalter der Vernunft2 nicht frei von ihr. Die kollektiven Neurosen verbreiten sich durch den weitergehenden Einfluß der Medien, durch psychische Ansteckung schneller als die unbesiegbar erscheinenden Epidemien des Mittelalters. Wäh­ rend viele bakterielle Seuchen, die damals ganze Länder ver­ wüsteten, heute gemeistert werden können, sieht die psychi­ sche Ansteckung mit Haß und Zerstörungswut unbesiegbar aus. Sie durch mehr Einsicht in ihre Ursachen und in ihre Psy­ cho- und Soziodynamik zu mildern, erscheint zeitgenössi­ schem Denken aussichtslos. Das verheerende Ausmaß dieser Ausbrüche empfiehlt es, jeder Denkmöglichkeit nachzugehen.

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Einführung

Ich bin mir bewußt, daß ich mit der folgenden Gleichsetzung von physischem und seelischem Geschehen mehr als einen Widerspruch provoziere. Zunächst wird der alte Streit zwi­ schen den Methoden der Naturwissenschaft und denen der Geisteswissenschaft berührt. Die Forderung nach naturwissen­ schaftlicher Beweisbarkeit wurde mit dem Hinweis abgelehnt, daß kein Experiment den subjektiven Blickwinkel des Be­ obachters vermeiden kann, daß auch in der Naturwissenschaft die Erwartungen in die Resultate eingehen. Dies gilt für die Tiefenpsychologie, die sich mit dem Grenzbereich von Kör­ per und Seele befaßt, mehr als für alle anderen Wissenschaf­ ten vom Menschen. Sie begann wie alle Naturwissenschaft mit dem Sammeln von Fakten und dem Versuch, die Erkennt­ nisse aus den Beobachtungen in ein System zu bringen, um sie praktisch anwenden zu können. In dem Bedürfnis, ein Ge­ setz hinter den Daten zu entdecken, pflegen eine Überfülle von Arbeitshypothesen gebildet zu werden, die dafür anfällig sind, mit eindeutiger wissenschaftlicher Wahrheit verwechselt zu werden. Zudem ist es verführerisch, aus Einzelfällen Schlüs­ se ziehen zu wollen. Dieses unbefriedigende Vorgehen war insbesondere in den Anfängen der Tiefenpsychologie/Psychoanalyse nicht zu vermeiden. Wenn auch in der praktischen Anwendung die eine Hypothese mehr Verstehenshilfe vermit­ teln mag als manche andere, ist sie damit noch nicht bewie­ sen. Andere Beweise, etwa durch statistische Erhebungen auf einer zureichend breiten Basis, können Subjektivität der Deu­ tung so wenig ausschließen wie andere naturwissenschaftli­ che Beobachtungen. Wir müssen uns einerseits mit der Unzu­ länglichkeit unseres Wissens zufriedengeben, andererseits uns nicht entmutigen lassen in dem Versuch, die Krankheiten der Seele und der Gesellschaft zu lindern. Der Durchschnittskonsument denkt bei wissenschaftlichen Fortschritten insbesondere an die Grundlagen technischer Neuerungen. Andere neue Forschungsrichtungen genießen weit weniger Interesse, obwohl sie dazu angetan sind, das Zu­ sammenleben der Menschen entscheidend zu beeinflussen. Ihr sogenannter biologistischer Ansatz wird ähnlich abgetan wie einst die Arbeiten von Kepler, Kopernikus und Galilei, die das geozentrische Weltbild in Frage stellten.3 8

Einführung

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Grundlagen der Ethologie geschaffen, der Erforschung des tierischen Verhaltens, die mit den Namen Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen verbunden sind. Die vergleichende Ver­ haltensforschung ist im deutschen Sprachraum insbesondere durch die Veröffentlichungen von Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Wolfgang Wickler, beide Schüler von Lorenz, bekannt ge­ worden und untersucht die Parallelen im Verhalten von Tier und Mensch.4 In den USA hatten u.a. Dawkins und Wilson den neuen Zweig Soziobiologie entwickelt, die wie die ver­ gleichende Verhaltensforschung Übereinstimmungen im menschlichen und tierischen, insbesondere sozialen Verhal­ ten untersuchte.5 Es begegnete ihnen wegen ihrer teilweise provozierend vorgetragenen Thesen mehr Ablehnung als sie es verdienten. Diese neuen Entwicklungen sind ohne die einst heiß umstrittene Lehre Darwins von der „Entwicklung der Arten durch natürliche Auslese" nicht zu denken. So, wie es der Lehre Darwins ging, geschah es auch den neuen Wissen­ schaftszweigen: sie wurden mißverstanden, trivialisiert und ideologisch mißbraucht. Wegen der traditionell negativen Einschätzung alles Animalischen schien die Übertragung von Beobachtungen aus der Tierwelt die Würde des Menschen zu verletzen. Neuerdings gewinnt die Lehre Darwins eine uner­ wartete Erhärtung durch ihren praktischen Nutzen für die Kommunikationstechnik. Der Mensch geht die Wege nach, die die Natur in Jahrmillionen durchschritten hat.6

Neue Wissenschaftszweige, für deren Benennungen sich noch keine allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen herausgebil­ det haben, versuchen unter Namen wie Evolutionspsycholo­ gie, Evolutions- oder anthropologische Soziologie, Evolutions­ biologie, Evolutionsmedizin u.a. die Parallelen zwischen Tier und Mensch unter besonderer Berücksichtigung der Evolution aufzuzeigen. Sie entwickelten sich in der Zusammenarbeit vieler Disziplinen. Zoologen, Ethologen, Biologen, Anthropo­ logen, Ethnologen, Archäologen, Psychologen und Psychiater untersuchten in vergleichenden Forschungen die Ähnlichkei­ ten im Verhalten von Tier und Mensch.7 Zwei Forscherpaare, Margo Wilson und Martin Daly sowie Leda Cosmides und John Tooby sind besonders hervorgetreten. Die Effektivität 9

Einführung

ihrer Zusammenarbeit wirft ein Licht auf die Schwierigkeiten der neuen Forschungsrichtungen: nur in Teamarbeit sind Er­ gebnisse zu erzielen, weil der Umfang des nötigen Wissens für den individuellen Forscher, für das menschliche Gehirn zu groß geworden ist. Erst mit der Entwicklung einerseits von Supergedächtnismaschinen und Großrechnern wie dem Com­ puter und andererseits von gesellschaftlichen Großorganisa­ tionen mit gemeinsamer Sprache wie die Vereinigten Staaten eröffnet sich die Möglichkeit, vergleichende Untersuchungen im naturwissenschaftlich befriedigenden großen Rahmen durchzuführen. Gleichzeitig verbesserte sich, von der Grup­ penarbeit unterstützt, die Offenheit für Teamwork. Das tradi­ tionelle ehrgeizige Prioritätsdenken der Forscher mußte zu­ rücktreten, weil die Interdependenz alles Wissensfortschritts erkannt wurde.

Die Evolutionspsychologie vergleicht, in bisher bescheidenen Ansätzen, das Verhalten von Tieren mit dem von Urzeitmen­ schen (zu schließen aus Siedlungsfunden und Grabbeigaben), von heute lebenden Sammlern und Jägern und von modernen Menschen, insbesondere von Kindern. Als weiteres Ver­ gleichsmaterial kann der Mensch im regredierten Zustand dienen, wie er in der Psychiatrie zur Beobachtung kommt.8

Tierbeobachtungen legen nahe, daß vielerlei Verhalten, das u.U. sehr intelligent wirken kann, vererbt ist. Die Erbmasse, nachgeburtlich geformt durch Lernen, ist, mit Einschränkung, für Verhalten verantwortlich.9 Diese Sicht muß natürlich ein­ schließen, daß Körper und Seele nicht zu trennen sind. Es werden sogenannte „mentale Organe" angenommen, die das Verhalten steuern und wie andere Körper-Organe für be­ stimmte Funktionen wichtig sind. Der Nachweis ihres physi­ schen Substrats begegnet verständlicherweise großen Schwie­ rigkeiten. Unser traditionelles Denken wehrt sich gegen das Konzept, die Psyche sei ein physisches Organ. Es ist zweifellos demüti­ gend, anzunehmen, der denkende Mensch und seine Taten und Gedanken wären im Chromosomensatz verankert. Aber diese Annahme ist eine grobe Vereinfachung, genau so naiv, wie die Befürchtung, man könne mittels Klonen den passen­ 10

Einführung

den Serienmenschen züchten. Bei letzterer Illusion wird ver­ mutet, Verhalten sei ausschließlich durch die Gene bestimmt, was eben gerade nicht zutrifft. Erbgut und Umwelt und even­ tuell noch andere Faktoren wirken zusammen. Die Horrorvi­ sionen im Zusammenhang mit den ersten, durch Klonen ent­ standenen Säugetieren hätten Substanz, wenn die menschli­ che Psyche nicht ein unendlich komplexes Organ wäre. Man kann vielleicht Schafe zur Wollproduktion, Kühe mit hoher Milchleistung, Schweine zwecks Schnitzelerzeugung klonen, aber menschliche, insbesondere psychische und intellektuelle Leistungen haben viel komplexere Bedingungen. Dabei muß vor allem die Kulturabhängigkeit des Menschen und seine überlange Reifungsperiode berücksichtigt werden. Die ge­ nannten Aspekte werden so wenig gesehen, wie eine rationa­ le Begründung der übergroßen Emotionen versucht wird.

Die Vorstellung, daß der Mensch als hochentwickeltes Säuge­ tier zusammen mit den physischen Organen und der physi­ schen Entwicklung je nach Entwicklungsstufe mit den Tieren etwas gemein haben sollte, was bisher als nicht-körperlich angesehen wurde, war für die Geisteswissenschaftler beson­ ders schwer zu ertragen. Hier wird die traditionelle Denkwei­ se des metaphysischen Dualismus, der Trennung von Körper und Geist/Seele oft unreflektiert vorausgesetzt. Obwohl viele Volksweisheiten eine erbliche Grundlage von Verhalten und Charakter implizieren, besteht unbehelligt von diesem Den­ ken die alte Vorstellung einer unsterblichen, vom Körper un­ abhängigen Seele weiter. Manchmal wird der erbliche Aspekt von Verhalten und Charakter mehr betont, ein andermal die Wirkung von Erziehung und umgebender Kultur. Die Realität ist so, daß die unzähligen, eventuell mutierten Gene von Vor­ fahren beider Eltern vielfältigen kulturellen Einflüssen ausge­ setzt sind. Das Zusammenwirken der zahlreichen verschiede­ nen Einflüsse erzielt immer wieder individuelle Mischungen. Die Tatsache, daß der Mensch weit über 90 Prozent seiner Erbmasse mit den Primaten gemein hat, wirft die Frage auf, wie es zu dem unübersehbaren Mehr kommt, das wir der Kultur bzw. dem Geist zurechnen. Die Computertechnik, die Astrophysik ebenso wie die Kernphysik liefern uns Denk-

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Einführung

modelie, wie unter Einbeziehung unvorstellbar großer Räume und Zeitspannen es zu unvorstellbaren Ergebnissen kommen kann, für deren Erklärung die Menschheit bisher nur Trans­ zendenz imaginieren konnte. Der Grund für die Komplexität der geistigen Entwicklung liegt darin, daß sich mittels Sprache tradierte kulturelle Errungenschaften kumulieren. So, wie Erbmasse, Gene weitergegeben werden, vererben sich Wis­ sens- und Bewußtseinsinhalte, „Meme" genannt, durch Ler­ nen im weitesten Sinne.

Die Evolutionsmedizin will zeigen, daß viele unserer Krank­ heiten in der fehlenden Anpassung an eine seit der Steinzeit veränderte Umwelt ihre Ursache haben. Dazu muß man sich klarmachen, daß unser Ahn aus der Zeit der altsteinzeitlichen Höhlenzeichnungen, der homo sapiens, dem heutigen Men­ schen nicht etwa nur ähnlich, sondern gleich ist. Wie dieser hat er ein relativ zierliches Skelett und einen übergroßen Hirnschädel. (Diese Entwicklung spiegelt die sogenannte Neotenie, das Erhaltenbleiben kindlicher Formen beim Men­ schen, wieder.) Die Evolutionsmedizin nimmt an, daß heutige Krankheiten, so die häufigen Wirbelsäulen- und Skeletter­ krankungen oder die Allergien, auch die Fettsucht, der Diabe­ tes, der Hochdruck, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen u.a. damit Zusammenhängen, daß unsere Ernährungs- und Le­ bensbedingungen denen des Steinzeitmenschen völlig unähn­ lich geworden sind, während die Gene sich gleich blieben, daß also die Anpassung nachhinkt.10 Die Frage, welche Rolle die Umweltveränderungen seit der Altsteinzeit für die psychischen Erkrankungen spielen, wird von den Autoren der Evolutionsmedizin nur flüchtig behan­ delt. Fruchtbar scheint mir der Hinweis, daß Angstneurosen sich auf Urweltsituationen beziehen können, etwa die Angst vor Dunkelheit, vor Schlangen oder Spinnen, vor leeren Plät­ zen, vor engen Räumen. Interessant auch die Bemerkung, daß wir, genetisch bedingt, eher zu wenig Angst vor Schußwaffen, Drogen, Radioaktivität, Zucker und fettreichen Mahlzeiten (also heutigen Gefahren) haben, weil sie in der Urzeit unbe­ kannt waren. Die Autoren zitieren, im Hinblick auf das kind­ liche Verhalten, Rene Spitz und John Bowlby, beide unortho­ 12

Einführung

doxe Psychoanalytiker, die sich insbesondere mit der kindli­ chen Psyche auseinandersetzten." Die Frage nach der evolutionspsychologischen Wurzel von psychiatrischen Erkankungen muß berücksichtigen, daß An­ triebe sich krankhaft verformen oder fehlerhaft angelegt sein können. Nicht alles, was die Natur macht, ist von vornherein gut. Krankhaftes, das in der freien Wildbahn sofort der grau­ samen Ausmerze erliegt, bleibt unter den Schonbedingungen der Domestikation erhalten. Es gibt auf allen Entwicklungsstu­ fen Entgleisungen der verschiedensten Art. Die meisten Muta­ tionen von Genen beinhalten einen Mangel, gelegentlich aber können Genveränderungen Chance für eine vorteilhafte Ent­ wicklung sein. Sie waren es vieltausendmal in der Geschichte von Mensch und Tier und sind es noch. Wir haben daher keinen Grund, einem mißverstehenden Darwinismus folgend, dem physisch weniger Tüchtigen kein Lebensrecht zuzuge­ stehen. Viele andere Begabungen sind für die menschliche Gemeinschaft bedeutsam. Die Dominanz des Menschen ist vor allem seiner Fähigkeit zu verdanken, mittels Sprache mit­ zuteilen, welche Anpassungserfindungen er durch Folgern und Kombinieren gemacht hat. Massenvorkommnisse wie Hysterie und Panik und vor allem irrational anmutende gewalttätige Auseinandersetzungen las­ sen die Teilnehmer auf eine unreife Stufe regrediert erschei­ nen. Daraus kann die Hoffnung abgeleitet werden, daß eine Evolutionspsychologie und Evolutionspsychiatrie als Ver­ ständnisgrundlage für irrational anmutende Ausbrüche von Haß und destruktiver Aggression dienen könnte.

Es ist schwer zu sagen, ob der Eindruck zunehmender Ge­ walttätigkeit den objektiven Tatsachen entspricht oder ob es derartige Ausbrüche schon immer gegeben hat, sie aber nicht, wie heute durch die Ausbreitung der Massenmedien, zur allgemeinen Kenntnis gelangten. Geschichtsstudium macht uns mit unbegreiflichen Greueln bekannt und nährt den Ein­ druck, daß überbordende Grausamkeit und Destruktivität zu allen Zeiten als drohende Möglichkeit bestand. Auch ist denk­ bar, daß die zunehmende Übervölkerung ihre aggressions­ steigernde Wirkung zeigt. 13

Einführung

Konflikte, die nach früherer militärwissenschaftlicher Lehre Waffeneinsatz verlangen, können heute mit Hilfe der zuneh­ menden globalen Kommunikations- und Sanktionsmöglich­ keiten unter Schonung der menschlichen und materiellen Ressourcen auf dem Verhandlungswege gelöst werden. Die enormen Waffenarsenale, mit denen alle Völker ihre Wirt­ schaften ruinieren, werden überflüssig. Staatsgewalt ist nur mehr sinnvoll für den Fall irrationaler Aktionen mit Gefahr für Menschen und Staat. Am schwierigsten ist es dabei, die ein­ geborene Abwehr gegen alles Fremde zu beherrschen. Es sollte klar sein, daß das geforderte Umdenken weder durch Diktat noch durch Sonntagspredigten bewirkt werden kann. Nach Erfahrung der Psychotherapie gelingen nachhaltige Verhaltensänderungen erst in längeren Zeiträumen im Zusam­ menwirken von Selbstverständnis und reflektierendem Üben mit Hilfe zureichender Bezugspersonen. Da sich das Buch an alle Mitglieder der Polis wendet und letztlich ein politisches Anliegen hat, war mir eine allgemein­ verständliche Darstellung wichtig. Jeder, der politisch interes­ siert ist, der sich gedrängt fühlt, Gesellschaft mitzugestalten, auch von unten, soll sich dem Verständnis für die Hinter­ gründe gewalttätiger Auseinandersetzungen annähern kön­ nen. Er soll nicht, durch Fachchinesisch behindert, den Lese­ stoff entmutigt aus der Hand legen. Die Notwendigkeit einer allgemeinverständlichen Darstellung bringt es mit sich, daß bestimmte, in politischem Zusammenhang relevante tiefen­ psychologische Konzepte in einer Form besprochen werden, die den Informierten u.U. langweilt. In diesem Fall können die Kapitel 4 bis 11 überschlagen werden. In ihnen werden diejenigen Konzepte der Tiefenpsychologie, die für die späte­ ren Überlegungen wesentlich sind, dargestellt. Für denjenigen Leser, der sich kurz über die Hauptinhalte informieren möch­ te, ist das letzte Kapitel: „Extractum" gedacht. Ich bemühe mich, der Versuchung zu widerstehen, umfassend befriedi­ gende Antworten geben zu wollen, sondern sehe meine Ver­ mutungen und unvermeidbaren Irrtümer vielmehr als Anstoß für alle, auf diesem Gebiet weiter zu forschen.

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Einführung

Kurzfassung: Neues Wissen beinhaltet neue Auffas­ sungen von Welt und Mensch. Mit den neuen Wissen­ schaften eröffnet sich die Möglichkeit, das mensch­ liche Leben besser vor den Fehlleitungen durch falsche Annahmen, insbesondere vor Kollektivneurosen, zu schützen.

Anmerkungen 1

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Kopernikus zögerte lange, sein Buch „De revolutionibus ..." zu veröffent­ lichen. Das damals herrschende geozentrische Weltbild zu erschüttern, war selbstdestruktiv, denn es wurde von der Bibel als höchste Autorität gestützt. „Eines der ersten Exemplare erreichte Kopernikus am 24. Mai 1543. Er lag auf dem Sterbebett, las die Titelseite, lächelte und verschied in der nämlichen Stunde." Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 19, Editions rencontre, Lausanne Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 20, 21, 22: „Das Zeitalterder Vernunft bricht an ..." Editions rencontre Lausanne Es ist bezeichnend, daß Galilei erst vor Ende des zweiten Jahrtausends von der katholischen Kirche rehabilitiert wurde. Die Bücher von Koper­ nikus standen lange auf dem Index. „Der ausdrückliche Widerruf erfolgte erst 1828." Aus Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 19, Editions rencontre, Lausanne Konrad Lorenz, „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels". J. Ornithol. 83, 1935 Konrad Lorenz, „Das sogenannte Böse", Borotha-Schoeler, Wien 1963 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, „Grundriß der vergleichenden Verhaltensfor­ schung", Piper 1967, S. 18 ... „vergleichende Verhaltensforschung ... entwickelte sich aus der Zoologie ... und basiert auf der Entdeckung stammesgeschichtlicher Anpassungen im Verhalten." Wolfgang Wickler, „Die Biologie der zehn Gebote", Serie Piper 1991 R. Dawkins, „Das egoistische Gen" und „Der blinde Uhrmacher - ein neues Plädoyer für den Darwinismus", München 1990 und Wilson, E. O. „Biologie als Schicksal - die soziobiologischen Grundlagen des mensch­ lichen Verhaltens." Ullstein, Frankfurt 1980 Richard Formato, „Genetically designed Yagi", Electronic World, Sep­ tember 1997. „Genetic algorithmus, or GAS, are a class of optimisation techniques which mimic natural selection, i.e. „survival of the fittest." „Such algorithmus are applicable to many types of problems, and they are becoming increasingly useful in antenna design." „This example illu­ strates that genetic algorythms can produce very good antennas indeed." „Communication engineers will probably hear more and more about the genetic design approach." R. Wright, „Diesseits von Gut und Böse", Limes-Verlag 1996 W. F. Allman, „Mammutjäger in der Metro", Spektrum Akademischer Verlag 1996

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Einführung

Regredieren ist ein kurzzeitiges Zurückfallen oder ein dauerndes Zurück­ bleiben auf einer (zunächst individuell) früheren Entwicklungsstufe. 9 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, „Grundriß der vergleichenden Verhaltensfor­ schung", Piper 1967: „... untersuchen die von der Zoologie herkommen­ den Verhaltensforscher in erster Linie das Verhalten des gesamten Orga­ nismus in seiner Auseinandersetzung mit der belebten und unbelebten Umwelt"; „vergleichende Verhaltensforschung, ... weitere naturwissen­ schaftliche Disziplin, ... entwickelte sich aus der Zoologie ... und basiert auf der Entdeckung stammesgeschichtlicher Anpassungen im Verhalten". (Bei ihrer) ... „Suche nach systematisch verwertbaren Merkmalen stießen sie auf die formkonstanten angeborenen Verhaltensweisen, die ebenso wie morphologische Strukturen bestimmte systematische Kategorien kennzeichnen und aus deren abgestufter Ähnlichkeit sie die weitere oder nähere Verwandtschaft... ablesen konnten." 10 Randolph M. Nesse und George C. Williams, „Warum wir krank werden. Die Antworten der Evolutionsmedizin", C. H. Beck, München 1997 11 Renö Spitz, „Nein und Ja", Klett-Cotta, Neuaufl. 1992 Renö Spitz, „Vom Säugling zum Kleinkind", Klett-Cotta, Neuaufl. 1996 John Bowlby, „Mutterliebe und kindliche Entwicklung", Reinhardt, Neu­ aufl. 1995

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Die Leib-Seele-Einheit Übereinstimmungen im Verhalten der Mehrzahl der Men­ schen aller Entwicklungsstufen und der höheren Tiere, legen, wiewohl es natürlich viele Unterschiede gibt, die genetische Verankerung und das Vorhandensein „mentaler Organe" nahe.1 Man stellt sich unter Organen immer etwas vor, dessen Erscheinung und Funktion gesehen werden kann, ohne Hilfs­ mittel zu benutzen. Etwas, das nur mit indirekten Methoden, etwa mittels der Bestimmung der Gehirndurchblutung als Ver­ färbung bestimmter Gehirnregionen nachgewiesen werden kann, ist nahezu eine abstrakte Größe. Geist und Seele als körperimmanent vorzustellen, fällt auch ein halbes Jahr­ tausend nach dem Beginn naturwissenschaftlicher Forschung nicht leicht. Die Beobachtungen der Verhaltensforscher sind dem Allge­ meinbewußtsein zugänglicher mit Bildern wie dem schwim­ menden Konrad Lorenz mit der nachfolgenden Entenkette. Die angeborene Neigung der Küken, die Nähe desjenigen Lebewesens zu suchen, das sie als Erstes erblicken, wurde von der Entenmutter auf den Betreuer des Brutschrankes über­ tragen. Das ist nichts anderes, als wenn ein Kleinkind am Rockzipfel der Mutter hängt. Die Entlein waren auf Lorenz geprägt, sie hielten ihn für ihre Mutter.

Beim Tier entwickelt sich das Angeborene, die sogenannte Verhaltensdisposition, im Nachahmen und Lernen zum end­ gültigen Verhalten. Man spricht von Trieb-Dressur-Verschränkung. Auch beim Menschen werden Anlagen durch die Um­ welt, insbesondere durch die frühe Umgebung, geformt. Die­ se Formung ist wesentlicher Gehalt von Kultur. Sie schließt die demütigende Erkenntnis von dem geringen Grad unserer Freiheit und dem hohen Maß von Abhängigkeit von der Ge­ meinschaft ein.

Die Zeit unserer Kulturentwicklung ist, gemessen an mögli­ chen Veränderungen der Erbmasse, eine kurze Epoche. Die Erde hat sich immer wieder verändert, etwa am Beginn der Menschwerdung durch die zahllosen vulkanischen Eruptio17

Die Leib-Seele-Einheit

nen, die zu der Spaltung Afrikas in eine östliche und westli­ che Hälfte führten, dann durch die Eiszeiten und später zu­ nehmend durch menschliches Einwirken. Der Zwang zur Ver­ änderung war für diejenigen Menschen, die auf Grund ihrer Anpassungs- und Erfindungsgabe überleben konnten, ein Aus­ löser der Weiterentwicklung, die unter dem Gesetz der natür­ lichen Auslese erfolgte. Das heißt: diejenigen Individuen, die sich besser an die neuen Bedingungen anpassen konnten, hatten, den Katastrophen zum Trotz, bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen. Dadurch formte sich der heutige Mensch, der aber unendlich viel von früher, Gutes und Lästi­ ges, Unnützes und Ungenutztes, Bedrohliches und Vielver­ sprechendes mit sich herumträgt.

Der Eindruck, daß Leib und Seele nicht getrennt werden kön­ nen, drängt sich dem Arzt und vor allem dem Psychothera­ peuten auf, der täglich mit psychosomatischen Symptomen konfrontiert ist. Die Vorstellung, daß Verhalten, also etwas Psychisches, im Körper verankert ist, daß Körper und Seele eine Einheit bilden, erregt emotionsgeladenen Widerspruch, beinhaltet sie doch die Frage, was von uns nach unserem physischen Tod bleibt. Die Erwartung eines Lebens nach dem Tode dokumentiert sich in den sorgfältigen Bestattungen der Frühzeit mit ihren unzähligen wertvollen Grabbeigaben. Der Tote wurde mit allem ausgestattet, was er für die Reise in das fremde Land brauchen würde. Fürsten wurden mit Frauen, Dienern, Pferden und Hunden, mit all ihren Waffen und Reichtümern beerdigt, so als würde mit Sicherheit angenom­ men, daß sie diese Schätze in einem nächsten Leben benöti­ gen. Man sieht daran, wie intensiv die Überzeugung von einem Leben nach dem Tode schon lange vor unserer Zeit­ rechnung war. Im Gegensatz zum homo sapiens Cro-Magnon soll der homo sapiens neandertalensis seine Toten hastig und sorglos mehr beseitigt als beerdigt haben.2 Hatte er noch kei­ ne Vorstellung von einem Leben nach dem Tode? Kam sie mit dem Cro-Magnon-Menschen auf? Bereits für Buddha, dessen eigene frühe Lehren so merkwürdig modern anmuten, (im Gegensatz zum Buddhismus seiner Nachfolger) stand die Wiedergeburt außer Frage.3 18

Die Leib-Seele-Einheit

Ein weiterer Widerstand gegen die Annahmen der verglei­ chenden Verhaltensforschung und der Evolutionspsychologie liegt in der scheinbaren Erschütterung uralter gesellschaftli­ cher und religiöser Konzepte. Der freie Wille und damit die moralische Verantwortlichkeit scheinen in Frage gestellt zu sein. Die Vertreter der Gesellschaft fürchten offenbar, daß verbindliche Kodici ins Wanken geraten, wenn man Verhal­ ten als genetisch bedingt definiert und keine Vergeltung im Jenseits zu befürchten ist. Bei oberflächlicher Betrachtung kann die Vorstellung entstehen, der Mensch sei ausschließlich eine Triebmaschine. Dies gilt aber nicht einmal für Tiere. Auch sie haben Konflikte zwischen konkurrierenden Triebbe­ dürfnissen, bzw. Konflikte zwischen Trieben und angebore­ nen Triebhemmungen zu bewältigen. In dem lange vor der Entwicklung der amerikanischen Evolutionspsychologie ge­ schriebenen Buch „Die Biologie der zehn Gebote" von Wolf­ gang Wickler4 werden viele Erkenntnisse der neuen Diszipli­ nen vorweggenommen. Unter anderem weist Wickler darauf hin, daß der Mensch infolge seiner größeren Wahrnehmungs­ fähigkeit sich viel häufiger vor eine Wahl gestellt sieht, also „frei" entscheiden muß. Dadurch konkurrieren die Auslöser von Triebreaktionen wesentlich häufiger als beim Tier unter­ einander und mit Handlungsmotiven. Der Mensch ist häufiger in intrapsychischen Konfliktsituationen, bei deren Lösung er den Verstand zuhilfe nehmen muß. Das freie und bewußte Denken wird allerdings weitgehend überschätzt, ist jedoch nicht so unbedeutend, daß wir stets „animalischen" Antrieben ausgeliefert wären. Der Mensch hat die Fähigkeit, eine Trieb­ befriedigung aufzuschieben und seine Triebanlagen selbst zu modifizieren, wenn auch nicht von heute auf morgen. Ein reiner Willensakt ist nach Erfahrung der Psychotherapie zu Rückschlägen verdammt.

Sowohl Reinkarnations- als auch Paradieses-Glaube werden im allgemeinen als tröstlich erlebt in diesem Jammertal, in dem kein Sterblicher alle seine Möglichkeiten voll ausschöp­ fen kann. Sie haben aber über diesen Trost hinaus eine unvor­ stellbar disziplinierende Wirkung. Nur in diesem Glauben war es möglich, den anwachsenden Menschengruppen jenes Wohlverhalten in der Furcht des Herrn abzuverlangen, das 19

Die Leib-Seele-Einheit

das Zusammenleben in einer größeren Gemeinschaft erst möglich macht. Vermutlich wurde durch diese Disziplinie­ rung das kulturelle Erbe des Glaubens an ein Leben nach dem Tode (als Kultur-Gen oder „Mem" gedacht) ähnlich wie be­ stimmte genetische Erbstücke so erfolgreich und unzerstörbar. Diese soziobiologische Interpretation von Religion schließt die Vorstellung von einem göttlichen Prinzip als Zentrum des Universums, ganz gleich wie allzumenschlich oder vergeistigt sie gedacht sein mag, nicht aus.

Die vergleichende Verhaltensforschung legt die Vermutung nahe, daß ein Wiederaufleben überwunden geglaubter Ver­ haltensweisen, Regression auf urzeitliches Verhalten möglich sein könnte. Das Uralte wäre nur durch Erziehung und le­ bensgeschichtlich frühe Verinnerlichung von Geboten, even­ tuell auch durch genetische Veränderungen, durch erbliche Triebveränderungen, zugedeckt. Nur soweit eine Triebhem­ mung das Überleben einer Tiergruppe begünstigt, kann sich ein Gen, das ihr zugrundeliegt, im Erbgut einer größeren Anzahl von Individuen auf die Dauer ausprägen. Wir neigen dazu, kollektive und individuelle Regressionen negativ zu sehen, so wie alles Heutige reflektorisch als höher und besser gesehen und alles Vergangene spontan abgelehnt wird. Wenn neualte unübliche Lebensformen ausprobiert werden, etwa in drei- bis vier Generationen umfassenden, dem Matriarchat ähnlichen Familien, oder in Wahl-Groß­ familien oder Wohngemeinschaften, könnte dies auch ange­ sichts der unglaublichen Herausforderungen einer vom Men­ schen massiv veränderten, übervölkerten Erde Hilfe für gesell­ schaftliche Gestaltung veränderter Bedürfnisse sein. Wir tra­ gen Anlagen in uns, die überflüssig erscheinen, die aber ein Reservoir für notwendig werdende Neuanpassungen sein könnten. Man weiß aus der Psychotherapie, daß (individuelle) Regression nicht nur ein ärgerliches, neurotisches Verhalten ist, sondern auch ein Zurückschreiten sein kann, das einen neuen Anlauf ermöglicht.

Der Gedanke an eine Regression auf frühe Stufen der mensch­ lichen Entwicklung, Rückkehr zu archaischen Verhaltenswei­ sen, wenn etwa Jugendliche eine Aufmachung lieben, wie sie

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Die Leib-Seele-Einheit

bei Jäger- und Sammlerpopulationen zu beobachten ist oder wenn sie mit Lust Kleinkriege provozieren mit Gruppen, die ihnen keineswegs gefährlich sind, drängt sich auch dem Laien auf.5 Insbesondere angesichts der Irrationalität aggressiven Verhaltens bis zum Krieg oder der Verführbarkeit der Massen in der Demokratie durch die Medien, welche das Ziel der Demokratie fragwürdig macht6, wäre eine tiefere Einsicht in die Bedingungen politischer Entscheidungen, wie sie die Evo­ lutionspsychologie fördern kann, wünschenswert. Die For­ schung, bisher konzentriert auf die klassischen naturwissen­ schaftlichen Richtungen, hat eine umfangreiche Aufgabe vor sich, die der Verbesserung jetziger und drohender Bedingun­ gen des Zusammenlebens nutzbar gemacht werden könnte. Das vorliegende Buch ist ein Versuch, mögliche Zusammen­ hänge aufzuzeigen, eventuell Anregung für Forschungsvorha­ ben zu geben und den politisch Engagierten Verstehenshilfen anzubieten.

Kurzfassung: Die Annahme mentaler Organe wirft die Frage nach dem Leben nach dem Tode, nach dem freien Willen und der moralischen Verantwortung auf.

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Die Leib-Seele-Einheit

Anmerkungen Die Evolutionspsychologen John Tooby und Leda Cosmides wiesen darauf hin, daß ... „(die gleiche) Anatomie ... auf alle Menschen zutrifft. Warum, so fragten sie weiter, sollte es in Bezug auf Geist und Seele an­ ders sein?" Zitiert aus Robert Wright, „Diesseits von Gut und Böse", Li­ mes 2 William F. Allman, „Mammutjäger in der Metro", Spektrum Akademi­ scher Verlag 1996 3 Wenn Buddha den Heilsweg darin sah, die endlose Kette der Wiederge­ burten und damit das Daseinsleid zu beenden, dann schimmert darin vielleicht eine Hoffnung auf die selige Bewußtlosigkeit des Todes auf. Die frühchinesischen Taoisten, zeitlich parallel zu Buddha, interessierten sich nicht für das Leben nach dem Tode. Alan Watts, „Psychotherapie und östliche Befreiungswege, Kösel 1981 4 Wolfgang Wickler, „Die Biologie der zehn Gebote", Serie Piper 1971 5 Die lebensgeschichtliche Regression des Individuums ist nicht dieselbe wie eine entwicklungsgeschichtliche Regression. 6 Danilo Zolo, „Die demokratische Fürstenherrschaft", Steidl Verlag, Göt­ tingen 1997 1

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Aggression bei Tieren Es gibt sehr unterschiedliche, nicht nur destruktive Ausdrucks­ formen von Aggression bei Tieren und Menschen. Es war Konrad Lorenz, der bekannteste Vertreter der Ethologie und seine Nachfolger, die uns lehrten, Aggression differenzierter zu sehen. Er betonte die milden, nicht-zerstörerischen alltäg­ lichen Formen und ihre Bedeutung für das soziale Miteinan­ der. In seinem als Herausforderung gemeinten Buchtitel „Das sogenannte Böse" wollte er aussagen, daß es kein absolutes Böses gibt.1 Das Böse beim Menschen ist das, was als das für die Gemeinschaft Unzuträgliche ausgemacht wurde. Rousseausche Naturschwärmerei wollte alle Natur schon von sich aus als gut ansehen, was genau so wenig zutrifft, wie daß Aggression an sich böse ist. Gut, d.h. unglaublich angepaßt, wurden Einrichtungen der Natur erst nach einer unendlichen Reihe von Versuch und Irrtum, wobei der Irrtum den Unter­ gang, den Tod bedeutete. Nur was sich bewährte, war gut, weil es standhalten konnte. Wenn am Ende dieses Jahrtau­ sends politische und soziale Erscheinungen wie immer wie­ der in der menschlichen Geschichte den Eindruck aufkom­ men lassen, daß sich unter dem Zivilisationsfirnis ein wildes Raubtier versteckt, dann werden andere Verhaltensweisen: Bereitschaft zur sozialen Anpassung und Kooperation, die der Mensch ebenfalls mit den Tieren gemeinsam hat, übersehen.

Die zoologische Verhaltensforschung unterscheidet die soge­ nannte innerartliche von der zwischenartlichen Aggression. Nach Eibl-Eibesfeldt2 sind die beiden Formen von verschie­ denen Hirnabschnitten kontrolliert. Unter innerartlicher Ag­ gression versteht man die Aggression zwischen Tieren einund derselben Art, wie sie in Wettbewerbssituationen, insbe­ sondere im Dienste der Fortpflanzung, bei der Nahrungssu­ che, zur territorialen Abgrenzung, bei der Festlegung der Rangordnung u.ä. auftritt. Sie ist im allgemeinen nicht de­ struktiv, obwohl Tötung eines Tieres derselben Art vorkommt. Die schockierende Beobachtung des innerartlichen Mordes erklärt sich aus dem Antrieb, den eigenen Genen, diejenigen 23

Aggression bei Tieren

nah verwandter Tierindividuen eingeschlossen, einen Fort­ pflanzungsvorteil vor denen ferner Verwandter zu verschaf­ fen. Mit dieser Auswahl wird nicht die Fortpflanzung des Tierindividuums begünstigt, sondern dafür gesorgt, daß Tiere mit denselben überlebensgünstigen Genen mehr Nachwuchs haben. Diese Gegebenheit versuchte der bedeutende Vertre­ ter der Soziobiologie, Richard Dawkins, mit dem provozie­ renden Buchtitel „The selfisch gene" zu kennzeichnen.3

Auch beim Menschen finden wir innerartliche Aggression im Dienst von Nahrungserwerb, Verteidigung von Familie, Besitz und Land und beim Wettbewerb, insbesondere um die Frau­ en. Die Zivilisation verwischt die Tatsache, daß Partnerwer­ bung fast immer mit Aggression gekoppelt ist. Eingeborene, befragt, warum sie Krieg führen, gaben als erstes an: „Um Frauen zu rauben." Homers Ilias beschreibt den Krieg um Troya, um der schönen Helena willen. Der biologische Zu­ sammenhang von Sex und Aggression lenkt den Blick auf diejenigen meist patriarchalischen Gesellschaften, in denen Sexualität traditionell extrem eingeschränkt ist. Sexuelle Permissivität wird in dieser Sicht als Zeichen von Schwäche, Niedergang von Verteidigungsbereitschaft gedeutet, d.h. die Aggressivität, die durch die sexuelle Frustration der jungen Männer gesteigert wird, muß als Reservoir für Kriegsführung erhalten bleiben. So sehr diese Einstellung auch heute noch weitgehend vertreten wird: eventuelle frühere Vorteile militä­ rischer Auseinandersetzungen sind nicht mehr gegeben, weil alles, was mittels Krieg erzielt werden konnte, etwa die Ein­ ebnung von Unterschieden und der Ausgleich auf allen Ge­ bieten heute in Konsequenz der globalen Vernetzung erreicht werden kann. Die Revierverteidigung der Tiere fordert zum Vergleich mit der territorialen Verteidigung des Menschen im Krieg heraus. Krieg, das ist nach dem Krieg um Frauen vor allem Landesver­ teidigung, unter Umständen mittels Angriff. Eine traditionelle Agrargesellschaft wird Landesverteidigung als oberstes, natür­ liches Ziel darstellen. Millionen Jahre lebte der Mensch in kleinen, herumziehenden Horden von der Hand in den Mund und später über Jahrtausende nur von den selbstangebauten 24

Aggression

bei

Tieren

Früchten der Erde und den selbstgezüchteten Weidetieren. Dieses eingeborene Erbe kann nach ein oder zwei Jahrhun­ derten der teilweisen Entfremdung von der Scholle nicht ver­ schwunden sein. Territorialität ist bei Tier und Mensch weitverbreitet. Das muß aber nicht heißen, daß Revierabgrenzung mittels destruktiver Aggressivität, mittels Krieg, erfolgt. Die Natur kennt viele andere Formen; das Vogellied dient der Revierbestimmung ebenso wie Duftstoffe oder Markierung mit speziellen Drü­ sensekreten, mit Urin oder Kot. Exhibition, Kraftdemonstra­ tionen, wilde Drohgebärden sollen Eindringlinge abschrekken, ohne daß physische Aggression angewendet wird. Um die menschliche Aggression richtig einordnen zu können, muß man sich klarmachen, daß schon bei Säugern für das Überleben nicht allein physische Kraft den höchsten Überle­ bensnutzen für die Art hat, sondern u.a. auch Erfahrung, Bin­ dungsfähigkeit, „soziale Intelligenz" und, in Anfängen, Erfin­ dungsgabe. Die sogenannte zwischenartliche Aggression, gegen Tiere gerichtet, die einer anderen Art angehören, hat die Tötung des Beutetieres zum Ziel. Um gegenseitige (innerartliche) Tötung als Folge des Beutetriebes zu verhindern, haben Raubtiere instinktartige gegenseitige Tötungshemmungen entwickelt. Ohne diese würde sich die Art selbst gefährden.4 Erst das Ineinanderwirken von Triebhemmungen und Trieben erlaubt ein gedeihliches soziales Zusammenleben. Da beim Men­ schen die Triebhemmungen vorwiegend als Erziehungspro­ dukt angesehen werden, wird leicht vernachläßigt, daß auch der Mensch von Natur aus „humane" Reaktionen, wie Be­ schädigungshemmungen, kennt.

Diese sozialen, nicht unbedingt dem individuellen Schutz dienenden Verhaltensweisen lassen an eines der großen Rät­ sel der Tiefenpsychologie denken: selbstschädigendes Verhal­ ten beim Menschen. Nicht nur der Selbstmord wirft diese Frage auf. Insbesondere das Bedürfnis nach Selbstbestrafung und der Wiederholungszwang, das ungewollte Festhalten an neurotischem nachteiligem Verhalten, kann vom Psychothe­ rapeuten täglich beobachtet, aber nicht voll befriedigend

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Aggression

bei

Tieren

verstanden werden. Eine - nicht die einzige - Erklärungsmög­ lichkeit wäre, daß in bestimmten Fällen (insbesondere wenn durch irreleitende Prägungen die richtige Kombination von sozialer Angepaßtheit und Selbstbehauptung nicht erlernt werden konnte) der Selbsterhaltungstrieb zugunsten der Erhal­ tung der Gemeinschaft zurücktritt. Übrigens postulierte schon Freud in frühen Veröffentlichungen einen sozialen Trieb für den Menschen, interessierte sich dann aber stärker für die Probleme des Individuums mit seinen allernächsten Bezugs­ personen. Wir sind durch ein jahrtausendaltes kulturelles Training dazu erzogen, den Egoismus zu verabscheuen. Die Annahme eines sozialen Triebes, der diese ständige Mahnung überflüssig machen und uns drängen könnte, ohne Gebot selbstlos zu sein, scheint allzu unglaubwürdig. Ein Mensch, der sich aus später noch zu diskutierenden Ursachen als Außenseiter fühlt und unter Umständen im Gefolge Selbstmordideen entwikkelt, handelt so, als würde er sich als Hemmnis, als der Ge­ meinschaft unwert ansehen. Die positive Wirkung von Grup­ penpsychotherapie bei Depressionen liegt zum Teil darin, daß sich jemand als akzeptiertes Glied einer Gemeinschaft erleben kann.

Die Vermutung, daß auch wir Menschen ungewollt in be­ stimmten Fällen der Arterhaltung und nicht unseren individu­ ellen Bedürfnissen folgen, dürfte vermutlich energischer Ab­ lehnung begegnen. Dabei wird die Binsenwahrheit vernach­ lässigt, daß z.B. im Wahn der Verliebtheit der arterhaltende Endzweck für die Außenstehenden überdeutlich ist, wenn er auch im Bewußtsein der Liebeskranken keine große Rolle spielt. Auch die Psychoanalyse, in ihrer ursprünglichen Fixie­ rung auf das Luststreben, vernachlässigte den vordergründi­ gen Gedanken an die Fortpflanzungsfunktion der Sexualität. In dieser Gedankenlosigkeit nähern wir uns den Uranfängen, als die Menschen noch nicht um den Zusammenhang von Lust und Zeugung wußten. Die Frage, ob es einen genuinen Aggressionstrieb gibt, der spontan, ohne notwendigen Anlaß, auftritt, wurde von vielen Autoren leidenschaftlich diskutiert. Die Emotionalität der Aus­ 26

Aggression

bei

Tieren

einandersetzung ist angesichts der Bedeutung für die Ver­ meidbarkeit oder Unausweichlichkeit des Krieges verständ­ lich und ehrenwert. Ein unabhängiger Aggressionstrieb würde zur Folge haben, daß sich Aggressivität kontinuierlich aufbaut und in regelmäßigen Abständen nach Entladung drängt. Es ist einleuchtender, von einem gewissen Aktivitätsbedürfnis aus­ zugehen, das befriedigt werden muß und Aggression als ei­ nen Hilfstrieb zu betrachten, der sich dann entfaltet, wenn bestimmte andere Bedürfnisse (insbesondere Hunger und Sexualität) nicht befriedigt werden können.5 Dagegen wäre, falls Aggressivität als das Böse schlechthin definiert wird, Bosheit Schicksal und aller Verantwortung enthoben. Wenn aber Alltagsaggression als ungefährliche Norm angesehen wird, bzw. von einem Aktivitäts-, Selbstbehauptungs- und Ent­ faltungs-Bedürfnis gesprochen wird, hat die Zuordnung nur theoretische Bedeutung. Innerartliche Destruktion ist dann eine krankhaft-übertreibende Entgleisung. In diesem Fall inte­ ressieren vor allem die Ursachen aggressiver Übersteigerung, unsinniger Destruktivität, die man analog zu den sexuellen Fehlentwicklungen als krankhaft, als Perversionen verstehen muß. So, wie tierisches Verhalten sich im Lernen in der Tiergemein­ schaft formt, so beeinflußt in viel größerem Ausmaß die menschliche Gesellschaft das Verhalten. Kultur ist zum gro­ ßen Teil Gestaltung der Antriebe, kann sie allerdings auch verunstalten. Dies unterstreicht die Forderung, Erziehung solle sinnvolle Kultivierung der Triebe sein, gleich weit ent­ fernt von Unterdrückung oder Überbetonung.

Kurzfassung: Die Ethologie, tierische Verhaltenslehre, unterscheidet zwei Formen der Aggression: die inner­ artliche (Wettbewerbs-)Aggression, die nicht grund­ sätzlich destruktiv ist und die zwischenartliche (Beute-) Aggression, die stets die Tötung des Aggressions­ objektes zum Ziel hat.

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Aggression

bei

Tieren

Anmerkungen Konrad Lorenz, „Das Sogenannte Böse", Borotha Schoeler Verlag, Wien 1963 2 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, „Grundriß der vergleichenden Verhaltensfor­ schung", Piper 1967 und „Der vorprogrammierte Mensch", OrionHeimreiter 1985 3 Richard Dawkins, „The selfish gene", New York, Oxford Univ. Press 1989 4 siehe 2 5 Stavros Mentzos, „Der Krieg", Fischer Verlag, Reihe Geist und Psyche 1993. Der Autor sieht Aggression als Hilfsfunktion, ähnlich wie EiblEibesfeldt für die Tierwelt. Er bezeichnet die destruktive Entgleisung als Dysfunktion oder Perversion. Siehe auch Wolfgang Wickler, „Die Biolo­ gie der zehn Gebote", Serie Piper 1971. Auch der Lorenz-Schüler Wick­ ler wendet sich energisch gegen die Vorstellung von einem Aggression­ strieb, der aus einem Reservoir gespeist wird und zu regelmäßigen Aus­ brüchen führen soll. 1

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Die „Kränkung" Aggression beim Menschen Triebformung scheint schon in den frühesten Kulturen Gegen­ stand gezielter gesellschaftlicher Gestaltungsversuche zu sein. Die Eindämmung galt neben der Sexualität den aggressiven innergesellschaftlichen Äußerungen. Die moralische Abwer­ tung der als nur destruktiv vorgestellten Aggression verhin­ derte das Verständnis für ihren lebensfördernden Aspekt. So, wie in den Medien immer nur über destruktive Gewalttaten gesprochen wird, wobei Bemühungen um Konfliktlösung nur dann Beachtung finden, wenn sie mißlingen, geht es auch der Geschichtsschreibung und der Wissenschaft, so ging es auch Freud: destruktive Gewalt erschien übergroß - die mensch­ liche Fähigkeit und das menschliche Bemühen um koope­ rative Konfliktlösung werden nur nebenbei erwähnt: sie ha­ ben eben keinen Pop-Appeal. Es wurden daher neuerdings für die milde Aggression Bezeichnungen vorgeschlagen, die die negative Wertung vermeiden, so „Assertion" oder einfach Aktivitätsbedürfnis, Funktionslust u.ä. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse nach Freud erkannte die zentrale Bedeu­ tung des Bedürfnisses nach Selbstentfaltung und Selbstbe­ hauptung.

Die Erkenntnisse der Ethologie waren eine Bestätigung für die Erfahrungen der Tiefenpsychologie am neurotisch erkrankten Menschen: die unspektakuläre Alltagsaggression spielt für das menschliche Zusammenleben dieselbe wichtige Rolle wie die innerartliche Aggression für das tierische. Sie stellt nicht nur den notwendigen sozialen Abstand, sondern auch Beziehung her. Durch neuere zoologische Forschungen wurde erkannt, daß auch die Grundlage für das „Gute" in Form von selbstlo­ sem, sorgendem Verhalten bei Tier und Mensch gegeben ist. Im Gegensatz zu der Abwertung alles Tierischen in der christ­ lichen Vergangenheit hätten wir daher Anlaß, der Natur zu vertrauen.1

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Die „Kränkung*

Die Bedeutung der Selbstbehauptung, des aktiven Herange­ hens an Aufgaben und an potentielle Partner und der Abwehr von Beeinträchtigungen und Hindernissen geht schon aus der Wurzel des Wortes Aggression, dem lateinischen „Adgredi" (= Rangehen) hervor. Sich nicht wehren zu können, auf Ge­ genaggression zu verzichten, bedeutet wortwörtlich Krän­ kung: das Lebensgefühl wird reduziert bis zur seelischen oder körperlichen Krankheit, die Abwehrkräfte sind geschwächt. Aktive Auseinandersetzung schafft Beziehung. Das heißt nicht, daß für Kontakt und befriedigende Entfaltung der Persönlich­ keit physische Gewaltanwendung notwendig wäre, sondern daß zwischenmenschliche Konflikte ohne Zurückweichen und die dazugehörige Verdrängung zu lösen sind. Reibereien, „goldene Rücksichtslosigkeiten", Distanzschaffen durch un­ wirsches Verhalten oder Drängeln, auch das Vermeiden fal­ scher Bescheidenheit, sind als soziales Regulans Teil dieser Form der milden Aggression. Darüber hinaus beinhaltet kon­ struktive Aggression die Fähigkeit zur Initiative, das kraftvolle Sich-Durchsetzen und die Hartnäckigkeit im Verfolgen eines Zieles. Auch Kreativität, Beschreiten ungewohnter Wege, kann man darunter rechnen. Wenn man Aggression als einen notwendigen Antrieb defi­ niert, wird man, wie für andere lebenserhaltende Triebe, eine begleitende Lust erwarten müssen. Lust sorgt dafür, daß die­ jenigen Handlungen, die arterhaltend sind, auch gern, lustvoll ausgeführt werden. Aggressive Antriebslust ohne Destruktivi­ tät kann spielerisch erfahren werden als Freude am Wettbe­ werb bei der innerartlichen Aggression. Jagdlust begleitet die zwischenartliche Aggression. Beides äußert sich schon im Kinderspiel. Freud wollte anfänglich keinen Aggressionstrieb anerkennen, weil es ihm widerstrebte, daß die Aggression, die er als Destruktion verstand, von Lust begleitet sein könnte.

Lustgewinn vermittelnde, sozial unschädliche Aggressions­ formen können als Ventil zur Vermeidung destruktiver Re­ gungen dienen und daher für die Eindämmung von Mord und Krieg hilfreich sein. Derartige Ventilsitten wurden in vielen Kulturen in Form ritualisierter Kriegs- und Kampfspiele ent­ wickelt. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Olympiade der 30

Die „Kränkung"

Griechen. Der Humanethologe Eibl-Eibesfeldt sagt: „Eine Kultur mag friedlich oder kriegerisch sein, immer läßt sich die Tendenz, die Aggressionen zu ritualisieren, nachweisen."2 Turniere, Kampfspiele, sportliche Wettkämpfe erlauben es, Kampflust freizusetzen und sie zu genießen. Das passive, „kathartische" Ausleben von Aggression am Bildschirm in Form von Sport, Krimi, Western, womöglich Gewaltdarstel­ lungen wiegt allerdings nicht den Nachteil auf, daß die Gren­ ze zwischen Realität und Fiktion verwischt wird und, realitäts­ fern, ein Mord wie im Film ohne emotionale Beteiligung ge­ schieht. Das passive Miterleben erlaubt auch nicht die stim­ mungshebende körperliche Aktivität. Der Konsument dieser Unterhaltung leidet unter dem negativen Aspekt unserer Wohl­ fahrtswelt, die wenig Möglichkeiten positiver Aggressionslust bietet. Das Aggressionsventil in Form der „schönsten Neben­ sache der Welt" soll nicht entwertet werden, insbesondere nicht, wenn es Lust auf aktiven Fußball macht. Aktivität in Form von Arbeit vermittelt keine Lust, wenn sie Fron ist, da­ gegen durchaus bei Eigeninitiative. Neue Formen der Betriebs­ führung honorieren Einfälle und Initiative der Beschäftigten und tragen damit der Lust an selbstbestimmter Aktivität Rech­ nung. Bei kleinen und großen Aufgaben spendet die Kreativi­ tät des schöpferischen Prozesses über die Aktionslust hinaus Lust ähnlich wie die physische und sexuelle Kreativität.

Landsknechtslieder sangen vom „lustigen Streiten", von dem uns die Lektüre des „ Simplicius Simplicissimus" eine Ahnung verschaffen kann. Wie lustig ist die befohlene militärische Aggression im ganz anderen Krieg von heute? Die technische Entwicklung erzeugt Probleme, für die unsere Anlagen und unsere traditionellen moralischen Kriterien keinen ausrei­ chenden Leitfaden abgeben. Aggression mit Fernwaffen ist wie ein Spiel am Automaten: weil der Feind nicht unmittelbar sinnlich erlebt wird, kann sich Kampflust ungehindert von Tötungshemmungen, von Mitgefühl entfalten. Mitleid, unmit­ telbares Korrektiv miterlebten verletzenden Handelns, kann so wenig aufkommen wie bei den fürchterlichen, bürokratisch gelenkten Mordmaschinerien der Diktaturen. Beim Mord am Ende einer langen Befehlskette läßt sich Verantwortung nur 31

Die „Kränkung*

mit Schwierigkeit am Einzelnen festmachen. Dann hat der Schreibtischtäter oder der Organisator von Massentötungen so wenig Schuldgefühle wie der Befehlsempfänger, welcher den Tötungsbefehl gegen Unschuldige ausführt. Zur vermeintli­ chen Vermeidung der Schuld wurden bei der Todesstrafe die einzelnen Schritte auf Gesetzgeber, Staatsanwalt, Richter, Geschworene, Unterzeichnerund Henker verteilt.

Das Unrechtsbewußtsein des Durchschnittsbürgers hat sich, durch Bearbeitung von Fällen aus der Zeit der Kriege und der Diktaturen ein wenig dafür geschärft, daß blinder Gehorsam zur Mitschuld an den Morden der Befehlenden führt. Es ist notwendig, für mögliche Handlungsfolgen zu sensibilisieren, gefährliche Spätfolgen frühzeitig zu durchschauen und neue Standards zu erarbeiten. Hier zeigt sich wie in so vielem, daß unsere traditionellen Kriterien für die moderne Welt nicht mehr ausreichen. Insbesondere bei den Verantwortlichen des Fernsehens muß wegen der enormen Reichweite und Sugge­ stivkraft der Bilder betonte Sorgfaltspflicht gegenüber den Konsumenten eingefordert werden. Die heutige exklusive Marktorientierung ist ein Verbrechen an der Menschheit, das sich leider erst an den Enkeln rächen wird. Dabei könnte das Fernsehen für die Nationen eine Schule der Menschenrechte sein. Die Veränderung der Welt durch die Technik verlangt eine bewußte und aktive Neuanpassung unserer sozialen Verantwortlichkeit. Die ursprüngliche Gleichsetzung von Aggression und De­ struktion und die Unerkennbarkeit des Zusammenhangs zwi­ schen Ursache und verletzender Wirkung ist auch Schuld daran, daß die sogenannte „strukturelle Gewalt" nicht bewußt wird. Johan Galtung, der diesen Begriff prägte, meint damit „Gewalt ohne einen Akteur" die „in das System eingebaut" ist und sich äußert „in ungleichen Machtverhältnissen und folg­ lich in ungleichen Lebensweisen."3 Ihre nicht unmittelbar physisch schädigende Wirkung zeigt, daß auch nicht-physi­ sche Aggression destruktiv sein kann, also nicht schon per se akzeptabel ist.

Der Erfolg des Menschen als Spezies liegt in seiner Anpassungs- und Innovationsfähigkeit, weniger an seiner physi32

Die .Kränkung"

sehen „Fitness", erst recht nicht an seiner Aggressivität. Das wird schon illustriert in der griechischen Mythologie, wo der bucklige Schmied Hephaistos als der Erfindungsreiche charak­ terisiert ist. Manche Menschen, bei denen die physische Re­ produktion, die Weitergabe ihrer Gene ebenso zurücktritt wie die Fähigkeit zu körperlicher Verteidigung, dienen der Gesell­ schaft, indem sie ihre Denkfähigkeit intensiv entwickeln. Dies ist vielleicht die Ursache, daß Einzelgänger, die sich in ihrer Kommunikationsfähigkeit von der Menge unterscheiden, rela­ tiv häufig überragende geistige Leistungen vollbringen. Man sprach überspitzt von dem Zusammenfallen von psychischer Krankheit und Genie.4 Manche sind von ihrer Aufgabe so besessen, daß die vitalen Intentionen des Durchschnittsbür­ gers, wie Familie und Erwerb, völlig hinter der selbstgestellten Aufgabe zurücktreten.

Umweltveränderungen, wie wir sie heute im globalen Aus­ maß durchleiden, verlangen Neuformung insbesondere des aggressiven Triebverhaltens. Kriegsverheerungen können wir uns eigentlich nicht mehr leisten. Auch die kurzschlüssige Antwort auf die veränderten Bedürfnisse in Form von Moral­ predigten hat sich in der Geschichte nicht als wirkungsvoll bestätigt. Bei der Gestaltung der Aggression könnte wie bei anderen Antrieben der Lustanteil als Transportmittel dienen. Damit wird, wie schon bei Ventilsitten, eine positive Ausein­ andersetzung mit Aggression statt der üblichen folgenlosen Verdammung möglich. Es besteht Hoffnung, daß ständige Auseinandersetzung, begleitet von täglicher Übung, eingebet­ tet in eine gewalt- und destruktionsarme, die Menschenrechte respektierende Kultur, eine Hilfe ist, die aggressive Gestimmtheit unserer Welt im Verlauf von Generationen zu überwinden.

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Die »Kränkung"

Kurzfassung: Die Ergebnisse psychotherapeutischer Beobachtung bestätigen die Feststellung der zoologi­ schen Verhaltensforschung, daß nicht-destruktive in­ nerartliche Aggression (Assertion, Aktivität) Bedeu­ tung für die Gesundheit von Individuum und Gesell­ schaft hat. Die negative Beurteilung der Aggression bezieht sich auf ihre destruktiven Äußerungsformen. Aggressionslust kann zu Grenzüberschreitungen ver­ führen.

Anmerkungen Robert Wright, „Diesseits von Gut und Böse*, Limes 1996. Der Autor betont stark das Tiererbe der Kooperationsfähigkeit, vielleicht in didakti­ scher Absicht. Wulf, Wimmer, Dieckmann (Hrsg.), „Das zivilisierte Tier, Fischer 1996 2 Eibl-Eibesfeldt, „Der vorprogrammierte Mensch*, Orion-Heimreiter 1985, S. 149 3 Johann Galtung, „Strukturelle Gewalt*, rororo 1984 4 Cesare Lombroso, 1836-1909, „Genio e follia* 1

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Gewissen und Gesellschaft Trotz ständiger Mahnung zur Friedlichkeit, trotz Erziehung zu höflichen Umgangsformen ist unser Alltag voll von Aggressi­ on. Das fängt schon mit dem sprichwörtlichen Streit in der Kinderstube an. Schnell raufen sich auch die Kleinsten. Ge­ genüber dem Fehlverhalten oder der Unfolgsamkeit der Kin­ der können selbst sehr geduldige Eltern nicht immer gelassen bleiben. Wenn sie ärgerlich reagieren, lernt das Kind, daß es bei bestimmten Handlungen das Wohlwollen der Eltern ver­ liert. Das Kind mag sich wehren, verzichtet aber allmählich auf die untersagten Handlungen. Es verinnerlicht, wie man sagt, die Verbote der Eltern und entwickelt in seiner Seele eine Instanz, die die verbietenden Personen der Umwelt re­ präsentiert, von Freud als Überich bezeichnet. Die Verinner­ lichung der Verbote hat zur Folge, daß das Kind auch ohne Verweise, bei Abwesenheit von Mutter oder Vater sich sozial angepaßt verhält. Der äußere Zwang von Seiten der Eltern wird zum innerseelischen Zwang bei den Kindern.'

Die Eltern sind Delegierte für die Ansprüche der Gesellschaft. Ihr formender Einfluß erweitert sich auf höhere Autoritätsin­ stanzen, wie Großfamilie, Kindergarten, Schule, Jugendgrup­ pe, Berufsgemeinschaft, Gesellschaft, Staat. Die frühesten Einflüsse wirken allerdings am stärksten nach. Auf diese Wei­ se werden die Normen, die Besonderheiten und Absonder­ lichkeiten einer bestimmten Gesellschaft dem Heranwach­ senden, gemildert oder verstärkt, von Eltern, Familie und Subgruppe anerzogen oder eingebleut. Die Bereitschaft zur Identifizierung und die Fähigkeit zum Mitleiden unterstützen die Entwicklung des Gewissens. Wir müssen annehmen, daß unser Gewissen eine Weiterentwicklung der bei Tieren zu beobachtenden Triebhemmungen ist.

Das Gewissen, die Grundlage sozialer Verantwortung, ist je­ doch nicht ein unbeirrbarer Lenker in moralischen Entschei­ dungen, wie Kants Parallele zu den wegweisenden Gestirnen suggeriert. Es ist nicht so, daß der Mensch sich nach ihm rich­ ten könnte wie der Kapitän nach den Sternen.2 Das Gewissen 35

Gewissen

und

Gesellschaft

kann ein sicherer Führer, aber auch krank, verbogen, verdor­ ben, ein wuchernder Krebs, ein erstickender Panzer sein. Die Gestaltung des Gewissens durch die Mitmenschen und die Umwelt kann zu einer Übersteigerung und Verzerrung wie auch zu einer Abschwächung, ja scheinbaren Aus­ löschung der Einseitigkeiten einer Zivilisation beitragen. Für den Einzelnen bestehen wenig Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Kulturen, nicht einmal mit Subkulturen der eigenen Gesellschaft, denn die eigene enge Wertewelt wird für allge­ meingültig gehalten.3 In Abhängigkeit von der seelischen Gesundheit und Reife der Eltern werden dem Kind sinnvolle oder störende Verhaltens­ formen andressiert. Wenn die Verbote maßvoll, klar und kon­ sequent sind, bedarf die Verinnerlichung im allgemeinen keiner übermäßig harten Erziehungsmaßnahmen, weil eine angeborene Lerndisposition wie bei den Tieren die soziale Anpassung zu begünstigen scheint. Oft aber kommen die Einschränkungen von gestreßten, verwirrten und unreifen Eltern. Es sind ja nicht eindeutige, unabänderliche und einfa­ che Verhaltensformen wie bei den Tieren, die sie weitergeben sollen. Ursache der Verwirrung ist nicht nur die Unwissenheit der Eltern, ihre Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit, son­ dern auch ihre Angst um das Wohlergehen der Kinder. Sie reagieren oft übertrieben heftig aus Sorge, ihre Sprößlinge könnten nicht wohlerzogen genug sein. Sie geben den Anpas­ sungsdruck der Gesellschaft weiter. Das Bedürfnis, zu einer Gemeinschaft zu gehören, ist viel stärker als gewöhnlich an­ genommen wird. Es ist Grundlage für die Formung des Sozial­ verhaltens.

Je nach Zivilisation gelten bestimmte erziehungsbedingte Verformungen von Antrieben als besonders wünschenswert, auch wenn sie an der Grenze zum Krankhaften liegen. So wird womöglich Kadavergehorsam als Angepaßtheit, Streitlust als Heldenhaftigkeit, Arroganz als Selbstbewußtsein, Umtriebigkeit als Arbeitsamkeit, Frigidität als Keuschheit, Geiz als Sparsamkeit, Skrupulosität als Gewissenhaftigkeit oder Ord­ nungsliebe, Putzteufelei als Reinlichkeit usw. gelobt. Eine

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Gewissen und Gesellschaft

wahrscheinlich gutgemeinte Erziehung wirkte verformend, neurotisierend. Jeder kennt die mitleiderregenden Folgen einer törichten Pädagogik: Bedauerliche junge Menschen, die sich ihres Le­ bens nicht recht freuen, ihre Entwicklungsmöglichkeiten nicht wahrnehmen, schwer Freunde finden können. Gesellschaftli­ cher Rang schützt die Eltern nicht davor, ihre Kinder unter dem Vorwand „guter" Erziehung seelisch zu verkrüppeln. Die ungünstigen Erziehungseinflüsse können hinter einer Fassade der Wohlanständigkeit verborgen sein. Die Vertreter der bür­ gerlichen Moral weisen es dann weit von sich, wenn man ihnen vorhält, daß sie durch ihre Erziehungsmaßnahmen schwerwiegend gegen das Gebot des Nichtverletzens, „ahimsa" im Sinne früher Hindu-Weisheit bzw. gegen das der Liebe im christlichen Sprachgebrauch verstoßen und dabei das Kind krankgemacht, einen „Seelenmord" begangen haben.4

Gegen die Grausamkeit der Moralisten, die unter dem Deck­ mantel der Sorge verübt wird, sind die Opfer wehrlos. Der Strafende behauptet guten Glaubens, im Interesse des Bestraf­ ten zu handeln, er kann keiner bewußten Verfehlung bezich­ tigt werden. Er geißelt das kindliche Verhalten so, wie er sei­ ne eigenen „sündhaften" Gedanken geißelt.5 Auch in man­ chen Vereinigungen, die Liebe und Hilfsbereitschaft predigen, fällt dem erstaunten Beobachter eine versteckt gehäßige Art, miteinander umzugehen, auf. Subtile seelische Vergewalti­ gung wird zum Funktionsprinzip solcher Gemeinschaften. Die vordergründig unterdrückte Aggressivität macht sich un­ beabsichtigt als körperliche oder seelische Grausamkeit in der Lenkung der Seelen bemerkbar. Erziehungsgewalt kann nicht zum Abbau von Aggressionen beitragen. Ein Erziehungsstil dieser Art ist eine bedeutsame Wurzel des aggressiven Klimas einer Zivilisation. Es gibt viele „Strategien", die ein Kind entwickeln kann, um mit den ungünstigen Einflüssen fertig zu werden. Es kann sich total anpassen, dabei eigene Intentionen völlig aufgeben oder es kann dauernd stören und angreifen. Es kann übertriebene Ordnungszwänge ausbilden oder im Gegensatz dazu unbe­ greifliche Gleichgültigkeit darbieten. Es kann sich in häufige

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Gewissen

und

Gesellschaft

kleine Leiden oder eine chronische Erkrankung flüchten, um damit Zuwendung und Schonung zu bekommen. Es kann die Rolle des Sündenbockes oder des Hanswurst wählen. Es kann sehr fromm werden oder sich eine, vielleicht halbkriminelle, Ersatzfamilie suchen.

Eine von vielen Möglichkeiten, frühe Verletzungen zu verar­ beiten, ist überbetonte Aggressivität. Sie muß nicht Reaktion auf bewußt aggressives Handeln der nächsten Bezugspersonen sein: es genügt, wenn diese das Kind unbewußt ablehnen. Schon wenn ein Neugeborenes nicht die typische, biologisch bedingte Vernarrtheit der Mutter in den ersten Wochen ge­ nießt, bedeutet dies einen Mangel. Bereits der erste, vor­ sprachliche Kontakt mit der Mutter oder Pflegeperson formt das Kind im Zusammenwirken mit seinen Anlagen. Die Be­ ziehung ist schon durch das Stillen bzw. durch das einfühlsa­ me Füttern gegeben. Auch ohne offenkundigen bösen Willen oder sichtbare Vernachläßigung, ohne für den Laien erkennba­ ren Mangel, kann das Urvertrauen erschüttert sein. Oft hat die Mutter selbst nicht ausreichende Zuwendung erfahren. Da das Kind auf eine nicht-bestätigende Umwelt geprägt ist, erwartet es dieselbe Erfahrung bei späteren Begegnungen. Es hält seine Aggressionsbereitschaft für berechtigt und notwendig.

Faktoren, die unbedeutend erscheinen, lassen die immer vor­ handene Zwiespältigkeit der Mutter gegenüber dem ewig for­ dernden Balg zu einem Minus an emotionaler Zuwendung werden. Besonders das unerwünschte Baby, auch wenn es aus moralischen Gründen und/oder Mutterinstinkt akzeptiert wird, kann die Welt vom ersten Atemzug an, wahrscheinlich noch früher, als lebensfeindlich erleben. Diese Kinder brau­ chen später besonders viel Verständnis, wenn der Mangel ausgeglichen werden soll, machen aber Zuwendung wegen ihres immer wachen Mißtrauens schwierig. Es gibt Gesellschaften, in denen Kinder geradezu angebetet werden. Viele Kulturzeugnisse weisen darauf hin: Die Kleinen scheinen von der Natur dazu geschaffen zu sein, daß sie uns in ihrem kindlichen Reiz anbetungswürdig erscheinen. Wis­ sen um die Bedeutung frühester Erfahrungen könnte viel ag­ gressive Grundstimmung unserer Gesellschaft verhindern hel­ 38

Gewissen

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Gesellschaft

fen. Man kann Muttergefühle weder erzwingen noch einre­ den. Weil die Bejahung des Kindes von so hoher Bedeutung ist, sollte die Verantwortung für den Abbruch einer Schwan­ gerschaft, ganz gleich, wie verwerflich oder besonnen die Gründe sein mögen, allein bei der Mutter liegen. Es sollte nachdenklich machen, wenn Traditionalisten, die für die Er­ haltung des Lebens um jeden Preis eintreten, bei anderer Gelegenheit pathetisch von Soldaten Todesbereitschaft oder in anderen Fällen die Todesstrafe fordern.

Die frühe Erfahrung des Unerwünscht-Seins ist einer der Fak­ toren, die neurotisch, psychotisch, schlimmstenfalls asozial, ja kriminell machen können. Diese Erfahrung kann sich qualita­ tiv und quantitativ in vielerlei Formen ausprägen, abhängig von den erblichen Anlagen. Es gibt soviele verschiedene Ver­ arbeitungsweisen, wie es betroffene Individuen gibt. Unge­ wöhnliche Vitalität, ja Kreativität, kann zu einer „positiven" Verarbeitung der erlittenen Frustrationen verhelfen.6 Wenn man die Biographien herausragender Menschen studiert, fin­ det man nur wenige sogenannte „normale" oder schlicht Glückliche, Genußfähige. Die Beobachtung, daß viele früh Gekränkte ihre Verletzungen durch besondere, oft allgemein wertvolle Leistungen zu kompensieren suchen,7 zeigt deut­ lich, wie sehr der Mensch daraufhin orientiert ist, trotz der früh erlittenen Mißachtung als „nützliches Glied der Gemein­ schaft" anerkannt zu werden.

Wenige von uns sind ganz ohne Blessuren groß geworden. Eigene schmerzliche Erfahrungen könnten Verständnis för­ dern. Wenn jemand Gegenstand von unangemessenem, ag­ gressivem Verhalten wird, ist es hilfreich, sich die Frage vor­ zulegen, ob bei dem Verursacher eine Früherfahrung belebt wurde, ohne daß diese für den Außenstehenden mit der aktu­ ellen Situation erkennbar zu tun hat. Einfühlung in Flücht­ lingsschicksale hilft, unüberlegte Fremdenfeindlichkeit zu überwinden. Wegen der Verdorfung der Erde wird Versöhn­ lichkeit im größeren Rahmen unverzichtbar. Die Übergänge von der Alltagsgereiztheit über die angstbe­ dingte Aggressivität des Durchschnittsneurotikers bis zu der schwer verständlichen des Frühgeschädigten oder des Psycho-

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Gewissen

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Gesellschaft

tikers sind fließend. Die Aggressionsbereitschaft, die zu sozial unangepaßten und/oder kriminellen Handlungen führt, kann - entgegen der traditionellen Vorstellung - durch Strafe, Buße oder Rache nicht abgebaut werden. Bei Ausschreitungen im größeren Rahmen ist der Einsatz staatlicher Gewalt in der aktuellen Situation nicht ganz zu vermeiden. Er beseitigt aber das Übel nicht an der Wurzel. Polizeimacht ist nur vertretbar im Interesse der Gesellschaft, die natürlich ein Recht darauf hat, vor symptomatischen Reaktionen in Form asozialen Ver­ haltens, das ihre kranken Mitglieder darbieten, geschützt zu sein. Eine sachliche Haltung, vergleichbar der des Arztes gegenüber Krankheiten, ist angemessener als Haß. Sowenig eine emotional angeheizte Verurteilung einst gegen Aussatz half, sowenig ist sie heute berechtigt gegenüber psychosozia­ len Erkrankungen.

Seelisch-geistig kranke Menschen sind immer eine Belastung für die Umgebung. Die mehr oder weniger Gesunden sind damit besonders gefordert, was erträglich wird, wenn sie erkennen, daß die Mühsal inneres Wachstum fördert. Das klingt sehr anspruchsvoll. Nur wer den inneren Gewinn er­ fahren hat, wird sich ohne Erbitterung der Aufgabe stellen. Der Gewinn liegt darin, daß die Erschütterung der kulturim­ manenten rigiden Wertvorstellungen dem seelischen Wachs­ tum dient. Die Auseinandersetzung mit dem unverständlich Anderen, (etwa primitiven Wutausbrüchen, mit einer Regres­ sion auf archaische Konfliktlösung) wird dann zur Erforschung eigener Verdrängungen, Verschrobenheiten und unerwarteter Durchbrüche führen. Insbesondere für Menschen in sozialen Berufen wird Selbstprüfung immer wieder notwendig. Dies gilt auch für Ordnungshüter, denn sie sollten sich als Diener der Sozietät begreifen. Neurosen, Psychosen (letztere sind nur zum Teil Folgen von Frühschädigungen, ein Erb- und Anlagefaktor spielt mit) Kri­ minalität, auch der unbegreiflich überbordende Kriegs- und Gewaltrausch, den man als Kollektivneurose begreifen möch­ te, haben einen ihrer bedingenden Faktoren in den Fehlhal­ tungen der jeweiligen Gesellschaft, die die Familien mitge­ prägt hat. Die ausschließliche Orientierung auf Macht, Geld 40

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und Geltung erlaubt keine Entfaltung von Individualität. Ak­ zeptanz, Zuversicht, Hoffnung kann im Annehmen des Un­ vertrauten ungewöhnlichen Talenten Bahn brechen. Andern­ falls spült eine ungerechte Gesellschaftsordnung, unter der schon die Großeltern und Urgroßeltern litten, diejenigen, die durch ihr Anderssein, durch ihre Anpassungsprobleme Ärger­ nis erregen, als Strandgut an die Ränder der Gesellschaft. Die intrapsychischen und innergesellschaftlichen Spannungen entladen sich in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Latent Depressive finden entweder im Aktionismus oder im depres­ siven Rückzug, manchmal im Selbstmord, ja Mord ein Ventil.

Ratlose junge Menschen, die Ärgernis bereiten, ausgrenzen zu wollen, ist eine einfühlbare Reaktion, die aber nichts bes­ sert. Abbau psychischer Abwegigkeit ist eine Aufgabe für Generationen. Nicht jede innergesellschaftliche Destruktivität kann durch Verständnis und sachgerechte Vor- und Fürsorge unmittelbar geheilt werden. Derartige Milde erregt insbeson­ dere in konservativen Kreisen Anstoß. Es besteht weitgehend die Überzeugung, daß Anarchie eintrete, wenn keine starke Hand, keine Furcht vor Strafe im Diesseits oder wenigstens im Jenseits herrsche. Dabei wird übersehen, daß die abwegig Reagierenden nur eine Minderheit darstellen8 und daß es viele Menschen gibt, die sich auch ohne gesellschaftlichen Druck oder konfessionelle Bindung sozialkonform verhalten. Eibl-Eibesfeldt weist darauf hin, daß mit der Entwicklung von Organen und Verhalten, die der Aggression dienen, eine Ent­ wicklung der Bindungsrituale parallel geht. Wenn man dieses Gesetz auf den Menschen überträgt, müßte die Erfindung von immer zerstörerischen Waffen begleitet sein von einer Kulti­ vierung der Techniken zur Konfliktlösung. Verfassungen, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Dokumentierung der Men­ schenrechte wären als Entwicklungen zu betrachten, die ähn­ lich wie die modernen Bestrebungen, die Kommunikations­ fähigkeit zu verbessern (in Form von Schulungen im Manage­ ment, in den Konfessionen, in humanitären oder politischen Organisationen, als Gruppenpsychotherapie) auf der Grund­ lage der Bindungsrituale der Tiere aufbauen.

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Einsicht in die soziale Grundlage des Gewissens, in die ge­ samtgesellschaftliche Vernetzung von Bewußtsein und Un­ bewußtem läßt aus dem Gewissen des Einzelnen Verantwort­ lichkeit gegenüber der Sozietät werden. Vorbeugung sozialer und sozial bedingter Krankheiten muß, wie bei allen Erkran­ kungen, den Vorzug vor Heilung haben. Sie sollte bei Eltern und Großeltern, bei früheren Generationen beginnen. Die Gesellschaft dient damit ihrem zukünftigen Interesse: Sie schließt einen sozialpsychologischen Generationenvertrag: was heute getan wird, kommt den Kindern und Enkeln zugu­ te. Das mag vielen allzu selbstlos klingen. Da aber in allen Lebewesen vor dem Instinkt zur Selbsterhaltung ein Trieb zur Erhaltung der eigenen Genträger wirkt, muß diese Forderung nicht hoffnungslos idealistisch sein, würde vielmehr Konfor­ mität mit unserer Natur bedeuten.

Kurzfassung: Die Verinnerlichung von Verboten mit­ tels Erziehung schließt aggressive Elemente ein und er­ zeugt sowohl innerseelische wie auch gesellschaftliche Zwänge. Insbesondere steigern strenge Erziehungs­ stile, die Frühschädigung begünstigen, das aggressive Klima der Gesellschaft. Eltern brauchen Zeit und In­ teresse für ihre Kinder; Geld allein, eventuell vom Staat, genügt nicht.

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Anmerkungen 1 2

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Norbert Elias, „Zwang zum Selbstzwang*, Prozeß der Zivilisation I, Vorwort 1968 zu der ursprünglichen Fassung 1936 Immanuel Kant, „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.* Der Theologe Alan Watts, „Begründer der humanistisch-psychologischen Bewegung der USA, nimmt an, daß mit dem hinduistischen ,Maya' die Konzepte der sozialen Institutionen gemeint sind, die irrtümlich für ein­ malig und verbindlich gehalten werden.* Alan Watts, „Psychotherapy East & West", Random House, New York Leon Wurmser in: „Die Psychoanalyse schwerer psychischer Erkrankun­ gen*, Hrsg. Streek-Bell, Pfeiffer: „... chronische Traumatisierung von der Art, die wir als ,Seelenblindheit' oder ,Seelenmord' beschreiben kön­ nen.* Horst Eberhard Richter, „Eltern, Kind, Neurose*, Rowohlt 1974 Donald E. Winnicott, „Die menschliche Natur*, Klett-Cotta 1988: „Auf die menschliche Entwicklung bezogen, ... kann eine kranke Psyche eine hypertrophe Entwicklung des Intellekts nach sich ziehen.* Kay Redfield Jamison, „Manic-Depressive Illness and Creativity* Scientific American 1997/1 W. Wayt Gibbs, „Seeking the criminal Element*, Scientific American 1997/1, „... a very small number of criminals (are) responsible for most of the violence..."

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Verdrängung, Projektion und Gemeinschaft Wie viele seiner nächsten Tierverwandten lebte der Mensch von Anfang an in Gruppen. Er ist auf die Gemeinschaft hin entworfen und braucht sie für seine psychophysische Entwick­ lung.' Die unbewußte Bereitschaft, sich den anderen anzu­ gleichen, sorgt für den Zusammenhalt. Antriebe, die als ge­ fahrbringend für die Gruppe gelten, müssen verdrängt werden zugunsten des gemeinsamen Schutzes. Die spät entdeckte auffällige Gruppenbezogenheit des Menschen veranlaßte Foulkes zu der Feststellung: die Gruppe ist älter als das Indi­ viduum. Norbert Elias (Gesellschaft der Individuen) wendet sich gegen die Tendenz, das Individuum als geschlossenes System zu sehen, völlig unabhängig von den Menschen um ihn, gegen die Betrachtung der „Gesellschaft letzten Endes als ein Haufen von einzelnen, völlig voneinander unabhängigen Individuen, deren eigentliches Wesen in ihrem Innern ver­ schlossen ist und die daher nur äußerlich und von der Ober­ fläche her miteinander kommunizieren" und plädiert dafür, „... daß eine Interdependenz und eine Kommunikation zwi­ schen ihnen oder eine Erkenntnis ihrer durch Menschen mög­ lich ist."2 Das populäre Denken wehrt sich dagegen, beim Menschen eine Art Herden- oder Hordentrieb anzunehmen, der blinde Nachfolge einschließt. Wir sind als Erben der Aufklärung vom Primat der Vernunft überzeugt, wenngleich die Entdeckung des Unbewußten diesen schönen Glauben schwer erschüttert hat.3 Wer, wie Descartes, alles vom „klaren und distinkten Denken" glaubt ableiten zu können, wird das, was dagegen spricht, aus seinem Bewußtsein ausblenden. Das will natür­ lich nicht bedeuten, cartesianisches Denken sei der Haupt­ grund für Verdrängungen. Wir glauben uns auf die Unabhän­ gigkeit unseres Denkens und unseres sogenannten freien Willens etwas zugute halten zu dürfen. Im „Zeitalter der Ver­ nunft"4 begann sich ein Individualismus zu entwickeln, des45

Verdrängung, Projektion und Gemeinschaft

sen Überbetonung uns blind macht für das menschliche Gesellungsbedürfnis. In jüngster Zeit allerdings wird im Gegen­ satz dazu die Bedeutung der Gemeinschaft betont. Der in den USA entwickelte „Kommunitarismus" zeigt die Nachteile des schrankenlosen Individualismus auf, neigt allerdings auch wieder zu Übertreibungen nach der anderen Seite.5

Der Glaube an die Unabhängigkeit des eigenen Denkens scheint wichtig für den psychischen Haushalt und vor allem für die soziale Akzeptanz zu sein: es wird die Illusion geschaf­ fen, daß aus Überlegung gehandelt wurde. Diese „Rationali­ sierung" hilft, gegenüber der äußeren Gesellschaft und deren innerseelischen Entsprechung den Schein überlegten, ich-bestimmten Handelns aufrecht zu erhalten. In Wirklichkeit wa­ ren die Mehrzahl der Entscheidungen nicht Resultat unab­ hängigen Nachdenkens, sondern Ausdruck früh von der Um­ gebung geprägter Vorurteile. Rationalisierung ist in tiefenpsychologischer Sicht eine Ab­ wehrreaktion6, eine unter anderen seelischen Prozessen, die das Bewußtwerden verhindern. Schon das Kind ist geneigt, parallel zum Eigenwillen, aus innerem Zwang zur Anpassung, Antriebe zu verdrängen und zu modifizieren. Die Erziehung macht sich das Zugehörigkeitsbedürfnis zunutze. Sie ist das Instrument, mit dem wesentliche Anteile der Persönlichkeit, die nicht zu dem Kodex einer bestimmten Kultur passen, ins Dunkel des Unbewußten geschoben werden.7

Wenn der äußere Zwang zu innerem Zwang wird, sich Ver­ drängung vollzieht, (Norbert Elias, „Fremdzwang wird zu Selbstzwang") ist dies bis zu einem gewissen Grad eine indi­ viduell und sozial zweckmäßige Reaktion, deren abrupte Aufhebung, (etwa durch meist suggestiv bewirkte Heilung einer psychosomatischen Krankheit) sogar Psychose hervorru­ fen kann. Abwehrreaktionen gegen das Aufdecken von Ver­ drängung garantieren das Aufgehobensein im Mutterschoß der Gemeinschaft. Es ist daher normal, wenn nicht nur der seelisch Kranke, sondern auch der mehr oder weniger Ge­ sunde „verdrängt". Diese Form von Abwehr wurde „Coping", deutsch: Bewältigungsmechanismus genannt. Solange der Mensch sozial funktioniert und subjektiv nicht zu sehr leidet,

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wird er nicht als gestört bezeichnet. Kollektive Verdrängun­ gen können jedoch eine ganze Gesellschaft zu konformen krankhaften Reaktionen veranlassen. Wenn um der Zugehörigkeit zur Familie, der Anerkennung durch die Gruppe willen, unter dem Druck der kulturellen Umwelt unpassende Bedürfnisse unterdrückt wurden, bedeu­ tet das nicht, daß sie verschwunden sind. Die Unterdrückung, die einer erfahren hat, kann unbewußte Aggressionsursache werden. Der verinnerlichte, ursprünglich innergesellschaftli­ che, intragruppale oder intrafamiliäre Zwang wird wieder nach außen gewendet, die erlittene Gewalt antwortet als Ge­ waltbereitschaft bis Krieg.8 Antriebe, die in der Tiefe der Seele rumoren, suchen nach Befriedigung in irgend einer Form, unter Umständen als Surrogate. Durch Ersatzbildungen kön­ nen sie sich auf kompromißhafte, irritierende, schwer erkenn­ bare Weise durchsetzen. Unverständliche, manchmal skurrile neurotische Symptome haben in Verdrängungen ihre Wurzel.

Die Zeit des ganz jungen und jüngeren Freud, nach ihren neurotisierten Monarchen bei uns wilhelminische, in Großbri­ tannien viktorianische Epoche benannt, war gekennzeichnet durch eine heuchlerische Sexualmoral, begleitet von stickig­ schwüler Sexualität. Viele Frauen, aber auch Männer wagten unter diesem Druck nicht, sexuelle Befriedigung zu suchen. Die Sexualverdrängung äußerte sich vor allem als Hysterie, Konversion bzw. psychosomatische Erkrankung. Heute ge­ winnt man den Eindruck, daß die vorwiegend sexualbeding­ ten Neurosen an Häufigkeit abgenommen haben. Dieser Wandel ist ein Beispiel für die kulturelle Abhängigkeit seeli­ scher Erkrankungen. Das Bild änderte sich allerdings auch dadurch, daß die Fortentwicklung der Neurosenlehre eine differenziertere Diagnostik ermöglichte.

Die durch kulturelle Einseitigkeiten bedingten kollektiven Verdrängungen fallen wenig auf, solange ein gewisser Kon­ sens über das zu Unterdrückende besteht. Das Unbehagen an der Zivilisation veranlaßt erst dann ein Umdenken, wenn die Unterdrückung zu gehäuften Ausfällen oder Störungen, etwa zu sozialen Krisen bis zu Revolten führt. Das Leiden des ge­ sellschaftlichen Organismus sollte Herausforderung sein, 47

Verdrängung, Projektion

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Gemeinschaft

intrapsychische Unterdrückung wieder mit ihrer Ursache, der äußeren (interpersonellen und gesellschaftlichen) Unterdrükkung in Verbindung zu bringen. Der angenommene Feind dient als symbolhafte Darstellung des Verdrängten. Unbewußtes wird, eben weil es unbewußt ist, nicht als Teil der eigenen Psyche erkannt und statt dessen nach außen „projiziert"9, d.h. an anderen wahrgenommen. Die Fremden werden pauschal als Träger verpönter Eigen­ schaften vermutet. Eine differenzierende Wahrnehmung ist nicht möglich. Sie haben meist wenig mit dem zu tun, wie sie gesehen werden.10 Projektion ist, neben der oben erwähnten Rationalisierung und anderen Techniken der Verdrängung eine der Bewältigungsformen, dem Druck unbewußt gewor­ dener Bedürfnisse zu begegnen. Sie ermöglicht es, die Ursa­ chen von Problemen und Katastrophen bei einer anderen Person oder Gruppe festzustellen und diese für das Übel ver­ antwortlich zu machen, d.h.: Ein Feindbild wird aufgebaut. Die eigentlichen Ursachen der gesellschaftlichen Probleme, wie die Einseitigkeiten und Tabus einer bestimmten Kultur, die Erstarrung in überbewerteten Traditionen, die kulturelle Vererbung sozialer Ungleichheit werden nicht hinterfragt. Der Feind kann ein Nachbar oder ein Fremder, eine Untergruppe oder ein anderes Volk sein. Es leuchtet ein, daß keine sachlichen politischen Entschei­ dungen zu erwarten sind, wenn Politiker auf höchster Ebene sich derartigen Selbsttäuschungen kritiklos überlassen. Vor kriegerischen Auseinandersetzungen pflegen diese Vermutun­ gen angeheizt zu werden. Man darf nicht erwarten, daß die Begabung, die zu einem politischen Amt verhalf, Projektions­ bereitschaft ausschließt, denn es handelt sich um einen un­ bewußten, emotionalen, nicht um einen Denkprozeß. Das Unbewußte ist bei allen Menschen, ob gebildet oder naiv, gleich archaisch.

Traditionelle Feindbild-Projektionen haben den Vorteil, die Gesellschaft zu strukturieren und zu vereinheitlichen. Das Beharrungs- und Schutzbedürfnis der Glieder einer Sozietät bedient sich der Feindbilder, d.h. der Projektion des der Ver­ drängung unterworfenen, um eine Scheinhomogenität herzu­ 48

Verdrängung, Projektion und Gemeinschaft

stellen. Die Juden dienten immer wieder in ihrer Geschichte als Projektionsschirme für die Verdrängungen der Völker, in denen sie lebten. Feindbildprojektionen dienen, so anstößig sie sind, der sozialen Stabilität und helfen dem Einzelnen, Rollen und Identität zu finden. Es braucht aber das in einer Gesellschaft Abgelehnte, das aus Angst vor Ausgrenzung ver­ drängt wird, nicht objektiv den Gesetzen der Ethik zu wider­ sprechen, ja, es kann durchaus eine positive Qualität haben. Es ist lediglich jenes Verhalten, das dem herrschenden Kodex zuwiderläuft.

Die Familie wirkt als Vermittlerin dessen, was in der Tradition der jeweiligen Gesellschaft als verdrängenswert gilt, durch Angleichung der Mitglieder bei der Vereinheitlichung des Kollektivs mit: man nennt es Erziehung. Der Erwachsene pro­ jiziert später die früh an den ersten Bezugspersonen erworbe­ nen Vorstellungen von Gut und Böse, vom Nächsten, von Freund und Feind auf Rollenpartner, er „überträgt" das Bild von Mutter oder Vater usw. mitsamt deren Wertvorstellungen.

Rollenerwartungen in Zweierbeziehungen oder Gruppen be­ stimmen suggestiv das Verhalten der Interaktionspartner mit. Ungewollt verhält sich der Andere so, wie es von ihm in der jeweiligen Situation erwartet wird. Dadurch wird die erzieh­ erisch bewirkte Vereinheitlichung verstärkt: jeder glaubt, den Erwartungen entsprechen zu müssen. Keiner will so sein wie das kollektiv Abgelehnte. Eine größere soziale Einheit, die erbmäßig aus sehr unterschiedlichen Individuen zusammen­ gesetzt ist, wird dann als einheitliches Ganzes wahrge­ nommen. Früh Erworbenes sieht wie Erbgut aus. Es handelt sich jedoch nicht um genetisches, sondern um kulturelles Erbe, das „mit der Muttermilch eingesogen" wurde. Die frühe Verinnerlichung von Normen, bewirkt durch die zustimmen­ de oder ablehnende Haltung der nächsten Bezugspersonen, erzeugte Grundvorstellungen, die nur ganz bestimmte Deu­ tungen der Umwelt, etwa von Geschlechts- oder sozialen Rollen, zulassen. Sie werden für feststehende Gegebenheiten, für apriorische Wahrheiten gehalten, die nicht hinterfragt werden dürfen."

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Es ist schwer, diese früh erworbenen Vorurteile abzubauen. Sie kennzeichnen den Volkscharakter und werden über lange Epochen als gültig angesehen. (So erhält sich z.B. die Saga von der treudeutschen Wesensart über die Jahrhunderte. In Christoph von Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus" ist häufig von gar nicht harmlosen Betrügereien die Rede, obwohl gleichzeitig immer wieder die rechte „teutsche" ehr­ liche Art gelobt wird.)

Die kulturelle Vererbung der Sozialstrukturen einschließlich ihrer Feindbilder, die eine Weitergabe der Kodici von den Eltern an die Kinder beinhaltet, bedeutet, so wichtig sie für das Beharrungsvermögen einer Gesellschaft sein mag, Unfle­ xibilität gegenüber sich verändernden Bedingungen. Das ist heute in einer Zeit schnellen Wandels besonders nachteilig. Statt in elastischer Bereitschaft kontinuierlich Modifikationen zu erlauben, wird um der Einheitlichkeit willen ängstlich am Bestehenden festgehalten. Der Zusammenschluß von Ethnien und anderen Gruppen geschah ursprünglich, um die Bürger- und Menschenrechte der Mitglieder des Kollektivs zu gewährleisten. Aber eine derart eng geschlossene Gruppe kann für Hochbegabte, die für die Gemeinschaft besonders produktiv sein könnten, auch ein beengender Panzer sein. Die Starrheit muß bei denen, die darunter leiden, die Vorstellung provozieren, daß nur Gewalt, nur eine blutige Revolution die Verhärtung lösen könne. Rechtzeitige Reformen, wenn nicht von den politischen Füh­ rern, besser von einer wach gewordenen Bevölkerung ange­ mahnt und durch öffentliche Diskussion, durch Demokratie von unten erstritten, können helfen, sich dem Ideal der Chan­ cengleichheit und der allgemeinen Menschenrechte anzunä­ hern. Wenn die Menschenrechte weltweit ohne Ansehen der Person respektiert würden, wären damit - theoretisch - Min­ derheiten geschützt und wir bedürften keiner Gewalt, um Gewalt zu verhindern.

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Gemeinschaft

Kurzfassung: Von der sozialen Autorität abgelehnte Triebbedürfnisse werden aus dem Bewußtsein um der lebensnotwendigen Zugehörigkeit zur Sozietät willen verdrängt. Sie schlummern aber im Unbewußten. Die Projektion nach außen ist einer der Abwehrmechanis­ men, die das Bewußtwerden dieser Antriebe verhin­ dern. Kollektive Verdrängungen gewährleisten soziale Stabilität, heben aber nicht die Gefahr auf, daß die Gemeinschaft und ihre Individuen an der Verdrän­ gung krank werden. Die gesellschaftlich geforderten Verdrängungen sind Teil des kulturellen Erbes. Dessen allzu treue Bewahrung bedeutet Erstarrung.

Anmerkungen 1

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Freud allerdings hatte die Vorstellung, daß sich Gemeinschaft, Masse, erst aus Einzelnen bildet: ... „vor der Gemeinschaftsbildung bzw. Kultur­ entwicklung, wäre der Mensch am freiesten gewesen.* („Massenpsycho­ logie und Ich-Analyse*. Ges. Werke Bd. XIII). „Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur ...*, S. Freud, „Das Unbehagen in der Kultur", Ges. Werke Bd. XIV S. H. Foulkes, „Therapeutic Group Analysis, Allen and Unwin 1964, deutsch: „Gruppenanalytische Psychotherapie", Pfeiffer 1992 und Nor­ bert Elias, „Über den Prozeß der Zivilisation", Suhrkamp, Neuauflage 1991 Alexander Mitscherlich, „Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft", Piper 1963: „Von dem Idealentwurf seiner selbst, wie ihn der bürgerliche Hochindividualismus hervorgebracht hat, ist der ,Mann auf der Straße* außerordentlich weit entfernt. Er ist bis in Nuancen seiner affektiven Vor­ stellungen gruppengelenkt, begnügt sich mit der Rolle, Medium ver­ schiedener Gruppenforderungen zu sein, hat weder Neigung noch Ver­ ständnis für selbständige Entscheidungen." Will Durant, „Kulturgeschichte der Menschheit", Editions Rencontre Lausanne, Band 20 bis 22, „Das Zeitalter der Vernunft hebt an" Amitai Etzioni, „A responsive Society", Jossey-Bass Inc. 1991 Stavros Mentzos in „SchlüsseIbegriffe der Psychoanalyse", Hrsg. Mertens, Verlag Internationale Psychoanalyse 1993. Der Autor nennt drei Grup­ pen von Abwehrmechanismen: 1. psychotische, mit grober Verzerrung der Realitätswahrnehmung, wie psychotische Projektion, Verleugnung, Internalisierung und Spaltung; 2. relativ unreife Abwehrmechanismen ohne grobe Verzerrung, wie nichtpsychotische Projektion und Identifika­ tion und 3. relativ reife Abwehr, wie Intellektualisierung, Affektualisierung, Rationalisierung, Affektisolierung, Ungeschehenmachen und Reak­ tionsbildung, Verschiebung, Verlagerung und Verdrängung.

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Gemeinschaft

Freud hat in seiner Arbeit: „Das Unbehagen in der Kultur*, Ges. Werke, Bd. XIV, auf die Verschränkung zwischen Verdrängung und Kultur hin­ gewiesen: „Drittensendlich, und das scheint das Wichtigste, ist es un­ möglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung, Unterdrückung oder Verdrängung oder sonst etwas, von mächtigen Trieben zur Voraus­ setzung hat. Diese ,Kulturversagung' beherrscht das große Gebiet der Be­ ziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.* 8 Alexander Mitscherlich: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft*, Piper 1963: Hinweis darauf..., wie ... der ungesättigte Unlust berei­ tende Triebüberschuß ... auf den jeweiligen Feind abgelenkt wird.* 9 Der tiefenpsychologisch als Projektion bezeichnete Vorgang entspricht nicht genau dem, was man physikalisch unter Projektion versteht. Bei der tiefenpsychologischen Projektion kann der Projektionsschirm, der Mensch oder die Gruppe, auf die projiziert wird, das Bild in unterschied­ lichem Ausmaß mitformen. Deshalb hat Mentzos für den Fall, daß das Projektionsobjekt dem Projizierten entspricht, den Begriff „Realexternalisierung* geprägt. Stavros Mentzos, „Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen*, Fischer 1993. Meiner Erfahrung nach sind die Überein­ stimmungen zwischen Realität und Feindbild sehr oberflächlich. 10 Sudhir Kakar, „Die Gewalt der Frommen*, C. H. Beck 1997. Der indi­ sche Psychoanalytiker schildert die häufigen blutigen Auseinanderset­ zungen zwischen Moslems und Hindus in Indien. Er weist darauf hin, daß beide Seiten ähnliche Beschuldigungen gegeneinander vorbringen, die weitgehend unbegründet sind. 11 Alan Watts ist der Ansicht, daß das, was im Vedanta und im Buddhismus als ,Maya' bezeichnet wird, dieser von der jeweiligen sozialen Einrich­ tung' propagierten Weitsicht entspricht und nicht, wie im Westen weit­ gehend angenommen, von einem Scheincharakter der physischen Welt ausgeht. Befreiung ist in dieser Sicht die Erkenntnis des ,als ob' der jewei­ ligen gesellschaftlich sanktionierten Weltdeutungen. Alan Watts, „Psy­ chotherapie und östliche Befreiungswege*, Kösel 1981

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Angst und Angstbewältigung Angst ist ein ständiger Begleiter des Lebens. Ohne sie würden sich Mensch und Tier unnötigen Gefahren aussetzen. Damit die Gruppe dem Einzelnen Schutz vor äußerer Bedrohung geben kann, muß Angst gemacht, muß mittels dramatisieren­ der Übertreibung magische Angst erzeugt werden. Damit wird erreicht, daß Bedrohungen ernst genommen werden. Die innere Angst, die die äußere Gefahr vertritt, verhindert den Verstoß gegen schützende Gemeinschaftsregeln. Ob Angst von außen oder von innen kommt: sie kann nicht vermieden werden, so sehr wir es auch wünschen. Angst schützt und stützt, engt jedoch gleichzeitig ein wie ein Panzer oder Korsett. Aber Angst ist der Zwilling der Aggression. Jedes Lebewesen ist sowohl ängstlich als auch aggressiv, zeigt dies aber in unterschiedlichem Ausmaß. Das Leben geht ständig einher mit halbbewußten Vorstellungen von angstmachenden Situationen, verschwistert mit aggressiven Phantasien, die nicht unbedingt zu Handlungen führen müssen. Derjenige, für den Friedfertigkeit das Ideal ist, kann das Gegenstück, die Feindseligkeit, nicht ganz verdrängen. Andere, die zwanghaft überall Mut beweisen müssen, wollen ihre Angst nicht einge­ stehen. In Träumen und anderen Äußerungen des Unbewußten zei­ gen sich Angst und Aggression viel unverhüllter und intensi­ ver als im Wachen. Wegen der sozialen Mißbilligung besteht die Neigung, beide vor dem eigenen Bewußtsein zu verstekken. Fast regelmäßig verbirgt zur Schau getragenes Selbstbe­ wußtsein uneingestandene Angst. In der Gruppenarbeit kann man erfahren, daß Mitglieder, die von anderen als selbstbe­ wußt, ja arrogant erlebt werden, sich selbst als besonders unsicher bezeichnen. Umgekehrt können unbewußte Phanta­ sien derer, die dauernd von ihrer Angst sprechen, unerwartet aggressiv sein. Der erfahrene Beobachter versteht trotz friedli­ cher Worte den gereizten Tonfall, die aggressive Körperspra­ che. Es ist bei der Beurteilung eines aggressiven Gegenübers hilfreich, sich klarzumachen: Angriffsbereitschaft verbirgt

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Angst

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Angstbewältigung

Angst. Der spontan aufsteigende Ärger über Unhöflichkeiten klingt schnell ab, wenn man die Angst hinter der Maske er­ kennt. Angst kann Ursache verhängnisvoller Mißverständnisse sein: etwa bei blutjungen Soldaten oder Polizisten, die als bloße Befehlsempfänger den Grund für ihren Einsatz nicht richtig verstehen, aus Angst aggressiv werden und überschnell zur Waffe greifen. Die in der Angst unbewußt ausgedrückte Aggressivität hat dieselbe Funktion wie bestimmte physische Reaktionen, die größer und stärker erscheinen lassen sollen. Dazu gehört etwa das Aufstellen der Rückenhaare bei Tieren oder die typisch breitbeinige Haltung mancher Jugendlicher, bei der die Schultern vorgeschoben werden. Die leicht wach­ zurufende Angst lädt zum politischen Mißbrauch ein: indem Angst eingeflößt, eine Scheinbedrohung suggeriert, ein Feindbild aufgebaut wird, kann mühelos Aggression mobili­ siert werden. Von der Kinderstube über die militärische Aus­ bildung bis zu den kompliziertesten politischen Prozessen bietet sich dieser Trick an.

Natürlich gibt es berechtigte Realangst, etwa vor ungewöhnli­ chen physischen Gefahren oder vor schwierigen Auseinan­ dersetzungen. Sie wird durch vielfältige Suggestionen zu be­ wältigen versucht. Das Preisen des Mutes in den Heldenge­ dichten ist suggestive Hilfe, Angst zu unterdrücken und die naheliegende Wendung zur Flucht zu verhindern. Auch der Glaube an die Waffe hat Suggestivkraft. Das Schwert des Heroen bekommt einen Namen, als wäre es eine Person, die Wunder wirken kann. Sein Besitz nährt die Überzeugung eigener Überlegenheit. Der Über- und Aber-Glaube an die Kraft der Superwaffen unterstützt den verhängnisvollen Waf­ fenhandel. Ehrgeizige Staatslenker stürzen sich in unabsehba­ re finanzielle Abenteuer, während der Aufbau des Landes darniederliegt. Die Waffennarren, die auf Waffenbörsen in Scharen aufkreuzen und von der Industrie gehätschelt wer­ den, haben oft eine geheime Not: Potenzprobleme.1

Von durchaus Wohlmeinenden wird nach dem Ende des OstWestkonflikts, während der Selbstzerfleischungskriege am Ende des 20. Jahrhunderts Waffeneinsatz aus humanitären Gründen verlangt. Aus sicherem Abstand fordern die Moral­

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Angst und Angstbewältigung

apostel Verantwortung zu übernehmen, indem das Blut des unbekannten Soldaten vergossen wird. Der Begriff „Verant­ wortung" wird auf Waffeneinsatz eingeengt. Es entsteht die paradoxe Situation, daß gerade die als allzu kampfsüchtig verrufenen Militärs sich zurückhalten, wohl wissend um die Problematik von „friedenssichernden und friedenschaffenden Maßnahmen", während die Unbedarften Waffenhilfe einkla­ gen. Waffen sind kein Allheilmittel, wie es der Laie in kindli­ chem Glauben an ihre Wunderkraft voraussetzt. Bedauerli­ cherweise kann sich im falschen Vertrauen auf die Wunder­ waffen die Erfindungsgabe für politische Lösungen nicht ent­ falten. Man glaubt mittels eines „schnellen chirurgischen Schnitts" uralte, über Generationen vererbte Probleme lösen zu können. Schnell sind, unterstützt von Kriegslust, die Kriegsverheerungen vergessen, die Heere wortwörtlich an­ richten können.

Ähnlich wie der Glaube an die Wunderwaffe hilft der Glaube an den Feldherrn, lähmende Angst zu überwinden. Als Alex­ ander theatralisch den gordischen Knoten mittendurch hieb, zeigte er seine Verachtung für die Saga von dessen Unlösbar­ keit. Diese Unbekümmertheit und sein (halb zufälliger) Über­ raschungssieg über den Perserkönig Darius begründete den Glauben an seine gottgleiche Unbesiegbarkeit, beflügelte seine Soldaten, lähmte die Gegner. Erst die Erschöpfung sei­ ner Männer stoppte den unvergleichlichen, aber unnötigen Siegeszug bis nach Innerasien und Indien. Auch Napoleon wußte um die Wichtigkeit des Glaubens an den Feldherrn. Er soll gesagt haben, die Hälfte des Sieges sei das Vertrauen der Soldaten. Menschen, die sich nicht leicht einschüchtern las­ sen, die keinen rechten Respekt, keine magische Angst ent­ wickeln, werden um ihre Unbeirrtheit beneidet. Der kleine Däumling des Märchens wird aus unbegrenztem Selbstver­ trauen schließlich zum König. Der „Dümmling", der auszog, das Fürchten zu lernen, ist dumm, weil er lernunfähig in be­ zug auf traditionelle Ängste ist. Beim Normalbürger, dem ein illusionäres Selbstvertrauen fehlt, kann die Vorstellung einer ausweglosen Situation den Mut der Verzweiflung wecken, durch den die Reservekräfte 55

Angst und Angstbewältigung

mobilisiert werden. Wenn einmal die Erfahrung gemacht wurde, daß Handeln gegen Angst hilft, daß Entschlossenheit Kraft gibt und daß der Angriff die beste Verteidigung ist, kann dies eine Verstärkung der Kampflust bis zu der verhängnisvol­ len Bereitschaft bedeuten, bei jeder wirklichen oder vermeint­ lichen Bedrohung zuzuschlagen, insbesondere dann, wenn keine andere Verteidigungstechnik geläufig ist. Der größte Teil der menschlichen Stammesgeschichte ent­ spricht einem Sammler- und Wildbeuterdasein von Halbno­ maden. Der homo erectus trat vor 2 Millionen Jahren auf. Die Zeit eindeutig nachweisbarer Kulturentwicklung, maximal die letzten 10 000 Jahre entspricht einem halben Prozent dieser Zeitspanne. Sie umfaßt nur ein Viertel der Zeit seit dem Auf­ treten des homo sapiens vor 40 000 Jahren. Es ist denkbar, daß das stets bedrohte Leben des Frühmenschen erst erträg­ lich wurde durch die Lust an Abenteuer und Kampf und daß die Gabe, Spaß am Streit zu haben, Entwicklungsvorteile bot. Wenn wir Heutigen vermeidbare Gefahrensituationen, Aben­ teuersport, primitive Bedingungen positiv erleben, taucht die Frage auf, ob wir das auf Grund eines Erbreservoirs an Verhal­ tensschemen tun, die sich in Jahrmillionen ausbildeten. Die, gemessen an der gesamten Menschheitsgeschichte, kurze Zeit der Kulturentwicklung konnte eine eventuell genetisch veran­ kerte Kampfeslust nicht abbauen, weil die Zeitspanne kurz ist im Vergleich zu den Millionen Jahren bedrohter menschlicher Existenz.

Lust des Streitens ist noch einfühlbar. Daß es Angstlust gibt, scheint schwieriger eingestehbar zu sein, obwohl sie leicht als Nervenkitzel in Zirkus, Krimi, Abenteuerfilm usw. erlebt wer­ den kann. Die irritierende Anziehungskraft von Abenteuer und Gefahr, von Streiten um des Streites willen, ja von Ver­ brechen beweist die Existenz der Angstlust nicht weniger, als es ihre Gewinnträchtigkeit für die Unterhaltungsindustrie tut. Extremsport, Abenteuerurlaub usw. helfen Angstlust merkantil zu verwerten. Die Lustkomponente der Aggressivität kann die Entgleisung zu rauschhafter Aktivität, zur Kampfbegier, ja, zum Blutrausch unterstützen. Die Anziehungskraft des Aben­ teuers wiegt den Verlust der ersehnten Sicherheit auf. Der

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Angst und Angstbewältigung

Mensch will gar nicht das angstfreie Leben, das er fordert, will nicht die fade Existenz im Käfig einer allzu geordneten Welt.2 Es ist die Frustration durch die Langeweile unserer Wohl­ fahrtsgesellschaft, die die Jugend nach „action" verlangen läßt. Die Forderung „Lebe wild und gefährlich!" beinhaltet das Versprechen, alle Höhen und Tiefen des Lebens durch­ messen zu können.

Es ist verhängnisvoll, daß aufflammende Kriege dem Erlebnis­ hunger und der Kampflust entgegenkommen. Die drängende Kraft der Jugend bekommt von der pazifizierten Gesellschaft nicht genug geeignete Angebote zur Bewährung, obwohl es wahrhaftig in aller Welt eine Überfülle von Möglichkeiten gäbe. In einem Unbehagen, das die Jugendlichen nicht artiku­ lieren können, organisieren sie sich in Horden und organisie­ ren Kleinkriege, unbewußt frühgeschichtliche Muster nach­ ahmend. Privatschlachten werden angezettelt, bei denen sich die Spannung im Radaumachen, Zerstören und Zuschlägen bis zum Mord entlädt. Die befreiende Wirkung der Tat soll tief unbewußte Unsicherheit kompensieren. Aggressions- und Angstlust machen die Regression auf die Stufe einer Urgesell­ schaft ohne entwickelte Streitkultur attraktiv.3

Die Ethologen sehen parallel zur Herausbildung von Orga­ nen, die der Aggression dienen, eine Entwicklung von Ag­ gressionshemmungen, Bindungsfähigkeit und Bindungsritua­ len. Man kann Gewissen, Schuld- und Verantwortungbewußt­ sein und schließlich Richtlinien des Sozialverhaltens beim Menschen als Kompensationstechniken der überflüßig wer­ denden blinden Streitlust sehen. Letzten Endes gehören zu dieser Entwicklung demokratische Formen, Techniken der Streitschlichtung und, als Vorgänger, Religionen. Wenn junge Menschen in unartikulierter Weise Befriedigung ihrer unerfüllten Bedürfnisse einfordern, ruft eine von ver­ ständnislosem Materialismus geprägte Umwelt sie zur Ord­ nung mit dem Hinweis, es fehle ihnen doch an nichts. Der Materialismus einer falsch verstandenen, von der heutigen Wissenschaft längst überholten Aufklärung hat sich im Durch­ schnittsdenken als Blindheit für die Bedeutung emotionaler Bindungen niedergeschlagen. Der britische Kinderpsychoana­ 57

Angst und Angstbewältigung

lytiker Winnicott4 sah in dem antisozialen Agieren einen Hil­ feruf, dem man konstruktiv nur mit einer Eingrenzung der Ge­ walt, nicht mit einer Ausgrenzung der Jugendlichen begegnen kann. Wo finden sie, was sie brauchen, nämlich Beziehung, wo doch die Trennung vom Elternhaus ihrer Entwicklungs­ stufe angemessen ist? Sie brauchen ein Ersatzzuhause; die Intentionen der Gruppen, bei denen sie landen, spielt dabei eine unbedeutende Rolle, umsomehr als die Jugendlichen dieser Altersstufe ohnehin noch wenig Beurteilung von Ideo­ logien erlernt haben und dadurch verführbar sind. Der Sensationshunger von Medienmachern und -konsumenten verwischt die Tatsache, daß nur wenige Jugendliche an den Hordenkriegen bis zu Exzessen beteiligt sind. Damit wird die Frage, warum diese kleine Gruppe die Grenze der Legali­ tät und Menschlichkeit überschreitet, doppelt bedeutsam. Die gängige Antwort: es sei die materielle und soziale Perspektivlosigkeit, verstärkt durch familiäre Schwierigkeiten und den gesellschaftlichen Wandel, vereinfacht das Problem. Eine Fülle von Begründungen5 wird angeführt, wobei die tiefen­ psychologischen Aspekte eher zu kurz kommen. In einem lebendig-vernetzten System, wie es die Gesellschaft darstellt, ist eine monokausale Begründung fehl am Platze. Eine Unter­ suchung müßte die komplexen Ursachen berücksichtigen. Polizeigewalt, Verurteilung und soziale Ausgrenzung sind nur Symptombehandlungen, wenn auch nicht völlig zu vermei­ den. Die Sozialarbeiter, die die Defizite der Kindheit ihrer Klienten durch ein Mehr an Zuwendung zu kompensieren versuchen und eventuell gewaltfreie Konfliktlösungen ein­ üben, sind oft überfordert.

Um die Jugendlichen wieder einzubeziehen, muß mit einer Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas begonnen wer­ den. Das ist eine Generationenaufgabe, der gegenüber sich allzuschnell Entmutigung bis Gleichgültigkeit einstellt, weil der Erfolg nicht sofort zu erwarten ist. Außerdem haben es ungeliebte Kinder schwer, liebevolle Eltern zu werden. Früher wurden Kinder leichtfertig ausgesetzt, weggegeben oder ver­ stoßen, heute werden sie schlecht behandelt. Seelenmord bleibt ebenso unerkannt wie Vernachlässigung bis zur halb 58

Angst und Angstbewältigung

versehentlichen Tötung. Der Verhaltensforscher Wickler6 weist darauf hin, daß, wie es die Märchen schildern, Mord bzw. Vernachlässigung unerwünschter Kinder früher heimlich oder offen ebenso häufig war wie der Mord an Tierbabies. Dasselbe geht aus den Untersuchungen einer Gruppe von Historikern unter Lloyd de Mause hervor.7 Allein schon, wenn nur erwünschte Kinder aufgezogen werden, wird Leid der Unerwünschtheit vermindert. Dank einer stolz fortgeschritte­ nen Körpermedizin dürfen unerwünschte Kinder heute länger leiden. Krankheit verschafft ihnen u.U. die Zuwendung, die sie anders nicht bekommen. Verantwortungsbewußte Eltern­ schaft könnte viel unnötiges Leid verhindern.

Häufig werden unerwünschte Kinder infolge offener oder ver­ steckter Ablehnung aggressiv, zum mindesten seelisch krank und damit schwierig und lästig. Ihre tiefinnere Unsicherheit ist gepaart mit antisozialem Verhalten. Ein freudig begrüßtes Kind genießt mit größerer Wahrscheinlichkeit Bejahung und Sorgfalt, Grundlage einer gesunden Ich-Entwicklung. Sie ist das Kennzeichen reifer Menschen, deren Standfestigkeit sie auch in schwierigen Situationen zu sich selbst, zu ihren Überzeugungen und Entschlüssen stehen läßt, ohne sich starr den Bedürfnissen des Opponenten zu verschließen. Ihre Hal­ tung verbindet Offenheit gegenüber Einwänden mit gelasse­ ner Selbstbehauptung. Diese mit Freundlichkeit verbundene Festigkeit und kraftvolle Entschlossenheit, gepaart mit Ver­ ständnis für den Gegner hat Gandhi immer wieder hervorge­ hoben. Die Verbindung von Realismus mit Standhaftigkeit entspricht dem, was die Tiefenpsychologie als Ich-Stärke, als Kennzeichen der reifen, seelisch gesunden Persönlichkeit be­ schreibt. Die Realität des Gegners zu respektieren, ist auf die Dauer erfolgversprechender, als mit allen Mitteln, lauteren und unlauteren, zu kämpfen. Diese Einsicht scheint sich, sehr schüchtern, auch in der Weltpolitik anzubahnen.

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Angst und Angstbewältigung

Kurzfassung: äußerlich bedingte Furcht erzeugt inner­ seelisch Angst und Zwang. Unbewußte, verdrängte Angst steigert Aggressivität. Sowohl Angstbereitschaft als auch Streitlust können politisch mißbraucht wer­ den, insbesondere da Abenteuer- und Angst-Lust sie unterstützen. Angst kann durch Aktivismus und/oder durch Suggestion bewältigt werden. Der echte Mut der starken Persönlichkeit vermeidet beides. Einge­ ständnis der Angst hilft standhalten.

Anmerkungen 1

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Gelegentliche Potenzstörungen sind völlig normal und zeigen eigentlich nur, daß nicht jeder Mann ein potentieller Vergewaltiger sein kann und mag. Sie werden erst durch die Überbewertung des Phallus, dessen reli­ giöse Verehrung bei vielen naturnahen Kulturen zu finden ist, zu einem Problem. Darin zeigt sich wieder die Kulturabhängigkeit psychosomati­ scher Störungen. Michael Lukas Moeller, „Der Krieg, die Lust, der Frieden, die Macht, rororo 1992. „Die Faszination, die vom Krieg ausgeht und die Langewei­ le, die der mühselige Frieden bereitet, haben schon viele irritiert..." Freud glaubte „Vom Urmenschen, dem unser Unbewußtes noch gleicht" sagen zu können „Er mordete gern und wie selbstverständlich." zitiert nach Norbert Elias. Donald W. Winnicott, „Die menschliche Natur", Klett-Cotta 1994 Wulf, Wimmer, Diekmann, „Das zivilisierte Tier", Fischer 1996, Kap.: Grundlose Gewalt. Die drei Soziologen unterscheiden folgende Begrün­ dungsversuche: die sozio-ökonomischen (Arbeitslosigkeit, Deklassierung, unvollkommene und asymetrische Modernisierung, systembedingte Ver­ teilungsungerechtigkeit), die politischen (Transformationsprozesse der Gesellschaft, Umbau der Sozialsysteme, Auflösung des Ostblocks, Sy­ stemwechsel, Destrukturierung und Destabilisierung), die sozialpsycho­ logischen (Sozialisationsdefizite, Orientierungskrise, Identitätskrise, Auf­ lösung der primären Bezugsgruppen, emotionale Verwahrlosung) die kul­ tursoziologischen (Individualisierung, Mediatisierung der Kommunikati­ on, Sinnkrise, Werteverfall) oder die pädagogische (Adoleszenzkrise, Lerndefizite, Autoritätsverlust, Wertewandel, Perspektivlosigkeit.) Wolfgang Wickler, „Die Biologie der zehn Gebote", Piper 1971 Lloyd de Mause, Hrsg., „Hört ihr die Kinder weinen ..." Suhrkamp 1977

Wettbewerb und Leistungsgesellschaft Vom ersten Atemzug an herrscht Rivalität in den engen fami­ liären Beziehungen. Schon das Neugeborene erfährt Neid vom älteren Geschwister, vom Vater, ja von der Mutter. Uner­ fahrene Eltern erschrecken über das Ausmaß an Aggressivität zwischen ihren Kindern. Innerartliche Aggression und ständi­ ger Wettbewerb sind normaler Bestandteil der Kinderstube und des Lebens im Ganzen. Wenn das kleine Kind in der sogenannten „ödipalen"’ Phase sich damit abzufinden versucht, daß ihm die Mutter nicht allein gehört, erlebt es einen quälenden Zwiespalt, weil der Dritte, der Vater, gleichzeitig geliebt, aber als Rivale gehaßt wird. Die vorhergehende Entwicklung beeinflußt nach heuti­ ger Auffassung entscheidend die Bewältigung dieses Drei­ eckskonflikts. Auf der Grundlage der jeweiligen Familiendy­ namik einschließlich der unbewältigten „triadischen"2 Kon­ flikte der Eltern entstehen die emotionalen Stürme, in denen die familientypischen Spannungen zu leidenschaftlicher Liebe und wildem Haß aufflammen. Der Verzicht auf den Alleinbe­ sitz des geliebten Menschen gelingt leichter, wo in der frühe­ sten Entwicklungsphase das Grundvertrauen in die nächsten Bezugspersonen und das Selbstvertrauen wachsen konnte. Das Nebeneinander von Gut und Böse kann akzeptiert wer­ den, statt die gute oder böse Seite abzuspalten. Wenn dieser Konflikt nicht bewältigt wurde, kann ein Übermaß an Geltungs- und Machtbedürfnis, gepaart mit illusionärer Verken­ nung der Wirklichkeit und übersteigerter Aggressivität die Folge sein.

Der Neid insbesondere auf das nächstjüngere Geschwister, überhaupt Geschwisterneid ist nicht weniger heftig als die Rivalität mit dem Vater, geht es doch auch um die Liebe der Mutter. Kampf der feindlichen Brüder ist ein uraltes Thema der Weltliteratur und der Geschichte: Kain und Abel, Israel und Ismael, die feindlichen Vettern der Bhagavadgita, und viele andere? Wie sich einst z.B. die griechischen Stämme bekämpften, so streiten am Ende des zweiten Jahrtausends die 61

Wettbewerb und Leistuncsgesellschaft

afghanischen Völker und die Völker des Kaukasus, die Frak­ tionen der baskischen Bevölkerung, die Serben, Kroaten und Muslime, irische Protestanten und Katholiken, indische Mos­ lems und Hindus, Sunniten und Schiiten, Hutus und Tutsis in Schwarzafrika usw. Immer wieder flammen Auseinanderset­ zungen gerade zwischen nah verwandten Volksgruppen auf, als müßten sie im ewigen Kampf der Brudervölker den Streit der Kinderjahre fortsetzen.

Die unreife Liebe drückt sich darin aus, daß die geliebte Per­ son zum alleinigen Eigentum gemacht werden soll. Es wird leicht übersehen, daß dies für das Liebesobjekt kein Gewinn, sondern Unfreiheit bedeutet. Liebe dieser Art ist Sklaverei. Die Familie ist der Ort, wo gelernt werden kann, wie mit dem Dreieckskonflikt umzugehen ist. Wer geprägt ist durch eine Familienstruktur, deren Charakteristika Rivalitäten, unbe­ herrschter Geschwisterhaß, unverarbeiteter ödipaler Neid sind, überträgt ihr Beziehungsmuster auf andere Gemein­ schaften. In der Familie muß der Umgang mit Neid, Haß, Rivalität am Beispiel der Eltern eingeübt werden. Die Beob­ achtung von Einzelkindern spricht dafür, daß ohne die Mög­ lichkeit, in einer Kleingruppe wie der Familie das SichStreiten und Sich-Vertragen zu lernen, der Mensch in Rivali­ tätssituationen so reagiert, wie es das Kleinkind tut: Konkur­ renz muß sofort abgewehrt werden, da sie als existentielle Bedrohung erlebt wird. Alle Beziehungen werden nach die­ sem Muster mißdeutet. Das Menschenkind kann sich nicht zuversichtlich auf Auseinandersetzungen einlassen. Im psy­ chischen Training mit Geschwistern, mit Gleichrangigen kann erfahren werden: mit dem Verlust, dem Teilen von Liebe und Anerkennung, ist ein Gewinn verbunden, denn, mehr Be­ zugspersonen zu haben, bedeutet mehr Anregung und weni­ ger Verlustangst. Mit der Fähigkeit, Liebesobjekte loszulassen, steigern sich das Selbstvertrauen und, bei optimaler Entwick­ lung, die Durchsetzung in einer größeren Gruppe. Es kann sich jener vielgepriesene Sportsgeist entfalten, der es erlaubt, ohne Häme anzuerkennen, daß ein anderer besser ist. Der Verzicht auf das Ausleben der Rivalität wird kompensiert durch das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft. Auch im 62

Wettbewerb

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Leistuncsgesellschaft

größeren Umkreis der Gesellschaft geht mit dem Bedürfnis nach Nähe Ressentiment und Neid einher. Der allgegenwärtige Wettbewerbsgeist veranlaßt manche Eltern, ihr ungestilltes Geltungsstreben auf ihre Kinder zu übertragen, die dann deren übersteigerten, neurotischen Ehr­ geiz befriedigen müssen. Sie werden zu ungesundem Wett­ bewerb angestachelt. Wenn falsche Maßstäbe bestimmen, was erstrebenswert (was „in") ist, wird das ständige Sichmessen und Vergleichen zur Qual, besonders wenn ein Ziel ge­ setzt wird, das den individuellen Begabungen nicht ent­ spricht. Wenn von allen Gliedern der Gesellschaft nur ein einziger Wert angestrebt wird, ist die Anzahl der Rivalen besonders groß und ein Sieg unwahrscheinlich. Statt zahlrei­ che unterschiedliche Möglichkeiten anzubieten, bezieht sich in einer Gesellschaft, deren Vorstellungen vollständig vom Angebot der Medien beherrscht wird, der Wettbewerbsmaß­ stab auf eine kleine Auswahl von fragwürdigen Leistungen, die aber nur wenige erreichen können. Ein paar aktive Prota­ gonisten tragen den Wettstreit aus, die Masse partizipiert passiv im Fernsehfauteuil. Eigene Möglichkeiten liegen brach, weil die herrschende Mode nur einzelne Fähigkeiten als er­ strebenswert hochjubelt. Damit „hört der Spaß auf", denn der Lustgewinn aus Sport und Spiel braucht eine gewisse Ge­ winnchance. Eine pluralistische Gesellschaft könnte mehr Bereiche, mehr kulturelle Nischen bieten, in denen jeder nach seiner Begabung Anerkennung erlangen, ein eigenes Feld der Bewährung finden kann, so daß Wettbewerb nicht zu einem hoffnungslosen Unterfangen zu werden braucht. Wettbewerb unter allzu Vielen um eine eingeengte Anzahl fragwürdiger Ziele erzeugt die Unzufriedenheit, den Streß und die Aggressivität, die zu dem Begriff Leistungsgesellschaft gehören. Wenn wir nicht mehr ausschließlich darauf pro­ grammiert wären, Arbeit und Einkommen als alleinigen Wert, als einzige Stütze von Selbstachtung anzusehen, könnte dem Freisein von Arbeit, könnten der Muße, dem Spiel, der Kontemplativität ihre positive Bedeutung zugestanden und der Aufbau von Selbstachtung unterstützt werden.

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Wettbewerb und Leistungsgesellschaft

Die Übertreibung von Leistung zu quälendem Leistungs­ zwang in der Massengesellschaft wird besonders deutlich bei sportlichen Kämpfen im Weltrahmen. Es ist eine Farce, wenn Hundertstel von Sekunden über den Gewinner einer Gold­ medaille entscheiden. Ähnlich verhängnisvoll wie für den Spitzensportler, der schon mit 35 Jahren zum alten Eisen ge­ hört, wird dieser Ehrgeiz für den Karrieristen, der alles, was nicht seinem Ziel dient, vernachlässigt. Wenig später kommt mit der vielgenannten Midlife-crisis, der Krise auf der Höhe des Lebens, das Gefühl, die besten Kräfte einseitig vergeudet zu haben.

Für Menschen, die aus versteckter Unsicherheit heraus be­ sonders viel Geltung und Macht anstreben, bieten sich nach Sport, Showbusiness und Berufskarriere die Politik als Betäti­ gungsfeld an. Es gibt kaum ein Mittel, der Allgemeingefähr­ lichkeit derjenigen Politiker gegenzusteuern, deren Machtund Geltungshunger ihre Fähigkeiten übersteigt. Macht ist gewiß notwendig, um etwas machen zu können, aber als Selbstzweck krankhaft und für die Gesellschaft verhängnis­ voll. Deshalb ist es zweckmäßig, wenn sich viele Bürger in die Politik einmischen: die Mühsal der politischen Karriere verliert an Attraktivität, wenn Hinz und Kunz Mitbewerber sind, wenn politisches Engagement jedermanns Sache ist, Sache der „Polis". Absage an übertriebenes Leistungsstreben heißt nicht Ableh­ nung des Bedürfnisses, sich an Vorbildern zu messen und ihnen nachzustreben. Die synthetisch gezüchteten Stars, mit­ tels derer die jugendliche Bereitschaft mißbraucht wird, sich für jemanden schwärmerisch zu begeistern, sind keine Orien­ tierungshilfe. Früher befriedigten die Helden von Märchen und Mythen, von Geschichte und Literatur das Nachfolgebe­ dürfnis der Jugendlichen. Ferngerückte Heroen sind für die seelische Entwicklung eine zwanglose Matrize, in deren lo­ sem Rahmen der junge Mensch sich seinen inneren Leitbil­ dern entsprechend ein Vorbild formen, ihm Reichtum und Fülle seines Unbewußten, seiner ungelebten Möglichkeiten verleihen kann. Die Wahl von Vorbildern mit ihrer wichtigen

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Wettbewerb

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Leistungsgesellschaft

Funktion für die Entwicklung der Jugendlichen darf nicht dem Kommerz überlassen bleiben. Gefährlicher als Neid und Häme ist die Resignation, die bei neurotisch übersteigerter Konkurrenz droht. Das „no future"Empfinden vieler Jugendlicher hat nicht nur in wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung seine Ursache, sondern auch in der Unerreichbarkeit falscher Ideale. Schon die Werbung erzeugt völlig irrige Vorstellungen der erstrebenswerten Gü­ ter. Dann liegen Talente brach, weil sie nicht in die unrealisti­ sche, künstliche Wertehierarchie passen. Die Erfahrung lehrt, daß ein maßvoller Erfolg in einer Beziehung, innerhalb der Schulklasse, im Verein oder Freundeskreis, am Arbeitsplatz bei einem seelisch einigermaßen gesunden Menschen unrea­ listische Pläne verblassen läßt.4 Übersteigerte Leistung abzulehnen, bedeutet nicht Verzicht auf Wettbewerb. Das Vermeiden der Konkurrenz würde die­ selben negativen Ergebnisse zeitigen wie ihre Übertreibung. Es ist normal, daß auch der Erfolgreiche ständig einen Stachel spürt, seine Leistung zu verbessern. Erzieher wissen, daß allzu gewährende, überängstliche Mütter die Entwicklung ihrer Kinder behindern, wenn sie niemals von ihnen etwas verlan­ gen. Bei zuviel Nachsicht kann genauso wie bei Überstrenge kein Selbstvertrauen wachsen. Sowohl Verwöhnung wie Här­ te läßt unfertig, infantil bleiben. Ein Gleichgewicht zwischen angemessener Fürsorge und Herausforderung, zwischen För­ dern und Fordern ist vonnöten. Es ist die politische Erfahrung der jüngsten Vergangenheit: wenn sich eine Wohlfahrtsgesell­ schaft ähnlich wie eine verwöhnende Mutter Fürsorge von der Wiege bis zur Bahre, Übererfüllung der Sozialleistungen zum Ziel setzt, untergräbt sie schließlich das von ihr selbst aufge­ stellte Sozialprogramm.

Aber natürlich wünscht sich der Mensch, das gefährdete We­ sen, ständig Sicherheit, die jedoch nie total sein kann. Ein stabiler Idealzustand wäre wie Tod. Härten müssen zwar gemildert werden, aber das Meiden jeder Belastung macht krank. Das gilt auch für die Wirtschaft: es muß ein Gleichge­ wicht zwischen stimulierendem Wettbewerb und mitmensch­ licher Fürsorge hergestellt werden. Die Verbindung von Sozial­ 65

Wettbewerb und Leistuncsgesellschaft

staat und Marktwirtschaft ist nicht die Quadratur des Kreises, sondern der Versuch, die schwierige Balance zwischen den Gegensätzen Gewinnstreben und sozialer Verantwortung zu halten. Um des sozialen Friedens willen sollte die Bemühung dahin gehen, in ständigem Gegeneinanderwirken der ver­ schiedenen gesellschaftlichen Kräfte das stets bedrohte dyna­ mische Gleichgewicht immer neu herzustellen. Das schließt ein, daß die demokratischen Einrichtungen die Stimmen der Unterdrückten laut werden lassen. Ein derartiges demokrati­ sches System hätte die Kennzeichen eines lebendigen Orga­ nismus, in dem die unterschiedlichsten Energien in einem Puffer- oder Feedback-System gegeneinanderwirken. Jeder einseitige Zustand könnte schnell wieder ausgeglichen wer­ den. Das kann aber nur gelingen, wenn nicht verhindert wird, daß alle Kräfte Zusammenwirken, alle Meinungen auch von unten frei geäußert werden dürfen. Es ist kein Geheimnis, daß auch im Westen ein sozialer Gleichgewichtszustand eher die Ausnahme bildet und daher ständige Regulierung notwendig wird.

Kurzfassung: Es ist zu unterscheiden zwischen gesun­ der Rivalität und neurotischem Ehrgeiz. Die Bedingun­ gen der Massengesellschaft begünstigen Wettbewerbs­ verzerrung. Das Zusammenwirken von Fördern und Fordern hilft, die notwendige Balance von Wettbe­ werb und sozialer Verantwortung herzustellen.

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Wettbewerb und Leistungsgesellschaft

Anmerkungen d.h. im 4., 5., 6. Lebensjahr. Dazu Wolfgang Mertens in „SchlüsseIbegrif­ fe der Psychoanalyse*, Hrsg. Mertens. Verlag Internationale Psychoanaly­ se 1993: „Auch manche Schüler Freuds glauben an die ätiologische Be­ deutung dieses Komplexes für psychische Störungen nicht mehr so recht, sondern behaupten, daß andere zumeist in einem viel früheren Alter grundgelegte Erfahrungen zu Defiziten im psychischen Funktionsaufbau führen. Die durch die relative Eigendynamik des Ödipuskomplexes aus­ gelösten psychischen Konflikte erscheinen entsprechend dieser Sichtwei­ se nur noch eine nachgeordnete Bedeutung zu haben und brauchen auch nicht bei jedem Menschen aufzutreten.* 2 derselbe: „... kann sich der sogenannte reife Ödipuskomplex nur inner­ halb einer vollständigen Dreieckskonstellation oder Triade entwickeln (Rohde-Dachser 1987). Vater, Mutter und Kind müssen sich als drei Pole dieser Struktur als einigermaßen voneinander getrennte Individuen wahr­ nehmen und erleben können; ...*. 3 Es fällt auf, daß in vielen dieser Gesellschaften eine besondere Verpflich­ tung zur Familienanhänglichkeit anzutreffen ist. Der Tribalismus scheint mit einer Familientreue von einem Ausmaß verbunden, die den Men­ schen des Westens fremd geworden ist. 4 Nesse-Williams, „Warum wir krank werden*, der Autor spricht davon, daß der unrealistische Wettbewerb zwischen Millionen Menschen das Ergebnis der Massenkommunikationsmittel ( = Medien) sei.

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Anpassungsneigung und Ambivalenz Der hier und heute lebende Mensch neigt zur Unterschätzung der Gemeinschaftsbindung und zur Überschätzung von Indi­ vidualismus, Bewußtsein und Intellekt. Es wird erst allmählich erkannt, daß gerade das Menschenkind auf den Familien­ schoß beziehungsweise auf die schützende Gruppe mehr als seine tierischen Verwandten angewiesen ist, weil es im Ver­ gleich zu den Tieren unfertig geboren wird und lernend von den nächsten Bezugspersonen überlebensnotwendige Fertig­ keiten erwerben muß. Die verfrühte Geburt, notwendig durch das enorme Wachstum des Großhirns und mit ihm des Schä­ dels, der im Laufe der Entwicklung zum homo sapiens für den Durchtritt durch das Becken der Mutter zu groß wurde, be­ deutet biologische Unfertigkeit. Sie beinhaltet im Zusammen­ wirken mit dem kindlichen Neugierverhalten und der Verspieltheit, schon typisch für junge Säugetiere, vermehrte Ver­ letzlichkeit in einer verlängerten Kindheitsepoche. Es wäre denkbar, daß die gesteigerte Abwehrbereitschaft des Men­ schen zum Teil eine Folge des Gefühls ständigen Ausgelie­ fertseins auf Grund der naturgegebenen Verkindlichung und der dazugehörigen Angst ist. Die Existenzphilosophie spricht von der „Geworfenheit" (Heidegger) des Menschen.

Für das Mehr an Schutz, notwendig wegen seiner Gefähr­ dung, verlangen die Führer, wie früher Mutter und Vater, als Gegenleistung ein Mehran Triebbeschränkung. Die schon bei Tieren zu beobachtende Bereitschaft, Verbote zu verinnerli­ chen, Grundlage jeder Dressur, macht die Seele zu einem Spannungsfeld zwischen widerstreitenden Bedürfnissen: zwi­ schen dem Wunsch nach Billigung durch die Gemeinschaft und dem nach unbehindertem Ausleben der Antriebe. Wenn sich eine Versuchung regt, den verinnerlichten Normen ent­ gegen zu handeln, taucht Angst auf, begleitet von Abwehr gegen die Einschränkung. Die Ambivalenz der nie völlig un­ terdrückten, aber auch nie ganz zugelassenen Triebwünsche wird Ursache für ein ständiges unklares Schuldgefühl, das sich unbewußt wieder in Wut und Aggression verkehren 69

Anpassungsneigunc

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Ambivalenz

kann. Ambivalenz zwischen widersprüchlichen Antrieben verunsichert die Urteils- und Willensbildung und wird des­ halb aus dem Bewußtsein verdrängt.

Es wird weitgehend unterschätzt, welche Rolle das menschli­ che Zugehörigkeitsbedürfnis und andere irrationale Motive anstelle kühler Überlegung für die Entschlußfassung spielen. Der Mensch will und muß zuallererst dazugehören. Er ist seit der Abzweigung des Vormenschen von den frühen Primaten auf ein Leben in kleinen Gruppen programmiert. Der ameri­ kanische Soziologe Amitai Etzioni (einer der Väter des Kom­ munitarismus) kommt zu dem Schluß: „Normativ-affective factors influence the selection of means by excluding the role of logical-empirical conclusions".1 Unabhängige Entscheidun­ gen erfordern eine rare, von der Gemeinschaft nicht geschütz­ te Unabhängigkeit des Denkens. Eine völlig freie Meinungs­ bildung ist eine Illusion. Bei Gebildeten nicht weniger als bei Ungebildeten beeinflussen Zugehörigkeitsbedürfnis, Anpas­ sungsneigung und Abhängigkeit fällige Entscheidungen.

Das triebhafte Anpassungsbedürfnis ist die Grundlage für das Identitätsgefühl mit der Stammgruppe. Diese Identität wird zu einer Art Schutzanzug, Schutz nach außen und innen. Wie eine Rüstung vermittelt sie nach außen: Dahin gehöre ich, hier sind meine Brüder und Schwestern, die für mich eintre­ ten. Noch bedeutender ist die innerseelische Funktion der Identität, weil sie außer der Orientierung in der Welt und dem Urteil darüber, was zu befürworten und abzulehnen ist, das Gefühl vermittelt, eine geschlossene Persönlichkeit zu sein.

Das Unbewußte hat archaischen Charakter, das heißt, es ent­ hält die Antriebe in ihrer Rohform. Sie treten meist erst, durch Triebhemmungen zivilisatorisch bearbeitet, ins Bewußtsein. Im Bewußtsein finden sich fast nur die Ziele der Antriebe (z.B. Speis und Trank oder das Bild des Liebes- oder Haßob­ jekts), womöglich verkleidet von Scheinmotiven. Auch die Triebhemmungen bleiben weitgehend unbewußt, nur die sozialen Forderungen: „Du sollst nicht ...", werden Bewußt­ seinsinhalt. Unbemerkt haben sich die Vorstellungen und Entschlüsse entsprechend den Ansichten der Mehrheit, der 70

Anpassungsneigung und Ambivalenz

Autoritäten gestaltet. Alles, was unbewußt bleibt, entzieht sich der bewußten Formung, unabhängig vom Angelernten. Da auch strenge Selbstkritik den Nebel nicht völlig durch­ dringen kann, sind auch bei guter Intelligenz Regungen aus unverstandenen Tiefen nicht zu vermeiden. Das Unbewußte bleibt wie bei jedem Menschen ungeformt. Daraus erklären sich viele peinliche Widersprüche bei unzweifelhaft klugen Menschen. In den bekannten Milgram-Experimenten2 konnte demon­ striert werden, wie die Mitleidensfähigkeit durch autoritäre Befehle reduziert sein kann. Milgram machte Versuche mit Personen, denen eine wissenschaftliche Anordnung vorge­ täuscht wurde, bei der sie, angeblich zu Lernzwecken, bei falschen Antworten andere Personen mit Stromstößen u.ä. bestrafen sollten. Für die Mehrzahl der Versuchspersonen war die (vorgespielte) heftige Qual der „Opfer" kein Anlaß, sich den Befehlen des Versuchsleiters zu widersetzen.

Nicht nur in autoritären Gesellschaften wird früh blinder Ge­ horsam gefordert und Anpassungsfähigkeit idealisiert. Die Bereitschaft, eigenes Urteil hintan zu stellen, kann die peinli­ che Konsequenz haben, daß das unter autoritärem Druck anerzogene Wohlverhalten anfällig dagegen ist, unter autori­ tärem Druck von anderer Seite durch neue Inhalte ersetzt zu werden, so, als würde nur ein Hemd gewechselt. Der pro­ blemlose Glaubenswechsel ist besonders dann nicht bewußte Verlogenheit, wenn Erziehung über Jahrhunderte darin be­ stand, selbständiges Denken zu diffamieren. Der schnelle Sinneswandel wird verständlicher, wenn man sich klarmacht, daß es um die Gruppenzugehörigkeit und nicht um die Inhal­ te geht. Wegen des Bedürfnisses nach Zusammenhalt wurde Kritik unterdrückt. Mut zu unabhängigem Denken konnte nicht erlernt werden. Nicht die eigentlichen Ideen wurden aufgenommen, sondern Slogans, Phrasen, Sprachhülsen. Der japanische Sozialphilosoph Masao Marayama beklagt die in seiner Gesellschaft übliche strenge Erziehung, in der Prü­ geln Selbstverständlichkeit ist. Er bedauert die Neigung, sich immer nur nach Vorbildern auszurichten. Er bemängelt, daß die japanischen Aufklärungsbewegungen der letzten 150

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Anpassungsneicung und Ambivalenz

Jahre erfolglos waren und Veränderungen Moden sind, die angenommen werden, während die alten Muster weiterleben. Der Philosoph hält diese Eigenschaften für typisch japanische Untugenden. Er nimmt vermutlich die Äußerungen westlicher Eliten als Maßstab, ohne zu vermuten, daß auch im Westen eine autoritätsgläubige Mehrheit neue Ideologien mit verblüf­ fender Leichtigkeit übernimmt. Keiner ist ganz gefeit gegen die Urteilsverzerrung durch An­ passungsneigung. Es besteht kein Grund, jemanden zu be­ schämen, weil er von der Massenmeinung abhängig ist. Jeder, der hier moralisiert, muß sich klar sein, daß auch er Opfer des Selbstbetrugs werden kann. Wer diese Nachsicht als zu milde beurteilt, wer nach Strafe und Rache schreit, verrät damit, daß er für eigene Abgründe blind ist. Nur die Vergeßlichkeit der Mehrheit schützt vor Enthüllungen gewandten Fahnen­ wechsels. Deshalb sind die Verurteilungen früherer System­ anhänger nur dann auf lange Sicht sozial wertvoll, wenn sie dazu dienen, die Wachheit dafür zu steigern, wie leicht die Anpassungsneigung in Verirrung und Schuld führen kann. Wenn die Diskussion mehr selbständiges Denken zur Folge hat, was nicht unbedingt naheliegt, war sie sinnvoll. Eine Presse und Öffentlichkeit, die Angst erzeugt vor dem Be­ kenntnis; „Ich habe daran geglaubt, ich habe mich geirrt, ich habe mich beeinflussen lassen, ja, ich bin meinem Vorteil gefolgt." trägt nicht unbedingt zu der Vergangenheitsbewälti­ gung bei, die sie lauthals fordert. Oft gewinnt man den Ein­ druck, daß es vor allem darum geht, von eigener Verirrung abzulenken: die Verurteilung kann eine Abwehr gegen un­ bewußte Ambivalenz sein. Trauerarbeit nach Gesinnungsirr­ tümern, schmerzliche Notwendigkeit nach dem Zusammen­ bruch des Nationalsozialismus3 ebenso wie nach der Auflö­ sung des Ostblocks hätte ein Anstoß sein können, Beeinfluß­ barkeit und Gutgläubigkeit unter die Lupe zu nehmen. Er­ kenntnis eigener Zwiespältigkeit würde den differenzierenden Umgang mit der Vergangenheit erleichtern.

Überanpassung konnte auch dadurch zustande kommen, daß das bewußte, überzeugt verkündete Bekenntnis zu der neuen Lehre dem leidenschaftlichen Bemühen entspringt, die immer 72

Anpassungsneigung

und

Ambivalenz

noch virulenten Prägungen der Kindheit zu überwinden. Je heftiger der neue Glaube verteidigt wird, umso mehr muß man annehmen, daß die frühen Überzeugungen noch im Unbewußten wirkmächtig sind. Die Widersprüche, die bei triebhafter Anpassung so leicht entstehen, werden heftig ver­ drängt, weil sie die Einheit der Persönlichkeit, die Identität, in Frage stellen und Zielsetzungen verunsichern und lähmen. Es kann sich aber jeder von seiner eigenen Ambivalenz über­ zeugen, indem er auf seine Träume achtet. Es kommt sehr häufig vor, daß Inhalte geträumt werden, von denen man eigentlich sagen möchte: „Das hätte ich mir im Traum nicht einfallen lassen." Gerade im Traum fällt es ein. Ambivalenz ist auch deshalb unvermeidlich, weil es keine absolute Wahrheit geben kann. Jede Wahrheit ist subjektiv, ist auf die individuelle Lebens- und Entwicklungssituation bezo­ gen.4 Der Mensch in seinem Widerspruch zeigt schon als Kleinkind nebeneinander wilden Trotz und leidenschaftliche Zuneigung. Der Zwiespalt wird wieder besonders deutlich in der Pubertät als stürmische Ablehnung der Eltern bei gleich­ zeitiger unkritischer Bereitschaft, sich von neuen Autoritäten abhängig zu machen. Gewöhnlich wird dann das neue Idol als das einzig Verehrungswürdige angesehen. Die Erkenntnis eigener Ambivalenz wird abgewehrt, weil sie die Identität zu erschüttern scheint. Viele übertönen lärmend den inneren Widerspruch, während gerade die, deren Gesinnung über allen Zweifel erhaben ist, Verständnis für wankende Meinungen haben. Erst über man­ che Qual, vielfältiges Schwanken gelangten sie zu einer kla­ ren Stellungnahme gegenüber sich widersprechenden Ansich­ ten. Der tschechische Dissident Vaclav Havel, der als maß­ geblicher Wortführer der Charta 77 viele Jahre im Gefängnis verbrachte, hat als späterer Präsident, statt in das allgemeine Abwertungsgeschrei einzustimmen, für Milde plädiert. Auch er wußte, trotz der Standhaftigkeit, die er entwickelt hatte: Jeder hat den Widersacher in sich. Das muß durchgestanden sein und verarbeitet werden. Selbst diejenigen, die in ihrer Position festgelegt sind, wie Angehörige bestimmter ethni­

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Anpassungsneigung und Ambivalenz

scher oder religiöser Gruppen, sind nicht frei von diesem Widerspruch, wie der bekannte Selbsthaß der Juden bezeugt. In zentralistischen Regimen wird Angepaßtheit besonders honoriert. Das garantiert den Erfolg der Gedankenlosen und Mittelmäßigen und züchtet Heuchelei. Die Erziehung der Hitlerjugend rügte vor allem Mangel an Anpassungsfähigkeit, erzeugte dadurch, was von altersher deutsches Ideal war: den gehorsamen Bürger, der stramm seine Pflicht erfüllt. Ein Schuldbewußtsein, etwa, wenn jemand als Glied der Befehls­ kette mitschuldig an Mord wurde, bildete sich kaum, so we­ nig wie in den früheren sowjetkommunistischen oder den heutigen autoritären Regimen der Schwellenländer. Eine des­ halb erfolgte Verurteilung wird meist als Unrecht erlebt. Her­ zensverstand hätte eine Hilfe zur Vermeidung sein können. Sie war ausgeschaltet durch die Berufung auf strengste Pflicht­ erfüllung und den Glauben an fragwürdige Ideale, die im Grunde infantile Verantwortungslosigkeit sind.

Der ausgeklügelte Überwachungsapparat totalitärer Staaten, der jede schüchterne Regung unabhängiger Gedanken zu unterdrücken sucht, kann nicht verhindern, ja fördert es, daß gerade der innere Zwiespalt der Überwacher sie zu über­ wachen Kontrolleuren jedes abweichenden Gedankens macht. Auf diese Weise dringt der Bazillus des Zweifels in die inner­ sten Zirkel. Dadurch ergibt sich das Positivum, daß die Leiden der Verfolgten zu spät reifenden Keimen einer möglichen Veränderung werden können; ein schwacher Trost für die Betroffenen. Wenn in autoritären Systemen bestimmte Gedankenkomplexe tabuisiert und das Denken primitivisiert werden, entwickelt sich kompensatorisch eine passive Anspruchshaltung. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes wurde es offenbar: eine derartig infantil gehaltene Gesellschaft braucht geraume Zeit, um die Entwicklung nachzuholen und ein Minimum jener Selbstverantwortlichkeit zu entwickeln, die für eine liberale Wirtschaft, für einen demokratischen Staat erforder­ lich sind. Kriminelle Elemente, die im autoritären Staat infolge ihrer Unverfrorenheit überleben konnten, können ihre „Talen­ te" in der Verworrenheit des Umbruchs umso mehr nutzen.

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Anpassungsneigung und Ambivalenz

Auf diese Weise erzeugt der terroristische Unrechtsstaat Kri­ minalität. In der real existierenden Demokratie, in der der Bürger mitbestimmen sollte, ist autoritäres Verhalten samt der dazugehöri­ gen Unterordnung nicht verschwunden. Es wurde in der Kindheit am Vorbild der Eltern verinnerlicht. In der sogenann­ ten freien Welt äußert sich Unterdrückung subtiler, besteht aber nach wie vor. Sind doch selbst politische oder religiöse Gemeinschaften, die sich im Widerstand gegen unduldsame Staatsideologien zusammengeschlossen hatten, nicht dagegen gefeit, ihrerseits wieder im Innenverhältnis dieselben unfreien Strukturen zu etablieren, die sie bekämpfen. Da sich Protest­ gruppen wegen des äußeren Druckes eng gegen die übrige Gesellschaft abkapseln müssen, verstärkt der Innendruck die Kritiklosigkeit. Jeder Nonkonformist scheint eine Gefahr zu sein. Unversehens bildet sich dieselbe Herrschaftsstruktur wie in der abgelehnten umgebenden Gesellschaft. Schließlich folgen die Anhänger entgegen ihren freiheitlichen Idealen unbemerkt den autoritären Verhaltensmustern der bekämpften Stammgemeinschaft, die sie in der Kindheit verinnerlicht haben. Verbal wird gegen das Überkommene rebelliert, aber die Keime der ursprünglichen Strukturen blieben unerkannt weiter bestehen.

Besonders ausgeprägt ist diese Gefahr in Geheimbünden. Man erinnere sich z.B. an Sekten, an die Komintern, an die RAF oder die Geheimpolizei der DDR oder des rumänischen Diktators Ceauscescu. Der Grund liegt darin, daß jede Art von Geheimhaltung, wie sie aus naheliegenden Gründen gefordert wird, durch die Vermeidung des Kontakts zu An­ dersdenkenden die geistige Inzucht fördert. Es gilt nur mehr die vom Anführer vertretene Meinung, andere Ansichten werden gewaltsam unterdrückt. Zwangsläufig entwickelt sich ein autokratischer Führungsstil. Auch Machteliten in Formal­ demokratien, die sich in gemeinsamer Bedrohung eng zu­ sammenschließen, sind nicht vor der gedanklichen Deforma­ tion durch Abkapselung gefeit.

Es ist leichter, zu überzeugen und den Gegner als Partner zu gewinnen, wenn die Fähigkeit eingeübt wurde, sich in Frage

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Anpassungsneigung und Ambivalenz

zu stellen und deshalb Nachsicht gegen sich selbst genau so zu üben wie gegenüber Andersdenkenden. Erst wenn das wütend Bekämpfte als das verborgene Ureigene erkannt ist, kann sich jene mit Humor gewürzte Toleranz entwickeln, in der Selbstentfaltung ohne seelische Verkrüppelung möglich ist. Mehr Freiheit, mehr Demokratie hat als Voraussetzung Menschen, die um ihre eigene Beeinflußbarkeit wissen.

Kurzfassung: Anpassungsneigung verhilft zum Schutz durch die Gemeinschaft, bedeutet aber Infantilisierung. Blinde Anpassung kann Ursache von Ambivalenz werden, so daß widersprüchliche Bedürfnisse neben­ einander bestehen. Sie ist schwer zu ertragen, weil sie die Eindeutigkeit der Ziele beeinträchtigt. Selbstkritik macht milde.

Anmerkungen Normativ-affective Faktoren beeinflussen die Auswahl der Mittel, indem sie logisch-empirische ausschließen. Amitai Etzioni, „A Responsive Socie­ ty, Josey Bass Inc. Publishers 1991 2 Stanley Milgram, „Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten", rororo 1974 3 Alexander und Margarete Mitscherlich, „Die Unfähigkeit zu trauern", Buchklub Ex Libris, Zürich 1967 4 Gandhi, der als über 5Ojähriger seine Autobiographie schrieb, gab ihr den Titel: „Die Geschichte meiner Versuche mit der Wahrheit", damit aussagend, daß er nach der Wahrheit suchte und sich eingestehen muß­ te, daß er immer nur Teilwahrheiten erkannte, daß seine Erkenntnisse kein widerspruchsfreies Bild ergaben. Sein psychoanalytischer Biograph Erikson nannte die Biographie des Mahatma: „Gandhis Wahrheit", damit Gandhis Ansichten in dessen eigenem Sinne relativierend. Mahatma Gandhi, „Mein Leben", Suhrkamp und Erik H. Erikson, „Gandhis Wahr­ heit", Suhrkamp 1978 1

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Das Feindbild Seit das Wort und der Begriff „Feindbild" in die Umgangs­ sprache Eingang gehalten hat, wird ermahnt, „Feindbilder abzubauen". Es war wertvoll, daß überhaupt von Feindbild gesprochen und damit erkannt wurde: die Bedrohung durch einen Feind kann eingebildet sein. Das schließt natürlich nicht aus, daß es neben den eingebildeten auch reale Feinde, Rivalen gibt. Die Gedankenlosigkeit, mit der der Begriff heute gebraucht wird, birgt die Gefahr in sich, daß die Unterschei­ dung zwischen „Feind" und „Feindbild" wieder verloren geht. „Ein Feindbild haben" beinhaltet also, daß nicht erkannt wird, daß der angefeindete Andere keine Bedrohung darstellt. Erst wenn diese Verkennung der Wirklichkeit verstanden wird, ist die Voraussetzung gegeben, das Feindbild aufzulösen. Es wäre passender, von „Feind-Einbildung" zu sprechen. Wenn jemand von sich behauptet: „Ich habe kein Feindbild", beweist er damit nur eines: daß er nicht verstanden hat, was mit dem Begriff gemeint ist. Präzise müßte er sagen: ich be­ trachte niemanden bewußt als meinen Feind. Er kann dabei aber nicht verhindern, daß er ungewollt, ungeprüft und wahl­ los Unbekannte abwertet, ja sich von ihnen bedroht glaubt. Er demonstriert damit, wie er unbeabsichtigt ein Feindbild ent­ wirft, wie er „projiziert". Der Irrtum entzieht sich dem Bewußt­ sein. Will man ihn vermeiden, müssen negative Bewertungen immer wieder daraufhin geprüft werden, ob sie nicht einge­ bildet sind, ob, noch weiter gehend, das Verworfene nicht gerade eigene verdrängte Neigungen abbildet. Die Täuschung wird nicht erkannt, weil es zum Wesen des Unbewußten gehört, nicht bewußt zu sein. So lächerlich diese Tautologie (überflüssige, manchmal unumgängliche Verdoppelung einer Aussage) klingt, der Hinweis ist notwendig: der Faktor Unbe­ wußtheit wird, weil nicht vorausgesetzt, zur Falle. Die auffallende, übergroße Bereitschaft, in allem Fremden und Ungewohnten eine potentielle Gefahr zu sehen, deutet darauf hin, daß diese psychische Reaktion zum frühesten, genetisch vorgegebenen Verhaltensrepertoire gehört. Sie ist

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Das Feindbild

verwandt mit dem Unmut, den heute noch jeden Menschen erfaßt, wenn jemand in sein Territorium eindringt. In der Früh- und Vorzeit des Menschen bzw. in seiner Tierzeit war diese Regung für das Überleben vermutlich unvermeidbar und realistisch. Die Bedingungen, unter denen der Früh­ mensch lebte, machten bei kärglichem Nahrungsangebot jede andere konkurrierende Gruppe zur existentiellen Bedrohung. Gesetzliche Regelungen, etwa Verbot des Hausfriedensbru­ ches, sind Versuche, mit dieser immer noch bestehenden Haßbereitschaft umzugehen. Es ist nicht nur eine allgemein menschliche Neigung, Feind­ bilder zu entwickeln, sondern es scheint ein Bedürfnis nach einem Feind zu geben.'

Das, was eine Gesellschaft in ihrem Sittenkodex ablehnt, unterliegt der Verdrängung aus dem Bewußtsein und wird dann auf die Fremden projiziert. Das gemeinsame Feindbild unterstützt notwendige Kooperation. Die Bereitschaft, in allen Fremden Feinde zu sehen, ist das Pendant der Neigung, sich an die eigene Gruppe anzupassen. Sie ist Ausdruck der Furcht vor Ausschluß. Das Zusammenwirken von Anpassungsbereit­ schaft, Unterdrückung von Antrieben und ihre Projektion auf einen Feind förderte ursprünglich das Überleben der Gruppe, weil die Ablehnung bestimmter sozial unerwünschter Eigen­ schaften Homogenität herstellte. Da Verbote Spannung, Ag­ gressivität erzeugen, dient die Ableitung auf ein Haßobjekt als Erleichterung. Die Gemeinschaft wehrt sich „wie ein Mann" gegen den Feind, denn: „Der Feind ist notwendig für die Gruppe" (Mitscherlich). Kritisches Überprüfen, unabhängiges Denken bedroht diese Einheitlichkeit und wird von den Mit­ gliedern meist wütend bekämpft.

Kriegspropaganda machte auch bei uns den Gegner zum Angehörigen einer untermenschlichen Art, die Poster der Kriegszeiten demonstrieren es. Um die innerartlichen Tö­ tungshemmungen herabzusetzen, wird der Feind als NichtMensch phantasiert. Bei vielen menschlichen Stammes- und Familienfehden, be­ sonders bei denen mit der Verpflichtung zur Blutrache, schei­ nen die innerartlichen Tötungshemmungen aufgehoben zu 78

Das Feindbild

sein. Die Feinde werden als ein Clan von Un-Menschen an­ gesehen.2 Die Rücksichtslosigkeit, mit der Terroristen den Tod von Unbeteiligten in Kauf nehmen, ist möglicherweise darauf zurückzuführen, daß sie die Opfer als Mitglieder einer kon­ kurrierenden nichtmenschlichen Riesenfamilie phantasieren. Perfekte Anpassung an die Rollenerwartungen der Gemein­ schaft vermitteln Identität und machen das Leben sicherer. Die von der Allgemeinheit abgelehnten Tendenzen werden nicht als eigene erkannt, nach Möglichkeit nicht gelebt und in der Folge auf das Fremde projiziert. Der Projizierende ist überzeugt, daß ihm die abgelehnten verpönten Bedürfnisse völlig fremd sind. Selbst widersprechende Erfahrungen kön­ nen die Einbildung nicht korrigieren. Es ist der Wunsch, da­ zuzugehören, der bewirkt, daß eigenes Fehlen ohne Bewußt­ sein der UnWahrhaftigkeit geleugnet und anderen zugeschrie­ ben wird. Die subjektive Wahrnehmung verbiegt und verfärbt sich zur Feststellung eines angeblichen Feindes, Trägers der abgelehnten Eigenschaften. Die Verlagerung unpassender Regungen auf andere entlastet von Gefühlen der Unzuläng­ lichkeit.3 In der Übertragung neodarwinistischen Denkens auf Gruppen drängt sich die Vermutung auf, daß auf einer bestimmten Stufe der mentalen Menschheitsentwicklung Gemeinschaften mit einer größeren Bereitschaft, in einer allgemein bedrän­ genden Situation unerwünschte und daher unterdrückte Ei­ genschaften zu projizieren, also zu hassen, bessere Überle­ benschancen hatten, weil der gemeinsame Feind die Solidari­ tät förderte. Ein genetisch verankertes Bedürfnis nach einem Feind, ein Hassen-Müssen und -Wollen war vermutlich in einer bestimmten Menschheitsphase lebensnotwendig. Wenn dies zutrifft, wird es verständlich, warum Haß Lust bereitet. Alles, was für die Arterhaltung wertvoll ist oder war, wird durch begleitende Lust belohnt. Feindseligkeit kann wie ein Suchtmittel seltsame Anziehungskraft haben. Die Ansteckung durch Haß wird durch das Bedürfnis nach aufwühlenden Gefühlen, nach Lebensintensität, verstärkt. Daher ist es schwer, die jeweilige gehäßige Reaktion zu überwinden, selbst dann, wenn sie als eindeutig nachteilig erkannt wurde:

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Das Feindbild

es besteht ein Bedürfnis, den Haß weiter zu schüren. Der Haß erlaubt verdrängte Ressentiments auszuleben und archaischen Bedürfnissen nachzugeben. So wie es ansteckende Seuchen hysterischen Inhalts gibt, wie einst z.B. den Flagellantismus oder heute die Begeisterung für mittelmäßige Popsänger oder die Faszination durch eine Sekte, scheinen auch Hassen und Kämpfenwollen auf andere überzuspringen, die eine Bereit­ schaft, ein Bedürfnis dafür mitbringen. Die Umsetzung exzes­ siver Haßgefühle in destruktives Handeln ist allerdings einer Minderheit vorbehalten. Dabei kann das Fernsehen einen ähnlich negativen Einfluß für die Psychohygiene haben wie einst der Mangel an Hygiene für die Ausbreitung von anstekkenden Krankheiten. Die Macht der Bilder, die intensive Ge­ fühlsäußerungen zeigen, wirkt ansteckend.

Die in der Familie weitergegebenen Feindbilder tragen zur Formung des Gewissens bei. So, wie die bösen Feinde ge­ schildert werden, will niemand sein. Dennoch schlummert in der Tiefe der Seele ein unklares Wissen, daß trotz Verurtei­ lung durch das Über-Ich das Abgelehnte auch positive Aspek­ te hat. Zudem erschütterten die strengen Eltern die Eindeutig­ keit des Abzulehnenden, denn sie waren nie so konsequent, wie sie zu sein vorgaben bzw. wie sie sein wollten. Die Stra­ fen, zu denen sie ihre Kinder verurteilen, sind eigentlich ge­ gen ihre eigenen unordentlichen Gedanken gerichtet.4 Den Kindern bleibt nicht verborgen, daß das, was die Eltern und Autoritäten lehren und befehlen, nicht selten im Widerspruch zu dem steht, was sie nonverbal, unausgesprochen vorleben. Das vorwitzige, nachdenkliche Kind, das darauf hinweist, kann in ungünstigen Fällen zum Feind in der eigenen Familie, zum Prügelknaben werden, wenn es nicht „lernt", kritische Äußerungen zu unterdrücken. Nur selbstsichere, in sich ru­ hende Eltern können dem entlarvenden Kindermund mit Hu­ mor begegnen. Auch in Gruppen wird der, der sich nicht dem ungeschriebe­ nen Kodex entsprechend verhält, zum Feind in den eigenen Reihen, zum Vertreter des äußeren Feindes.5 Die Ablehnung, die dieser Sündenbock zu spüren bekommt, spiegelt das Be­ dürfnis nach Geschlossenheit wider, welche die Kehrseite der 80

Das Feindbild

Angst vor dem Ausgeschlossensein darstellt. Der Ausschluß der „Omegas" ist schon bei Herdentieren festzustellen und findet sich bei allen Primitiven bis zu Schulklassen, Arbeits­ stätten und Vereinen. Er ist der Gehalt des „Mobbing". Diese Form des wahrhaftig blinden Hasses ist insofern kontrapro­ duktiv, weil wertvolle Innovationsfähigkeitverloren geht. EiblEibesfeldt meint, daß die Omegas, die Prügelknaben, die Joker oder Sündenböcke oft die eigentlich Kreativen seien. Weil ihr „Talent" zur Nachahmung schlecht entwickelt ist, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als innovativ zu sein.

Keinen Feind zu haben, ist fast so schwierig, wie ohne Freun­ de zu sein. Die Ortung und Bekämpfung des Feindes kann Lebenssinn und Definition des eigenen Standorts vermitteln. Feindbilder werden als Teil der Traditionen oft über viele Generationen, über Jahrhunderte kulturell vererbt. Die „Erb­ feinde" sind zweckmäßig: sie können für alles Ungemach, das die Gesellschaft trifft, verantwortlich gemacht werden. Sie sind für die seelische Ökonomie des Einzelnen ebenso wert­ voll wie für die der Gruppe. Das Handeln gegen den Grup­ penkodex bzw. das Abweichen von der Rolle bedroht einer­ seits die Gemeinschaft und erschüttert andererseits die Positi­ on innerhalb der Gruppe, ebenso wie die Einheit der Persön­ lichkeit bzw. die (vorläufige) Identität. Erschütterung der Iden­ tität mit der Gruppe bedeutet Verlust von Zielvorstellungen und daher von Aktionsfähigkeit. Das Fehlen von Bezugsgrup­ pe und Handlungsvorgaben werden als äußerst bedrohlich erlebt. Die Verfügbarkeit der traditionellen Feinde schützt nicht nur das Individuum davor, sich Unzulänglichkeiten einzugeste­ hen, sondern auch die Gemeinschaft, sich mit sozialen Miß­ ständen auseinanderzusetzen und Reformen zu planen. Un­ lust gegenüber Neuerungen, Wertschätzung des Vertrauten läßt bei Fehlentwicklungen nicht die Einsicht zu, daß sie durch das starre Festhalten am Gewohnten bedingt sind, daß die Stagnation Reformen verhinderte. Es wird leicht übersehen, daß parallel zu dem Haß gegen das Fremde das entgegengesetzte Bedürfnis besteht, den eigenen Gesichtskreis und die Enge und Beschränktheit der über­

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Das Feindbild

kommenen Lebensformen zu durchbrechen, einfach: daß wir alle „neu-gierig" sind.6 Die geheiligte Pflicht zur Gastfreund­ schaft beinhaltet neben der Notwendigkeit, den Gast vor der immer bereiten Feindseligkeit gegen Fremdes zu schützen, auch ein Wissen um den Wert der Offenheit für Abweichen­ des. Der Fremdling befriedigt das Bedürfnis nach neuen Ein­ drücken. Mehr noch: das Fremdartige hat Sex-Appeal. Die Attraktivität des Fremden läßt Jungverliebte zu Pionieren der Völkerverständigung werden. Wer diese überbrückenden Tendenzen übersieht und ausschließlich die Horde der wü­ tend Feindsüchtigen wahrnimmt, dabei, wie die sensations­ abhängigen Medien, die duldende, stumme Menge vergißt, verbaut Versöhnungsmöglichkeiten.

Die Neugier auf Unbekanntes kann Bereicherung bringen. Wie auf genetischem Gebiet die Exogamie, (das Heiratsverbot zwischen Verwandten) so verhindert die kulturelle Vermi­ schung geistige Inzucht. Es entstehen neue, reiche Möglich­ keiten. Da das kulturelle Erbe mit Hilfe der Sprache, über­ haupt mit allen Mitteln der Kommunikation viel schneller verbreitet wird als das genetische, gleichen Kräfte der Erneue­ rung die der Bewahrung aus. Im Spannungsfeld zwischen diesen Gegensätzen kann nach einer Zeit der Irritation durch Amalgamierung zweier Kulturen eine neue Blüte entstehen. Der archaische, heute überflüssige Haß in einer riesig ge­ wachsenen Menschheit, wo alle von allen abhängen, ist Ge­ fahr der Selbstdestruktion. Anlage und Tradition behindern die Anwendung neuer Einsichten und Techniken für politi­ sche Lösungen. Wir sind auf der immer enger werdenden Erde zur Kooperation verdammt, ob wir es wollen oder nicht.

Kurzfassung: Ein Feindbild liegt vor, wenn abgelehnte eigene Wesenszüge irrtümlich an anderen Menschen wahrgenommen und diese daher als Feinde angesehen werden. Der unbewußte innere Feind wird nach au­ ßen projiziert und erlaubt Täuschung über eigene Schwächen und Verdrängungen.

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Das Feindbild

Anmerkungen Nach der Auflösung der Ost-West-Konfrontation beim Ende des Kalten Krieges wurden sofort „Die Mullahs* als Feinde ausgemacht. Der Durch­ schnittsbürger konnte nicht die Werte des Islams erkennen, dem das Abendland so viele kulturelle Beiträge, insbesondere die Verbindung zur Antike verdankt. Auf den Fundamentalismus reduziert, wurde nicht gese­ hen, wie verwandt der Islam den anderen beiden „Religionen des Bu­ ches*, dem Christentum und dem Judentum, ist. 2 Dieses Verhalten ist möglicherweise auch auf die Erscheinung des in­ nerartlichen Mordes in Tierfamilien zurückzuführen, der dazu dienen soll, einem Männchen einen Vorteil in der Weitergabe seiner Gene zu verschaffen. 3 Eine besonders einleuchtende Darstellung der Feindbildprojektion fand ich bei Sudhir Kakar in seiner Darstellung der immer wieder aufflam­ menden Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems in Indi­ en. Der Autor, indischer Psychoanalytiker, schildert in vielen Beispielen, wie die jeweils befeindete andere Gruppe zum Inbegriff alles dessen Bö­ sen wird, was in der eigenen Subkultur als verwerflich gilt, wobei das Abgelehnte bei beiden Gruppen oft dasselbe ist, sie sich also im Grunde ähnlich sind, so wie sie sich erbmäßig ohnehin nicht unterscheiden. Sudhir Kakar, „Die Gewalt der Frommen. Zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte*, C. H. Beck, München 1997 4 Horst-Eberhard Richter, „Eltern, Kind und Neurose*, rororo 1974 5 Heigl-Evers nach Raoul Schindler, „Über den wechselseitigen Einfluß von Gesprächsinhalt, Gruppenposition und Ich-Gestalt in der analytischen Gruppenpsychotherapie*, Psyche XIV 6 Mario Erdheim, „Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur*, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1988, „Zur Ethnopsychoanalyse von Exotismus und Xenophobie*. 1

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Perversion in Sexualität und Aggression Verformungen des Sexualtriebes als Denkmodell für die Deviationen der Aggression Zivilisation schließt immer eine Beinflussung der Antriebe ein. Triebverhalten muß modifiziert werden, um den Bedürf­ nissen der betreffenden Gesellschaft in ihrer jeweiligen physi­ schen und kulturellen Umwelt gerecht zu werden. Tier und Mensch sind grundsätzlich dressierbar. Jedoch wäre es ver­ hängnisvoll, wie manche Ideologien es in Ansätzen, aber erfolglos, versuchen, Triebe ganz auslöschen zu wollen. Trie­ be bedeuten Vitalität, Leben. Die Konflikte, die durch konkur­ rierende Antriebe entstehen, stören zwar, können aber, wie die Geschichte zeigt, bewältigt werden.

Schon bevor Erziehung einsetzt, beginnen angeborene Trieb­ hemmungen zu wirken. Sie sind die Grundlage für die Anpas­ sung an die jeweilige Umwelt. Anlage für soziales Verhalten dämmt das rohe Wirken der Antriebe ein. Das Leben, in stän­ digem Umbau begriffen, bringt keineswegs sogleich ideale Resultate hervor. Erst allmählich formt sich die wünschens­ werte Lösung. Dabei können positive Ergebnisse übers Ziel hinausschießen, weil günstiges Antriebsverhalten sich im ge­ netischen und im kulturellen Erbe verfestigt und dann durch Übertreibung nachteilig wird. Dieses „Luxurieren", d.h. diese überstarke Entwicklung scheint sich, begünstigt durch die menschliche Selbstdomestikation, für den Sexualtrieb ergeben zu haben. Das zeigt sich schon daran, daß der Erwachsene im Gegensatz zu den Tieren immer zeugungsbereit ist. Jedoch soll damit nicht jener generellen Verdammung der Sexualität das Wort gesprochen werden, wie sie sich insbesondere in­ nerhalb derjenigen Religionen, die sich auf einen Vatergott zentrieren, entwickelt hat. Erotik ohne Fruchtbarkeit kann eine wichtige Bedeutung für Kommunikation im weitesten Sinne spielen. 85

Perversion in Sexualität und Aggression

Wir hören heute aus Indien und haben in der Schule über die Antike erfahren, daß Kindstötung häufige Praxis sein kann.' Das gilt insbesondere dann, wenn die Nahrungsdecke knapp ist. Die Belastung durch Überfruchtbarkeit wird, wo Verhü­ tungsmittel nicht zugänglich sind, durch barbarische Sitten eingedämmt. Für die Juden des alten Testaments sah die Si­ tuation anders aus: Ihnen bot eine zahlreiche Nachkommen­ schaft bessere kollektive Überlebenschancen. Daher das Ge­ bot: seid fruchtbar und mehret euch! Die Vorstellung, Lust ohne Zeugung sei sündhaft, stammt aus biblischen Zeiten. Es war sinnvoll, den sozial zu diskriminieren, der Lustgewinn ohne Zeugungsabsicht suchte, also die Möglichkeit zur Schwängerung nicht nutzte. Die dreitausend Jahre alten mosaischen Vorstellungen be­ stimmen immer noch und nicht nur auf dem Gebiet der Se­ xualität unser Denken. Das bedrohliche Anwachsen der Weltbevölkerung seit dem 19. Jahrhundert macht eine Korrek­ tur unserer Einstellung zur Sexualität notwendig. Sexuelle Abweichungen, wie sie unter dem Druck der Verbote entste­ hen, brauchen nicht mehr verdammt zu werden. Der ur­ sprüngliche Wert der früh und weit verbreiteten sexuellen Askese war Vermeidung von Kinderlast zugunsten religiöser und spiritueller Bemühungen. Heute können wir die wär­ mende Gnade der Leibesliebe genießen, ohne uns wegen der Verantwortung für die Folgen quälen zu müssen. Die moder­ nen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung machen Enthalt­ samkeit mit ihren manchmal peinlichen Nebenwirkungen überflüssig.

Es sollte nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen wer­ den, daß sexuelle Abweichungen - sie verdienen eher den Namen Spielformen - von Angehörigen derselben konserva­ tiven sozialen Gruppen, die das Nachlassen des Wehrwillens anprangern, als Symptome von Degeneration gesehen wer­ den. Man kann sie auch als Regulationsleistungen gegenüber veränderten Bedingungen lesen. Perversionen wären dann, genau wie die belächelte Impotenz und Frigidität eine Ant­ wort auf die übertriebene Bejahung von Sexualität und Fruchtbarkeit. Sie treten mit der Bevölkerungsverdichtung auf, 86

Perversion

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Sexualität und Aggression

die den Wohlstand begleitet. Sie sind Erscheinungen der Ent­ artung nur für den, welcher den Zustand ständigen Krieges als Norm betrachtet. Zusammen mit der veränderten Einstellung zur Sexualität muß sich Beurteilung der kriegerischen Aggres­ sion verändern, sobald existentielle Sicherung gegeben ist. Unbesiegbare Zeugungskraft und Gebärfähigkeit können ebenso zurücktreten wie die ständige Kampfbereitschaft. Der Kampf gilt nun der Auseinandersetzung mit den inneren Spannungen in der Gesellschaft.

Wie das Sexualverhalten ist das Tötungsverbot von wider­ spruchsvollen Moralvorstellungen begleitet. Das Kapitalver­ brechen Mord, in Bezug auf die Abtreibung mit großer Ge­ wissenhaftigkeit angeprangert, ist für den Krieg ehrenvolles Gebot. Das ursprüngliche Überlebensprinzip lautet: unsere Gruppe muß so zahlreich wie möglich sein, die fremde aber weitgehend dezimiert werden. In einer hypermobilen Kom­ munikationsgesellschaft kann es die reinliche Trennung zwi­ schen uns und den anderen nicht mehr geben, so daß die zahlenmäßige Überlegenheit keinen Vorteil bietet. Die Macht der Traditionen trübt das Urteil. Bei Kritik an den überkommenen Einstellungen folgen ähnlich moralisierende Reaktionen wie aus Anlaß der sogenannten sexuellen Revolu­ tion und wie sicherlich zu erwarten auf diese meine Ausfüh­ rungen. Kriegsgegner werden als verantwortunglos hingestellt, als egoistische Feiglinge ohne Hilfsbereitschaft. Die Frage nach der Moralität des Tötens im Krieg aufzuwerfen, gilt als schwere Beleidigung, als moralischer Verfall eines ganzen Volkes, für das eine apokalyptische Zukunft prophezeit wird.

Heldenrausch und Kriegsbegeisterung machen den Eindruck pubertätstypischer Emotionen, für die es in unserer geordneten Welt wenig Ventile gibt. Sie können sich - noch harmlos als Randalieren äußern. Schlimmstenfalls werden sie, wie die Kriege vor Beginn des dritten Millenniums, ausgefochten mit der Gesinnung frühgeschichtlicher Helden, womöglich mit der Grausamkeit des Urmenschen, aber unter Benutzung der Völkermordwaffen, die uns die moderne Technik beschert hat. Für den Westeuropäer schwer einfühlbare Metzeleien lösen bei der Weltöffentlichkeit außer Entsetzen vor allem

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Perversion in Sexualität und Aggression

Ratlosigkeit aus. Sie haben mit anderen irrationalen Reaktio­ nen, die harmloser erscheinen, das eine gemeinsam: die Er­ folglosigkeit der Versuche, sie einzudämmen. Eine Evolutions­ psychiatrie, die sich für seelische Krankheiten interessiert, welche durch Retardierung bedingt sind, wird, so hoffe ich, einmal eine Antwort geben können. Die Annahme, daß es sich um Rückfälle in frühe psychische und kulturelle Stufen der menschlichen Entwicklung handelt, ist zwar weit verbrei­ tet, bedarf aber der wissenschaftlichen Verifizierung.

Der Mensch ist ein sozial lebendes Säugetier. Kooperation und Kommunikation sind eine der Grundlagen seines Erfolges als Spezies. Der Eindruck menschlicher Kooperationsbereit­ schaft läßt sich schon aus vergleichenden Tierbeobachtungen ableiten. Aber die Erfahrungen unmenschlicher Grausamkeit scheinen diese Zuversicht zu widerlegen. Beobachtungen lassen vermuten, daß der Säugling mit einem Überschuß an Aggression ausgestattet ist. Sie ist ein Stück Lebensenergie. Das Neugeborene schnappt gierig nach der Brustwarze und klemmt sie mit erstaunlicher Kraft ein. Nach ein paar Tagen hat es gelernt, daß die Milchquelle auch ohne dieses harte Zupacken strömt. Erfahrung von Schutz und Sicherheit helfen Aggressivität adäquat zu modifizieren. Das Übermaß ist nicht länger notwendig.

Wie der sogenannte „Sexuell Perverse" auf unreifen Stufen der Sexualentwicklung stehengeblieben ist, so scheint es vorzu­ kommen, daß Aggressionsentwicklung in einer frühen Phase angehalten wird, um sich als Perversion des Aggressionstrie­ bes, als „dysfunktionale" Aggressivität (Mentzos), zu äußern. Aber es gilt: so wenig Sexualität nur der Zeugung dient, son­ dern soziales Bindemittel sein kann, so wenig ist Aggression nur für Krieg wertvoll. Wie Erotik kann gekonntes Streiten der Verständigung dienen. Leider hilft kritische Betrachtung der Kriegsbegeisterung als kollektive Regression auf eine überholte Stufe der kulturellen Entwicklung noch nicht gegen ihre tragischen Auswirkungen. Zudem wurde Aggression in der Vergangenheit sozial hono­ riert, brauchte daher nicht, wie Sexualität, versteckt zu wer­ den. Die Verankerung der Kampfbereitschaft im menschli­

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Perversion

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Sexualität und Aggression

chen Erbgut schließt ein, daß das Bedürfnis nach Aggressions­ lust genau so wenig wie das nach Sexual lust aus dem geneti­ schen Erbe eliminiert werden kann. Daraus entsteht die An­ schauung, daß die menschliche Bosheit nicht zu besiegen ist. Es wird übersehen: Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung nimmt an den aggressiven Exzessen teil. Dagegen lassen sich viele mitbestimmen von der ebenfalls erbmäßig gegebenen Kooperationsbereitschaft. Zudem muß auf Aggressionslust nicht verzichtet werden. Sie ist die Voraussetzung aller For­ men des Wettstreits. Aufbauend auf angeborenen Trieb- und Beschädigungshemmungen, ist Formung des Aggressionstrie­ bes wie bei allen Antrieben möglich. Die Wandlung im Sexualverhalten, wie sie sich im letzten halben Jahrhundert vollzogen zu haben scheint, kann Hoff­ nung wecken, daß Einstellungsänderungen innerhalb relativ kurzer Zeit möglich sind.2 Ein nachhaltiger Wandel bedarf allerdings der theoretischen und praktischen Unterweisung über Generationen. Gewaltfreie Konfliktlösungsmuster müs­ sen in allen sozialen Gruppen - von Familie und Kindergar­ ten bis zu supranationalen Vereinigungen - verinnerlicht werden. Wir müssen Vertrauen haben: Die so bereitwillig verdammte menschliche Urnatur hat Qualitäten, sie ist ein fruchtbarer Mutterboden für die Entwicklung flexibler, neu­ alter Haltungen. Die sozialen Antriebe werden heute noch weitgehend unterschätzt. Wo selbst- und sozialschädliche Destruktionsneigung das soziale Verhalten beeinträchtigt, können Ventilsitten wie Kampfspiele usw. der Neutralisierung dienen. Soziale und sexuelle Restriktionen verstärken Aggres­ sivität. Außer der Einschränkung der Verbote auf das Sinnvol­ le und Unvermeidliche dienen physische Aktivität, Sport, körperliche oder geistige Wettkämpfe und Einübung gewalt­ freier Konfliktlösungen und Rollenspiele als Entlastung.

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Perversion

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Sexualität und Aggression

Kurzfassung: Am Beispiel des Sexualtriebes kann deut­ lich werden, daß Triebe einschließlich der Aggression der zivilisatorischen Gestaltung unterliegen. Das be­ deutet, daß sie sowohl sozialverträglich geformt wie auch krankhaft deformiert werden können.

Anmerkungen Hindufrauen, die in Kalkutta ihre Säuglinge der Göttin Kali opfern, indem sie sie in die Gangesmündung werfen, kompensieren, ohne es zu wissen, mit dieser rituellen Opferhandlung die Übervölkerung. Ähnlich sollen die Indianer Südamerikas zwei Drittel ihrer Säuglinge den Göttern geop­ fert haben. In beiden Kulturen wird eine furchtbare Muttergottheit ange­ betet: In Mexiko ist sie von Kinderschädeln gekrönt oder gegürtet, in In­ dien wird Kali als Herrscherin über Leben und Tod verehrt. Vielleicht sollte man das absolut wörtlich nehmen: Mütter haben gottähnliche Macht über Leben und Tod des Nachwuchses, ob sie sie bewußt aus­ üben wollen oder nicht. Interessant auch die Untersuchungen von Lloyd de Mause über die Kindheit in Antike und Mittelalter, der zeigt, daß viele Formen der Vernachlässigung bis zu aktivem Mord erst im 19. Jahrhun­ dert endgültig als Verbrechen im kollektiven Bewußtsein wahrgenom­ men wurde. Lloyd de Mause, „Hört ihr die Kinder weinen", Suhrkamp 1992 2 Es ist einschränkend zu bemerken, daß es sich vermutlich eher um ein „Coming out" als um eine wirkliche Veränderung gehandelt zu haben scheint: Die gängigen Abweichungen von der sozial geforderten Ideal­ norm werden heute mit weniger Heimlichkeit gelebt. 1

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Mögliche Vorteile von Krieg Kommunikation statt Krieg Angesichts meines leidenschaftlichen Plädoyers für friedliche Konfliktlösungen wird mancher einwenden, daß es positive Funktionen des Krieges gäbe: etwa, wenn unstillbare Stammesfehden mit der militärischen Macht eines dominierenden Staates beendet oder die ökonomischen Ungleichgewichte ausgeglichen werden. Oft dürfte es allerdings so sein, daß die für den Tribalismus typischen, sportartigen Scharmützel erst durch die Bedrohung durch einen gierigen Eroberer zu mör­ derischen Auseinandersetzungen anschwellen. Der waffen­ starke Eindringling pflegt zu seiner Sicherung die feindlichen Stämme gegeneinander auszuspielen. Den alten Stammesgemeinschaften gelingt nicht die Wende von ihren kulturell vererbten Feindbildvorstellungen (dem Nachbarstamm) zum Zusammenschluß gegen den gemeinsamen Bedrohen Noch nach Auflösung der Kolonien, während des Kalten Krieges der Großmächte, ließen sich die Autokraten früherer Kolonialvöl­ ker bereitwillig zu Stellvertreterkriegen überreden. In den Kriegen von heute ist der kollektive Mord und Selbst­ mord ins Gigantische gesteigert. Sie werden mit dem Kampf­ instinkt von Stammeskriegern, aber mit modernen Völker­ mordwaffen bis zur totalen Erschöpfung ausgefochten. Der erträumte chirurgische Schnitt mittels überlegener Waffen­ technik kann sie nicht beenden. Bestenfalls heißt es dann: Operation gelungen, Patient verstorben. Außer Land und Infrastruktur sind die menschlichen Ressourcen in Form von intellektuellen und sozialen Fertigkeiten und Talenten, die für den Wiederaufbau notwendig wären, zerstört. Krieg hinterläßt nach Tod und Verwüstung vor allem Haß: Wo nach dem Erlöschen der Kampfhandlungen überhaupt noch Leben be­ steht, sind am Ende die alten Konflikte verschärft statt gelöst. Rachepläne werden geschmiedet, statt Kompromisse zu erar­ beiten, die für alle Seiten tragbar wären.

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Mögliche Vorteile von Krieg

Wenn der Reichtum eines Nachbarn Begehrlichkeit weckt, dient der Territorialkrieg der besseren Verteilung des zur Ver­ fügung stehenden Landes und der materiellen Ressourcen: ein Gefälle wird eingeebnet. Es gab aber schon in der Steinzeit Ausgleich in der Verteilung der materiellen Güter durch Tauschgeschäfte. Flintsteinmesser wurden Hunderte von Ki­ lometern von den Steinvorkommen gefunden. Handel und Wirtschaft nivellieren Einseitigkeiten ohne dramatische Verlu­ ste. Bodenschätze sind ohne Arbeitskräfte zu ihrer Erschlie­ ßung und ohne Konsumenten so wertlos wie das Gold des Midas, der verhungerte, weil ihm alles, was er berührte, zu Gold wurde. Die Etablierung von Handelsbeziehungen, von gegenseitigen Rechten verlangt zähe Verhandlungen. Diese haben aber nicht den Appeal, die Unterstützung durch Kamp­ feslust, wahrscheinlich weil sie erst später in der mensch­ lichen Stammesgeschichte aufkamen. Sie werden öffentlich wenig wahrgenommen und in ihren Ergebnissen unterschätzt. Die verbesserten Handelsmöglichkeiten würden es heute erlauben, alle Menschen satt werden zu lassen, wenn nur Vernunft, guter Wille und Erfindungsgabe nicht durch psycho­ logische Vorurteile behindert wären. Unterschiedliche Reich­ tümer, etwa Arbeitskraft und Überschüsse könnten zueinan­ der finden.1

Ein weiterer „Vorteil" könnte in einer anderen, einer barbari­ schen Funktion des Krieges gesehen werden: in der Bevölke­ rungsreduktion. Der unumgängliche Kampf gegen die Über­ bevölkerung, der früher infolge Krieg und Seuchen selten notwendig wurde, kann heute mittels Empfängnisverhütung human und effektiv geführt werden. Es sind die psychologi­ schen Barrieren, die jahrtausendalte Glorifizierung der Frucht­ barkeit in einer agrarisch-patriarchalischen Bevölkerung, die dieses Problem unlösbar erscheinen lassen. Es ist wie mit der Geißel des Krieges: Uralte Vorstellungen stehen den so einfa­ chen Vernunftlösungen im Weg. Unglücklicherweise ist der angeschwollene Bevölkerungsdruck eine Teilursache gestei­ gerter Aggressivität. Eine wichtige positive Folge von Eroberungskriegen wird selten erwähnt. Der einzig wirkliche und wesentliche Vorteil 92

Mögliche Vorteile von Krieg

scheint mir die genetische und kulturelle Durchdringung getrennter Völker zu sein. Gerade sie kann durch die größere Mobilität und die verbesserte Kommunikation auf humane Art und Weise erreicht werden. Diese wesentlicheren Vorteile weit ausholender Eroberungskriege, wie etwa Alexanders Zug bis Innerasien, werden infolge der vorwiegenden Orientie­ rung an Sieg oder Niederlage von der traditionellen Ge­ schichtsschreibung vernachlässigt. Wenn ein abgehärtetes, hungriges Eroberervolk ein altes, vielleicht stagnierendes Kulturvolk niederwirft, gehören u.U. zum Friedensschluß Heiraten zwischen den Familien der Eliten, mit der Absicht, durch familiäre Bindungen Frieden zu befestigen. Auch das Volk knüpft Liebesbande. In der Folge eignen sich die Sieger fasziniert die kulturellen Errungenschaften der Unterworfenen an. So werden die Unterlegenen zu heimlichen Siegern. Es kommt zu einer gegenseitigen Durchdringung, Anerkennung und Aufwertung und nach einer Phase der Lähmung zu einem neuen Entwicklungsschub. Seit Jahrtausenden ergossen sich aus Innerasien kriegerische Horden in die offenen Regionen, nach Zerstörung neue Entwicklungen provozierend. Die rö­ mischen Soldaten brachten in den Jahrhunderten vor und nach Jesus von Nazareth die verschiedensten religiösen Vor­ stellungen aus den unterworfenen Gebieten nach Rom und bewirkten dadurch eine kulturelle Gärung, aus der später das Christentum als Sieger hervorging. Auch diese positive Lang­ zeitfolge von Krieg ergibt sich in der Zukunft ohne Zwang aus der verbesserten Weltkommunikation.

Die Ahnung des Durchschnittbürgers, daß Kriege heute un­ sinnig sind, erzeugt Wehrunlust. Die angeprangerte Wehr­ müdigkeit ist, ähnlich wie die Bewegung für Disengagement der USA präziser Ausdruck dieses Zweifels am Sinn von un­ begrenztem Machterwerb und Dominanz, gesichert durch Waffen. Die Verunsicherung über den Sinn von Waffeneinsatz drückte sich aus in der Ratlosigkeit und Uneinigkeit gegenüber dem Jugoslawienkonflikt oder gegenüber den Schlächtereien in den ehemaligen Kolonien. Die schlechten Erfahrungen frühe­ rer Einsätze verursachen eine Vorsicht, die man angesichts 93

Mögliche Vorteile von Krieg

der ungeheuren Verantwortung nur ehrenwert nennen möch­ te, wenn dies nicht so viel moralisierenden Protest erregen würde. Der weltweite Glaube an die Waffen gekoppelt mit verwirrten Moral begriffen diskreditiert besonnenes Zuwarten als unterlassene Hilfeleistung.2 Es ist nicht zu übersehen, daß weder im Bewußtsein der Poli­ tiker noch in dem der Allgemeinheit ein präzises Wissen über die Möglichkeiten unblutiger Maßnahmen zur Friedensstif­ tung besteht. So sind die Wirkungen von Embargo und Boy­ kott, z.B. in Südafrika und Serbien nicht ins Bewußtsein ge­ drungen. Wo sie zur Anwendung kamen, wurden sie, weil unspektakulär und langsam wirkend, von den Medien wenig wahrgenommen, bestenfalls belächelt und kleingeredet. Sie dauern lange und sind viel weniger aufregend als lärmende Waffeneinsätze. Sie haben so wenig die Attraktivität zerstöre­ rischer Kämpfe wie das stille Wirken unzähliger inoffizieller humanitärer Organisationen (NGO). Gezielte Öffentlichkeits­ arbeit über ihre Wirksamkeit würde dem Frieden dienen.

Die Zuversicht, keinen großen europäischen Krieg mehr fürchten zu müssen, wurde durch den wahnwitzigen Jugo­ slawienkonflikt erschüttert. Nahe unseren Grenzen versuch­ ten machthungrige Autokraten, die überkommene ethnische Vielfalt, Erbstück und Reichtum tausendjähriger Geschichte für ihren Machtkampf zu mißbrauchen, statt auf Toleranz zu bauen und den Gewinn von Verständigung und von wechsel­ seitigen Lernprozessen zu erkennen und zu nutzen. Resteuropa stand fassungslos und ratlos Gewehr bei Fuß, wegen seiner Untätigkeit verdammt von profilierungssüchtigen Mora­ listen.

Die europäischen Völker hatten in zwei Weltkriegen wehrbe­ geisterten Patriotismus fürchten gelernt. Ein Uralt-Nationalis­ mus, dem nichts mehr von seiner früheren Nähe zum Libera­ lismus anhaftet, liefert rechtsextremen Gruppen rauschhafte Erinnerung an Heldenzeiten. Ihre archaischen Ideale sind dieselben wie die ihrer vorgeblichen Feinde, der Immigranten, wobei die gegenseitigen Feindbilder Existenzberechtigung vermitteln.

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Mögliche Vorteile von Krieg

Polizeigewalt allein kann diese Ausbrüche nicht meistern. Es bedarf, außer der Förderung der Ventilsitten (allem voran des Fußballs) der politischen Erziehung und des Trainings im gewaltfreien Austragen von Meinungsverschiedenheiten. Die Unkenntnis unblutiger Techniken der Konfliktlösung und der Möglichkeiten des Bürgers, sich einzumischen und Reformen auch ohne offizielles Mandat einzuklagen, verlangt nach Auf­ klärungsarbeit.3 Statt vom Staat und eventuell von einer un­ terbeschäftigten Armee Schutz einzufordern und sich dadurch selbst zu entmündigen, kann eine politisch wach und reif ge­ wordene Bevölkerung in Selbstorganisation ihren waffenlosen Beitrag leisten. Wir brauchen nicht riesige Heere und milliar­ denteure Waffen, sondern gute Gesetze, an deren ständiger Verbesserung eine interessierte und informierte Bevölkerung mitwirkt. Zu der Forderung nach besonnenem Umgang mit Technik, Umwelt und Ressourcen muß die Revision uralter, überholter Vorstellungen von Politik und Moral kommen.

Kurzfassung: Gegen den Einwand, Krieg habe auch positive Funktionen, ist zu erwidern, daß die techni­ schen und wissenschaftlichen Fortschritte, insbeson­ dere die verbesserte Kommunikation, heute dieselben Ziele erreichen können wie in der Vergangenheit der Krieg.

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Mögliche Vorteile von Krieg

Anmerkungen Schwierig ist die Wasserversorgung. Wasser ist vermutlich dasjenige Gut, daß nur unter größten Schwierigkeiten einigermaßen gerecht verteilt werden kann. Aber auch da gibt es Möglichkeiten, wenn die Talente statt für Krieg für kreative Lösungen verwendet werden. 2 Der römische Konsul Quintus Fabius „Cunctator" (Der Zauderer), ver­ mied planvoll jede Schlacht gegen die im offenen Kampf überlegenen Karthager. Nach ihm benannte sich die von G. B. Shaw und H. G. Wells gegründete „Fabian Society", die den Krieg, den Manchester-Liberalismus und das marxistische Klassenkampfdenken ablehnt. 3 Gernot Jochheim, „Die Gewaltfreie Aktion", Rasch und Röhring Verlag 1984 Gene Sharp, „The politics of nonviolent action", Bd. 1-3 Porter Sargent Publishers, Boston 1973 ders., „Social Power and Political Freedom", Porter Sargent Publishers, Boston 1980

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Territoriale und „Soziale" Verteidigung Die Landesverteidigung ist in einer agrarischen Gesellschaft eine der ursprünglichen Motivationen für kriegerische Aggres­ sion. Die Felder, die mühselig kultiviert, die Weiden, auf denen Nutztiere gezüchtet wurden, sind Existenzgrundlage. Weil soviel mehr Arbeit in ihnen steckt als in den wildwach­ senden Pflanzen und Tieren, die den Sammlern und Jägern Nahrung geben, werden sie intensiver als eigentlicher Besitz erlebt. Das Land, das der Vater im Schweiße seines Ange­ sichts urbar gemacht hat, ist wortwörtlich das Vaterland. Es muß physisch gegen räuberische Nachbarn oder nomadisie­ rende Horden verteidigt werden. Unzählige Grabbeigaben in Form von Waffen bezeugen die Bedeutung der Wehrhaftig­ keit seit ältester Zeit.

Die Abhängigkeit vom lebenspendenden Grund und Boden bewirkte eine Fixierung auf die Vorstellung, daß das physi­ sche Überleben nur mit physischer Verteidigung des Territo­ riums gesichert werden könne. Diese Idee dominiert heute noch weitgehend das politische Denken. Sicherheit wird mit territorialer Integrität gleichgesetzt. Reine Subsistenzwirtschaft ist heute für die Länder des Westens fast unbekannt. Selbst Bauern kaufen ihr Brot und die Butter dazu im Dorfladen. Austausch wird immer bedeutsamer. Die traditionelle Bereit­ schaft, zu den Waffen zu greifen, überwiegt überall da, wo eine ursprünglich agrarisch-konservative Bevölkerung wie etwa die im ehemaligen Jugoslawien noch kein ausgeprägtes demokratisches Bewußtsein entwickeln konnte.1 Das Denken in Stammesgemeinschaften und Großfamilien, in ethnischen und konfessionellen Gruppierungen bestimmt weiterhin, auch wenn nicht mehr voll berechtigt, das politische Handeln. Beim Übergang von der nomadischen zur bäuerlichen und von der bäuerlichen zur bürgerlichen Gesellschaft wandelte sich mit den Existenzgrundlagen die Art der Verteidigung. Zunächst setzte sich die Großfamilie mit allen Mitgliedern, im Notfall einschließlich Weibern und Kindern, zur Wehr. Später gab es Kriegerkasten, noch später stehende Heere. In einer

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hypermobilen, völlig vernetzten Kommunikationsgesellschaft auf einer zum Dorf gewordenen Erde muß sich Verteidigung erst recht wandeln. Die teils instinktive Bereitschaft zur Terri­ torialverteidigung, die ursprünglich aus Existenzgründen sank­ tionierte, ja glorifizierte kriegerische Aggression wird frag­ würdig. So wie in Bezug auf Sexualität die von mosaischer Gesetzgebung verordnete Überfruchtbarkeit heute sinnlos, ja gefährlich ist, verliert das militärische Heldentum seinen Wert. Der Appell an den „Gott, der Eisen wachsen ließ", soll­ te lange überholt sein.2 Es ist nicht zufällig, daß Jugendliche sich von diesem Anachronismus faszinieren lassen. Sie sind in ihrer psychischen Entwicklung sozusagen noch in der frühen Eisenzeit. Die kulturell zu vermittelnde Bewußtseinsent­ wicklung, die die technische Entwicklung hochkomplizierter und hocheffektiver Waffen hätte begleiten sollen, konnte sich entwicklungsgeschichtlich in so kurzer Zeit nichtvollziehen.

Zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens innerhalb der größer gewordenen Gesellschaften mußten Regeln, Gesetzes­ werke entwickelt werden. Mit ihrer Hilfe war es möglich, Spannungen ohne destruktive Aggression beizulegen. Ord­ nungen des Gemeinschaftslebens mit physischen Waffen ver­ teidigen zu wollen,' ist eigentlich inkonsequent. Wenn die Gesetze nicht einen Teil des Bewußtseins bilden, müssen sie spätestens mit Steintafeln oder Schriftwerken untergehen. Ihre Verinnerlichung ist wichtiger als Inschriften und Gedenkstät­ ten. Orte, Monumente usw. haben bestenfalls symbolische Bedeutung. Die traumatisierende Vietnamerfahrung und die zahlreichen Stellvertreterkriege der Großmächte haben gelehrt, daß mo­ derne Waffentechnik allein nicht den Sieg garantiert, dafür aber unabsehbare Zerstörung bewirkt.3 In den modernen Industriegesellschaften mit ihrer übersensiblen Infrastruktur sind moderne Waffen erst recht ungeeignet, weil gerade das vernichtet wird, was den neidischen Angreifern zum Kriegsan­ laß wurde. Vor allem ist nach den technischen Einrichtungen das „Know How" einer geschulten Bevölkerung für die Erobe­ rer ebenso wichtig wie für die Unterworfenen.

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Die friedliche Rechtsgemeinschaft eines Staates, die der Ver­ meidung von Willkür dienen soll, kann mit Gewaltmitteln nur scheinbar geschützt werden. Etwas, das in der Psyche veran­ kert sein müßte, kann mit physischen Waffen nicht zurei­ chend verteidigt werden. Aber immer droht Regression auf überwunden geglaubte Gewaltneigung. Es ist verhängnisvoll, daß die Überzeugung, Waffenanwendung sei unumgänglich, nicht Nachdenken über andere Möglichkeiten der Verteidi­ gung aufkommen läßt. Nur, wo es für ein Volk außer jeder Frage steht, ausreichende Waffenmacht bilden zu können, werden andere Mittel entwickelt. Die kleine, an Land und Bodenschätzen bitterarme, steinige Schweiz wurde überlege­ ne Macht in Industrie, Geldhandel und Wissenschaft. Ähn­ liches gilt vor allem für die Juden: Trotz Heimatlosigkeit seit fast 2000 Jahren gelang es ihnen nicht nur, ihre Identität zu wahren, sondern die Völker, in denen sie lebten, mit ihren Fertigkeiten und ihrer Kreativität zu bereichern.4

Rechtswerke müssen, außer in Bibliotheken, im Bewußtsein der Menschen niedergelegt sein.5 Ihr Schutz ist die Verinnerli­ chung durch die Bürger und deren Überzeugung, in einem Staat zu leben, in dem es sich auf Grund seiner Rechtlichkeit und Freiheit und seiner Lebensqualität zu leben lohnt. Die Be­ jahung der Rechtstaatlichkeit durch die Bevölkerung ist auf lan­ ge Sicht die beste Garantie für den Fortbestand eines Staates. Aus der Zustimmung zu der bewährten Sozialordnung, zum Gesetzessystem, zu der Verfassung, wächst das, was Max Weber Verfassungspatriotismus6 genannt hat. Erst die politi­ sche Partizipation der Gesamtbevölkerung vertieft die Demo­ kratisierung. Es ist die allgemeine Anteilnahme, der gedankli­ che und verbale Kampf, der sie festigt. Dieses demokratische Bewußtsein ist gegen Zerstörung beständiger als Boden oder Bauwerke. Auch wenn das Land, auch wenn die Symbole7 vernichtet sind, bleiben die psychischen Strukturen, die seeli­ schen Prägungen bestehen, sofern nicht ein sinnloser Krieg zuviele Leben gekostet hat. Verfassung, Demokratie und Menschenrechte sind jetzt das Gut, das bewahrt werden muß. Die Art und Weise der Verteidigung der sozialen Gemein­ schaft und ihrer Werte und Standards muß dem Inhalt des zu

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Verteidigenden adäquat sein. Waffen können nur grob­ materielle Güter schützen.

Obwohl nicht Krieg, sondern das gewaltfreie Aufbegehren der Völker die Auflösung des Sowjetblocks bewirkt hatte, scheint daraus weder bei der Masse der Bevölkerung noch bei den Regierenden die Konsequenz gezogen worden zu sein, daß ein Staat mehr ist als sein Territorium und daß schiere Waf­ fenmacht ihn nicht allein zusammenhält. Es hatte sich die Macht einer entschlossenen Bevölkerung erwiesen, aber das gebannte Fernsehvolk verstand nicht den tieferen Gehalt, den möglichen Aufbruch zu einem Bewußtseinswandel. Das übli­ che bequeme Vergessen griff um sich. Läppische .Märsche für den Erhalt kleiner Vorteile, vordergründige Nachahmung blieben übrig. Es zeigt sich wieder der schneckenhafte Gang der Mentalitätsentwicklung.

Die gewaltfreien Aufstände haben altehrwürdige und neuere Vorbilder. Die Auflehnung der Juden in der ägyptischen Ge­ fangenschaft, die dem Auszug aus Ägypten voranging, zeigt, wie eine zahlenmäßig unterlegene Bevölkerung sich ihre Freiheit erringen kann. Gewaltlosigkeit wird assoziiert mit den von Gandhi8 erfundenen Methoden. Er war inspiriert von den Streiks des industrialisierten Mittelengland und den Boy­ kottbewegungen der Kolonien im 19. Jahrhundert. Diese Vorbilder und die Formen des zivilen Selbstschutzes in den von Hitler besetzten europäischen Ländern hat Theodor Ebert in seinen Büchern dargestellt und die Grundprinzipien aus dem Studium der Geschichte derartiger Verteidigungsbeispie­ le herausdestilliert.9 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Konzept der „Sozia­ len Verteidigung" entwickelt in der Erkenntnis, daß ein Atom­ krieg nicht führbar ist und die Atombombe nur als Abschrekkungswaffe dienen kann, die nie zum Einsatz kommen darf. Die Bezeichnung „Soziale Verteidigung" wurde ausdrücklich als Kontrast zu der klassischen territorialen Verteidigung mit Kriegswaffen gewählt und meint Verteidigung einer sozialen Gemeinschaft. So wichtig die Einsicht von der Sinnlosigkeit der Atombombe wie auch der anderen Völkermordwaffen für die Schwellenländer wäre, „Soziale Verteidigung" ist auch in 100

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einem Europa, das sich sicher in seinen Grenzen wähnt, not­ wendig. Sie hat den Vorteil, neben dem Schutz nach außen der inneren Sicherheit zu dienen. „Soziale Verteidigung" setzt voraus, daß gewußt wird, wie im Notfall Bürgerrechte gewalt­ frei bewahrt werden können. Sie schützt ohne Waffen eine Gesellschaft, an deren Gestaltung die Bevölkerung mitgewirkt hat und mit deren rechtsstaatlicher Verfassung und deren Einrichtungen sie sich identifizieren kann. Wenn bereits, star­ ren Traditionen folgend, Waffen eingesetzt wurden, hat das gequälte Volk die Möglichkeit, nach Einübung der gewaltfrei­ en Techniken, statt einen Bürgerkrieg zu beginnen, die Aus­ einandersetzungen auf einem niedrigen Niveau zu halten.10 Der real existierende Rechtsstaat ist respektabel, aber verbes­ serungsbedürftig. Das Einüben der Prinzipien und Techniken der „Sozialen Verteidigung" vertieft das Wissen um Men­ schen- und Bürgerrechte, denn die ständige Auseinanderset­ zung mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit, die Bereitschaft, be­ stehende, sinnlos gewordene Gesetze zu hinterfragen, bedeu­ tet ununterbrochene Bemühung um mehr Demokratie. Der Lernprozeß hat Bedeutung für die Zukunft: mit der Entwick­ lung internationaler Konzerne und Medienimperien kündigen sich Konflikte an, für deren Lösung unsere Erfahrungen und Vorstellungen nicht mehr ausreichen. Die Macht der Multis kann weder durch militärische, noch finanzielle, noch Geset­ zeskraft gebändigt werden. Die Konsumenten, vorher nur Opfer, können aktiv in die Entwicklung eingreifen sowohl mittels derjenigen Formen der „Sozialen Verteidigung", die, wie Boykott oder Streik schon Tradition haben, bis zu sehr modernen Techniken, welche die Störanfälligkeit der Indu­ striegesellschaft ausnutzen (etwa die Abhängigkeit von Strom).

Diese sehr verkürzte Darstellung kann das Einüben „Sozialer Verteidigung" nicht ersetzen. Noch dringt die Unruhe an den europäischen Grenzen, die Gier nach Atomwaffen in Schwel­ lenländern voller politischer Unruhe, die Motivation sein könnte, kaum ins Bewußtsein der Allgemeinheit. Die Menge bleibt blind in ihrem Glauben an Waffen, blind für die Be­ drohung durch das Vernichtungspotential. Zukünftige Pro­ bleme und deren gewaltfreie Verteidigung können noch we­

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niger imaginiert werden. Die zahlreichen Möglichkeiten, politischen Gestaltungswillen auch als Protest von unten aus­ zudrücken, sind fast unbekannt. Es handelt sich jedoch um Kulturfertigkeiten, die erlernt werden können wie Lesen und Schreiben. Sie sind so wenig wie die Überwindung unwillkür­ licher, kreatürlicher Gewaltneigung ausschließlich mittels guten Willens verfügbar und müssen eingeübt werden. Auf staatliche Unterstützung ist erst in später Zukunft zu rechnen. Es bleibt die Hoffnung, daß die Wählermassen lernen, „Power of the People" verantwortungsbewußt einzusetzen.

Kurzfassung: Territoriale Verteidigung ist im Zeitalter der Völkermordwaffen fragwürdig und dank Hyper­ mobilität und Megakommunikation überflüssig. Tech­ niken des zivilen, gewaltfreien Schutzes von Demo­ kratie und Menschenrechten bedürfen der Weiter­ entwicklung.

Anmerkungen Staatsgründungen im Gefolge der berittenen Heere von Nomaden und Halbnomaden aus Innerasien waren von kurzer Dauer. 2 Ein Lied der Hitlerjugend: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, drum gab er Säbel, Schwert und Spieß dem Mann in sei­ ne Rechte" kennzeichnet, in seiner sachlichen Verbogenheit und Verlo­ genheit, treffend die Herkunft dieses scheinbaren Freiheitsdenkens aus einer Epoche ständiger Kriege und paßt nicht mehr in unsere Welt. Wer sich als Held fühlt, wenn er mit dem automatischen Gewehr (geliefert von einer unverantwortlichen Waffenindustrie) in die Luft ballert, ist trotz seiner Gefährlichkeit lachhaft. 3 In der Zeit des Kalten Krieges setzte sich zögerlich die Erkenntnis durch, daß es nach einem Atomkrieg keine Überlebenden geben kann, also nur „mutual assured destruction" - sichere gegenseitige Vernichtung, garan­ tiert ist (daher m.a.d. - verrückt). Die Unzulänglichkeit von bloßer Waf­ fengewalt hatte sich auch in den Guerillakriegen gezeigt, die keine deut­ lichen Fronten kennen, wo sich hingegen die Soldaten innerhalb der Be­ völkerung aufhalten und sich darin bewegen „wie die Fische im Wasser", was dann schnell dazu führt, daß, wie in den südamerikanischen Gueril­ lakriegen, die Zivilbevölkerung zur Geisel wird. 4 Als Folge der Anfeindungen und Ausgrenzungen, welchen die Juden auf ihrer immer neuen Heimatsuche ausgesetzt waren, sahen sie sich ge­ zwungen, sich auf gewisse Gebiete wie Geldverleih und Diamantenhan­ del zu spezialisieren. 1

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Auch hier sind uns die Juden voran: das Gesetzeswerk, die Thora wird in feierlicher Prozession beim Gottesdienst herumgetragen, so demonstrie­ rend, daß ihre sozialen Regelungen die heimatlose Gemeinde zusam­ menschweißt. „Verfassungspatriotismus* nach Max Weber. Laut Brockhaus ist Verfas­ sungspatriotismus Orientierung am Grundgesetz und weniger gefühlsbe­ tont als der nationale Patriotismus. Es ist allerdings durchgängig in der Kulturgeschichte zu beobachten, daß sich Menschen an etwas Physisches halten wollen, auch wenn es keinen wirklichen Halt geben kann. Ein Beispiel ist das populäre Bedürfnis nach Bilderverehrung. Obwohl das 3. Gebot lautet: „Du sollst dir kein Bildnis machen, um es anzubeten.* werden überall und immer wieder angeblich wundertätige Bildwerke verehrt. Ich sehe die Bedeutung von Gandhi vor allem in seinem psychologi­ schen Geschick, das ihm half, mit genial einfachen Techniken sowohl die Bevölkerung wie auch maßgebende Politiker zu beeinflussen. Das Konzept der sogenannten „Sozialen Verteidigung* (social defence) wurde angesichts der Drohung eines Atomkrieges nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert und definiert. Nach Ebert geht die Gegenüberstel­ lung von territorialer und sozialer Verteidigung auf Johann Galtung zu­ rück. Gemeint ist Verteidigung einer Gemeinschaft mit ihren sozialen Rollen, zivile Verteidigung. Die wörtliche Übersetzung aus dem Engli­ schen, von „social defence*, könnte das Mißverständnis aufkommen las­ sen, mit der Bezeichnung sei eine besonders menschenfreundliche, „sanfte* Art und Weise der Verteidigung gemeint. Das ist sie insofern nicht, als Todesfälle der Verteidiger nicht mit Sicherheit zu vermeiden sind. Theodor Ebert, „Gewaltfreier Aufstand*, Waldkircher Verlag 1980, ders., „Soziale Verteidigung. Formen und Bedingungen des zivilen Wi­ derstandes*, Waldkircher Verlag, Bd. 1 und 2, 1981, ders., „Ziviler Un­ gehorsam*, Waldkircher Verlag 1984 Stephen King-Hall, „Den Krieg im Frieden gewinnen*, Verlag Nannen, Hamburg 1958 Johan Galtung, „Es gibt Alternativen*, Westdeutscher Verlag 1984 und „Der Weg ist das Ziel*, Peter Hammer Verlag 1987 Gene Sharp, „Making Europe Unconquerable*, Ballinger Publishing Company, Cambridge, Mass. 1985 Das Massaker auf dem Tianamen-Platz im Mai 1989, in dem die gewalt­ freien chinesischen Studenten proteste blutig erstickt wurden, schien ein sinnloses Opfer zu bedeuten. Heute, acht Jahre später, beginnt die chine­ sische Führung mit unauffälligen kleinen Öffnungsschritten. Die furchtba­ ren Opfer waren auf die Dauer nicht umsonst.

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Streiten verbindet Eine Welt ohne Meinungsverschiedenheiten, ohne Reibun­ gen, ohne Streit und Aggression ist undenkbar. Interessenkon­ flikte sind nicht zu vermeiden und müssen ausgetragen wer­ den. Es ist völlig normal, daß bei Kränkungen zunächst der Impuls körperlicher Gegenwehr aufkommt.

Die Vorstellung, daß es verwerflich ist, angesichts gegneri­ scher Überlegenheit auszuweichen, scheint allerdings ein Zivilisationsprodukt zu sein. An Tieren kann man beobach­ ten, daß sie sich nicht auf aussichtslose Kämpfe einlassen. Dem Menschen bleibt unsinnige Provokation ebenso Vorbe­ halten wie blinde Rache. Es muß gekämpft werden, ob sinn­ voll oder nicht. Es gibt ein Bedürfnis nach einem Feind, einen Widerwillen, Feindseligkeit aufzugeben. Das Ausagieren von Aggressivität ist lustvoll und kann als Ersatz für Befriedigung ungestillter anderer Bedürfnisse dienen. Weil stammesgeschichtlich Sex und innerartliche Aggression weitgehend ge­ koppelt sind, leuchtet ein, daß Aggression Sexualsurrogat sein kann. Auch Hunger macht aggressiv, bekannt als Folge von Fastenkuren.’ Das unklare Gefühl: „mir fehlt etwas!" wird von den Produzenten teurer Luxusgüter ausgenutzt, indem sugge­ riert wird, daß mit dem Besitz ihrer Produkte Glück und Zu­ friedenheit einkehren. Wirkliche oder vermeintliche Verkür­ zung macht aggressiv. Destruktive Aggression, Hauptinhalt des Medienangebots, findet Zuschauer, die damit ihre ange­ staute Wut abreagieren wollen. Wie kann man ihnen helfen?

Es darf bezweifelt werden, daß die behauptete Ventilfunktion der Unterhaltungselektronik bei der Darstellung von Gewalt die Gefahr aufwiegt, im Ernstfall durch die Herabsetzung der Hemmschwelle keine Unterscheidung zwischen Spiel und Realität machen zu können. Unterhaltung, die Gewalt zum Gegenstand hat, verstärkt die gedankenlose Annahme, es gebe keine gewaltfreien Formen der Konfliktaustragung. An­ dere, nicht verletzende Aggressionsventile, obwohl im Über­ fluß vorhanden, werden zu wenig in Betracht gezogen. In den Filmen, die Gewalt verherrlichen, scheinen die Helden denen 105

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aus der Zeit der Völkerwanderung zu gleichen. Sie haben besonders für Jugendliche und pubertär gebliebene Erwach­ sene eine Riesenanziehungskraft.2

Die frühe Prägung auf eine lieblose Umgebung spielt eine zentrale Rolle bei gesteigerter Aggression. Wenn Menschen ohne jeden Anlaß, ohne Information massiv negative Vermu­ tungen über Dritte äußern, muß man annehmen, daß sie durch Vorerfahrungen auf eine feindselige Umwelt program­ miert sind. Sie konnten frühes Sozialverhalten und Vertrauen in die Mitwelt und in sich selbst nicht zureichend erlernen. Es bedarf geduldiger Arbeit, die zähen Vorurteile abzubauen. Es ist nicht leicht, hinter der Aggression die Verletzung zu er­ kennen, die dem Angreifer einst angetan wurde.

Entschlossene Konfliktlösung setzt ebenso wie das physische Kämpfen, etwa das Fechten mit dem Degen, Fertigkeiten voraus. Unstimmigkeiten müssen angesprochen und Konflikte ausdiskutiert werden, damit das seelische und soziale Gleich­ gewicht erhalten bleibt. Aber keinem sind die richtigen Streit­ techniken in die Wiege gelegt worden.3 Sie sind eine kulturel­ le Errungenschaft, deren Aneignung Vorbilder und Übung verlangt. Eine Zivilisation, die traditionell kriegerische Tugenden preist, muß Ausweichtechniken verachten und nicht-verletzende Streittechniken vernachlässigen. Unreife Heldenverehrung erstickt aber sowohl die Erfindungsgabe für gewaltfreie Lö­ sungen wie auch den Mut, sie zu erproben. Wo Kinder keine Vorbilder für ein Verhalten mitbekamen, bei dem der Andere, auch der Gegner, respektiert wird, wo die Erziehung Unter­ drückung und Gewalt einschloß, kann die Kulturtechnik nicht-physischen Streitens nur schwer erlernt werden. Familie, Schule und soziales Umfeld sollten Übungsmöglichkeiten einer dialogischen Streitkultur vermitteln. Die Forderung nach Streitkultur beinhaltet nicht, daß Beleidi­ gungen und Ärger abgewürgt und Gegenwehr aufgegeben werden müssen. Streitkultur ist nicht Wortgewandtheit oder unbeirrtes Festhalten an einem Standpunkt. Lautstarke Ab­ wehr der gegnerischen Argumente, pures Rechtbehaltenwol­ len verdient diesen Namen so wenig wie versteckt aggressive 106

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Redetricks, die den Diskussionspartner in einem Wortschwall mit pseudo-wissenschaftlichen Erörterungen mundtot machen sollen. Es gelingt nicht auf Anhieb, den zu entlarven, der durch endlose Vorklärungen und Verfahrensfragen oder durch Ironie oder gar Beleidigungen des Gegenübers ein echtes Gespräch zu verhindern sucht. Der begnadete Redner, dessen Talent ihn leicht dazu verführt, die anderen nicht zu Worte kommen zu lassen, sollte sein Anliegen verständlich formulie­ ren, statt mit Floskeln um sich zu werfen. Diejenigen zu übergehen, die ihre Ansichten nur stammelnd vorbringen, kann den Verlust wertvoller Einfälle oder Informationen be­ deuten. Der Verzicht auf Auseinandersetzung läßt Entfremdung, ja Haß wachsen. Der Ärger, der nicht geäußert werden kann, häuft sich wie nie entsorgter Müll zwischen den Streitpartnern an; dagegen bringt die Fähigkeit, einen Streit aufrecht auszu­ tragen, Annäherung. Sie kann Teamwork, eine Beziehung, eine Ehe dauerhafter und glücklicher machen. Diese Erfah­ rung führt zu der Einsicht: Streiten verbindet, eine auch für politisches Handeln höchst bedeutsame Erkenntnis. Das rech­ te Streiten wird gerade nicht ewige Feindschaft säen, sondern die Sicht beider Seiten verdeutlichen und dadurch Lösungen erleichtern. Kompromisse, die allen einigermaßen gerecht werden sollen, sind nicht faul, sondern Ausdruck der Einsicht, daß die volle Wahrheit und das ausschließliche Recht nicht allein auf einer Seite sein können.

Außer der Bereitschaft zuzuhören und sich in die Motive des Anderen einzudenken, gehört zur Streitkultur auch die Fähig­ keit, eigene Empfindungen und Einfälle, ja, Schwächen und Ängste verständlich zu artikulieren. Das schließt den Mut ein, sich zu blamieren, abgelehnt, ausgelacht zu werden und trotzdem nicht aufzugeben. Allmählich wird es gelingen, eigene, angeblich „unpassende" Gefühle nachvollziehbar auszudrücken. Wer eigene Verletzungen einfühlsam darstellt, statt in einem Schwall von Gegenanklagen zu explodieren, hilft dem Beleidiger, mit sich zu Rate zu gehen, statt noch massiver zurückzuschlagen und den Streit dadurch eskalieren zu lassen.

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Die Bereitschaft, Verletztsein einfühlbar auszudrücken oder klarzustellen, daß die Feindseligkeit unberechtigt ist, kann versöhnend wirken. Die Weigerung, in dem Austausch von Gehässigkeiten mitzuspielen, kann die Szene schlagartig ver­ ändern, denn unglücklicherweise erfolgt gerade dann, wenn Wut kindlich unvernünftig geäußert wird, Zurückweisung, während durch den Mut, subjektive Gefühle zu bekennen, die ersehnte Zuwendung gewonnen wird. Wer eingestehen kann, daß er sich unsicher fühlt, macht es dem Gegner leich­ ter, sich ebenfalls zu seinen Schwachpunkten zu bekennen. Durch die Aufrichtigkeit wird Annäherung möglich und Ra­ chedurst reduziert.

Das Eingehen auf gegensätzliche Meinungen bedeutet zu­ nächst Verunsicherung. Es wird angenommen, der Erfolg sei gefährdet, weil es bei Einfühlung nicht zur Entwicklung des „Killerinstinkts", zur Abstumpfung der Mitleidsfähigkeit, kommt. Es ist notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß der Gegner als potentieller Verbündeter gewonnen und nicht vernichtet werden soll. Es ist typisch für unsere aggressionsge­ stimmte Welt, daß es schon als bedrohlich erlebt wird, nicht in jedem Fall ganz oben zu sein. Die Ansicht, Verständnis sei Schwäche, ist weitverbreitet.4

Die Arbeitsfähigkeit von Teams verlangt dialogische Kon­ fliktlösung. Um die gröbsten Störfaktoren auszuschalten, wur­ de für viele Gruppenaktivitäten die Forderung aufgestellt, alle diejenigen, die seelische Probleme haben oder hatten bzw. deshalb in Behandlung waren, von vornherein von der Teil­ nahme auszuschließen. Das Aussortieren von seelisch bela­ steten Personen ist eine naheliegende Forderung, die aber voraussetzt, man könne seelisch gesund und krank reinlich trennen. Gerade die Gruppensituation kann schlummernde Konflikte zum Ausbruch bringen. Die feinfühlig-kritischen Teilnehmer haben mit den inneren Widersprüchen einer ein­ seitigen Kultur mehr Schwierigkeiten als die instinktiv sich anpassenden. Erstere auszuschließen, bedeutet u.U. den Ver­ lust innovativer Begabung. Vielleicht ist das (angebliche) Feh­ len seelischer Probleme eine besondere Form von Dummheit, bestimmt aber von Stumpfheit in der Folge von Verdrängun­

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gen. Konflikte sind normal in einer triebhaft, durch das An­ passungsbedürfnis scheinbar einheitlichen Gesellschaft.

Bei Gruppenarbeit pflegen unerwartete Spannungen, leidenschaftlic.he Gefühle aufzutauchen, die die Bereitschaft für gedeihliche Zusammenarbeit stören. Persönliche Konflikte beeinträchtigen die Effektivität, weil die Diskussion immer wieder durch unsachliche Einwürfe gestört wird. Die sog. „Themenzentrierte Interaktion" nach Ruth Cohn5 stellt die Forderung auf: „Störungen haben Vorrang", womit gemeint ist, daß individuelle, irrational erscheinende Einwände vor der Weiterbehandlung eines Themas angesprochen werden müssen. Dieses Vorgehen ist zeitraubend, insbesondere, wenn nicht Selbsterfahrung, sondern effektive Teamarbeit intendiert ist. Der Grund dafür, daß regelmäßig irrationale Einwände in die Diskussion drängen, liegt darin, daß die Gruppensituation die Familienkonstellation wieder aufleben läßt. Die Gruppe wirkt wie ein Brutschrank auf unbewältigte Probleme aus der Kindheit. Negative Erfahrungen mit frühen Bezugspersonen werden Gesprächspartnern angedichtet. Alte Probleme, emotionelle Belastungen, die bisher zu schlum­ mern schienen, weil sie instinktiv gemieden wurden, leben unversehens auf. In Selbsterfahrungsgruppen werden diese Erscheinungen zum Zwecke der Introspektion genutzt. Wenn Konkurrenzdenken durch Zusammenarbeit ersetzt wird, kann erfahren werden, daß der Erfolg eines TeamMitglieds nicht den der anderen zu behindern braucht. Ge­ genseitige Anregung und Wissenserweiterung sind möglich. Das notwendige Ansprechen von Spannungen, von mögli­ chen seelischen Verletzungen macht eine neue Qualität der Kooperation möglich. Die vorher rivalitätsschwangere Atmo­ sphäre wandelt sich in ein von Freundschaft und Vertrauen getöntes Klima, wenn die stets vorkommenden persönlichen Animositäten, Relikte von früheren und ganz frühen Erfahrun­ gen, geklärt wurden. Erst dann kann eine Arbeitsgruppe ihre potentiellen Möglichkeiten entfalten. Das ist insbesondere wichtig in der Wissenschaft, weil die Vermehrung des Ge­ samtwissens den individuellen Intellekt überfordert. Einbezie­ hung aller Nachbardisziplinen wird immer notwendiger.

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Auch die komplexen Vorgänge in heutigen Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen sind vom Einzelnen nicht zu überblikken und zu koordinieren.6

Die allgemeine Angst, daß ein Vertrauensvorschuß miß­ braucht wird, ist nicht ganz unberechtigt, insbesondere, wenn der Streitpartner mit einem ausgeprägten Vorurteil in die Aus­ einandersetzung eintritt, wie es kennzeichnend ist bei der Feindbildprojektion. Dieses weitgehend kulturimmanente Vorurteil tritt als individuelle Voreingenommenheit in dem Sonderfall der negativen Übertragung auf, wenn Vorerfahrun­ gen mit wichtigen Bezugspersonen projiziert, „übertragen" werden. Auch wer, wie der Psychotherapeut, in seiner Aus­ bildung gelernt haben sollte, wie man mit Übertragung und Gegenübertragung umgeht, wird durch massiv neurotische Projektionen und Übertragungen verletzt sein und es schwer finden, die Feindseligkeit nicht mit einer gleichsinnigen Reak­ tion zu beantworten. Seine Ausbildung schützt ihn nicht da­ vor, die Kränkung zu fühlen, so wenig wie Morde an Psycho­ analytikern und Psychiatern aufgehoben werden können. Die Verletzung zu leugnen, wäre Stumpfheit, Mangel an Empa­ thie, Zynismus. Andererseits muß der unreife Hintergrund der Aggressionen verstanden werden. Der Balanceakt zwischen Empathie und tiefenpsychologischem Verständnis kann ein Modell sein für die Behandlung genereller zwischenmensch­ licher Konflikte. Die interpersonelle Auseinandersetzung (zwischen zwei Menschen) ist begleitet von einem intrapersonalen Prozeß (in der Seele). Dieses innere Gespräch beinhaltet Einstimmung in die realitätsgerechtere Betrachtung einer Streitfrage. Wenn der subjektive Beitrag zu der Unstimmigkeit erkannt wird, kann die objektive Situation nüchterner beurteilt werden. Wer die objektiven Probleme des Gegenübers versteht, hat den Vorteil eines Offiziers, der die rückwärtigen Stellungen des Feindes ausforscht. Er verhält sich wie ein Sportler, der sich vor dem Match genau über die Schwächen und Vorzüge des Gegners informiert, der nur technisch besiegt, aber nicht vernichtet werden soll.

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Wut oder andere destabilisierende Gefühle zeigen uneinge­ standene innere Widersprüche an. Die Frage an sich selbst: „Was stört mich denn so?" ist keinesfalls naheliegend, weil unsere Kultur verlangt, unbehagliche, demütigende Gefühle zu verdrängen. Schwächen und Ängste einzugestehen und gleichzeitig die Standpunkte des Gegners zu akzeptieren, wird als eine Bedrohung des Selbstwertgefühls abgewehrt. Dabei ist es eine Binsenwahrheit, daß Verunsicherung keinem erspart bleibt und viel weniger eine Schande ist als das krampfhafte Festhalten an einer Fassade der Unerschütterlich­ keit. Die Ursache der individuellen Irritation zu durchschau­ en, bedeutet Landgewinn im eigenen Terrain des Unbewuß­ ten. Schwächen können Stärken werden. Selbstbewußte Menschen vermögen im Gegensatz zu Einge­ bildeten, Stolzen, zu ihren Fehlern zu stehen, ohne sich ver­ nichtet zu fühlen. Das Reifen von Überzeugungen in Anfech­ tungen und Zweifeln stärkt die Persönlichkeit. Das Gespräch mit sich selbst, das Gewahrwerden eigener Verdrängungen, eigener Zwiespältigkeit, der Mut, eine vermeintliche Schwä­ chung durch Eingehen auf den Gegner und Zugeben eigener Fehler zu riskieren, läßt die Fähigkeit wachsen, den eigenen Standpunkt in lässiger Sicherheit beizubehalten und trotzdem Verständnis für die Argumente des Gegners zu bewahren. Es beginnt sich Rücksicht im Sinne von Einsicht in die Bedin­ gungen der Anderen zu entwickeln.

Wenn Gandhi von der Festigkeit in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner redet, die mit Freundlichkeit und Höflichkeit gepaart sein muß, spricht er eine Haltung an, die im Sprachgebrauch der Psychoanalyse zu der Vorstellung von „Ich-Stärke" gehört, zu der schwierigen Mischung von Offen­ heit und Standhaftigkeit, von Unerschütterlichkeit und Tole­ ranz. Auf dem politischen Feld sollte sie die kluge Bereitschaft einschließen, einen Sieg nicht rücksichtslos auszuschlachten, sondern dem früheren Gegner einen Rückzugsweg offen zu lassen, (eine alte militärische Regel). So wenig wie Meinungs­ verschiedenheiten zwischen zwei Menschen ewige Feind­ schaft bedeuten müssen, so wichtig ist es, mit einem politi-

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sehen Opponenten wieder kooperieren zu können, statt eine Todfeindschaft über Generationen zu konservieren. Mit dieser für unsere Kultur untypischen Toleranz Vertrauen aufzubauen, schließt die Einsicht ein, daß die eigene Welt­ schau nicht die einzig richtige und wahre sein muß. Diese Haltung des „Leben-und-leben-lassens", des heiteren „laissezfaire", den Deutschen so fremd, könnte manche Spannung ver­ ringern. Uralte Weisheit des Ostens fordert mit der Distanzie­ rung vom hastigen Weltgetriebe, mit der Einsicht in unsere Ver­ gänglichkeit und Unwichtigkeit eine ähnliche Gelassenheit.

Kurzfassung: Aggressivität ist unvermeidbar, aber Streiten, ohne zu verletzen, muß erlernt werden. Ge­ konntes Streiten kann gegenseitiges Verständnis ver­ tiefen und Teamwork effektiver machen. Für produk­ tive Auseinandersetzungen muß die scheinbar wider­ sprüchliche Verbindung von Toleranz und Selbstbe­ hauptung, unterstützt durch Introspektion, eingeübt werden.

Anmerkungen Michael Lukas Moeller, „Der Krieg, die Lust, der Frieden, die Macht, rororo 1992 2 Meine eigene Erinnerung an dieses Alter läßt mich an meine Faszination durch Autoren wie Karl May und Walter Scott denken. Die Verunsiche­ rung dieser Altersstufe unterstützt die Regression auf unreife Omnipotenzphantasien. 3 Christoph Besemer, „Mediation. Vermittlung in Konflikten*, Stiftung gewaltfreies Leben, 1992 4 Wegen der Reduzierung der Aggressivität bei Bekanntheit verbieten militärische Führer das Fraternisieren, die Verbrüderung mit der „unter­ worfenen* Bevölkerung. 5 Ruth Cohn, „Großgruppen gestalten mit themenzentrierter Interaktion*, Matthias Grünewald 1993 6 Der Wert der Teamarbeit wurde neuerdings auch in der Industrie prak­ tisch erprobt. Gruppen von persönlich aufeinander eingespielten Fach­ leuten teilen ihre Arbeitszeit je nach Auftragslage in ein einzelnes Projekt und gewährleisten damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Firma: „project engeneering*. 1

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Die Verinnerlichung der Gewaltstrukturen In der indischen Verfassung von 1947 wurde durch Nehru, den ersten Ministerpräsidenten der neuen Demokratie, die Gleichbehandlung von Kastenlosen und Abkömmlingen der Urstämme („Adhiwasi") verfassungsmäßig verankert. Gandhi, Mitstreiter Nehrus, hatte sich wie schon viele vor ihm bis zurück zu Buddha gegen die krassen Ungerechtigkeiten des indischen Kastenwesens gewandt. Dennoch hält das Unrecht bis heute an. Kastenlose, die auf ihre Quoten bei der Zulas­ sung zur Universität pochen, müssen sich brutale Gewalt von Brahmanensprößlingen gefallen lassen.’ Man sieht am wieder aufflammenden hinduistischen Fundamentalismus überdeut­ lich, wie zäh die traditionellen Vorurteile haften. Wer dage­ gen rebelliert, sein gesetzliches Recht einfordert, liefert sich der Lynchjustiz aus.

Die überall anzutreffende Unterbewertung bestimmter sozia­ ler Gruppen mit der faktischen Ungleichheit vor dem Recht ist eine Grundlage der von Johan Galtung beschriebenen „strukturellen Gewalt". Strukturelle Gewalt meint Gewalt ohne einen verantwortlich Handelnden (= Akteur).2 Sie wird strukturelle Gewalt genannt, weil es die Struktur der Gesell­ schaft mit sich bringt, daß Angehörige bestimmter Schichten dauernd Opfer von Machtmißbrauch werden. Die Ungleich­ heit und Benachteiligung, die innerhalb einer Gesellschaft als zum Teil festgeschriebenes, zum Teil nicht klar erkanntes Unrecht verankert sind, wirken sich als Lebensbeeinträchti­ gung, als Gewalt aus. Es war in Galtungs Konzept noch nicht eingeschlossen, daß die Opfer das Unrecht der Gewaltstrukturen nicht nur nicht durchschauen, sondern unbewußt akzeptieren, weil sie diese „verinnerlicht" haben. Die bestehenden Klassengegensätze wurden zu einem (fast unabänderlichen) Teil ihres Weltbil­ des. Das bedeutet, daß die Opfer der Ungleichheit zunächst (solange sich kein Konfliktbewußtsein entwickelt hat) die an­

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geblich gottgewollte Unrechtsordnung ohne Protest hinneh­ men. Fast die ganze Gesellschaft teilt die unverrückbaren Vor­ stellungen. Schon Einstein gab dieser Beobachtung Ausdruck: „Das Tragische liegt darin, daß die durch solche Behandlung Betroffenen infolge des suggestiven Einflusses der Majorität meist selbst jenem Wertungsvorurteil erliegen und ihres­ gleichen für minderwertig halten."3

Es übernimmt also selbst der, der darunter leidet, weitgehend die Vorurteile. Die Kastenlosen sind deshalb so demütig und schicksalsergeben, weil die Selbstunterschätzung ein Teil ihres eigenen Wertesystems ist. Sie folgen der Überzeugung, sie hätten durch unbekannte Vergehen in früheren Leben ihre schlechte soziale Stellung verdient. So, wie der Christ oder Moslem auf Belohnung im Jenseits vertraut, hofft der Hindu auf eine bessere Inkarnation im nächsten Leben. Die Demut der Erniedrigten und Beleidigten sorgt dafür, daß die Unrechtsstruktur bestehen und den Mächtigen ihre Macht erhalten bleibt. Die unreflektierte Akzeptanz der Rollen stabi­ lisiert die Gesellschaft und erhält den sozialen Frieden auf Kosten der Unterdrückten. Die unbewußte Zustimmung der Opfer verhindert, daß der Konflikt offen wird. Erst wenn das Unrecht angesprochen und bewußt wird, kann die soziale Ungleichheit bearbeitet werden.

Keiner ist zunächst frei von der Selbsteinschätzung, die ihm/ ihr von der umgebenden Kultur vermittelt wurde. Diese Wer­ tungen sind Teilinhalte des Über-Ichs, unbewußte psychische Instanzen, die in der Seele die Wertvorstellungen der Eltern und der umgebenden Kultur repräsentieren. Die früh Gepräg­ ten prägen ihrerseits wieder ihre Kinder und die Kultur, so wie ihre Eltern von dieser geprägt wurden. In diesem ewigen Wechselspiel können sich Gewaltstrukturen, solange Wertun­ gen und Erziehungsverhalten nicht übend reflektiert werden, über lange Zeiträume fortpflanzen. Wir empfinden das indische Kastenwesen als besonders ex­ trem, sind aber - und das ist typisch für verinnerlichte Ge­ walt- für unsere eigenen Vorurteile blind. Sie werden zu­ nächst für unumstößliche Wahrheiten gehalten, über die es keine Diskussion geben kann. Man glaubt, die dazugehörigen

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Verhaltensweisen seien angeboren, es handle sich um Tatbe­ stände, die jedem offenbar sein müssen, um eine Art a-priorisches Wissen, das keines Beweises bedarf. Auch Juden, Hin­ dus, Zigeuner, Schwarze und Farbige usw. übernehmen un­ bewußt die Wertmaßstäbe der Gesellschaft, in der sie leben, etwa, besonders töricht, das Schönheitsideal des blauäugigen hochgewachsenen Blonden. Zu den Grundeinstellungen, deren Vorurteilscharakter unbewußt bleibt, gehört die Ableh­ nung von allem Fremden, von Minoritäten und auch die Min­ derbewertung der Frau.

Trotz der Verankerung der Gleichstellung der Frau im Grund­ gesetz besteht, auch durch den Beitrag der Frauen selbst, die faktische Benachteiligung weiter. Die Verinnerlichung hilft, daß manche Frau sich selbst, zum mindesten das eigene Ge­ schlecht, unterbewertet, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Auch energische Emanzipationsbestrebungen konnten die uralten Vorurteile nicht auslöschen. Immer noch akzeptieren Frauen trotz der mehrfachen Bürde von Mutterschaft, Haus­ haltsführung und Brotberuf die Ansprüche eines undifferen­ zierten Ehemannes, der ihre und seine Belastung mit zweier­ lei Maß mißt. Statt sich voll das Unrecht, das ihnen angetan wird, bewußt zu machen, werden die Frauen bestenfalls unter der Überlast krank. Sie verdrängen die Problematik, statt ein Konfliktbewußtsein zu entwickeln. Auch Freud konnte sich, trotz einiger bedeutender Schülerin­ nen, seine Tochter Anna eingeschlossen, nicht dem kultur­ immanenten Vorurteil entziehen und erkennen, daß viele weibliche Neurosen mit der (allerdings uralten) kulturbeding­ ten Unterdrückung der Frau zusammenhingen. Vor hundert Jahren waren es nur eine Handvoll mutiger Feministinnen, die die Annahme der weiblichen Unterlegenheit zu hinterfra­ gen wagten. Freuds Konzept des Penisneides ist ein groteskes Beispiel des Vorurteils dieser Zeit. Der „kleine Unterschied", die sogenannte „organische Minderwertigkeit" der Frau wur­ de für ihre angebliche Unterlegenheit verantwortlich ge­ macht, d.h. ihre schlechtere soziale Stellung wird für biolo­ gisch bedingt gehalten, statt die Ursache in den gesellschaftli­ chen Vorurteilen zu suchen.4 115

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Das Wirken von Vorurteilen, die in der frühen Sozialisation verinnerlicht wurden, kann immer wieder beobachtet werden, wenn unter bedrängenden Umständen später erlernte Korrek­ turen beiseite gespült werden. Ein Beispiel dafür sind die häufig berichteten Übergriffe gegen Beschuldigte bei polizei­ lichen Erstverhören, folterähnliche, an sich unerlaubte Prak­ tiken. Die Polizeikräfte wurden geschult, derartige Methoden zu unterlassen, aber in der Praxis bricht die verinnerlichte strukturelle Gewalt, der Haß gegen die sozialen Abweichler in einer vom Primat der Macht bestimmten Zivilisation durch. Daher raten Anwälte regelmäßig zum Widerruf von Geständ­ nissen, die unmittelbar nach Festnahme gemacht wurden.5

Wenn Polizisten, Soldaten, ausführende Organe trotz psycho­ logischer Schulung in Streßsituationen gewalttätig werden, so ist das noch einigermaßen einfühlbar. Sie wenden Gewalt so an, wie sie sie in ihrer Sozialisation erfuhren. Aber auch ge­ gen Gewalt Protestierende wuchsen in dieser Gesellschaft heran. Beide Seiten haben dieselbe Gewaltstruktur verinner­ licht, neigen bei Verunsicherung in irritierender Widersprüch­ lichkeit dazu, auf die Anwendung physischer Gewalt zurück­ zugreifen. Beide Seiten sind Teile einer Gesellschaft, die seit altersher prügelt und Kadavergehorsam belohnt. Sie waren als Kinder zu einer Haltung erzogen worden, wonach Gehorchen auf der einen und Unterdrückung auf der anderen Seite nie in Frage gestellt wurden. Der Staat, in dem sie, ihre Eltern, ihre Großeltern heranwuchsen, belohnte willfährige, autoritätsfürchtige Staatsdiener, die funktionierten, wo man sie hinstell­ te. Zu Kaisers Zeiten wurde Ruhe als die erste Bürgerpflicht honoriert, kritiklose Gefolgschaft machte sich im dritten Reich bezahlt, heute kann das nicht völlig verschwunden sein. Un­ ter Belastungen ist keine dritte Alternative des Konfliktverhal­ tens außer Gewalt oder Kuschen vorstellbar. Der differenzier­ te, gewaltfreie Protest konnte nicht eingeübt werden, weil unsere hierarchischen Strukturen keinen Lernprozeß zuließen.

Angesichts dieses geheimen Weiterlebens scheinbar vergan­ gener Anschauungen braucht man sich nicht über autoritäre Verkünder der Menschenrechte zu wundern. Man muß an­ nehmen, daß Dominanz um jeden Preis in der frühen Soziali­ 116

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sation sich als Teil ihrer unbewußten Wertvorstellungen eta­ blierte. Die unbewußte Gewaltstruktur führte ein Katakom­ bendasein in der aufgeklärten Psyche.6 Man gewinnt den Ein­ druck, daß der begeisterte Bekenner der Freiheit wegen der erlittenen Unterdrückung zu einem Kämpfer gegen äußeres Unrecht wurde und in seinem politischen Kampf auch gegen seine eigene, verinnerlichte und verdrängte, aber projizierte Unterdrückungsneigung rebelliert. Das heißt nicht, daß die Unterdrückung völlig eingebildet sein muß.7 Sie wird sowohl infolge früheren eigenen Leidens als auch infolge verinner­ lichter, aber nicht gelebter, nur projizierter Gewaltneigung deutlicher wahrgenommen und schlechter ertragen, weil der eigene unbewußte, nicht realisierte Machtanspruch Hellsich­ tigkeit für äußere Entsprechungen bewirkt. Die verinnerlichte, aber gleichzeitig verdrängte Gewaltbereitschaft wirkt wie ein Vergrößerungsglas. Der leidenschaftliche Kämpfer gegen Un­ recht kann nur verhindern, daß er bei Belastungen ungewollt gewalttätig wird, wenn er sich um ständige Auseinanderset­ zung mit sich selbst bemüht und insbesondere Entgleisungen immer wieder überdenkt, statt sie zu rechtfertigen.8 Die Erziehung zu Toleranz und Freiheit muß in der Familie beginnen. Die Familie ist sozusagen das Trainingsfeld, archai­ sche Haßgefühle zu bearbeiten. Der „ödipale" und der Ge­ schwisterneid bleiben beherrschbar, wo sich in einer Familie Neid und Wohlwollen die Waage halten und die Eltern ge­ genseitigen Respekt vorleben. Wo Neid und Haß unüberlegt ausgelebt werden, wirkt das ganze Leben hindurch der Man­ gel an sozialem Training nach. Aber es besteht Grund für Hoffnung: der Mensch hat ein unübersehbares Talent, ver­ säumte Lernprozesse nachzuholen, wenn die Bedingungen, liebevoll-zuversichtliche Führung, gegeben sind. Die Pubertät mit ihrer Aufbruchsstimmung ist eine besonders günstige Zeit der Neuorientierung. Unsere Gesellschaft nutzt viel zu wenig diese schwierige Phase von Rebellion und Neuerungswille.

Man kann natürlich die Folgen kulturbedingter Entwicklungen nicht individuell psychotherapieren. Dennoch: Bloße Beleh­ rungen bewirken fast nichts. Sie können nur Anstoß sein. Gespräche mit wohlwollenden Freunden sind hilfreich. Am

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meisten wirkt wie überall das Vorbild. Der beste Effekt wird erzielt durch das Bemühen, den geforderten Idealen einiger­ maßen zu entsprechen.

Der angemahnte Paradigmenwechsel ist ein gesamtgesell­ schaftlicher Prozeß, für den ein Einzelleben nicht ausreicht. Wie die individuellen Korrekturversuche mehr Erfolgsaussicht haben, wenn sie mit emotionaler Beteiligung, mit einem inne­ ren Kampf einhergehen, so muß das gesamtgesellschaftliche Umdenken von ständiger Auseinandersetzung begleitet sein. Bewältigung von Niederlage und Beschämung, Erfahrungen von Sieg und Gelingen in kleinen und großen Gruppen lassen das infantile Bedürfnis nach totaler Dominanz zurücktreten. Die Erziehung zu Streitkultur bei gleichzeitiger Toleranz ist eine Aufgabe für Generationen. An die Stelle der Machtanbe­ tung tritt die Respektierung der Menschenrechte.

Kurzfassung: Das Unrecht etablierter gesellschaftli­ cher Ungleichheit wird von den Unterdrückten meist erst nach einem Prozeß der Bewußtmachung erkannt, da es durch Umgebungseinflüsse verinnerlicht, d.h. zu einem Teil des unbewußten Wertesystems wurde.

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Anmerkungen „Die Zeit*, „Den Stand der hochkastigen Hindus wagt seit 3500 Jahren niemand anzufechten.* Es wird von blutigen Ausschreitungen berichtet, weil Hindustudenten aus der Brahmanenkaste ihre uralten Vorrechte ein­ forderten. „Seit 40 Jahren sichert Indiens Verfassung den Elendesten sei­ ner Bewohner, den „Unberührbaren* sowie den „Adhiwasi* 22,5 % aller staatlichen Jobs zu. Das Fehlen von Schulbildung versetzt die Kastenlo­ sen gar nicht erst in die Lage, ihre Quoten zu erfüllen. 115 Mill. Kasten­ losen stehen 15 Prozent der Jobs zu, 55 Millionen „Waldbewohnern* 7,5 Prozent.* - Die positive Rolle der Kasten sollte allerdings nicht verkannt werden. Ihr Grundprinzip ist Fürsorge und Verantwortung für jedes Mit­ glied. 2 Johan Galtung, „Strukturelle Gewalt*, rororo 1984. „Den Typ von Ge­ walt, bei der es einen Akteur gibt, nennen wir personale oder direkte Gewalt; die Gewalt ohne Akteur strukturelle oder indirekte Gewalt.* (...) „Die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen. 3 Albert Einstein, „Mein Weltbild*, Ullstein Materialien 1934 4 Es kann nicht übersehen werden, daß die biologische Gegebenheit der früher meist unvermeidlichen und durchaus bejahten Mutterschaft die soziale Stellung der Frau beeinflußte und ein Wirken aus dem Hinter­ grund nahelegte. Vor allem durch die Möglichkeiten der Geburtenkon­ trolle kann sich die Position der Frau entscheidend verbessern. Der bio­ logisch sinnvolle, aber fast lächerliche Stolz des Mannes auf sein Zeu­ gungswerkzeug (das im Gegensatz zu den weiblichen Fortpflanzungsor­ ganen sichtbar ist) war vermutlich Anlaß zu der Vermutung eines „Penis­ neides*. 5 Ein Beispiel unter hunderten: Der in alten Schulbüchern traditionell als verständnisvoll dargestellte englische „Bobby* ist so wenig wie unsere europäischen und die Polizisten aus nicht europäischen Ländern vor Ent­ gleisungen geschützt. Von der Erstvernehmung als Verdächtiger berichtet einer der „Birmingham Six*, Iren, denen mehrere Morde zur Last gelegt wurden: „In dem Zimmer waren vier Mann. Ich wurde in den Raum ge­ schubst und von den vieren (Polizisten) mit Fäusten und Fußtritten bear­ beitet. Ich knickte zusammen und fiel zu Boden. Sie zerrten mich an den Haaren in die Höhe. Einer schrie: Streck ihm die Eier, streck ihm die Eier! und er schrie mir ins Ohr: Mit dem Kindermachen ist's jetzt vorbei ... usw.* Der Artikel fährt fort: In schrecklicher Angst und kaum mehr wahr­ nehmungsfähig unterschrieb er von den Polizisten vorbereitete Geständ­ nisse. Die „Birmingham Six* wurden, nachdem sie einen großen Teil ih­ rer Freiheitsstrafe verbüßt hatten, nach Wiederaufnahme des Verfahrens freigesprochen ... - Ein amüsantes Beispiel für latente, plötzlich durch­ brechende Gewaltbereitschaft ist ein Bericht über Soldaten bei einer Truppenübung in der Heimat für das 1993 von Stammeskriegen zerrisse­ ne Somalia. „Vor allem aber war Hammelburg der interessante Versuch einer Armee, ihren Soldaten das Schießen auszutreiben. (...) ... wurden sie auf den Blauhelm-Einsatz eingeschworen. Defensive, Zurückhaltung, Freundlichkeit predigten die Offiziere. Passiert ist (im Training) dann fol­ gendes: Bei der ersten Übung mähten die Soldaten alle plötzlich auftau­ chenden „somalischen* Pappkameraden gnadenlos um ...*, „Die Zeit*, 1

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03.09.1993. Nach neueren Berichten haben die Ausbilder jetzt ihre Pro­ gramme für Auslandseinsätze verfeinert. 6 Das Weiterleben von früh verinnerlichten Wertmaßstäben scheint mir am leichtesten erklärbar mit dem Begriff der „Inneren Gesellschaft", der ur­ sprünglich geprägt wurde von den südamerikanischen Gruppenpsycho­ therapeuten Grinberg, Langer, Rodrigue. Psychoanalytische Gruppenthe­ rapie, Klett 1960. Schon Erich Fromm hat 1932 in einem Aufsatz über psychoanalytisch fundierte Sozialpsychologie von der „inneren Verge­ sellschaftung" gesprochen. Die Annahme, daß die Gesellschaftsstruktur als Ganzes verinnerlicht wird, ist auch Verstehenshilfe für die Vernetzung der Gesellschaft. 7 Stavros Mentzos spricht in diesem Fall von Realexternalisierung. Stavros Mentzos, „Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen", Geist und Psyche, Fischer 1993 8 Gandhi schildert in seiner Autobiographie sehr drastisch, wie er einer­ seits im Innenverhältnis (so gegenüber Frau und Kindern, auch Angestell­ ten), sich sehr dominant verhielt, gleichzeitig aber gegenüber Demüti­ gungen äußerst empfindlich war. M. K. Gandhi, „Eine Autobiographie", Hinderund Deelmann 1977

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Nachfolge Kleinkinder neigen zu einer unrealistischen Überbewertung der Eltern. Sie halten sie für unvergleichlich, eigentlich für Götter.' Diese Verehrung wird zum Anfang einer hierarchi­ schen Struktur, denn sie prädestiniert Eltern zu Kristallisati­ onszentren kleiner Gemeinschaften und nach ihrem Tode zu vergöttlichten Ahnen. Die Hochschätzung kann auf andere Leitfiguren übergehen, besonders dann, wenn, wie üblich, in der Pubertät das Vertrauen in die Eltern brüchig wurde. Auch die neuen Leitbilder werden überschätzt und nach Enttäu­ schung ausgetauscht. Die allgemeine Neigung, mehr oder weniger überlegen er­ scheinenden Personen bereitwillig zu glauben, ihnen beson­ dere Autorität zuzusprechen, ohne daß ihr Verdienst geprüft wird, sollte nicht als selbstverständlich hingenommen, son­ dern auf ihren Sinn hinterfragt werden. Man darf nicht an­ nehmen, daß die angebliche Aufgeklärtheit unserer Welt das Bedürfnis nach unkritischer Nachfolge verringert. Einst half das Vertrauen in die Lehren der Eltern, Häuptlinge, Stammespriesterdie Unsicherheit und Angst zu bewältigen. Sie vermit­ telten alte und neue Mythen und mit ihnen Ziele und Lebens­ sinn. Das unfertige Ich des jungen Menschen braucht eine Identifikationsfigur, deren Autorität aber wegen der großen Bereitschaft, zu verehren, oft geliehen ist. Ihr Einfluß ent­ stammt nicht unbedingt wirklicher Qualität, sondern der Sehnsucht der emotional Abhängigen nach Vorbildern. Die Überhöhungsneigung ist für die Gemeinschaft bedeutsam, weil die Gesellschaftsstruktur durch die Ausrichtung auf eine Zentralfigur stabilisiert wird. Es steht nun fest, was oben und unten zu sein hat, was als gut und was als böse gelten soll. Die Überschätzung der Identifikationsfiguren ist eine Illusion, in welche die Desillusionierung und daher die Auflehnung einprogrammiert ist. Neue Vorbilder werden notwendig. Auch sie erleiden das Schicksal der ursprünglichen Autoritä­ ten: irgendeinmal wird erkannt, daß sie nicht dem gottglei­ chen Bild entsprechen (können), das auf sie projiziert wurde. 121

Nachfolge

Zur Strafe für ihre unverschuldeten Unzulänglichkeiten wer­ den sie vom Sockel gestürzt. Wieder wird ein neuer geistiger Führer, der bessere Richtlinien zu verkünden scheint, ge­ sucht. Mit übergroßer Bereitschaft, ohne Prüfung der Realität, werden dem Priester, dem König, dem Chef, Lehrer, Führer, Arzt, Psychotherapeuten usw. die geforderten Qualitäten zugesprochen. Der Wunsch, sie möchten unvergleichlich sein, läßt keine nüchterne Beurteilung zu. Zweifel werden abgewürgt. Das Bedürfnis nach Sicherheit wird zum Anlaß, daß in dieser emotional, nicht vernunftgemäß begründeten Verehrung in kindlichem Glauben alles Geschick in die Hän­ de einer Vater- oder Mutterfigur gelegt wird. Die Idee, daß sich die Seelenführer irren könnten, kommt für die Gläubigen einer Gotteslästerung gleich. Der unerschütterliche, liebende Glaube, nicht das eigene Urteil scheint die Wahrheit dessen, was sie verkünden, zu verbürgen.

Die von den Eltern auf andere Personen übergehende Hoch­ schätzung wurde von Sigmund Freud als „Übertragung" be­ schrieben. Menschen, die wie der Kinderarzt und Psychoana­ lytiker Winnicott2 von sich sagen, sie hätten es nie fertig ge­ bracht, sich einem Lehrer oder einer Schule ganz anzuschlie­ ßen („nicht einmal Freud", ist seine Aussage) sind selten. Leicht bekommt die Anbetung von Seiten der Nachfolger eine erotische Färbung. Besonders die Hoffnung, selbst wieder geliebt zu werden, vertieft den Glauben.3 Nach seiner ersten Begegnung mit Hitler schrieb Goebbels, sein späterer ideolo­ gischer Einpeitscher, in sein Tagebuch: „Ich liebe ihn". Es ist bezeichnend, daß der hochintelligente Goebbels alle inneren Einwände in raffinierter Dialektik widerlegte und schließlich als einziger der Nazigrößen mit Frau und sechs Kindern zeit­ gleich mit „seinem Führer" in den Freitod ging.

Das emotional übersteigerte Nachfolgebedürfnis läßt nicht zu, daß durch den Nebel liebender Zuwendung hindurch die eigentliche Person erkannt wird. Es ist schwer zu begreifen, wieso nur wenige Menschen die echten von den falschen Propheten unterscheiden können. Sogenannte charismatische Führer verfügen, unabhängig von ihren charakterlichen oder intellektuellen Qualitäten, über eine verstärkte Fähigkeit, 122

Nachfolge

diesen Übertragungsglauben auszulösen. Mehr oder weniger bewußt, mit mehr oder weniger Verantwortungsgefühl benut­ zen sie das Nachfolgebedürfnis für ihre mehr oder weniger edlen Ziele.4

Nach vielen Irrtümern, von Enttäuschung zu Enttäuschung, werden angeblich reine, unpersönliche Ideen zur Leitlinie erhoben. Dem neuen Gedankensystem gilt dieselbe Gefühls­ intensität wie früher Eltern und Führern. Ein nüchternes Ur­ teil, das die Widersprüche bloßlegen würde, kann nicht zuge­ lassen werden. Die neuen Ideale sind wichtig für die Ge­ schlossenheit der Persönlichkeit, genau wie die früheren Leit­ figuren. Zweifel sind unerträglich, weil sie die Stabilität des unreifen Ich, weil sie dessen neugefundene Identität gefähr­ den würden. Ein offenes Weltbild, bewußtes Nichtwissen ist schwer zu ertragen. Verlust des Glaubens an den Seelenführer bedeutet, da Identi­ tätsverlust, eine gefährliche seelische Erschütterung und manchmal als Folge eine Haßliebe. Diese läßt die emotionale Abhängigkeit in negativer Form weiterbestehen. Durch die Erschütterung des Ich-Bildes in der Enttäuschung an der Leitfi­ gur kann das Gefühl aufkommen, nicht weiterleben zu kön­ nen. Mord oder Selbstmord werden geplant.5 Es ist nicht eine gedanklich durchdrungene Lehre, die bindet, sondern der liebende Glaube an den Seelenführer.

Die Gleichgültigkeit für ein tieferes Verständnis der verkünde­ ten Ideen ist verhängnisvoll. Je weniger es um die eigentliche Lehre geht, umso leichter kann das ideologische Etikett ausge­ tauscht werden. Deshalb schließen sich starre Treue und ver­ wirrend schneller Glaubenswechsel nicht aus. Der Verzicht auf Prüfung erleichtert es der gedankenlosen Anhängerschaft, bei einem Umsturz ohne Gewissensbisse dem jeweils Mäch­ tigen nachzufolgen. Der beschämende, kaum erkannte Op­ portunismus wird von Rivalen moralisierend hervorgehoben, damit sie von ihrer eigenen Inkonsequenz ablenken können. Wir alle sind ungewollt Opportunisten. Mehr (rare) Unabhän­ gigkeit vor und nach dem Fall hätten den Schwenk überflüssig gemacht. Vielleicht intensivierte die Scham über die Inkonse­ quenz die Selbsttäuschung.

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Nachfolge

Existentielle Krisensituationen wie in der klassischen Situati­ on, wenn ein Befehl den Offizier in einen Konflikt zwischen seinem Treueid und seinem ethischen Empfinden bringt, er­ fordern eine reife Persönlichkeit. Sie werden nur unter Kämp­ fen bestanden. Ideologien sind kein zuverlässiger Ratgeber. Schlichter Herzensverstand könnte dem unverbildeten Men­ schen sagen, daß man keinem anderen zumuten soll, was man selbst nicht erleiden möchte. Die seelische Kraft, sich gegen befohlenes Unrecht zu wehren, dem Bösen zu wider­ streben, ist kein selbstverständliches weitverbreitetes Gut, das generell eingeklagt werden kann. Mit neuen Ideen verbindet sich die Hoffnung, sie könnten dem inneren Persönlichkeitsbild besser entsprechen als die bisherigen Vorbilder. Es wird nicht erkannt, daß den von Menschen erdachten Theorien und Utopien genauso Irrtümer anhaften müssen wie ihren Verkündern. Es wird vorausge­ setzt, die Gedankensysteme wären Ausdruck absoluten Gei­ stes und könnten, weil Geist und Seele als unabhängig vom allzumenschlichen Körper angesehen werden, mit den Unzu­ länglichkeiten ihrer Konstrukteure nichts zu tun haben. Die Sicht der modernen Wissenschaft vom Menschen, die den Denkapparat ebenso wie das Gefühlsleben als Teil des Orga­ nismus, als mentale Organe betrachtet, abhängig von seinen Schwankungen und Erkrankungen und die Einsicht, daß es für das menschliche Erkennen nur subjektive Wahrheiten geben kann, schließt ein, daß die Subjektivität der Lehrer in ihre Lehren eingehen muß.

Die scheinbar unpersönlichen Ideen dienen als ungefähre Matrize für die Reifung der Seele. Langsam muß gelernt wer­ den, Prinzipien nicht blind zu übernehmen und trotz Zweifel und Schwanken sich selbst treu zu bleiben. Es gehört viel IchStärke dazu, ein offenes, unklares Weltbild aushalten zu kön­ nen. Die Ungewißheit, ob unser Leiden und Ringen letztend­ lich Sinn hat, kann insbesondere derjenige nicht aushalten, der sein Leben als unglücklich und unerfüllt empfindet, der vielleicht allzu brav auf vieles verzichtet hat.

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Nachfolge

Kurzfassung: Das überall anzutreffende Nachahmungs- und Nachfolgebedürfnis hat zwar positive Aspekte für die Identitätsfindung, führt aber, wegen der unvermeidlichen Enttäuschung, zu einer immer neuen Suche nach Vorbildern, die dann wieder nicht genügen. Auch Bindung an abstrakte Ideologien kann vergleichbare emotionale Abhängigkeit beinhalten.

Anmerkungen Die Vermutung, diese Bereitschaft wäre genetisch angelegt und ähnlich biologisch wertvoll wie z.B. das Nachfolgebedürfnis von Küken gegen­ über der Henne, ist schwer abzuweisen. 2 Donald D. Winnicott, „Die menschliche Natur", Klett-Cotta 1994 3 Sigmund Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse", Ges. Werke XIII. „In der Kirche (...) gilt (...) die nämliche Vorspiegelung, daß ein Ober­ haupt da ist, (...) das alle einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt." 4 Wer, wie Gandhi, in dem die Inder einen Erlöser sahen, sich in dieser Rolle sehr unbehaglich fühlt, steht vor der Gewissensentscheidung, wie weit diese unvermeidliche Täuschung zugelassen werden darf. Wenn die Massen sich vor dem Haus des Mahatma drängten, um durch einen Blick auf ihn, „darshan", eine Art mystischer Kommunion, zu gewinnen, ver­ suchte er die Vorgänge möglichst einzuschränken. In seinem redlichen Bemühen um Selbsterkenntnis war er sich klar, daß er nicht der Projekti­ on eines Heiligen entsprechen konnte. Gandhi nutzte die Möglichkeit, die Nachfolgeneigung für die Unabhängigkeit Indiens einzusetzen. Es zeichnet ihn aus, daß er nicht der Verführung erlag, sich mit der Über­ höhung zu identifizieren und emotionalen Gewinn daraus zu ziehen, ei­ ne Versuchung, mit der sich der Psychoanalytiker/Psychotherapeut im Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung immer wieder ausein­ andersetzen muß. 5 Der spätere Mörder Gandhis, ein fanatischer Hindu, war einst sein An­ hänger gewesen. Man muß vermuten, daß er erwartete, wie ein Sohn ge­ liebt zu werden. Er schloß sich, aus Nichtbeachtung enttäuscht, an den Führer einer homoerotisch gestimmten, hinduistisch-fundamentalis ­ tischen Männergemeinschaft an, die den Mord des Mahatma geplant hat­ te, weil dessen Eintreten für die Versöhnung mit den Moslems als Verrat angesehen wurde. Dieser Sinneswandel zeigt, wie wenig die eigentli­ chen Ideen Gandhis ursprünglich den späteren Mörder berührten, so we­ nig wie ein halbes Jahrhundert später der Gedanke der Gewaltfreiheit für die faschistoiden Hindu-Fundamentalisten Bedeutung hat. 1

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Das Rätsel unsinniger Gewalt So verständlich milde Aggression in der Form von Aktivität und Selbstbehauptung als unvermeidlicher Teil des Alltags oder als Verteidigung von Existenzgrundlagen ist, so fremdar­ tig mutet überbordende, unbegründete Grausamkeit an. So­ wohl Privatkriege randständiger Kleingruppen als auch viele Waffengänge nach dem großen Kalten Krieg entziehen sich der Einfühlbarkeit durch den europäischen Durchschnittsbür­ ger. Selbst die Vermutung, daß die Phantasie existentieller Gefährdung Anlaß für Destruktivität sein kann, ist nicht leicht nachzuvollziehen. Wenn die Medien über Fälle unbegreiflicher Grausamkeit, Morde an Kindern, Partnern, Eltern, manchmal verbunden mit sexuellem Mißbrauch, sogar Kannibalismus, von plötzlichem Amoklauf mit Serienmorden oder von unmotivierten Morden an Ausländern berichten, denkt auch der Laie an psychische Abwegigkeit. Die Ausbrüche unbezähmbaren Hasses in Jugo­ slawien, die Massenmorde in Zentralafrika usw. machen uns ratlos, wobei die maßgebenden Stellen nur schlecht verhüllen können, daß sie selbst keinen Rat wissen. Früher mag man derartige Vorkommnisse als unvermeidliche Naturkatastrophen hingenommen, die Täter als Unmenschen und ihr abwegiges Handeln als Folge einer grundsätzlich fremden Anlage gesehen haben. Nur langsam nähern wir uns einem Verständnis an. Vielleicht entdecken wir, daß diese Dunkelheiten gelegentlich unsere Träume beunruhigen. Wir wissen bei weitem noch nicht genug über derartige Erschei­ nungen, um dem berechtigten Schutzbedürfnis der Gesell­ schaft befriedigend Rechnung tragen zu können. Die gängige Antwort: „Strengere Maßnahmen" beinhaltet nur Symptom­ behandlung.

Die Hilflosigkeit, insbesondere gegenüber kollektiven Er­ scheinungen von Grausamkeit, ähnelt derjenigen, welche die Menschen des Mittelalters angesichts der Pestepidemien er­ griff. Ganze Landstriche wurden verwüstet, die Bevölkerung massiv dezimiert. Diese Geißel des Mittelalters verläuft heute 127

Das Rätsel unsinniger Gewalt

anders: Noch im Herbst 1994 brach in Dehli eine Pest­ epidemie aus, die angesichts der unzureichenden hygieni­ schen Verhältnisse panische Ängste erwecken mußte. Wer konnte, verließ fluchtartig die Stadt, viele Ärzte eingeschlos­ sen. Doch die Seuche war mit den Mitteln der modernen Medizin, mit Antibiotika und hygienischen Maßnahmen nach zwei Monaten besiegt, während die Epidemien des Mittel­ alters Jahre gedauert hatten. Damals war die Ursache des schwarzen Todes, die Übertragung des Pestbakteriums von der Ratte über den Floh auf den Menschen und die Bedeu­ tung der Hygiene unbekannt und eine ursächliche Behand­ lung unmöglich.

Vor der Therapie muß die Diagnose kommen. Es gibt viele Erklärungsversuche für die Ausbrüche unbegreiflichen Hasses, von denen keiner für sich allein befriedigend ist.1 Wie bei allen Erscheinungen im Bereich des Lebendigen ist eine monokausale Erklärung inadäquat. Damit sich Leben, seine Entgleisungen eingeschlossen, entfalten kann, muß eine Gruppe von Faktoren zusammenkommen. Viele werden die Hoffnung, man könne psychische Epidemien auf der Grund­ lage besseren Verständnisses eindämmen, als Utopie be­ zeichnen. Der Horror dieser Vorkommnisse gebietet, jeder Spur nachzugehen, welche Hoffnung auf einen milderen Verlauf verspricht.

Wir sind gegen Massenneurosen, wie sie die Geschichte kennt und nicht zuletzt gegen Erscheinungen wie die der Nazizeit, nicht gefeit. Die Menschen lassen sich immer wie­ der von suggestiven Einflüssen beeindrucken. Die Gefahr von Ausbrüchen irrationaler Gewalt steigert sich infolge der Sug­ gestivkraft der Bild-Medien. Man kann beobachten, wie be­ stimmte kollektive Verhaltensweisen um den Globus wan­ dern.2 Psychische Weltepidemien werden denkbar. Vertiefte sozialhygienische Forschung unter Einbeziehung der Tiefen­ psychologie könnte einen Weg aus der Sackgasse weisen. Das Wissen um unbewußte und daher auch wenig bekannte Zusammenhänge muß die von der Soziologie angeführten Ursachen ergänzen. Untersuchung und Deutung aktueller Massenphänome oder der Mentalitätsgeschichte, die Autoren 128

Das Rätsel unsinniger Gewalt

wie Norbert Elias, Mario Erdheim, Lloyd de Mause und Stavros Mentzos3 zu verdanken sind, könnten Wege zu einem tieferen Verständnis sein. Ich selbst empfinde es als ausge­ sprochenen Mangel, daß ich aus Alters- und Gesundheits­ gründen darauf verzichten muß, meinen Beitrag gründlicher zu fundieren. Daß in jedem ein Mörder stecken könnte, lassen wir uns be­ stenfalls in literarischer Einkleidung, (etwa in Dostowjewsky's „Brüder Karamasoff") gefallen. Die Vermutung, Erzieherge­ walt, Lieblosigkeit reproduziere ein gewaltbestimmtes Verhal­ ten, hat z.B. Alfred Andersch in seiner Novelle: „Der Vater eines Mörders" eindrucksvoll beleuchtet. Er schildert die sub­ tile seelische Grausamkeit eines Gymnasiallehrers. Im Nach­ wort erfahren wir, daß es sich um eine eigene Erfahrung mit seinem Lateinlehrer, dem Vater Heinrich Himmlers, handelt. Hannah Arendt hat in ihrem Buch über Adolf Eichmann, den beflissenen Organisator des Holocaust, von der Banalität des Bösen gesprochen.4 Erschrocken wird man beim Lesen ge­ wahr: Jeder, ich, Du, könnte zu einem Eichmann werden. Heinar Kipphardt hat denn auch ein Schauspiel: „Bruder Eichmann" geschrieben. Die Offenheit für den Gedanken, daß das, was wir so weit von uns weisen, als Möglichkeit auch in uns angelegt sein könnte, verspricht ein vertieftes Verständnis. Uneinfühlbarkeit hat Gründe: wenn wir die Ab­ wegigkeiten phantasieren können, scheinen wir schon in Gefahr zu sein, sie zu billigen. Wir glauben, den ungeheuer­ lichen Gedanken nicht zulassen zu dürfen.

Ein Verstehen könnte sich auch aus der Erkenntnis ergeben, daß im Tierreich sexuelle und aggressive Rituale vielfach verschränkt und verbunden sind. Die Aggression richtet sich nicht nur gegen den Rivalen, auch gegenüber dem potentiel­ len Sexualpartner muß angst- und aggressionsbedingte Distanz überwunden werden. Liebe und Aggression gehören zusam­ men: in menschlichen Beziehungen muß sich liebende Beja­ hung mit Selbstbewahrung bei Meinungsverschiedenheiten verbinden. Der Körperkontakt der Liebenden und der physi­ sche Kontakt der Streitenden fließen in eins.5

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Die Angstlust, der nervöse Kitzel durch Angst, Gefahr, Streit wurde im Kapitel über die Angst schon beleuchtet. Sensatio­ nelle Fehlentwicklungen wie Blutrausch, Mordlust, Sexual­ mord sind nur auf Grund der begleitenden Aggressionslust verständlich. Allerdings betreffen sie nur einen winzigen Pro­ zentsatz der Bevölkerung. Der Lustanteil wird auch offenbar, wenn sinnlose Streitigkeiten kein Ende finden können oder wenn unnötig ein Streit vom Zaun gebrochen wird. Lust ver­ führt dazu, die Grenzen zu überschreiten und kann als Kom­ pensation für Frustrationen auf anderen Triebgebieten, insbe­ sondere in sexueller Hinsicht, dienen. Menschen, die unter extrem negativen Bedingungen leben, die sozusagen nie et­ was zu lachen haben, entschädigen sich für ihre Defizite durch Aggressionslust. Da die ursächlichen Bedürfnisse unbe­ friedigt bleiben, ist ständige Wiederholung notwendig. Damit wird die abwegige Befriedigung zur Sucht.6 Wegen der Ver­ suchung durch die Angst- und Aggressionslust mußte eine hohe Moralbarriere geschaffen werden. Man sollte aber nicht übersehen: Weil der Mensch dazu angelegt ist, Beschädi­ gungshemmungen zu entwickeln, kann er zur Beherrschung der Aggressivität erzogen werden.

Wenn Aggressionslust als Ersatz für Sexuallust dient, müßte die Lockerung der Sexualmoral, wie von Herbert Marcuse propagiert, den Boden für eine friedlichere Welt bereiten. Der Slogan der Blumenkinder „Make love, not war!" war nicht klar begründet und gründlich durchdacht. Heute können wir sehen, daß die traditionellen Tugenden der Wehrhaftigkeit und der Geburtenfreudigkeit infolge der Notwendigkeit der Bevölkerungsreduzierung und wegen der verbesserten Mög­ lichkeiten unblutiger Konfliktlösung immer wertloser werden. Es wird vermutlich noch Jahrhunderte dauern, bis wir den Mut haben werden, die (militärische) „Tüchtigkeit" und die (sexuelle) „Moral" der militanten Kulturen über Bord zu wer­ fen. Die Angst um moralische Standards ist überflüssig, wenn Verantwortlichkeit und unpathetische Menschenfreundlich­ keit alles Handeln begleiten.

Die große Anziehungskraft von Gewaltdarstellungen kann ihre Ursache darin haben, daß die unnötig engen sozialen

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Restriktionen Ausbruchsphantasien fördern und andererseits keine Ventile zur Verfügung stehen. Viele Verbote sind durch den Wandel der physischen und soziokulturellen Umwelt, durch die Verbesserung der Hygiene unsinnig geworden, werden aber in magischer Gläubigkeit weiter befolgt, erzeu­ gen also mit der Sinnlosigkeit der Einschränkungen Aggressi­ vität. Auf dem Gebiet der sexuellen und der oralen (d.h. Essen und Trinken betreffenden) Bedürfnisse gibt es Regeln, die ursprünglich vor allem von gesundheitlicher Bedeutung wa­ ren und heute weitgehend ihren Sinn verloren haben. Die meisten Kulturen kennen etwas wie Saturnalien, Karneval usw., Zeiten, in denen vor allem die sexuellen Verbote gelokkert sind. Auf dem Gebiet der Aggression spielen die „Ventil­ sitten", oft in Festen begangen, eine vergleichbare Rolle. Es wurde zurecht bemängelt, daß bei der Konzentration auf die psychischen Ursachen im Individuum, auf das Objekt einer psychotherapeutischen Behandlung, der Zusammen­ hang von Gewaltbereitschaft mit gesellschaftlichen Faktoren in den Hintergrund rückt. Die biologisch sinnvolle Freude, die alles Neugeborene begrüßt, bleibt in ärmlichen Verhält­ nissen gedämpft. Selbstverständlich muß es sich auf die Ent­ wicklung auswirken, wenn in materieller und seelischer Not Kinder nicht mehr freudig willkommen geheißen werden. Der Humanethologe Wolfgang Wickler7 spricht die Vermutung aus, daß ein elterlicher Entschluß, sich der Kinder zu entledi­ gen, der in „Hänsel und Gretel" und vielen anderen Märchen geschildert wird, für mittelalterliche Tagelöhner keineswegs abwegig war. Diese Vermutung wird durch die Forschungen von Lloyd de Mause bestätigt.8 Der nächste Schritt nach die­ sen wertvollen Untersuchungen wäre eine Prüfung möglicher Zusammenhänge zwischen dem Erziehungsverhalten und den geschichtlich dokumentierten Gewaltvorgängen der jeweili­ gen Epochen.

Die Frage, wie weit das mentale Klima einer Kultur die Kriegsbereitschaft via Kindererziehung fördert, wird nicht zum erstenmal gestellt. Das Erziehungsverhalten der Eltern ist meist ein Abbild dessen, was sie als Kinder und durch ihre Kultur erfahren haben. Das schließt ein, daß Erziehungsfehler 131

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kulturell vererbt werden. Leicht zu weckende, unnötige Ag­ gressivität, die die Gesamtgestimmtheit einer Bevölkerung tönt, kann darin ihre (Teil-)Ursache haben.

Im individuellen Fall kann Unerwünschtheit Ursache für die frühe Einschränkung jener subtilen präverbalen Lernprozesse sein, die insbesondere die Kommunikationsfähigkeit eines Kindes einschließlich seiner emotionalen und kognitiven Ent­ wicklung beeinflussen. Es gibt natürlich außer materiellen un­ endlich viele bewußte und unbewußte Gründe, ein Kind ab­ zulehnen. Nicht selten hört man von Patienten, sie möchten deshalb keine Nachkommen, weil sie ihren Kindern nicht die schrecklichen Erfahrungen der eigenen Kindheit zumuten wollen.

Zu der Unterschätzung der seelischen Beziehung zum Kind addierte sich seit Anfang des Jahrhunderts ein Populärmateria­ lismus, der auf einem unkritischen Glauben an die primitiv materialistisch orientierte Medizin des 19. Jahrhunderts be­ ruhte.9 In der Säuglingspflege dieser jüngeren Vergangenheit wurden Ernährung und Hygiene überbetont, dabei die Bedeu­ tung der Interaktion zwischen Mutter und Kind übersehen. Unerfahrene, oft ängstliche junge Mütter, die sich von der Autorität einer nur auf die physisch meßbaren Daten fixierten Medizin bestimmen ließen, hatten womöglich ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrem eigenen und dem Bedürfnis des Kindes nach nonverbalem und physischem Kontakt nachga­ ben.10 Kindheit ist selten ganz glücklich. Das Leiden an fehlender Bestätigung und mangelnder Kommunikation ist keinem völ­ lig fremd. Nicht nur ausreichende physische Versorgung, sondern auch liebevolle Teilnahme in Spiel, Kommunikation und Lernen sind für die gesunde Entwicklung der Kinder not­ wendig, und das schon vor dem Sprechenlernen. Diese wis­ senschaftliche Erkenntnis des 20. Jahrhunderts stand für in­ stinktsichere Mütter und Großmütter nie außer Frage. Tradier­ te oder modisch gewordene Formen der Aufzucht oder der Erziehung bedürfen der Nachprüfung, ob sie pathologische Aggression fördern. Verantwortungsbewußte Elternschaft heißt

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auch, um die emotionalen Bedürfnisse beim Neugeborenen zu wissen und sie zu befriedigen.

Kurzfassung: Seelische Krankheit infolge frühester Vernachlässigung kann Ursache von Grausamkeit sein, indem Versagungen mit Aggressionslust kompensiert werden.

Anmerkungen In der Aufsatzsammlung: „Das zivilisierte Tier", Wulf, Wimmer, Dieck­ mann (Hrsg.), Fischer 1997, Kap.: „Grundlose Gewalt", S. 43/44 werden an vermuteten Ursachen aufgelistet: „... sozio-ökonomische (Arbeitslo­ sigkeit, Deklassierung, unvollständige und asymetrische Modernisierung, systembedingte Verteilungsungerechtigkeit), politische (Transformations­ prozesse der Gesellschaft, Umbau der Sozialsysteme, Auflösung des Ost­ blocks, Systemwechsel, Destrukturierung und Destabilisierung), sozi­ alpsychologische (Sozialisationsdefizite, Orientierungskrise, Identitätskri­ se, Auflösung von primären Bezugsgruppen, emotionale Verwahrlosung), kultursoziologische (Individualisierung, Mediatisierung der Kommunika­ tion, Sinnkrise, Werteverfall) und pädagogische (Adoleszenzkrise, Lern­ defizite, Autoritätsverlust, Wertewandel, Perspektivlosigkeit). 2 Beeindruckend war die Reaktion auf den Unfalltod von Diana, Prinzessin von Wales, mit der von der Boulevardpresse unterstützten kollektiven Neigung, die Prinzessin als ein Opfer der Royal Family darzustellen und damit die britische Monarchie zu gefährden. 3 Norbert Elias, „Über den Prozeß der Zivilisation", Bd. I und II, Suhrkamp 1969 und „Die Gesellschaft der Individuen" Suhrkamp 1991 Mario Erdheim, „Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur", Suhrkamp 1988 Lloyd de Mause (Hrsg.), „Hört ihr die Kinder weinen ...", Suhrkamp 1980 Stavros Mentzos, „Der Krieg", Fischer 1993 4 Hannah Arendt, „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen", Serie Piper 1986 5 Michael Lukas Moeller, „Der Krieg, die Lust, der Frieden, die Macht", rororo 1992 6 Stavros Mentzos, „Der Krieg", Fischer 1993, S. 87 „... eine Art narzißti­ scher Aggressionslust, die aber mehr eine Stärkung der narzißtischen Selbständigkeit bedeutet ...". „Unter bestimmten Bedingungen nun kann bei Personen, die auf Grund von Demütigungen und Versagungen sowie Einschränkungen in ihren Expansions- und Entwicklungsmöglichkeiten schwer enttäuscht, gekränkt und frustriert wurden, diese narzißtische Ag­ gressionslust als Ersatz für unerreichbare Befriedigungen gesucht und eingesetzt werden. Da es sich aber um einen Ersatz handelt, kann der Be­ troffene allmählich süchtig werden, ja, er muß wie bei jeder anderen Sucht die Dosis ständig erhöhen*. 1

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7 Wolfgang Wickler, „Die Biologie der zehn Gebote*, Serie Piper 1971 8 Lloyd de Mause (Hrsg.), „Hört ihr nicht die Kinder weinen ...*, Suhrkamp 1980. Der Historiker, psychoanalytisch vorgebildet, gab eine Aufsatz­ sammlung heraus, in denen detailliert geschichtliche Erziehungsbeispiele verschiedener Epochen seit der Antike dargestellt werden. Aus den Un­ tersuchungen über Kindheit und Jugend wird deutlich, daß sich eine hu­ manere Einstellung zu Kindern erst im Laufe der Jahrhunderte entwickel­ te. Vorher waren Kindsmord oder Aussetzung, Verkauf oder Weggabe von Kindern nichts Ungewöhnliches und standen nicht unter strenger Strafe wie ab Mitte des zweiten Jahrtausends. 9 Die heute populären Vorstellungen über die medizinische Wissenschaft des 20. Jahrhunderts sind berechtigt für die Medizin des vorhergehenden. Werdamais wissenschaftlich bestehen wollte, mußte sich an Chemie und Physik orientieren. „Seele* wurde von der Naturwissenschaft geleugnet, so in einer Aussage von Virchow, weil sie nicht als Organ (mit den dama­ ligen zur Verfügung stehenden Methoden) nachweisbar war. Die Hin­ weise auf ein unbewußtes Seelenleben durch Träume, Fehlleistungen, ir­ rationale Handlungen usw. gleichen der indirekten Methode des Elektronen-Mikroskopes, wo Viren und Moleküle auch nur durch eine indirekte Methode „gesehen* werden können. 10 So wurde für einige Zeit die Fütterung nach starr festgelegten Zeiten wie ein Evangelium gepredigt. Es sollte zu denken geben, daß Kinderärzte später das ursprüngliche Stillen, das dann erfolgt, wenn das Kind nicht still ist, als Stillmethode des „free demand* wieder einführen mußten. Hier besteht eine unmittelbar nachweisbare Verbindung zwischen der Geisteshaltung eines Populär-Materialismus und psychischer Fehlent­ wicklung.

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Selbstbehauptung und Destruktivität Die frühe Psychoanalyse und Psychotherapie hatten sich zu­ nächst auf Sexualität und Lustgewinn konzentriert. Freud konnte sich nicht vorstellen, daß etwas so lebensfeindliches wie destruktive Aggression ein lebenserhaltender Trieb sein könne, denn er setzte Aggressivität mehr oder weniger mit Destruktivität gleich. Auch vermißte er die triebbegleitende Lust. Später glaubte er an eine ursprüngliche Lust an der Zer­ störung.' Alfred Adler, der das Macht- und Geltungsstreben als Hauptursache der Neurosenentstehung sah, hatte mit sei­ nem Ansatz nicht nur die Rolle der Aggression, sondern früh auch die Bedeutung des Selbstwertgefühls und der Ich-Entwicklung erkannt, allerdings nicht einprägsam dargestellt. Ein heftiger Wissenschaftlerstreit entzündete sich an der Fra­ ge, ob und wie weit destruktive Aggression eine allgemeine, unvermeidliche Erscheinung oder eine pathologische Sym­ ptomatik sei.2 Erst die nach Freud einsetzende Weiterentwick­ lung der Psychoanalyse ermöglichte eine Annäherung an das Problem der Destruktivität. Das Interesse hatte sich mehr und mehr den allerersten Lebensjahren zugewandt. Die Entwick­ lung des Selbst und der Ich-Funktionen rückten in den Mittel­ punkt der Forschung. Es entstand die wissenschaftliche Über­ zeugung, daß Menschen, die in der ersten Lebensphase nicht die instinktgebundene Liebe und Sorgfalt der Mutter erfuhren (von Kernberg als „containing Funktion" bezeichnet), dazu neigen, dieselbe Versagung von späteren Beziehungsperso­ nen zu fürchten.3 Beobachtungen an Kleinkindern stützten diese Einsicht.4 Kembergs Feststellung: „Wir suchen in erster Linie Personen und nicht Lust"5 kennzeichnet treffend diesen Wandel der Konzeption. In diesem Zusammenhang ließ sich auch die Beobachtung der sogenannten „narzißtischen Wut"6 verstehen, eine Sym­ ptomatik Erwachsener, die eine Frühschädigung vermuten läßt, wobei angenommen wird: „Die Gründe für hochgradige aggressive Spannungen liegen sowohl in der geringen emo­ tionalen Verfügbarkeit der Mutter begründet wie auch in einer

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konstitutionell verankerten Stärke der Aggression im Kind". „Ein Versagen der „Containing-Funktion" führt zu diffusen Wut- und Angstzuständen, so daß das Kind seine normalen Bedürfnisse und normalen Liebesäußerungen als destruktiv erlebt. Struktureller Niederschlag dieses Prozesses ist ein pri­ mitives, destruktives Über-Ich, das auf die Objekte projiziert wird, die zu Verfolgern werden."7 Die am realen Anlaß ge­ messen unangebrachten Aggressionen sind für „Gesunde" schwer nachzuvollziehen. Zum Verständnis vergegenwärtige man sich, daß das unreife, gekränkte, weil übermäßig kränk­ bare Ich sich Kompensation für die Verletzung des unstabilen Selbstwertgefühls schaffen will. Ein Menschenkind, das als Baby nicht die Fürsorge der „durchschnittlich besorgten Mut­ ter" (Winnicott) genoß, neigt dazu, Bedrohungen überzube­ werten und eine gesteigerte Bereitschaft zur Selbstverteidi­ gung um jeden Preis zu entwickeln, besonders wenn eine starke anlagemäßige Aktivität oder Aggressivität vorliegt.8 Die Phantasie einer existentiellen Gefährdung veranlaßt einen Kampf um die bloße Selbsterhaltung mit allen Mitteln, mit Klauen und Zähnen. Mit diesem Wissen werden Erscheinungen überbordender Aggression einfühlbarer. Die wilde Wut auf dem Hintergrund der frühkindlichen Schutzlosigkeit ist vielleicht eine Überlebensgarantie für den Fall extremer Bedingungen. Ich für mei­ nen Teil habe die Vermutung, daß die Selbstbehauptung um jeden Preis ein frühester existentieller Antrieb ist. Es kann sein, daß es evolutionspsychologisch eine allerfrüheste, später überdeckte Triebdisposition zur rücksichtslosen Lebenserhal­ tung gibt.9 Sie würde als weitgehend schlummernde Trieb­ struktur bereitliegen, bzw. nicht verschwinden für den Fall, daß die für die menschliche Gesellschaft so wichtigen sozia­ len Antriebe nicht genügend Entgegenkommen (zum Zweck der Trieb-"Dressur"-Verschränkung) erfahren. Das mythologi­ sche Bild dafür wären die Wolfskinder, die in vielen Volkser­ zählungen auftauchen.

Narzißtische Wut und eventuelle extreme Grausamkeit sind nicht Norm. Aber diese auffälligen Abweichungen können den Blick schärfen für die weniger spektakulären Formen von 136

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Beziehungsstörungen. Jeder weiß von Mitmenschen, die ständig Konflikte mit ihrer Umgebung haben und sich zu ihrem Unglück immer wieder Feinde machen. Manche ent­ wickeln ein übertriebenes Durchsetzungsbedürfnis, das als eine - oft unnötige - Form verzweifelter Selbstbehauptung infolge der Phantasie einer massiven Gefährdung zu lesen ist. Sie kann zur Sucht entarten, weil die Durchsetzung eine (nur kurzzeitige, daher süchtig machende) Befriedigung des Selbstwertgefühls erlaubt. Manche Diktatoren zeigen diese Symptomatik.10 Wenn sie lebensfördernd wäre, bliebe sie in größerem Umfang erhalten. Menschen mit Frühstörungen sind „Loner", Einsame. Sie können ihr Verhalten nicht in gro­ ßem Ausmaß genetisch oder kulturell vererben, weil sie we­ nig Talent zur Elternschaft haben. Sie sind in Gefahr, ihren Kindern ihre Fehlhaltungen vorzuleben und einzuprägen. Das bedeutet, daß auch ihre Nachkommen Schwierigkeiten in Beziehungen haben und weniger Kinder bekommen. Nur ein gründliches Reflektieren dieser Gegebenheiten mit der Hilfe eines verständnisvollen Gespächspartners kann die Vererbung des unglücklichen Fehl verhaltens mildern. Die Untersuchungen des Psychohistorikers De Mause vermit­ teln den Eindruck, daß Erziehung, wie wir sie heute für för­ derlich halten, in der Vergangenheit keineswegs selbstver­ ständlich war, sondern daß eher systematischer Seelenmord die Norm darstellte. Ich habe allerdings den Eindruck, daß ein Gebot: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es!" eher eine Reak­ tion auf überstrenge Moralgebote des Christentums, insbe­ sondere nach Augustin war, die die Väter veranlaßte, in die kindliche Ungebundenheit ihre verdrängten Antriebe hinein­ zuprojizieren.11 Empathie für das Kind mußte systematisch verdrängt werden, so daß der Erzieher Schuldgefühle hatte, wenn er dem Gebot strenger Züchtigung nicht nachkam. Ich kann als Mutter und Großmutter nicht glauben, daß meine Vorahninnen in den letzten Jahrtausenden nicht dieselben Schutz- und Fürsorgeinstinkte erlebten, wie ich sie in mir und an anderen Müttern beobachte. Möglicherweise sind die Do­ kumente früherer strenger Erziehung ähnlich wie die Regeln für Säuglingspflege, die ich als junge Medizinstudentin ken­

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nenlernte, Kopfgeburten von Moralphilosophen, Kirchenvä­ tern und Kinderärzten.

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Er hat eigentlich immer zu wenig Du, zu wenig Mutter. Das Paradies der totalen Gebor­ genheit im Mutterschoß kann nicht erhalten bleiben. Die Erfahrung der Geworfenheit ist Charakteristikum des Men­ schen. Immer leidet er, immer ist er getrieben, selten findet er Balance, Frieden. In dieser Not wendet er sich an einen lie­ benden Gott, der dem Darbenden zurückspiegeln soll: „Es ist gut, daß Du da bist, du bist recht, so wie du bist", ebendas, was das Kleinkind einst in der Wiederspiegelung durch das „glänzende Auge der Mutter" (Kohut) hätte fühlen sollen. Das Flehen wendet sich an eine Muttergöttin, an die Mutter Gottes der Christen oder an einen Gott der Liebe mit zusätz­ lich weiblichen Zügen. In der Formulierung „Abrahams Schoß" werden Mutter-Assoziationen geweckt, ähnlich wie in der Vorstellung, daß Jesus für die ganze Menschheit sein Blut vergoß, großzügig wie die mütterliche Milchquelle. Einige erkennen, daß der Ausgleich der Gegensätze nicht draußen sich vollziehen kann, sondern im Seeleninneren erfolgen muß. Erst die Wendung nach innen mit gleichzeitiger Ver­ pflichtung zu quasi-mütterlicher Sorge gegenüber der großen Menschenfamilie, gegenüber dem Umgreifenden, relativiert das ständige Darben, die weltlichen Leidenschaften, den quä­ lenden Haß, die narzißtische Wut. Glaube hilft, sich mit den Versagungen zu versöhnen und Kränkungen in soziales Ver­ halten zu verwandeln.

Kurzfassung: Mangelnde Einfühlung gegenüber den Kindern, insbesondere den sehr jungen, starre Erzie­ hungszwänge verhindern die Entfaltung gesunder Selbstbehauptung. Es entwickelt sich eine übermäßige Verletzlichkeit und u.U. die Neigung, auf vermeintli­ che Kränkungen mit verstärkter Aggressivität zu rea­ gieren.

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Freuds umstrittenes Todestrieb-Konzept spricht von „Destrudo*, Zerstö­ rungslust. Er schrieb 1932 an Einstein in dem Aufsatz „Warum Krieg?*: „Wir nehmen an, daß die Triebe des Menschen von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen ... (erotische)... und andere, die zerstören und töten wollen;* „wir fassen diese als Aggressi­ ons- und Destruktionstrieb zusammen.*, Sigmund Freud, Ges. Werke, Bd. XVI, 1932 Theoretische Überlegungen, wo Aggression einzuordnen ist, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen: a) Auffassung von Aggression als Hilfs­ funktion bei der Befriedigung anderer Triebe, verwandt mit der b) Frus­ trationstheorie: erst Frustration der Triebbefriedigung löse Aggression aus. Anders c) Annahme eines unabhängigen Aktivitätstriebes, d) Anerken­ nung eines selbständigen, autochthonen Aggressionstriebes und e) Freuds Konzept des „Todestriebes*, als „Destrudo* der „Libido*, dem Lebens­ trieb polar entgegengesetzt. O. F. Kernberg, „Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse*, Klett-Cotta 1976 M. Klein, „Das Seelenleben des Kleinkindes*, Klett 1962 Rene Spitz, „Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen*, Neuaufl. 1992, „Nein und Ja* und „Vom Säugling zum Kleinkind*, Neuaufl., KlettCotta 1996 Th. Lidz, „Familie und psychosoziale Entwicklung*, Fischer 1963 G. v. Minden, „Der Bruchstück Mensch*, Ernst Reinhardt 1988 Neuerdings werden die Möglichkeiten der Erforschung der allerfrühesten Entwicklung skeptischer betrachtet. Matthias Baumgart: „Säuglings- und Kleinkindforschung*, in Mertens (Hrsg.), „Schlüsselbegriffe der Psycho­ analyse*, Verlag internationale Psychoanalyse 1993: „Die für das erste Lebensjahr wenig überzeugenden Verbindungen zwischen Beobachtun­ gen und solchen theoretischen Schlußfolgerungen führten jedoch allmäh­ lich zu Unbehagen.* und „Für einen ,Dialog* ist der Säugling schon von Geburt an durch Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeiten viel besser gerüstet als man bisher vermutete: das Neugeborene ist nicht auti­ stisch.* „Im Kontakt mit den Eltern wird die zunächst noch flüchtige In­ teraktionsbereitschaft des Säuglings strukturiert." „Einigkeit besteht dar­ über, daß der Säugling nicht aus einer narzißtischen Phantasiewelt all­ mählich zur Wirklichkeit findet.* zitiert nach Manfred G. Schmidt in: „Zum psychoanalytischen Verständ­ nis schizoider Verfassungen*, S. 114, in „Die Psychoanalyse schwerer psychischer Erkrankungen*, Streek-Bell (Hrsg.), Pfeiffer 1994 Der von dem altphilologisch gebildeten Freud geprägte Ausdruck „Nar­ zißmus* wird in der psychoanalytischen Fachsprache in einem sehr wei­ ten Sinn gebraucht. Das Bild des Narziß paßt nicht immer genau zu den mit „Narzißmus* in Verbindung gebrachten seelischen Erkrankungen. Es geht um schwere, symptomarm erscheinende psychische Erkrankungen mit ausgeprägten Sozialisationsproblemen. Heribert Wahl zitiert Kern­ berg: „ ... pathologischer Narzißmus ... beruht auf übermäßiger (konstitu­ tioneller) oraler Aggression und frühen Spaltungen und erweist sich als Abwehrstruktur, die zur Ausbildung eines unrealistisch-krankhaften „Größenselbst", zu kalter Mißachtung und Entwertung anderer und zu

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pathologischer Zerstörungswut führt.* „Schlüsselbegriffe der Psychoana­ lyse*, Mertens (Hrsg.), Verlag Internationale Psychoanalyse 1993, S. 110 Paul L. Janssen, „Zur psychoanalytischen Behandlung der BorderlineStörungen*, in: „Die Psychoanalyse schwerer psychischer Erkrankungen*, Streek-Bell, Pfeiffer 1994, S. 126 und 127 Köhler spricht, in der Darstellung der Konzepte Kohuts, von einer Grund­ strebung nach Macht und Erfolg, die der eine Pol eines Spannungsbogens zu den idealisierten Zielen wäre, einer Spannung zwischen Ehrgeiz und Idealen, während der Zwischenbereich in den Begabungen und Fertigkei­ ten bestehe. Mertens (Hrsg.), „Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse*, Ver­ lag Internationale Psychoanalyse 1993, S. 117 Das Neugeborene beißt gierig, schmerzhaft in die mütterliche Brust, lernt aber nach wenigen Tagen, daß die Milch auch ohne heftiges Zubeißen strömt. Früherfahrung von Saddam Hussein: „Saddam Hussein war zehn, ein kleiner Hirtenjunge, der nicht zur Schule ging, weil seine analphabeti­ schen Eltern Bildung für überflüssig hielten. Seinen leiblichen Vater hat er nie gekannt. Der Stiefvater haßte den Knaben. ...Saddam hörte, wie die Erwachsenen davon sprachen, den Nichtsnutz aus dem Hause zu ja­ gen ... Trotz dieser Zurückweisung bemühte er sich krampfhaft ... die Liebe der Eltern zu erwerben. - Sein „Ansprechpartner* war eine alte Stu­ te ... Eines Tages lag sie tot auf der Weide ... Die Eltern fanden den Sohn spätabends dicht an das Tier geschmiegt, noch immer unkontrolliert schluchzend, völlig außer sich. Sein rechter Arm war gelähmt... Etwa ei­ ne Woche später... fand man auf dem Feld ein hilfloses Fohlen der Stute, aus vielen Wunden blutend, nicht mehr zu retten. Saddam hatte es ge­ steinigt ... Einige Zeit später erklärte er den Eltern, er werde jetzt zur Schule gehen. Saddams Onkel erklärte sich bereit, den Jungen in sein Haus in Bagdad aufzunehmen. (Gekürzter Auszug aus Erich Fol lath, „Die letzten Diktatoren*, Rasch und Röhrig 1991.) Mit dem Fohlen wollte er vermutlich seine eigenen kindlich-weichen Gefühle zerstören. Der Kirchenvater Augustinus hat später in seinen „Confessiones" seine angeblichen sexuellen Ausschweifungen, die in einer überaus glücklich, allerdings gegen den Willen seiner Mutter geschlossenen, aber allgemein üblichen frühen Verbindung bestanden, gegeißelt.

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Identität - fanatisch verteidigt Die Armuts- und Terror-Flüchtlinge, die aus aller Welt in un­ sere Straßen, über den Bildschirm in die gute Stube, in unser Bewußtsein drängen, bringen andere Weltsichten zu uns und erschüttern unser bisheriges Selbstverständnis. Umfassende Glaubenssysteme kamen der Erwartung entgegen, alles erklä­ ren zu können und daher alles im Griff zu haben. Das Indivi­ duum identifiziert sich mit den jeweiligen Konzepten von den frühen Kinderjahren an: Identität entsteht. Im Verlaufe des geschichtlichen Wandels gerieten diese festen Überzeugun­ gen ins Wanken. Der Kontakt mit anderen Kulturen relativier­ te eigene Werte und bisherige Sicherheiten. Seit Beginn der Neuzeit wird zunehmend von der Wissenschaft so wie früher von der Kirche erwartet, endliche Gewißheit vermitteln zu können. Diese Hoffnung kann sich so wenig erfüllen wie die Versprechungen der Heilssysteme. Wissenschaft erlaubt keine allerletzten Einsichten.

Der anwachsende Fundamentalismus ist eine Reaktion auf die Verunsicherung bisheriger Glaubensinhalte im Gefolge der vergrößerten Mobilität und der besseren Informationsmög­ lichkeiten. Das gilt für den Westen ebenso wie für die übrige Welt: alles gerät ins Wanken. Parallel zu der kollektiven Ver­ unsicherung verläuft ein intrapsychischer Prozeß, weil der vertraute Glaube, die anerzogene Weltanschauung in Frage gestellt ist. Diese Erschütterung verursacht ein Ringen um Lebenssinn und Selbstverständnis. Bedrängende Zweifel müs­ sen abgewehrt werden. Es beginnt eine verzweifelte und ver­ zweifelnde innere Auseinandersetzung, denn mit den ver­ trauten Anschauungen scheint die Identität gefährdet, was als existentielle Bedrohung erlebt wird. Die Gefahr wird in Au­ ßenstehenden, nicht in der inneren Verunsicherung gesehen, d.h. sie wird projiziert.' Die Erschütterung des bisher für wahr gehaltenen Weltbildes, und damit der Identität, erzeugt Angst, welche die Eskalation zur Grausamkeit unterstützt. Je mehr die geheime Angst wei­ ternagt, umso verbissener wird um die Erhaltung bisheriger 141

Identität - fanatisch verteidigt

Überzeugungen gekämpft. Das Zulassen des geringsten Ein­ wandes scheint das ganze Glaubens- und Lebensgebäude in Frage zu stellen. In kleinlichem Festhalten am Buchstaben wird jede mögliche Kritik verteufelt. Je mehr sie keimt, umso energischer muß sie unterdrückt werden. Die Deiche gegen die anbrandende Flut werden immer höher aufgeschichtet. Unterdrückung folgt auf Zweifel, Widerstand auf Unterdrükkung, von gesteigerter Unterdrückung gefolgt. Die vermeintli­ chen äußeren Feinde werden abgewürgt in der Erwartung, die inneren Gegner zu ersticken. Der Glaube verengt sich auf den Fundamentalismus.

Der Kampf um die Überzeugungen wird zum Zweifronten­ krieg: nach außen gegen die Andersdenkenden und nach innen gegen die Zweifel. Es entsteht eine wahnhafte Angst vor Abtrünnigen. Das unbewußt Gefürchtete wird fälschlich wahrgenommen. Unschuldige werden verdächtigt, harmlose Äußerungen als Verrat mißdeutet. Der entstandene Seelenzu­ stand ähnelt der Paranoia, dem Verfolgungswahn, insofern, weil wie bei dieser Geisteskrankheit das Gedankensystem weitgehend in sich selbst geschlossen, aber von außen an­ fechtbar ist. Die Inquisition und die Glaubenskriege sind lehr­ reiche Beispiele für diese seelische Entwicklung, genau so wie die Geheimdienste des früheren Warschauer Paktes, insbe­ sondere die der DDR und Rumäniens.2

Es ist nicht zu verhindern, daß die etablierten Überwacher, die wegen des Anspruchs auf uneingeschränkte Gültigkeit der Ideologie notwendig sind, durch die unvermeidlichen Kontak­ te mit den Abtrünnigen mit Zweifeln infiziert werden. Da jeder die Opposition in sich trägt, ganz gleich, ob er im Be­ wußtsein die offizielle oder oppositionelle Seite vertritt, ist stets geheime Nahrung für Einwände gegeben. Die innerseeli­ sche Auseinandersetzung gegen Kritik und der äußere Kampf gegen Dissidenten sind zwei Seiten derselben Münze. Die Projektion der kritischen Inhalte auf die Außenstehenden verstärkt den zunehmenden Wirklichkeitsschwund. Der ver­ lorene Kontakt zur Realität, die Denkverbote und rigiden Verhaltenskodici bedeuten geistige Inzucht. Junge Menschen, die in ihrer für die Reifung notwendigen Abwendung von der 142

Identität -

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Familie nach neuen Leitbildern suchten und in einer extremi­ stischen Vereinigung oder einer Sekte Zuflucht fanden, halten beharrlich am neuen Glauben fest, weil er ihnen seelische Sicherheit zu geben scheint. Die manchmal selbstzerstöreri­ sche Verbissenheit ist für den Außenstehenden schwer zu verstehen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Angst vor dem Verlust von Gewißheiten als physische Vernichtung phantasiert wird. Vorstellungen von tödlicher Bedrohung treten auf, ohne daß eine objektive Ursache besteht. Sie scheinen Aggressivität zu rechtfertigen. Durch die Abkapse­ lung der Vorstellungen kann schließlich, wie beim überstei­ gerten Nationalismus, Mord für notwendige Selbstverteidi­ gung gehalten werden oder es kann das Gefühl, so nicht wei­ terleben zu können, Selbstmord veranlassen?

Selbst leitende Politiker sind weder durch ihre Macht noch durch ihre besseren Informationsmöglichkeiten gegen das Gefangensein in einem engen unfreien Gedankengebäude gefeit. Eine ideologisch festgelegte Regierungsequipe mit ihrer Entourage von gefügigen Jasagern um den formaldemokra­ tisch legitimierten und machtpolitisch gewieften Staatslenker kann so gut wie eine Sekte oder eine Gruppe von Terroristen das Schicksal der geistigen Inzucht erfahren. Die Gesellschaft beginnt sich in eine abgehobene blinde Nomenklatura und in ein dumpf leidendes Volk zu spalten.

Zu der Erschütterung der Zukunftsgewißheiten und der Iden­ tität, wohl tiefste Ursache der Entartung einer Idee zum Fana­ tismus und Fundamentalismus, gesellt sich Vordergründiges: die Stallwärme der bisherigen Gemeinschaft bindet an den alten Glauben. Freund und Feind nageln die Anhänger in der alten Rolle, in der bisherigen Überzeugung fest. Wenn dem Studium eines komplizierten Lehrgebäudes besonders viel Zeit und Kraft gewidmet oder wenn der ganze Lebensweg auf eine Karriere innerhalb der Organisation angelegt war, wird eine Umkehr umso schwieriger, weil in diesem Falle die bis­ herige Investition vergeblich war. Die Kombination der Fakto­ ren erzeugt eine für den Außenstehenden oft widersinnige T reue.

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Identität -

fanatisch verteidigt

Das Problem des Fanatismus liegt in dem Anspruch auf un­ verbrüchliche Wahrheit. Die Einsicht, es könne keine totale Erkenntnis geben, sondern nur subjektive Teilwahrheiten, wird abgewehrt. Gandhi gab seiner Autobiographie den Un­ tertitel: „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahr­ heit" und sagte damit aus, daß es keine endgültige Wahrheit geben kann, sondern nur ein beständiges Suchen nach ihr. Der Psychoanalytiker Erikson nannte den Mahatma deshalb einen pragmatischen Existential isten.4 Nach dem Ende des Kalten Krieges veranlaßte der Verlust des bisherigen Feindbildes eine überschnelle Festlegung auf einen neuen Gegner, der sogleich in Form des islamischen Funda­ mentalismus gefunden wurde. Er wird, geschichtsblind, mit dem gesamten Islam identifiziert und nicht als sekundäre, nur von einem kleinen Teil der islamischen Welt getragene Er­ scheinung gesehen. Er ist gerade Folge der Erschütterung durch den Zusammenstoß mit dem Westen und dem damit aufkommenden Ressentiment.

Es scheint wenig bekannt zu sein, daß es nach dem Auftreten Mohammeds zu einer unglaublichen Blüte der arabisch-isla­ mischen Welt kam. In einer 1000jährigen Hochkultur entfal­ teten sich Wissenschaft und Kunst, während zur selben Zeit, nach dem Versinken des römischen Reiches, das Abendland in der Finsternis des frühen Mittelalters dahindämmerte. Der geistige Reichtum des Islam beunruhigte das christliche Euro­ pa und befruchtete es. Damals und heute wurde die kulturelle Verwandtschaft der Religionen des Buches: des Judentums, des Christentums und des Islams nicht gesehen, eine Ver­ wandtschaft, die ein Zusammengehen nahelegen würde. Nach­ dem die europäischen Seefahrer die Wege zu den übersee­ ischen Reichtümern erschlossen hatten, trat mit der wirtschaft­ lichen Verarmung die Bedeutung des Islams zurück. Es ist nicht abwegig, für den Westen in den nächsten Jahrhunderten eine ähnliche Entwicklung zu erwarten. Aber, müssen wir überreich und übermächtig sein, um uns glücklich zu fühlen? Vielleicht läge der Fortschritt gerade in der endlich gelebten Erkenntnis, daß Geld und Geltung allein nicht glücklich ma­

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Identität - fanatisch verteidigt

chen, daß das Getriebensein im Streben nach diesen Gütern einen Überrest unfreier, entgleister Triebbestimmtheit darstellt.

Kurzfassung: Das Bedürfnis nach endgültiger Sicher­ heit ließ Weltentwürfe entstehen, die in der Berüh­ rung mit anderen Glaubenssystemen fragwürdig wer­ den. Um der Erschütterung der Weltanschaung, des Selbstbildes und der Identität zu entgehen, wird ver­ bissen an ihnen festgehalten.

Anmerkungen 1

2

3

4

Eugen Drewermann, „Die Spirale der Angst*, Herder 1991, S. 223/224. Der Autor sagt mit erkennbarem Bezug auf die katholische Kirche: Um an dieser inneren Reibung sich nicht selbst zugrunde zu richten, muß es bald schon im Interesse der Religion liegen, für das Ich Ziele und Gegner zu finden, auf welche die unterdrückte Aggression gerichtet und zur Er­ reichung heiliger Aufträge wieder freigesetzt werden kann. Eben dies ist die Geburtsstunde des Fanatismus. Er tritt auf wie ein Akt der Befreiung, wie ein inneres Bedürfnis; in ihm schafft sich der neurotisierende Moralismus des Religiösen selber ein Ventil.", S. 222. „Der Fanatismus bis hin zum Terrorismus aus Enttäuschung an der Undurchführbarkeit eines mo­ ralischen Idealismus ist demnach die schlimmste Folge eines de facto zur bloßen Ethik degenerierten Christentums." Auch im Westen waren die Geheimdienste und ähnliche Organisationen nicht frei von dieser Krankheit: vergleiche das Amerika McCarthys oder die deutschen Geheimdienste in der Verfolgung der RAF. Man erinnere sich u.a. an den Mord Itzhak Rabins durch einen funda­ mentalistischen israelischen Studenten oder an die Selbstmorde der RAFGefangenen. Gandhi, Mohandas Karamchand, Mahatma Gandhis Autobiographie. „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit", Freiburg/ München 1960 Erik H. Erikson, „Gandhis Wahrheit", Suhrkamp Taschenbuch 1978

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Suggestion und Bewußtseinswandel Angesichts der Vermassung und Technifizierung unserer Welt werden dunkle Zukunftsperspektiven entwickelt. Es heißt, nur durch einen Paradigmenwechsel wäre den Bedrohungen zu begegnen. Der Pessimismus scheint eine Folge der gern ver­ drängten Erfahrung zu sein, daß Appelle und Reden keinen dauernden Bewußtseinswandel herbeiführen. Weil aber kein anderes Werkzeug für eine Weiterentwicklung des Denkens zur Verfügung zu stehen scheint, bleibt es bei Sonntagspre­ digten. Die Erfahrungen der Psychotherapie könnten Einsich­ ten in Bedingungen von Bewußtseinswandel vermitteln. Ver­ änderungen von heute auf morgen sind Illusionen. Bewußt­ seinswandel ist ein Lebensprozeß und beansprucht Zeit. Da­ gegen ist eine Veränderung des Bewußtseins von einer Gene­ ration zur anderen durchaus möglich, ja natürlicher Teil des biosoziologischen Prozesses.

Es ist kein Wunder, wenn angesichts des zähen Fortschritts die Möglichkeit von Bewußtseinsveränderungen generell in Frage gestellt wird. Im Blick auf das einzelne Leben ist wenig echter Wandel zu beobachten. Trotz bitterer Erfahrungen leben im Volk Grundüberzeugungen aus vorigen Jahrhunder­ ten weiter. Auch bleibt sich der Grund des Menschenwesens gleich, selbst wenn Denkmoden ihren Stempel aufdrücken. Der Eindruck, der sich im Blick auf ein oder zwei Generatio­ nen bietet, verändert sich, wenn man mehrere Jahrhunderte überblickt. Es kann nicht geleugnet werden, daß sich in den letzten 500 Jahren seit Beginn der Aufklärung in den Kernlän­ dern Europas eine erkennbare Veränderung des Denkens vollzogen hat. Menschen- und bürgerliche Rechte werden als Selbstverständlichkeit angesehen, wenn auch die Praxis nach­ hinken mag.

Die traditionelle Bemühung um gesellschaftlichen Wandel durch Verbot besonderer Gemeinschaftsformen, Organisatio­ nen oder Rituale, durch Kleiderordnungen oder Denkmalsturz, selbst durch grausame Ausrottung aller Andersdenkenden ist eine vordergründige Korrektur. Neuverordnete Vorstellungen 147

Suggestion

und

Bewuktseinswandel

schichten sich lediglich über die tradierten, weitgehend von Gefühlen gestützten alten Überzeugungen. Überhaupt ist die Psyche nicht ein durchgehend einheitliches Gebilde: Tiefste und tiefe Schichten werden von später gebildeten und neu erworbenen überlagert.

Bei jedem Machtwechsel hängt sich die Masse wie ein Elrit­ zenschwarm, der wie mit Magnetkraft zusammengehalten scheint, an den an, der momentan die Führung übernommen hat. Es wird übersehen, daß frühere Ansichten und Haltungen in der Tiefe weiterschlummern. Es ist nicht ausschließlich kruder Opportunismus, wenn bei eindrucksvollen Machtver­ schiebungen die Menge die neuen Überzeugungen lauthals bekennt. Die unbewußte Anpassung an die jeweils herr­ schende Meinung ist Ausdruck des biologisch und psycholo­ gisch wertvollen Gesellungs- und Anpassungsbedürfnisses. Diese Bereitschaft, sich anzupassen, ist die Grundlage von Suggestion. Macht in jeder Form wirkt suggestiv. Öffentliche Meinung, verbreitet von den Medien und verkündet von de­ magogisch begabten Politikern, ist ein suggestiver Einfluß, der kaum wahrgenommen wird. Auch der Hypnotisierte ist sich nicht bewußt, wenn er einem posthypnotischen Befehl ge­ horcht. Er wird nachdrücklich betonen, daß er aus eigenem Antrieb handelte. Wir pflegen uns einzureden, unsere Hand­ lungen seien wohlbegründet. Wir sind uns des Ausmaßes der suggestiven Einflüsse, denen wir ständig unterliegen, nicht bewußt. Wenn sie uns bewußt wären, hätten wir Anlaß, sie zu prüfen. Das Unbewußte, Verdrängte entzieht sich der unmittelbaren Korrektur durch das Denken, welches glaskla­ res Bewußtsein voraussetzen würde.’ Seit der Entdeckung des Unbewußten wuchs die Einsicht, daß unsere Wertschätzung der Vernunft keineswegs dafür sorgt, daß wir auch vernünftig handeln. Suggestion hat ihren Aus­ gangspunkt in der unbewußten Bereitschaft, sich beeinflussen zu lassen. Hypnose ist ein Sonderfall der Suggestion und braucht wie sie das unbewußte Entgegenkommen des Klien­ ten. Alles, dem Wert und Bedeutung zugemessen wird, hat suggestive Wirkung. Bei der politischen Massensuggestion tritt an die Stelle des Hypnotiseurs der Redner im Zusammen­

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Suggestion

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Bewustseinswandel

wirken mit der glaubensbereiten Masse. Spätere Beobachtung ergibt die enttäuschende Erkenntnis, daß dadurch noch kein Bewußtseinswandel erfolgte. Allein die Vorstellung, daß alle einer Idee anhängen, ist sug­ gestiv. Es klingt lächerlich, obwohl selbstverständlich: Für die meisten Menschen liegt der Hauptgrund zu denken, wie sie denken, darin, daß alle so denken. Insbesondere, wenn etwas für lange Zeit allgemein für gut gehalten wurde, erwächst aus der geheiligten Denkgewohnheit suggestive Überzeugungs­ kraft, auch wenn sich die Bedingungen grundlegend geändert haben. Traditionen entblößen ihren suggestiven Gehalt, wenn sie ohne Hinterfragen für nachahmenswert gehalten werden, obwohl sie keinen Sinn mehr machen. Selbst wenn sie schon lange Zeit Last oder Qual sind, wird mit zwanghafter Treue an ihnen festgehalten. Geschriebenes wirkt überzeugender als das gesprochene Alltagswort, weil dahinter mehr Autorität vermutet wird. Das gilt besonders in einer Gesellschaft mit vielen echten oder faktischen Analphabeten. Eine besonders gefährliche Verfüh­ rungskraft haben für das Augentier Mensch optische Eindrükke. Das Fernsehen lädt zum merkantilen Mißbrauch durch die Produzenten ein und wird dadurch zu einem Problem, dem unsere bisherigen Gesetze nicht ausreichend beikommen, weil es kein Beispiel aus der Vergangenheit gibt.

Die Verdrängung von Kritik, typisch für Suggestion, entsteht aus der Angst, der Mehrheits- bzw. der Autoritätsmeinung zu widersprechen. Diese Sorge ist berechtigt, weil der heroische Abweichler Objekt archaischer Wut werden kann, wenn er die Geschlossenheit der Herde zu gefährden scheint. Die verbale Suggestion eines geschickten Redners löst eine (scheinbar) gleichförmige Gefühlsreaktion aus. Jeder kann an sich erfahren, daß er in der Masse anders reagiert als im eige­ nen Zuhause. Mit einigem Zeitabstand taucht die Frage auf: „Wie konnte ich mich so beeinflussen lassen?" Die Unter­ drückung der eigenen Überzeugung, besonders in einer Mas­ sen- oder Großgruppensituation ist leider ein allgemein­ menschliches Verhalten. Die Massenmeinung ist ansteckend wie Weinen und Lachen, Begeisterung und Empörung. Es ist 149

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Bewubtseinswandel

fatal, daß das ängstliche, opportune Schweigen als Zustim­ mung gewertet wird. Beobachtungen von Massenbewegun­ gen vermitteln den Eindruck, daß eine Masse unüberlegt wie ein instinktgetriebenes Tierindividuum agiert. Die Einzelnen werden zusammengehalten durch ein kollektives Unbewuß­ tes, das sie zu gleichförmigen Primitivreaktionen veranlaßt. Zeitlich und räumlich beschränkt sich die Ansteckung durch Massenphänomene zunächst auf die Massensituation. Heutige Beobachtungen legen die Annahme nahe, daß das Miterleben einer Massenszene im Fernsehen nicht weniger ansteckend ist. Angesichts der Leichtigkeit, mit der Bilder manipuliert werden können, kann man dabei nur schaudern. Besonders wer noch die Massenhysterie unter Hitler miterlebt hat, muß Angst bekommen. In der Masse erfolgt eine momentane psy­ chische Infektion. Sie stellt, wie jede Suggestion einschließ­ lich der Hypnose, eine vorübergehende Regression dar, einen Rückschritt auf eine unreifere psychische Stufe. Dennoch ist keiner nur Massenteil. Individuelle und kollektive Bewußt­ seinsprozesse überschneiden sich. Da unter Ausnahmebedingungen die Gefühlsbewegung wie ein quasi-religiöses Erhobensein erlebt wird, gewinnen die In­ halte an Überzeugungskraft. Das intensive Gefühl der Massen­ erfahrung kann wie eine Droge gesucht werden.2 Die Sucht nach dem gefühlsgeladenen Gemeinschaftserlebnis zeigt sich auch an der Bereitschaft, etwas zu einem Wunder hochzujubeln und an der Neigung, ein Ereignis als Katastrophe oder Schandtat zu dramatisieren. Es besteht ein Bedürfnis nach heftiger gemeinsamer Gefühlsbewegung. Die einträglichen Massenblätter kommen diesem Bedürfnis entgegen, indem Lappalien zu dramatischen Ereignissen hochstilisiert werden.

Bewegte Massen können, wie wir bei den gewaltfreien Revo­ lutionen 1989/90 im Ostblock erlebt haben, als Katalysator für politische Veränderungen dienen. Nicht immer erkämpft sich die Masse dabei echten Fortschritt. Die Begeisterung der Deutschen für Hitler war eine gigantische Selbsttäuschung, geboren aus Unwissenheit und Not auf der Grundlage einer präfaschistischen Massenmentalität. Politische Führer träumen davon, mittels sogenannter charismatischer Fähigkeiten Be­

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Bewubtseinswandel

geisterung zu wecken, um sie als machtpolitisches Werkzeug einzusetzen. Der Wunsch der Massen nach einem Gerechten, einem Erlöser, der die Not wendet, erzeugt gläubige Nachfol­ ger. Auch die Politiker durchschauen nicht die Oberflächlich­ keit der Prozesse. Sie haben wenig Grund, eine kritische Hal­ tung zu fördern, die das Regieren nur erschwert. Wer Men­ schen mittels Demagogie motivieren will, muß sich klar sein, daß dem „Hosiannah" schon bald das „Kreuziget ihn" folgen kann, beziehungsweise, daß ihm das Schicksal des Zauber­ lehrlings blühen könnte: „Die Geister, die ich rief, die werd' ich nicht mehr los!"

Der Psychotherapeut müht sich täglich mit dem Problem ab, Bewußtsein zu wandeln. Wenn er eine fundierte Ausbildung und nicht einen vordergründigen Begriff von Psychotherapie hat, wird er keine direkte Beeinflussung und schon gar kein Ratgeben versuchen, sondern sich auf die Kräfte des Wandels in der Seele im Gefolge von Selbsterkenntnis verlassen. Dabei erlebt er einerseits seine eigene Machtlosigkeit und anderer­ seits die Notwendigkeit von geduldigem Vertrauen auf die Kraft natürlicher Entwicklungen. Er braucht eine Grundhal­ tung, die, dem uralten chinesischen Taoismus verwandt, letz­ ten Endes Toleranz und die Zuversicht in die natürlichen Seelenkräfte beinhaltet. Wunder, wie sie sich Propheten und ihre Anhänger erträu­ men, können sich auch in der psychotherapeutischen Sprech­ stunde ereignen. Patienten, die zu Autosuggestion neigen, legen nicht selten „dem Arzt zuliebe" ihr Symptom ab, selbst wenn er keineswegs darauf gedrängt hat. Die von der Über­ tragung gestützte gläubige Erwartung bewirkte schnellen Um­ schwung. Der Psychoanalytiker weiß: Dieser Wandel hält selten stand. Er stellt häufig nur einen Symptomwechsel dar, d.h.: das alte, psychodynamisch so zweckmäßige Symptom wird durch ein neues ersetzt. Die tiefere seelische Erkran­ kung, die eigentliche Ursache des krankhaften Symptoms, besteht weiter, die Grundstörung bleibt erhalten. Ein suggestiv zustande gekommener Gesinnungswandel ist zunächst nur eine Kosmetik des Bewußtseins. Bei Belastungen brechen triebhafte Bedürfnisse und früh erworbene Hemmungen zu151

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Bewubtseinswandel

sammen mit den Überzeugungen der Kindheit aus dem Un­ bewußten durch. Besonders in Situationen der Bedrängnis kommt es trotz Einsicht zu einem Rückfall in alte Verhaltens­ weisen.

Die Schwierigkeiten echten Bewußtseinswandels werden deutlich, wenn die Führer einer Rebellion, wenn sie an der Macht sind, sich wie die Tyrannen verhalten, gegen die sie ursprünglich rebelliert haben. Obwohl keiner, der Opfer der Tyrannei war, selbst Tyrann sein will, kommen die früh ver­ innerlichten Gewaltstrukturen aus der individuellen Vergan­ genheit, gegen welche die Rebellen zum Kampf angetreten sind, wieder zum Vorschein. Der Protest gegen den Macht­ mißbrauch war eine Reaktionsbildung auf die frühen Erfah­ rungen, die zum politischen Bekenntnis wurde. Wenn sich dann in der Position der Macht die Probleme als viel komple­ xer erweisen als vorausgesehen, kommt es in dieser Verle­ genheit wieder zu Kurzschluß und halbbewußtem Rückgriff auf die Machtinstrumente, die in der Kindheit verinnerlicht wurden? Der Rückfall in das alte Terrorsystem vollzieht sich im Zu­ sammenwirken mit einer Bevölkerung, die an die Knute ge­ wöhnt ist. Sie hat zum kleinsten Teil gelernt, eigenverantwort­ lich an den demokratischen Prozessen teilzunehmen. Zudem wird das Wiederaufleben der autoritären Strukturen dadurch unterstützt, daß viele, die in ihm heranwuchsen, auf Toleranz mit Maßlosigkeit reagieren. Wie Kinder, die zuviel Strenge erfuhren, schießen sie übers Ziel hinaus, sobald die Zügel gelockert werden. Sie konnten die Fähigkeit und Bereitschaft, verantwortlich an der Gestaltung des Gemeinwesens mitzu­ wirken, nicht erlernen. Nun fühlen sich die Befürworter der Gewalt bestätigt und glauben sich im Recht, wenn sie „streng durchgreifen". Man erkennt daran wieder die verhängnisvolle Selbstreproduktion autoritärer Strukturen und versteht, wie ihre Zählebigkeit die Entwicklung zu einer freien Gesellschaft behindert.

Bei aller Kritik an dem Mißbrauch der Suggestion sollen ihre positiven Aspekte nicht geleugnet werden. Die suggestiv be­ wirkte Massenreaktion hat mit der nationalen oder religiösen 152

Suggestion

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Bewubtseinswandel

Massenbegeisterung den Vorteil, große Menschenmengen zu einer Einheit zusammenzufassen. Das wurde einst notwendig, als größere Gesellschaften entstanden und dadurch Über­ schaubarkeit und Bekanntheit, an sich Bedingungen von De­ mokratie, nicht mehr garantiert waren.4 Suggestive Beeinflussung im Aufschauen zu einem Älteren, Erfahrenen ist zweifellos bedeutsam für Entwicklung und soziale Lernprozesse. Alles, was sich an das Gefühl, an alle Sinne wendet, kann suggestiv Wegbereiter für Verhaltenskor­ rektur werden, garantiert aber noch nicht, daß sich in der Tiefe der Persönlichkeit ein Wandel vollzog. Auf dem vielge­ staltigen Weg der Bewußtseinserweiterung kann Suggestion Wandel einleiten, wenn sie zu neuen Erfahrungen ermutigt, die damit positive Verstärkung erfahren. Der Wandel ist erst dann echt, wenn sich der Inhalt der Suggestion mit dem Per­ sönlichkeitskern verbunden hat. Wie in so vieler Hinsicht gilt: nur in der Einseitigkeit, in der blinden Gläubigkeit ohne Ei­ genständigkeit liegt Verhängnis. Neues und Fremdes muß wie die physische Nahrung durch innere Kräfte umgewandelt, anverwandelt und damit Teil des eigenen seelischen Orga­ nismus werden. Das Unbrauchbare wird ausgeschieden. Sug­ gestive Inhalte bekommen Bestand, wenn sie durch einen Prozeß individueller Gestaltung gehen. Es darf aber die Indi­ vidualität nicht zerstört werden. Nur sie verspricht Bestand, Kreativität, Weiterentwicklung und damit Zukunft.

Kurzfassung: Die traditionellen Versuche, Bewußt­ seinswandel herbeizuführen, bestanden in gewaltsa­ men Änderungen äußerlicher Manifestationen des Bewußtseins. Sie können so wenig wie suggestive Massenbeeinflussung mittels Reden und massierter Propaganda diejenigen Denktraditionen beeinflussen, die unerkannt in der Tiefe des kollektiven Bewußt­ seins weiterleben. Bei Destabilisierung kommen diese wieder zum Ausbruch, falls sich kein echter Bewußt­ seinswandel vollzogen hat.

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Anmerkungen Vergleiche Kapitel „Verdrängung, Projektion und Gesellschaft". Bill Bufford, „Geil auf Gewalt*, Hanser 1991 Ein deprimierendes Beispiel vom Ende des zweiten Milleniums ist Lech Walensa, Führer der Solidarnosz, der die gewaltfreie polnische Revoluti­ on anführte, die demokratischen Spielregeln aber als Präsident beiseite schob. 4 Die berühmten Modelldemokratien, wie Athen oder die Schweiz oder das britische Parlament waren noch überschaubare Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte, da nicht die Gesamtbevölkerung beteiligt war. Sie waren allerdings auch nicht gegen Degeneration gefeit. 1 2 3

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Minoritäten und die pluralistische Gesellschaft Der Verdrängungs- und Anpassungsdruck der Gesellschaften fördert die Feindbildprojektion. Wer sich nicht anpaßt, wird zum inneren Feind abgestempelt. Die Schwierigkeiten der Immigranten, die Einflüsse ihrer Vergangenheit abzulegen, werden von Außenstehenden weitgehend unterschätzt. Es ist nicht möglich, sich mittels bloßer Willensanstrengung der neuen Gesellschaft vereinheitlichend anzuschmiegen, weil die Prägungen der frühen Umwelt verinnerlicht worden wa­ ren. Für die nächste Generation, die in der neuen Welt her­ anwächst, wird es etwas leichter. Beide Seiten, Einwanderer und Einheimische, müssen die Schwierigkeiten verstehen lernen, um sie bewältigen zu können. Anderssein bringt zu­ erst Probleme, später, nach der Meisterung, Gewinn. Eine einheitliche Gesellschaft ist insgesamt eine Fiktion.

Zur Erleichterung des Verständnisses soll hier kurz wiederholt werden, was schon in verschiedenen vorausgegangenen Kapi­ teln ausgeführt wurde: Homogenität gewährt Schutz. Aus­ grenzungsneigung ist schon bei Herdentieren gegenüber äu­ ßerlich abweichenden Individuen zu beobachten. Das in­ stinktive Bedürfnis, jede Auffälligkeit zu vermeiden, erklärt die übergroße Bereitwilligkeit zur Anpassung. Feindbildpro­ jektion ist die Kehrseite dieser Neigung: Menschen mit ande­ rem Gesichtsschnitt, anderer Haar- oder Hautfarbe, anderer Kleidung, anderen Alltagssitten, anderer Religionsausübung usw. sind wohlfeile Objekte des irrationalen Hasses, der sich bis zum vielfachen Mord steigern kann. Individualistisches Verhalten, Nonkonformismus erzeugt bei der Umgebung Haß. Die Abgelehnten, die nichts oder wenig mit dem zu tun haben, was ihnen angedichtet wird, neigen dazu, auf die Anfeindung mit Feindseligkeit zu reagieren, womit sich ihre „Schuld" zu bestätigen scheint. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts stempelten die Nazis einerseits die Kommunisten und andererseits die Juden, zu­

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Minoritäten

und die pluralistische

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sammen mit „Zigeunern", mit Sinti und Roma, also Angehöri­ gen von Minoritäten, als Staatsfeinde ab. Trotz der weltweiten Verdammung der deutschen Verbrechen des Holocaust ist der Antisemitismus in vielen Teilen der Welt virulent. Die Kom­ munistenhatz Hitlers fand in McCarthys’ Amerika ihre Fort­ setzung so gut wie die bis heute andauernde Verfemung ge­ wandelter Kommunisten. Im wiedervereinigten Deutschland nehmen Asylanten und Armutsflüchtlinge jeder Hautfarbe und Herkunft die Stelle ein, die zur Zeit der Wirtschaftswunderjahre die „Itaker" und nach ihnen die „Kanaken" innehatten und -haben. Wo sich persönliche Beziehungen anbahnen, erweist sich, wie grund­ los der Haß ist. Der Widersinn der Ablehnung wird besonders deutlich, wenn frühere Freunde, ja Familienangehörige über Nacht zu Feinden werden, wie in den Ländern des ehemali­ gen Jugoslawien zu beobachten. Der indische Psychoanalyti­ ker Kakar schildert für das bedrängte, übervölkerte Indien von heute den anhaltenden Haß zwischen Hindus und Moslems, die sich weitgehend dieselben Negativa andichten.1

Die Feind-Einbildung kann Tötungshemmungen herabsetzen, weil der Feind als nichtmenschlich, nicht zur eigenen Art oder Gruppe gehörig erlebt wird. Die Neigung, ein Feindbild aufzubauen, verstärkt sich naturgemäß mit jeder Not und Verunsicherung, etwa durch die weltweite Destabilisierung nach dem Ende des Kalten Krieges. Vermutlich war Nah­ rungskonkurrenz in Urzeiten die Hauptursache dafür, daß fremde Menschenhorden auf diese Weise entmenschlicht wurden. Das Bedürfnis nach Übereinstimmung mit der eigenen Grup­ pe in der Ablehnung des wirklichen oder phantasierten Fein­ des läßt die naturgegebenen Unterschiede in der Gemein­ schaft der Ablehnenden zurücktreten. Anlässe zu innerer Reibung werden unterdrückt und die inneren Schwierigkeiten geleugnet. Auf diese Weise entsteht die Fiktion der Einheit­ lichkeit. Das Bedürfnis nach Gruppenidentität kann in der Kontrastierung zu den angeblich ganz anderen leichter be­ friedigt werden.

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Gesellschaft

Bei den Nazis wurde in der Verengung der Wertvorstellungen auf eine kleine Anzahl von Eigenschaften das Fehlen von Mitleid zum moralischen Plus. Verständnis für Außenseiter und Benachteiligte wurde als Abwegigkeit, als Schwäche, als Mangel an „gesundem Volksempfinden" diffamiert. Eine völ­ lig deformierte Betrachtungsweise machte Mitgefühl, Grund­ lage einer humanen Gesellschaft, zur Schwäche, ja zum Man­ gel an Anstand.2 Autoritätsfurcht gegenüber einem Regime, das solche Vorurteile unterstützt, erlaubt den bequemen, von eigener Unzulänglichkeit entlastenden Selbstbetrug im Aus­ agieren von Haß, der aus verborgener Unsicherheit stammt. Die Geschichte bietet viele Beispiele, wie Minoritäten für alles Unglück, wie Naturkatastrophen, Seuchen, Teuerung usw. verantwortlich gemacht werden. Das Mißbehagen ent­ lädt sich in pogromähnlichen Ausbrüchen, wie sie die jahr­ tausendealte Leidensgeschichte der Juden kennzeichnet.3 Es ist besonders abstoßend, wenn sich die archaische Wut gegen Behinderte richtet, so, als wäre ihre ungewohnte Erscheinung Folge unklarer Verfehlungen. Erst recht wird, wenn das Opfer zu seinem Anderssein beigetragen zu haben scheint, wenn Schuld vermutet wird, schnell mit gedankenlosem Hochmut abgewertet. Der eigene Kampf gegen die Versuchung, das gesellschaftlich Abgelehnte zu tun, verwandelt sich in Ableh­ nung derer, von denen phantasiert wird, daß sie das „Böse" leben. Der Alkoholiker, der sich aus dem tristen reduzierten Alltag in den Rausch flüchtet, wird verdammt, weil er das tut, was im Grunde viele möchten: sich fortstehlen aus dem ewi­ gen Druck in die gelassenere Welt vor der Entwicklung der Zivilisationszwänge, in eine Art Paradies.4 Ähnlich wird der Arbeitslose, der vielleicht seine Stelle verloren hat, weil etwas unbewußt in ihm gegen die Einseitigkeiten unserer Leistungs­ gesellschaft rebelliert, weil er den stumpfsinnigen täglichen Trott nicht mitmachen konnte, bereitwillig als Faulenzer ab­ gewertet. Man gönnt Aidskranken ihre tödliche Infektion als Strafe für die Freiheiten, die man in ihrer Lebensführung ver­ mutet, ohne ihr Schicksal zu kennen. Der Gedanke, daß Be­ rufsprostituierte warmherzig und mitfühlend gegenüber den eigenartigen Nöten der Freier sein könnten, paßt nicht in das 157

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Negativklischee. Frauen, die abgetrieben haben, werden in den Augen derer, die sie nicht kennen, zu Dirnen abgestempelt.5 In Diktaturen mit ihrer gewaltsam uniformierten öffentlichen Meinung muß sich die Neigung verstärken, alles fälschlich an anderen wahrzunehmen, was nicht zu dem staatlich er­ wünschten Verhaltensklischee paßt. Der innere Druck, der durch die geistige Gleichschaltung entsteht, wird auf eine abweichende Gruppe gelenkt. Die Ablehnung von Individua­ lität entlastet die Mächtigen, weil sie sich nicht um die Vielfalt der Meinungen, deren Respektierung zum Wesen der Demo­ kratie gehört, zu kümmern brauchen. Demokratie sollte ja gerade Techniken zu entwickeln versuchen, die der Pluralität der Ansichten gerecht werden.

Wer engeren Kontakt hat mit den Betroffenen von Negativ­ gruppen korrigiert sein Urteil, muß sich, wenn er ehrlich ist, eingestehen, daß ähnliche Verdammung auch ihn hätte tref­ fen können, wenn sein Schicksal anders verlaufen wäre. Nä­ he, Bekanntheit ist notwendig, um Verständnis aufkommen zu lassen. Die Vielfalt der pluralistischen Gesellschaft kann lehren, wie sehr Äußerlichkeiten dazu beitragen, Fehlurteile zu fällen. Der Psychotherapeut, zu dessen Beruf die intime Kenntnis seiner Klienten gehört, kann kaum jenes letztlich Böse, wie es in der klassischen Literatur, etwa bei Shakes­ peare, dargestellt wird, beobachten, muß dagegen ein Über­ maß an Not, Leid, Krankheit, Verirrung entdecken. Anderer­ seits blühen noble und zarte Gefühle, Talente und Ideenreich­ tum bei den Verdammten dieser Erde nicht weniger als bei den Respektierten. Insbesondere macht Bildung nicht ver­ ständnisvoller. Das bloße Anhäufen von Wissen kann Originaliät ersticken.

Die Erkenntnis ist heilsam, daß das Schlechte, das wir drau­ ßen anprangern, auch in uns ist. Es ist nicht einfach, sich ein­ zugestehen, daß es uns Spaß machen würde, „schlecht" zu sein. Wenn wir uns mehr als einmal dabei ertappt haben, wie schnell wir jemanden aburteilen, werden wir das Anderssein mit nachsichtigeren, gleichzeitig aber auch klareren Augen betrachten. Wir werden mit Abweichungen besser umgehen können, wenn wir sie als allgemeinmenschliche Spielarten, 158

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einfach als Möglichkeiten der Existenz betrachten, statt sie in verständnisloser Torheit zu verdammen. Die Verdammung ist der Schutzwall gegen unsere eigene Verführung zum gesell­ schaftlich Mißbilligten. Allerdings ist mit einmaliger Einsicht die gedankenlose Ablehnung nicht überwunden. Ein nie en­ dender Bewußtwerdungsprozeß, ständiges Gespräch, ständige Auseinandersetzung mit sich selbst, kann die Verengung der Persönlichkeit, die die Projektion des „Bösen" begleitet, redu­ zieren.

Die jeweiligen Einseitigkeiten einer Kultur, etwa die deutsche Ordentlichkeit und Nüchternheit, ihr Arbeitsethos und ihre Steifheit und Unterdrückung der Emotionalität, bedeuten Selbstverstümmelung von Millionen und einen Verlust für die Gesellschaft, die durch die Reglementierung des Denkens viele Begabungen erstickt. Zudem können sich viele Talente durch Unterdrückung, Elend und Bildungsmangel nicht ent­ wickeln. Wertvolle Kreativität wird abgewürgt in der Alltags­ sklaverei der vereinheitlichten Strukturen. Einwanderer anderer Kulturen lehren andere Lebensmöglich­ keiten. Unsere Werte sind nicht global gültig. Die Zukunft braucht Innovationsfähigkeit. Andere Kulturen können Anre­ gung sein. Niemals war die Notwendigkeit, umzulernen, sich neue Verhaltensformen anzueignen, so groß, weil sich nie­ mals vorher durch die Einwirkung des Menschen die Welt so rapide verändert hat. Nicht mehr geduldige, gehorsame Un­ terordnung ist gefragt, sondern Kooperation gepaart mit Mut zum Neuen. Man sollte sich vergegenwärtigen: Gerade der Mensch verdankt seinen „Erfolg" seiner unglaublichen Anpas­ sungsfähigkeit, einem „Fitsein" im ursprünglichen Sinne Dar­ wins (nicht in dem Sinn von nur individuellem, nur körperli­ chem „Fitsein"). Allerdings vollziehen sich diese Anpassungs­ prozesse in Zeiträumen, die, gemessen an der Lebensspanne des Einzelnen, ungeduldig machen.

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Kurzfassung: Die Überwindung der Feindbildprojek­ tion, der fälschlichen Vermutung negativer Eigen­ schaften bei den Angefeindeten, bedeutet inneres Wachstum und seelische Bereicherung für den Einzel­ nen und die Gemeinschaft.

Anmerkungen Sudhir Kakar, „Die Gewalt der Frommen", C. H. Beck 1996, s. Kapitel „Das Feindbild" 2 Eine überlieferte Äußerung Himmlers, des obersten SS-Führers, ist nur eines von vielen Beispielen für die Verkrüppelung der Mitleidsfähigkeit. Gerade die Fähigkeit des Mitgefühls hätte als das gesunde Empfinden be­ zeichnet werden müssen. Himmler soll anläßlich einer SS-Gruppen­ führertagung 1943 in Posen zu seinen SS-Leuten gesagt haben: „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen bei­ sammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns stark gemacht." Die Verkehrung des Fühlens beschränkte sich nicht auf die Hauptverantwortlichen des Holocaust. Papst Paul XII, oberste Autorität der katholischen Christenheit, ließ sich (im Hinblick auf das Wüten der katholischen Ustascha in Kroatien) zu der Äußerung verleiten: „So roh die Hand des göttlichen Chirurgen erscheinen kann, wenn sie mit dem Eisen ins lebendige Fleisch eindringt, es ist immer die Liebe, die sie leitet ..." Radioansprache am 29. Juli 1941 (eine Woche nach Beginn des deut­ schen Russlandfeldzuges), „Die Zeit" vom 27. März 1992 3 Es mag aber gerade die ständige Ausgrenzung Mitursache sein für die Entwicklung besonderer Fähigkeiten, die Haß und Neid auslösen: für die verzweifelte Gerissenheit eines Shylock so gut wie für die Weisheit eines Nathan. Allerdings ist die Tatsache, daß es sich bei beiden um Gestalten der Literatur, Schöpfungen der Dichter handelt, ein Ausdruck der Nei­ gung, an ein Klischee zu glauben, statt von der verwirrenden Vielfalt der Wirklichkeit auszugehen. 4 Das Bedürfnis, dem Druck der Gemeinschaftsforderungen auszuweichen, äußert sich auch darin, daß es fast in jeder Kultur eine spezifische Droge gibt. 5 Einer der Gründe für das Übermaß an Emotionen, mit der die Debatte über die Fristenlösung geführt wird, scheint der Sexualneid der allzu An­ gepaßten und daher Zukurzgekommenen zu sein. Im Kampf um den Schwangerschaftsabbruch wird eine unvergleichliche Sensibilität gegen­ über dem Wert menschlichen Lebens von denen gepredigt, die bei ande­ rer Gelegenheit schnell bereit sind, das Blut unschuldiger Soldaten im Namen der Menschlichkeit vergießen zu lassen.

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Der Scheingegensatz Individuum - Gesellschaft „Das größte in der Welt ist, sich selbst gehören zu können" sagte Michel de Montaigne, der sich in sein Turmzimmer zurückzuziehen pflegte, um an seinen Essays zu schreiben. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die Menschen seiner Zeit erlebten sich, von Herrschenden wie den Renais­ sancefürsten vielleicht abgesehen, noch nicht wie die heuti­ gen als vorwiegend abgeschlossene Persönlichkeiten.

Der Individualismus entstand zusammen mit dem Bestreben, die Menschen aus der Vereinheitlichung unter absolutisti­ schen und klerikalen Zwängen zu befreien.' Stolze Selbstge­ nügsamkeit wurde gepriesen, Gemeinschaft als Störung der Selbstfindung erlebt. Heute ist das Pendel in die andere Rich­ tung geschwungen: es wird über zuviel Ichbezogenheit und zu wenig Gemeinschaftssinn geklagt. Als Verzicht auf Welt, Opfer in der Hingabe an Gott war Ein­ samkeit ursprünglich keineswegs verächtliche Abwendung von unreflektiertem Dazugehören. Der fromme Einsiedler, der sich aus der schützenden Gemeinschaft zurückzog, gab damit etwas auf. Er folgte seinem Bedürfnis nach Transzendenz, das letztendlich den Weg ins eigene Innere weist. Mystiker aller Kulturen haben diesen Rückzug auf sich selbst als den Weg zum Absoluten geschildert. Noch heute darf sich ein Familien­ vater in Indien das Recht nehmen, etwa mit Fünfzig sein akti­ ves Erwerbsleben und die Sorge um eine Großfamilie zu be­ enden, um sich von der Welt abzusondern, wie es Montaigne (allerdings mit Unterbrechungen) schon als Sechsunddreißig­ jähriger tat. Zusammen mit der negativen Bewertung von Gemeinschaft und der Aufwertung des Individuums wurden die gesellschaft­ lichen Restriktionen als Folge der Entfernung vom Naturzu­ stand gesehen. Rousseau glaubte, daß der Mensch ursprüng­ lich gut sei, d.h. keiner Einschränkungen bedürfe. Hobbes vermutete einen vorgesellschaftlichen Zustand freier Men-

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sehen, die durch nichts eingeengt sind. Ähnlich nahm Kant einen vorrechtlichen Naturzustand an, in dem das vereinzelte Individuum tun kann, „was ihm recht und gut dünkt." Im 19. Jahrhundert wurde das stolze Sich-Abheben von der Menge verbreitete Haltung der Gebildeten. Nietzsches Wort vom Übermenschen mußte als Apotheose des stolzen Einzel­ nen (miß)verstanden werden.2

Der Individualismus erlaubte es, rücksichtsloses Gewinnstre­ ben in der Form des Manchesterliberalismus als Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu verbrämen. Ein ähnli­ cher Irrtum wiederholt sich heute, wenn Karrieregeilheit mit dem Recht auf „Selbstverwirklichung" begründet wird. Der Ausdruck meinte ursprünglich eine moderne Entsprechung des Erkenntnisweges der Mystiker. Die Vorstellung, daß der Mensch ein typisches Gruppenwe­ sen ist, entwickelte sich erst langsam im 20. Jahrhundert. Sie ist immer noch unpopulär. Allmählich wurde von einigen Soziologen der Wert der Gesellschaft wieder anerkannt. Den Anfang machte Max Weber, wenn er betonte, daß Individu­ um und Gesellschaft nicht getrennt voneinander denkbar sind. Freud sprach von einem „sozialen Trieb", verfolgte aber diesen Gedanken nicht explizit. Er sah Gesellschaft, ähnlich wie Kant und seine Vorgänger, als ein allmählich aus Indivi­ duen sich zusammensetzendes Gebilde.3

Die Aussage von Foulkes, eines Klassikers der analytischen Gruppenpsychotherapie, die Gruppe sei älter als das Indivi­ duum, wird noch wenig verstanden als Hinweis, daß der Mensch sich ursprünglich als Teil einer kleinen Gemeinschaft erlebte und sich erst daraus Individualität entwickelte. In den nichtwestlichen Ländern verstehen sich die Menschen vor­ wiegend als Teil ihrer Familie. Der Kommunitarismus, die neue aus den USA kommende sozio-philosophische Richtung mit ihrem Hauptvertreter Amitai Etzioni wendet sich gegen den rücksichtslosen ökonomischen und politischen Individua­ lismus.4 Die Systemtheorie/systemische Familientherapie geht davon aus, daß isoliertes, unbezogenes Fühlen, Denken, Handeln nicht möglich ist. Diese Sicht, wonach der Einzelne als Teil eines interaktioneilen Systems gesehen wird, in dem 162

Der Scheincecensatz Individuum - Gesellschaft

jedes Individuum unvermeidlich die anderen beeinflußt, wurde schon durch die Schizophrenieforschung des Psychia­ ters Theodore Lidz vorbereitet.5

Viele Erfahrungen bestätigen, wie sehr der Mensch die Ge­ meinschaft braucht, wie wenig lebensfähig er in Isolation ist. Anderssein bedeutet den gefährdenden Verlust der schützen­ den Gruppe. Die Programmierung auf das Leben in kleineren Verbänden hat der Mensch mit vielen Primaten gemein. Mehr als jedes andere Säugetier ist das Neugeborene auf die enge Verbindung mit seiner aus biologischer Anlage vernarrten Mutter angewiesen. Diese Abhängigkeit zeigt sich in der ge­ steigerten Kränklichkeit und Sterberate, die bei seelisch ver­ nachlässigten Kindern festzustellen ist, auch dann, wenn die physische Pflege nichts zu wünschen übrig ließ.6 Kinder, die mit wenig Kommunikation heranwachsen, gedeihen nicht: Jener Potentat, der den Pflegerinnen befahl, mit den Findel­ kindern niemals zu sprechen, um herauszufinden, ob die menschliche Sprache angeboren oder erlernt ist, machte sich ahnungslos eines vielfachen Mordes schuldig - alle Kinder starben. In ursprünglichen Gesellschaften ist, als Folge eines Aus­ schlusses aus der Gemeinschaft, der soziale, psychogene Tod bezeugt. Feme, Gefängnis, Anprangerung, die die Sünder allen sichtbar aus der Gesellschaft ausstießen, waren im Mit­ telalter schwere Strafen. Als „vogelfrei" erklärt zu werden, nirgends Schutz erwarten zu können, bedeutete „im Elend", d.h. außer Landes zu sein. Weil das Miteinander ein vitales Bedürfnis ist, gilt Freiheitsstrafe, Einzelhaft, Entzug von Kom­ munikation, Trennung vom Mitmenschen zurecht als Folter. Wissenschaftliche Arbeiten neuerer Zeit glauben an statisti­ schen Erhebungen zeigen zu können, daß bei Krebserkran­ kungen der Verlust einer nahen Bezugsperson der Auslöser war7, was als Folge der Reduzierung der körpereigenen Ab­ wehr infolge Trauer durchaus denkbar ist. Auch die bekannte Beobachtung, daß alte Ehepaare oft kurz hintereinander ster­ ben, weist auf die Bedeutung mitmenschlicher Beziehungen hin: Kommunikation ist so notwendig wie Essen, Trinken und Schlafen. Besonders an Sprache und Werkzeugbeherrschung, 163

Der Scheingegensatz Individuum - Gesellschaft

die nur am Beispiel Anderer erlernt werden können, zeigt sich, wie wichtig Gemeinschaft für den Menschen ist. Die Vermittlung von kulturellen Errungenschaften setzt Sprache, Kommunikation voraus. Die Möglichkeit, Erfahrungen und Erfindungen mittels Wortsymbolen mitzuteilen, erzeugte in grauer Vorzeit eine Art Quantensprung zu höherer Kulturent­ wicklung. Die Fähigkeit, das kulturelle Erbe zu übernehmen, zu lernen, muß beim Menschen das nur physische „Fit"-sein ergänzen.

Der Mensch wurde nicht auf die unüberschaubaren moder­ nen Großgesellschaften hin entworfen, hat seine Fähigkeiten noch nicht für sie entwickelt. Es ist etwas Anderes, Teil einer Masse zu sein oder einer kleinen, familienähnlichen Gruppe anzugehören. Jeder verhält sich in der Großstadt anders als auf dem Dorf. Mit der Unbezogenheit infolge Vermassung schwand die gegenseitige Rücksichtnahme, das natürliche In­ teresse am Mitmenschen. Täglich ist in den Großstadtstraßen zu erleben, wie die Menschen rücksichtslos aneinander vorbeihasten. Sie starren mit verbissenen Gesichtern ins Leere. Ein Lächeln, ein freundliches Wort verhallt ebenso wie ein Hilferuf. Wahrscheinlich ist die Uninteressiertheit eine Ab­ wehr gegen die Überforderung durch das Zuviel an mögli­ chen Gesprächspartnern. Masse ist unübersichtlich, Vermassung bedeutet ein Zurück­ treten persönlicher Beziehungen. In einer überschaubaren Gemeinschaft, in der sich alle bis zu einem gewissen Grade, wenn auch flüchtig, kennen, bzw. kennenlernen und wiederbegegnen können, wirkt die soziale Kontrolle stärker als in der Masse, wo jeder anonym und frei von Verantwortung agieren kann. Der Einzelne in der Masse kann, insbesondere unter dem suggestiven Einfluß der Vielen, unverantwortlich Dinge tun, die aus der Tiefe seines archaischen Unbewußten hochdrängen. Lustbetonte Regression koppelt sich mit primi­ tivem Machtgefühl.8

Die Unvertrautheit der Massengesellschaft läßt diese als furchteinflößenden Moloch erscheinen, besonders wenn der Einzelne zu einem Maschinenrädchen degradiert wurde. Der Arbeitssklave muß die Überzeugung entwickeln, daß er im 164

Der Scheingegensatz Individuum - Gesellschaft

ständigen Kampf gegen eine unterdrückende, verschlingende Gesellschaft steht. Wenn die Sklaven rebellieren, dann veran­ laßt das die Unterdrücker nicht etwa zu humaneren Bedin­ gungen, sondern verführt sie dazu, die Verbotsschranken so eng zu ziehen, wie sie nur können. Als im neunzehnten Jahr­ hundert die Arbeiter zu begreifen begannen, daß ihre schiere Arbeitskraft ein Machtinstrument sein kann und die Streikbe­ wegungen anfingen, war damit eine veränderte Position ge­ genüber den scheinbar unbesiegbaren Industrieherren ge­ wonnen.9

Gerade dann, wenn die Dienstbereitschaft über Gebühr aus­ genutzt wird oder wenn widernatürliche oder unsinnige Ver­ bote ausgesprochen werden, kommt es naturgemäß zu stän­ digen Übertretungen. Sie müssen bei den Befehlenden die Vorstellung erzeugen, der Mensch sei böse von Anbeginn, mit Erbsünde behaftet, nur mit äußerster Strenge zu bändigen, weil er ohne Härte ständig in Versuchung ist, die Gebote zu mißachten. Die Konsequenz ist Verhärtung der Verbote und wieder vermehrte Verstöße. Statt die Restriktionen zu lockern, werden sie verstärkt. Die Spirale von Verbot und Übertretung windet sich immer höher. Die Gebote, die geschaffen wur­ den, um Reibungen zu vermindern und das soziale Miteinan­ der zu erleichtern, werden durch die Überbetonung lebens­ feindlich. Die ursprünglich positive Gemeinschaft mit ihrer gegenseitigen Verpflichtung pervertiert sich zu einem Ge­ fängnis, weil durch überzogene Reglementierung die Men­ schen sich selbst und ihren eigentlichen Bedürfnissen ent­ fremdet wurden.

Wenn man nur auf die ständigen Übertretungen sieht, wird die „Tugend" zu etwas, das man sich mit saurem Schweiß abgewinnen muß. In dieser herben Welt kann nur der, der ständig auf der Hut ist und sich listig einen besseren Platz erkämpft, vorwärtskommen. Gutsein ist nur angebracht, wenn es zweckmäßig ist. Es darf keine naive Güte geben, die sich ihrer selbst nicht bewußt ist, wo die rechte Hand nicht weiß, was mitfühlend, spontan, die Linke tut. Es bleibt im Gefängnis der hundert Verbote kein Freiraum, wo sich der Mensch ei­ genem Antrieb entsprechend sozialkonform verhalten könn­

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Der Scheincecensatz Individuum - Gesellschaft

te.'° Der Hinduismus, dem Christentum teilweise verblüffend nahe, manchmal fremd, fordert die „Handlung ohne Früchte", in der „reinen Freude des Selbst".11 Eine frühe Beobachtung Sigmund Freuds gewinnt erst Sinn, wenn man den Menschen als Teil eines sozialen Ganzen auffaßt: die Neigung zur Selbstbestrafung. Sie äußert sich als Bereitschaft, für eine Übertretung (oder vermeintliche Über­ tretung) die zu erwartende Strafe freiwillig vorwegzunehmen. Das heißt: das Bewußtsein der sozialen Restriktionen genügt ohne äußere Verbote für ihre Durchsetzung. Ihr biologischer Sinn kann nur in der notwendigen Beziehung zur Gemein­ schaft liegen. Das bestätigt die Erfahrung des liebevollen Er­ ziehers: Kinder, die nicht durch Überstrenge verdorben sind, tragen die Grundlagen für soziale Anpassung in sich. An einer Gruppe seelischer Erkrankungen, den Zwangsneuro­ sen,12 wird es besonders deutlich, daß den Grenzen, welche Autoritäten ziehen, die Neigung zu ihrer Verinnerlichung entgegenkommt. Eine Zwangsneurose macht den Eindruck, als sei sie ein psychischer Krebs, eine Wucherung des Gewis­ sens. Ohne äußere Notwendigkeit müssen dabei selbst aufer­ legte, skurrile Verhaltensregeln aus innerem Zwang ängstlich befolgt werden. Die absurden Rituale dienen dazu, Versu­ chungen zu vermeiden, die in der Vorstellung dieser Kranken überall lauern. Ihr Verhalten erweckt den Eindruck, als wür­ den in ihrer Psyche die unberechenbaren Götter der Frühkul­ turen noch an der Macht sein. Einst bemühte sich der ständig von einer verwirrend bedrohlichen Natur geängstigte Mensch eifrig und überängstlich Hekatomben von Opfern darzubrin­ gen, um die launenhaften Götter bei Stimmung zu halten.13 Es ist, als würden göttliche Mächte des Inneren wie verständnis­ lose, unbeherrschte Eltern oder wie der Gott Hiobs und Abra­ hams die abwegigsten Forderungen stellen. In dem „grausa­ men Überich der Zwangsneurose" (Freud), scheint in den archäologischen Schichten der Seele eine frühe menschliche Bedingung weiterzubestehen. Die Steigerung ins Absurde dürfte damit Zusammenhängen, daß die angewandten Mittel: Opfer und magische Handlungen, ungeeignet sind, das zu erreichen, was insgeheim gewünscht wird: Erfüllung der

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Trieb- und Kontaktwünsche in verhüllter Form. In der frühen Gesellschaft konnten die archaischen Götter auch mit noch so vielen Opfern nicht milde genug gestimmt werden, um Natur­ katastrophen zu vermeiden. In puritanischen, restriktiven Gesellschaften führen unnötige Verbote bei Menschen, die zu ausgeprägtem Gehorsam nei­ gen, zur seelischen Knebelung und zur Verödung durch ver­ innerlichte Zwänge. Die formalen Anordnungen werden nach außen hin ängstlich genau befolgt. Die Untertanen passen sich scheinbar an und resignieren gegenüber den erstickenden Einschränkungen, aber in der Heimlichkeit des Allein- oder Nur-zu-zweit-seins drängen sich „sündige" Phantasien ins Be­ wußtsein, weil unabweisbare Bedürfnisse schuldhaft erlebt werden.'4 In dieser Welt gehören Verlogenheit und massive Verdrängung zum Alltag. Diejenigen, die die Verbote allzu wörtlich nehmen, werden an der Überstrenge und Unerfüll­ barkeit krank. Einige Kühne lehnen sich auf, werden Rebellen oder Kriminelle und gehen nicht selten an ihrem Protest zu­ grunde. Die Weltklugen schwindeln sich unbekümmert durch.

Es ist traditionelle Anschauung, unentwickelt sei identisch mit roh, unkultiviert, moralisch schlecht. Die Beobachtung von ursprünglichen Gesellschaften legt die Annahme nahe, daß es neben dem überall anzutreffenden Dominanzstreben auch Kooperationsbereitschaft und Verantwortlichkeit gibt, so gut wie in unserer Christenwelt. Gerade in den Ländern, in denen die meisten Menschen noch weitgehend familiengebunden sind, dominiert die gegenseitige Verpflichtung. Das kann so weit gehen, daß das geringe Einkommen kleiner Kinder die einzige Geldquelle ist, eine Mühe, der sich die Kleinen be­ reitwillig unterwerfen. Das Wissen, daß es bei Tier und Mensch neben den Trieben die Anlage zu Triebhemmungen bzw., daß es eine spontane Neigung zu sozialem Verhalten gibt, die das Miteinander erst ermöglichen, hat in das Durchschnittsdenken, leider auch in die Wissenssubstanz der Geisteswissenschaften, noch wenig Eingang gefunden. Die tiefenpsychologische Erfahrung bestä­ tigt die Beobachtungen der Tierpsychologie, daß den sozialen Restriktionen eine innere Bereitschaft zur Befolgung entge­

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genkommt. Die erbmäßig angelegten Triebhemmungen hel­ fen dem Einzelnen in der Gemeinschaft geborgen zu bleiben. Sie begünstigen weniger das Individuum als vielmehr die Möglichkeiten des Genpools, sich in vielen Individuen aus­ zuprägen. Als Grundlage der Dressierbarkeit wurden sie ge­ genüber Mensch und Tier von altersher mißbraucht.

Es paßt nicht in den „Mainstream" des Denkens am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, so beharrlich an „das Gute" im Menschen, an seine sozialen Talente, zu glauben. Zu allen Zeiten wurde über die schlechte Welt geklagt, als wäre der Klagende damit besser.

Eine der Tiraden gilt der Ichbezogenheit in der Massengesell­ schaft. Ohne ihre negativen Aspekte leugnen zu wollen, soll­ ten doch die positiven Möglichkeiten gesehen werden: In kleinen geschlossenen Gemeinschaften pflegt die soziale Kontrolle individuelle Entfaltungsmöglichkeiten einzuengen. In einer Großstadt gibt es für den Einzelnen mehr Freiheit als in einem Dorf. Es besteht die Möglichkeit, sich soziale und kulturelle Nischen für individuelle Neigungen zu suchen. Die Bewohner in Dorf oder Kleinstadt sind auf ein schmales An­ gebot angewiesen, wenn sie sich nicht auf sich selbst zurück­ ziehen und Diffamierung riskieren wollen. Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft entlarvt sich als ein Scheingegensatz. Es geht darum, ein Gleichge­ wicht zwischen dem legitimen Bedürfnis, für sich zu sein und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft herzustellen, eine Balance zwischen beiden Notwendigkeiten zu finden. Der Mensch braucht beides: Gemeinschaft, an der er sich bildet und Ein­ samkeit, in der er die Eindrücke verarbeitet. Die Gemein­ schaft braucht das Individuum, so wie das Individuum die Gemeinschaft braucht. Alleinsein und Gemein-sein ergänzen sich wie Ein- und Ausatmen.

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Kurzfassung: Gesellschaftliche Organisation macht Triebopfer bis zu einem gewissen Grade notwendig, ohne daß sie krankmachend sein müssen. Erst durch die Eskalation zu übertriebener Unterdrückung ent­ wickelt sich die Gesellschaft zum Feind des Individu­ ums. Der Einzelne und die Gesellschaft sind aufeinan­ der angewiesen.

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Norbert Elias, „Prozeß der Zivilisation", I. Vorwort v. 1968. Elias nimmt an, daß die Entwicklung zum abgeschlossenen Individuum mit der Re­ naissance einsetzt, parallel zu einer verstärkten Affektkontrolle. Nietzsche ging es um die Höherentwicklung der Persönlichkeit. Sigmund Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse", Ges. Werke, Bd. XIII, Fischer 1940, S. 76 ff. „Wir hatten längst behauptet, der Kern des sogenannten Gewissens sei,soziale Angst'* Amitai Etzioni, „A responsive society*, Jossey-Bass 1991, S. 138: „If metaphors help, instead of building on one cornerstone, we start with a human arch: the constituent units and the combined pattern shape and sustain one another. Without the arch it is but an ephemeral concept. In short, ... the I and the We require one another, ..." Deutsch: Um mit ei­ ner Metapher zu sprechen: statt auf einem Eckstein aufzubauen, begin­ nen wir mit einem menschlichen Bogen. Diese Kombination formt und stützt sich gegenseitig. Ohne Bogen sind die Steine nur ein Abfallhaufen, ohne die Steine ist der Bogen nur ein überflüssiges Konzept. Kurz: ... Ich und Wir brauchen sich gegenseitig." Übersetzung von der Autorin. Theodore Lidz, „Familie und psychosoziale Entwicklung", Fischer 1993 Rene Spitz, „Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen" Neuaufl., Klett-Cotta 1992; „Nein und Ja" und „Vom Säugling zum Kleinkind" bei­ de Neuaufl., Klett-Cotta 1996 Lawrence LeShan, „Psychotherapie gegen den Krebs", Klett-Cotta 1976 Freud, „Massenpsychologie", Bd. XIII, S. 78/79 (über Le Bon) Erich Follath, „Geil auf Gewalt", Rasch und Röhring 1991 Der Gedanke des Streiks hat ein ehrwürdiges Vorbild: Die Auflehnung der versklavten Juden gegen den Pharao unter Moses, die schließlich zum Auszug aus Ägypten führte. Mit dem den beiden Dichterfürsten Goethe und Schiller zugeschriebenen Epigramm „Gerne dient ich den Freunden, doch tu ich es leider aus Nei­ gung, daher wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin." wandten sie sich ironisch gegen den kategorischen Imperativ Kants. Anand Nayak in „Bhagavadgita"; Übersetzung Sri Auobindo, Herder Spektrum 1992 Als bekannteste Form sei der Waschzwang angeführt. Man studiere die frühen buddhistischen Sutren, in denen immer wieder auf den Unfug der Opferhekatomben hingewiesen wird, die zur Zeit der Entwicklung des Buddhismus aus dem Hinduismus Brauch geworden waren. Auch die Opferriten der Azteken wurden im Lauf der Zeit immer übertriebener. Gerade die sexuellen Verbote scheinen deshalb besonders widersinnig, weil sie nicht der goldenen Regel entsprechen: „Was Du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu."

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Die politische Instrumentalisierung unbewußter Prozesse Seit jeher sind irrationale Vorstellungskomplexe politisch wirksam und wurden, meist intuitiv, auch ausgenutzt. Heute gelingt dies bewußt und gezielt mit Hilfe von Werbefachleu­ ten, die sich auf die Voraussetzungen der Massenpsyche ver­ stehen.1 Sie verkaufen geschickt und teuer ihr Wissen, wie Massen verführt werden können und machen damit Politiker zu Sklaven der Geldgeber. Vorläufig erfahren wir nur die korrumpierenden Auswirkungen dieser Fertigkeiten. Dasselbe Wissen, daß Wahlen manipulierbar sind, sollte es ermögli­ chen, sozialen Spannungen durch verstehbare und anspre­ chende Aufklärung vorzubeugen und durch frühzeitige Re­ formen zu begegnen. Kollektive Ideenkomplexe sind nicht grundsätzlich negativ, sowenig wie Triebe an und für sich gut oder böse sind, sondern einfach Lebensenergie.

Geschwisterrivalität Politiker sind in Gefahr, daß ihre sehr persönlichen Gefühle, ihre Kindheitserfahrungen und -träumen die Beurteilung poli­ tischer Vorgänge beeinflussen. Persönliche Rivalitäten wer­ den, als Sachdiskussionen getarnt, ausgetragen wie einst in der Familie, auf dem Schulhof. Sogar im Verhältnis von Staa­ ten entwickeln sich Interpretationen, als handle es sich um die Rivalität naher Geschwister, ja um die von Zwillingen im Mutterleib. Gefährdungen werden übertrieben, Spannungen *so dargestellt, als wären sie lebensbedrohend, während für die Bevölkerung keine ernsthafte Beeinträchtigung vorzu­ liegen braucht. Das Gedeihen eines Staates wird als Gefahr für den anderen gesehen. Individuelles unreifes Konkurrenz­ verhalten wird in die politische Situation hineininterpretiert. Das Volk läßt sich in der Teilhabe am Kampf der verschie­ denen Protagonisten von diesem Spiel faszinieren, während seine wirklichen Interessen nicht wahrgenommen werden. 171

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Die Bürger von UdSSR und USA machten während des Kalten Krieges das Rivalitätsdenken bereitwillig mit.2 Dabei scheinen sich nicht einmal die wirklich Armen die Frage gestellt zu haben, ob die ehrgeizigen Raumfahrt- und Rüstungspro­ gramme dem Durchschnittsbürger etwas nützten, noch weni­ ger, ob sie für die Sicherheit des Staates notwendig waren. Was hatte der kleine Mann davon, wenn der erste Mensch auf dem Mond einer der ihren war? Sie hatten, statt Brot, eins: es stärkte ihr Selbstgefühl, dem angeblich größten Volk anzuge­ hören. Die Erfolge stillten wederden Hunger, noch verschaff­ ten sie den Armen ein Dach über dem Kopf, noch unterstütz­ ten sie das in der US-Verfassung geforderte Recht, sein Glück zu machen.

Die identifikatorische Teilhabe bestärkt die Politiker in ihrer Richtung, macht sie aber nicht ideenreicher. Gern folgt insbe­ sondere die Jugend dem pubertären Bedürfnis zu kämpfen um des Kämpfens willen, wie wir es, vergröbert, in den Kleinkrie­ gen der Fußball-Hooligans erleben. Die Beobachtung ver­ stärkt die Vorstellung, daß in jedem ein Zwang zur Rivalität, ein unüberwindlicher Antrieb zum Wettbewerb wirksam ist. Er ist nur nachteilig, wenn er übers Ziel hinausschießt und nicht dem Wohl des Gemeinwesens dient.

Kämpfe feindlicher Brüder sind ein uraltes Thema der Weltli­ teratur, von der großen Dichtung bis zum Bauerntheater. Wir kennen sie als Streit zwischen Kain und Abel, zwischen Is­ mael und Israel3 oder zwischen den feindlichen Vettern der Bhagavadgita. Gerade Bevölkerungsgruppen, die sich wie Geschwister oder Halbgeschwister biologisch und kulturell wenig unterscheiden, sind in ewig unstillbare Auseinander­ setzungen verwickelt, uns heute vertraut für Nordirland, für das Baskenland, für Palästina, für Jugoslawien. Natürlich wer­ den die Differenzen mit objektiven Interessenkonflikten be­ gründet, wird wirtschaftliche und kulturelle Unterdrückung beklagt, werden Kompromisse als Verrat verworfen. In der Wahrnehmung der Zuschauer sollte eine vernünftige, leiden­ schaftslose Behandlung der Streitfragen möglich sein. Die verstrickten Parteien können aus ihrem Lagerdenken nicht herausfinden.4 Das Rivalisieren scheint so selbstverständlich, 172

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daß es befremdet, wenn man es hinterfragt. Nicht nur die Großmächte, auch Staaten, die es sich viel weniger leisten können, veranlassen Prestigebauten oder stürzen sich womög­ lich in Rüstungsausgaben und Kriegsabenteuer, statt mit Hilfe ihrer Ressourcen den sozialen Frieden zu sichern. Kleine Staaten, die sich keine teueren Kriege leisten können, finden andere Wege. Die arme Schweiz, der ursprünglich alles fehl­ te, was Begehrlichkeit hätte erwecken können, besetzte ähn­ lich wie die heimatlosen Juden wirtschaftliche Nischen und wurde beneidenswert reich.

Vaternachfolge Die große Masse hat ein Bedürfnis, sich unter einer starken Persönlichkeit wie Kinder unter einem Vater zusammenzu­ scharen und sich unter Vermeidung eigener Initiative alles Heil von folgsamer Unterordnung zu erwarten. Die Wähler suchen jemanden, nach dem sie sich ausrichten können, der die Situation zu überblicken scheint und energisch bestimmt, was zu tun ist, statt daß sie ihre Möglichkeiten als Bürger und Wähler wahrnehmen. In den globalen Turbulenzen, die dem Zusammenbruch des Sowjetreiches auch im Westen folgten, wurde von unbesonnenen Journalisten genau so wie von der Bevölkerung die Fähigkeit zu führen angemahnt. Schnell entschlossenes Handeln wurde verlangt, auch wenn keine Zukunftsvision in Sicht war. Selbst die unüberlegte Tat faszi­ niert mehr als das quälende Hin und Her des parlamentari­ schen Streites. Unter diesem Druck fühlen sich die Politiker bemüßigt, „Führungsstärke" zu demonstrieren, um die Wie­ derwahl zu sichern und agieren willfährig so, als wären sie Häuptlinge eines Familienclans.

Meinungskonvergenz Parallel zu der Neigung, politische Großvorgänge wie Geschwisterrivalitäten zu interpretieren und zu dem Bedürfnis nach Führung vollzieht sich eine Angleichung der Meinun­

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gen, notwendige Folge des Verzichts auf eigenes Urteil. Mei­ nungskonvergenz ist selbst in zufällig zusammengewürfelten, neugebildeten Gemeinschaften zu beobachten. Es ist bekannt, daß sich zwischen Partnern, in Familien ein Kodex der An­ sichten entwickelt, eine „Familienmythologie". Nonkonformi­ sten werden, aus dem unbewußten Bedürfnis nach Einheit, insbesondere wenn eine Gefährdung phantasiert wird, abge­ drängt; es entwickelt sich Meinungsterror. Nur wenige wagen zu widersprechen. Je größer die Gruppe, umso größer ist der Zwang, um der Einheit willen individuelle Meinungen zu unterdrücken. Das schließt eine allgemeine Primitivisierung, eine Regression ein. Die differenzierte, nüchterne Beurteilung von Tatsachen, von Lösungsvorschlägen, ist nicht mehr mög­ lich und erst recht nicht das Einbringen ungewohnter Betrach­ tungsweisen. Die unausgesprochene Unterdrückung der freien Meinungs­ äußerung gibt den Kreativen das Gefühl, in einem derartigen Milieu keine Perspektiven zu haben. Die Ausgrenzungsten­ denz um der Vereinheitlichung willen hat den fatalen Erfolg eines „braindrain" - eines Verlustes an innovativen Begabun­ gen - die gerade wichtig wären, um die flexible Anpassung an wechselnde Bedingungen zu verbessern. Staatlich oder kirchlich verordnete, sekundär verinnerlichte Unterordnung unter die herrschende Ideologie steigert die unbewußte Ag­ gressivität und soziale Instabilität, die schließlich zu Gewalt­ anwendung verführt. Die Vereinheitlichung des Meinens (es ist kein Denken) ver­ stärkt sich dadurch, daß die Situation als Paradigma eines quasi-mythischen Konflikts erlebt wird, etwa als Kampf über­ persönlicher Prinzipien: Licht und Dunkel, Gott und Satan. Damit werden intensive Gefühle angesprochen, eine wir­ kungsmächtige Erscheinung, die noch wenig untersucht ist. Wenn es gelingt, durch Erwecken archaischer Vorstellungs­ komplexe eine weitgehend übereinstimmende Auffassung von Ereignissen zu erzeugen, so kann das gemeinsame Emp­ finden eine politische Macht werden. Der seltsam erhebende Rausch der Gemeinsamkeit, geweckt durch mythische Bilder, ist verbunden mit heiligen, erhabenen Vorstellungen. Er wird

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leidenschaftlich verteidigt und kann zu einer politischen Macht werden. Es sind immer Vorstellungen aus der Vergan­ genheit, während progressive Ideen kein Echo erwecken, ganz einfach, weil sie nicht verstanden werden, weil der Adressat nicht an Ur-Bekanntes anknüpfen kann.5 Gegenüber den Nachteilen von Vaternachfolge und Mei­ nungskonvergenz dürfen ihre Vorteile nicht übersehen wer­ den: sie sind Grundlage für eine Bündelung der Ziele für ein gemeinsames Vorgehen, Vermeidung der Zersplitterung.

Die Feindbildprojektion Es wurde in früheren Kapiteln6 gezeigt, wie die Neigung, das Verdrängte auf einen äußeren Feind zu projizieren, eine klei­ ne Gemeinschaft zu einer wehrhaften Einheit zusammen­ schweißt. So weit, so gut. Es lädt aber die irrationale Bereit­ schaft, eine andere Gruppe als Inbegriff alles Bösen hochzu­ stilisieren zum Mißbrauch ein. Sie bietet sich als treffliches Mittel an, um von politischen und sozialen Mißständen abzu­ lenken. Besonders gefährlich ist es, wenn suggeriert wird, ein übermächtiger Feind bedrohe die Gemeinschaft, es gelte, zusammenzustehen, um ihn zu vernichten. Man malt den Teufel an die Wand mit dem Ziel, alle Kräfte in eine Richtung zu lenken. Kritik ist Verrat. Tatsächliche Mißstände werden als unbedeutend hingestellt. Ungelöste Konflikte finden eine Scheinlösung, indem die Ursache der Unzufriedenheit drau­ ßen ausgemacht, auf einen „Feind" gerichtet und schlimm­ stenfalls ein Krieg angezettelt wird. Es ist nicht unbedingt ein Propagandaministerium oder Public-Relations-Office notwen­ dig, um Sündenböcke ausfindig zu machen: die Neigung zur Feindbildprojektion besorgt dieses Geschäft mit wenig Mühe. Es ist offensichtlich, daß sich diese, teilweise schon in den früheren Kapiteln geschilderten vier Tendenzen gegenseitig bedingen und durchdringen. Sie können durchaus auch bei Völkern auftreten, die durch einen längeren Demokratisie­ rungsprozeß hindurchgegangen sind. Die archaischen Vor­ stellungskomplexe scheinen bei allen Menschen vorzukom­

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men. Es spricht einiges dafür, daß sie menschheitstypisch und genetisch vererbt sind? Jeder Mensch, auch der hochdifferen­ zierte, kann vorübergehend oder längerdauernd auf eine pri­ mitivere Stufe regredieren, d.h. dann u.U. von kollektiven Ideen bestimmt sein. Da sich das Ich mit dem Bewußtsein identifiziert, wird der Sog von Reaktionsweisen gemeinhin unterschätzt.

Kurzfassung: Unbewußte Ideenkomplexe, die die ge­ schichtlichen Abläufe beeinflussen, können in ver­ schiedener Hinsicht politisch instrumentalisiert wer­ den: durch Ansprechen der Neigung zur Geschwisterrivalität, in Ausnutzung des Bedürfnisses nach Abhän­ gigkeit, durch die Neigung zu Meinungskonvergenz und schließlich durch Erzeugung eines Feindbildes. Sie wurden, unreflektiert, immer wieder für Macht­ erwerb eingesetzt. Die vier Bereiche bilden ein Inter­ aktionsnetzwerk, sie überlappen und ergänzen sich gegenseitig.

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Anmerkungen 1 Bill Clinton engagierte für seinen zweiten Präsidentenschaftswahlkampf 2

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einen Werbefachmann, Dick Morris, der bei der vorherigen Wahlperiode in Diensten der Opposition gestanden hatte. Die USA und die frühere UdSSR, beide reich und riesig und ohne ge­ meinsame Grenzen, hatten vor den Weltkriegen keine schwerwiegenden Interessenkonflikte. Während des Kalten Krieges sahen beide im Anderen den Erzfeind, scheinbegründet durch die jeweiligen Ideologien. Der Kon­ flikt wurde in dem Sinne gedeutet wie es 2500 Jahre vorher Zoroaster in seiner Weitsicht als Kampf des Lichtes gegen die Finsternis getan hatte. Zur Zeit breitet sich weltweit wieder ein unnötig rivalisierendes SchwarzWeiß-Denken aus: in den aufstrebenden Staaten des Fernen Ostens so­ wie in den früheren Kolonialstaaten wird der Westen als der Inbegriff al­ les Bösen dargestellt, dabei aber, paradox darauf hingewiesen: Alles, was ihr habt, haben wir auch, und sogar noch besser, größer, üppiger. Nicht jeder Westler möchte die Menschen des Ostens angesichts unserer Zivili­ sationsschäden dazu beglückwünschen. Israel und Ismael waren Halbbrüder, beide Söhne Abrahams. Ismael gilt als Stammvater der Araber, Israel als der der Juden. Es ist, als müßten sie wie unter Zwang ständig provozieren und den Haß schüren. Ein Teilgrund besteht darin, daß sie nach generationenlangen Streitigkeiten nie etwas anderes erlebt und schlicht keinen Beruf erlernt haben. Gerade die Jugendlichen lassen sich von der Kampfeslust anstekken. Meine persönliche Vermutung ist, daß sie sich entwicklungsmäßig in einem Alter befinden, das historisch einer Zeit der Stammeskriege ent­ spricht. Hitler war in seiner Jugend durch markige Deutschtümelei beeinflußt, wie sie in dem halben Jahrhundert vor ihm in der wilhelminischen Ära dem Zeitgeschmack entsprach und als Wiedererweckung des Germanen­ tums gefeiert wurde. Er verstand es meisterlich, die rückwärtsgewandten, populären Ideen zu beleben und sich damit eine breite Gefolgschaft zu sichern. Wenn man Filme von Hitlers Reden sieht, ist man an die Schau­ stellung eines Schmierenkomödianten erinnert und wundert sich über seinen Erfolg. Damals gab es freilich kein Fernsehen, er konnte von der Mehrzahl nur im Radio gehört werden. Viele dämmerten bei dem ver­ ordneten Radiohören vor sich hin. Kapitel „Das Feindbild" Ich vertrete hier eine subjektive Anschauung, die der Verifizierung be­ darf.

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„Die Revolution frißt ihre Väter" Kollektive Regression Der Ausbruch von nationalem und religiösem Fanatismus nach der Auflösung des Sowjetreichs war nicht erwartet wor­ den. Man sah die sowjetische Großmacht samt Einflußsphä­ ren zunächst als eine Einheit (der Überzeugungen), in der, nach Jahrzehnten der Indoktrination, dieselben Antworten auf dieselben Herausforderungen zu erwarten wären. Nur ein paar Experten hatten differenziertere Vorstellungen. Die Er­ ziehung zum Sowjetmarxismus erwies sich je nach Gesell­ schaftsschicht und Region als sehr unterschiedlich in Tiefe und Nachhaltigkeit. Nach dem Verlust der bisherigen Sicher­ heiten, der bisherigen Identitäten griffen viele der desorien­ tierten Bürger zunächst auf frühere, nur schlummernde Wert­ vorstellungen zurück. Diese hatten, verschüttet unter der marxistischen Staatsreligion, weitergelebt. Auch der Kommu­ nismus verschwand nicht, sowenig wie zur Zeit des Stalinis­ mus die Machtstruktur der Zarenzeit überwunden war, son­ dern bei gleichzeitiger Verfälschung des kommunistischen Gedankenguts weiterbestand. Gerne möchte man hoffen, daß neben orthodoxer Gläubigkeit und Nationalismus auch das Denken der vornehmen liberalen Bewegungen des Rußlands der Jahrhundertwende wieder zum Leben erwacht.

Die Erscheinungen unmittelbar nach dem Zusammenbruch machten den Eindruck, als wäre das Volk für einige Jahre von einer allumfassenden Regression erfaßt. Der weitgehend kol­ lektive Prozeß erinnerte an die individuelle seelische Regres­ sion: nach Destabilisierung kommt es zu einem Rückgriff auf frühere, Sicherheit gebende Wertsysteme.

Das Erhaltenbleiben alter Vorstellungen ist aus vielen ge­ schichtlichen Beispielen bekannt. Man denke nur an die Ele­ mente aus germanischer und keltischer Vorzeit im abendlän­ dischen Christentum. Viele antike Vorstellungen wurden dem Urchristentum ebenso einverleibt, wie später solche der afri­ kanischen oder südamerikanischen Völker. Nach dem Auftre179

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ten Mohammeds lebte Gewalt und Willkür der vorislami­ schen Gesellschaftsordnung unter anderem Etikett weiter. Es gibt keine plötzliche Veränderung des Denkens aufgrund einer neuen Doktrin.

Nach der französischen Revolution, der Verkündung von Freiheit, Gleichheit, Solidarität gegen die Willkür der absolu­ ten Monarchen ließ sich das Volk von Napoleon begeistern, als er durch immer weiter greifende Feldzüge ein Reich wie das des Sonnenkönigs bzw. der römischen Kaiser zu schaffen versuchte. Die Vernunft war in der französischen Revolution auf den Thron gehoben worden, um die Macht von Kirche und Monarchie abzulösen, aber die begeisterte Identifizierung der Soldaten mit ihrem Kaiser widersprach jeder Rationalität. Die Faszination durch den rücksichtslosen Imperator wurde nicht nur von Volk und Armee, sondern zunächst auch von manchen europäischen Protagonisten in Gesellschaft und Kultur geteilt. Vordergründige Akklamation läßt nicht erkennen, daß sich das Denken nur langsam wandelt. Forcierte Versuche schei­ nen von reaktionären Gegenbewegungen gefolgt zu sein. So versuchte Kemal Ata Türk autoritativ die Türkei zu reformie­ ren, ähnlich wie Abdel Nasser Ägypten und später Reza Pahlewi den Iran. Sie konnten den Islam nicht beseitigen, ja, sie wurden wider Willen Wegbereiter eines trotzigen islamischen Fundamentalismus. Auch in Indien und China blieben nach Modernisierungsschüben bzw. nach dem Überstülpen eines Pseudo-Sozialismus oder Steinzeit-Kommunismus die alten weisen Weltdeutungen bestehen, zusammen mit törichtem Aberglauben.

Trotz der traumatischen Erfahrungen in der ersten Hälfte die­ ses Jahrhunderts und einer gezielten Demokratieerziehung überlebte bei der Masse der Deutschen lange ein staatsfrom­ mer Untertanengeist. Im 19. Jahrhundert, nach der französi­ schen Revolution war Nationalismus gleichbedeutend mit Selbsbestimmung des Volkes, wurde aber später zu peinlicher Deutschtümelei aufgebläht, ohne daß das Bewußtsein demo­ kratischer Freiheiten hätte allgemein Fuß fassen können. Das war der Boden, auf dem der Faschismus gedieh. Nach dem

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militärischen Zusammenbruch des Dritten Reiches blieben eingehende Belehrungen über Rechtsstaatlichkeit und Men­ schenrechte an der Oberfläche, das Volk wollte immer noch nicht souverän sein. Während das geschriebene Wort, von der Tagespresse bis zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen, den Eindruck vermittelte, daß von den Deutschen kein Auf­ flammen des faschistischen Gedankengutes zu befürchten sei, lebte es am Stammtisch ebenso weiter wie am Küchentisch. Die Presse spiegelte kaum wieder, daß in umfänglichen Be­ völkerungsschichten, sozusagen in einem sozialen Unterbe­ wußtsein, das Denken der Kaiser- und Nazizeit so wenig überwunden war, wie bei den europäischen Nachbarn ihr früherer Nationalismus oder der Antisemitismus. Einige hell­ sichtige Schriftsteller und Kabarettisten durchschauten die Vordergründigkeit der politischen Bekenntnisse. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herangewachsene Jugend protestierte als 68er Generation leidenschaftlich gegen diese inneren Widersprüche, sah sie ausschließlich als bewußten Betrug. Heute erleben wir wiederum in bestimmten Schichten eine Glorifizierung des Nationalismus.

Die kollektive Beschämung der Deutschen nach dem Zu­ sammenbruch des Hitlerreiches war verdrängt worden, statt sie durch Trauer, durch Eingeständnis der Scham über die Mitschuld als Sympathisanten oder gedankenlose Mitläufer zu bearbeiten.' Warum ist das bequeme Vergessen so gefährlich? Durch die Verleugnung der Mitverantwortung, der quälenden Schuld- und Schamgefühle fehlt der emotionale Ansporn zur Veränderung, zur übenden und reflektierenden Aneignung neuer Werte. Mangel an Information, Unterlassen des Mit­ denkens wird zur Schuld. Neue Konzepte werden nur aufge­ tüncht, ohne verarbeitet und verinnerlicht zu sein. Sie können in der Destabilisierung keinen Halt geben. Es erfolgt der Rückgriff auf Altvertrautes, das nun ein Identitätsgefühl ver­ mitteln soll. Wenn man diese Wiederkehr des Verdrängten2 beobachtet, ist man versucht, von kulturellem Wiederholungszwang3 zu sprechen. Die allgemein bekannte Beobachtung, daß sich alles erhält, ist beunruhigend und tröstlich zugleich, denn der 181

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Traditionalismus hat einen Vorteil: er dient als dämpfendes Widerlager gegen die übertreibenden Neuerungsversuche der Heißsporne.

Das Erhaltenbleiben alter Ideologien ist verbunden mit dem Weiterbestehen dazugehöriger sozialer Verhaltensweisen, so z.B. der Vorstellung des Abstands von Spitze und Basis, des größeren oder geringeren Neigungswinkels der sozialen Py­ ramide. Es wird nicht nur die Gewalttätigkeit der Eltern/ Her­ ren fortgesetzt, sondern auch ihr Kuschen und/oder ihre Ver­ stellung gegenüber Stärkeren. Derselbe Mensch, der in der „schwachen" Position nachgibt, verhält sich unnötig brutal in der Stellung des „Überlegenen". Es ist typisch für unsere Kultur, daß Nachgeben als Schwäche, Rücksichtslosigkeit als Stärke bezeichnet werden. Die Be­ zeichnungen für echte Stärke der Persönlichkeit, wie Stabili­ tät, Gleichmut, Gelassenheit, Festigkeit, wirken langweilig und unattraktiv. Nur zwei Rollen sind möglich, wer nicht Herr ist, kann nur Sklave sein. In dieser polarisierenden Denkweise ist kein anderer erstrebenswerter Platz in der Ge­ sellschaft denkbar als der ganz oben. Es besteht Blindheit dafür, daß der Herrscher dienen muß, daß mit dem Dienen des Untergebenen durchaus Einfluß verbunden sein kann. In unbewußter Nachahmung wird dieses Verhalten kulturell, das heißt nicht durch die Gene, vererbt. Erich Fromms Theorie von der verinnerlichten Gesellschaft beinhaltet, daß nicht nur die einzelnen gesellschaftlichen Rollen introjiziert werden, sondern die Gesamtstruktur der Gesellschaft in ihren jeweils spezifischen Ausprägungen einschließlich der Sozialpartner. Dadurch wird der Erziehungsstil und später die Kommunika­ tion zwischen Vorgesetzten und Untergebenen vorgeformt.

Wer hilflos direkter Gewalterfahrung ausgeliefert ist, kann in kindliche Abhängigkeit zurückfallen. Der Freudschüler und Kinderpsychiater Bruno Bettelheim schildert eine besonders extreme Form von Infantilisierung durch Gewalt: Als KZHäftling beobachtete er, wie es bei einigen seiner Leidensge­ nossen, die schon eine längere Haft hinter sich hatten, zu einer Desintegration der Persönlichkeit kam, bei der sie eine kleinkindhafte Abhängigkeit von den Wachen entwickelten. 182

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Sie übernahmen die Wertvorstellungen der Nazis selbst dann, wenn es ihnen schadete.4 Es drängt sich der Eindruck auf: was die jeweils Mächtigen vorleben, hat für unfertig Gebliebene oder wieder zu Kindern Gewordene dieselbe suggestive Überzeugungskraft wie einst das Vorbild der Eltern. Sklaven übernehmen die Werte ihrer Herren und reproduzieren, zur Macht gekommen, die gleiche Strenge, die sie einst bedrückte. Sie verlangen dieselbe Un­ terwürfigkeit, unter der sie selbst ursprünglich litten. Wer ausschließlich in Vorstellungen von unten und oben soziali­ siert wurde, nimmt das Erdulden von Gewalt zum Anlaß, sie selbst wieder anzuwenden.

Wenn revolutionäre Kämpfer gegen Gewalt, zur Macht ge­ langt, sich zu Autokraten entwickeln, muß das als sehr ver­ wirrend, ja als extrem schändlich empfunden werden. Die Rebellen gegen Unterdrückung haben in ihrer Kindheit genau so wie die Mächtigen eine Sozialstruktur extremen Gehor­ chens und Befehlens verinnerlicht. Alle sind sie Gefangene einer Gewaltbereitschaft, die zu einem Teil ihrer psychischen Struktur wurde. Nur wenige können sich nach einem Prozeß schmerzlicher Selbstbesinnung davon freimachen. Sie wurden früh, weitgehend präverbal oder nonverbal von den Vorstel­ lungen geprägt, die sie später bekämpfen. Deshalb kehrt so oft in der Geschichte das Alte in neuen Kleidern wieder. Die Revolution frißt ihre Kinder, die Rebellen gegen die Unfrei­ heit verraten ihr Freiheitsversprechen. Sie haben in ihren tiefsten, unbewußten Seelenschichten die Unterdrückung ihrer frühen Jahre bewahrt, dieselbe Unterdrückung, gegen die sie als Herangewachsene kämpfen. Die hochgemuten Reformansätze versickern, tiefe Enttäuschung macht sich breit, die Neuerungen sind entwertet. Es ist nur schwacher Trost, daß sich die Restauration nicht auf Dauer halten kann, weil auch die echten, die ursprünglich neuen Vorstellungen bei einem Teil der Bevölkerung verinnerlicht wurden. Es ent­ steht der Eindruck: Es blieb bei äußerlicher Nachfolge. Später übernimmt die Jugend trotzig wieder die verpönten Vorstel­ lungen, gegen die die Väter zu kämpfen vorgaben: Die Revo­

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lution frißt auch ihre Väter. Die Kinder mißtrauen ihnen we­ gen des Verrats ihrer Ideale und wenden sich von ihnen ab. Während die nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Genera­ tion des Westens dagegen rebellierte, daß die Väter die Ideale von Demokratie und Menschenrechten nur auf den Lippen trugen, statt sie zu verwirklichen, beleben die fünfundzwan­ zig Jahre Jüngeren verpönte nationalistische Vorstellungen. In Untersuchungen über Hooligans und Skinheads wurde festge­ stellt, daß sich die jungen Leute mit Vorliebe an den Kriegser­ zählungen und Heldenideen der Großväter begeistern. Sie zweifeln an den Vorstellungen der Eltern und greifen auf vor­ herige Konzepte zurück, ganz ähnlich wie die Sowjetmen­ schen in den turbulenten Jahren nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks.

Die nach dem 2. Weltkrieg von den westlichen und von den sowjetischen Besatzungsmächten geförderten Lernprozesse einerseits in Demokratie, andererseits in dialektischem Mate­ rialismus drangen in der Mehrzahl der Fälle nicht bis in die Tiefe der Persönlichkeiten. Die Eltern hatten höchstens vor­ dergründig, manchmal scheinheilig den Faschismus abge­ streift. Die Provokation ihrer Kinder ist unklarer Protest, der die Alten mit der Nase auf ihre eigenen Verdrängungen stößt, sie nonverbal beim Wort nimmt. Sie agieren das aus, was die Älteren in bewußtem oder unbewußtem Opportunismus un­ terdrücken. Die Jugendlichen ahmen ungewollt das Verhalten nach, das ihnen in innerem Widerspruch zu den Lippenbe­ kenntnissen vorgelebt wird. Die Eltern haben sich nie wirk­ lich mit den Gründen der Ablehnung auseinandergesetzt. Das überwunden Geglaubte kehrt in den Kindern wieder. Regression auf Überlebtes, jugendlicher Protest, überhaupt das Wechselspiel von Revolution und Restauration sind ein Schwanken zwischen Gegensätzen, ein Prozeß, der im ewi­ gen Hin und Her fortschreitet zwischen sich widersprechen­ den Übertreibungen und Verfälschungen, ein Vorwärtsrollen und Zurückgleiten wie Meereswellen in der Brandung. Das alte Neue kehrt wieder, die Ideen leben weiter, auch wenn sie unterdrückt wurden, ja vielleicht gerade deshalb. Die mentale Entwicklung ist kein fließender Vorgang, eher ein 184

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Stop and Go: nach langer Stagnation ein plötzlicher Durch­ bruch, dann wieder Stillstand, ja Rückfall. Leider kann es, wie bei der individuellen psychischen Reifung, Abbrüche, Regres­ sion zu unfertigen Entwicklungsstufen, unter Umständen ohne Regeneration geben. Der langsame Fortgang enttäuscht: ein Schritt nach links, einer nach rechts, einer nach hinten, zwei nach vorn, wie bei der oft beschworenen Echternacher Spring­ prozession. Die Menschheit taumelt auf dem Fortschrittsweg dahin wie betrunken. Viele fallen, manche bleiben liegen.

Kurzfassung: Das Erhaltenbleiben alter kulturimma­ nenter Vorstellungen wird verhüllt durch oberflächli­ che Denkmoden. Wirkliche Veränderungen des Den­ kens beanspruchen Generationen. Gewalt hat kaum Einfluß auf die Mentalitätsentwicklung.

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Anmerkungen Alexander u. Margarete Mitscherlich, „Die Unfähigkeit zu trauern*, Buchklub Ex Libris, Zürich 1967 2 Thea Bauriedl, „Die Wiederkehr des Verdrängten*, Piper 1986 3 Der in der Psychoanalyse geprägte Begriff „Wiederholungszwang* be­ zieht sich auf unbewußte, zwanghafte Wiederholungen des individuellen Verhaltens, nicht auf die Vererbung von kulturellen Grundkonzepten an die nächste Generation. Diese Prozesse sind nicht identisch, hängen aber zusammen. Die Regression auf ältere Denkformen findet deshalb statt, weil ihre Strukturen früh verinnerlicht wurden und dadurch besonders tief eingeprägt sind. 4 Bruno Bettelheim, „Erziehung zum Überleben. DVA 1980, S. 85: „Infan­ tile Abhängigkeit von den Wachen.*, S. 88: ... Persönlichkeit derart ver­ ändert, daß sie sich nunmehr sogar manche Wertvorstellungen der SS zu eigen gemacht hatten. S. 89: Alte Gefangene, die sich schlimmer aufführ­ ten, als die SS, waren keine Seltenheit. ... sie integrierten Nazi-Ideologie in ihr eigenes Handeln. Situationen, in denen die alten Gefangenen bru­ tale Härte zeigten. ...sie versuchten Teile von alten SS-Uniformen zu er­ werben, ... nähten und flickten ihre eigenen Uniformen zurecht. S. 90: ... akzeptierten auch Wert- und Zielvorstellungen der Nazis selbst dann, wenn es ihren eigenen Interessen zuwiderlief ...*

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Reform versus Revolution Es ist nicht zu übersehen, daß die Jugend Hauptinitiator von Revolution ist. Junge Menschen sind noch nicht blind und taub geworden für die Verlogenheit unserer sozialen und politischen Wirklichkeit. In den Turbulenzen, in der Verunsi­ cherung der Pubertät erleben sie die Widersprüche der Ge­ sellschaft, die zugedeckten Konflikte besonders akzentuiert.

Je mehr sich Gemeinschaften vergrößern, sich zu Großfami­ lie, Stamm, zu Stadt und Staat erweitern, umso weniger wirkt unmittelbare soziale Kontrolle, umso mehr Regelung ist nötig. Es muß aber auch, je größer die Sozietäten werden, umso größer der Abstand zu den Autoritäten sein. Die Distanz scheint Überlegenheit zu verbürgen. Näheres Hinsehen of­ fenbart, daß Rang und Fähigkeiten sich selten entsprechen, daß die Autoritäten überschätzt wurden. Vielen mag es gehen wie dem jungen Marx, der sich als Wahlspruch erwählte: „De omnibus est dubitandem!" („Zweifle an allem!"). Er lehnte sich zuerst gegen seinen liberal denkenden Vater, dann gegen viele seiner geistigen Väter, vor allem Hegel, dann immer wieder gegen sozialistische und kommunistische Führer auf. Er wandte sich gegen die Idee evolutionärer Entwicklung; Revolution schien ihm unvermeidlich.

Die Überzeugung, nur Revolution, nur Gewalt könne helfen, entsteht aus dem Eindruck, die sozialen Zwänge seien so unwandelbar rigide, daß sie sich nicht biegen lassen, daß sie zerbrochen werden müssen. Es besteht kein Zutrauen in Ent­ wicklungsmöglichkeiten. Der Jugendprotest verbirgt einen Gewissenskonflikt, denn trotz der Auflehnung blieben, ver­ drängt, bei den Revoltierenden die verinnerlichten Zwänge bestehen. Wenn, übers Ziel hinausschießend, das als geheiligt Geltende wütend in Frage gestellt wird, ist das unter anderem ein Kompensationsversuch der unvermeidbaren inneren Un­ sicherheit dieser Lebensphase und des Nachwirkens der frü­ hen Prägungen. Es wird fälschlich angenommen, durch die Erschütterung der äußeren Verhältnisse könnten auch die Vorstellungen erschüt187

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tert werden. Diese leben, unartikuliert, dennoch weiter. Da­ neben regen sich neue Gedanken, setzen sich auch ohne massive Änderungen, geschweige denn mittels physischer Zerstörung durch. Gewaltsame Einflüsse können den Fort­ schritt des Denkens kaum beschleunigen oder bremsen. Nachdem das Christentum zur Staatsreligion erhoben worden war, nachdem Päpste versucht hatten, weltliche Macht durch Vereinheitlichung des Glaubens zu befestigen, begann die Erstarrung in Dogmatismus. Trotz Verbots kamen die Zweifel an bestimmten Konzepten, etwa der Eucharistie oder der Jungfrau-Geburt, obwohl nicht populär, nie ganz zum Ver­ schwinden.

Ideen können nicht mit Gewalt etabliert werden und Geistes­ kraft wirkt nicht nur in den Schaltstellen der Macht. Trotz inhumaner politischer Bedingungen haben sich die Gedanken des Humanismus und der Menschenrechte seit der Mitte des zu Ende gehenden Jahrtausends in breiteren Volksschichten ausgebreitet. Auch ohne machtvolles Einwirken setzen sich Ideen fort. Im 19. Jahrhundert konnte eine maßvolle Sozial­ demokratie, obwohl sie wenig administrative Macht hatte, für die Arbeiterklasse mehr Lebensqualität erreichen als radikale Bewegungen. Die Grünen der achtziger Jahre bewirkten, obwohl sie nicht in der Regierung und nicht einmal dauernd im Parlament vertreten waren, daß sich alle Parteien, viele Staaten, ihre Warnungen zu eigen machten. Gedanken setzen sich ohne äußere Macht durch: aber es dauert für ein Menschenleben quälend lang. Die Revolutionä­ re wollen noch zu Lebzeiten die neuen Ideen verwirklicht sehen. Der träge Fluß der Bewußtseinsveränderung macht sie ungeduldig. Ohne Vertrauen auf die Macht des Denkens wünschen sie sich einen Agitator, der durch tatkräftiges Han­ deln eine Zeitenwende herbeiführt. Auch die Masse ersehnt sich jemanden, der energisch das Ruder herumreißt. Die De­ legation an ihn soll eigenes Bemühen um Veränderung über­ flüssig machen. Damit ändert sich nichts. Es ist verhängnisvoll, daß diese Sehnsüchte dem Machthunger und den neurotischen Größenideen angehender Volkstribu­ nen entgegenkommen, die in den Wirren eines Umsturzes 188

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ihre Chance wittern. In der Destabilisierung benutzen sie die traditionellen Machtinstrumente, an die alle, ganz gleich wel­ cher Gesellschaftsschicht sie angehören, von altersher ge­ wohnt sind: Gewalt, aktiv ausgeübt und passiv akzeptiert. Unter neuer Überschrift kommt es zu einem Wiedererstehen der früheren Herrschaftsstrukturen. Die Ideen der Freiheit bleiben Lippenbekenntnisse. Wenn sich wirklich das Denken ändert, war der Boden Jahr­ hunderte vorher bereitet. Die gängige Überzeugung, es seien Einzelne, welche die umstürzenden geschichtlichen Ereignis­ se bewirken, ist nur halb wahr. Es ist die langhaltige Gärung des Bewußtseins, die die Veränderung bewirkt. Später werden Symbolträger des Wandels gekürt, aber auch dann braucht es Generationen, bis die eigentliche Revolution des Denkens, der Paradigmenwechsel sich vervollständigt. Der Emanzipati­ onsprozeß der Aufklärung ist heute noch nicht abgeschlossen. In Wellenbewegungen zeigt sich das Neue und verschwindet wieder. Revolution und Restauration wechseln sich in immer neuen Schüben ab. Obwohl nach der französischen Revolution 1789 das unge­ duldige Volk die Häupter von König und Königin forderten, jubelte es, als sich 15 Jahre später Napoleon die Kaiserkrone aufsetzte. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde Zar Niko­ laus mit seiner Familie ermordet, 12 Jahre später konnte Stalin eine Alleinherrschaft etablieren, die an Schrecklichkeit dieje­ nige von Zar Iwan dem Schrecklichen übertraf. 15 Jahre nach der Abdankung des deutschen Kaisers errichtete Hitler sein „Drittes Reich". Das Volk machte mit und lief, gewöhnt an Subordination, dem neuen Souverän nach, so, wie es vorher dem Alten gehorcht hatte.

Die Menschen blieben nach wie vor innerlich unfrei. Das Volk ist nicht ganz unschuldig, wenn sich die Verhältnisse gleich bleiben. Fast alle wollen im gewohnten Trott beharren, den vertrauten schlechten Gewohnheiten treu bleiben. Sie finden es mühsam, äußeres Verhalten und Denkgewohnhei­ ten abzulegen und sich neue Ideen in ihrem eigentlichen Gehalt anzueignen. Sie ähneln darin den Neurotikern, die sich unbewußt dagegen wehren, selbstschädigendes Verhal189

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ten aufzugeben, auch wenn es plausibel erscheint. Die Unlust zur Veränderung wurde von Freud als Widerstand bezeich­ net. Die Kranken benehmen sich im Widerspruch zu ihren bewegten Klagen so, als würden sie lieber an ihrer ungesun­ den Gewöhnung, ihren belastenden Symptomen festhalten, als sich auf Unbekanntes einzulassen. Das Vertraute, auch wenn es Krankheit bedeutet, wird dem Neuen, welches Hei­ lung sein könnte, vorgezogen. Die heimliche Restauration nach einer Revolution ist möglich durch die unausgesprochene Zustimmung der schweigenden Mehrheit, die halb wissentlich kooperiert und den vorrevolu­ tionären Zustand zu etablieren hilft. Es wirkt unterstützend, daß in Verwaltung und Wirtschaft auf die alten Fachkräfte und auf die vorhandenen Organisationsstrukturen zurückge­ griffen werden muß. Das Duo Sklavenmentalität und Macht­ komplex, in den Familien und kleinen sozialen Gruppen eingeübt, charakterisiert weiter eine vom Primat der Macht gekennzeichnete, verinnerlichte (Un)-Kultur, die durch die bloße Verkündung umstürzender Ideen nicht beseitigt werden konnte. Man tut den politischen Führern unrecht, wenn man das Scheitern der Reformen allein ihrer Machtgier, ihrem bösen Willen oder ihrer Unfähigkeit zuschreibt: das Volk wirkt mit. Der Grund liegt in der Erschütterung der vertrauten Identität infolge der Veränderung. Neuanpassung verbraucht seelische Kraft, erfordert die Mühe des Überlegens, Verstehens, Mer­ kens, Einübens, des mutigen Einforderns der Rechte. Die Abwehr des Volkes gegen Veränderung, andressierte Unselb­ ständigkeit, konservative Neigung, das Bewährte zu bewah­ ren, vielleicht magischer Glaube an von Gott dem Herr­ schenden verliehene Macht behindern Neuerungen. Das Be­ harrungsbedürfnis der Masse kommt dem Bedürfnis der Machthaber entgegen, sich an ihre Position zu klammern. Es wird als die sprichwörtliche Geduld des Volkes schöngeredet. Die unbewußte Zustimmung der Machtlosen, ihr Widerstand gegen Veränderungen festigt die Position der Mächtigen und verführt diese dazu, die vertrauten Machtinstrumente wieder und wieder einzusetzen. Ein bewußt vorangetriebener Erzie-

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hungs- und Übungsprozeß, der das neue Gedankengut ver­ breitet hätte, liegt nicht im Interesse der Oberen. Die revolutionäre Unruhe gibt den Mächtigen eine willkom­ mene Entschuldigung für Gewaltanwendung. Überstrenge Maßnahmen sind der letzte Ratschluß der ratlosen Machtha­ ber, durch die sie schließlich die Wurzeln neuen Aufruhrs legen. Zur Ablenkung von inneren Schwierigkeiten, von Mißwirtschaft und Versäumnissen, wird unter Umständen Gewalt nach außen, Krieg angezettelt. Die Massen lassen sich leider bereitwillig zu Kriegsleidenschaft wie zu einer gefährli­ chen Droge verführen. In den Jahren der Lähmung unter Bre­ schnew vor dem endgültigen Zusammenbruch des Sowjet­ imperiums bot schließlich die Instabilität in Afghanistan einen Anlaß, unter Nutzung des angehäuften Waffenpotentials von den inneren Spannungen abzulenken. Weil verboten worden war, Differenzen dialogisch auszutra­ gen, blieb die innere Schwäche verborgen und die Krankheit der Gesellschaft unbehandelt. Je länger die notwendigen Reformen auf sich warten ließen, desto unüberwindlicher erschien das System, auch wenn es längst brüchig war. Es entstand die Vorstellung, nur Gewalt könne die verkrusteten Strukturen zerbrechen, nur ein zerstörerischer Befreiungs­ schlag könne Besserung bringen. Dann sank das Sowjetreich lautlos in sich zusammen; wegen der inneren Schwäche war keine Gewalt notwendig. Zwangssysteme erleiden eine innere Aushöhlung: Alle Begab­ ten, die die nötigen Reformen hätten vorantreiben können, die Neuerungen hätten initiieren können, werden ausgeschal­ tet. Dieser Verlust an Begabungen in autokratischen Systemen kann sich auch in Demokratien vollziehen, wenn sich Macht­ menschen der parlamentarischen Instrumentarien zu bedie­ nen und Veränderungen zu behindern wissen. Ohnehin: wo gibt es schon echte Demokratie? In der Wirtschaft des Westens hat die Unterdrückung von Kritik und Anregung, das Versäumnis von Innovationen durch selbstherrliche Wirtschaftsmagnaten eine ähnlich verhängnis­ volle Wirkung. In der Wirtschaftswelt gibt es nur einge­ schränkt die Regulationsmechanismen der Demokratie, wo

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durch das Zusammenwirken gegensätzlicher Meinungen ge­ fährliche Entwicklungen gemildert oder abgefangen werden können. Insbesondere in paternalistischen Großbetrieben, oft von einem dominierenden Alten geschaffen, der glaubt, alles selbst machen zu müssen und jeden unabhängigen Gedanken erstickt, jedes Talent abdrängt, dürfen eigene und Ziehkinder nie erwachsen werden. Weitsicht anstelle des zähen Festhal­ tens am Gewohnten, ständige Minirevolutionen hätten vor­ beugen können, um das wirtschaftliche Elend ganzer, von einer einzigen Großindustrie abhängiger Regionen zu ver­ meiden. Kleinere oder größere Katastrophen, wie die weltweite Wirt­ schaftsdepression nach dem Ende des Kalten Krieges sind eine heilsame Herausforderung, das Bestehende zu überprüfen. Früher wurden Naturkatastrophen, Seuchen, Hunger und Krieg als verdiente Gottesstrafen hingenommen. Heute muß sich zur Fügung in das Unabänderliche das Wissen um menschliches Mitverschulden, um die Ursachen der Fehlent­ wicklung gesellen, um Lösungen zu entwickeln. Erkenntnis der Mitverantwortung ist notwendig als Stimulus für Verbesse­ rungen. Auch irrationale psychische Bewegungen, unartiku­ lierter Protest, Ausbruch archaischer Kämpfe, denen der Durchschnittsbürger ratlos gegenübersteht, sehen nur solange wie eine unbesiegbare Naturgewalt aus, wie wir ihre Dyna­ mik nicht durchschauen. Es besteht Hoffnung, daß durch tieferes Verständnis gepaart mit den neuen Möglichkeiten einer verantwortungsvollen Information die seelischen Volks­ seuchen, wie die Kriegsbegeisterung oder Bandenkämpfe um des Kämpfens willen, ebenso zurückgedrängt werden können wie die verheerenden Infektionskrankheiten von einst: Pest, Pocken, Cholera, Tuberkulose, Syphilis. Die Forschung, die mit soviel Elan versucht, einerseits die Weiten des Univer­ sums und andererseits den allerkleinsten Raum, die subato­ mare Welt zu durchdringen, sieht sich vor einer weiteren drängenden Aufgabe: die Erforschung der Psychodynamik des sozialen Unbewußten. Stillstand bedeutet Rückschritt: so, wie der individuelle Orga­ nismus durch Anspannung der Kräfte ständig lebendig erhal-

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Reform versus Revolution

ten werden muß, wie durch Training und äußere Reize Ab­ wehrkräfte mobilisiert werden sollten, braucht das dynami­ sche Interaktions-System Gesellschaft eine ständige Heraus­ forderung. Die Neigung der Jugend, an allem zu zweifeln und Neues zu erproben, ist ein soziales Ferment, für die Gesell­ schaft notwendig wie der Sauerteig für das Brot. Progressive Ideen werden solange abgewürgt, wie Politik bestimmt ist vom Primat der Macht statt von Menschenrechten. Das er­ zeugt einen revolutionären Trotz, der Übertreibungen ein­ schließt. Durch Verbote wird das Abgelehnte erst interessant. Ständige kleine Revolutionen, dynamische Neuanpassung in Reformen sind weniger schmerzlich als eine zerstörende Re­ volution, die gut machen soll, was durch die Starre des Esta­ blishments wieder und wieder versäumt wurde. Das Anrennen der Jugend gegen die Neigung der Alten, sich an die Früchte ihres Überlebenskampfes zäh anzuklammern, der bilderstürmerische Drang, geheiligte Dogmen zu hinter­ fragen, stellt, so irritierend und schlecht formuliert er im Ein­ zelnen sein mag, ein Heilmittel gegen Verfettung und Verfil­ zung, Verformung und Verkrustung dar. Die Unruhe wegen der Stagnation sollte zu mutigen Reformen herausfordern, statt sie nach altem Brauch nach außen zu lenken und Kriege anzuzetteln.

Kurzfassung: Der Protest gegen den Vater ist die Ur­ form der Revolution. Integrierung des revolutionären Impulses in die demokratische Verfassung trägt zur Kultivierung des ursprünglichen, roh-destruktiven Pro­ tests bei.

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Die Bildung von Machtstrukturen aus Oben und Unten Die Geschichte der Menschheit wurde bis in die jüngere Vergangenheit fast ausschließlich als Machtgeschichte darge­ stellt. Vorwiegend die Mächtigen, die Macher, die handelnd den Lauf der Ereignisse bestimmten oder doch zu bestimmen schienen, wurden der schriftlichen Fixierung für würdig be­ funden. Die Anbetung der Macht lebt bis heute weiter in Überlieferung, Heldensagen, Literatur, Wertekategorien usw. Erst in diesem Jahrhundert wird im Gegensatz zu dieser Machtorientierung die Geschichte der Unterschichtenkultur und die Mentalitätsgeschichte zu erhellen versucht.’ Machtstreben ist schon im Verhaltensrepertoire vieler Tiere verankert. Die Evolutionspsychologie sieht beim Menschen als eines seiner entscheidenden, genetisch vererbten Verhal­ tensmuster, die wir mit vielen Primaten teilen, die Orientie­ rung auf eine Spitze und den Machtkampf in einer Horde. Am Erfolg des Kampfes um Lebensraum, am territorialen Streben werden auch beim Menschen Macht und Größe gemessen. Erst spät entwickelt sich aus dem Instinkt zur Macht ein ratio­ nales Machtstreben im Sinne von Machiavelli. Die Überbe­ wertung der Macht verdunkelt die bewußte Erkenntnis der Kooperationsfähigkeit, obwohl diese gleichermaßen triebbe­ stimmt ist.

Der Deutsche von heute neigt dazu, Macht als etwas grund­ sätzlich Verwerfliches zu sehen, eine Haltung, die auf Nicht­ deutsche befremdlich wirkt. Dem deutschen Touristen irn nichtwestlichen Ausland kann die Verlegenheit geschehen, daß er bei Beantwortung der Frage nach seinem Herkunfts­ land eine begeisterte Reaktion erlebt: „Oh, Germany! Yes, Hitler!" In diesen Ländern wurde Anbetung von Macht, ge­ kennzeichnet durch territoriale Eroberung und Rücksichtslo­ sigkeit nicht gebrochen durch die Erfahrung ihrer Kehrseiten. Wer die Weltkriege und die Zwischenkriegszeit noch erlebt hat, findet es schwer, anzuerkennen, daß Macht, besonnen

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eingesetzt, notwendig, ja segensreich sein kann. Er sieht nicht, daß sie hilft, größere Einheiten zusammenzufassen und kleinliche Streitigkeiten zu überwinden. Sie erleichtert Han­ deln und Gestalten in umfangreicherem Rahmen. Wäre Macht nur negativ, müßte ihre Hochschätzung längst aus dem genetischen und aus dem kulturellen Erbe der Menschheit ausgelöscht sein. Es ist allerdings denkbar, daß im Laufe der kommenden Jahrtausende das blinde Streben nach Macht fragwürdig wird, weil die gefährlichen Aspekte stärker ins Bewußtsein rücken und die positiven Wirkungen mit anderen Mitteln erzielt werden können.

Die Bereitschaft, Macht zu respektieren, beinhaltet Interaktion zwischen dem Mächtigen und den Übermächtigten. Unter­ werfungsbereitschaft bewirkt, als sozialpsychologisches Pen­ dant zum Machttrieb, Sozialstruktur. Der Mensch folgt in der Doppelfunktion des Machtstrebens und der Machtanbetung einem unbewußten Trieb zur Vergesellschaftung. Dem Machtgierigen kommen irrationale Kräfte entgegen. Massen lassen sich von Machtmenschen faszinieren und liefern sich ihnen ungehemmt aus. Unbewußte Kräfte aus frühen Entwick­ lungsphasen nähren die Bewunderung der Macht. Das Zu­ sammenwirken von Spitze und Basis bringt beiden Teilen Lustgewinn. Die Befriedigung unterstützt die Machtkonstella­ tion. Diese „Kollusion" kann sich zu einer Verklammerung steigern, die Stagnation beinhaltet, weil das belebende Ele­ ment des beständigen Höherstrebens nicht mehr wirksam werden kann.2

Herkunft der Macht aus der Familienstruktur Von Anfang an wirken anlagebedingte Machtorientierung und Erziehung zur Anerkennung von Autorität ineinander. In der Familie wird ihr triebhafter Charakter deutlich. Kinder blicken ohne Gebot zu den Eltern auf. Erziehen wäre viel schwerer, wenn sich Eltern erst Autorität verschaffen müßten, wenn Kinder nicht parallel zu ihrer Neigung zur Unbotmäßigkeit ein Bedürfnis nach Führung hätten. Viele Eltern scheinen

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blind zu sein für die Bereitschaft ihrer Kinder, Autorität zu respektieren.

Angesichts des sprichwörtlichen Streites der Kinderstube taucht der spontane Wunsch nach starkem Eingreifen, nach einem Donnerwetter auf, das die Atmosphäre klärt. Eltern können beobachten, daß die Kinder nach einem energischen Wort wie erlöst reagieren, als hätten sie die Härte gebraucht. Die primitive Gesellschaft der Unmündigen hat den Mächti­ gen nötig als Ordnungsfaktor, um nicht aus den Fugen zu geraten. Wie von dem donnernden Vater wird auch in der größeren Gemeinschaft ein Machtwort erwartet, das die Ord­ nung wiederherstellt. Die familienorientierte Sozialstruktur war in der menschli­ chen Vorzeit für eine unendlich lange Zeit bestimmend. Es geht schon aus vielen Bezeichnungen hervor, daß die ur­ sprüngliche Familienstruktur das Modell für erweiterte Ge­ meinschaften ist. In einer Großfamilie kristallisiert sich Macht, ähnlich wie in gewissen Tiersozietäten, um einen Älteren, einen Vater oder eine Mutter. Vermutlich hat sich diese Nei­ gung, weil sie einen Fortpflanzungsvorteil darstellte, als ratio­ nal nicht zu begründende Bereitschaft zur Unterordnung unter eine mächtige Zentralfigur, also als angeborenes, trieb­ ähnliches Erbe des Verhaltens verfestigt.

Die Spirale des Machtstrebens Wir erwarten, daß Macht mit mehr Wissen, mehr Erfahrung, mehr Reife gekoppelt ist, wie es gültig gewesen sein muß für eine Großfamilie, wenn der Älteste auf Grund des Erfahrungs­ schatzes das Sagen hatte. Da stimmte noch das Wort: „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand."

Durch „Fortschritt" erzielte verbesserte Lebensbedingungen bewirkten Bevölkerungszuwachs. Die Vergrößerung der Ge­ meinschaft ließ neue Probleme entstehen, die mittels sozialer Regulation, mit Gesetzen bewältigt werden mußten. Die Neu­ anpassung kostet Kraft, denn nun muß um Entscheidungen gerungen werden; Instinkt oder Tradition sind nicht mehr zu­ 197

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verlässige Führer. Der ständige Wandel bedeutet auf jeder Stufe soziale Gleichgewichtsstörung. Für die Aufrechterhaltung des inneren Friedens in der wachsenden Sozietät wurde bes­ sere Koordination notwendig, die nur mit Macht zu bewerk­ stelligen war. Anpassung an Verordnungen wurde zunächst mit physischer Machtausübung erzwungen. Machtanspruch und Machtdemonstration mußten sich, parallel zur Unter­ ordnungsbereitschaft, ausdehnen. Wachstum und Macht­ erweiterung bedingen sich gegenseitig, eine Spirale, die sich höherschraubt.

Fortschritt und Machtzuwachs, die sich wechselseitig auf­ schaukeln, sind Teil eines Prozesses, der an ein Phänomen erinnert, das aus der Tierwelt bekannt ist: das „Luxurieren". Eigenschaften oder Kennzeichen, die besonders günstig für den Bestand sind, haben sich durch natürliche Selektion von Generation zu Generation verstärkt. Schließlich kommt es zu einer nachteiligen Übertreibung. Die instinktbegründete Ori­ entierung auf eine Führerfigur kann, kulturell verfestigt als das „Mem" Machtanbetung, zu einem Punkt führen, wo das über­ triebene Streben nach Machtmitteln Gefahr der Selbstvernich­ tung beinhaltet.

Die Verinnerlichung der jeweiligen Machtstrukturen Machtstrukturen werden in ihrer spezifischen Form, differen­ ziert nach Familien und umgebender Kultur, verinnerlicht. Sie sind gekennzeichnet durch die Übereinkunft, was verboten und was wünschenswert ist. Die Verinnerlichung der Gesetze reduziert die Notwendigkeit von Machtmitteln. Äußere Macht kann zurücktreten, wenn durch Sitte und Religion, durch Gesetze und Demokratie unreifes Machtstreben gebändigt wurde.3

Je größer die Bereitschaft zur Verinnerlichung, umso weniger ist äußere, physische Macht notwendig. Es scheint schon angeboren unterschiedliche Anlagen zur Verinnerlichung von Verboten zu geben. So gibt es Menschen mit zwanghafter Veranlagung, mit betonter Neigung äußere Anordnungen in 198

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innere Gebote bis zu Zwängen (Obsessionen) umzuwandeln.4 Dadurch entsteht ein Zuviel an Selbstkontrolle. Je nach Ver­ anlagung zur Verinnerlichung und je nach sozialem Hinter­ grund entwickelt sich eine unterschiedlich gefärbte ängstlich­ gewissenhafte Bereitschaft zur Unterordnung, insbesondere, wenn diese Haltung sozial honoriert wird. So scheint die konfuzianische Respektierung der Familienältesten ähnlich wie die deutsche Bürgertugend, um nur zwei Beispiele zu nennen, den Boden dafür bereitet zu haben, daß die ange­ maßte Autorität eines Diktators zum großen Teil ohne wesent­ lichen Widerstand akzeptiert wurde, weil die Anmaßung nur unzulänglich durchschaut war. Natürlich wirkt sich das jeweilige soziale Klima einer Familie, das im einen Fall mehr Unterordnung, im anderen mehr Kritik erlaubt, auf den Inhalt der Verinnerlichung aus. In der frühen Sozialisation wurden unterschiedliche Vorstellungen von Machtverteilung geprägt.5 Die Verinnerlichung der Bürger- und Menschenrechte und der demokratischen Einrichtungen kann die Wandlung einer Staatsführung zu glanzloser, nüchterner Verwaltung beinhal­ ten. Derartige Herrschaft - man denke an die Schweiz - gibt der Phantasie der Masse wenig Nahrung, obwohl es sich in dieser Welt besser lebt. Trotzdem bestehen die ursprüngli­ chen kindlich-abhängigen Haltungen, die nicht mehr in eine veränderte soziale und kulturelle Umwelt passen, weiter, die Bereitschaft zur Machtanbetung ist nicht verschwunden. Die rückgewandte Sehnsucht nach dem charismatischen Führer bedeutet Gefahr einer psychosozialen Erkrankung in Form einer Massenneurose.6 Ihre Genese entspricht der von indivi­ duellen psychischen Erkrankungen insofern, als diese als Re­ tardierung, als ein Stehenbleiben oder Zurückfallen auf eine frühe Stufe der Entwicklung gesehen werden können.

Die Verführung zur Macht In den Turbulenzen politischer, sozialer, kultureller Verände­ rungen verlangen neue Probleme schöpferische Ideen, um die

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ungewohnte Situation zu meistern. Nicht jeder, den das Schicksal in eine führende Position stellt, nimmt sie ohne Zaudern ein, weil gerade der Besonnene übermächtige Pro­ bleme auf sich zukommen sieht. Selten sind die Talente der Tatkräftigen, die unbedenklich aktiv werden, in einer Person vereint mit denen der Nachdenklichen, die den Überblick über die Konflikte behalten wollen. Die Notwendigkeit ener­ gischer Führung unterstützt Menschen mit starkem Macht­ trieb. Dann kann sich ein kritiklos zum Handeln drängender Tatmensch, begünstigt durch die Verworrenheit der Zustände, an die Spitze hebeln. Die instinkthafte Bewunderung, die ihm entgegenbrandet, vernebelt das kritische Urteil über seine Qualitäten.7 Nach Erringen der Macht sind andere Fähigkeiten gefragt als die, welche den Machthungrigen in seine Position brachten. Wer die gefragte gestalterische Kraft nicht hat, wird deshalb noch nicht bereit sein, seinen Platz klaglos zu räumen, son­ dern vielmehr dazu neigen, ihn mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Übertriebener Machthunger hat ihm Dominanz verschafft, nun geht es um Machterhalt, weniger um Problem­ lösungen oder um das Gemeinwohl. Bei einer wenig botmä­ ßigen Bevölkerung wird die Doppelbödigkeit der Macht of­ fenbar: der Mut, etwas zu machen, kann Übermut sein, kann Kritik auslösen, die Bewunderung in Ablehnung umkippen. Obwohl die Menge die starke Hand will, hat sie eine natürli­ che Abwehr gegen Veränderungen und neigt dazu, in der Gegenmacht der Gewohnheiten zu verharren.

Auch im demokratisierten Teil der Welt, wo Machtbegren­ zungen in Form von Verfassungen und Gewaltenteilung Tra­ dition haben und allmählich verinnerlicht werden konnten, kommt es zu Durchbrüchen von Machtgier. In kleineren Ein­ heiten (Fabriken, Organisationen) ohne klar definierte Verfas­ sung wird archaisches Machtstreben immer wieder auftreten. Auch findet kriminelle Machtgier überall Schlupflöcher, um Regelungen zu umgehen. Die USA, die als erstes Land, noch vor der französischen Revolution, eine demokratische Verfas­ sung eingeführt hatten, sehen sich heute konfrontiert mit un­

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bewußten Auffassungen von Machtstrukturen, welche Immi­ granten aus ihren früheren Lebenswelten mitbringen.8 Bei der Entwicklung zur Globalgesellschaft entstehen Turbu­ lenzen, für deren Bewältigung feinere Instrumente gebraucht werden. Neue soziale Erfindungen werden notwendig, um die Reibungen zu entschärfen. Die Umstellung ist nicht von heute auf morgen, nicht durch Predigten zu bewerkstelligen. Ständiges praktisches Üben von Konsensfindung, Demokratie im Kleinsten, von Generation zu Generation muß sich dazu gesellen.

Kurzfassung: Ein Machthaber ist bei der Etablierung seines Machtgebildes auf die unbewußte Mitwirkung der Masse, auf die Interaktion mit ihr angewiesen.

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Allerdings sagt schon im 14. Jahrhundert der berühmte islamische Ge­ schichtsschreiber Abd-er-Rahman ibn-Chalduns „Wisse, daß der wahre Sinn der Geschichte Kunde vom menschlichen Zusammenschluß ist und von den Zuständen, die dem Wesen dieser Kultur anhaften, wie Wild­ heit, Geselligkeit, Gemeingefühl ...* nach Will Durant, „Kulturgeschichte der Menschheit 19*, Editions Rencontre Lausanne Kollusion nach Stavros Mentzos, „Der Krieg*, Fischer 1993, S. 185: „Wir bestehen zu einem großen Teil ... aus Identifikationen mit Leitbildern. Gefährlich werden aber solche Prozesse, wenn sie ... sich regressiv in Richtung primitiver, globaler, unkritischer Identifizierungen mit Führern entwickeln ... wenn sie durch Kollusionen mit dem Größenselbst oder Größenwahn des Führers ein verhängnisvolles psychosoziales Arrange­ ment eingehen.* Norbert Elias charakterisierte die Verinnerlichung der Verbote, der Trie­ bopfer, mit deren Hilfe die Gemeinschaft funktioniert, mit der Formulie­ rung: „Fremdkontrolle wird Selbstkontrolle*. Viele Beispiele einer betonten Zwangsstruktur sind in der Autobiographie von Gandhi zu studieren. Hier dürften Anlage und Vorbild zusammen­ gewirkt haben. Wir begegnen immer wieder detaillierten Beschreibungen von selbst auferlegten Kasteiungen der Nahrungsaufnahme und der Se­ xualität, wobei letztere zum Zweck der Vermeidung von Kindersegen noch Sinn machte. Allerdings lernte der Mahatma im Lauf seines Lebens, seine Fastenkunst als politisches Mittel einzusetzen. Der Begriff der „Inneren Gesellschaft* beinhaltet, daß die Autoritätsstruk­ turen der jeweiligen Gesellschaft insgesamt zu einem Teilinhalt des Un­ bewußten wurden. Von der „inneren Vergesellschaftung* spricht auch Erich Fromm in seinem Aufsatz „Zur Methode und Aufgabe einer analyti­ schen Sozialpsychologie* zitiert nach Mertens/Keupp, „SchlüsseIbegriffe der Psychoanalyse*, S. 263 Stavros Mentzos, „Der Krieg*, Fischer 1993, S. 185. „Während die Masse der Bürger, das sogenannte Fußvolk, aufgrund der realen Macht­ konstellationen (innerhalb derer sie relativ machtlos sind wie kleine Kin­ der) dazu tendiert, sich (zum Zwecke der Selbststabilisierung) mit dem idealisierten Objekt zu identifizieren ... Am Nazi-„Führer* wurde diese psychologische Problematik besonders deutlich. Bekannt ist die Macht der sizilianischen Mafia in den Vereinigten Staa­ ten. Neuerdings sind traditionelle chinesische Verbrecher-Organi­ sationen, die seit Jahrhunderten bestehen (die sogenannten Triaden) in viele Großstädte der USA eingedrungen.

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Die Pathologie der Macht Wenn man einen Machttrieb annimmt, bedeutet dies auch, daß er wie alle Triebe wuchern oder degenerieren, in Teil­ aspekten sich über- oder unterentwickeln, sich quantitativ verändern oder qualitativ verzerren kann. Die Fehlentwick­ lung wird nicht erkannt, weil überbetontes Machtstreben ein kulturimmanentes und sozial respektiertes Verhalten ist. Sie wird als Krankheit erst durchschaut, wenn sie ein politisches Desaster oder den Zusammenbruch etwa eines Großbetriebes oder einer Organisation verursacht. Religionen und Staatsver­ fassungen sind Versuche, dem ungesunden Wuchern des Machttriebes vorzubeugen bzw. es einzudämmen. Aber ihre Organisationen sind ihrerseits nicht dagegen gefeit, Hort krankhaften Machtstrebens zu werden.

Wie ist normales Machtstreben von ungesundem, dysfunktio­ nalem (Mentzos) zu unterscheiden? Der ursprüngliche Zweck, die Strukturierung der Gesellschaft, kann Leitprinzip sein. Macht um ihrer selbst willen, als Kompensation für tiefinner­ liche Mängel, ist eine Entartung. Es ist schwer, diese Krankheit zu diagnostizieren, daher kann als grobes Kriterium dienen, die Macht müsse dem Ganzen von Nutzen sein und vom Mächtigen mit Schaffensfreude (Funktionslust nach Mentzos) ausgeübt werden. Reine Machtdemonstrationen, von der Geschichte hoch ge­ priesene Veranstaltungen wie Eroberungen, kostspielige Bau­ ten, beeindruckende Feste oder auch teure Expeditionen sol­ len Macht stützen, indem sie die Machtlosen beeindrucken. Sie sind ein Mittel, das Volk mittels der Befriedigung über die Teilhabe an nationaler und sonstiger Größe mit den auferleg­ ten Entbehrungen auszusöhnen. Die Bevölkerung macht be­ reitwillig, ja begeistert mit, weil durch die beidseitige Befrie­ digung in der Kollusion die unheilige Allianz zusammenge­ halten wird. Die emotionalen Bedürfnisse der Mächtigen und des Volkes ergänzen sich gegenseitig und stützen das Macht­ gebäude. Weil der Übermächtige soviel Einfluß hat, weil er bewundert und nicht als Kranker durchschaut wird, entwik203

Die Pathologie der Macht

kelt er sich zum Verhängnis im großem Umfang, treibt wo­ möglich sich und seine Anhänger an den Rand des Abgrunds. Man kann versuchen, den Ursachen eines überdimensionier­ ten oder deformierten Machttriebes näherzukommen, indem man sich auf die Ursprünge besinnt. Kleinkinder fühlen sich noch nicht durch das Wissen um reale Begrenzungen behin­ dert. Wenn sie die Phase unbekümmerten Machtstrebens hinter sich haben, hilft ihnen das Vertrauen, daß ihre physi­ schen und emotionalen Grundbedürfnisse gestillt werden, den primären übertreibenden Antrieb zu modifizieren und an die Gegebenheiten anzupassen. Bei starker aggressiver Veran­ lagung läßt frühe Unsicherheit und Zurücksetzung aus dem unreifen Machtstreben womöglich einen Zwang werden, sich ständig behaupten zu müssen. Erwachsene, die sich so verhal­ ten, werden nicht als unreif betrachtet, sondern genießen Bewunderung. Der Naive glaubt, wenn er nur fähig wäre, sich so rücksichtslos zu verhalten, würden sich alle Probleme lösen. Vor allem Menschen, welche die primäre Sicherheit in der biologisch begründeten Liebe der Mutter nicht genossen ha­ ben, leiden an einer für den Außenstehenden oft schwer ver­ ständlichen Unsicherheit. Infantile Angst wird zu kompensie­ ren versucht durch einen inadäquaten Bemächtigungstrieb, der sich allerdings auf sehr unterschiedlichen Gebieten äu­ ßern kann. Das vordergründige Machtverhalten versteckt die Unsicherheit. Die Ursache dafür wird in Äußerlichkeiten, wie körperlicher Behinderung, geringer Körpergröße, sozialer Be­ nachteiligung gesehen. Diese Merkmale brauchen, wenn sie auch belasten, nicht Grund für übertriebene innere Labilität zu sein, sie sind eher eine oberflächliche Begründung.' Bei einem behinderten Kind muß eine nüchtern-liebevolle Erzie­ hung genau wie bei einem gesunden dafür sorgen, daß aus dem ursprünglichen Urvertrauen ein realistisches Selbstver­ trauen ohne Größenphantasien wachsen kann. Selbstbeja­ hung muß sich aus der Bejahung durch einen liebenden Men­ schen, eine verständnisvolle Umgebung entwickeln, denn der Mensch schätzt sich weitgehend so ein, wie er von seiner Umgebung gesehen wird.

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Die Bestätigung durch die Eltern sollte wohlwollende Kritik einschließen. Dagegen ist der Ehrgeiz von Eltern, die ihr Kind auf eine überhöhte Position hin programmieren, um damit eigene Benachteiligung auszugleichen, eine Gefahr für die kindliche Entwicklung. Einseitige Bestätigung kann denselben Effekt haben wie Ablehnung: das Kind verkennt die Realität und unterschätzt eigene Quellen möglichen Selbstwertge­ fühls. Die Welt gibt dem Erwachsenen nie mehr die Zuwen­ dung, die er als Kind von einer allzu bestätigenden, vernarr­ ten oder überbesorgten Bezugsperson bekam. Später soll Macht ausgleichen, was Erziehung nicht leistete. Die allgemeine, kulturimmanente Machtanbetung prägt die Familien, wenn auch in unterschiedlicher Stärke und Tönung. Männer im Patriarchat leiden am Männlichkeits- und Macht­ anspruch ihrer Zivilisation und glauben, sich martialisch ge­ ben zu müssen. Sie spielen die Überstarken und sind dabei tief unsicher. Sie können keinen Widerspruch, kein Anders­ sein ertragen und fühlen sich schon durch abweichende Mei­ nungen bedroht. Ihre Besessenheit durch das, was sie für Überlegenheit halten, macht sie seelenblind für ihre Näch­ sten. In ihrer Besorgnis um Autorität halten sie verständnislose Grausamkeit bis zum blinden Seelenmord für gerechtfertigt, ohne sich klar zu sein, was sie anrichten. Kinder, die unter dieser Fehleinschätzung von Macht gelitten haben, können wieder ein Machtstreben um jeden Preis entwickeln (es gibt auch andere Lösungsversuche) als Kompensation für die Defi­ zite, unter denen sie in der Familie litten. Die psychopathologischen Gemeinsamkeiten derjenigen, die übermäßig zur Macht drängen, erfahren jeweils individuelle Ausprägungen, weil verschiedene Anlagen durch verschiede­ ne Umgebungen und vielleicht noch andere, heute noch nicht zureichend erforschte Faktoren2 unterschiedlich geformt werden. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, daß das ungezü­ gelte frühkindliche Machtstreben bestehen blieb. Der Macht­ kranke glaubt nur sicher zu sein, wenn er ganz oben ist. Nicht alles kontrollieren zu können, bedeutet ihm Bedrohung. Seine Macht soll Ich-Defizite ausgleichen: Überlegenheit wird zur Droge, zur Ersatzbefriedigung, die das beständige Gefühl der

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Unzulänglichkeit beruhigen soll. Auch dann, wenn, wie im günstigeren Fall, echte Leistung zur Kompensation für das geheime Defizit erbracht wird, besteht die verborgene Über­ zeugung eigenen Unwerts weiter, gepaart mit übermäßiger Abhängigkeit von Lob und Tadel. Trotz allem Machtzuwachs kann kein stabiles Selbstbewußtsein reifen.

An Biographien von Machtmenschen läßt sich die Wirkung primärer Versagung in der Kindheit bzw. sekundärer späterer Enttäuschung studieren. Natürlich sind die frühen Einflüsse nicht der einzige Faktor. Man beginnt diese Monster zu be­ mitleiden, wenn man ihre frühe Geschichte kennenlernt. So ging Saddam Hussein durch eine fürchterliche Kindheit ohne auch nur annähernd zureichende Bezugspersonen.3 Noriega hatte eine kranke Mutter und einen Vater, der Alkoholiker war. Fidel Castro war ein unehelicher Sohn, der sich Aner­ kennung erst erkämpfen mußte. Gaddafi erlebte, größer ge­ worden, wegen seiner Anspruchshaltung Ablehnung von seinen Altersgenossen. Er scheint wie Hitler von seiner Mutter übermäßig bestätigt worden zu sein. Mentzos betrachtet Ver­ wöhnung als eine Form der Härte. Sie beinhaltet schlechte, unzureichende Erziehung, die deshalb keine verantwortungs­ bewußte Liebe ist, weil sie ein unrealistisches Weltbild ver­ mittelt. Man wird sagen: an wem nagt nicht das beschriebene Gefühl ewiger Unzulänglichkeit, wer spürt nicht den ständigen Sta­ chel, besser sein zu wollen, wo findet sich der herausragende Kopf, dessen Leistung nicht ein Versuch ist, Nachteile zu kompensieren? Und, wie würde sich die Menschheit entwikkeln ohne ständige Herausforderungen? Es kommt darauf an, ab wann das sozial Förderliche ins Schädliche umzuschlagen beginnt. Wie immer sind die feinen Unterschiede, der unge­ liebte Ausgleich zwischen dem Zuviel und Zuwenig ent­ scheidend, dabei schwer zu definieren. Ein grobes Unter­ scheidungsmerkmal bei dieser Grenzziehung kann das sub­ jektive Wohlbefinden sowohl des Machtmenschen wie auch der Abhängigen sein.

Allgemeine Verunsicherung durch extreme Situationen, mas­ sive Umweltveränderungen oder gesellschaftliche Umbrüche 206

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begünstigen die Machtgierigen, weil die Menge nach einem Erlöser von den entstandenen Belastungen lechzt. Aber Pro­ bleme verlangen kreative Lösungen, sind mit Supermacht allein nicht zu bewältigen. „Auctoritas" d.h. die Fähigkeit, durch schöpferische (Schöpfer - auctor) Ideen bisher unbe­ kannte Bewältigungstechniken zu erfinden, die notwendig sind, um die Not zu wenden, sollte Grundlage von Autorität sein.4 Sie ist die Fähigkeit, in der Bedrängnis zu erkennen, was gemacht werden kann. Nur sie legitimiert Macht. Sie hat nichts mit verbissenem Machtstreben infolge kränkender frü­ her Verkürzung zu tun. Es ist schwer, das allgegenwärtige angeborene Streben nach Macht von seinen neurotischen Verzerrungen einerseits und von der natürlichen Überlegenheit der Kreativen andererseits zu unterscheiden. Außerdem entfachen innovative Problem­ lösungen oft Widerstand. Opposition regt sich, sobald jemand den breiten Pfad der Denkgewohnheiten verläßt. Es scheint eine instinktive Abwehr gegen unabhängiges Denken zu ge­ ben, denn alles Neue ist unbequem, erfordert Umdenken.

Der Widerstand gegen Innovationen veranlaßt viele Begabte, in Berufe zu gehen, in denen sie dem intriganten Spiel um die Macht nicht unnötig viel Kraft opfern müssen. Sie verzichten darauf, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken, es sei denn in der Rolle der grauen Eminenz. Der unsichtbare Rat­ geber im Hintergrund in der Rollenaufteilung zwischen Machthaber und Sekretär, die Trennung von Tun und Besin­ nen finden wir in Familien ansatzweise in den Rollen von Vater und Mutter. Auch pflegt sich in beliebigen Gruppen ungeplant eine Rangordnung herauszubilden, die sich nicht etwa als einfache Pyramide darstellt, sondern bei der sich dem Wortführenden, genannt Alpha, ein Beta beigesellt.5 Es entsteht spontan eine Struktur, bei der die Funktionen des aktiv Führenden einerseits und die des Planenden, des Theo­ retikers und Ideengebers andererseits auf zwei Personen ver­ teilt sind. Auf höchster Ebene wird in der Gewaltenteilung der Demokratie versucht, die Exekutive, die vollziehende Gewalt, durch die Legislative und Jurisdiktion zu zähmen.

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Mächtige würden klug daran tun, sich mit Ratgebern und Spezialisten zu umgeben. Aber die neurotisch Machthungri­ gen sind zu unsicher dazu. Sie entwickeln vielmehr eine Stra­ tegie, kritisch Denkende auszumanövrieren. Die Folge ist eine zunehmende Auslaugung der Führungsequipe. Wenn der Übermächtige schließlich doch abtritt, sind alle mit „auctoritas" Begabten aus dem Rennen geworfen.6 Der Inhaber der Spitzenposition ist nur mehr von ergebenen Ja-sagern umgeben, die nicht das bitter notwendige Talent haben, durch neue Ideen kritische Situationen zu meistern. Er neigt dazu, in den Ideenreichen Konkurrenten zu wittern. Er weiß insgeheim, daß er die Übererwartungen, die ihm von Seiten des Volkes entgegenbranden, nicht erfüllen kann. Ratgeber müssen dann viel psychologisches Fingerspitzengefühl entfal­ ten, um die geheime Unsicherheit zu beruhigen. Erneuernde Ideen dürfen, bei Gefahr des Hinauswurfs, nur andeutungs­ weise erwähnt werden, wie wenn Samenkörner ausgestreut werden, die der Mächtige reifen läßt. Das war die typische Rolle des Hofnarren in Zeiten des Absolutismus, der scherz­ haft das Unaussprechliche auszusprechen wagte.

Der Joker ist der, der die Zweiseitigkeit aller Wahrheiten durchschaut, aber auch erkennt, daß die Welt betrogen sein will. Jeder Durchschnittsmensch braucht ein Gran dieser Le­ bensweisheit. Allan Watts beschreibt den Boddhisattva, die höchste Vollen­ dung des buddhistischen Weisheitsstrebens, als einen, „der in die Gesellschaft zurückkehrt und ihre Konventionen über­ nimmt, ohne sich an sie gebunden zu fühlen, der mit anderen Worten das soziale Spiel spielt, statt es ernst zu nehmen."7

Kurzfassung: Aus früher Verunsicherung kann sich als Kompensation eine Perversion des Machttriebes ent­ wickeln.

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Ein auffälliges Beispiel für die Kompensation einer Organminderwertigkeit bietet Kaiser Wilhelm II. Sein rechter Arm (der Schwertarm) war durch eine Geburtsschwierigkeit funktionsgestört und, sekundär, ver­ kürzt. Er wurde von seiner Mutter deshalb abgelehnt. Man kann anneh­ men, daß eine trotzdem bejahende Haltung der Mutter ihm geholfen hät­ te, seine Benachteiligung besser, nicht überkompensierend, zu verarbei­ ten. Der letzte Kaiser der Deutschen ist in die Weltgeschichte als der Sä­ belrassler eingegangen. Die Gestimmtheit hohler Heldenhaftigkeit, die diese Epoche charakterisierte, war ein Mitgrund für den Ausbruch des Er­ sten Weltkrieges. So wird z.B. die Bedeutung intrauteriner Einflüsse heute zunehmend bejaht, was bei dem Zusammenhang zwischen Säftehaushalt und Stim­ mung naheliegend ist. Es ist auch denkbar, daß die jahrtausendealten Annahmen der Astrologie durch eine fortgeschrittene Astrophysik in fer­ ner Zukunft bestätigt oder endgültig widerlegt werden können. Vergleiche Fußnote 10, Kap. „Selbstbehauptung und Destruktivität* Viele Sagen berichten von der „List*, nämlich der innovativen Lösung, die ein Anführer fand, um eine ausweglos erscheinende Situation zu mei­ stern. Als die Urväter der späteren Azteken nach langer Wanderung durch die trockenen Felswüsten Mittelamerikas in die Gegend des heuti­ gen Mexiko-City kamen, fanden sie einen sumpfigen See vor. Der azte­ kische Name dieses Ortes bedeutet: „da wo es Wasser gibt*. Aber die Bewohnbarkeit war eingeschränkt: der Sumpf war von unzähligen Gift­ schlangen besiedelt. Da sah einer der Führer, wie ein Adler seine Jungen mit einer Schlange fütterte. Er dachte: was dieser Vogel kann, das können wir auch. Sie nährten sich von den Schlangen und siedelten am und im Wasser. Der Adlerhorst mit den Jungen, die mit einer Schlange gefüttert werden, ist vielsagendes Symbol für viele lateinamerikanische Länder. Gruppendynamik nach Roul Schindler Nach dem erzwungenen Abtritt der „Eisernen Lady* litten die Tories noch viele Jahre, bis zur Abgabe der Regierungsmacht, an dem Mangel an Führungskräften. Allan Watts, „Psychotherapie und östliche Befreiungswege*, Kösel 1980

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Was ist „Charisma"? Der Machthungrige, der sich in der Bedrängnis entschlossen an die Spitze stellte, wurde erwählt, weil er die Masse von seinen Fähigkeiten überzeugen konnte, weil er sogenanntes „Charisma" hat. Charisma wird im geschwätzigen politischen Alltag ständig eingefordert, obwohl niemand richtig weiß, was es sein soll.' Es steckt eine Art Suggestivtalent dahinter. Wörtlich übersetzt heißt es „Gnadengabe" und meint, daß jemand damit eine Art Himmelsgeschenk in die Wiege gelegt bekommen hat, das er, wenn er es nicht hat, nie erwerben könne. Dagegen spricht, daß man Suggestion einüben kann.

Das magische Element dieser Art von Machtausübung geht schon daraus hervor, daß in alter Zeit die Funktion des Herr­ schers und Priesters in einer Person vereint war, wie noch heute in manchen Eingeborenenstämmen als Personalunion von Häuptling, Medizinmann und Zauberer. Bis in unsere Zeit mußten Könige und Kaiser durch Salbung von der jewei­ ligen Kirche anerkannt werden oder, wie in Großbritannien, ihr Oberhaupt sein. Der Glaube an Charisma ist ein Überrest aus einer insgesamt gläubigeren Zeit. Obwohl das Volk die Trennung von Staat und Kirche befürwortet, läßt es sich, ge­ drängt von unbewußter Bereitschaft von sogenannten charis­ matischen Personen beeindrucken. Wenn ein Führer allzu bekannt ist, hat er es schwer, „charis­ matische" Wirksamkeit zu entfalten, denn: „der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland." Zuhause kennt man seine Ju­ gendtorheiten, seine Schwachstellen. Sie behindern die My­ thenbildung und verstärken die soziale Kontrolle. Die Sugge­ stion bleibt wirkungslos.

Die Modelldemokratien waren kleine Gesellschaften, in de­ nen jeder jeden kannte, wie in unseren Dorfgemeinschaften. Hier entscheiden weitgehend die Ältesten, die mit der läng­ sten Erfahrung, nach ausgiebiger Beratung. Man kennt ihre Qualitäten und ihre Schwächen. Sie werden von Kritik und Zustimmung in Grenzen gehalten. Massen, in denen zwi­ schen den Einzelnen und zum Redner wenig Kontakt besteht, 211

Was ist „Charisma"?

wo der Nächste eigentlich ein Fremder ist, fördern Täuschung und Regression auf eine Stufe kindlicher Märchengläubigkeit. Das Verhängnis liegt darin, daß in der Anonymität der Masse mit der Fremdkontrolle die Selbstkontrolle dahinschwindet. Im Hinabtauchen in Nichtwissen kann Unverantwortliches gesagt und getan werden. Diese Regression ist manchmal begleitet von rauschhafter Lust wie bei Einnahme einer Dro­ ge, was zu denken geben sollte.2 Aktive Suggestion kann erlernt werden. Hitler soll vor dem Spiegel seine Reden eingeübt haben. Es ist erstaunlich, welch plumpes Werben Wirkung erzielt, wie wenig Empfinden für die falschen Töne der Massenmensch hat (die Werbefachleute wissen darum). Die Täuschbarkeit ist daraus zu erklären, daß bei allen hypnotisch-suggestiven Vorgängen ein unbewußtes Entgegenkommen der Angesprochenen vorliegt, daß sie von halbbewußten Wünschen verführt werden. Es wird ersehnt und bereitwillig gehofft, in dem Menschen, dem „Charisma" nachgesagt wird, einen Erlöser zu finden, der die Schwierig­ keiten menschlicher Existenz wie mit Zauberkraft löst. Es muß also der Glaube des Hypnotiseurs an seine Fähigkeit Zusam­ menwirken mit der unbewußten Bereitschaft der Anhänger, sich begeistern, sich hypnotisieren zu lassen. Dieser „magi­ sche" Vorgang entspricht einer Interaktion zwischen dem Zauberer, (der seine Tricks gelernt hat und sie bewußt/unbewußt anwendet) und den zu Verzaubernden (die sich nach dem Zauber sehnen).3 Die Partizipation hilft, Kleinheits- und Ohnmachtsgefühle zu vergessen. Das schwache Individuum kann in Identifikation mit dem Mächtigen Macht mitgenießen. Wenn beim Einzel­ nen überhaupt ein kritischer Wille sich regt, sind die Mög­ lichkeiten, zu prüfen, minimal. Beide Seiten profitieren: der Massenhypnotiseur durch den gewonnenen Einfluß und die verzauberte Menge dadurch, daß sie an der Macht teilhaben kann, ohne selbst aktiv werden und sich verantworten zu müssen. In diesem Zusammenspiel besteht kein Anlaß, die Beziehung zu verändern, weil durch sie beide Partner emo­ tional gewinnen, es entstand eine „Kollusion" (Mentzos).

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Was ist „Charisma*?

Der Zauber der Massensuggestion kann sich entfalten, weil alle Beteiligten, auch die Leiter, dieselben unbewußten Vor­ stellungen einer Sozialstruktur mit steiler Machtpyramide in sich tragen, d.h. in ihnen ist innere Vergesellschaftung wirk­ sam. Sie ist eine Erweiterung der infantilen Situation, in der die Eltern noch überstark, gottgleich erlebt wurden. In einer beliebig zusammengestellten Gruppe besteht von vornherein nach Bion eine unbewußte Grundvorstellung - „Basic As­ sumption" - von Gruppenstruktur.4 Man kann vermuten, daß die Neigung, Autorität anzuerkennen, mit derartigen vorge­ gebenen, nicht durch Erfahrung geprägten unbewußten Ideen zusammenhängt. Eine frühe Vorwegnahme dieser Vorstellun­ gen war in der Archetypenlehre von C. G. Jung5 mit dem Urbild des mächtigen „Großen Vaters" gegeben. Beide, Füh­ rer und Geführte, würden danach diese inneren Bilder in sich tragen. Die unbewußten Größenvorstellungen sind dann am wirk­ samsten, wenn den Machthungrigen in der hoffnungsschwan­ geren Begeisterung keine Selbstzweifel plagen. Beide, Führer und Gefolgschaft, sind durchdrungen von demselben sowohl biologisch verankerten wie auch kulturimmanenten Vorurteil, der Überschätzung des Obenseins. Der Erwählte, in dem dieses innere Bild wie in allen wirksam ist, bemüht sich, ihm zu entsprechen und hält sich, wenn er nicht sehr selbstkritisch ist, für dessen Inkarnation. Sein Glaube trägt sowohl ihn wie auch die (An)-Geführten. Der kleine Massenmensch und der Mächtige sind von derselben Verblendung ergriffen. Das Übervertrauen der Menge fragt nicht danach, wie edel oder ichhaft, wie gesund oder krank, wie vernünftig oder verrückt die Motive des Führers sein mögen. Von Wundersucht getrie­ ben haben die Gläubigen keinen Grund, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Das Volk inszeniert mit seinem geliebten Führer eine Kollek­ tiv-Neurose. Die traumatisierende Erfahrung der Deutschen mit Adolf Hitler wurde zum Modellfall derartiger Prozesse. Es war und ist noch für die ganze Welt unbegreiflich, wie ein Volk mit gutem Bildungsniveau, das viel zur Weltkultur bei­ getragen hat, kollektiv, einschließlich vieler maßgebender

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Was ist „Charisma'?

Köpfe auf die Stufe (scheinbar) kritikloser Nachfolge regredieren konnte. Es wird allerdings nicht mitbedacht, daß der un­ ausgesprochene, stille Vorbehalt typisch ist schon für primiti­ ve hypnotische Vorgänge (etwa auf dem Jahrmarkt). Solange diese als etwas Magisches verklärt werden, solange es nicht zum Allgemeinwissen gehört, daß sich suggestive, der Hyp­ nose verwandte Prozesse abspielen, daß Magie auf Suggesti­ on gründet und daß Suggestion unseren Alltag durchwebt, wirken sie auch.

Diese Erscheinungen werden nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in jedem Menschen eine archaische Tiefenschicht ruht, die unter belastenden Bedingungen zum Tragen kommt und daß unsere aggressive Kultur Frühstörun­ gen fördert, die das Erhaltenbleiben von halbbewußten Grö­ ßenphantasien bis ins Erwachsenenalter unterstützen. Es kann durchaus sein, daß auf einer frühen geschichtlichen Entwick­ lungsstufe ein „magisches" d.h. irrationales Element nötig für Führung war, so wie heute noch in Eingeborenenstämmen. Die Bibel gibt viele Beispiele für die Notwendigkeit, Gefolgs­ leute mittels Wundertaten zu gewinnen. Nicht nur im Orient, nicht nur in grauer Vorzeit haben Wundertäter ihre Anhänger. Das Tragische daran ist, daß dieses archaische Erbe miß­ braucht und Grundlage für verhängnisvolle politische Ent­ wicklungen werden kann.

Der Zwang in unserer real existierenden Demokratie mit allen Mitteln um Popularität zu werben, verführt die Politiker dazu, charismatisch sein zu wollen und sich zu prostituieren. Sie können sich zumindest im Wahljahr nicht ausreichend den Staatsaufgaben widmen. Sie müssen sich aufspalten in zwei oder mehr Personen, die entgegengesetzte Prinzipien vertre­ ten, müssen Argumente einlernen, an die sie nicht glauben, Rollen spielen, die sie in ihrem bisherigen Leben verabscheut haben. Die Demokratie wird zur Hure des Volkes, des launi­ schen Souveräns. Da der Mensch in der Masse mehr zur Regression neigt als der in einer vertrauten, überschaubaren Gemeinschaft, ist die Bildung von Massengesellschaften im Gefolge von Überpopu­ lation und Migration sowohl unausweichlich als auch ver­

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Was ist .Charisma"?

hängnisvoll. Unübersichtliche Großgesellschaften verlangen umfangreichere Machtwerkzeuge. Reflektorisch wird auf die gewohnten Gewaltinstrumente, auf Waffen zurückgegriffen, da gekonntes Verhandeln von den Politikern nicht zureichend eingeübt wurde und bei der Bevölkerung von den Möglich­ keiten der gewaltfreien außerparlamentarischen Willensbe­ kundung nur dürftige Kenntnis besteht. Die Bildung von Großgesellschaften impliziert unausweichlich eine Entdemo­ kratisierung, einen Verlust von Menschenrechten, denen vor­ zubeugen wäre. Gerade den Staaten in Entwicklung liegen die uralten Gewaltlösungen näher. Die Intentionen von Deregulierung, Entbürokratisierung und Subsidiarität können als Versuche gelten, der Tendenz zur Zentralisierung entgegenzuwirken. Telekommunikation und Hypermobilität versprechen Konfliktlösungen auf dem Ver­ handlungsweg zu erleichtern. Hoffen wir, daß die Menschheit die neuen Errungenschaften segensreich nutzt, anstatt sie nach alter Gewohnheit zu mißbrauchen.

Kurzfassung: „Charisma" bedeutet eine Art Suggestiv­ talent, wobei unbewußte kollektive Vorstellungen bei beiden Interaktionspartnern Zusammenwirken.

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Was ist .Charisma'?

Anmerkungen Max Weber sah darin ein „Gottesgnadentum*, einen eigenen Typus von Herrschaft, der „charismatischen* neben der „traditionellen* und „lega­ len*. Er sagte allerdings von ihr, daß sie meist die Tendenz zeige, im Lau­ fe der Zeit in andere Formen überzugehen. Brockhaus 4, S. 424 2 Wahrscheinlich werden durch hysterische Reaktionen, wie heftige Ge­ mütsbewegungen, Schreien, Weinen Endomorphine frei, wie es für die Hyperventilation zutrifft, mit der man regressive Zustände aktiv herbei­ führen kann. Diese Technik wurde eingesetzt beim sogenannten Rebirthing: Arthur Janov, „Der Urschrei*, Fischer 1973. Bei vielen Eingebo­ renenstämmen gibt es regressionsfördernde Trance-Rituale mit Tanz oder/und Drogen. 3 Stavros Mentzos, „Der Krieg*, Fischer 1993, S. 176/177: „Die psychoana­ lytisch orientierte Sozialpsychologie bedient sich ... bei der Massenpsy­ chologie Freuds ... aber auch bei der Narzißmustheorie, um die Dynamik der Beziehung zwischen Führern und Anhängern zu beschreiben. (So Stefan Breuer nach Kohuts früher Selbst-Psychologie): Die Komplementa­ rität zwischen Manifestation des Größenselbst bei den Führern und der Suche nach idealisierten Selbstobjekten bei den Gefolgsleuten entspre­ chen meinem Konzept des psychosozialen Arrangements, bei dem sich das Größenselbst des Führers mit den idealisierenden Tendenzen der vie­ len trifft. S. 177: ... der Kernberg-Schüler Volkan spricht von einem „Fit* zwischen den grandiosen Ambitionen des Individuums und den potenti­ ellen Bedürfnissen der Gefolgschaft ...*. 4 Bion nennt drei „Grundeinstellungen*: „dependency*, „fight and flight* und „pairing*. 5 Die verschiedenen Archetypen wären quasi die phantasierten Objekte der Antriebe, die von den mentalen Organen ihren Ausgang nehmen.

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Glück im Werden Es ist ein Teil unseres Menschseins, daß jeder von dem Wunsch beseelt ist, auf der sozialen Stufenleiter nach oben klettern zu wollen. Der Erfolg scheint persönliches Glück, Befriedigung aller Wünsche zu garantieren. Obwohl sich die Hoffnungen nur unzureichend erfüllen, besteht die Zielvor­ stellung weiter. Sie wurzelt so wenig wie andere Antriebe in der Vernunft. Das Verhalten ist eingeboren wie den Hühnern die Hackordnung. Bekanntlich wird in der Verfassung der Vereinigten Staaten jedem Bürger zugestanden, er habe ein Recht auf „pursuit of happyness", Suche nach Glück. Die Urheber dieser Verfas­ sung scheinen keine Zweifel gehabt zu haben, was Glück bedeuten könnte. Vermutlich hatten sie, noch vor sozialem Aufstieg, die Stillung von Grundbedürfnissen, wie Hunger und Sicherheit, im Auge. Mit den Möglichkeiten der Befriedi­ gung ändern sich die Glücksvorstellungen. Ziele werden wichtig, die bisher nicht Inhalt der Vorstellung waren. „Da, wo ich nicht bin, da ist das Glück." Sexuelle Erfüllung ist ein Hauptziel, die Weltliteratur bezeugt es. Genausowenig, wie der Machttrieb zum Frieden führt, ist Dauer-Befriedigung im Sexuellen möglich. Sie wird in den glühendsten Farben phantasiert, nicht selten folgt Verwirrung und Leid. Auch Abwechslung stillt den Durst nicht. Es ist nichts Neues: Glück ist ein Scheinziel. Der Sexualtrieb dient, wie der Machttrieb, vordergründig der Lust des Individuums, in Wirklichkeit, als Fortpflanzung, der menschlichen Gesell­ schaft, so wie der Machttrieb Motor der sozialen Stukturierung ist. In der Suche nach Triebbefriedigung dienen wir überpersönlichen Zielen. Selten erkennen wir sie klar. Nicht alles, was als sozial nützlich angesehen wird, ist für die Ge­ meinschaft zwangsläufig schon gut und richtig. Wie in nicht­ menschlichen Gesellschaften gibt es alle Formen von Entglei­ sungen oderSackgassen, die wieder verlassen werden müssen. Da Triebe unfrei machen, könnte Bedürfnislosigkeit eine Form von Macht und Glück in Selbst- und Triebbeherrschung, 217

Glück im Werden

in Unabhängigkeit von der Mitwelt sein. In dem Wissen um die Leidträchtigkeit der Lebenstriebe lehrte buddhistische Tradition das „Haften" am Irdischen, an den durch Sinne vermittelten Bedürfnissen, zu überwinden und damit die Ur­ sache des Leidens zu beseitigen. Schließlich sollte das Erlö­ schen des Lebenshungers die Kette der Reinkarnationen be­ enden mit dem Ziel, ins Nicht-Sein einzugehen.'

Nach heutiger Erfahrung und Erkenntnis kann Triebtötung krank machen. Es ist Illusion, sie in absoluter Form erreichen zu wollen. Nur Triebkultivierung kann einen gewissen Frie­ den geben. Triebe pflegen sich umso beharrlicher zu melden, je mehr sie unterdrückt werden, ja, sie äußern sich, wenn verdrängt, in verbogener oder verlogener Weise, peinlich bis gemein. Nur der Tod kann letztendlich die Lebenstriebe zum Erlöschen bringen. Indessen klingt die Predigt, das Glück nicht in äußeren Gütern, sondern im eigenen Herzen zu su­ chen, hohl für den, dem das Nötigste fehlt. Das muß so sein: das ständige Unzufriedensein ist letzten Endes Motor des Lebens, eine Kraft, die Individuen und Gesellschaft in Bewe­ gung hält. Die Definition von Glück als Befriedigung eines jeweiligen Mangels schließt ein, daß Unglück, Unzufriedenheit, Traurig­ keit, Depression auf ein vitales Defizit hinweisen. Es werden aber Wünsche, die über Nahrung, Sicherheit, Sex hinausge­ hen, von der Gesellschaft geleugnet mit der Bemerkung: „Er/ sie hat doch alles!" Eine naiv-materialistische Einstellung er­ kennt sogenannte nicht-physische Bedürfnisse nicht an. Erst durch den Mangel werden sie bewußt. Geselligkeit, Gedan­ kenaustausch, Kommunikation ist fast so notwendig wie Nah­ rung. Wie Renö Spitz2 und andere gezeigt haben, ist insbe­ sondere für Kinder geistig-seelische Zufuhr nötig, damit sie körperlich nicht Zurückbleiben. Ständiger Austausch ist un­ verzichtbar. Einsamkeit bedeutet Verkümmerung, Folge des Kummers, den sie bereitet. Ohne Kommunikation ist Lernen, Weitergabe von Erfahrun­ gen und damit Kultur, alles das, was der Mensch dem Tier (mit unbedeutenden Ausnahmen) voraus hat, unmöglich. Das

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Glück im Werden

Bedürfnis nach Erfahrungsaustausch hat sich parallel zur Sprache entwickelt. Befriedigung dieser lustbelohnten Antriebe dient der Mensch­ heit als Ganzes. Beginnend in der menschlichen Vor- und Frühgeschichte sicherte Kommunikation den genetischen Erfolg der Spezies Mensch. Die Vermittlung von Wissen wur­ de so bedeutsam wie die Weitergabe der Gene. Das Lernen wird zunächst vermittelt durch die Familie, die Bezugsgruppe. Kommunikation gibt ein Gefühl zumindest der Zufriedenheit, wenn nicht von Glück. Gleichzeitig bildet sich in ständigem Austausch Identität, d.h. das befriedigende Wissen, Teil einer bestimmten Gemeinschaft mit ihrer gruppentypischen Kultur zu sein. Erschütterung der Identität, wie bei massiven politischen Um­ wälzungen und bei Verlust der Heimat, ist ein vitaler Ein­ bruch, weil die Haltungen und Werte einer bestimmten Kul­ tur, die Teil der Persönlichkeit wurden, nun nicht mehr all­ gemein anerkannt sind. Der Mangel wird erlebt wie die Am­ putation eines lebenswichtigen Organs. Das Leiden bei Identi­ tätsverlust kommt u.a. daher, daß mehr Kraftaufwand nötig ist, um im Alltag zurechtzukommen. Jeder Entschluß erfordert eine besondere Denkanstrengung, weil die bisherigen festste­ henden Regeln nicht mehr gelten. Dieses Leiden, das im Ge­ folge von Revolution oder Migration auftritt, rückgängig ma­ chen oder vermeiden zu wollen, wäre ein Versuch, den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Wie alles Lebendige ist auch die menschliche Gesellschaft in ständiger Veränderung begriffen. Schon am Anfang der eigentlichen Menschwerdung stand eine Jahrtausende dauernde Riesenkatastrophe, als das Para­ dies des afrikanischen Dschungels durch Vulkanausbrüche und Einbrüche der Erdkruste von Norden nach Süden gespal­ ten wurde und sich die Osthälfte klimatisch grundlegend veränderte. Die Veränderungen, die sich in der modernen Welt abspielen, könnten ähnlich dramatisch sein wie diese Klimaveränderungen. Abgesehen von der Überbevölkerung und von der Drohung der Erderwärmung müssen wir uns mit einem Prozeß abfinden, der schon im Gange ist, mit der Bil­ dung einer multikulturellen Gesellschaft. Sie beinhaltet Inten­

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Glück im Werden

sivierung des Austausches. Die Abschottungsversuche, um die Ethnien getrennt zu halten, wie etwa die Aufteilung des frühe­ ren Jugoslawien oder ein halbes Jahrhundert vorher die Tei­ lung Indiens, beseitigen die Probleme nicht. Mischungen sind nicht rückgängig zu machen, ja, sie werden instinktiv ge­ sucht.3

Die unvermeidlichen Konflikte verlangen eine positive, von Selbst- und Fremdverständnis getragene aktive Bearbeitung. Die Schwierigkeiten der schmerzlichen Neuanpassung sind gleichzeitig ein Anstoß zur Fortentwicklung. Es ist zur Zeit Medienmode, anklagend das Untergeben bestimmter Ethnien zu kommentieren. Ihr Verschwinden ist gewiß traurig, aber ihre Veränderung ist so wenig aufzuhalten wie im frühen Mittelalter der der keltischen oder germanischen Lebens­ formen usw. Der Wandel gehört zum Fortgang alles Lebendi­ gen. Dabei wird ein wesentlicher Verlust gar nicht genannt: die gesellschaftlichen Formen alter Kulturen könnten Modelle für soziale Konfliktlösungen bieten, ein Mem-Material, ähn­ lich wie das Genmaterial aussterbender Pflanzen. Natürlich trauert man über alles, was stirbt, besonders wenn nicht gese­ hen wird, daß dem Sterben eine Auferstehung folgen kann. Wenn Patienten in der Psychotherapie vom Tod träumen, so heißt das, daß sie sich vor einer einschneidenden Verände­ rung fürchten, die eine bedeutsame seelische Umstellung von ihnen verlangt. Sie haben das Gefühl, ein Teil von ihnen sei zum Sterben verdammt. Nur ein Abschied, eine schmerzliche Wandlung kann den Entwicklungsstillstand überwinden. Es geht nicht ums Sterben, sondern um ein Überwinden seeli­ scher Teilinhalte, um für Neues Platz zu machen.

Insbesondere die Alten, die anders inkulturiert wurden, leiden am Zusammenprall der Kulturen, der das Brüchigwerden des Vertrauten einschließt. Die Kinder der zweiten Generation betrachten die neue Kultur schon weniger feindselig, eher mit unbedingtem Anpassungswillen, sofern sie nicht durch Frem­ denfeindlichkeit zu einem trotzigen Festhalten an der bisheri­ gen Identität provoziert wurden. Fast alle Pubertierenden wollen aus der Eierschale der verkrusteten Traditionen aus­ brechen. Die Nachdenklichen, die sich den Widerspruch 220

Glück im Werden

zwischen ihrer geheimen Auflehnung und der strengen Sitte in ihrer Identitätsgruppe bewußt machen, begrüßen unter Umständen die Relativierung bisher eherner Normen. In der neugierig erforschten fremden Welt können eigene unent­ deckte Möglichkeiten entfaltet werden. Neugier und Spieltrieb sind die Voraussetzung dafür, daß sich zwei Kulturen langsam amalgamieren können. Befriedigung des Erfahrungshungers macht glücklich. Die Vermischung läßt neue kulturelle Formen entstehen wie nach den großen Wan­ derungsbewegungen aus Innerasien in den Jahrtausenden vor der Zeitenwende, die den Anstoß gaben für das spätere Auf­ blühen von Nordindien, Persien, Babylon, Athen und Rom. Neugier und Spieltrieb sind besondere Kennzeichen des Menschen, des eigentlich unfertigen Wesens. Sie äußern sich schon als leidenschaftliches Bedürfnis nach Input, das die Kinder im Fragealter darbieten. Der Mensch ist das Kind ge­ bliebene Säugetier. Das infantile Verhalten verschwindet nie ganz: „Neotenie".

Eine materialistische Denkweise kann in Neugier und Spiel­ trieb keinen Nutzen erkennen. Sie dienen nicht erkennbaren Notwendigkeiten, sind eher lästig, sicher zeitraubend und können höchst gefährlich sein. Immerhin wird ihnen in der zweckfreien Forschung Raum gegeben. In ihrer lustvollen Befriedigung folgt der Mensch dem in der ganzen Natur fest­ zustellenden Trend zur besseren Anpassung an die Umwelt­ bedingungen mittels zahlloser zielloser Akte des Erprobens und Verwerfens, von Versuch und Irrtum. Inneres Wachstum in diesem Werdeprozeß verspricht mehr Befriedigung als alles materielle Glückstreben. Die Anpassung an neue Forderungen beinhaltet, daß die Iden­ tität mit der Stammgruppe verblaßt und in beliebigen Ge­ meinschaften eine neue Identität gesucht werden muß. Sie ermöglicht es dem von der Umgebung Geprägten, von der Umwelt Verkrüppelten schlummernde, durch Erziehung, Zucht und Sitte geknebelte Anlagen zu entfalten und so den Verlust der bisherigen Identität aufzuwiegen. Im Erproben neuer Möglichkeiten entdeckt der Mensch allmählich sein Eigentliches und wird zum Mindesten zufriedener, wenn 221

Glück im Werden

nicht glücklich. Glück ist nicht nur im Vertrauten. Glück be­ steht auch darin, der Mensch zu werden, als der jemand an­ getreten ist.

Kurzfassung: Der Mensch sieht sich in der Suche nach Glück ständig betrogen. Es ist die Angst vor der Ver­ änderung, die verhindert, Zufriedenheit, wenn nicht Glück zu erlangen.

Anmerkungen Alan Watts nimmt an, daß im Gegensatz zu der gängigen Auffassung, es handle sich dabei um eine objektive Lösung von der Welt, es darum ge­ he, sich subjektiv von den sozialen Konditionierungen zu befreien. Alan Watts, „Psychotherapie und östliche Befreiungswege", Kösel 1981 2 Renö Spitz, „Nein und ja" und „Die Entstehung der ersten Objektbezie­ hungen", Klett-Cotta 1992 und „Vom Säugling zum Kleinkind", KlettCotta 1996 3 Mario Erdheim, „Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur", Suhrkamp 1988. Der Autor, Ethno-Psychoanalytiker spricht vom Exotis­ mus, der Anziehungskraft des Exotischen, Fremden. 1

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Selbstzeugung In der Lust zu forschen setzt sich eine Richtung fort, die als Neugier und Spieltrieb überall bei Mensch und Tier zu beob­ achten ist. Wir wissen nicht, wohin dieses eingeborene Be­ dürfnis zielt, ob diese Bewegung Sinn hat. Wir werden den allerletzten Grund wohl nie begreifen. Das Einzige, was wir wissen, ist, daß es glücklich macht, diesem Bedürfnis zu fol­ gen und Lösungen zu erdenken. Weiter können wir nicht über den Tellerrand unserer beschränkten Existenz hinausschauen. Unsere Sinne, unser Denkapparat sind nicht dafür entwickelt worden, sehr viel mehr zu begreifen, als was der Mensch braucht. Aber, was braucht er? Muß er wissen? Ist es recht, daß er wissen will? Soll das Ziel dieses Strebens Gott genannt werden oder Paradies oder Nicht-Sein oder Vollendung?

Die Natur, die Welt ist in ständiger Bewegung, verändert sich ununterbrochen und wir mit ihr. Neugier und Spieltrieb sind die Voraussetzung für den Drang, sich weiter zu entwickeln und dabei mit unserer Umwelt besser zurechtzukommen. Ständig werden unausgelotete Möglichkeiten erprobt, neue Bereiche erobert. Das Denken ist als Probehandeln, als Vor­ stellen von Handlungskonsequenzen ein nützliches, aber oft überschätztes Instrument zur Weltbewältigung. Das Finden von Lösungen wirkt erlösend. Erklärungen für die Lebensrätsel auszudenken, befriedigt, spendet Lust wie andere Antriebe. Die Lösungen müssen nicht den Tatsachen entsprechen, sind sogar manchmal nützlich, obwohl sie nicht zutreffen. Sie sollen zunächst die Unruhe des Nichtverstehens stillen. Spie­ lerisch gefundenes Verständnis bietet sich zur Erprobung an. Wie das Zufallsspiel der Gene bewirkt, daß durch Genmi­ schungen, Mutationen und Auslese neue Formen entstehen, so fördert der Wissensdrang Einsichten zutage, Teile eines Puzzles, dessen Zusammensetzung irgendwann nützlich sein kann.

Gemeinhin wird angenommen, daß Erfindungen nur wertvoll sind, wenn sie von der Allgemeinheit anerkannt wurden, wenn sie allgemein nützlich sind. Man vergißt dabei die un­ 223

Selbstzeucung

zähligen Menschen, die in ihrem privaten Bereich, in Haus und Garten, am Arbeitsplatz, im Betrieb, in Küche, Wohnung, Familie usw. sich um Problemlösungen bemühen und ganz unspektakulär kreative Resultate hervorbringen. Darüber hin­ aus ist jedes Werk, auch bescheidene künstlerische Produkti­ on, als Spiegel der Seele Hilfe für Selbstverständnis. Es unter­ stützt die Gestaltung der Innenwelt, ein Prozeß, dessen Not­ wendigkeit keineswegs allgemein verstanden und noch weni­ ger anerkannt wird. Neues, auch „Überflüssiges" bereichert die Seelenlandschaft. Authentisches, mit sich selbst überein­ stimmendes Verhalten und Vorstellen, Erlangen von Frieden mit den Menschen und mit sich selbst sind Ziel des kreativen Mühens. Aus dem eingeborenen Stoff, sozusagen dem Roh­ material erschafft der Mensch sich selbst in der Entfaltung der Persönlichkeit. Gehaltvolle Kommunikation hilft als psychi­ sche Nahrung in diesem Bedürfnis.

Wer es nicht erprobt hat, kann nicht glauben, daß diese „Selbstzeugung" Glücksquelle wie die physische Zeugung sein kann. Werdelust läßt die Bedeutung gängiger Triebziele, äußerer Glücksgüter verblassen. Die quälende Jagd nach Geld und Geltung tritt zurück. Auch das Widrigste, Not und Leid die­ nen als Baumaterial inneren Wachstums. Die Suche zielt nicht unbedingt auf öffentliche Anerkennung, sie will Er­ kenntnis des Eigensten, des Einmaligen in einer widerspruchs­ vollen Welt. In der Kreation der eigenen Person ist dauerhafte Befriedigung eher gegeben, als durch die von Stimmung und Zufall abhängige Bestätigung von außen. Der ständige Kampf gegen die Antriebe, welchen die Sozietät ihren Gliedern auf­ nötigt, mildert sich. Der Mensch wagt, so zu sein, wie er an­ getreten ist, wagt Authentizität, Einssein mit sich selbst.

Was hier als bescheidenes Ziel, das jeder erreichen kann, beschrieben wird, hat viele, meist anspruchsvollere Namen. Die Mystiker des Westens versprechen wie die östlichen Reli­ gions-Philosophen Glück im Rückzug von, im Verzicht auf Welt in der spirituellen Selbsterfahrung. Sie wird als Vereini­ gung mit dem ewigen Prinzip beschrieben.

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Selbstzeugung

Die Religionen bieten Hilfen, vorgebahnte Wege. Das Gebet, Gespräch mit Gott, Suche nach Selbstverständnis, soll das persönliche Gespräch ersetzen, die Rückspiegelung durch ein Du.1 Die Suche der Mystiker gipfelt letzten Endes in dem Schluß: Gott, das höchste Gut, ist in mir. Weil diese Einsicht keine Alltagserfahrung ist und Mühe verlangt, wurden die Be­ zeichnungen häufig fehlinterpretiert und/oder mit unnötigen Geheimnissen umgeben. So erfuhr die von C. G. Jung gepräg­ te Bezeichnung „Individuation" und insbesondere ihre Über­ setzung als „Selbstverwirklichung" wie viele positive Begriffe einen kulturtypischen Begriffswandel ins Gegenteil und wird nun als rücksichtsloses Ichinteresse mißverstanden. Es wurde völlig übersehen, daß gerade Kommunikation, verständnisvol­ le Hingabe an Andere, Verständnis für das ganz Andere im Partner, für das Unerwartete in heranwachsenden Kindern den Blick für Eigenes, bisher Schlummerndes öffnen kann.

Ein wichtiger Teil des Befreiungsweges ist die ebenfalls durch östliche Religionsphilosophie vermittelte Erkenntnis, daß es auf unser kleines Selbst nicht sosehr ankommt, daß unser individuelles Schicksal nur eine vergängliche Welle im un­ endlichen Strom des Werdens ist. Diese Sicht, die uns auch die moderne Naturwissenschaft aufdrängt, wurde von asiati­ schen Denkern schon vor Jahrtausenden entwickelt. Das „Ich sei eine Illusion" sagt der Buddhismus, in der Interpretation von Alan Watts jenes Ich, das von den Konventionen der Gesellschaft, infolge der Deutung unseres Selbst durch die Anderen in uns hineininterpretiert wurde.2

Zweifelsohne spielen äußere, gesellschaftliche Bedingungen eine Rolle für Selbstverwirklichung. Freud, dem sozialen Auf­ stiegsdenken seiner Zeit, seiner Erziehung und Herkunft ver­ haftet, glaubte, nur der Mächtige habe die Freiheit, sich selbst optimal zu entfalten. Dahinter steht die Vorstellung, der atem­ lose Kampf ums Dasein lasse dem Durchschnittsbürger wenig Freiraum, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Durch die ständige Not der Unterprivilegierten scheint sich das Streben nach Geld, nach Besitz und Geltung so im Den­ ken zu verfestigen, daß das Wissen darum, daß der Mensch

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Selbstzeugung

nicht allein vom Brote lebt, schwer aufkommen kann. Es wird vorausgesetzt, die Sorge für eine Familie, der zeitraubende Broterwerb, die atemlose Jagd nach Geld und Geltung ließen wenig Selbstbesinnung zu. Zweifellos können günstige gesell­ schaftliche und wirtschaftliche Bedingungen, Sicherung der Grundbedürfnisse die Selbstzeugung erleichtern, ohne Bedin­ gung zu sein. In den drei Mönchsgelübden: Armut, Keusch­ heit, Gehorsam wird gerade der Verzicht auf alles, was über das Nötigste hinausgeht, als Voraussetzung für die Erleuch­ tung dargestellt. Ursprünglich spielte die Erleichterung der Lasten, die eine Familie mit sich bringt, eine Rolle. Buddha fand das Fasten, die extreme Enthaltsamkeit und absolute Be­ dürfnislosigkeit nicht hilfreich für die Befreiung und hatte den Mut, sie aufzugeben. Nach seinem Rückzug aus der Mönchsgemeinschaft kamen seine Brüder zu ihm und warfen ihm vor: „Du bist fett geworden ..." Er hatte sich frei gemacht von dem Diktat und den Versprechungen überflüssiger Askese. Man kann Armut, Keuschheit, Gehorsam weniger rigoros interpretieren und versteht sie dann ähnlich gewandelt wie andere alte Moralbegriffe. So kann an die Stelle des Armutsge­ löbnisses die Absage an den törichten Konsumwahn treten, dessen Kehrseite darin besteht, daß die Menschheit in ihrem eigenen Wohlstandsmüll erstickt. Keuschheit wird zur Famili­ enplanung und zur verantwortungsbewußten Elternschaft. Gehorsam wäre in einer unspektakulären Alltagsform, ohne Übersteigerungen, eine Haltung sozialer Verantwortlichkeit und Verpflichtung nicht nur gegenüber den Mitmenschen, sondern auch gegenüber dem eigenen Gesetz, nach dem einer angetreten ist. Die Bejahung der drei Mönchsgelübde in diesem schlicht-alltäglichen Sinn bedeutet individuell weder Verzicht oder Quälerei, weder Not noch subjektives Leiden, sondern schlichte Zufriedenheit. Sie ist gleichzeitig für die ganze Menschheit eine Annäherung an die Lösung der unvor­ stellbaren Probleme, die auf uns zukommen. Die Überbevöl­ kerung und die allgemeine Enge und Unzulänglichkeit, die sie mit sich bringen, scheinen mir eine der Grundursachen für die zunehmende Gereiztheit und Aggressivität und letzten Endes für Krieg trotz der weitgehenden Saturiertheit der west­ lichen Welt. Die gesteigerte Unruhe kann sich ausdehnen 226

Selbstzeugung

und zu einem Weltenbrand werden. Das Anwachsen von Aggressivität war bisher regional begrenzt; neu daran ist das globale Ausmaß und die größere Anzahl der beteiligten Men­ schen. Die Forderung, die Mönchstugenden in einer homöo­ pathischen Dosierung zu bejahen, so, daß mehr Zufriedenheit einkehrt und die Jagd nach Scheinzielen zurücktritt ist durch­ aus erfüllbar. Die Apostel des wirtschaftlichen Wachstums werden sie natürlich nicht gerne hören. Indessen brauchen sie keine Angst zu haben, daß die Menschen plötzlich weise werden und nicht mehr unnötig konsumieren.

Die Bedingungen, welche inneren und äußeren Frieden mög­ lich machen, sind nach den materiellen Grundlagen für ein würdiges, keineswegs luxuriöses Leben eine Gesellschaft, in der die Menschenrechte geachtet werden. Ihre Respektierung ist die Voraussetzung, daß das Individuum seine Fähigkeiten zum Nutzen der Gemeinschaft und zur eigenen Freude voll entfalten kann.

Kurzfassung: Glück liegt letztlich nicht in Geld und Geltung, sondern in der sozial angepaßten Entfaltung der eigenen Möglichkeiten.

Anmerkungen 1

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Ich habe von mehr als einer arbeitsüberlasteten alten Bauernfrau gehört, daß sie ohne den täglichen, frühmorgendlichen Gang zur Messe ihr har­ tes Leben nicht bewältigt hätte. Ich verstehe diese tägliche halbe Stunde als Möglichkeit zur inneren Einkehr in einer ständig fordernden Umwelt. Es gibt noch einige andere Deutungen dieser Aussage.

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Extractum Das folgende Kapitel ist für den eiligen Konsumenten ge­ dacht, der sich gezwungen sieht, diagonal zu lesen. Wer wohl informiert ist, kann das erste Drittel des Buches über­ schlagen, weil in ihm diejenigen mehr oder weniger bekann­ ten Ergebnisse der Naturwissenschaft und der Tiefenpsycho­ logie rekapituliert werden, die für die späteren Ausführungen relevant sind. Der Gedanke der Gewaltlosigkeit, durch Gandhi am Anfang des Jahrhunderts bekannt geworden und aus der frühen hin­ duistisch-buddhistischen Religionsphilosophie stammend, stand Pate bei der Abfassung des Buches, erlitt aber dasselbe Schicksal, das manche wohlmeinende Eltern von ihren Kin­ dern erfahren: sie werden fragwürdig. Leben ohne Gewalt, ohne Aggression ist unmöglich; aber wir können Gewalt einschränken. Physische, insbesondere de­ struktive Aggression ist nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Andererseits ist nichtphysische Gewalt nicht schon von vorn­ herein gut. Als strukturelle Gewalt, Gewalt, die in den Ver­ hältnissen liegt, ist sie schuld an sozialer Ungerechtigkeit. Auch nicht-physische zwischenmenschliche Gewalt hängt eng zusammen mit der Gewalt, die sich Menschen, als Aus­ wirkung der anerzogenen kulturellen Vorurteile selbst antun: verinnerlichte Gewalt. Was man sich selbst, auf Grund von quasi-magischen Ängsten, von verinnerlichten Erziehungs­ diktaten glaubt nicht erlauben zu können, das kann man auch seinem Nächsten nicht zugestehen: Wie ich mir, so ich dir. Das führt zu dem Hauptgegenstand des Buches: dem Wirken unbewußter Motive und Energien in den zwischenmenschli­ chen bis politischen Beziehungen. In einem Brückenschlag von der Naturwissenschaft bis zur Religionswissenschaft wird untersucht, wie angeborene sozia­ le Beziehungsformen, uralte kollektive Grundvorstellungen und unbewußte, kulturell bedingte Vorurteile in bezug auf Krieg und Gewalt, auf Herrschaft und Macht sowie die Glori­ fizierung und Fehlinterpretation von militärischer Aggression

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die geschichtlichen Prozesse mitbestimmen. Dabei kann die Gleichzeitigkeit körperlichen und seelischen Geschehens, die der Seelenarzt täglich beobachtet, als Scharnier zwischen Natur- und Geisteswissenschaften dienen. Zunächst gehen die Überlegungen von den Konzepten von Urvater Darwin und des von ihm beeinflußten Sigmund Freud aus. Die Grundideen beider mußten seit ihrem Auftreten von vielen Wissenschaftlern weiterentwickelt werden, sie mußten noch mehr als gegen erbitterte Feinde gegen ihre übergläubi­ gen Anhänger verteidigt werden. Die Erkenntnis, daß alles Lebendige einschließlich der von Menschen entwickelten Gedanken ständig im Fluß ist, kann vor diesen beiden Gro­ ßen nicht halt machen. Blinder Glaube an unerschütterliche Wahrheiten würde ihre Einsichten entwerten. Die Absage an Ideologien, die aus Einzelaspekten abgeleitet sind, macht den Darwinismus genauso fragwürdig wie die orthodoxe Psycho­ analyse. Das gilt auch für den rigiden Pazifismus.

Neue Forschungsrichtungen der Naturwissenschaft werfen die Frage auf, welche Bedeutung die Evolution für die menschli­ che Psyche hat. Ihre Erkenntnisse bauen auf denen der ver­ gleichenden zoologischen Verhaltensforschung (Humanetho­ logie) auf, die zu der Annahme berechtigt, daß menschliches Verhalten aus einer Grundlage im Erbgut weiterentwickelt wird. Beim Menschen allerdings kommt der erzieherischen Formung eine im Vergleich mit dem Tier überragende Rolle zu. Die Evolutionspsychiatrie vermutet, daß menschliches Sozialverhalten genauso wie morphologische Unangepaßthei­ ten in der Entwicklung nachhinken kann. Das bedeutet, daß es den aktuellen Notwendigkeiten nicht mehr entspricht und sich als Dysfunktion, Krankheit darstellt. Der Titel: „Ist Krieg heilbar?" mit dem Anklang an die bange Frage: „Ist Krebs heiIbar?" deutet an, daß Kriegsleidenschaft Ausdruck eines veral­ teten Triebverhaltens ist, das in unsere technisierte Welt nicht mehr paßt und damit zu einer Erkrankung des sozialen Orga­ nismus wird. Moderne Kriegstechnik bringt in der überindu­ strialisierten Welt so viele Nachteile mit sich, daß eventuelle Vorteile nicht mehr in Kauf genommen werden können.

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Die Titelfrage will aber auch Hoffnung machen, daß die Dys­ funktionalität der kriegerischen Aggression genauso wie der früher fast immer tödliche Krebs geheilt werden kann, wenn Forschung die richtigen Wege einschlägt und die angemesse­ nen Folgerungen gezogen werden. Eine Untersuchung unbe­ wußter sozialer Prozesse auf einer statistisch relevanten brei­ ten Basis, welche die technisch-naturwissenschaftliche For­ schung ergänzt, wird gerade durch die vielfach perhorreszierte Globalisierung möglich.

Der Mensch ist in ausgeprägtem Maße ein soziales Säugetier. Die frühe, von dem jüngeren Freud bestimmte Psychoanalyse vernachläßigte, einer allzu materialistischen Vorstellung von Wissenschaft folgend, die soziale Bezogenheit. Die sogenann­ te Triebtheorie wurde, beginnend vor Mitte des 20. Jahrhun­ derts erweitert zu Konzepten, welche die menschlichen Be­ ziehungen und die Entwicklung der Persönlichkeit zuneh­ mend in den Mittelpunkt der psychoanalytischen Forschung rückten'. Sie ergeben neue Aspekte für das Verständnis von Aggression. Die Annahme eines ungerichteten, unabhängig auftauchenden, gleichsam ziellosen Aggressionsbedürfnisses konnte nicht aufrecht erhalten werden.

Ausgeprägte soziale Bedürfnisse halten die Gesellschaft zu­ sammen und machen überindividuelle Leistungen möglich. Nachahmung und Nachfolgebedürfnis kommen den Erzie­ hungsbemühungen entgegen. Die jeweiligen Erziehungsstile modifizieren die sozialen Neigungen und wurzeln sich als frühe Prägung tief ein, d.h. Gemeinschaftsgebote werden einschließlich der ihnen innewohnenden Gewalt verinner­ licht. Dadurch entsteht eine scheinbare Einheitlichkeit, wel­ che die individuellen Unterschiede zudeckt. Ihr Nachteil ist, daß ungewöhnliche Talente sich schlecht entfalten können, was eine Schwächung der Reform- und Innovationsfähigkeit darstellt. Das „Feindbild", die Phantasie eines Feindes, dient als eines der wichtigen Symbole im Dienste der Gemeinsamkeit. Als Grundlage des Zusammenstehens gegen eine Gefahr begrün­ det es einen kollektiven Überlebensvorteil. Das ist vermutlich der Grund, warum Gemeinschaftserlebnisse einschließlich 231

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Fremdenhaß mit rauschhafter Lust erlebt werden. Die Lust dient als Belohnung für den Aufschwung zur Gemeinsamkeit. Die aufwühlenden irrationalen Gefühle werden von der Menge gesucht und beschworen, auch wenn die reale Situa­ tion sie nicht rechtfertigt.

Die zwischenmenschliche Gegensätzlichkeit wird durch die Phantasie eines gemeinsamen Feindes zugedeckt. Sie hat eine intrapsychische Entsprechung in einem inneren Feind. Da Feindbilder ein Gegengewicht zu dem innergesellschaftlichen Neid darstellen, sind sie sozio- und psychodynamisch zweck­ mäßig. Ihre tiefe Verwurzelung im Unbewußten verhindert ihre Auflösung mittels einmaliger Einsicht. Diese Verdrängung ist zwar unvermeidlich, bedeutet aber Verarmung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Die Integration des Ver­ drängten in das Bewußtsein, die Erkenntnis des illusionären Charakters eines Feindbildes beinhaltet daher eine Erweite­ rung der Persönlichkeit.

Neid und Wettbewerb sind, beginnend in der Familie, ein integrierender Bestandteil menschlicher Gesellschaften. Un­ stillbare Auseinandersetzungen treten meist zwischen gene­ tisch und kulturell nah verwandten Bevölkerungsgruppen auf, ähnlich wie zwischen Geschwistern oder Cousins (z.B. Iren, Basken, Palästinensern und Juden, Jugoslawen, Indern usw.). Das Grundmuster des innerfamiliären Streites überträgt sich auf einen größeren Mitgliederkreis, bis hin zu großen, nicht benachbarten Einheiten, ohne daß vitale Konkurrenz vorlie­ gen muß. Es entsteht der Eindruck, als müsse der andere mit allen Mitteln zum Feind hochstilisiert werden, während die eigentlichen Konflikte mit gutem Willen und gesundem Men­ schenverstand zu bewältigen wären. Krieg und Streit mit den zugehörigen Feindbildern scheinen unvermeidlicher Teil eines Systems zu sein, in dem Neid und Gesellungsbedürfnis sich die Waage halten. Die Spannungs­ gegensätze gehören zusammen, durch sie entsteht Ganzheit. In dieser Sicht stellt sich Gesellschaft als eine ständig im Wandel begriffene interaktive Einheit dar, ein Organismus, der wegen seiner inneren Gegensätze zu polarem Ausgleich drängt. Diese systemische Sicht, schon bei Freud in Ansätzen 232

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vorhanden und dem Kommunitarismus verwandt, beinhaltet, daß jede Veränderung einzelner Mitglieder die Veränderung der anderen Teile mitbewirkt. Der „clash of cultures", Zusammenprall der Kulturen, ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Globalisierung, er­ weckt aber unklare Ängste. Sie sind unter anderem verursacht durch die Erschütterung der Identität infolge der Begegnung mit einer anderen Kultur. Das feindlich phantasierte Fremde, eng verwandt mit dem, was in der eigenen Kultur nicht zur Entfaltung kommen darf, hat allerdings auch Anziehungskraft. Diese ist wie ein Versprechen, daß die Bejahung der zunächst als bedrohlich erlebten fremden Wertewelt Bereicherung sein kann. Identität ist wichtig, weil sie bedeutet zu wissen, wohin man gehört, was als gut und böse zu gelten hat und welche Ziele in der schützenden Gemeinschaft anzustreben sind. Die Ent­ wicklung von Identität und Persönlichkeit verläuft ungünsti­ ger, wo in der frühen Kindheit die Kommunikation zu den nächsten Bezugspersonen unzureichend war. Die damit ein­ hergehende gesteigerte Aggressivität kann Ursache eines überbordenden Machtstrebens werden. Die Akteure der Ge­ walt, die eine ausgeprägte Feindseligkeit bis zum Mord ent­ wickeln, sind meist in einem Alter pubertärer Instabilität. Diese biologisch begründete Verunsicherung der Identität hat Ähnlichkeit mit derjenigen infolge Migration und politischem Umbruch. Die Angst, welche die Erschütterung der Identität begleitet, macht aggressiv.

Wir können und wollen die menschlichen Antriebe nicht abschaffen. Wie immer man psychische Energien bezeichnen mag: Triebe, vitale Strebungen, Kontakthunger usw., sie sind Produkte einer seit Jahrmillionen anhaltenden Entwicklung, entstanden in Interaktion mit der Umwelt, mit den Nächsten und der Natur. Während die sozialen Bedürfnisse wie bei vielen Tieren Gemeinschaft gestalten, ist es eine menschliche Besonderheit, daß kindliches Verhalten wie Neugier und Spieltrieb in verstärktem Ausmaß erhalten bleiben. Durch sie werden neue existentielle Horizonte eröffnet. Als Innovations­ fähigkeit tragen sie zur Lösung neu auftauchender Probleme 233

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bei. Sie stehen in Spannung zu den bewahrenden Tendenzen, welche darauf abzielen, Verhalten, insbesondere soziale Normen, die sich als günstig erwiesen haben, zu konservie­ ren. Gemeinschaft verlangt Verzichte, aber Frustrationen auf einem Gebiet können durch Befriedigung auf einem anderen ausgeglichen werden. Die Bejahung „nutzloser" Bedürfnisse ist bedeutsam, weil sie als Ventile für unvermeidliche Versa­ gungen dienen können. Frustrationen auf allen Gebieten stei­ gern Aggressivität. Die Gesellschaft hat ein Interesse daran, statt der Ablenkung nach außen in Form von Krieg, Aus­ weichmöglichkeiten zu kultivieren. Die soziale Ablehnung von unüblichen Befriedigungen ver­ dient hinterfragt zu werden. Wo letztere niemandem schaden, gilt: Was Spaß macht, ist erlaubt. Jeder möge seinem Bedürf­ nis nach nichtdestruktiver Aggression, nach Aktionslust, Abenteuer oder spielerischem Wettbewerb, nach Kommuni­ kation, Sex, Liebe, Spiel nachgehen, sie haben ihren Wert in sich. Wo es zu perversen, dysfunktionalen Entwicklungen kam, ist Formung bis zu einem gewissen Grad möglich. Jede Aktivität, besonders in Gemeinschaft, jede Art von Sport, einschließlich Denksport (Kartenspiel), Kreativität in Form von Basteln, Gärteln, Häuslebauen usw. und die Befriedigung der Neugier in Form von Lernen und Reisen können an die Stelle eines übertriebenen Arbeitsethos treten. Die vielgerühmte deutsche Arbeitsamkeit verliert an Wert, wenn Arbeit ohnehin knapp wird. Die Arbeitslosigkeit, dunk­ le Rückseite der Mechanisierung der Produktion, hat einen positiven Aspekt. Die Verteilung der Arbeit verschafft endlich Zeit für das, was den Menschen zum Menschen macht. Sie muß begleitet sein von der Absage an Konsumwut und passi­ ve Unterhaltung, die durch den Medienschrott geschürt wer­ den und nur Zeit und Geld kosten. Parallel zur Klage über die Verminderung von Arbeit und Einkommen kann auf den Ge­ winn hingewiesen werden: Zeit für Gesellschaft, Genuß, Wei­ terbildung und Mitarbeit bei kollektiven Aufgaben. Geld und soziale Geltung brauchen keine ausschließlichen Bedingun­ gen für Glück und Wohlbefinden zu sein.

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Die positiven, ein Gefälle ausgleichenden Funktionen des Krieges, seine ungeplante Nebenfunktion als Motor kultureller und genetischer Vermischung wird heute bewirkt durch Su­ perkommunikation und Hypermobilität. Auf höchster Ebene treten Telefon- und Reisediplomatie und wirtschaftliche Sank­ tionen an die Stelle des militärischen Eingreifens. Übervölke­ rung, durch Krieg früher in Grenzen gehalten und eine der Hauptursachen für Aggression, kann durch „family planning" kompensiert werden. Die ohnehin unumgängliche Geburten­ beschränkung setzt Arbeitskraft von Frauen frei. Sie kann Gemeinschaftsaufgaben dienen, weil die weibliche Hälfte der Menschheit als Reaktion auf uralte, kulturell vererbte Unter­ drückung Meisterschaft in Diplomatie und sanfter Gewalt entwickelt hat. Bewußtseinswandel braucht Zeit, denn die ganz frühen Prä­ gungen haften viel länger als spätere Lernergebnisse. Die Gewaltbereitschaft, deren Ansteigen wir zu registrieren glau­ ben, macht eine gegenläufige Anstrengung notwendig. Die Überwindung der überlebten Kriegsleidenschaft erfordert die Einübung von kreativem gewaltfreiem Streiten. Dieser Lern­ prozeß kann naturgemäß keine sofortigen Erfolge erwarten lassen. Jedoch ist die Fähigkeit zu dialogischer Konfliktlösung eine erlernbare Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen, genau so wie die Methoden der „Sozialen Verteidi­ gung", welche Vorschläge zur Bearbeitung sozialer und inter­ nationaler Konflikte vermitteln können. Für die Zukunft sind Ideen vonnöten, wie die wachsenden supranationalen Mächte in Schranken gehalten werden können. Eine Erneuerung der real existierenden Demokratie muß vom Bürger ausgehen.

Die Medien könnten zu einem Bewußtseinswandel beitragen, wenn sie nicht mehr wie in dem bisherigen Ausmaß vom Kommerz bestimmt wären. Statt den Konsumismus anzuhei­ zen und durch Überflutung das Unbehagen über Gewalt und liebelosen Sex abzustumpfen, wäre eine Sensibilisierung da­ für denkbar, daß nicht Haben, sondern Sein und erst recht „Werden" in der sozialen Wertung Rang beanspruchen kön­ nen. „Selbstzeugung", kreative Entwicklung der eigenen Per­ sönlichkeit, der Identität mit sich selbst, der Authentizität 235

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schließt Ausgleich der inneren Spannungen ein. Der innere Friede unterstützt äußeren Frieden, weil die äußeren Gegen­ sätze nachsichtiger und zuversichtlicher beurteilt werden können.

Anmerkungen 1

Objektbeziehungstheorien (Klein, Fairbairn, Winnicott), Ich-Psychologie (Erikson, Mahler, Kernberg), interpersonelle Psychoanalyse (Sullivan, Greenberg und Mitchell), Selbstpsychologie (Kohut), Beziehungsanalyse (Bauriedl), Narzißmustheorien (Grunberger).

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