Ironie, Polemik und Provokation 9783110343915, 9783110343748

This work explores varying concepts of irony in Arthurian romance. It looks at the places where irony is linked to other

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Ironie, Polemik und Provokation
 9783110343915, 9783110343748

Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
I. Ironie
Offene und verdeckte Ironiesignale in mittelalterlichen Erzählungen
Gottfrieds Ironie: Vorüberlegungen zu einer Narratologie des Unernsts Zu Morolds Wappnung und der Brautwerbung um Isolde
Lacht Hartmann? Überlegungen zu einer ironischen Äußerung des Erzählers (Erec, V. 366–395)
»ich hân ouch mennischlîchen list« Ironie in den Trevrizent-Szenen: ›dramatisch‹ oder ›sokratisch‹?
Ironische Distanzierung im Fokus intertextuellen Erzählens Der westjiddische Widuwilt als Rezeptionsgegenstand
»der rede wart vil gelachet da« Zum Ironie- und Provokationspotential der Artusfahrt im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein
II. Polemik und Provokation
»Nu lerne, waz sterben si!« Zum höfischen Umgang mit drô und spot am Beispiel der kampfeinleitenden Reizreden bei Hartmann und Wolfram
Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot
(De)stabilisierende Provokationen Zur Tugendprobe im Ambraser Mantel-Fragment
Die Gestalt des Kei in der Crône Tradition und Innovation: Vom Spötter zum Gralssucher
Der Artushof als Provokation Überlegungen zum Konzept der ›Symbolstruktur‹
Der provozierte Rezipient Schemabrüche und Schemaübersteigerungen beim Pleier
III. Parodie
Das Lachen des verbitterten Idealisten Parodie und Satire im Widuwilt
Raouls de Houdenc La Vengeance Raguidel Komik und Parodie
Parodie und Artusroman Versuch einer Problematisierung

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Ironie, Polemik und Provokation

Schriften der Internationalen Artusgesellschaft

Sektion Deutschland/Österreich Herausgegeben von Cora Dietl, Klaus Ridder, Brigitte Burrichter, Laetitia Rimpau, Friedrich Wolfzettel, Jörg O. Fichte

Band 10

Ironie, Polemik und Provokation Herausgegeben von Cora Dietl, Christoph Schanze und Friedrich Wolfzettel

ISBN 978-3-11-034374-8 e-ISBN 978-3-11-034391-5 ISSN 1869-7070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort der Herausgeber | VII I. Ironie   Fritz Peter Knapp   Offene und verdeckte Ironiesignale in mittelalterlichen Erzählungen | 3 Florian Kragl   Gottfrieds Ironie: Vorüberlegungen zu einer Narratologie des Unernsts Zu Morolds Wappnung und der Brautwerbung um Isolde | 17  Christoph Schanze   Lacht Hartmann? Überlegungen zu einer ironischen Äußerung des Erzählers (Erec, V. 366–395) | 51  Alissa Theiß   »ich hân ouch mennischlîchen list« Ironie in den Trevrizent-Szenen: ›dramatisch‹ oder ›sokratisch‹? | 73  Susanne Knaeble   Ironische Distanzierung im Fokus intertextuellen Erzählens Der westjiddische Widuwilt als Rezeptionsgegenstand | 85  Andrea Moshövel   »der rede wart vil gelachet da« Zum Ironie- und Provokationspotential der Artusfahrt im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein | 109  II. Polemik und Provokation   Tina Terrahe   »Nu lerne, waz sterben si!« Zum höfischen Umgang mit drô und spot am Beispiel der kampfeinleitenden Reizreden bei Hartmann und Wolfram | 133 

VI | Inhalt Rachel Raumann   Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot | 163  Claudia Ansorge   (De)stabilisierende Provokationen Zur Tugendprobe im Ambraser Mantel-Fragment | 183  Danielle Buschinger   Die Gestalt des Kei in der Crône Tradition und Innovation: Vom Spötter zum Gralssucher | 211  Ricarda Bauschke   Der Artushof als Provokation Überlegungen zum Konzept der ›Symbolstruktur‹ | 225  Björn Reich   Der provozierte Rezipient Schemabrüche und Schemaübersteigerungen beim Pleier | 239  III. Parodie   Matthias Däumer   Das Lachen des verbitterten Idealisten Parodie und Satire im Widuwilt | 259 Brigitte Burrichter   Raouls de Houdenc La Vengeance Raguidel Komik und Parodie | 287  Friedrich Wolfzettel   Parodie und Artusroman Versuch einer Problematisierung | 303 

Vorwort der Herausgeber »It has become fashionable to discuss irony in medieval literature«1 – das erklärt Simon Gaunt bereits 1989 im Vorwort seiner Studie zur Rolle und Funktion der Ironie in der Trobadorlyrik. Dabei verweist er auf Dennis H. Greens Arbeiten zur Ironie im höfischen Roman,2 welche der bis dahin weitverbreiteten Vorstellung von einem ironiefreien Mittelalter widersprochen haben. Auf Green aufbauend betont Gaunt die rhetorische Tradition der Antike, deren Ironiekonzept im Mittelalter rezipiert und weiterentwickelt wurde – auf eine dem Mittelalter eigene, nicht mit dem modernen Begriff der ›Ironie‹ deckungsgleiche Weise, mit einer starken Betonung der Idee eines Sprechens per contrarium.3 Im selben Jahr veröffentlichte auch Dilwyn Knox seine Untersuchung zu verschiedenen Spielarten der Ironie in der Literatur und Rhetorik des italienischen Spätmittelalters und der Renaissance.4 Diese Vorstöße der angelsächsischen Mediävistik wurden in der deutschsprachigen Forschung zunächst kaum aufgenommen. Davon legen die einschlägigen Fachlexika ein deutliches Zeugnis ab: Der Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie spart das Mittelalter vollständig aus;5 im Historischen Wörterbuch der Rhetorik werden eher die Rechtfertigungen der Ironie im Mittelalter diskutiert als ihre Funktionen und Wirkweisen;6 das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft tut das Thema mit der kurzen Bemerkung ab, dass »das Mittelalter zwar die Sache, aber nicht den Begriffsnamen der Ironie kennt«,7 was freilich dann nicht bedeutet, dass unter der Rubrik ›Sachgeschichte‹ der mittelalterliche Gebrauch der Ironie erwähnt würde. Im Metzler Lexikon Literatur schließlich wird bei der Darstellung der Geschichte des Ironiekonzepts || 1 Simon Gaunt, Troubadours and Irony, Cambridge 1989 (Cambridge studies in medieval literature 3), 1. 2 Stellvertretend sei hier auf Greens zentrale, frühere Aufsätze zusammenfassende Monographie verwiesen: Dennis H. Green, Irony in the medieval romance, Cambridge u. a. 1979, Reprint 1980. Vgl. auch Greens spätere Studie »Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur«, in: Dietmar Peil (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 35–56. 3 Vgl. Gaunt (wie Anm. 1), 15. 4 Dilwyn Knox, Ironia. Medieval and Renaissance Ideas of Irony, Leiden u. a. 1989 (Columbia studies in the classical tradition 16). 5 Vgl. Harald Weinrich, Art. »Ironie«, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, 577–582. 6 Vgl. Ernst Behler, Art. »Ironie«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, 599–624. 7 Wolfgang G. Müller, Art. »Ironie«, in: RdL, Bd. 2 (2002), 185–189, hier: 186.

VIII | Vorwort der Herausgeber

das Mittelalter mit einem Halbsatz übergangen: Ironie sei im Mittelalter eine Spielart der Allegorie.8 Erst mit der 2011 erschienenen Studie von Gerd Althoff und Christel Meier9 ist die mittelalterliche Ironie als rhetorisch-gewitzte Form der Kritik, als Element gelehrter Streitkunst und zugleich als ein Mittel der Besänftigung von Provokationen in der mündlichen und schriftlichen Kommunikation neu ins Zentrum des mediävistischen Interesses gerückt.10 Dadurch werden auch Greens frühe wegweisende Arbeiten vermehrt zur Kenntnis genommen. Inwiefern allerdings ein antik-rhetorischer Ironiebegriff nicht nur auf mittelalterliche Rede- und Kommunikationsformen sowie auf pragmatische Literatur, die Schwerpunkte der Analysen von Althoff/Meier, sondern auch auf die Erzählliteratur anwendbar ist, bleibt nach wie vor eine Streitfrage der Forschung. Der heutige literaturtheoretische Ironiebegriff ist als Analyseinstrument an der modernen Literatur geschärft; ihn bruchlos auf mittelalterliche Literatur zu übertragen, erscheint ein gewagtes Experiment, das zuerst gerechtfertigt werden müsste. Der Frage, ob das, was wir heute ›Ironie‹ nennen, wirklich im höfischen Erzählen zu finden ist und welche Funktionen und Effekte diesem Konzept zugeschrieben werden können, ging die Sektion Deutschland/Österreich der Internationalen Artusgesellschaft bei ihrer Rauischholzhausener Tagung im Februar 2013 nach. Am Beispiel ausgewählter Artusromane des europäischen Mittelalters wurden verschiedene Ironie-Konzepte als Beschreibungskategorien für die in den Texten beobachteten Phänomene durchgespielt. Ziel der Tagung war es nicht nur, Formen, Funktionen und Wirkungsweisen der ›Ironie‹ im Artusroman aufzuspüren – sowohl auf der Handlungsebene als auch in der Kommunikation zwischen dem Erzähler und den Figuren bzw. dem Rezipienten oder zwischen dem Text und seinen Adressaten –, sondern auch, andere Redeformen zu identifizieren und von der Ironie abzugrenzen: Redeformen, die wie die Ironie im Meinungsstreit und in der kritischen Interaktion angewandt werden und sich in

|| 8 Vgl. Christoph Deupmann, Art. »Ironie«, in: Dieter Burdorf u. a. (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart, Weimar 2007, 360. 9 Vgl. Gerd Althoff, Christel Meier (Hrsg.), Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011. 10 In den Kontext der Studie von Althoff/Meier gehören auch die sieben aus einem von Gerd Althoff und Christel Meier geleiteten Kolleg der Studienstiftung des deutschen Volkes hervorgegangenen Beiträge, die in Band 44 (2010) der Frühmittelalterlichen Studien versammelt sind. Vgl. v. a. Michael Becker, »Ironia. Mittelalterliche Ironietheorie von der Antike bis zur Renaissance«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 357–393, und Mona Alina Kirsch, »Das er in spottes wise hette entpfangen. Einblicke in die literarische Darstellung von Spott und Ironie im Mittelalter«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 395–418.

Vorwort der Herausgeber | IX

ihrer Form oder ihrer Wirkung zum Teil mit dieser überschneiden, wie etwa die Provokation, der Spott und die Polemik, die Komik, die Parodie und die Satire. Die hier versammelten Beiträge der Tagung verstehen sich als Wegweiser in ein breites Themenfeld, das weitere wissenschaftliche Beachtung verdient und mit einer Tagung noch lange nicht erschöpfend behandelt ist, nicht zuletzt, weil es aus der Spannung zwischen verschiedenen historischen Begriffsdefinitionen, zwischen der Fachtradition und unserem durch moderne Literatur- und Kulturwissenschaft geschärften Blick auf ›alte‹Texte lebt. Es ist ein Thema, das gerade deshalb besonders zum Dialog über die Forschergenerationen und über verschiedene Forschungskulturen hinweg einlädt, wie sie für die Artusforschung und insbesondere für die Arbeit der Internationalen Artusgesellschaft charakteristisch sind. Der vorliegende Band gliedert sich thematisch in drei Abschnitte, von denen der erste dem in der Tagung zentralen Begriff der › I r o n i e ‹ gewidmet ist. Für die Verwendung eines für die Artusromane zeitgenössischen, d. h. eines von der antiken Auffassung geprägten rhetorischen Ironie-Begriffs, wie er den mittelalterlichen Dichtern etwa über Isidor von Sevilla vermittelt war, plädiert im einleitenden Beitrag F r i t z - P e t e r K n a p p . Das raffinierte verdeckte Sprechen, das etwas anderes als das eigentlich Gesagte meint, muss beim Gebrauch eines auf mittelalterliche Texte angewandten Ironie-Begriffs neben dem per se kritischen Element der ironischen Sprache der zentrale Aspekt sein. Allerdings ist dieses nicht leicht auszumachen. Schon Isidor konstatiert, Ironie sei an der Intonation zu erkennen. Wie aber können wir diese rekonstruieren, da wir nur die Schriftüberlieferung vorliegen haben? Außerdem bezieht sich die Rhetorik nicht auf Romane, sondern auf Reden und kürzere Texte. Können wir Ironie also nur an der Figurenrede festmachen, aber nicht im Dialog zwischen Text und Rezipient? Welche Ironie-Signale lassen sich im literarischen Text finden? Vor dem Hintergrund von solchen Fragen spricht sich Knapp dafür aus, nur in Fällen, die eindeutig auch mit dem zeitgenössisch verfügbaren ›Analyseinstrumentarium‹ als ›ironisch‹ einzustufen sind, von ›Ironie‹ im mittelalterlichen Sinne zu sprechen. Den Versuch, die erst in neuzeitlichen Poetiken definierte n a r r a t i v e Ironie für das Mittelalter zu retten, unternimmt F l o r i a n K r a g l . Er weist auf weitere wichtige Elemente der Ironie hin: auf die Tatsache, dass bei der ironischen Sinnverkehrung der ursprüngliche Sinn sichtbar bleibt, und darauf, dass Ironie eine Distanzierung bedeutet, aber keine komplette Absage. Das, von dem sich der Sprecher distanziert, steht damit nach wie vor im Raum. Bei der gleichzeitigen Präsenz des Gesagten und Gemeinten ist klar, dass Ironie nicht oder nur sehr selten eindeutig ist. Gerade die Subtilität der Ironie, so Kragls Vorschlag, darf als ein Qualitätsmerkmal ironischen Erzählens gelten. Umso not-

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wendiger sind also Ironiesignale, damit die Ironie vom Betrachter/Leser/Hörer entschlüsselt werden kann. Das können Absurditäten in der Handlung sein, innere Distanzierungen der Figuren von ihrem Handeln (›Figurenpsychologie‹) oder Inkongruenzen zwischen Erzählerkommentar und erzählter Handlung, die eine Distanzierung des Erzählers von der durch ihn selbst geschaffenen Erzählwelt zeigen. Narrative Ironie kann auch so etwas sein wie eine narrativ entworfene ›Ironie des Schicksals‹, gerne gepaart mit narrativen Distanzierungen von einfachen Handlungsverläufen und von einer ›trivialen‹ Handlung. Ironisches Potenzial kann man gerade auch in Texten ausmachen, in denen Figuren- und v. a. Rezipientenerwartungen einen ›harten Aufprall‹ an der Erzählrealität erleben, wodurch die ironische Erzählhaltung vorgängige Erzählweisen und Typen sowie die ihnen entsprechenden Rezeptionshaltungen kritisiert. So ist ironisches Erzählen auch ein Unernst, der gegen den Ernst anderer Erzählungen anerzählt, allerdings verdeckt, als »tiefironischer Schwebezustand«, denn wenn die Kritik an anderen Erzählweisen zu offen wird, verwandelt sich Ironie in Polemik. Am Beispiel der ›Armen Herberge‹ in Tulmein im Erec Hartmanns von Aue führt C h r i s t o p h S c h a n z e vor, wie ein Aufeinanderprallen von erzählter Welt und Rezipientenerwartung zustande kommen kann, das der Erzähler in ironischer Brechung inszeniert. Durch den ironischen Sprachgebrauch wird zugleich das Verhältnis von sichtbarer Fassade und versteckter Wahrheit (auf der Handlungs- wie auf der Metaebene) diskutiert, wodurch sich der Erzähler als rhetorisch souveräner Akteur präsentiert. Die Frage, ob der ›ironische Schwebezustand‹ in der Erzählung auch als eine kritische Distanzierung von der Vorlage verstanden werden könnte, steht dabei als Möglichkeit im Raum und wurde von der ›älteren‹ Forschung auch öfters als Erklärungsmuster herangezogen. Als ›Schlüssel‹ zum Verständnis der Ironie dieser Textpassage ist solch ein Ansatz aber nur bedingt geeignet, weil er mit dem Rezipientenwissen als unkalkulierbarer Variable argumentieren muss. Bei ihrer Untersuchung der TrevrizentSzenen in Wolframs Parzival stellt A l i s s a T h e i ß dagegen die Frage nach dem Verhältnis zur Vorlage ins Zentrum. Die Widersprüchlichkeit in der Darstellung der Figur und der Lehren des Trevrizent lassen sich als eine Spielart der sokratischen Ironie verstehen, die handlungsintern weniger der Figurencharakterisierung dient – als eine Möglichkeit zum Verständnis der stark divergierenden Deutungen der Trevrizent-Figur wird hier der ›Zeitgeist‹ der jeweiligen Interpretation plausibel gemacht – als vielmehr der narrativen ›Steuerung‹ von Parzivals Weg zu seiner Erlösung; mit Blick auf die Vorlage sei die ironische Umgestaltung der Trevrizent-Szenen aber auch als ein Element der Wolfram’schen Abgrenzung von Chrétien zu verstehen. S u s a n n e K n ä b l e führt diese Überlegungen zur (narrativen) Ironie als einer Form der Distanzierung

Vorwort der Herausgeber | XI

von der Vorlage weiter. Am Beispiel des westjiddischen Widuwilt zeigt sie die Funktion der Ironie als einer Perspektivierung des intertextuellen Umfeldes auf. Diese Perspektivierung biete dem Rezipienten ein Deutungsangebot, das insbesondere bei der Übertragung eines Stoffs aus einem religiösen Kontext in den anderen gefordert sei. Gerade im interreligiösen Austausch bedeutsam ist die von Knaeble eingeführte Unterscheidung von Fremdironie und Selbstironie, die, wie sie zeigt, bei der Überlagerung von Religionskritik und Poetologie aber auch wechselseitig ineinander umschlagen können. Die kommunikative Funktion der Ironie weniger im intertextuellen Kontext als im Zusammenspiel zwischen Literatur und Publikum nimmt A n d r e a M o s h ö v e l in den Blick. Sie versteht Ironie als eine Waffe in gewaltloser Auseinandersetzung, die auf die Solidarisierung des Ironisierenden mit einem Publikum zielt. In ihrer Analyse von ›ironieverdächtigen‹ Figurenreden in der Artusfahrt in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst demonstriert sie anhand der Reaktionen des textinternen Publikums (z. B. des Lachens), wie im ironischen Kommunikationsmodus Ein- und Ausschlussverfahren zur Wirkung kommen, durch die sich das textinterne Publikum in Komplizen und Ausgeschlossene aufteilt. Vor dem Hintergrund der politischen Situation in Österreich und Böhmen in der ersten Hälfte des 13. Jh. wird es so möglich, nach den Funktionen des innerliterarischen ironischen ›Spiels‹ für ein textexternes Publikum zu fragen, wobei Einsichten in die politischen Implikationen einer eventuell intendierten ironischen Perspektivierung letztlich den ›Eingeweihten‹ vorbehalten bleiben müssen. Im Zentrum des zweiten Teils des vorliegenden Bandes stehen die Begriffe › P o l e m i k ‹ und › P r o v o k a t i o n ‹ . Das Vorhandensein polemischer Rede sowohl der Figuren als auch der Erzähler ist im Artusroman oftmals offensichtlicher als das von Ironie – man denke etwa an den bissigen Kommentar zu den conteor und fableor in Chrétiens Erec-Prolog,11 an die Spitzen des Erzählers gegen Eilhart und den ungenannten Wolfram in Gottfrieds Tristan, an Keies streitbare Bemerkungen bei verschiedenen Tugendproben oder beim höfischen Fest allgemein oder an die verschiedenen Reizreden arthurischer Ritter, die einen Zweikampf einleiten. Günther Schweikle hat bereits 1986 zahlreiche polemische Stellen in der höfischen Literatur zusammengetragen.12 Die Kontextualisierung

|| 11 Vgl. dazu z. B. Erich Köhler, Der altfranzösische höfische Roman, Darmstadt 1978, 24f. 12 Günther Schweikle (Hrsg.), Parodie und Polemik in mittelhochdeutscher Dichtung. 123 Texte von Kürenberg bis Frauenlob samt dem ›Wartburgkrieg‹ nach der Großen Heidelberger Liederhandschrift C, Stuttgart 1986 (Helfant-Texte 5).

XII | Vorwort der Herausgeber

und die dem jeweiligen Text angemessene Interpretation der Polemik aber wollte Schweikle der weiteren Forschung überlassen. So stellte sich während der Rauischholzhausener Tagung in der Diskussion ausgewählter Textpassagen heraus, dass eine Neubewertung der verschiedenen Formen von Polemik in der Artusliteratur und ihrer wirkungsästhetischen Funktion ein dringendes Desiderat ist, das die hier vorgelegten Beiträge nur ansatzweise lösen können, indem sie anhand repräsentativer Fallstudien mögliche Wege aufzeigen. Polemik wirkt in der Regel provokativ. Die Provokation, ihrerseits oft Auslöser eines ironischen Kommentars, hat in der ›Symbolstruktur‹ des ›klassischen‹ Artusromans ihre feste Position. Ob dieser ›Selbstverständlichkeit‹ der Provokation (die in der aktuellen Artusforschung freilich immer öfter hinterfragt wird) sind andere provokative Elemente der Artusromane, sowohl auf der Handlungsebene als auch in der Kommunikation zwischen Erzähler und fiktiver Figur bzw. zwischen Text und Rezipient, bislang zu wenig beachtet worden. Auf vielfältigen Ebenen und mit zahlreichen Mitteln werden nämlich Romanfiguren wie Rezipienten in den Texten bzw. durch sie provoziert, wobei die intendierte Reaktion des textexternen Provozierten häufig durch das Vorführen textinterner Provokationen im fiktionalen Raum durchgespielt wird, um dem Rezipienten einen (vielleicht auch ironischen) Spiegel vorzuhalten. Der Provokation auf der Handlungsebene in Form von provokativer Figurenrede widmen sich die Beiträge von T i n a T e r r a h e und R a c h e l R a u m a n n . Reizreden erscheinen als zunächst formalisierte juristische Formen der Einleitung und Rechtfertigung von Kampfhandlungen. T e r r a h e weist aber nach, dass die Behandlung von Reizreden im Artusroman eine zunehmende Distanzierung von diesen ursprünglichen Funktionen zeigt, indem die Reizreden als heroisch und damit unhöfisch markiert werden. Die Funktion der Reizrede liegt darin, sie zu vermeiden – aber ihr völliges Wegfallen ohne das Ausbleiben der durch sie gerechtfertigten Kampfhandlung ist nicht besser. Offenbar können Reizreden angesichts dieses Dilemmas kaum anders als ironisiert dargestellt werden. Sonstige provokative Reden weisen auf Differenzen zwischen der Rezipientenerwartung und der Erzählung hin und provozieren ein Überdenken der höfischen Figurenbilder, das als ironische Kritik verstanden werden kann. Polemische Anklagereden dagegen erscheinen als eine Polemik, die von vorneherein gewinnt, weil der Artushof (mit Ausnahme von Kei) gegenüber Polemik ohnmächtig ist. Terrahe fragt daher, ob Polemik im Text eine Ehrverletzung ist, die narrativ nicht zu heilen ist und damit gattungszerstörend bzw. gattungsironisierend wirkt. Allerdings generieren polemische Anklagereden in den Romanen Handlung und können daher auch als gattungskonstituierend betrachtet werden. Im Prosalancelot dagegen finden sich – wie R a u m a n n zeigt – Figurenreden, die nicht nur intradiegetisch provozieren, sondern das

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Erzählen von arthurischen Aventüren als solches in provokantem Ton hinterfragen. Figurenrede kann damit auch Gattungskritik sein. Der Spott als bissige Variante der Ironie steht – neben der Provokation – im Fokus der Beiträge von C l a u d i a A n s o r g e und D a n i e l l e B u s c h i n g e r . Beide sind dem klassischen Spötter Kei gewidmet. A n s o r g e deutet Keis Spott im Mantel als provokativen Hinweis auf die problematischen Elemente und Eigenschaften der Artusgesellschaft, die weit über das hinausgehen, was Kei während der Tugendprobe spöttisch kommentiert. Die internen und externen Provokationen der arthurischen Idealität, denen Ansorge nachgeht, weisen aber auch auf Möglichkeiten der Überwindung der inneren Krise des Artushofes hin. Letztlich erscheint der ganze Text so als ironische Provokation des Genres ›Artusroman‹, die auch für das extradiegetische Publikum der Tugendprobe eine didaktische Funktion haben könnte. B u s c h i n g e r zeigt, dass Kei in Heinrichs von dem Türlin Crône komplett rehabilitiert wird, indem sein Spott als positiv provozierend interpretiert und zugleich Kei von seiner angestammten Verliererrolle befreit wird. Heinrich distanziert sich damit von der klassischen Zeichnung des lächerlichen Spötters und weist auf die Richtigkeit von Keis Kritik am Artushof hin, um dann Kei zu einem aktiven und erfolgreichen Kämpfer für die arthurische Sache und zu einem vorbildhaften Freund der Artusritter umzugestalten, der, nachdem er diese tiefe innere Bindung an die arthurischen Ideale bewiesen hat, umso wirkungsvoller über deren Nichteinhaltung spotten kann. Damit aber nehmen seine Kritik, sein Spott und seine Provokation eine ganz andere Qualität an. Der Spott zielt jetzt auf eine Erneuerung des Hofs (und der literarischen Gattung) von innen. Die Provokation als Strukturstelle im Artusroman beleuchtet R i c a r d a B a u s c h k e kritisch. Sie hinterfragt diese Position in der ›Symbolstruktur‹ und gibt zu bedenken, ob wirklich die Gegenwelt die Artuswelt provoziere oder ob es nicht eher umgekehrt sei. In Chrétiens und Hartmanns Erec- und Iwein-Dichtungen weist nämlich vieles genau in diese konträre Richtung. Dass eine Form der Provokation notwendig ist, um die Handlung und damit die Erzählung auszulösen, bezweifelt sie nicht, die Bedeutung dieser Provokation muss aber überdacht werden. Zwar wird die Idealität des Artushofes in den ›klassischen‹ Artusromanen als gewusst vorausgesetzt, die Texte distanzieren sich aber von ihr, was allerdings nicht in ironischer Weise geschehen kann, wenn die höfische Idealität durch das Erzählen hergestellt werden soll. Eine narrative Provokation der Rezipientenerwartung, genauer der Erwartung, die sich an das höfische Erzählschema knüpft, sieht B j ö r n R e i c h in den Werken des Pleiers. Provokation bedeutet für Reich eine Normverletzung, die sich hier als eine ›Verletzung‹ von Erzählschemata konkretisiert. Der Hof ist aber, wie auch Ricarda Bauschke nachweist, nie ideal, denn das Erzählschema

XIV | Vorwort der Herausgeber

ist von Anfang an gebrochen. So wie die Beiträge zur provozierenden Figurenrede gezeigt haben, dass diese in erster Linie eine handlungsantreibende Funktion hat, so generiert die Provokation als Verkehrung der Vorlage bzw. Gattung weitere Erzählungen. Die durch Provokation entstandenen neuen Konstellationen können die Artuswelt, die von Anfang an dem Untergang geweiht ist, wiederherstellen oder neue Erzählwelten eröffnen. Wenn ironische Rede im Artusroman eine kritische Distanzierung von der Vorlage oder gar von der Gattung bedeutet, darf man dann, gerade auch wenn die Distanzierung möglicherweise ein Lachen oder Verlachen hervorrufen sollte, von Satire oder gar von Parodie sprechen? Dieser Frage sind die Beiträge im dritten Teil des vorliegenden Bandes gewidmet, der – durchaus provokant – mit › P a r o d i e ‹ überschrieben ist. M a t t h i a s D ä u m e r sieht einen satirischprovokativen Umgang mit religiösen Elementen im westjiddischen Widuwilt. Er liest ihn als einen höchst kritischen, ja polemischen jüdischen Kommentar zur messianischen Heldenfigur im Wigalois sowie generell zu christlichen Traditionen und zugleich als eine Anklage an das Christentum, dem nicht an einer Vermittlung zwischen den Religionen gelegen sei. Im positiven Sinne könne der Roman als ein provokativer Aufruf zum Religionsdialog gelesen werden, im negativen als Ausdruck einer Resignation im interreligiösen Dialog, die sich in Parodie und Satire ein Ventil sucht. Den Begriff der ›Komik‹ als einer Möglichkeit der Steigerung von Ironie, die dann parodistische Züge annimmt, bringt B r i g i t t e B u r r i c h t e r ins Spiel: Sie führt vor, wie in La Vengeance Raguidel der realistische, teils obszöne Einbezug des Alltäglichen sowohl die extratextuelle Rezipientenerwartung als auch die intratextuelle höfische Idealität bricht, weil er aus der Perspektive der Gattung ›Artusroman‹ unerwartet, da gattungsfremd ist. Wo an der Idealität nur gekratzt wird, kann man von Distanzierung und gewitzter Komik und somit von Ironie sprechen. Wo sie aber gebrochen wird und das Verkehrte damit nicht mehr gültig bleibt, erscheinen Begriffe wie ›Komik‹, ›Burleske‹ oder ›Parodie‹ angemessener zu sein. Burrichter spricht auch von einer Nähe zum Karnevalesken und zeigt damit die Vielschichtigkeit der Verkehrungsmöglichkeiten auf. Im seinem den Band beschließenden Beitrag wendet sich F r i e d r i c h W o l f z e t t e l konkret dem Begriff ›Parodie‹ zu, der bei der Rede von der ironischen Verkehrung von literarischen Mustern immer wieder anklingt. Er warnt vor einem Missbrauch des Begriffs, zumal er im Mittelalter nicht verwendet wurde. Die Übernahme von Motiven und die sehr dichten intertextuellen Bezüge zwischen arthurischen Texten machen diese schnell parodieverdächtig, aber sind sie deshalb auch in ihrer Gesamtheit Parodien? Die Selbstreflexivität der Texte allein, das neue Bewusstsein der Verfasser, sich innerhalb eines bekann-

Vorwort der Herausgeber | XV

ten literarischen Rahmens zu bewegen, genügt nicht, um eine Textanspielung als ›Parodie‹ zu bezeichnen. Hier sollte eher von einer écriture commutative gesprochen werden, denn die Parodie braucht als Merkmal neben der erkennbaren Vorlage und der erkennbaren Kritik v. a. den Unernst. Wo aber wie in den parodieverdächtigen Artusromanen nach Lösungsmöglichkeiten für veränderte Probleme gesucht wird, wo eine neue Wertesuche und eine Suche nach gültigen narrativen Lösungsmustern unter veränderten Bedingungen einsetzt, ist der Unernst verloren, weshalb nicht mehr von ›Parodie‹ gesprochen werden kann. Am Ende des vorliegenden Bandes steht damit wie an seinem Beginn noch einmal eine Warnung vor einer vorschnellen und simplifizierenden Verwendung literaturwissenschaftlicher Begriffe, die im Laufe der Literatur- und Forschungsgeschichte vielfältige Wandlungen vollzogen haben. Ein geschärftes Problembewusstsein beim Gebrauch von solchen Beschreibungsgrößen aber bedeutet auf keinen Fall eine Leugnung der Existenz von Ironie, Polemik und Parodie in der mittelalterlichen Erzählliteratur. Vielmehr bedienen sich die Erzähler und Verfasser der Artusromane der unterschiedlichen kritischen Redeformen in vielfacher Schattierung und großer Formenvielfalt. Ironie, Polemik und Parodie bedeuten auf je differente Weise eine kritische Distanzierung von gegebenen Bedingungen oder wollen diese beim jeweiligen Kommunikationspartner hervorrufen. Sie weisen auf veränderte Prämissen und veränderte Kontexte hin. Eine Literaturwissenschaft, die in Abgrenzungstendenzen in der Literatur nicht nur Profilierungsversuche individueller Autoren sehen möchte, sollte diese Distanzierungen ernst nehmen, ebenso wie das Ziel derselben, das oft mittels der Provokation angestrebt wird: Hier können wir offensichtlich die Rolle sehen, die sich die Literatur selbst zuschreibt: ihre intendierte gesellschaftliche Funktion. Die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Literatur ist eine Frage, die den Blick weit über die Artusliteratur hinaus öffnet. Sie ist aber auch eine Frage, die nur interdisziplinär angegangen werden kann. Die Tagung in Rauischholzhausen hat damit wieder einmal gezeigt, dass die Internationale Artusgesellschaft ein ideales Forum für den interdisziplinären Austausch über aktuelle Themen und Fragen bietet, die, an historischer Literatur durchgespielt, ihre überzeitliche Bedeutung erweisen. Für eine überaus konstruktive Diskussionsatmosphäre sowie für angeregte und anregende Fachgespräche über die Generationen und Forschungskulturen hinweg möchten wir uns bei allen Teilnehmern der Tagung herzlich bedanken. Unser Dank gilt auch dem Schloss Rauischholzhausen, der Tagungsstätte der Justus-Liebig-Universität Gießen, das uns einen reibungslosen Ablauf der Tagung in stilvoller und entspannter Atmosphäre ermöglicht hat. Dem Verlag Walter de Gruyter und v. a. Herrn Jacob Klingner danken wir für die angenehme,

XVI | Vorwort der Herausgeber

stets hilfsbereite und zuvorkommende Betreuung des Bandes. Unter den Reihenherausgebern gilt insbesondere Herrn Kollegen Joerg O. Fichte unser herzlicher Dank für seine tatkräftige Unterstützung bei einigen redaktionellen Aufgaben für diesen Band. Gießen, im April 2014 Cora Dietl Christoph Schanze Friedrich Wolfzettel

| I. Ironie

Fritz Peter Knapp

Offene und verdeckte Ironiesignale in mittelalterlichen Erzählungen Abstract: In a recent study (2011), Christel Meier has outlined the theoretical basis of irony in the rhetorical tradition from antiquity to the Middle Ages, analysing signals of irony in those Latin literary genres tending toward irony, such as the animal epic (while at the same time noting that such signals cannot be codified with any finality). Building on these findings, this study searches for signals of irony in vernacular narrative texts whose sporadic or all-pervasive use of it is known. Starting with obvious examples, such as the ironic speech of an actor which elicits laughter as an audience response, the study then proceeds to another sort of irony that is likely to be concealed within the deep structure of the text. If such hidden signals of irony can be pinpointed and documented, identifying them can shape and determine the interpretation of an entire work. Examples are drawn from the Arthurian romances of Chrétien de Troyes, Ulrich von Zatzikhoven, Heinrich von dem Türlin, and others.

Wie so oft leitet auch im Falle des Stilphänomens der Ironie Isidor von Sevilla (gestorben 636), der gelehrte Bischof an der Wende von der Antike zum Mittelalter, das Wissen der alten Grammatiker und Rhetoriker weiter. Danach gehört die Ironie zusammen mit der Antiphrase, dem Rätsel, dem Sarkasmus und anderen Tropen zur allegoria. Diese heißt auf Lateinisch alieniloquium und wird so definiert: »Aliud enim sonat, et aliud intellegitur« (Etymologiae I, XXXVII, 22: »Eines vernimmt man nämlich, und etwas anderes versteht man«).1 Im Speziellen ist unter Ironie dann die Aussage gemeint, »welche infolge der Intonation gegensätzlich verstanden wird« (Etymologiae I, XXXVII, 23: »ironia est sententia per pronuntiationem contrarium habens intellectum«). Während bei der Ironie ausschließlich die Intonation zeigt, dass etwas konträr verstanden werden muss, also etwa ein Lob als Tadel, bezeichnet die antiphrasis das Gegenteil »nur durch ihre Worte, deren Ursprung entgegengesetzt ist« (Etymologiae I, XXXVII, 25: »antiphrasis vero non voce pronuntiantis significat contrarium, sed suis tantum verbis, quorum origo contraria est«). Isidor ist auch hier seinem etymologischen Denken verpflichtet. Wo ein Ausdruck tatsächlich (wie bei den Eumeniden) oder vermeintlich (wie bei lucus)

|| 1 Isidorus Hispalensis, Etymologiae sive origines, hrsg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911.

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an sich schon unabhängig vom Kontext das Gegenteil von dem bedeutet, was er sagt, dort liegt Antiphrase vor. Die Eumeniden werden tatsächlich euphemistisch die ›Wohlwollenden‹ genannt, obwohl sie als Furien niemandem wohlwollen. Der Hain, lucus, wird (fälschlich) a non lucendo, »vom nicht Leuchten«, abgeleitet. Das setzt etymologisches Wissen bzw. Pseudowissen voraus und stellt einen ziemlichen speziellen Fall dar. Beda Venerabilis (gestorben 735) simplifiziert etwa ein Jh. später die Sache, indem er einfach zwischen Gedanken- und Wortfigur unterscheidet. Er lässt die Definition der Antiphrase gleich, nennt als Beispiel aber die Anrede Jesu an den Verräter Judas: »Freund, wozu bist du gekommen?« (Mt 26, 50).2 ›Freund‹ steht also für ›Feind‹. Damit ist nur noch eine sprachlich-formale Differenz Wort vs. Satz übrig. Denn die ironische Verwendung des Wortes ›Freund‹ lässt sich aus dem unmittelbaren sprachlichen Zusammenhang auch nicht erschließen. Schon Quintilian hat das Verständnis des ironischen Gebrauchs einer sprachlichen Aussage entweder aus der Intonation oder der Person oder dem Wesen der Sache abgeleitet: »aut pronuntiatione intelligitur aut persona aut rei natura«.3 Die Schwierigkeiten des interpretatorischen Nachvollzugs der Ironie eines Textes werden damit sogleich ersichtlich. Die Intonation ist an die Performanz gebunden, die Sprecherabsicht an die Kommunikationssituation. Bei der öffentlichen Rede erwartet das Publikum eine bestimmte Stoßrichtung. Wenn also etwa der Ankläger den Angeklagten plötzlich als edlen Charakter tituliert, wird das kaum jemand erst nehmen. Wie meist so auch hier ist dann die poetologische Verwendung rhetorischer Kategorien, so gängig sie im Mittelalter auch sein mag, problematisch. Wenn wir einmal appellative Texte wie Spruch, Lehre, Bitte, Warnung oder Spott beiseite lassen und uns auf erzählende Texte beschränken, so müssen wir im Mittelalter in aller Regel zwar auch die Aufführungssituation und damit einen bestimmten sozialen, kommunikativen und intertextuellen Erwartungshorizont des Publikums einkalkulieren, jedoch ohne dass wir in der Lage wären, ihn ausreichend rekonstruieren zu können. Nicht selten sind wir überhaupt auf den ›nackten‹ Text allein angewiesen. Ist die Erzählwelt in sich und mit anderen Werken desselben Autors halbwegs konsistent, so scheint das Verständnis einzelner Stellen einigermaßen vorgezeichnet. Ist dies aber nicht der Fall, so ist der Interpret ziemlich hilflos.

|| 2 Vgl. Beda, De schematibus et tropis, II, 2, in: Rhetores Latini minores, hrsg. von Karl Halm, Leipzig 1863, 607–618, hier: 615. 3 Quintilianus, Institutio oratoria, hrsg. von Harold Edgeworth Butler, London 1920–22, hier: 8, 6, 54.

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Immerhin kennt, wie Christel Meier gezeigt hat,4 die antike und im Mittelalter weitertradierte Dichterkommentierung auch die durch den weiteren Kontext determinierte Ironie, so dass die sonst in der Stilerklärung übliche Beschränkung auf die Mikrostruktur des Textes zumindest ansatzweise aufgebrochen scheint. Der vielbeachtete spätantike Vergilerklärer Servius vermerkt etwa, die Bezeichnung Helenas als »hervorragende Gattin« (»egregia coniunx«) im Verlaufe der Einnahme Trojas in der Aeneis (VI, 523) sei per ironiam zu verstehen, da eine solche Frau vielmehr für Ehegatten verderblich sei.5 Vergleichbares liege bei Junos ironischem Lobpreis für den Sieg von Venus und Cupido über die arme Dido vor.6 Dass dergleichen in die mittelalterliche Dichterkommentierung übernommen wird, beweist etwa die Glossierung der Alexandreis von Walther von Châtillon. Wenn dort Darius in einem Brief an Alexander dessen Mutter als keusch bezeichnet, so könne er nur ironisch sprechen, da es ja das Gerücht gab, Alexander selbst entstamme einer illegitimen Beziehung seiner Mutter.7 Gleichwohl sind die Grenzen, welche das Mittelalter für den Begriff der Ironie theoretisch vorsieht, viel enger gezogen, als es die Forschung in der Regel suggeriert. Die szenische Ironie liegt wohl schon deutlich außerhalb dieser Grenzen, wenngleich es sie im Mittelalter auch gegeben haben wird. Dennis H. Green hat sie in seinem Buch über die Ironie im mittelalterlichen Versepos wie selbstverständlich einbezogen.8 Doch es liegt auf der Hand, dass die Rhetorik diesen Fall nicht vorgesehen hat, da er erst in der Poetik vorkommen kann. Diese hat aber im Mittelalter keine Vorstellung von der Ironie entwickelt. Eine Szene wie die folgende aus der Crône Heinrichs von dem Türlin kann also nicht als ironisch aufgefasst werden, wenn man keinen anachronistischen Begriff anlegen will. Der Zweikampf Gaweins mit Gasoein nach dessen versuchter Vergewaltigung Ginovers beginnt ordnungsgemäß mit dem Lanzenstoßen zu Pferd und setzt sich mit dem Schwertkampf fort. Die Ritter schlagen einander die Schilde zu Kleinholz, hierauf tiefe Wunden, dass Bäche von Blut herabrinnen. Die Pfer-

|| 4 Vgl. Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011, 29–33. Die von Meier gelieferten Belege erweisen die Behauptung von Wolfgang G. Müller, Art. »Ironie«, in: RdL, Bd. 2 (2000), 185–189, dass »das Mittelalter zwar die Sache, aber nicht den Begriffsnamen der Ironie kennt« (186), als schlichtweg falsch. 5 Vgl. Servius, Commentarius in Vergilii Aeneida, hrsg. von Georg Thilo und Hermann Hagen, Leipzig 1881–84, Bd. 2, 75: »[...] habebat coniugem perniciosam maritis: inde sequitur ›egregia interea coniunx‹ per ironiam«. 6 Vgl. ebd., Bd. 1, 480 (zu Aeneis IV, 93). 7 Vgl. Walther von Châtillon, Alexandreis, hrsg. von Marvin Colker, Padua 1978, 282 und 373. 8 Vgl. Dennis H. Green, Irony in the Medieval Romance, Cambridge 1979, 8f.

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de ermüden so, dass sie die Reiter nicht mehr tragen können. Sie kämpfen zu Fuß weiter. Gawein schlägt Gasoein das Schwert aus der Hand, wartet aber ritterlich, bis dieser es wieder an sich genommen hat. Sie hauen bis zur totalen Erschöpfung aufeinander ein, so dass sie vor Müdigkeit und Blutverlust umsinken und liegen bleiben. Als sie wieder zu sich kommen, will Gasoein sein Pferd besteigen, fällt aber ermattet wieder herab. Aus Wut über diese Schande schlägt er dem Pferd den Hals ab – schon für einen Mann bei vollen Kräften ein kaum zu leistender Kraftakt –, und Gawein tut an seinem Ross aus Solidarität das Gleiche. Sie fechten erneut, fallen aber wieder um, so dass die Schwerter unter ihnen zerbrechen – was nach menschlichem Ermessen tödliche Wunden hätte auslösen müssen. Ginover besprengt die Ohnmächtigen mit Wasser. Sie springen auf und beginnen zu ringen mit Anwendung aller palästrischen Künste, bis Frau Fortuna Gawein den Sieg schenkt. Beide versinken daraufhin wieder in einen todesähnlichen Schlaf. Gawein erwacht, sucht und findet zwei starke Baumäste, weckt den Gegner, bewaffnet beide damit, so dass sie erneut kämpfen können, bis auch diese Waffen zerbersten und sie sich auf eine Vertagung des Zweikampfes einigen (V. 11844–12355).9 Den modernen Leser müssen diese ca. 500 Verse voll maßloser Hyperbolien ziemlich ermüden, es sei denn, er findet sie komisch. Dann müsste er sie wohl als Ironisierung des Zweikampfes an sich oder dieses Zweikampfes im Besonderen qualifizieren, könnte sie aber als solche historisch adäquat nicht beschreiben. Wenden wir uns also erfolgversprechenderen Fällen zu. Notorisch und unbestreitbar ist die Neigung zur Ironie in dem Tierepos Ysengrimus aus der Mitte des 12. Jh. Auch Christel Meier wählt ganz selbstverständlich in ihrem gemeinsam mit dem Historiker Gert Althoff verfassten Buch Ironie im Mittelalter unter anderen dieses Beispiel aus, bei welchem zuerst einmal schon die gewählte Gattung eine gewisse Vorentscheidung bedeutet. Die Grundform des Tierepos, die Fabel, ist das Muster fiktionaler Dichtung im mittelalterlichen Sinne, der fabula, wo an sich schon immer etwas anderes verstanden als gesagt wird. Die – gegen die Naturgesetze verstoßenden – sprechenden Tiere meinen bildhaft per allegoriam eben Menschen, und zwar fast immer mit satirischer Stoßrichtung. Die ironia, eine spezielle Form der allegoria, stellt sich dann fast selbstverständlich ein. Schon Paulus Diaconus im 9. Jh. lässt die Fabel vom kranken Löwen in einen bitteren Klerikerscherz münden. Nachdem dem Bären die Haut abgezogen worden ist und nur Reste davon an Kopf und Extremitäten übrig sind, stellt der Fuchs die ironische Frage: »Quis

|| 9 Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000 (ATB 112).

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dedit, urse pater, capite hanc gestare tyaram, / Et manicas verstris quis dedit has manibus?« (V. 65f.; »Wer gab [Euch], Vater Bär, diese Bischofsmütze auf dem Haupte zu tragen, und wer gab Euren Händen diese Handschuhe?«).10 Der Autor des Ysengrimus, vielleicht ein Magister Nivardus von Gent, hat daraus die ausführliche sarkastische Rede des Fuchses Reinardus an den geschundenen Wolf Ysengrimus gemacht. Aber das ist nur einer der ironischen Höhepunkte des Textes, dessen entsprechende Grundhaltung der Autor von Anfang an festlegt. Bereits in der Eröffnungsszene begegnet der Fuchs unvermutet dem hungrigen Wolf und sieht keine Chance zur Flucht mehr. »Nil melius credens quam simulare fidem« (I, 8: »Nichts hielt er für besser, als Vertrauen zu heucheln«),11 sagt der Erzähler und setzt hinzu: »Dicebat patruum falso Reinardus, ut ille Tamquam cognato crederet usque suo« (I, 11f.: »Reinardus nannte ihn [den Wolf] fälschlich Onkel, damit er ihm stets wie einem Verwandten glauben möge«). Die Worte simulare und falso in der Erzählerrede reichen aus, um den ironischen Charakter der Figurenrede eindeutig festzulegen. Dergleichen wiederholt sich ständig. Aber allein die offenkundige Bösartigkeit der meisten Protagonisten des Tierepos, insbesondere der Raubtiere, lässt sofort jedes gute Wort, das sie verlieren, als gegensätzlich gemeint erscheinen. Die dabei eingesetzten sprachlichen Mittel sind so problemlos als ironisch verwendet einzustufen. Meier hat zahlreiche solche Mittel gefunden, zum Beispiel in Hyperbolik, superlativischem Ausdruck, rhetorischen Fragen, unpassend verwandter Metaphorik und Allegorie sowie Sprichwörtern mit Bedeutungsinversion, scheinbarer Widerlegung von Aussagen fiktionsimmanenter Personen, Kontrastkonstruk12 tionen verschiedener Art, die der nähere oder weitere Kontext qualifiziert.

Alles hängt jedoch von der Erfüllung der zuletzt genannten Kontextbedingung ab, die im Tierepos eben zumeist gegeben erscheint. Die maßlose Hyperbolik der volkssprachigen Heldenepik zum Beispiel hatte dagegen für die Zeitgenossen gewiss keine ironisierende Funktion, auch wenn sich etwa Wolfram von Eschenbach darüber lustig macht. Aber der Ironie verdächtig sind die genannten Mittel in weniger holzschnittartigen literarischen Erzeugnissen allemal und daher wert, an der jeweiligen Stelle ihres Vorkommens überprüft zu werden. Bevor wir einige solche Stellen betrachten, wollen wir aber noch einen Sonderfall ins Auge fassen, wo auch in anderen Gattungen so wenig Zweifel bleiben || 10 Paulus Diaconus, Fabula de aegro leone, in: MGH Poetae, Bd. 1, hrsg. von Ernst Dümmler, Berlin 1881, 62–64. Vgl. Fritz Peter Knapp, Das lateinische Tierepos, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 121), 22f. 11 Ysengrimus, hrsg. und erklärt von Ernst Voigt, Halle a. d. S. 1884. 12 Althoff/Meier (wie Anm. 4), 152.

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wie bei der Tierepik. Mitunter wird nämlich in der Erzählung selbst eine Personenrede in eine erzählerisch so ausgestaltete Kommunikationssituation eingebettet, dass die Sprecherintention aus der Hörerreaktion erschlossen werden kann. Ein typisches Beispiel sind die Spottreden anlässlich der magischen Tugendproben in etlichen, meist arthurischen Lais und Romanen. Aus dem Lai du mantel hat Heinrich von dem Türlin die Becher- und Handschuhprobe entnommen und in der Crône breit ausgeformt. Da versucht unter anderen auch Enite, den tückischen Zauberbecher auszutrinken, und verschüttet den Inhalt, weil ihr Liebesleben nicht frei von Falschheit ist. Der Spötter Key kommentiert dies mit einem Preis von Enites Treue und Schönheit und beendet sein Scheinlob mit den Worten: ›Vrowe Enite, gloubet mirz, Jr habt den kopf gewunnen, Wan welle iv sein dann enbvnnen Durch etsleichen swachen nit, Da ir mit bevangen sit.‹ Den kopf nam wider der bot. Disiv red vnd dirre spot Prüeft ein lvt lachen Vnd niwet doch sein swachen Vil manigem, der den schimph nam Mit verborgens hertzen scham. (V. 1385–94) ›Madame Enite, glaubt es mir, Ihr habt den Becher gewonnen, es sei denn, man wolle ihn Euch missgönnen aus irgendeinem unedlen Neid, mit dem man Euch begegnet.‹ Der Bote nahm wieder den Becher an sich. Diese Rede und dieser Spott wurden durch ein lautes Lachen quittiert und erneuerten doch die Schande für sehr viele, welche den Spott mit heimlicher Herzensbeschämung aufnahmen.

Hier ist sozusagen die typische rhetorische Situation eines Anklägers wiederhergestellt, der sein Ziel erreicht, den Angeklagten bei den Richtern lächerlich zu machen. Seine Worte müssen notgedrungen gegensätzlich verstanden werden. Es ist dann ein Leichtes, diese Einschätzung auf die übrigen Spottreden innerhalb dieser Tugendprobe zu übertragen, auch wenn dort keine solche Publikumsreaktion vermeldet wird, also z. B. bei Flori, der Minnedame Gaweins, die sich mit dem Becher beim Trinken das ganze Antlitz nass macht, woraus hervorgeht, das »mail vnd valscher chranch Jn ir hertzen bowet« (V. 1310f.). Key macht sich darüber entsprechend lustig: Key sprach: ›Herr, schowet An vrowen groz behendecheit, Wie eben si den chopf treit,

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Daz er niht mak gewenchen. Getorst ich ez gedenchen, Si solte fürsten schenken.[‹] (V. 1312–17) ›Seht, Herr, die große Geschicklichkeit von Madame, wie gerade sie den Becher führt, dass er nicht schwanken kann. Dürfte ich’s mir vorstellen, so sollte sie bei Fürsten Mundschenk sein.‹

Eine Dame als fürstlicher Mundschenk ist eine unpassende, hyperbolische Metonymie, so wie zuvor Keys Behauptung, die Königin habe so kräftige Arme, dass sie damit Speere werfen könnte (V. 1286–92). Ironiesignale von solcher Eindeutigkeit sind, wie gesagt, ein Sonderfall, und unmittelbar wird er auch von der rhetorischen Theorie nicht erfasst. Daraus ableiten lässt er sich aber relativ leicht. Wieweit trifft dies auf weitere Ironiesignale zu, welche Green in seinem entsprechenden Kapitel registriert?13 Ohne ernste Zweifel wird man dies bei Lobsprüchen des notorischen Spötters Keu annehmen dürfen. Wir haben ihn schon als Beispiel gewählt. Green zieht die Anfangsszene des Chevalier au lion heran. Da Chrétien Keus generelle Absicht, zu verleumden und anderen Schlechtes nachzusagen, ausdrücklich vermerkt (V. 86–91 und 134), kann dessen Preis Calogrenants (V. 71–74) von vornherein nur Spott sein. Doch hebt hier Keu sein Lob auch schon gleich selbst auf. Er sagt nämlich, Calogrenant bilde sich nur ein, der Höfischste am Hofe zu sein, weil er den Verstand verloren habe (V. 75f.).14 Ein ganz anderer Fall liegt in Chrétiens ›halbem‹ Artusroman Cligès vor. Wenn dort Fenice sagt, es gebe nur einen einzigen Arzt, um sie von ihrer Krankheit zu heilen, und der Gatte glaubt, sie meine Gott, Fenice selbst aber natürlich den Geliebten – »ses Diex« (V. 5637: »ihren Gott«)15 – meint, so äußert sich zwar die Sprecherin bewusst zweideutig, aber nicht in der Weise, dass ihre Absicht von ihrem Gatten durchschaut werden soll. Genau eine solche Prätention hebt aber Green selbst als Unterscheidungsmerkmal der Ironie gegenüber der Lüge hervor.16 Zutreffend beobachtet hat Green den rhetorischen Gebrauch der Pronominaladjektiva tel bzw. sôlich bei ironisch eingesetzten Metaphern. Als Beispiele nennt er u. a. erstens Gauvains Kommentar zu Keus Niederlage gegen Perceval

|| 13 Vgl. Green (wie Anm. 8), 21–28. 14 Chrétien de Troyes, Le Chevalier au Lion ou Le Roman de Yvain, hrsg., übers. und komm. von David F. Hult, Paris 1994. 15 Chrétien de Troyes, Cligès, hrsg., übers. und komm. von Charles Méla und Olivier Collet, Paris 1994. 16 Vgl. Green (wie Anm. 8), 7f.

10 | Fritz Peter Knapp im Conte du Graal,17 er habe nicht die Absicht, sich auch solche Verletzungen im Zweikampf wie Keu zu holen, denn »tel loier« (V. 4412: »eine solche Belohnung«) schätze er nicht, und zweitens Hartmanns Erzählerkommentar zu Erecs Tötung des Grafen, der Enite zur Ehe zwingen wollte: »si enkâmen ze solher brûtlouft nie« (V. 6641).18 Gegenüber solchen Fällen stuft Green es als nonverbales Ironiesignal ein, wenn dieselbe sprachliche Wendung zweimal in konträrem Kontext verwendet wird. So wird im Conte du Graal kurz hintereinander zweimal bien avoiier (»gut den Weg weisen«) verwendet, einmal in V. 3059 ganz ohne Ironie, das andere Mal kurz davor in V. 3044 aber offenkundig ironisch, offenkundig deshalb, weil es auf eine Verfluchung des Wegweisenden folgt. Felicitas Olef-Krafft19 versucht, die Ironie in ihrer Übersetzung zu verdeutlichen: »Den, der mich hierhergeschickt hat, möge Gott noch heute mit Schimpf und Schande überhäufen. In der Tat, einen feinen Weg hat er mir gewiesen [...]« (V. 3042–44). An der zweiten Stelle übersetzt sie dieselben Wörter bien avoié mit »den rechten Pfad gewiesen«. Das kann man natürlich machen; es suggeriert aber eine differierende Wortwahl des Originals. Weil es diese nicht gibt, spricht Green von einem nonverbalen Ironiesignal. Das scheint mir nicht sehr glücklich, da die vorangehende Verfluchung in unmittelbarem Kontakt zu der Aussage steht. Oft ist dieser Kontakt viel lockerer und ergibt sich nur aus einem viel weiteren Kontext. Je weiter er ausgedehnt wird, umso unsicherer wird der Befund. Vermutlich kaum jemand wird den Erzähler beim Wort nehmen wollen, wenn er im fiktiven Gespräch mit dem Publikum diesem scheinbar die Entscheidung über den Fortgang der Handlung einräumt wie im Parzival: »nu sprechet wie oder wâ / die helde des nahtes megen sîn!« (271, 14f.).20 Dazu schreibt Nellmann: Das fiktive Publikum darf den Helden zuschauen, darf mit den Romanfiguren Kontakt aufnehmen und sie befragen. Es darf sich auch mit dem Erzähler beraten, anstatt seiner die Bewegungen der Protagonisten dirigieren; es kann ihm die Erlaubnis verweigern, weiter zu erzählen und kann die Erzählung selbst in die Hand nehmen. Alle diese dem Publi-

|| 17 Chrétien de Troyes, Perceval (Le Conte du Graal), hrsg. von Keith Busby, Tübingen 1993. 18 Hartmann von Aue, Erec, mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler ErecFragmente, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). 19 Chrétien de Troyes, Perceval, Afrz./Dt., übers. und hrsg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991. 20 Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und komm. von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8).

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kum gebotenen Möglichkeiten schwächen die Erzählerposition nicht wirklich. Gerade 21 dort, wo er sich herabläßt, dirigiert der Erzähler seine Geschichte am sichtbarsten.

Das Angebot an das Publikum ist also ironisch zu verstehen. Es wird ihm scheinbar eine Verfügungsgewalt zugestanden, in Wahrheit aber gerade hier dem Erzähler vorbehalten. Als Ironiesignal kann man aber höchstens die Absurdität des Angebots in Anspruch nehmen. Denn warum sollte denn das Publikum ein Interesse haben, das Nachtlager der Helden zu bestimmen, wo es doch gekommen ist, ebenso gespannt wie passiv einer Erzählung zu lauschen? Aber die Einschätzung bleibt prekär, v. a. deshalb, weil sie die Fiktionalitätsproblematik berührt, die wir hier ausklammern wollen.22 Wir bewegen uns bei Wolframs Erzählerironie aber trotzdem noch auf weniger glattem Boden als bei gelehrten Anspielungen, deren Deutung auf ein extratextuelles Wissen referiert. Green nennt als Beispiel die Aristie Erecs bei Hartmann von Aue. Durch den großen Turniersieg erwirbt Erec solchen Ruhm, dass man seine Weisheit mit Salomon, seine Schönheit mit Absalom, seine Stärke mit Samson und seine Freigebigkeit mit Alexander vergleicht (V. 2813– 21). Da Hartmann im Armen Heinrich Absalom als durchaus ambivalente Vergleichsfigur verwendet, meint Green, der Autor habe auch im Erec eine solche Ambivalenz im Sinne gehabt. Denn alle vier Leitfiguren des Altertums seien im Mittelalter nicht nur als Exempel für die genannten vier Tugenden, sondern auch als Minnesklaven bekannt gewesen. Dies weise ironisch auf Erecs verligen voraus, von dem nur hundert Verse später erzählt wird.23 Der Gedanke ist ingeniös, aber schwer zu verifizieren. Der Erzähler kommentiert die Sache nur mit dem Satz sus verdiente Êrec sîn loben (V. 2825). Dieses Lob kam aber gar nicht vom Erzähler, sondern von den Zuschauern des Turniers, also der Hofgesellschaft. Genau genommen müsste diese den Doppelsinn in den Vergleich gelegt haben. Ob man es so genau nehmen darf, ist zwar fraglich. Doch dem Publikum muss man die Kenntnis des vollen Sinngehalts der vier Exempelfiguren und ihre rückwirkende Neuinterpretation aufgrund der narrativen Sukzession zumuten. Das Urteil des Interpreten nimmt auf diese Weise spekulative Züge an.

|| 21 Eberhard Nellmann, Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers, Wiesbaden 1973, 42f. 22 Green hat die Fiktionssignale eng an die Ironiesignale herangerückt, was nicht ganz unberechtigt, aber sehr gefährlich ist, wenn man die Grenze nicht scharf zieht. Vgl. Dennis H. Green, »Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur«, in: Wolfgang Frühwald u. a. (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 35–56, v. a. 36–41. 23 Vgl. Green (wie Anm. 8), 38f.

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Erst recht ist dies der Fall, wenn es um Kernaussagen des Textes, etwa Stellungnahmen zu religiösen Glaubensfragen, geht. Immerhin kann man hier in der Regel volle Vertrautheit des Publikums mit der Problematik voraussetzen. Als Beispiel soll die semantisch vielleicht intrikateste Partie der mhd. Klassik, der Erzählerkommentar zum Gottesurteil im Tristan Gottfrieds von Straßburg,24 dienen. Der jüngste, mehr als zehnseitige Kommentar von Manfred Günter Scholz zu der Stelle (Bd. 2, 607–618) kann nur mutlos machen. Es scheint keine Forschungsmeinung, und sei sie noch so weit hergeholt, zu geben, die nicht schon zur Lösung dieses Rätsels vorgetragen wurde. Dabei stehen hier die entscheidendsten Fragen der mittelalterlichen Weltanschauung, das Wesen Gottes und seine Erkennbarkeit, zur Debatte. Klar scheinen die Fakten der Handlung: Isolde leistet einen nur formal korrekten Eid, wagt daraufhin in Gottes Namen das Gottesurteil und besteht es, indem sie sich auf wunderbare Weise nicht am glühenden Eisen verbrennt. Der Erzählerkommentar bestätigt dies: die generte ir trügeheit und ir gelüppeter eit, der hin ze gotte gelâzen was, daz si an ir êren genas. (V. 15747–50) Es rettete[n] sie [die Königin] ihr Trug und der verlogene Eid, mit dem sie Gott anging, so dass sie ehrenvoll davonkam.

Das beweist nach Meinung des Erzählerkommentars die Anpassungsfähigkeit und Gefälligkeit Gottes, der bei Ehrlichkeit oder Trug, Ernst oder Spaß immer so sei, wie man ihn haben wolle. Alle Welt habe hier erfahren, »daz der vil tugenthafte Crist / wintschaffen alse ein ermel ist« (V. 15735f.). Ist dieser Erzählerkommentar ernst oder ironisch, affirmativ oder kritisch ablehnend gemeint oder keines von beiden? Man hat die Meinung des Erzählers von der des Autors trennen, ja sogar dem Erzähler absprechen und den Hofleuten bzw. einem von ihnen, schließlich Lesern des Romans unterstellen wollen. Nach Rüdiger Schnell ist der Kommentar »als voreilige Schlußfolgerung eines ›naiven‹ Lesers, der ›aller Welt‹ [d. h. ›allen herzen‹ (V. 15741), nicht wie Isolde den edelen herzen] angehört, zu bewerten und damit zugleich als ironische Stellungnahme Gottfrieds zu verstehen.«25 Scholz merkt mit Recht an, die Annahme eines solchen

|| 24 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hrsg. von Walter Haug und Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. und komm. von Walter Haug, 2 Bde., Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10/11), V. 15733–55. 25 Rüdiger Schnell, Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ›Tristan und Isold‹ als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992, 67f.

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Perspektivenwechsels rechne mit einer Unbekannten. Wie hätte ihn der Vortragende klarmachen können? Scholz selbst versucht die Perspektive des Erzählers durch eine zumindest neutrale Übersetzung von »wintschaffen als ein ermel ist« mit »sich umwenden läßt wie ein Ärmel« statt mit »wetterwendisch« zu retten. Wenn dann auch tugenthaft ein positives Epitheton für Christus entsprechend der bei Ordalen angerufenen virtus Dei wäre, dann läge in beiden Formulierungen keine offene Gotteskritik. Aber es bleiben allemal der gelüppete eit und die trügeheit. Scholz zieht sich auf eine »formalistische Gerechtigkeit, die nicht auf das Schuldproblem eingeht, sondern nur der Sprachlogik genügt«, zurück. Damit habe »Gott gezeigt, daß die Sache des Gottesurteils nicht seine Sache ist«.26 Ein seltsamer Gott, der eine solche Gerechtigkeit übt! Da scheint Schnells Vorschlag, Gottfried habe Gott als undurchschaubar zeigen wollen, noch plausibler. Doch hängt er wieder an der Perspektivenverschiebung und dem Ironieverdacht, den natürlich schon Green geäußert hat.27 Die Ironie bestünde dann darin, einem fingierten Leser ein anthropomorphes Gottesbild zu unterstellen und sich zugleich davon zu distanzieren – ein wahrhaft mehr als kompliziertes Verfahren. Lässt man die Perspektivenverschiebung weg, bleibt jedenfalls die Forderung, den vom Erzähler geäußerten und zu verantwortenden Kommentar als gegenteilig gemeint zu verstehen. Tomas Tomasek etwa vermutet, der Kommentar dürfte »wohl von den meisten Primärrezipienten als aktuell-ironisch gemeint und zugleich gegen ein Gottesverständnis gerichtet verstanden worden sein, das in Christus eine disponible Größe sah.«28 Reicht dazu »der vil tugenthafte Crist wintschaffen als ein ermel« als Ironiesignal aus, wie Tomasek annimmt? Liegt ein solches eindeutig vor, wenn wir als Kontrapost die Gesamtinterpretation des Werkes in der heutigen Forschung, die Gottfried als blasphemischen Zyniker nicht für denkbar hält, akzeptieren? Können wir uns dann auf die zu Anfang unserer Ausführungen aufgerufene antike Dichterexegese berufen? Unvergleichbar sind die dort angeführten Beobachtungen nicht. Doch der Ermessensspielraum ist bedenklich weit. Immerhin geht es hier ›nur‹ um eine punktuelle Interpretation, auch wenn sie enorme Folgerungen nach sich ziehen muss. Nur warnen aber kann man vor dem Versuch, mit Hilfe derselben Methode eine Gesamtdeutung eines mittelalterlichen Werkes vorzunehmen, selbst dann, wenn dieses einem planen Verständnis unüberwindbare Schwierigkeiten zu bereiten scheint wie der Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven. Schon seine Entstehung und Quelle geben unlösbare

|| 26 Beide Zitate Scholz (wie Anm. 24), 610. 27 Vgl. Green (wie Anm. 8), 88. 28 Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007, 180.

14 | Fritz Peter Knapp Rätsel auf.29 Edith Feistner hat es daher unternommen, ihn konsequent gegen den Strich zu lesen.30 Schon der Ausgangspunkt, das ironische Verständnis ›abgenützter‹ topischer Erzählerbemerkungen, Demutsformeln, Wahrheitsbeteuerungen oder dergleichen, ist jedoch bedenklich. Wenn der Erzähler etwa eine Aussage ankündigt mit »sît manz in den buochen las, / sô sî iuch für wâr gesaget« (V. 4238f.), so mag man ihm das nicht abnehmen wollen. Aber wirklich begründen kann man es nicht. Auch die Prüfung der wichtigsten Erzählpassagen, welche nach Feistner ein Ironiepotential enthalten, liefert wenig belastbares Material. Wenn Lanzelet statt auf das stoische oder christliche bivium auf einen Dreiweg gerät und den mittleren der drei Wege wählt, so mag darin, wie Feistner mit einem Aperçu meint, der Zweiweg »tri-vialisiert« werden.31 Aber ist die Banalisierung eines geläufigen Erzählmotivs gleich eine Ironisierung? Evident erscheint Feistner eine solche bei der Darstellung der Minne im Lanzelet. Dies sei daran zu erkennen, dass entgegen der gängigen Minneideologie der Held stets »Frauen gegenüber sein eigener Herr bleibt und sich derart die Probleme der Kollegen [d. h. anderer Ritter] erspart«.32 Der Aufbau des Romans sei so zu verstehen, dass von den sechs Episoden des Werks »die drei ersten den ungebrochenen Aufstieg des Helden profilieren und die drei letzten einen ironischen Metakommentar zu ebendiesem Aufstieg liefern«.33 Fazit: Lanzelet »holt die Minne von der literarischen Stilisierung auf die realitätshaltigere Ebene patriarchalischer Strukturen zurück«.34 Gerade die Missachtung aller Minnekonventionen bringe dem Helden schon seine erste Gattin ein. Schon vor Feistner hat man die Szene als Kritik des Autors gelesen, aber als eine an der erotischen Libertinage dieser jungen Dame. Wer von Hartmann oder gar Reinmar herkommt, wird gewiss über die Dame nur den Kopf schütteln. Aber was besagt das schon? Ulrichs Erzählerrede verweigert jeden eindeutigen Hinweis. Florian Kragl schreibt in seinem Lanzelet-Kommentar: »Eine umsichtige Diskussion der (möglichen) Ironiesignale des Textes [...] bleibt vorerst weiterhin eines der großen Desiderata der Lanzelet-Forschung«.35 Ich wüsste jedoch nicht, wie

|| 29 Vgl. Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hrsg. von Florian Kragl, 2 Bde., Berlin, New York 2006, Bd. 2, 897–924. 30 Vgl. Edith Feistner, »›er nimt ez allez zeime spil‹. Der Lanzelet Ulrichs von Zatzikhofen als ironische Replik auf den Problemhelden des klassischen Artusromans«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 232 (1995), 241–254. 31 Ebd., 246. 32 Ebd., 248. 33 Ebd., 249. 34 Ebd., 251. 35 Kragl (wie Anm. 29), Bd. 2, 1044f.

Offene und verdeckte Ironiesignale in mittelalterlichen Erzählungen | 15

es auf methodisch einwandfreiem Wege eingelöst werden könnte. Und selbst wenn es gelänge, würde das keinesfalls ausreichen, die gesamte Sinngebung des Werkes damit auf die Ironie festzulegen. Wir werden immer wieder vor der Frage stehen, ob der von einem Autor auf den ersten Blick feilgebotene Sinngehalt eines Werkes uns hinters Licht führen soll, und diese Frage auch irgendwie beantworten müssen. Aber mit dem mittelalterlichen Ironiebegriff werden wir einem solchen unter der Ausdrucksebene verborgenen Sachverhalt nicht beikommen. Wir sollten am besten dieses Verfahren auch terminologisch, etwa als metatropologische oder invertierte Darstellung, davon fernhalten. Wenn wir schon das Glück haben, die Ironie als ein dem Mittelalter auch theoretisch wohlbekanntes literarisches Phänomen festmachen zu können, sollten wir uns diesen Vorteil nicht selbst wieder aus der Hand schlagen, indem wir es aus moderner Sicht grenzenlos ausdehnen. Das gilt selbstverständlich nicht nur für den Artusroman, aber auch für diesen.

Florian Kragl

Gottfrieds Ironie: Vorüberlegungen zu einer Narratologie des Unernsts Zu Morolds Wappnung und der Brautwerbung um Isolde Abstract: The wider context of this paper is determined by recent narratological approaches to medieval literature which regard a text as coherent if its motivational structure follows a clear and simple logical pattern. In opposition to this view, I propose a narrative model that relies upon a slight disarrangement of narrative logic: according to this model, a text becomes more convincing and persuasive the less determined its motivational structure is. In consonance with the rhetorical trope ›irony‹, I refer to this specific form of narration as ›ironic‹. Ironic meaning is conveyed not least by the characters themselves, who in trying to achieve a certain goal may fail to do so, or only partially succeed. It is this turn of events that causes us to view their difficulties as being merely pseudorealistic. After a brief account of (rhetorical) irony in Gottfried’s Tristan, the focus is on the treatment of events surrounding the Brautwerbung (winning of a bride) at Mark’s court.

1 Vom Ernst der Narratologie Mit der Narratologie ist nicht zu spaßen. Und wer es versuchte, würde doch sehr bald an zwei Grundprinzipien moderner Erzähltheorie scheitern, die den narratologischen Ernst methodisch kodifizieren. Das eine dieser Prinzipien betrifft das Selbstverständnis der Narratologie als einer ›exakten‹ Wissenschaft vom Erzählen. Es wäre müßig, dies hier en détail auszuführen, die üblichen Verdächtigen sind bekannt; ich erinnere nur an Genettes zentrale Analysekategorien der Zeit, des Modus und der Stimme,1 genauso gut könnte man an Stanzels Erzählsituationen2 denken. Wer sich erzählen|| 1 Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt, Stuttgart 21998. 2 Franz K. Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an ›Tom Jones‹, ›Moby Dick‹, ›The Ambassadors‹, ›Ulysses‹ u. a., Wien u. a. 1955 (Wiener Beiträge zur englischen Philologie 63); ders., Typische Formen des Romans, Göttingen 51970 (Kleine VandenhoeckReihe 187); ders., Theorie des Erzählens, Göttingen 51991.

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den Texten mit diesem begrifflich-analytischen Inventar nähert, wessen Ambition besteht in der präzisen terminologischen Klassifizierung und Kategorisierung literarischen Tuns, duldet kein Ungefähres. Ambitioniert ist dieser Zugriff auf Literatur deshalb, weil die Kleinmaschigkeit des terminologischen Rasters, mit dem man der Texte Herr werden will, inzwischen eine erstaunliche und beeindruckende Komplexität angenommen hat, und wichtig ist er, weil die immer feinere Ausdifferenzierung der angelegten Kriterien den analytischen Blick ganzer Generationen von Literaturwissenschaftlern geschult haben. Dennoch: Wer Texte auf diese Weise seziert, der läuft immerzu Gefahr, das dichte poetische Gewebe gegen den Fadenlauf zu zerschneiden. Besonders instruktiv scheinen mir hier die diversen Studien zur ›Fokalisierung‹ zu sein, die sich auch auf dem Gebiet des mittelalterlichen Romans ausgebreitet haben.3 Sie sind aufschlussreich, weil sie eine paradoxe hermeneutische Bewegung ausführen: Indem sie fragen, durch wessen Augen eine Geschichte geschaut wird, zielen sie auf höchst diffizile Erzählphänomene, deren Erfassung und Beschreibung massiv lektürebedingt sind. Doch just diese sensiblen, beobachterabhängigen Strukturen werden dann in klobige, scheinobjektive terminologische Formen gegossen, wobei nicht nur die Spezifik der Texte Federn lässt, sondern auch der Lektüreprozess neutralisiert wird. Eine hermeneutische Bewegung, die dermaßen auf den Punkt gebracht wird, verfällt in Stillstand. Genau diese Arretierung von Struktur-Sinn – dieser vorrangige Skopus jeder narratologischen Beschäftigung – ist es, die – über das Phänomen der Fokalisierung hinaus – die stur narratologische Beschreibung poetischer Texte zu einer notwendig ungelenken und unbedingt ernsten macht. Ungelenk ist sie, weil sie – bei aller terminologischen Schärfe – der konkreten poetischen Gestalt immerzu hinterherhinkt. Ernst ist sie, weil die Einrastung des interpretatorischen Vorgangs in der scheinbar objektiven narratologischen Begrifflichkeit die Suggestion nährt, hier würden harte analytische Fakten produziert – ganz als handelte es sich nicht um Lektüreergebnisse, sondern um unverbrüchliche philologische Wahrheiten. Wer sich aber dieser Suggestion hingibt, schädigt jedes literarische Spiel gründlich. Das andere ›ernsthafte‹ narratologische Prinzip hat zu tun nicht mit der Logik der Analyse, sondern mit jener, die man im analytischen (d. h. hermeneutischen) Akt den Texten zubilligt (um nicht zu sagen: unterstellt): der Narrato|| 3 Grundlegend und umsichtig Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44); streng narratologisch Friedrich Michael Dimpel, Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters, Berlin 2011 (Philologische Studien und Quellen 232).

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Logik, wie sie sich die Narrato-Logie ausgedacht hat. Die Rede ist von den konkreten Erzähllogiken literarischer Texte, in erster Linie von der Motivationsstruktur von Erzähltexten. Man möchte doch meinen, dass dies ein primäres Anliegen jedes narratologischen Zugriffs sein müsste, sind es doch diese Strukturen, die einen Texte zusammenhalten (oder eben auch nicht). Wann etwas auf welche Weise und wie geschieht, ist für Handlungen schlechterdings essentiell. Und dennoch scheint es, als mache die Narratologie gerade um diese zentralen Belange einen mittelweiten Bogen. Im Vergleich zu den eingangs genannten Strukturen – Zeit, Modus, Erzählhaltung usw. – fristet die eigentliche Erzähllogik eine Art narratologisches Nischendasein, und wo sie dann doch in den narratologischen Blick gerät, sind die methodischen Annäherungen von hastiger Kurzatmigkeit. Da wird dann unterscheiden zwischen kausaler Motivation (von vorne) oder finaler (von hinten) – warum aber diese Handlung jene begründet, weshalb eine Figur tut, was sie tut, was sie antreibt, bleibt weitestgehend außen vor; als müsste man sich über Selbstverständlichkeiten erst gar nicht verständigen. Die Beispiele der diversen Einführungen sind entsprechend kompromisslos gewählt: Tod aus Trauer, Rache, eine Handlungslinie, die final auf Gott als Weltenlenker hingespannt ist, alle von einer klinischen Präzision, Beispielfälle, wie sie auf freier Erzählbahn kaum je begegnen.4 Jede feiner schattierte Motivationslogik hingegen, die sich nicht mit solchen reduktionsstufigen Mustern einfangen lässt, muss dabei unweigerlich durch den analytischen Rost fallen. Vielleicht ist dies nur zu konsequent: Indem die Narratologie die motivationslogisch labilen Stellen von Erzählwelten ausblendet, hält sie sich genau jene – wiewohl konstitutiven – Unwägbarkeiten handelnder Figuren (um nicht zu sagen: Menschen) vom Leib, deren Unberechenbarkeit keine analytische Pointierung oder Systematisierung erträgt. Mit anderen Worten: Dass Erzählungen von Menschen-ähnlichen Figuren (und seien es Tiere) ausgehandelt werden, dass sie von Menschen erzählt werden und dass Erzählungen damit auch nur versteht, wer menschliches Handeln und Sprachhandeln samt all seiner formallogischen Defizite und Deformationen in Kauf zu nehmen gewillt ist und wer akzeptiert, dass mithin weder Leben noch Erzählen stringenten formalen Logiken gehorcht – dies ist ein neuralgischer Punkt all jener narratologischen Entwürfe, die es ganz genau wissen möchten und die dem idealistischen Phantasma vollstimmiger, perfekt-schlüssiger, total-kohärenter Erzählverläufe nachhängen, die man scheinbar auch erfassen kann, ohne sie zu verstehen. Indem komplexe psychische Vorgänge kategorisch ignoriert werden – nicht ohne Zufall ist Psy-

|| 4 Vgl. Matías Martínez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 52003, 108–119.

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chologisierung in der Literaturwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte zum ungeliebten Zaungast an der Grenze zum Feuilleton verkommen –, entstehen narratologische Handlungsmodelle, die bestenfalls noch ein Zerrbild denkbarer Erzählverläufe darstellen. Gestalt geworden sind sie in Form abstrakter Erzählschemata, deren knöcherne Faktur sich zu gleichsam lebendigen Erzählungen verhält wie ein Organismus zu seinem Skelett: Wer wissen möchte, wie jener gebaut ist, wird dieses mit Gewinn anschauen. Wer aber verstehen möchte, wie jener funktioniert, wird aus diesem wenig lernen. Der Ernst, von dem bislang die Rede war, ist nicht Gegenbegriff zu Jux und Schabernack. Vielmehr ist es eine wissenschaftliche Ernsthaftigkeit, eine fast schon naturwissenschaftliche, szientifische Seriosität, die sich die Narratologie auf ihre Fahnen geheftet hat. Dass dies auch mit fachpolitischen Legitimationsstrategien zu tun hat, sei dahingestellt. Die Schein-Objektivität der narratologischen Betrachtung verspricht klare Verhältnisse, stabile Resultate, und sie tut dies – wo sie nicht nur begrifflich den analytischen Blick schärft, sondern ihre Begriffe zu analytischen Dogmen erhebt – um den Preis einer massiven Verfremdung der literarischen Lektüresituation. Dieser Ernst siedelt auf der Ebene narratologischer Anschauung. Dass diese methodische Seriosität aber ihrerseits erkleckliche Schwierigkeiten hat, jenen nicht länger methodischen, sondern gegenständlichen Unernst zu erfassen und zu begreifen, der ihr aus literarischen Erzähltexten entgegenschlagen kann, liegt auf der Hand. Eine Narratologie, die primär am realistischen Roman des langen bürgerlichen 19. Jh. interessiert war und ist, hat dies vielleicht gar nicht bemerken müssen. Wenn aber die Texte schelmisch, ihre Erzähler unverlässlich, die Figuren undurchschaubar, deren Handlungen dunkel werden, wenn das Erzählen nicht mehr selbst-bedeutsam, sondern ironisch gebrochen ist, wenn die Texte nicht mehr auf die festen narratologischen Kategorien und Raster ansprechen, sondern sich elegant zwischen ihnen hindurchschlängeln, dann stößt das harte narratologische Instrumentarium an genau jene weichen Grenzen, die es nicht zu überwinden weiß; weil es gar nicht dafür gemacht ist, Kippeffekte, ›Ungefährlichkeiten‹, Doppelsinne, Witz und Ironie, all diese Paradoxa und Aporien zu beschreiben, ja, weil es mit seinem Hang zur hermeneutischen Arretierung genau jener flüchtigen Bewegung Einhalt geböte, die diesen erzählerischen Unernst ausmacht. Man hat sich abgemüht, auch für diese Fälle eine narratologische Terminologie zu finden: unzuverlässige Erzähler, denen man nicht glauben darf,5 freie Motive, die – narratologisch wertlos – nur noch einem unfassbaren poetischen

|| 5 Zusammenfassend Martínez/Scheffel (wie Anm. 4), 95–107.

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Überschuss dienen.6 Das dämmt freilich lediglich die Irritation, weil dahinter doch nur schwach verborgen die Überzeugung lauert, dass man am Ende doch ganz genau weiß, was der Fall ist, wer zuverlässig und wer unzuverlässig, welches Motiv frei, welches gebunden. Alleine, wer wann wo zuverlässig spricht oder nicht, eine Figur, ein Erzähler, welche Motive frei, welche verknüpft sind, das will erst einmal gewusst werden, sodass diese Versuche, das Vage, Ungenaue, Unernste doch noch narratologisch in den Griff zu bekommen, deren Unbegreiflichkeit und mithin die Inflexibilität narratologischer Analyse nur umso deutlicher ausstellten. Das adressierte Problem ist ein grundsätzliches; es ist hier nicht der Ort, es in der Ausführlichkeit zu diskutieren, die ihm gebührte. Ich meine allerdings, dass es – über die grundsätzliche Problematik hinaus – Fälle gibt, die sich geradezu als ein absichtliches literarisches Verwirrspiel mit den eben umrissenen Rastern und Kategorien begreifen lassen (die ja nicht erst die moderne Narratologie erfunden hat – die gesamte antike und mittelalterliche Poetik hat sich in Ähnlichem geübt). Einen solchen Fall will ich im Folgenden anhand des Tristan Gottfrieds von Straßburg besprechen. Er ist Phänomen eines Erzählens, das narrative Ordnungen, wie sie einer ernsten Narratologie zupass kämen, installiert, diese Ordnungen aber im selben Zuge unterläuft, und dies auf eine so intrikate Weise, dass noch nicht einmal die Unterwanderung des narrativen ordo der Analyse jenen zentralmotivischen Halt zu geben vermag, den die Erzähltheorie sucht. Mittel zum Zweck sind dabei Operationen – Gedankenfiguren –, die an einer rhetorischer Figur der Sprachoberfläche – jener der Ironie – geschult scheinen, dann aber tief ins konzeptuelle Geflecht des Erzählens reichen.7 Gottfrieds ›Ironie‹ siedelt deshalb auf zwei Ebenen, insofern er ›seine‹ Ironie sowohl punktuell, auf sprachlicher, als auch, weit ausgreifend, auf Handlungsebene – jener der Motivationslogik8 – installiert und damit eine profunde Verunsicherung || 6 Martínez/Scheffel (wie Anm. 4), 109 und 115–117. 7 Ich will im Folgenden nicht weiter auf »die verbreitete Meinung von der mittelalterlichen Ironieferne« (Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011, 11) eingehen. Wie weit diese Ansicht an den tatsächlichen Verhältnissen vorbeizielt, haben Althoff und Meier – in erster Linie an Beispielen aus dem Zuständigkeitsbereich von Historie und Mittellatein – penibel gezeigt, und ausführlicher, als ich dies in diesem Rahmen vermöchte. Es wäre zu wünschen, dass Ähnliches auch auf dem Gebiet der Altgermanistik geleistet würde. 8 Ich verstehe darunter, weniger produktions- denn rezeptionsästhetisch, den Versuch, das erzählte Geschehen mit einer Scheinkausalität (ob es ›echte‹ Kausalität gebe, sei dahingestellt) zu versehen, die beim Leser oder Hörer den Eindruck des Stimmigen und Folgerichtigen zu erwecken vermag. Mit den Worten von James A. Schultz: »Narrative motivation is fictional

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narrativen Sinns zeitigt. Wie er dies tut, sei an zwei Beispielen aus dem Tristan erläutert, bei denen es nicht nur darauf ankommt, jene ›Ironie‹ plastisch zu illustrieren, von der eben die Rede war, sondern auch die eigentümliche Parallelität zwischen sprachlich-rhetorischer und narrativ-motivationslogischer Konzeption zu beschreiben, die diese Texte samt ihren Leser jenem semantischen Strudel aussetzt, aus dem es, einmal schmunzelnd darin befangen, kein Entrinnen mehr gibt.

2 Die Schärfe von Morolds Waffen Ironie ist ein literaturwissenschaftliches Reizwort, und wo es noch dazu mit Gottfrieds Tristan kombiniert ist, ist der Stich ins Wespennest perfekt. Ich will versuchen, die automatisch sich einstellende Skepsis wenigstens zum kleineren Teil zu mindern, indem ich eingangs darlege, was ich mit ›Gottfried’scher Ironie‹ meine. Ich nehme den Ausgang beim rhetorischen Akt, um daran den Begriff zu schärfen. Inwieweit das so umrissene Ideologem auch motivationslogisch produktiv (um nicht zu sagen: kontraproduktiv) wird, sei in einem zweiten Schritt besprochen. Zum Beginn also eine kleine, unscheinbare Textstelle, eine, wie ich finde, heimliche rhetorische Perle. Wir stehen unmittelbar vor dem Kampf Tristans gegen Morold; dass man einander bekämpfen will, und dies im Zweikampf, ist eben ausgemacht, nun gilt es, die Kämpfer zu schildern. Zu Morold und seiner Wappnung liest man: Morolt fuor wâfenen sich. mit des gewæfene wil ich noch mit sîner sterke mînes herzen merke noch mînes sinnes spitze sehe mit nâhe merkender spehe niht stumpfen noch lesten, sô dicke als er zem besten an rehter manheit ist gezalt: diu zal von ime ist manicvalt, daz er an muote, an grœze, an kraft

|| causality«; James A. Schultz, »Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? An Essay on Narrative Motivation«, DVjs 61 (1987), 206–222, hier: 217.

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ze vollekomener ritterschaft 9 daz lop in allen rîchen truoc. (V. 6505–17)

Die Stelle ist merkwürdig – nicht zuletzt auch deshalb, weil Gottfried wenig später eine ausladende Schilderung von Tristans Wappnung einschaltet, die nicht nur die qua Literaturexkurs übergangene Schwertleitenpracht gleichsam nachträgt, sondern die diese wenigen Verse zu Morold auch armselig wirken lässt. Schon diese Kontextualisierung mag die Behauptung konterkarieren, dass Morold hinsichtlich muote, grœze und kraft, in jeder Hinsicht also, ein vollkommener, allenthalben gepriesener Ritter war. Doch nicht nur das: Auffällig ist, noch mehr, die Terminologie, derer sich Gottfried bedient, um das deskriptive Problem – Morold angemessen zu beschreiben – in Szene zu setzen. Ich versuche zuerst eine Übersetzung des ersten, schwierigen Teils: ›Morold fuhr sich wappnen. Doch weder mit seinen Waffen noch mit seiner Stärke will ich die Konzentration meines Herzens noch die Scharfsichtigkeit meines Verstandes mit genau konzentriertem Zusehen weder abstumpfen noch behelligen, wo er doch so oft schon in Sachen aufrichtiger Tapferkeit zum Besten erklärt wurde‹.10 Was heißt das eigentlich? Der Oberflächensinn ist deutlich: Sich an dieses abgedroschene Thema heranzuwagen, würde nicht lohnen. Konzentration und Scharfsinn des Erzählers würden von der Hingabe an diese poetische Pflichtübung stumpf werden, man würde sie (und also ihn) damit nur aufhalten und belästigen. Jedoch: Es ist nicht irgendeine Schilderung, die den spitzen Verstand zu einem stumpfen machen würde; es ist die Schilderung einer Bewaffnung, die Schilderung von – denkt man von Tristans späterer Wappnung her – Rüstung, Schild, aber auch Schwert, Lanze und dergleichen; die Schilderung von scharfen, gefährlich scharfen Gegenständen. Etabliert wird dadurch eine Parallelführung von metaphorischer und Handlungs- bzw. Beschreibungsebene – von Verstand und Auffassungsgabe des Erzählers und Morolds Waffen –, was die bewusste Distanznahme des Nicht-Beschreibens sprachlich unterläuft. Ist es dort die Spreizung zwischen erzählerischer Raffinesse und Plumpheit des Themas, steht hier die erzählerische Spitzfindigkeit und Auffassungsgabe neben || 9 Zitierte Ausgabe: Gottfried von Straßburg, Tristan, nach der Ausg. von Reinhold Bechstein hrsg. von Peter Ganz, 2 Bde., Wiesbaden 1978 (Deutsche Klassiker des Mittelalters 4). 10 Ruth Goldschmidt Kunzer, The ›Tristan‹ of Gottfried von Strassburg. An Ironic Perspective, Berkeley u. a. 1973 (University of California Publications in Modern Philology 105), 60, übersetzt: »I will not blunt or encumber my inner perception or the sharp vision of my poetic faculty with close scrutiny either of Morold’s strength or of his armor«. – Der Rest der zitierten Passage ist einfacher; es geht weiter mit: ›Viele erzählen von ihm, dass man seine vollkommene Ritterschaft wegen seines Gemüts, seiner Größe und seiner Kraft in allen Landen rühmte.‹

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der bzw. gegen die scharfspitze Exzellenz von Morolds Wappnung und seine Kraft – was im Weiteren ja doch nichts anderes heißt, als dass der Erzähler jene Waffen, die zu schildern ihm zu fade ist, deshalb nicht beschreibt, weil – entweder – sein stumpfer Verstand auch den Waffen ihre Schärfe raubte, also die Schärfe der Waffen dem Verstand seine Schneid abkaufte, oder weil Gottfrieds »nâhe merkende spehe« die Waffen Morolds und dessen Tapferkeit als durch und durch mittelmäßig, von gar nicht außergewöhnlicher Schärfe, erwiese, was dann natürlich dem scharfen Verstand des Erzählers abträglich wäre. Einmal sind die Waffen dem Verstand zu spitz, einmal ist dieser ihnen zu scharf, in jedem Fall rücken sie, ganz gegen die nachstehende Distanzierung, bildlogisch eng zusammen. Die Kippstelle zwischen den argumentationslogischen und metaphorologischen Lesarten lässt sich präzise (und das heißt: grammatikalisch) bestimmen: Die Aussage, dass das Erzähler-Ich weder »sînes herzen merke« noch »sînes sinnes spitze sehe« abstumpfen oder überhaupt damit behelligen wolle, dass es von Morolds Wappnung erzählt, wird von unten her damit begründet, dass man dies schon oft – zu oft – getan habe; »mit des gewæfene« und »mit sîner sterke« benennt bei dieser Lesung schlicht den Gegenstand, mit dem man sich befassen könnte, mit dem sich der Erzähler aber nicht befassen will. Die ›Schärfe‹ des Verstandes und jene der Waffen interagieren bei dieser flachen Lesung nicht. Wer hingegen den Satz ›von oben‹ liest, wird versucht sein, in »mit des gewæfene« und »mit sîner sterke« genau jenes Instrument umschrieben zu sehen, das – würde man sich ihm widmen – des »herzen merke« und des »sinnes spitze sehe« in einer sprachbildlichen tjoste zu verstumpfen imstande ist, entweder weil die unermessliche Schärfe der Waffen die mäßige Schärfe des Verstandes aussticht, oder weil der scharfe Verstand bei genauestem Zusehen nichts als stumpfe Waffen vorfände, seiner Scharfsichtigkeit unangemessen. Dass viele davon erzählt haben, wäre dann nur noch ein nachgeschobener, zweiter Grund; im Neuhochdeutschen würde man den Nachsatz mit ›zumal‹ einleiten. Einmal also verstumpft der Verstand anhand von Morolds Wappnung und seiner Stärke, weil viele schon davon erzählt haben; einmal verstumpft er a n Morolds Wappnung und Stärke – zumal auch viele davon zu erzählen wussten. Wer will, kann diese beiden Lesarten versuchsweise in Relation zueinander setzen, etwa nach dem Muster: Was die Beschreibung (aufgrund seiner zu großen oder zu geringen Schärfe) abstumpft, Morolds Waffen und der Krieger Morold, droht seinerseits angesichts all der stumpfsinnigen Beschreibungen seine ganze Schärfe zu verlieren, sodass die »manicvalte zal«, die es darüber bereits gibt, einmal inflationäres Gerede ist, einmal aber unerreichtes Vorbild. Man würde damit die knappe Stelle weiter gedacht haben, als Gottfried sie formulieren wollte. Doch darauf, welcher Sinn hier vermeintlich transportiert werden

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sollte, kommt es nicht an. Entscheidend ist die gedankliche Figur, die hier in dichtester Syntax gefeiert wird. Sie baut auf dem Prinzip des Gegensatzes, indem immer wieder eine Aussage in ihr Gegenteil kippt, ohne dass dieses Kippen den Ausgangszustand deutlich überschriebe, sodass am Ende eine Simultaneität unlösbarer Widersprüche zu gelten scheint, wie sie formallogisch unmöglich zu denken, nur sprach-logisch zu sagen ist. Die Pointe der Passage mag sein, dass das eigentliche Anliegen von diesem syntaktischen Verwirrspiel gar nicht betroffen ist: Vordergründig geht es ja schlicht darum, dass der Erzähler weder Morold selbst noch seine Wappnung schildern möchte. Dies wird behauptet, und so geschieht es.11 Erst als es darum geht, diese Entscheidung zu begründen, wird die argumentative Logik – in diesem Fall: durch einen perfiden metaphorologischen Kontrapunkt – instabil. Denn die Gründe, die genannt werden, überlagern und widersprechen einander: Es ist doch etwas ganz anderes, ob Gottfried den Gegenstand meidet, um nicht in eine stumpfsinnige, abgedroschene descriptio zu verfallen (die – dies wäre die nächste Perfidie – nach allem, was man über die Tristan-Tradition wissen kann, abgedroschen gar nicht wäre); ob er die Schärfe seines Verstandes schont, indem er ihm den Kontakt mit den allerschärfsten Gegenständen erspart; oder, nochmals anders gedacht, ob er die Schärfe seines Verstandes nicht an – genau besehen – ziemlich stumpfen Gegenständen vergeuden möchte. Diese drei Lektüren – und weitere ließen sich, bei noch längerem Grübeln, finden – stehen nicht nur nebeneinander, sie konfligieren auch akut. Evident ist dies bei Variante zwei und drei, die beide auf die metaphorische Interaktion der ›Schärfe‹ des Verstandes mit jener von Waffen setzen: Einmal sind Morolds Tapferkeit und seine Ausrüstung prächtig, einmal sind sie mickrig – was im Übrigen eine ungemein hintersinnige Volte gegen Tristans Kontrahenten ist (die dann, ich sagte es schon, ausgebaut würde dadurch, dass genau dieser Erzähler die Wappnung Tristans später durchaus und durchaus extensiv in Szene setzt). Doch auch die metaphorisch desinteressierte Variante eins konterkariert die metaphorische Variante zwei: Die Vorstellung von einem ›scharfen‹ Gegenstand, der den ›spitzfindigsten‹ Verstand noch überfordert und doch längst von zahlloser Behandlung abgestumpft ist, ist schlechterdings absurd.

|| 11 Alleine in dieser strengen Einhaltung der brevitas-Formel will Goldschmidt Kunzer (wie Anm. 10), 60, Ironie orten, verkennt damit aber die Komplexität der Passage. Ähnlich Rolph C. Hornung, Irony of Plot and Characterization in Gottfried’s ›Tristan‹, Diss. Houston/Texas. 1985, der außerdem einen ironischen Kontrast zwischen dem Lob Morolds als idealem Ritter und seinem Schurkenstatus in der Handlung (der mir alles andere als ausgemacht erscheint) annimmt.

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Es ist diese Gegensätzlichkeit, die mich dazu bringt, in Fällen wie diesem von ›Ironie‹ zu sprechen. Denn was anderes als ironisch wäre die Simultaneität von argumentativer Distanzierung des Gegenstands vom Erzählen und deren metaphorischer Überblendung, wenn man Ironie – ganz schulrhetorisch12 – begreift als jenen Tropus, der eine Aussage in ihr Gegenteil kippen lässt, im Kippen aber die ursprüngliche Aussage in ihren Umrissen eigentümlich präsent hält – wie der Nachgeschmack des Hauptgangs beim Dessert, oder wie das helle Bild, dessen Konturen dem Auge noch einige Momente lang als Blendschatten erhalten bleiben, wenn man den Blick längst anderem zugewandt hat? Nicht anders funktionieren mehr oder weniger aus dem Alltag oder zumindest aus der modernen Welt gegriffene Beispiele. Wenn ich zu meinem kleinen Bub, wenn er sich wieder einmal ganz unmöglich herausgeputzt hat – mit Babybody, Mamas Schuhen, Kappe, Radhelm und Hut –, sage: »Du bist aber heute fesch!«, verkehrt der ironische Gestus den Sinn der Aussage in ihr Gegenteil; und doch bleibt ein kleines Stück Feschsein erhalten, weil die Ironisierung der Aufmachung doch zugleich deren Besonderheit erkennt und spielerisch respektiert. Oder: Wenn Helmut Qualtinger singt: »Heite ziagt da gschupfte Feadl frische Socken an, / grün und gölb gestreift, das ist so elegant«, dann beschreiben diese beiden ersten Verse von Gerhard Bronners kabarettistischer Arbeiterballade deren Protagonisten natürlich eben n i c h t als elegant; aber dass der »gschupfte Ferdl« sich selbst durchaus für elegant hält in dem Moment, in dem er seine exorbitant bunten Socken überstreift, wird doch und im selben Zuge deutlich vermittelt. Das Gottfried’sche Beispiel funktioniert streng analog, mit dem Unterschied freilich, dass die beiden eben angeführten modernen Beispiele bei weitem nicht an die Komplexität und Dichte der kurzen Tristan-Passage heranreichen. Das Grundprinzip ist jedoch dasselbe: Sinn wird verkehrt, bleibt aber in der verkehrten Spiegelung sichtbar, und bleibt dies desto mehr, je undeutlicher der ironische Gestus ist, weil so das ›eigentliche‹ Verstehen immer als Potentialis erhalten ist13 und das ironisch Gemeinte – als schiere Negativie-

|| 12 Vgl. E[rnst] Behler, Art. »Ironie«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, 599–624, hier: 599f. 13 Einige schöne Beispiele dazu hat Christel Meier unter der Rubrik »Ironien der Heilsgeschichte« gesammelt. Schon die mittelalterlichen »Exegeten beschrieben diese Ironie [d. h. die Ironie jener, die im evangelikalen Geschehen Jesus verspotten] und zeigten auch, dass für das richtige Verständnis diese Rede- und Handlungsironie in einem höheren Ernst aufgehoben wurde: Zum Beispiel war der als König verspottete Jesus tatsächlich der Weltenkönig«; Althoff/Meier (wie Anm. 7), 50; die Beispiele für diesen »heilsgeschichtliche[n] Umschlag von Ironie in Ernst« ebd., 50–53. Im selben Buch weist Gerd Althoff darauf hin, dass diese Labilität der Ironie als politisch-argumentative Strategie nutzbar war (und gewiss noch ist): »Der Ein-

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rung dieses Eigentlichen, ganz und gar unsubstanziell – auffallend unbestimmt bleibt (denn zu jedem Eigentlichen gibt es mehrere Gegenteile).14 Verstärkt gilt dies für, wie Susanne Köbele es nennt, »literarische Ironie«, die sich dieses intrikate Widerspiel des gesagten Eigentlichen und des gemeinten Gegensätzlichen zum Thema macht.15 Je plumper hingegen die Ironie, desto schwächer ist diese Sichtbarkeit. Dass Ironie kein Phänomen ist, das seinen Grund in der Sache – also im Text – selbst hat, sondern dass es vielleicht einer autorisierenden, produzierenden Instanz, in jedem Fall aber eines Lesers bedarf, in dessen Blick Ironie überhaupt erst entsteht, dass also Ironie immer und enger als andere rhetorische Figuren in the eye of the beholder ist, gerade weil es sich dabei um eine Gedankenfigur handelt, scheint mir ausgemacht. Damit sie wahrgenommen werden kann, braucht es Signale, Ironiesignale, die ein Dichter (oder wer auch immer) vielleicht mit Absicht, vielleicht auch unabsichtlich setzt, die vielleicht auch erst in der Artikulation oder performance zur Geltung kommen, auf die aber der Rezipient unbedingt ansprechen muss, damit Ironie funktioniert. Wenn ich sage, »Du bist aber heute fesch!«, liegt das Ironiesignal in erster Linie in der Betonung, in zweiter Linie auch im Kontrast, der sich einem (wie ich behaupten würde:) vernünftigen Betrachter auftut, wenn er die kindische Verkleidungskunst am Attribut »fesch« misst. Und wenn Qualtinger von den eleganten grüngelben Socken des gschupften Ferdl singt, ist es die nachgerade höfische Eleganz des Wiener Proletariats, die den Satz kippen lässt. Das Eigentümliche daran ist, dass Ironie sich niemandem aufzwingt. Wer auf die Signale nicht reagiert, nimmt die Aussagen eben für bare Münze. Vielleicht wäre das beim gschupften Ferdl so gewesen, hätte er Qualtinger singen hören. Mein kleiner

|| satz von Ironie scheint nicht zuletzt deshalb ein erfolgreiches Mittel in agonalen Situationen gewesen zu sein, weil ironische Äußerungen wohl nicht als Beleidigungen aufgefasst werden konnten, die einen legitimen Anlass zur Anwendung von Gewalt darstellten. Vielmehr musste man gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn man zur Zielscheibe ironischer Bemerkungen wurde«; ebd., 89. 14 Vgl. Wolf-Dieter Stempel, »Ironie als Sprechhandlung«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 205–235, hier: v. a. 217f. 15 »Ironie schillert dann, wenn die Spannung zwischen den Ebenen ›gesagt‹ – ›gemeint‹ wichtiger, textbestimmender ist als das eigentlich Gemeinte«; Susanne Köbele, »Ironie und Fiktion in Walthers Minnelyrik«, in: Ursula Peters, Rainer Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, München 2009, 289–317, hier: 294. Vgl. dazu und insbesondere zur Problematik der literarischen Ironiesignale auch Rainer Warning, »Ironiesignale und ironische Solidarisierung«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 416–423.

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Bub aber nimmt mich – im Augenblick noch – ganz fest beim Wort, weshalb er seine neuesten Kreationen auch gerne und voller Stolz mit »Basti is fesch« ankündigt. Wieder ist es bei Gottfried ganz ähnlich, nur dass die Signale, die auf seine Ironie hindeuten, viel labiler gesetzt scheinen, schwerer zu hören sind: Im obigen Beispiel sind es die metaphorischen Überblendungen der ›Schärfe‹ des Verstandes mit der eben n i c h t genannten Schärfe von Morolds Waffen, ist es die »nâhe merkende spehe«, die als redundantes Element des Satzes (der scharfe Verstand, der genau zusieht) Gefahr läuft, semantisch überschüssig zu werden (wenn der scharfe Verstand ganz genau zusieht, dann …), ist es, ganz generell, die syntaktische Verkomplizierung, sind es die ständigen leisen argumentativen oder bildlogischen Reibungen wie jene vom einzigartig abgedroschenen Gegenstand, die Gottfrieds Passage unter Ironieverdacht stellen. So schwach sind die Signale, dass man oftmals gar nicht zu sagen weiß, ob eine Stelle denn nun ironisch zu lesen wäre, ob man sie – die Autorität des Dichters außen vor gelassen – ironisch lesen könnte, bis zu welchem Grad die Signale greifbar vorhanden sind, bis zu welchem man sie sich schlicht einbildet. Gerade diese tief greifende ironische Unsicherheit macht die poetische Subtilität des Tristan aus, sodass man über fast alle jener dutzenden und aberdutzenden Stellen, an denen Gottfrieds ›Ironie‹ durchschlägt und aus denen ich nur eine auswählen konnte, streiten könnte. Alleine, dieser Streit selbst wäre der schlagendste Beweis für das, was ich andeuten wollte: dass nämlich der Tristan nicht nur – ein Gemeinplatz der Forschung – ein hochrhetorischer,16 sondern auch ein im eben skizzierten, nämlich rhetorischen Sinne tiefironischer17 Roman ist.

|| 16 Grundlegend Winfried Christ, Rhetorik und Roman. Untersuchungen zu Gottfrieds von Straßburg ›Tristan und Isold‹, Meisenheim am Glan 1977 (Deutsche Studien 31). 17 Vgl. Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007, 122 u. ö. (vgl. das Stichwort ›Ironie‹ im Register). – Es mag am »Heiterkeitsdefizit« liegen, das Otfrid Ehrismann in seinem Abriss der Tristan-Forschungsgeschichte für die (deutsche) Forschung konstatiert (Otfrid Ehrismann, »Theologie und Erotik. Die geistesgeschichtliche Wende der Tristan-Rezeption und ihr Heiterkeitsdefizit«, in: Waltraud Fritsch-Rößler, Hrsg., Uf der mâze pfat. FS Werner Hoffmann, Göppingen 1991, GAG 555, 115–134), dass die Ironie des Tristan in extenso nur in angloamerikanischer Forschung Thema wurde. Zu nennen sind in erster Linie die Dissertationen von Goldschmidt Kunzer (wie Anm. 10) und Hornung (wie Anm. 11). Beide freilich haften ganz an der Textoberfläche und ergehen sich in einer Auflistung solcher Textpassagen, die die Autoren für ironisch halten, ohne konzeptuell in die Tiefe vorzudringen; die Gottfried eigene Flüchtigkeit der Ironie, die nahezu den gesamten Text in einem Schwebezustand zwischen Ironie und Ernst befangen hält, wird dadurch systematisch übersehen (siehe exemplarisch Anm. 11, 20 und 23 dieses Beitrags). Die beiden Studien wurden wohl darum auch von der übrigen Forschung kaum wahrgenommen.

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3 Werbung für Brautwerbung All dies gilt – in Form einer Analogie – auch für jene Gottfried’sche Ironie, die nun nicht länger auf der Ebene der Rhetorik siedelt, sondern die dicht in die erzähllogischen, motivationslogischen Strukturen des Romans eingeflochten ist. Ich sage ›Analogie‹, weil sich die eben skizzierte rhetorische Ironie, die immer auf der Sprachoberfläche statthat, nicht eins zu eins als handlungsleitende Struktur reinterpretieren lässt. Es gibt allerdings, wie ich meine, derart schlagende Gemeinsamkeiten des eben beschriebenen und des nun zu beschreibenden Phänomens, dass ich dahinter ein und dieselbe Tiefenstruktur zu sehen geneigt bin. Diese wäre im Grunde die Abstraktion der beschriebenen ironischen Kippfigur, die Eigentliches in Gegensätzliches verwandelt, das Eigentliche dabei schemenhaft präsent hält, und dies mit einer – rhetorisch, motivationslogisch, was immer – so sprungfreudigen Leichtfüßigkeit, dass dem Hörer oder Leser alle stabilen – axiologischen, handlungslogischen – Anhaltspunkte entgleiten. Die narrative Seite dieser Tiefenstruktur sei an einer kurzen, vermeintlich marginalen Passage demonstriert.18 Sie gehört nicht zu jenen Szenen, die einem sofort in den Kopf schießen, wenn man an den Tristan denkt, und auch der Forschung war sie selten untersuchungswürdig. Trotzdem ist sie eine für den || 18 Soweit ich sehe, hat sie nur Schultz (wie Anm. 8) zum Gegenstand einer eigenen Abhandlung gemacht. Auch seine Aufmerksamkeit gilt Motivationsphänomenen, doch ist sein Ziel nicht, die Motivationsstrukturen des schwierigen Brautwerbungsentschlusses bei Eilhart und Gottfried im Detail – d. h.: in all seinen Stimmigkeiten und Unstimmigkeiten – nachzuzeichnen, sondern vier verschiedene Typen narrativer Motivationslogik anhand von Beispielen aus dieser Szene zu illustrieren: story motivation (ein Handlungselement begründet das nächste; die Schwalbe in Eilharts Tristrant verliert ein Haar, Marke bemerkt es, reagiert darauf), narrator motivation (der Erzähler expliziert narrative Zusammenhänge; der erzählerseitig erklärte Hass der Höflinge auf Tristan), recipient motivation (der Rezipient stiftet Kausalität durch Rückgriff auf sein ›Weltwissen‹; die Schwalbe verliert ein Haar, ex negativo Gottfrieds Polemik gegen einen interinsularen Schwalbenflug), actional motivation (eine ungelöste Spannung der Handlung motiviert deren Fortsetzung; nach dem Hass der Höflinge kann die Geschichte unmöglich in ein happy ending abbiegen). Der Wert seiner Studie ist darum stärker ein systematischer als ein textanalytischer, weil er – wohl zum Zweck begrifflicher Perspicuität – auf die motivationslogisch labilen Stellen der Szene nicht eingehen mag und also wesentliche Aspekte des Handlungsschwenks (Tristans Rede von Isoldes Schönheit, seine Angst vor den Höflingen, Markes scheiternde Rede-Listen, der verquere Hofrat) ganz außer Acht lässt. Denselben Frageansatz verfolgt – mit anderem Textmaterial (Tristans und Isoldes Aufenthalt in der Wildnis bzw. in der Minnegrotte) – James A. Schultz, »Why Do Tristan and Isolde Leave for the Woods? Narrative Motivation and Narrative Coherence in Eilhart von Oberg and Gottfried von Straßburg«, MLN 102 (1987), 587–607.

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schieren Fortgang der Handlung ungemein wichtige Szene, weil sie den – soweit ich es überblicke – einzigen harten Bruch im Erzählgefüge des TristanStoffes überbrücken muss. Dieser Bruch klafft zwischen Tristans Jugendgeschichte – zu der auch noch der Kampf gegen Morold und Tristans Heilung auf Irland rechnen – und der Liebesgeschichte von Tristan und Isolde, die mit der zweiten Irlandfahrt einsetzt. Die Verknüpfung dieser beiden Handlungsfäden ist Problem immer dann, wenn von Tristan erzählt wird, übrigens nicht nur bei Gottfried (ich komme darauf zurück), und dies gleich aus mehreren Gründen: Erstens kommt die Handlung mit Tristans Rückkehr aus Irland zum Stillstand; der Held ist geheilt, das Land befreit, alle Handlungsstränge des ersten Teils sind ausgelaufen. Zweitens ist die Idee einer Brautwerbung ins Gebiet des Erzfeindes – das Schema der ›gefährlichen Brautwerbung‹ hin oder her – einigermaßen absurd, zumal ja gerade dieses Feindesland eben erst bereist und nachhaltig übers Ohr gehauen wurde; dort auch eine Braut zu werben, was ja doch der Erwartung nach schon heißen muss: sie zu stehlen, würde nur den eben gefeierten Erfolg iterieren. Drittens aber fehlt der Handlung genau jenes Moment, das in anderen Texten die Brautwerbung lostritt: die Gefahr des dynastischen Supergaus. Marke ist zwar ehe- und kinderlos, hat aber Tristan – immerhin sein leiblicher Neffe! – zum Erben eingesetzt. Die Thronfolge ist gesichert. Wer es gerne ausführlicher hat, könnte noch Tristan selbst hastig eine (gerne auch ganz und gar unproblematische) Brautwerbung andichten, um die Handlung zukunftsgewiss ins Glück zu treiben. Nach allem, was bisher geschah, wäre dies nicht die unlogischste, wohl auch nicht die überraschendste Wendung. Doch gerade so kommt es nicht: Der Roman, nein: der Stoff schon bricht mit all diesen Erwartungen, ignoriert die eben vorgebrachten Gründe gründlich und lässt seine Protagonisten ganz neu ansetzen: in neuer Konfiguration und mit einer neuen Aufgabe. Das wirft das Problem auf, den jähen Handlungsschwenk seinerseits zu plausibilisieren und im selben Zuge die enttäuschten Erwartungen und gegenläufigen Tendenzen zu überschreiben und auszubremsen. Leisten muss dies der Handlungsknoten, der Tristans erfolgreiche Rückkehr aus Irland mit seiner abermaligen Fahrt dorthin verbindet. Die Frage ist schlicht: Wie motiviert man die Idee einer Brautwerbung, die, woher man sie auch anschaut, absurde Konturen aufweist? Gottfried macht es folgendermaßen (V. 8230– 8604):19 Tristan kehrt von seiner Tantris-Fahrt zurück, in Kornwall bereitet man ihm einen großzügigen, jedoch zügig erzählten Empfang und ergötzt sich an Tristans Schilderung des Erlebten: Dass er seine und Markes Erzfeindin so gründ-

|| 19 Vgl. die Analyse bei Hornung (wie Anm. 11), 86–90.

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lich überlistet hat, sorgt für »vil schimpfen unde lachen« (V. 8243): gute Laune allenthalben. Erst als man sich ausgiebig über seine Fahrt und seinen Erfolg amüsiert hat, dringt man in Tristan – man fragt ihn »genôte« (V. 8255) –, damit er von der Jungfrau Isolde erzähle. Dies tut er dann, und während die ganze Szene samt Tristans Berichten davor nur mit wenigen kurzen Versen bedacht worden ist, folgt nun direkte und ausführliche Rede; die Gewichtung ist überdeutlich. Tristan also erzählt und verliert sich in einer hyperbolischen Eloge auf jene junge Isolde, von der man ihn in Irland kaum Notiz nehmen sah. Den argumentativen Bogen dieser plötzlichen deskriptiven Eruption gibt die eingangs getroffene Behauptung, dass man in allen Landen von Isoldes »schœne« (V. 8258) erzähle, ja, dass – wiederholt Tristan seine Prämisse –, wie sehr man auch Frauen bislang oder andernorts gelobt habe, dies alles ein Nichts wäre gegen diese Schönste der Schönen (V. 8291–93). Indem Tristan dies als Rahmen setzt, legitimiert er zugleich sein dazwischen geschaltetes Lob, das natürlich seinerseits den Rahmen begründet: Das Lob Isoldes erträgt und bedarf keiner äußeren Erklärung, es schafft sich selbst. Die Attribute, mit denen Tristan die verfeindete Königstochter, seine Schülerin, bedenkt, lassen an Überschwang nichts zu wünschen übrig: Die weitgerühmte Isolde übertrifft alle an Gebaren und körperlicher Schönheit, geläutert wie arabisches Gold, geht sie, die Sonne, der Morgenröte (also Isolde Mutter) nach, sodass man in Griechenland nie solches wahrgenommen habe an der Tintaridin, also Helena, die Tristan – mythologisch falsch oder zumindest eigenwillig – hier ebenfalls auf Auroras Pfaden wandeln lässt, deren Gang sich aber mit jenem der Irländerin nicht messen kann. Sie und ihre Mutter Leda haben gegenüber Isolde und Isolde klar das Nachsehen. Diese Isolde-Sonne – Tristan bleibt im Bild – erleuchtet die ganze Welt, die – dann – selbstverständlich ihren Lobpreis singt. Noch mehr: Der Anblick dieser (jungen) Isolde läutert Herz und Verstand wie die Glut das Gold, Isolde – eben noch selbst geläutertes Gold – ist zugleich das Feuer, das dieses läutert; das hermetische, zirkuläre Isolde-Lob wird vom Sprachbild nachgeahmt, wenn Gold und Feuer in eins fallen: Isoldes Perfektion trägt sich selbst. Und sie trägt sich in einer Weise, dass andere Frauen davon keinen Schaden nehmen, dass – das Bild von der goldenen, blendenden, brennenden Sonne wird fortgesponnen – diese davon weder geschwächt werden noch verglühen (»erleschen«; V. 8299), weil – wieder ein oxymoraler Zirkel – Isoldes Schönheit schönt und sie das Prinzip Frau (»wîplîchen namen«; V. 8303) ziert und krönt. Die Wirkung dieses bildlogisch dicht komponierten Gemäldes ist überwältigend: Niemand am Hofe lacht mehr, alle sind tief ergriffen: Wer sich diese Geschichte ins Herz gehen ließ, dem »suozte diu rede den muot« (V. 8311) wie der Tau des Mais die Blüten netzt: »si hæten alle muot dâ van« (V. 8313) – ein-

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schließlich Tristan, der – so fährt die Erzählung unmittelbar danach fort – als ein »wol gemuote[r]« (V. 8314) wie ein »niuborner man« (V. 8317) sein zweites Leben lebt; und man weiß nicht, ist es seine Heilung von der tödlichen Wunde oder doch sein selbstgeschaffenes Isolde-Lob, was ihm dieses neue Leben schenkt. – Exakt an dieser Stelle erreicht die Handlung ihren toten Punkt: Tristans Erzählungen und Berichte mag man noch als Anhängsel seiner TantrisAventüre begreifen; nun aber sind alle Handlungen ausgehandelt, es gibt nichts mehr zu tun. Der Neuansatz läuft über die Höflinge an Markes Hof: Tristans Freude, die er mit Marke teilt, wird von ihnen einige Zeit mit getragen, bis »diu veige unmüezekeit« (V. 8322) und der »verwâzene nît« (V. 8323) sich in diesen regen. Sie werden betrübt »an ir muote« – an jenem muot, der eben noch von Isoldes beschriebener Schönheit ergriffen war! – und »an ir siten« (V. 8327), man neidet Tristan sein Ansehen und seine Position,20 verleumdet ihn als »zouberære« (V. 8335), weil es ihm sonst niemals gelungen wäre, den starken Morold zu überwinden und die weise Isolde (gemeint ist nun die Mutter) zu überlisten. Tristan wird als »partierære« (V. 8350), als ›Betrüger‹ abgestempelt, die Harmonie am Hof ist dahin. Die Höflinge werden aktiv: Sie liegen Marke in den Ohren, dass er sich doch eine Frau nehmen möge, um die Erbfolge zu sichern. Bei Marke blitzt dieser Rat ab; er verweist auf Tristan, den er als Erben eingesetzt habe, eine Königin oder Herrin könne er nicht gebrauchen. Das nährt nur den Hass der Höflinge, der sich nun immer offener und direkt gegen Tristan richtet. Was sie genau tun, bleibt unerwähnt, jedenfalls aber genügt es, dass Tristan, der ihr Gebaren und ihre Worte wahrnimmt, angst und bange wird.21 Er fürchtet den Tod und wendet sich seinerseits an Marke mit der Bitte, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Marke reagiert mit einem Maximum an Vernunftrede: Zwar wäre er in dieser Sache machtlos – »ich enkume hie niemer an« (V. 8392) –, doch will er Tristans Wohlergehen sichern; im Übrigen würden Neid und Hass der Höflinge Tristan doch kaum eigentlich schaden. Er versucht, Tristan proverbial zu beruhigen: Der »biderbe« muss »hazze unde nîden« ertragen (V. 8399f.), »wird’ unde nît« sind wie Mutter und Kind (V. 8403f.), »sælde« und »haz« gehören zusammen, und nur wer selbst ein »bœser wiht« ist, ist den »bœsen« genehm (V. 8415–18). Tristan, so Marke weiter, solle hohen Mutes sein und sich um sein Ansehen || 20 Dass die ganze Ironie der Szene darin bestünde, dass Tristan in dem Moment seines Erfolges von Hass und Neid heimgesucht wird (so Goldschmidt Kunzer, wie Anm. 10, 107), greift freilich viel zu kurz. 21 Ob diese »Empfindlichkeit des Protagonisten gegenüber dem Neid« tatsächlich »auf seine Künstlernatur verweis[t]«, wie Tomasek (wie Anm. 17), 208, meint, sei dahingestellt.

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kümmern und auf dieses Gerede nichts geben. Er, Marke, werde in dieser Sache weder in deren noch in Tristans Sinne etwas unternehmen.22 Doch Tristan insistiert: Er bittet nun um Erlaubnis, den Hof zu verlassen, um so sein Leben in Sicherheit zu bringen. Lieber gäbe er seine Herrschaft (sein ›Land‹) ab, als sich diesem Hass auszusetzen. Wieder winkt Marke ab; als er dann aber Tristan doch (und gesprächslogisch einigermaßen verquer) fragt, was er denn für ihn tun könne – schließlich hat Marke bereits zwei Ansuchen seines Neffen ausgeschlagen –, und Tristan um die Einberufung eines »hoverâtes« (V. 8447) bittet, lenkt Marke ein. Auf diesem Hofrat überschlagen sich die Ereignisse: Die Höflinge – die ja zugleich Markes Ratgeber sind – beharren auf ihrer Idee einer Brautwerbung für den König, konkretisieren diese nun aber weiter. Werben solle man um Isolde von Irland, die Marke an Geburt, Tugend und Körper (also: Schönheit) angemessen sei; all dies aber nur deshalb, um – wie auktorial versichert wird – Tristan zu schaden. Der Sprecher der Höflinge bringt das Ansinnen vor, Marke reagiert mit einem vermeintlich eleganten Seitenargument: Er rekurriert nicht auf seinen Entschluss, grundsätzlich nicht heiraten zu wollen, sondern betont, dass eine Werbung um die Tochter eines Erzfeindes vergeblich wäre. Die Höflinge scheinen darauf vorbereitet: Sie stellen eine Versöhnung in Aussicht, wäre es doch schon oft geschehen, dass eine Heirat »suone« (V. 8499) gebracht habe; dass Isolde auch noch das einzige Kind des irischen Königspaares sei, könnte ihm die Herrschaft über Irland eintragen. Markes Antwort kommt überraschend: Seine Skepsis scheint wie verflogen, plötzlich scheint er von der Idee einer Heirat mit Isolde wie besessen, habe ihn doch Tristan »starke / in gedanke durch si brâht: / ich hân vil durch si gedâht, / als er si lobete wider mich« (V. 8510–13). Niemals würde er eine Frau nehmen, wenn nicht diese, schwört er pathetisch. Der Erzähler löscht die Irritation sogleich mit einer auktorialen Introspektion: den eit tet er niht umbe daz, daz ime sîn gemüete iht baz sô hin stüende danne her: durch die kündekeit swuor er, daz es im gar was ungedâht, daz ez iemer würde z’ende brâht. (V. 8521–26) Den Eid leistete er nicht deshalb, weil er dies lieber wollte als das andere: Er schwor aus List, weil es ihm undenkbar war, dass es jemals umgesetzt werden könnte. || 22 Dass es Markes Schwäche wäre, die ihn hier untätig sein lässt, so Hornung (wie Anm. 11), 87, hat im Text keinen Rückhalt; Marke nimmt die Sache schlicht für unbedeutend.

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Markes Eid ist ein strategischer, ein kluger Schachzug, der aus dem Manöver, dass die Werbung gerade nach Irland gehen solle, Kapital schlägt. Doch Markes Strategie greift zu kurz: Die Höflinge haben dies offenbar bereits bedacht und wenden den Zug des Königs wiederum gegen diesen. Der Werber nämlich, den sie für die Fahrt auserkoren haben, ist Tristan, und dies mit gutem (natürlich wie immer: vorgeschobenem) Grund. Er ist klug, bedächtig, erfolgreich, die Sprache des Landes beherrscht er auch: Seine Werbung wird Erfolg haben. Damit ist Marke mit seinem Latein am Ende: Er wird ausfällig, beschimpft die Höflinge direkt, wirft ihnen vor, nur auf Tristans Schaden aus zu sein, unterstellt ihnen moralische Defizienz, wo sie just jenen Tristan, der bereits einmal sein Leben für sie geopfert habe (nämlich im Kampf gegen Morold), nun ein zweites Mal in den Tod treiben wollen. Tristan als Brautwerber verbietet sich Marke, die Höflinge müssten schon selbst auf diese Reise. Damit ist ein eigenwilliges Patt entstanden. Man weiß nicht, wie dieser Disput hätte fortgesponnen werden können. Denn Markes Wort hat die Macht des Königs hinter sich; umgekehrt hat Marke mit seiner direkten Anklage die Sphäre der vorherigen höfisch-politischen Interaktion jäh verlassen und damit also jenen Diskurshorizont, auf dem, wie es scheint, höfisch-politische Konflikte auszutragen sind. In heutigen politischen Debatten ist dies ganz ähnlich, weil in diesen wie in jenen nicht das gesagte Wort für sich spricht, sondern dieses immer nur Vorwand jenes Zwecks ist, den niemand direkt zu adressieren bereit ist, wiewohl er doch allen präsent scheint. Wenn Marke aus der Spur dieses Interaktionsmusters ausschert, treibt er den Diskurs in eine dilemmatische Situation. Die Lösung bringt Tristan: Er, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, ergreift nun das Wort und führt den Disput auf einen Vorschlag hin, dem niemand mehr zu widersprechen wagt: Er unterstützt die Idee einer Werbung um Isolde, will – als Markes ›erster Mann‹ – unbedingt die Aufgabe des Werbers übernehmen, pocht auf seine Kompetenz, ersucht aber den König auch und zugleich, dass er die Höflinge mit ihm fahren hieße. Marke versucht noch ein letztes Mal, die Sache abzuwenden, aber Tristan bleibt stur: Ihm und den Höflingen sei dasselbe Schicksal bestimmt, er würde ihnen nun schon zeigen, ob es seine, Tristans, Schuld wäre, wenn dieses Land ohne Erben bliebe, schließlich sei die Sache nicht ganz aussichtslos, und sein Leben zu geben dafür, dass Marke Isolde bekommt, wäre ein geringer Schaden. Damit ist die Sache beschlossen: »nu muose ez und solte wesen« (V. 8587); mit 20 Rittern, 60 Ansässigen und Gästen – wer immer das sei – und 20 Landbaronen (das sind wohl die Widersacher), 100 Gefährten insgesamt, macht sich Tristan auf den Weg in den zweiten Handlungsteil.

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Der erste Eindruck der Passage mag der einer stimmigen und schlüssigen Szene sein. Das Motivationsproblem – der Übergang vom einen in den anderen Handlungsteil – wird beseitigt, ja, es kommt als Problem gar nicht so sehr in den Blick, indem der insgesamt kurze Aufenthalt Tristans an Markes Hof zu so etwas wie einem Intermezzo der beiden Irland-Fahrten wird. Dass die erste Fahrt und Tristans Rückkehr stürmisch bejubelt wird, war zu erwarten; dass eine zweite ansteht und dann auch gleich in Angriff genommen wird, ergibt sich wie natürlich aus den Streitigkeiten am Hof. Markes Ratgeber, Querulanten allererster Güte, spinnen mit ihren Intrigen ein Netz, in dessen Fallstricken sich am Ende alle beteiligten Personen verheddern: Es gibt gar keine andere Wahl mehr, als eben dieser zweiten Fahrt unter Tristans Leitung und unter Beteiligung der boshaften Höflinge zuzustimmen. Blickt man jedoch etwas genauer auf die verwirrende Abfolge von Argumenten und Strategien, werden die motivationalen Verläufe zusehends obskur. Am einfachsten lässt sich diese Verdunkelung des Handlungswollens daran ablesen, was die drei Parteien anstreben, wie sie dies propagieren, und was sie aber am Ende erreichen. Erstens: die Höflinge. Was sie wollen, ist bald überdeutlich. Zwar amüsieren sie sich über Tristans Irland-Geschichten, lauschen gebannt seiner Beschreibung Isoldes, freuen sich über seinen Erfolg, doch bald keimt Neid und Hass, und sie versuchen sich daran, Tristan zu verleumden und ihn loszuwerden. Da es ihnen nicht zusteht, dieses Vorhaben öffentlich, schon gar nicht gegenüber Marke, zu artikulieren, schieben sie andere Ziele vor. Das erste ist der Rat zur Heirat, damit Marke seine Erbfolge sichert, ein Rat, der am König hart abprallt. So setzen sie Tristan unter Druck, was – zufällig oder nicht – zu einem Hofrat führt, auf dem sie erneut ihre dynastische Heiratsidee, diesmal konkret als Brautwerbung um die irische Königstochter, vorbringen. Offenbar hat man Argumente vorbereitet: Isolde wäre Marke in jeder Hinsicht angemessen, die Heirat mit ihr stellt die Versöhnung mit Irland (und die Herrschaft darüber) in Aussicht, die eigentliche Pointe aber ist dann der Vorschlag, Tristan mit der Brautwerbung zu beauftragen. Auch das lässt sich mit der Wahl von Irland begründen – er war ja schon dort, spricht die Sprache –, zugleich ist es so etwas wie eine Erfolgsgarantie: Entweder scheitert Tristan, dann verliert er sein Leben; oder aber er hat Erfolg, dann büßt er – mit hoher Wahrscheinlichkeit – seine privilegierte Position in der Erbfolge ein. Das Ziel, Tristan zu schaden, wäre beide Male erreicht. Was die Höflinge sich damit aber (abgesehen vom Zorn des Königs, der ohne spürbare Auswirkung bleibt) einhandeln, scheint sie zu den eigentlichen Verlierern der Szene zu machen: Tristan nimmt die Aufgabe der Brautwerbung ja bereitwillig auf sich; sie aber werden zur Mitfahrt genötigt

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und fürchten mit gutem Grund um ihr Leben. So hatten sie sich das gewiss nicht vorgestellt. Zweitens: Marke. Sein Ziel ist es, Tristan zu schützen und ihn als Erben zu halten, was auch bedeutet, er will keine Ehe, auch und schon gar nicht mit Isolde von Irland. Sein Engagement wird in einer Reihe politischer Aktionen manifest. Nach dem ersten Rat zur Heirat bekräftigt er seinen Entschluss, sein Erbe Tristan zu überlassen, Tristan selbst beschwichtigt er, als dieser sich am Hof Drangsalierungen ausgesetzt sieht. Beides bleibt freilich ohne Erfolg, wenn am Hofrat, den Marke auf Tristans Bitte hin einberuft, die Konflikte erneut ausbrechen. Dort scheitert Marke mit allem, was er probiert. Er argumentiert gegen die Brautfahrt, indem er auf die Feindschaft mit Irland hinweist; als diese von den Höflingen zur potentiellen suone umgebogen wird, wendet Marke seine Position um 180 Grad und nimmt die Brautwerbungsidee auf, nicht bedenkend, dass die Höflinge Tristan als Werber vorschlagen werden. Markes Listen greifen zu kurz, die Höflinge sind ihm immer einen entscheidenden Schritt voraus. Wie ein in die Enge getriebenes Tier schreitet er zum Frontalangriff, wirft den Höflingen mit Recht vor, gegen Tristan zu intrigieren, verlässt damit aber die Sphäre höfisch-politischer Kommunikation, was einer argumentativen Resignation gleichkommt. Spätestens damit gibt Marke das Heft aus der Hand, nun lenken die Höflinge und dann Tristan. Was Marke damit erreicht: im Potentialis den Verlust seines Neffen – des königlichen Erben! – und aber auch den Verlust der Höflinge, die mit auf die Fahrt müssen; im Irrealis – der sich im Nachhinein als Realis erweisen wird – eine Frau, die er nicht wollte, und einen neuen Konflikt, den aktuell noch niemand absehen kann. Drittens: Tristan. Er versucht, sich vor den Anfeindungen und Angriffen der Höflinge zu schützen. Im späteren Verlauf des Streits scheint es ihm auch darum zu gehen, deren Anschuldigungen Lügen zu strafen, wenn er betont, dass er sich nicht die Schuld dafür nachsagen lassen wolle, dass Markes Land ohne Erben bliebe. Sein Handeln, dies zu erreichen, ist aber – für den listigsten Helden der höfischen Literatur – auffällig dysfunktional. Die Reihe unerklärlicher Tristan-Handlungen beginnt bereits mit seinem Lob Isoldes, zu dem ihn niemand gezwungen hat und von dem nicht sicher ist, ob es sich nicht, je länger die Streitigkeiten am Hofe gehen, desto mehr gegen seinen Sprecher wendet. Dazu später. Mit Sicherheit ungeschickt agiert Tristan vor Marke, den er erfolglos bittet, die Höflinge in ihre Schranken zu weisen, dann erfolglos um Erlaubnis zur Abreise ansucht, schließlich seine Bitte um Einberufung eines Hofrats erfüllt bekommt, ohne dass je deutlich würde, was Tristan damit bezwecken möchte. Denn dort verdichten sich die Antipathien gegen ihn nur immer mehr, bis Tristan, wieder ohne nachvollziehbaren Grund, seinen Gegnern in die Hände spielt und die Brautwerbung vordränglerisch auf sich nimmt. Was immer

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also Tristan in dieser Szene anpackt, es will ihm nicht recht von der Hand gehen: Sein Hofrat schafft seinen Feinden und Neidern ein Plenum, mittelfristig zwingt er sich mit diesen in eine Zweckgemeinschaft, auf lange Frist winken ihm Tod oder Verlust des Erbes; tatsächlich wird er sich in einer magischen Liebe befangen sehen, die – wie immer man sie taxieren möchte – zumindest seine intime Position an Markes Hof unmöglich macht und ihn noch größeren Anfeindungen aussetzen wird.23 Auf der Handlungsebene werden die Höflinge und damit jene, die den Streit angezettelt haben, als dessen Verlierer präsentiert.24 Nachdem Tristan ein Angebot gemacht hat, das niemand ablehnen kann, notiert der Erzähler: und alse Markes râtman gehôrten, war diu rede gie, sine wurden alse riuwic nie in allen ir jâren, sô sî der rede wâren. (V. 8582–86) Und als die Ratgeber Markes hörten, worauf es hinauslief, wurden sie darüber so betrübt, wie sie in all ihren Jahren nie gewesen waren.

Wenig später, unterwegs nach Irland, wird diese Not greifbar. Ausgefaltet wird das Dilemma von ratlosen Ratgebern, die auf Aventüre oder list angewiesen sind, um diese Brautfahrt zu überstehen, denen aber beides teuer ist und die darum auf jenen Tristan, seine »wîsheit«, »fuoge« und auf seine »blinde frecheit« vertrauen (müssen), den sie doch mit dieser Reise eigentlich ins Verderben schicken wollten (V. 8633–78). De facto aber gilt dies für Tristan und Marke nicht minder, sodass es nur dem Protagonistenbonus geschuldet sein mag, dass Tristan und Marke in dieser Szene, die nur Verlierer zulässt, implizit als Gewinner verkauft werden. Denn dass es für Tristan und Marke gar nicht gut ausgehen kann, zeigen alle möglichen Prospekte der anvisierten Brautwerbung: Tristans Tod oder die falsche Braut. Umgekehrt hat es den Anschein, als könnte es für || 23 Darin, dass Marke und die Barone durch ihr Agieren bei Hofe letzten Endes den Weg zu der Liebe von Tristan und Isolde ebnen, ortet Hornung (wie Anm. 11), 88f., die eigentliche Ironie der Szene. Es wäre eine irony of plot – das Thema von Hornungs Studie – insofern, als die Handlungsführung eine ironische Bewegung ausführt. Das geht an den feinsinnigen ironischen Verschränkungen der Hofszene, wo jede Partei immer das bekommt, was sie nicht betreibt, vorbei. V. a. aber müsste man sehen, dass diese Ironie keine wäre, die Gottfried in den Text gebracht hätte: Denn dass der Entschluss zur Brautwerbung – in allen greifbaren TristanGeschichten – hauptsächlich von Marke und den Höflingen getragen wird, an deren Ende aber trotzdem die ehebrecherische Liebe steht, scheint stoffliche Vorgabe zu sein. 24 Dieser Vorgabe schließt sich Hornung (wie Anm. 11), 89 an.

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die Höflinge – abgesehen von jenen (sind es alle?), die mit auf die Reise müssen – nur gut ausgehen: Tristans Tod hier, Markes Ehe dort. Dass gerade sie als die absoluten Verlierer des Streits vorgeführt werden, ist angesichts der ungleich aussichtsloseren Position Tristans und Markes widersinnig; sinnig wird es viel später, denn dann wird zwar Isolde am Hof sein, doch dieser wird unter der ehebrecherischen Liebe massive Auflösungserscheinungen zeigen – was die Höflinge am härtesten treffen muss –, und überdies wird genau jenes, worauf die Höflinge hoffen, ausbleiben: ein Kind von Marke und Isolde.25 Tatsächlich kennt der Streit keinen Gewinner, nur Verlierer. Wer immer in dieser Szene seine Anliegen politisch durchpeitschen will, scheitert eklatant, jedes Tun ist kontraproduktiv, jedes Ziel schlägt in seinen gegenteiligen Effekt um, jedes Wollen bleibt unerfüllt. Die immense motivationslogische Komplexisierung kaschiert die argumentativen Verstrickungen bis zur Undurchsichtigkeit, und auch die einzelnen Parteien scheinen im kommunikativen Gefecht zusehends den Überblick über ihr Wollen, ihr Tun und ihr Schicksal zu verlieren. Das Ergebnis, auf das alle argumentativen Vektoren hingebogen werden, der schale Kompromiss der ungewollten Werbung um eine gefährliche Braut, die Freund und Feind paradox zu Gefährten macht, ergibt sich wie von selbst, ohne dass es von jemandem betrieben würde: Es gibt schlechterdings keinen vernünftigen Grund, weshalb man um Isolde als Braut für Marke werben sollte; gerade deshalb tut man es! Wir wissen nicht, was sich Gottfried dabei gedacht hat. Wir wissen jedoch, dass er sich etwas dabei gedacht hat, und wir wissen dies deshalb, weil Gottfried am Ende der Passage seine Version – und das heißt nichts anderes als: seine Initialmotivation – der Brautwerbung mit jenen anderer Tristan-Varianten vergleicht (V. 8605–32). Was die zu bieten haben, muss ihm angesichts seines erzählerischen Kabinettstücks abgeschmackt erscheinen, und Gottfried macht daraus auch keinerlei Hehl. Zwei Varianten nennt er konkret, ohne sie mit bestimmten Tristan-Gestaltungen oder (wie andernorts) Autornamen in Verbindung zu bringen. Die eine macht eine Schwalbe zum Antrieb allen Geschehens, die andere lässt das – wie man will – Glück oder Unglück walten, und beide trifft Gottfrieds Vorwurf der, wie man heute sagen würde, unnatürlichen Überspanntheit mit voller Wucht. Denn warum sollte eine Schwalbe – so Gottfried – übers Meer in ein anderes Land fliegen, um Nistmaterial für ihr Nest zu besorgen? Und weshalb würden die Brautwerber um Tristan ganz ungerichtet ihre

|| 25 Dies freilich ist nicht länger eine Ironie der Handlungsmotivation, sondern eine der Geschichte, und mithin keine Zutat Gottfrieds, der die Handlungsführung ja nicht neu entworfen hat.

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Werbung in die Welt setzen? (Vom unwahrscheinlichen Zufall, dass sie just nach Irland gelangten, wo Tristan gerade war, einmal ganz abgesehen!) Gottfried schüttelt sich diese konkurrierenden Varianten nicht aus dem Erzählerärmel; sie sind in anderen Tristan-Versionen bewahrt und nachzulesen in Eilharts Tristrant (V. 1314–1502):26 Auch dort wird nach Tristrants Rückkehr aus Irland das Erbfolge-Problem virulent. Wieder neidet man ihm seine Adoptivstellung, wieder wird Missgunst laut. Hier ist es Marke, der einen Hofrat einsetzt, auf dem er die Idee einer Brautwerbung, wie sie die Höflinge vorgebracht haben, abzuwenden gedenkt. Seine Strategie: Er willigt in die Werbung ein, will aber nur jene Frau ehelichen, von deren Haupt das Haar stammt, das zwei Schwalben bei der Balz im Königssaal verloren haben. Die List wird erkannt und mit mürrischem Gemurmel bedacht, doch Tristrant klärt die angespannte Situation: Er distanziert sich von den Unterstellungen, er hätte es auf Markes Erbe abgesehen, rät Marke, eine Frau zu nehmen, und will für ihn werben, wenn er es denn ernst meinte mit seiner Frauenhaar-Idee. Marke, der seine Intention entweder vergessen oder aufgegeben hat, willigt sofort ein, mit 100 Rittern fährt Tristrant aufs Meer, um alle Lande nach dieser ominösen Dame abzusuchen; nur Irland will er meiden, fürchtet er dort doch den Tod. Doch ehe die Handlung zur Weltreise verkommt, bringt ein Seesturm die Geschichte wieder auf Kurs und verschlägt das Schiff ans irische Gestade … Bemerkenswert ist all dies nicht nur, weil die Varianz der Szene einen tiefen Einblick in die Textgeschichte des Tristan-Stoffes gewährt, die nicht immer und überall zu haben ist; bemerkenswert ist vielmehr noch, dass Gottfried seine Version mit voller Absicht gegen und über die anderen stellt, ja, dass er überhaupt dermaßen tief in die Motivationslogik einer Geschichte eingreift, die er – soweit man heute mutmaßen kann – ansonsten weitgehend seiner Quelle getreu erzählt. Zwar stimmt Gottfrieds Gestaltung in den Grundzügen mit der Version des Thomas überein, wie sie sich über die altnordische Tristrams saga erschließen lässt (der Roman des Thomas ist für dieses Stück Handlung nicht erhalten); Gottfried modifiziert das Gerüst aber entscheidend. Gleich ist – in der Tristrams saga (Cap. XXXII–XXXIV)27 –, dass sich nach Tristans Rückkehr Hass

|| 26 Der Vergleich von Eilharts und Gottfrieds Lösung der motivationslogischen ›Aufgabe‹ ist passim Gegenstand von Schultz (wie Anm. 8). Auf Gottfrieds Relation zur Saga geht er nicht ein. Zitierte Ausgabe: Eilhart von Oberge, [Tristrant], hrsg. von Franz Lichtenstein, Straßburg, London 1877 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 19), Nachdruck Hildesheim 1973. 27 Benutzte Ausgabe: Tristrams saga ok Ísondar, mit einer literarhistorischen Einleitung, deutschen Übers. und Anm. zum ersten Mal hrsg. von Eugen Kölbing, Heilbronn 1878 (Die nordische und die englische Version der Tristan-Sage 1).

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regt, wobei die Sorge, Tristan könnte Marke nachfolgen, nur ein Seitenmotiv darstellt; wieder entspringt der Rat zur Eheschließung dem Bestreben, Tristan zu schaden bzw. seine Macht am Hof einzudämmen, wieder wird – nach 40 Tagen – ein Rat abgehalten, abermals nominieren die Höflinge dort Isolde, erneut ängstigt sich Marke – diesmal vor der Schmach einer abgewiesenen Werbung –, doch wie bei Gottfried pochen die Höflinge auf die Option einer Versöhnung der verfeindeten Dynastien, schlagen Tristan als Werber vor, und dieser nimmt die Aufgabe an. Diese Äquivalenz beruht aber nur auf den Eckpunkten der Szene. Im Detail ist die Passage der Saga anders komponiert und zeitigt so eine gänzlich andere Wirkung. Im Grunde ist es eine Zurücknahme des Listhandelns, die die Saga gegenüber Gottfried charakterisiert (und die, stoffgeschichtlich besehen, natürlich eigentlich eine Zunahme der Listen bei Gottfried ist). Nur der Rat zur Werbung ist listig gegen Tristan gerichtet; alles Weitere wird aufrichtig ausgehandelt: Marke will die Werbung uneingeschränkt, die Wahl von Isolde geschieht ohne Hintergedanken, Markes Sorge wegen dieser Wahl scheinen echt, die Hoffnung auf Versöhnung ist authentisch, Tristan wird Werber aus Angst, man könne ihn für einen Erbschleicher halten; dass die Höflinge ihm mit all dem schaden wollen, sieht er wohl, vermag aber nicht darauf zu reagieren, und die Volte, dass er seine Widersacher zur Mitfahrt nötig, bleibt aus. Kurz: Das intrigante Spiel ist auf eine Schwundstufe – der Hass der Höflinge gegen Tristan – reduziert, Marke und Tristan agieren ohne Hintergedanken und sind dem Spiel der Intriganten hilflos ausgeliefert, deren Treiben vollen Erfolg hat. Effekt ist eine Szene, die im Grunde nicht gehaltvoller motiviert ist als ein blondes Schwalbenhaar aus Übersee. Hass und Neid dominieren den Handlungsimpuls, und gerade weil sich alles straightforward daraus ableitet, wird die Plötzlichkeit des Meinungsumschwungs bei Hofe als narrative creatio ex nihilo überdeutlich. Wenn Gottfried an genau dieser Szene in die vorgängige Motivationslogik eingreift, ändert er nicht an irgendeiner Stelle der Handlung: Er ändert an einer, vielleicht sogar: an d e r motivationslogisch zentralen Passage des Romans. Denn alles davor und alles danach ergibt sich mehr oder weniger unproblematisch eins aus dem anderen; hier aber hat das Erzählgeflecht einen textilen Stoß. Genau diesen bemüht sich Gottfried, so gut es geht zu glätten, und an der Art, wie er dies anstellt, wird eine Motivationslogik greifbar, die ich mit dem Attribut ironisch belegen würde. Was macht Gottfried genau? Auch er kommt um die Notwendigkeit einer Motivation ex nihilo nicht herum, auch er braucht divinatorische Stupser, um die Handlung wieder in die Gänge zu bringen. Doch haben diese sachten Bewegungen nichts von den plumpen Anstößen, die das goldene Frauenhaar der

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Schwalbe, der schiere Zufall einer ungerichteten Meerfahrt oder der einmalige Schock eines plötzlichen Hasses gegen Tristan geben. Gottfried belässt es bei zwei kleinen Interventionen, von deren einer noch nicht einmal genau zu sagen ist, ob und wie sie sich motivational niederschlägt. Sie betrifft Tristans IsoldeRede, die schon in ihrer Ausführlichkeit und Hypertrophie überschüssig wirkt und es ja, ›von vorne‹ gelesen, auch irgendwo ist.28 Die andere Intervention ist die Installation des Neides und Hasses der Höflinge gegen Tristan, die beide – wie bei Thomas und in der Saga – ganz von alleine, ohne mechanische Motivation, vielleicht nach der bejubelten Rückkehr sogar einigermaßen plötzlich in die Handlung kommen. Aber so etwas kann es an einem Hof natürlich schon einmal geben, gerade angesichts eines Tristan.29 Und warum sollte Isolde nicht auch tatsächlich atemberaubend schön sein? Abgesehen von diesen unscheinbaren Installationen, bei denen die Hand des Erzählers stoffgeschichtlich und erzähllogisch völlig frei waltet, greift dann aber eines ins andere, treibt ein motivationales Zahnrad das andere an,30 auch wenn das Radwerk, das sich hier dreht, auf Handlungsebene eines Konstrukteurs ermangelt. Und dies unterscheidet Gottfrieds Version von jener der Saga: Zwar benützt Gottfried denselben motivationalen Kick, doch gelingt es ihm, die damit verbundene Divinatorik mit einem dichten Nebel aus Agieren und Reagieren zu verhängen, sodass, was motivationslogisch zentral wäre, in der narrativen Wirkung zur Nebensache verkommt. Zwar hängt alles irgendwie zusammen, aber die strikte Linearität der Erzähllogik wird zugunsten einer komplexen psychologischen Durchdringung der Figurenaktionen suspendiert: Marke etwa bedient sich explizit des Tristan’schen Isolde-Lobs, um sein listig vorgeschobenes Interesse an der Irin zu begründen, der argumentative Schlagabtausch beim Hofrat ist nachvollziehbar und eingängig (und natürlich auch durch und durch politisch: weil niemand sagt oder zugeben möchte, was er tatsächlich will), darüber hinaus gewährt der Erzähler einige auktoriale Einblicke in die Psyche der beteiligten Figuren. Markes Einlenken beim Hofrat wird sofort psycholo-

|| 28 Gottfried könnte mit ihr eine Spur verfolgt haben, die in der Saga gelegt ist. Dort ist zwar mit keinem Wort die Rede davon, dass Tristan von Isolde erzählt hätte, aber als die Höflinge Isolde als Ziel der Werbung benennen, rekurriert Marke, dem diese Wahl (trotz seiner Sorge) einleuchtet, auf die Schilderung von Isoldes Schönheit durch seinen Neffen: ein Verweis ins narrative Off, den Gottfried mit Tristans Rede gegenständlich gemacht hat. 29 »By invoking a ›general law‹, the narrator masks the improbable suddenness of the barons’ change of attitude towards Tristan: if envy is always at work everywhere, then it is quite natural that the barons should succumb to its power«; Schultz (wie Anm. 8), 210. 30 Man könnte mit Tomasek (wie Anm. 17), 117, von einem »eher kausalen Verfahren der Motivation« sprechen.

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gisch fundiert – nicht dass der Hörer oder Leser sich wundern müsste –, doch auch der Neid der Höflinge, Markes Liebe zu seinem Neffen, Tristans Angst und Sorge, alles hat seinen figurenpsychologischen Grund. Ergänzt werden diese evidenten und zum Teil expliziten (bzw. explizierten) Psychologiken um einige unsichere, dunkle Zusammenhänge, die das Figurenhandeln der Szene nicht tragen, ihm aber doch eine starke konnotative Qualität verleihen und erheblichen Anteil daran haben, das rohe Motivationsskelett, wie es die Saga bewahrt, zu ›organisieren‹. Sie alle nehmen ihren Ausgang bei Tristans irisierendem Isolde-Lob. Was es mit diesem auf sich hat und wie es sich konkret auswirkt, erhellt an keiner Stelle. Dass es nicht ganz ohne Wirkung bleibt, zeigt die Szene aber immer wieder: Der unmittelbare Effekt von Tristans Rede ist Ergriffenheit, die Rede schlägt sich aufs Gemüt, auf den muot. Derselbe muot der Höflinge ist es dann aber, der ihm, nur wenige Verse später, gram wird, als würde die lexematische Verknüpfung anzeigen, dass das eine mit dem anderen zu tun hat, ohne dass sich daraus eine stringente Logik formen ließe. Die Koppelung bleibt ungefähr, aber sie ist da. Später, beim Hofrat, zitiert immerhin der Sprecher der Höflinge-Fraktion aus dieser Isolde-Rede, die wenigstens an ihm nicht spurlos vorbei gegangen scheint: »die schœne Îsôt von Îrlant, / [...] diu ist ein maget unde ein kint« (V. 8467, 8470), sagt er und bedient sich damit eines rhetorischen Betonungsmusters, das schon Tristan verwendet hatte: »›Îsôt‹, sprach er, ›daz ist ein maget, / [...] diu liehte Îsôt, daz ist ein kint‹« (V. 8257, 8260). Heute würde man wohl sagen: ›Isolde, d a s ist eine Frau!‹ Dass Marke auf Tristans Rede Bezug nimmt, als er die Werbung akzeptiert, ist deutlich. – Und könnte es womöglich sein, dass Tristan, dem der auktoriale Blick in die königliche Psyche verwehrt bleibt, Markes Entschluss für bare Münze nimmt, dass er glaubt, was Marke lügt? Beruht also Tristans Werbungsfahrt auf einem bloßen Missverständnis, weil Tristan nicht begreift, dass Marke um seinetwillen die Unwahrheit sagt? Überhaupt, warum hält Tristan eine solche Rede über eine Königstochter, die ihm in Irland nicht nahe gegangen war? Verfertigen sich seine Gedanken an sie erst dann langsam und dann immer fester, je länger er von ihr spricht, das heißt: sie nach allen Regeln der rhetorischen Kunst lobt? Ist auch sein muot ergriffen von den Worten, die er sagt? Dies würde die alte Spekulation über eine ›präpotionale‹ Liebe der Liebenden anheizen, ohne irgendeine Gewissheit zu bringen.31 Aber immerhin: Als Tristan mit seinem || 31 Kategorisch dagegen Rudolf Voß, »Subjektive und objektive Motivation. Zur epischen Struktur und zum weltanschaulichen Problemgehalt des Tristan Gottfrieds von Straßburg«, in: Albrecht Greule, Uwe Ruberg (Hrsg.), Sprache – Literatur – Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. FS Wolfgang Kleiber, Stuttgart 1989, 321–336, hier: 325: »Nicht einmal die Eloge, die er [Tristan] auf Befragen vor Markes Hofgesellschaft anstimmt, ist Indiz

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Vorschlag den Streit zu einem Ende bringt und die Werbung um Isolde als nicht ganz chancenlos ansieht, spricht er von einer Werbung »in daz sælege [!] Irlant, / [...] gein der sunnen schîn, / der manegem herzen fröude birt« (V. 8574–77). Ganz als hätte er sich zuvor selbst andächtig zugehört! Um dies nicht unnötig zu prolongieren: Je näher man die Verstrickungen der Szene ansieht und den einzelnen Handlungssträngen hinterher denkt, desto schneller dreht sich das motivationale Karussell. Ergebnis ist ein dichtes, undurchsichtiges Geflecht psychologischer Figurenmotivationen, deren Voraussetzung runde, plastische, lebenswirkliche Figuren sind.32 Zu dieser Lebenswirklichkeit gehört auch, dass nur manches Mal, keineswegs aber auf Schritt und Tritt zu wissen ist, was in diesen Figuren, die man fast schon Personen nennen dürfte, vorgeht, und vielleicht wissen sie es mitunter selbst nicht ganz genau. Ironisch nenne ich dieses Geflecht, weil es darauf baut, dass fast jedes Handeln und jedes Wollen strikt seinen Gegensinn zeitigt, ohne gänzlich ineffektiv zu sein, dass alle Handelnden ihre Ziele erreichen und verfehlen zugleich, und all dies nach einem paradoxen Prinzip des Ungefähren, das doch nichts anders ist als eine tiefsinnige Ironie des menschlich verschuldeten Weltenlaufs: die schiere Ironie des Argumentationsschicksals.

4 Ironie und tiefere Bedeutung Die Ironie, wie ich sie eben auf Handlungsebene zu beschreiben versucht habe, ist natürlich mit der rhetorischen Ironie des ersten Beispiels oder der genannten Beispiele aus der modernen Welt nur in Teilen vergleichbar. Wenn ich Gottfrieds Erzählverfahren dennoch ein ironisches nenne,33 dann beruht dies auf der Überzeugung, dass hier eine rhetorische Figur narrative Gestalt gewinnt und damit zur literarischen »Haltung«34 wird. Auch sie setzt auf eine Kippbewegung ins Gegensätzliche, auch sie arbeitet mit einem Modus der Distanznahme, doch || von Liebe, präsentiert sie doch Isoldes Vorzüge in rhetorisch stilisierter Manier wie die eines Kunstobjekts«. Man müsste überlegen, ob nicht gerade diese Szene und das unmittelbar anschließende Geschehen am Hof deutlich vorführen, dass Innerlichkeit und Rhetorik einander nicht ausschließen, im Gegenteil einander bedingen können. Die Vorstellung von Rhetorik als einer knöchernen Disziplin ist romantische Polemik. 32 Die »Subtilität der Zeichnung innerer Vorgänge« (Voß, wie Anm. 31, 324) bei Gottfried ist Gemeinplatz der Tristanforschung. Vgl. zusammenfassend Tomasek (wie Anm. 17), 115f. 33 Dies tut auch Goldschmidt Kunzer (wie Anm. 10), 196 u. ö., meint damit aber oberflächlichere ironische Distanzierungen des Erzählers von seiner Geschichte. 34 Köbele (wie Anm. 15), 298 (zu Walthers Lyrik).

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unterscheidet sie sich von der Ironie der Sprachoberfläche dadurch, dass ihr das sprechende Subjekt abhanden kommt. Darum ist diese Ironie – jene des Weltenlaufs, des Schicksals – ›objektiv‹: weil sie nicht auf einem von einem Subjekt gesetzten oder an ein konkretes Subjekt gerichteten ironischen Sprechakt oder Gestus (auch nicht im allerweitesten Sinne) beruht, sondern ihr ironisches Potential alleine aus dem harten Aufprall des Ideals am Boden der Realität gewinnt.35 Darum auch ist diese Ironie für die handelnden Figuren zunächst unsichtbar; sichtbar würde sie ihnen bestenfalls im Nachhinein, doch dann wären die Figuren nicht mehr handelnde, sondern würden zu Beobachtern einer nächsthöheren epistemischen Ordnung. Damit würden sie jenen Rang erklimmen, den der Erzähler der Geschichte, seine Zuhörer und Leser automatisch innehaben, und es sind die Beobachter, die auf dieser Ebene logieren, an die sich die narrative Ironie des Tristan richtet und die diese wahrzunehmen imstande sind. Was sie sehen können, ist zweierlei. Zum einen beobachten sie – es war im vorigen Abschnitt lange genug die Rede davon – Figuren, die auf – für diese Szene – fast schon tragisch zu nennende Weise an ihren Vorhaben zwar nicht zugrunde gehen, aber doch eklatant scheitern. Nach dem langen 19. Jahrhundert ist man versucht, genau in diesen Verstrickungen jene ironische Unvorhersehbarkeit menschlicher Schicksale zu erkennen, in der die Unvollkommenheit der conditio humana ihren treffendsten Ausdruck findet. Das mag ahistorisch sein oder nicht; wer diesen Blickwinkel wählen würde, dem käme jedenfalls, auf einer anthropologischen Ebene, jede Heiterkeit abhanden. Unernst bliebe es trotzdem, wenn man mit Unernst die formallogische Unschärfe figürlicher – und das heißt ja in letzter Vorstellungskonsequenz: personaler – Aktionen und deren Folgen beschreibt. Friedrich Schlegel hätte das gewiss gerührt. Zum anderen hat diese tiefsinnig ironische Erzählweise auch einen narratologischen Effekt. Dieser ist ungleich weniger pathetisch geartet, weniger vor-

|| 35 Die Frontstellung subjektiver und objektiver Motivation im Tristan hat Voß (wie Anm. 31) untersucht; eines seiner Beispiele ist die Tristan-Isolde-Minne, die ›objektiv‹ durch den Minnetrank gegeben ist, dann aber eine ›subjektive‹ Wirkung bei den beiden Figuren und in ihrem Umfeld zeitigt, z. T. auch in deren ›subjektiver‹ Verfasstheit angelegt ist (die Schönste dem Besten, eine gewisse artifizielle Wesensverwandtschaft und dergleichen). Im Vergleich dazu ist die Verstrickung von subjektiver und objektiver Motivierung im oben vorgetragenen Sinne eine komplexere und dichtere, weil – bei der Brautwerbungsmotivation, aber auch an vielen anderen Stellen des Romans (siehe weiter unten) – die Pointe gerade darin liegt, dass ›objektive‹ Motivation aus einer kaum zu überblickenden ›subjektiven‹ Vielstimmigkeit entsteht, ›objektiv‹ und ›subjektiv‹ also nur zwei Anschauungsweisen derselben Motivationsmedaille sind.

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aussetzungsreich zu beschreiben, und er ist es, der einen dann doch ein metapoetisches Lächeln auf die Erzählerlippen projizieren lässt. Dass die Figuren an ihren eigenen Zielen eklatant scheitern, ist dann nicht länger literarisches Ziel, sondern narrativer Zweck, weil sie gerade auf diese Weise die Handlung bewegen. Doch sie tun dies – und Gottfried mit ihnen – so anders, als man es andernorts im mittelalterlichen Roman lesen kann, dass wiederum Erzählideal auf Erzählwirklichkeit prallt. Was Ideal und was Wirklichkeit ist, ist dabei nachrangig, die Entscheidung darüber ist dezisionistisch und wäre eher eine der Erzählethik als der Erzähllogik; entscheidend ist der Aufprall, und der führt Gottfrieds fein ziselierte ironische Erzähllogik sowohl gegen die plumpe Logik des konventionellen Brautwerbungsschemas (wenn man hier von Konvention überhaupt reden kann) als auch gegen die nicht minder uneleganten Motivationsbehelfe der anderen Tristan-Versionen. Nebenbei: Ich bilde mir ein (und hatte es schon mehrmals en passant angedeutet), dass all dies nicht ohne erzählerische Absicht geschehen wäre. Das ist naturgemäß nicht zu beweisen. Und doch gibt es Stellen, an denen man – an denen ich Gottfried mit dem Auge zwinkern zu sehen vermeine. Eine dieser Stellen ist untrennbar an die erste der beiden divinatorischen Interventionen gebunden, also tief verwurzelt im motivationalen Geflecht der analysierten Szene: Als der Erzähler das erste Mal von jenem auktorial entfachten Neid und Hass erzählt, der Tristan plötzlich entgegenschlägt, schilt er die »veige unmüezekeit« (V. 8322) – die ›unselige, verdammte, verwünschte Geschäftigkeit, Beschäftigung‹36 –, die ihm zugleich der Grund für die Missgunst der Höflinge ist. Aber heißt das nicht, wenn man den Text ganz streng beim Wort nimmt, dass diesen schlicht fad – sterbenslangweilig (wörtlich heißt veige ›todgeweiht‹) – wird, dass sie Tristan zu hassen beginnen, weil sie ansonsten nichts zu tun hätten, so, als würden sie spüren, dass die Handlung einen toten Punkt erreicht hat, den sie nun querulantisch überspielen müssen? Rücken damit aber die handelnden Figuren nicht ganz dicht an jene realen Figuren – ans Publikum, die Hörer und Leser – heran, die der Handlung bis an diesen toten Punkt gefolgt sind und nun darauf warten, von dieser weitergeführt zu werden, um der Fadesse zu entkommen? Würde dies in letzter Konsequenz nicht bedeuten, dass auch diese beobachtenden Personen von einer metadiegetischen Wurfparabel in genau jenen unabsehbaren, unaufhaltsamen und nicht zu überblickenden ironischen Sog gejagt werden, dem die handelnden Figuren nicht entrinnen können? Und wäre nicht auch ein Erzähler, der so wenig Sinn hat für müezekeit wie seine Figuren und sein Publikum, mit von

|| 36 Lexer, Bd. 2, 1917, und Bd. 3, 45f.

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dieser Partie? Anders gesagt: Wenn man die lexematisch überschüssige Stelle ›ausrechnet‹, würde dies dann nicht bedeuten, dass Gottfried die Figuren, seine Hörer, Leser, seine Narratologen, auch sich selbst ohne Rücksicht auf erzähltheoretische Grenzsetzungen in grenzenloser Ironie vor sich hertriebe? Das Besondere an der exemplarisch gewählten Stelle ist, dass Gottfried sein Tun hier mit einer expliziten narratologischen Kritik begleitet. Die erzähllogische Komplexitätssteigerung, deren Kontrast zu schlichten narratologischen Vorstellungen – von Brautwerbungsepen über Schwalbenhaar, ziellose Meerfahrt bis hin zu Christian Schmid-Cadalbert und Gérard Genette – diese mit einem gleißenden ironischen Schimmer überstreicht, ist aber keine Eigenheit nur dieser Szene des Tristan. Die Liebe Riwalins und Blanscheflurs, die sich narratologisch wie ein emotionaler Irrtum ausnimmt, Tristans absurde Schwertleite, sein tief gefühlter und schnell beseitigter Zwiespalt zwischen Parmenie und Kornwall, sein düsterer Sieg über Morold, Gottfrieds extravaganter MinneExkurs, der einen ordinären Sexualakt substituiert, Brangänes ungewisse Schuld, das ›vergiftete‹ Gottesurteil – vergiftet wie einst Morolds Schwert –, dessen Agenten undeutlich sind und dessen Effekt von einer ambigen Wertung gespreizt wird, die narrativ berechtigte und diskursiv entrechtete huote, Isolde und Isolde Weißhand – immer wieder scheint Gottfried in bewusster Distanznahme37 befangen gegen simple motivationale Entwürfe, und immer dann wird dies besonders deutlich, wenn er, wie beim schwierigen Entschluss zur Brautfahrt nach Irland, die narrative Textur, die ihm vorgelegen hat, vehement gegen den konventionellen erzähllogischen Strich bürstet.38

|| 37 Vgl. Goldschmidt Kunzer (wie Anm. 10), 198. 38 Nicht zuletzt gilt dies für das von der Forschung intensiv diskutierte Phänomen vom »nicht zur Deckung zu bringenden Gegenüber von Reflexion und Erzählung« (Walter Haug, »Erzählung und Reflexion in Gottfrieds Tristan«, in: Christoph Huber, Victor Millet, Hrsg., Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, Tübingen 2002, 281–294, hier: 292), das immer dann schlagend wird, wenn Gottfried – in erster Linie in seinen Exkursen zur Minne, zur huote und in seiner Grotten-Allegorese – die defizitäre narrative ›Realität‹ mit der diskursiven Perfektion konfrontiert und damit einen nicht auflösbaren Widerspruch hervortreibt. Vgl. u. a. Tomas Tomasek, Die Utopie im ›Tristan‹ Gotfrieds von Straßburg, Tübingen 1985 (Hermaea NF 49); Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, München 1988 (MTU 89); Rüdiger Schnell, Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ›Tristan und Isold‹ als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992 (Hermaea NF 67); Bernd Schirok, »Handlung und Exkurse in Gottfrieds Tristan. Textebenen als Interpretationsproblem«, in: Heinrich Löffler u. a. (Hrsg.), Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. FS Hugo Steger,

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Auch dieser Unernst ist keiner, der schallendes Gelächter nach sich zieht, sondern der unernst in erster Linie deshalb ist, weil er gegen den sturen Ernst jenes Erzählens opponiert, das Erzählwelten wie mathematische Formeln ausrechnen will. Vielleicht gibt es ein solches Erzählen realiter gerade so wenig wie ein konventionelles Brautwerbungsschema; es gibt es aber in den Vorstellungswelten der Erzähltheoretiker, der modernen und der vormodernen, und wer diese Vorstellungsbilder gegen die Gottfried’sche Erzählwirklichkeit stellt, der darf vielleicht doch verschmitzt lächeln; lächeln über den ironischen Kontrast zu den schlichten motivationalen Entwürfen konkurrierender oder flankierender Texte, lächeln v. a. über die Reduktionsstufe narrativer Entfaltung im Programm moderner und vormoderner Narratologie und Poetologie, dem diese schlichteren poetischen Entwürfe näher stehen mögen als der Tristan, ohne es je ganz einzulösen, lächeln schließlich darüber, wie ein Text hier nicht nur seine Figuren, sondern auch seine wissenschaftlichen Leser an der Nase herumführt, die seiner mit einem Instrumentarium Herr werden wollten und noch wollen, das sich unter der Last seiner Leichtigkeit starr verbiegt.39 Je genauer man es nämlich wissen will – wissen will, wie es ›in echt‹ und ganz und gar erzählwirklich ist –, desto weniger wird man am Ende begriffen haben. Lächeln wird man aber auch darüber dürfen, wie man sich selbst bereitwillig an der Nase herumführen lässt. Dass derselbe Erzähler, der mit seinen Hörern und Lesern dieses Verwirrspiel treibt, einer ist, der auch auf der Sprachoberfläche ganz im Modus des ironischen Sprechens befangen ist, dessen ironischer Gestus sich auf allen Erzählebenen Bahn bricht,40 muss nicht weiter wundernehmen; das ist poetologisch nur konsequent.41

|| Berlin, New York 1994, 33–51. Die Forschungsdebatte ist zuletzt bei Haug (wie oben), 281–284, aufgearbeitet, vgl. zusammenfassend Tomasek (wie Anm. 17), 172–174. Siehe auch Anm. 41. 39 Denn »Ironie ist keine deskriptive analytische Kategorie, sondern eine hermeneutische und ohnehin primär pragmatische Kategorie«; Köbele (wie Anm. 15), 298. Man müsste fragen, ob es, in einem strengen Sinne, rein deskriptive Kategorien überhaupt gibt, aber das würde hier zu weit führen. 40 Mit ganz anderem Belegmaterial und etwas anderer Argumentation hat Gottfrieds Witz Dietmar Peschel, »Einleitung: ... und was tut Gott: die Geschichte ist wahr! Oder: Tristan lügt nicht«, in: ders., Beziehungsknoten. Sieben Essays über Kindschaft und Liebschaft und Herrschaft in mittelalterlicher Literatur, Erlangen, Jena 2007 (Erlanger Studien 136), 7–23, herausgearbeitet. 41 Angesichts der Ubiquität des ironischen Sprechens und Erzählens im Tristan – und zwar sowohl hinsichtlich der Liebeshandlung als auch neben ihr – ist es mir fraglich, ob es, wie Karl Bertau anregt, die Unfassbarkeit der Liebe ist, die in dieser ironischen Gestaltung sedimentiert. Dessen ungeachtet gilt, was Bertau über die ›Bußpredigt‹ und mithin über Gottfrieds Reden über die Minne sagt (womit er sich in die Debatte über das Verhältnis von Erzählung und

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Die einfachste Bestimmung von Ironie war mir die einer Figur des Gegensatzes: »Du bist aber heute fesch!« wäre ein solcher Fall, und dass es sich um Ironie handelt, muss, in Alltagskommunikation, mit (begleitenden) Ironiesignalen deutlich gemacht werden. Werden diese Signale gegeben, oder vielmehr: werden sie als solche wahrgenommen, kippt die Aussage in ihre Gegenteile, und sie kippt mit einer Bewegung, die den ursprünglichen Zustand nie ganz überschreibt: Das Kippen schnürt das Teil und seine Gegenteile fest zusammen, und durch die schiere semantische Prozessualität wird rhetorisch kombiniert, was formallogisch eine Aporie darstellt. Wenn nun mit Bezug auf das Erzählen im Tristan die Rede von Ironie war, ist im Grunde nichts anderes als ein solcher ironischer Kippeffekt beschrieben: Gottfried gibt einer Geschichte freien Lauf, deren Koordinaten feststehen und vom Handlungsgang in fester Folge ausgemessen werden; doch indem er diese Geschichte auf eine ironische Weise erzählt, wird genau dieses Koordinatennetz instabil und geraten Eckpunkte des Romans in Gefahr, von derartigen Kippeffekten erfasst zu werden.42

|| Kommentar einreiht; siehe Anm. 38), über diese hinaus: »Die Wörter leisten die Unterscheidung zwischen ›echt‹ und ›unecht‹ nicht, und die ›Echtheit‹ der Liebe läßt sich mit Worten bestenfalls beteuern.« Und später: »In seinem wesentlichen Kern ist dieser Roman wohl Literatur gegen Literatur; ein Roman für die Liebe und zugleich ein Roman gegen das Reden über die Liebe und gegen das Dichten über die Liebe?«; Karl Bertau, »Literatur als Anti-Literatur? Zur sogenannten ›Bußpredigt‹ in Gottfrieds Tristan«, in: Paola Schulze-Belli, Michael Dallapiazza (Hrsg.), Il romanzo di Tristano nella letteratura del Medioevo. Der ›Tristan‹ in der Literatur des Mittelalters, Triest 1990, 7–18, hier: 16. Und natürlich: Auf das schließende Fragezeichen kommt es an. 42 Dies mag denn auch der tiefere Grund für die dutzendfach konstatierte Ambivalenz des Tristan sein. Vgl. u. a. Irene Lanz-Hubmann, ›Nein unde jâ‹. Mehrdeutigkeit im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg: Ein Rezipientenproblem, Frankfurt a. M. u. a. 1989 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 5) (der Tristan als Konfiguration einander relativierender, gleichsam dialektischer Spiegelszenen); Ralf Simon, »Thematisches Programm und narrative Muster im Tristan Gottfrieds von Straßburg«, ZfdPh 109 (1990), 354–380 (die Ambivalenz des Romans als struktursemantische Asymmetrie von einander widerstreitenden Legitimitätsverhältnissen – in erster Linie Tristan-Isolde-Minne vs. Markes Hof –, was zum Kollaps des Wertesystems des höfischen Romans führt); Harald Haferland, »Gottfrieds Erzählprogramm«, PBB 122 (2000), 230–258 (der die von Zufällen und Unglücken durchzogene uniquitäre ›Gegensätzlichkeit‹ des Tristan überzeugend als dessen eigentliches Erzählprogramm begreift); Gerd Dicke, »Das belauschte Stelldichein. Eine Stoffgeschichte«, in: Christoph Huber, Victor Millet (Hrsg.), Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, Tübingen 2002, 199–220 (Ambiguisierung der Wahrheit und Multiperspektivität auf Handlungsebene als epistemologisches Prinzip von Gottfrieds Roman). Davon ausgehend hat Winfried Christ den Tristan einen rhetorischen Roman genannt, weil die dem Text (auf verschiedenen Ebenen) inhärenten Widersprüche eine dialektische Erzähl- und Rezeptionsform pro-

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Gottfries Ironie überschreibt damit die Handlungsvektoren seiner Geschichte, löscht sie aber nicht vollends – ein paradoxes motivationales und axiologisches Palimpsest, oft von einer Beschreibdichte, dass es schwer fällt, einzelne Momente und Elemente dieser oder jener, der ›eigentlichen‹ oder der ›ironischen‹ Schicht zuzuschlagen. Noch tiefer greift aber jene Verunsicherung, auf der all diese Ironieeffekte gründen, denn Gottfrieds Ironiesignale sind von einer solch raffinierten Subtilität, mit so zarten Strichen gezeichnet, dass selten deutlich ist, mit welcher Intensität sich Ironie breit macht, ob sie überhaupt spürbar greifbar ist. Es ist die auf solche Weise provozierte (oder doch nur zufällige?) grundlegende semiotische Verunsicherung, dieser tiefironische Schwebezustand,43 es ist die souveräne Labilität tückischer Ironiesignale, von der der Tristan wie kein anderer Text profitiert: Denn deren Schwäche ist seine ganze Stärke.

|| vozieren, die zugleich das »Faszinosum« eines »sophistisch interessierten Publikums« darstellten; vgl. Christ (wie Anm. 16), die Zitate 115f. 43 Im Grunde ist es genau jene literarisch-ironische »Technik, mit der sich der Autor aus seinem Werk erhebt, über das Dargestellte mit seinem Leser reflektiert und darüber hinaus mit der Form seines Werkes auf eine scheinbar unverbindliche Weise spielt«; Behler (wie Anm. 12), 609, wie man sie – nicht unbeeinflusst vom kritischen Werk Friedrich Schlegels – als typisch für den Roman der Goethezeit ansieht. Ich meine nicht, dass dies die vorgeschlagene Interpretation als ahistorisch ausweist – vielmehr scheint mir die Parallele auf die unerhörte Modernität Gottfrieds hinzudeuten.

Christoph Schanze

Lacht Hartmann? Überlegungen zu einer ironischen Äußerung des Erzählers (Erec, V. 366–395) Abstract: This paper addresses an ironic narrative position adopted in Hartmann von Aue’s Erec, expressed through the medium of ironic turns in the description of how Koralus entertains Erec at Tulmein. A new interpretation, based on an examination of the passage as it is framed in the context of the two descriptions on either side of it – the description of Enite’s beauty and the portrayal of how Koralus manages his impoverished state – is proposed which, on the one hand, regards this passage as an element of the narrator’s rhetorical self-representation and, on the other hand, analyses its intradiegetic significance. Mit Blick auf das Mittelalter und die mittelalterliche Literatur von ›Ironie‹ zu sprechen, ist nicht unproblematisch, gilt es doch, terminologische Klippen zu umschiffen und einige Probleme zu überwinden: Ironie ist im Mittelalter nämlich nicht als in der Poetik definiertes Mittel des dichterischen Ausdrucks verfügbar.1 Trotzdem kennt das Mittelalter die Ironie als rhetorische Figur,2 und es

|| 1 Vgl. dazu den Beitrag von Fritz Peter Knapp im vorliegenden Band, hier: 5. 2 Auch in diesem Fall macht v. a. Isidor von Sevilla dem mittelalterlichen Denken das Wissen der antiken Grammatik und Rhetorik verfügbar. Er zählt die Ironie unter Rückgriff auf Donat zusammen mit sechs weiteren Tropen – Antiphrase, Aenigma (Rätsel), Charientismus (Feinheit im Ausdruck), Paroemia (Sprichwort), Sarkasmus und Astysmos (abgemilderter Sarkasmus) – zur allegoria, bezeichnet diese als alieniloquium und definiert: »Aliud enim sonat, et aliud intellegitur« (Etymologiae I, XXXVII, 22: »Eines nämlich erklingt, und etwas anderes versteht man«); etwas später folgt eine spezifischere Definition von ironia, die dann auch über Donat hinausgeht: »Ironia est sententia per pronuntiationem contrarium habens intellectum. Hoc enim tropo callide aut per accusationem, aut per insulationem aliquid dicitur« (Etymologiae I, XXXVII, 23: »Die Ironie ist ein Satz, der durch den gegenteiligen Ausdruck erfasst wird. Durch diesen Tropus nämlich wird auf kluge Weise etwas entweder als Anklage oder als Spott gesagt«); Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von W. M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1911. Vgl. dazu Knapp (wie Anm. 1) und die in Anm. 3 und 4 angeführten Titel. Dort finden sich auch Hinweise auf andere (spät)antike Autoritäten wie Quintilian, Donat, Pompeius oder die Rhetorica ad Herennium und deren mittelalterliche Rezeption, etwa durch Boncompagno da Signa (vgl. z. B. Green, »Alieniloquium«, 120f. und 124, und Althoff/ Meier, 19–26) sowie Überlegungen zur Frage der Adaptierbarkeit der Definition von Isidor auf

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ist generell auch nicht so ironiefern, wie gelegentlich angenommen wird – Gerd Althoff und Christel Meier haben jüngst in ihrer grundlegenden Arbeit zu Ironie im Mittelalter (mit Fokus auf Ironie in der politischen Interaktion und in der mittellateinischen Literatur) nachdrücklich darauf hingewiesen,3 und auch die verschiedenen Publikationen von Dennis H. Green zur Ironie im höfischen Erzählen haben gezeigt, dass das Phänomen im Mittelalter bekannt und literarisch produktiv war.4 Aus dem Umstand einer fehlenden ›poetologischen‹ Definition resultiert aber nicht nur die Gefahr eines terminologischen Anachronismus, sondern auch eine methodische Schwierigkeit. Es genügt nämlich streng genommen nicht, in mittelalterlichen Texten und den darin vermittelten Äußerungen von extra- und intradiegetischem Personal einen in unseren Ohren ›ironisch‹ klingenden Ton zu vernehmen, um von Ironie im mittelalterlichen Sinne zu sprechen, zumindest nicht, wenn man das terminologisch und historisch angemessen tun will. Das ›moderne‹ alltags- und umgangssprachliche Verständnis von Ironie beruht oft auf einem leicht spöttischen,5 zum Lachen einladenden (etwa in Form der Selbstironie als Zeichen von Humor und sympathischer Bescheidenheit), manchmal auch schärferen, aber tendenziell nicht bösartigen Ton und wird als positiv gefärbtes Gegenstück zu Satire, Sarkasmus und Zynismus – alles verwandte Phänomene, die aber eher negative Konnotationen aufweisen – aufgefasst. Auch in der Forschung zur mittelalterlichen Literatur begegnet immer wieder ein weiter, nicht klar definierter, vom heutigen Wortgebrauch beeinflusster Ironie-Begriff,6 der nicht vollständig historisierbar || die Literatur im Allgemeinen und die mittelalterliche im Besonderen (vgl. Green, »Alieniloquium«, passim). 3 Vgl. Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011 (zur nur vermeintlichen Ironieferne des Mittelalters ebd., z. B. 11f.); zur Begriffsund Verwendungsgeschichte vgl. auch grundsätzlich Michael Becker, »Ironia. Mittelalterliche Ironietheorie von der Antike bis zur Renaissance«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 357– 393. 4 Dennis H. Green, »Alieniloquium. Zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie«, in: Hans Fromm u. a. (Hrsg.), Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. FS Friedrich Ohly, 2 Bde., München 1975, Bd. 2: Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, 119–159; ders., »On damning with faint praise in medieval literature«, Viator 6 (1975), 117–169; ders., Irony in the medieval romance, Cambridge 1979; ders., »Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur«, in: Dietmar Peil (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 35–56. 5 Zum Zusammenhang von Ironie und Spott vgl. Mona Alina Kirsch, »Das er in spottes wise hette entpfangen. Einblicke in die literarische Darstellung von Spott und Ironie im Mittelalter«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 395–418. 6 Vgl. Knapp (wie Anm. 1), 5, der sich hier auf Green, Irony (wie Anm. 4), und dessen Einbeziehung der szenischen Ironie bezieht.

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ist. Dieses Vorgehen verbietet sich freilich nicht grundsätzlich, es ist nur notwendig, sich der ahistorischen Zugriffsweise bewusst zu sein und diese gegebenenfalls deutlich zu machen. So beendet Fritz Peter Knapp seine Überlegungen zu offenen und verdeckten Ironiesignalen im vorliegenden Band nicht zu Unrecht mit dem folgenden Plädoyer: »Wenn wir schon das Glück haben, die Ironie als ein dem Mittelalter auch theoretisch wohlbekanntes literarisches Phänomen festmachen zu können, sollten wir uns diesen Vorteil nicht selbst wieder aus der Hand schlagen, indem wir es aus moderner Sicht grenzenlos ausdehnen«.7 Zur Ironie gehört – v. a. wenn man sich ihrer für literaturwissenschaftliche Analysen bedienen möchte – also nicht nur ein ›Bauchgefühl‹, sondern ein möglichst eindeutiger Marker, ein Ironiesignal, wie es auch in der Rhetorik gefordert wird:8 »Der Ironiker verstellt sich, aber er macht es auch deutlich, daß er sich verstellt: Er äußert sich in einer Schlüsselsprache, die potentiell jeder entschlüsseln kann«.9 Solche Ironiesignale sind in der Alltagskommunikation in der Regel nonverbaler Art: Sie äußern sich in der Mimik, etwa einer hochgezogenen Augenbraue, einer gerunzelten Stirn oder einem Grinsen, in der Gestik und/oder der Betonung; in der schriftlichen Kommunikation können zwar typographische Hinweise wie Anführungszeichen oder – in digitalen Medien – Emoticons als Ironiesignale dienen, aber die »Schwierigkeiten des interpretatorischen Nachvollzugs der Ironie eines Textes« sind leicht ersichtlich, und das gilt besonders für unseren ›modernen‹ Blick auf ältere Texte: »Die Intonation ist an die Performanz gebunden, die Sprecherabsicht an die Kommunikationssituation«,10 und beide sind nur bedingt rekonstruierbar.11 Trotzdem gibt es – auch und gerade in mittelalterlichen Erzähltexten – Passagen, die völlig zu Recht unter ›Ironieverdacht‹ stehen, weil einem die Ironie förmlich entgegenspringt, obwohl keine oder nur schwache Ironiemarker im engeren Sinn gesetzt sind. Oft wirken diese Stellen auf uns zudem ›komisch‹ oder ›humoristisch‹, ohne dass

|| 7 Knapp (wie Anm. 1), 15. Dazu ebd., 5: »Gleichwohl sind die Grenzen, welche das Mittelalter für den Begriff der Ironie theoretisch vorsieht, viel enger gezogen, als es die Forschung in der Regel suggeriert. Die szenische Ironie liegt wohl schon deutlich außerhalb dieser Grenzen, wenngleich es sie im Mittelalter auch gegeben haben wird.« 8 Vgl. dazu Green, Irony (wie Anm. 4), 21–28, ders., »Erkennen« (wie Anm. 4), 39, sowie Knapp (wie Anm. 1). 9 Green, »Erkennen« (wie Anm. 4), 39. 10 Beide Zitate Knapp (wie Anm. 1), 4. Vgl. auch Green, »Erkennen« (wie Anm. 4), 39. 11 Die Beispiele bei Green, Irony (wie Anm. 4), 21–28, zeigen, wie Ironiesignale in Texten ›konserviert‹ sein können, etwa durch bestimmte Wendungen oder einzelne Wörter.

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recht auszumachen ist, warum das so ist und worin Komik und Humor des Ironischen eigentlich bestehen.12 Ich will versuchen, anhand eines eindeutigen Beispielfalls aus dem Erec Hartmanns von Aue13 zu zeigen, wie Ironie im mhd. Erzählen aufgedeckt werden kann bzw. vom Erzähler selbst offen gelegt wird und welche Funktion sie an dieser Stelle hat. Ich konzentriere mich dabei auf ironische Äußerungen der Erzählerstimme und verstehe ›Ironie‹, von der Definition Isidors ausgehend und mich damit auf die r h e t o r i s c h e I r o n i e 14 beschränkend, mit Althoff/Meier als eine »ambivalente, indirekte Redeweise, da sie in Worten das Gegenteil oder etwas anderes sagt, als sie meint.«15 Die Fokussierung auf ironische Äußerungen der Erzählerstimme bietet sich an, weil dabei nicht nur gezeigt werden kann, wie ironisches Sprechen an sich funktioniert, sondern auch, wie ein Autor seine Erzählerstimme funktionalisiert. Damit ist im analytischen Zugriff der

|| 12 Zum grundsätzlichen Verhältnis zwischen Ironie und Komik vgl. z. B. Günther Schweikle, »Humor und Ironie im Minnesang«, Wolfram-Studien 7 (1982), 55–74, v. a. 55–60. Vgl. auch Green, Irony (wie Anm. 4), 10f. 13 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5 / Bibliothek deutscher Klassiker 188). Benutzt wird auch der Kommentar von Volker Mertens: Hartmann von Aue, Erec, Mhd. / Nhd., hrsg., übers. und komm. von Volker Mertens, Stuttgart 2008, 626–697. Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von mir. Chrétiens Erec et Enide wird zitiert nach: Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide, Afrz. / Dt., übers. und hrsg. von Albert Gier, Stuttgart 1987. 14 Damit lasse ich andere Formen der Ironie wie die szenische bzw. dramatische Ironie als für das Erzählen funktionalisierte Differenz des Wissensstandes von Rezipienten und Figuren und die sokratische Ironie als Mittel der Gesprächsführung (vgl. dazu den Beitrag von Alissa Theiß im vorliegenden Band) außer Acht, weil sie, wie eingangs dargelegt, terminologisch für die mittelalterliche Literatur kaum zu fassen sind und weil ›ironische‹ Äußerungen der Erzählerstimme mit Blick auf die Kommunikation zwischen Erzähler und Rezipienten auf die rhetorische Ironie beschränkt sind. Einer grundlegend anderen Kategorie als die genannten Ironieformen gehört die ›romantische Ironie‹ als literarisch-philosophische Grundhaltung seit dem Ende des 18. Jh. an. 15 Althoff/Meier (wie Anm. 3), 12. Ähnlich formuliert Green, »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 120, als erste, »einfachste[] Begriffsbestimmung der Ironie« unter Rückgriff auf Donat, Isidor und Boncompagno da Signa: »Die Ironie ist eine Aussage, deren eigentliche Bedeutung das Gegenteil der vermeintlichen Bedeutung darstellt«; zum Verhältnis zur Lüge vgl. ebd., 150f. Zur Begriffsbestimmung vgl. auch Green, Irony (wie Anm. 4), 4–10. – Auf die problematische Unschärfe dieser basalen, gleichwohl ›historisch korrekten‹ Definition kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu z. B. den umfassenden Versuch einer Begriffsbestimmung von Green, »Alieniloquium« (wie Anm. 4), passim. Auf die Mängel in den einschlägigen Handbüchern im Hinblick auf Ironie im Mittelalter weisen Althoff/Meier (wie Anm. 3), 13f., hin; vgl. dazu auch das Vorwort zum vorliegenden Band.

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Wechsel von der intradiegetischen Welt zur (poetologischen) Ebene des Erzählens möglich. Im Fall Hartmanns ist der Blick auf den Erzähler zudem besonders aufschlussreich, weil bei ihm die Erzählerstimme wesentlich vielfältiger gestaltet und präsenter ist als in der Chrétien’schen Vorlage. Hartmann legt »weniger Wert auf Spannung als auf sachgerechte Kommentierung und auf rechtzeitige und gründliche Information des Publikums«16 und richtet seinen Erec – immer vorausgesetzt, dass es sich beim Erec des Ambraser Heldenbuchs auch um den Erec Hartmanns handelt17 – wesentlich ›didaktischer‹ aus als Chrétien.18 Obwohl Hartmann seine im Vergleich zu Chrétien leicht pedantisch wirkende Erzählhaltung immer wieder aufbricht, sind der Autor und sein Erzähler ›Hartmann‹19 ohne Zweifel nicht die erste Adresse, wenn man nach der Verwen|| 16 Horst Brunner, »Hartmann von Aue: Erec und Iwein«, in: ders. (Hrsg.), Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, bibliograph. erg. Ausgabe, Stuttgart 2007, 97–128, hier: 107 (ähnlich auch 111). Zur Variationsbreite der Erzählerrolle bei Hartmann vgl. auch Volker Honemann, »Erec. Von den Schwierigkeiten, einen mittelalterlichen Roman zu verstehen«, in: ders., Tomas Tomasek (Hrsg.), Germanistische Mediävistik, Münster 1999 (Münsteraner Einführungen, Germanistik 4), 89–121, hier: 106. Zur Profiliertheit der Erzählerrolle im Erec im Vergleich zu den übrigen erzählenden Werken Hartmanns vgl. Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 58), 210f., der von der »erstaunliche[n] Freiheit des Erzählers« (210) spricht. 17 Vgl. zu diesem grundsätzlichen Problem, das gerne übersehen bzw. zu wenig beachtet wird, z. B. Honemann (wie Anm. 16), 94–96. 18 Zwei willkürlich gewählte Beispiele aus der Anfangsepisode können das illustrieren: Hartmann zieht die Erklärung des Sperber-Preises im Vergleich zu Chrétien vor und nimmt etwas später zweimal explizit Bezug auf diese vorgezogene Schilderung, nämlich an der Stelle, an der Chrétien Koralus vom Sperberbrauch erzählen lässt (V. 451–461). Hier zeigt sich sein Bestreben, das Publikum möglichst frühzeitig zu informieren. Ein didaktisierendes Detail findet sich z. B. vor dem Sperberkampf: Man hört vor Beginn des Kampfes gemeinsam die Messe; Hartmann merkt an, dass das ritterlicher Brauch sei: »des phlegent si aller meiste, / die ze ritterschefte sinnent« (V. 665f.). Er erklärt also die Regeln der erzählten höfischen Welt, was Chretien offensichtlich nicht für nötig hält: Auch bei ihm wird die Messe erwähnt (Erec und Enides Vater suchen am frühen Morgen das mostier auf und hören dort die Messe; V. 697–706), aber ohne Verweis auf den ritterlichen Usus. Später reiten Erec und Enide direkt zur Sperberstange und warten dort auf den Ritter, der den Sperberpreis für seine Freundin beansprucht. 19 Bekanntlich stellt sich sowohl im Armen Heinrich und im Gregorius als auch im Iwein der Erzähler schon im Prolog als ›Hartmann‹ vor: Armer Heinrich, V. 1–4, Gregorius, V. 171–173, Iwein, V. 21–30; zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hrsg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6 / Bibliothek deutscher Klassiker 189). Gut möglich, dass das auch im verlorenen Erec-Prolog der Fall war, denn dass auch im Erec der Erzähler den Namen ›Hartmann‹ trägt, zeigt ein Einschub in der Beschreibung von Enites Pferd, in dem Hartmann (der Verfasser des Textes) einen Dialog zwischen einem nicht näher bestimmten Rezipienten und dem Erzähler ›Hartmann‹ inszeniert, der mit der Aufforderung des Rezipienten, Hartmann möge schweigen, eingeleitet wird: »nû

56 | Christoph Schanze dung von Ironie in der mhd. Erzählliteratur sucht.20 Näherliegend wäre wohl Wolfram von Eschenbach mit seinem »besondere[n] Autorbewusstsein, das durch Ironie und Humor das Werk objektiviert und relativiert«,21 oder Gottfried von Straßburg und seine immer wieder ironisch gebrochene Erzählkunst.22 Und doch hat auch Hartmann unbestreitbar seine ironischen Seiten, v. a. in der Ausgestaltung der Erzählerrolle und der Interaktion des Erzählers mit den Rezipienten. Die Szene, um die es mir geht, dürfte hinlänglich bekannt sein: Nach dem Geißelschlag-Zwischenfall verfolgt Erec – ungerüstet und ohne Waffen – heimlich Iders, dessen Freundin und den Zwerg bis vor die Tore von Tulmein. Der Ritter wird mit seinen Begleitern freundlich auf Herzog Imains Burg empfangen, || swîc, lieber Hartmann« (V. 7493; siehe dazu unten Anm. 66). Zum Problem der Unterscheidung zwischen ›Autorvorstellung‹ und ›Erzählerrede‹ vgl. grundsätzlich Monika Unzeitig, »Von der Schwierigkeit zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann«, Wolfram-Studien 18 (2004), 59–81. 20 Die ›jüngere‹ Hartmann-Forschung lehnt »den Gedanken an Ironie bei unserem Autor kategorisch ab«; Silvia Ranawake, »Zu Form und Funktion der Ironie bei Hartmann von Aue«, Wolfram-Studien 7 (1982), 75–116, hier: 75f. (Zitat 75). Ähnlich (mit zahlreichen Nachweisen) Green, »Damning« (wie Anm. 4), 117–120, und Green, Irony (wie Anm. 4), 33f. Dass diese eindimensionale Sicht nicht haltbar ist, zeigen die Arbeiten von Green (wie Anm. 4) und der Aufsatz von Ranawake deutlich. 21 Michael Dallapiazza, Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹, Berlin 2009 (Klassiker-Lektüren 12), 128. Zum Zusammenhang zwischen Komik und Ironie im Parzival vgl. L. Peter Johnson, »Die Blutstropfenepisode in Wolframs Parzival: Humor, Komik und Ironie«, in: Kurt Gärtner, Joachim Heinzle (Hrsg.), Studien zu Wolfram von Eschenbach. FS Werner Schröder, Tübingen 1989, 307–320. Grundlegend zu Wolframs ›Humor‹: Max Wehrli, »Wolframs Humor«, in: Überlieferung und Gestaltung, FS Theophil Spoerri, Zürich 1950, 9–31, wieder in: Heinz Rupp (Hrsg.), Wolfram von Eschenbach, Darmstadt 1966 (WdF 57), 104–124; vgl. auch Pörksen (wie Anm. 16), 184 und 188–198, und Klaus Ridder, »Narrheit und Heiligkeit. Komik im Parzival Wolframs von Eschenbach«, Wolfram-Studien 17 (2002), 136–156. Beispiele für Wolframs ironisch-spöttelnden Ton bieten etwa im III. Buch das scherzhafte Hilfeersuchen an Hartmann, dessen arthurischer Erzählwelt Wolfram »ein mîn gast ze hûs« (143, 24) schickt, oder ein kurzer Exkurs im IX. Buch bei Parzivals erstem Treffen mit Trevrizent, in dem der Erzähler auf das karfreitäglich-karge Mahl der beiden reagiert und sich darüber lustig macht. An beiden Stellen reflektiert Wolfram seine Spottlust. Zu seiner Drohung gegenüber Hartmann, sein Personal in die Mangel zu nehmen (143, 29–144, 2), bemerkt er: »sol ich den munt mit spotte zern, / ich wil mînen friunt mit spotte wern« (144, 3f.), und bei Parzival und Trevrizent fragt er sich selbst: »wes spotte ich der getriwen diet? / mîn alt unfuoge mir daz riet« (487, 11f.). In diesem ironischen Spiel zeigt sich in scherzhafter Verkehrung der Ernst der Berührung von realen Normen und Normen des Erzählens; vgl. dazu Sonja Glauch, »sol ich den munt mit spotte zern. Eine Miniatur zu Wolframs poetologischer Selbstvergewisserung im Zeichen des Spottes«, erscheint in: Wolfram-Studien 23 (2014) [im Druck]. 22 Vgl. dazu z. B. den Beitrag von Florian Kragl im vorliegenden Band.

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Erec reitet dagegen in den Marktflecken unterhalb der Burg, um ein Quartier für die Nacht zu suchen. Dabei ist er auf vrume Gastgeber angewiesen (V. 229), weil er ohne Ausrüstung aufgebrochen ist. Wegen des bevorstehenden Sperberwettkampfs gestaltet sich die Herbergssuche jedoch schwierig.23 Erec findet schließlich »ein altez gemiure« (V. 252), das er für unbewohnt hält, das jedoch die Heimstatt des verarmten Grafen Koralus, seiner Frau Karsinefite und ihrer Tochter Enite ist. Der mittellose Gast Erec wird freundlich empfangen, bewirtet und über die Umstände des Sperberkampfes unterrichtet. Er erhält von Koralus Rüstung und Waffen für den Wettkampf und darf die schöne Enite als ›Einsatz‹ für den ritterlichen Wettstreit mitnehmen. Am nächsten Tag kann Erec Iders niederringen und sich für die Schande des Geißelschlages rächen. Er reitet mit seiner ›Verlobten‹ zum Artushof, dort heiraten die beiden, Erec erlangt höchsten Ruhm im Turnier und zieht anschließend mit seiner jungen Frau in seine Heimat nach Karnant. Damit ist der erste Teil des Romans beendet. Die Beschreibung von Erecs Bewirtung durch Koralus enthält zwei kurze Passagen, in denen sich der Erzähler in unzweifelhaft ironischer Weise äußert. Zunächst schildert er das Lager in der ›armen Herberge‹: guote teppeche gespreit unde dar ûf geleit alsô rîchiu bettewât, sô si diu werlt beste hât, mit samîte bezogen, dem daz golt was unerlogen, daz daz bette ein man nie möhte erwegen und selbe vierde müeste legen, unde dar über gebreit nâch grôzer herren werdekeit kulter von zendâle, rîche und gemâle – diu wâren bî dem viure des âbendes vil tiure. si geleisten wol ein reine strô: dar über genuocte si dô eines bettes âne vlîz, daz bedahte ein lîlachen wîz. (V. 368–385)

|| 23 Die Anklänge an die Herbergssuche in Bethlehem sollte man nicht überbewerten, vgl. Scholz (wie Anm. 13), 631 (Kommentar zu V. 228–234).

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Ausgebreitete edle Teppiche und darauf drapiert kostbarstes Bettzeug, das beste der 25 Welt, mit Brokat bezogen, dem das Gold nicht anerlogen war, so dass ein Mann allein es nicht anheben könnte und vier nötig wären, um es auszulegen; darüber gelegt nach Art 26 vornehmer Herren kostbare und verzierte Steppdecken aus Seide – das alles war an diesem Abend beim Feuer Mangelware. Sie boten ein sauberes Strohlager, darüber genügte ihnen einfaches Bettzeug, das von einem weißen Leintuch bedeckt war.

Hartmann schildert ein prächtiges Ruhelager mit schwerem, golddurchwirktem Bettzeug und edlen, wertvollen Zierdecken, um dieses Bild anschließend als Trugbild zu entlarven, denn das Lager besteht – einfach, ärmlich, aber sauber – aus Stroh und einem Leintuch. Direkt im Anschluss wiederholt sich dieses ›Spielchen‹ des Erzählers bei der Beschreibung des Nachtmahls: ouch was dâ ritters spîse: swes ein man vil wîse möhte in sînem muote erdenken ze guote, des heten si die überkraft und volleclîche wirtschaft – doch man’s ûf den tisch niht truoc. in gap der reine wille genuoc, den man dâ ze hûse vant: wan er ist aller güete ein phant. (V. 386–395)

|| 24 Die Teppiche dienen hier offensichtlich als Matratzen-ähnliche Unterlage für das Bettzeug; vgl. zum Verständnis von mhd. teppech an dieser Stelle Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, Amsterdam, Atlanta 1993 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 103), 21f. (Kommentar zu V. 368–379). 25 Die Formulierung in V. 373 (»dem daz golt was unerlogen«) ist schwer verständlich: unerlogen ist Part. Prät. zu erliegen (›erlügen‹, ›erfinden‹); meine Übersetzung folgt dem m. E. einzig sinnvollen Vorschlag in Lexer, Bd. 2, 1823: »dem das geld nicht anerlogen, der reichlich mit geld versehen war« (»geld« statt ›Gold‹ muss ein Druckfehler sein). Die gängigen Übersetzungen umgehen die schwierige Stelle in der Regel: Held (wie Anm. 13): »der mit Gold durchwirkt ist«; Mertens (wie Anm. 13): »reichlich mit Gold verziert«; Cramer: »geschmückt mit purem Gold«; Hartmann von Aue, Erec, mhd. Text und Übertragung von Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 221999. Auch in BMZ, Bd. 1, 1026, ist die Stelle ungenau übersetzt: »der reich mit golde besetzt war«. Soweit ich sehe, hat nur Okken eine präzise Wiedergabe, die allerdings in eine andere Richtung als meine Übersetzung zielt: »Bezogen war es mit schwerer Seide, deren Stickereien das Gold nicht vortäuschten; nein: So schwer wog das bezogene Bett [...]«; Hartmann von Aue erzählt. ›Erec‹, ›Iwein‹ oder ›Der Löwenritter‹, ›Gregorius‹ oder ›Der gute Sünder‹, ›Der Arme Heinrich‹, aus dem Mhd. von Lambertus Okken, Frankfurt a. M., Leipzig 1992, 17. Vgl. zu dieser Stelle Christoph Schanze, »Gold, unerlogen. Zum Verständnis von Erec, V. 373«, erscheint in: ZfdA 143/3 (2014). 26 Zum Verständnis von samît, kulter und zendâl vgl. die Kommentare von Scholz (wie Anm. 13), 640f. (mit weiterführender Literatur), und Mertens (wie Anm. 13), 631.

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Es gab dort auch eine ritterliche Mahlzeit: Was auch immer sich ein ausgepichter Gourmet Leckeres zusammenphantasieren könnte, davon hatten sie mehr als genug und überreichen Vorrat – aber man brachte die Sachen nicht auf die Tafel. Der gute Wille, den man in diesem Haus fand, genügte ihnen: Denn er ist Garant für alles Gute.

Wiederum übertreibt Hartmann maßlos, um das vorgespiegelte ritterliche Mahl direkt im Anschluss ebenfalls als Phantasterei bloßzustellen. Anders als bei der Beschreibung des Lagers thematisiert er an dieser Stelle aber explizit die Wirkweise der Einbildungskraft (V. 388f.).27 Der Schwerpunkt liegt nicht auf einem ›realistischen‹ Entwurf des Bildes, sondern auf dem diesem gleichsam vorgeschalteten Imaginationsprozess.28 Das Prinzip ist beide Male identisch, das tatsächliche Vorgehen nicht ganz. Es ist offensichtlich, dass die Schilderung des prachtvollen, aber nicht existenten Ruhelagers und des zu imaginierenden Festmahls ›ironisch‹ zu verstehen sind. Das hat auch Green gesehen.29 Aber w a r u m sind diese beiden Abschnitte überhaupt ironisch? Doch wohl, weil die Beschreibung des luxuriösen Quartiers und des Festmahls in offensichtlichem Widerspruch zu der direkt davor geschilderten Ärmlichkeit von Koralus’ Behausung und seinen deutlich beschränkten Mitteln zur Versorgung des Gastes steht. Der ironische ›KippPunkt‹ beruht auf einem »Überraschungseffekt«, der eintritt, »wenn die eigentliche Bedeutung der ironischen Aussage erfaßt wird«.30 Das funktioniert eben || 27 Die Übersetzung der folgenden Verse von Held (wie Anm. 13) ist – von dieser PhantasieMarkierung ausgehend – wohl etwas zu frei, weil sie die ›Phantasterei‹ direkt in die ›realistische‹ Szene überführt und so gewissermaßen einen ›Kurzschluss‹ zwischen Diskursebene und Diegese verursacht, der bei Hartmann so nicht angelegt ist, zumindest nicht so deutlich: »was immer sich ein erfahrener Genießer an idealen Speisen in seiner Phantasie ausmalen mag – von dieser V o r s t e l l u n g hatten sie übergenug und boten sie auch reichlich an« (Hervorhebung C. S.). In Hartmanns Text ist die ›Erfindung‹ des Festmahls dagegen auf der Ebene der Kommunikation zwischen dem Erzähler und den Rezipienten angesiedelt und wird erst – sozusagen als fertiges Menü – in die Erzählwelt transferiert – bzw. eben nicht. 28 Auch Green, »Damning« (wie Anm. 4), 149, weist auf die zentrale Funktion dieses Punkts hin: »Only the concluding reference to good intentions (der reine wille) confirms to us retrospectively that the description of the meal was given in abstract, not physical terms, as something that a gourmet may conceive (erdenken) in his imagination (in sînem muote) and therefore devoid of reality«; ähnlich auch ders., »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 121 – hier spricht Green explizit von einem »Signal«. 29 Vgl. Green, »Damning« (wie Anm. 4), 148; ders., »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 121f., behandelt die Szene als Beispiel für seine erste Begriffsbestimmung. Es ist die einfachste Form von rhetorischer Ironie: Das Gegenteil von dem, was gemeint ist, wird geäußert. Da dieser Fall eindeutig und relativ ›unspektakulär‹ ist (zumindest auf den ersten Blick), ist die Stelle für Green nur von geringem Interesse. 30 Beide Zitate Green, »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 138.

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durch die Entlarvung des Geschilderten als Trugbild in der Vorstellung der Rezipienten. Die Ironie betont »das Trennende an den beiden Aspekten«,31 den ›Bruch‹ zwischen intradiegetischer und extradiegetischer ›Realität‹. Ein eindeutiges Ironiesignal wird zwar durch die im ersten Fall explizite, im zweiten Fall eher implizite revocatio jeweils erst nachgeliefert, trotzdem liegt der ironische Gehalt der beiden Stellen zweifelsfrei offen, und streng genommen wäre für die Offenlegung eine revocatio gar nicht nötig, denn jedem nur halbwegs aufmerksamen Rezipienten dürfte der inhaltliche Bruch zwischen dem prächtigen Nachtlager bzw. dem ritterlichen Mahl und der direkt vorausgegangenen Schilderung von Koralus’ Armut aufgefallen sein. Die revocatio als eindeutiges Ironiemerkmal legt diesen Bruch offen und glättet ihn zugleich, indem sie ihn als rhetorisch gewollt markiert.32 Entscheidend für das Verständnis der Passage als einer ironischen Äußerung des Erzählers ist also die ›Fallhöhe‹ zwischen der geschilderten höfischritterlichen Pracht und Koralus’ Not. Im Vergleich zu Chrétien verstärkt Hartmann von Aue die Armut von Koralus deutlich.33 Das beginnt schon mit der Beschreibung von Koralus’ Heimstatt, die zwar auch bei Chrétien sehr ärmlich wirkt (»molt [...] povre«; V. 376), aber insgesamt doch einen einigermaßen ›ordentlichen‹ Eindruck macht: Ein Tor führt in den Hof (V. 383), der Stall liegt separat (V. 453), und das Wohnhaus besteht aus verschiedenen Räumlichkeiten; die Damen beschäftigen sich in einer Werkstube (V. 399), es gibt eine Küche (V. 488), der Gast wird aber ›oben‹, also offensichtlich in einem höher gele|| 31 Green, »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 139. 32 Nicht näher eingehen will ich hier auf eine ganz ähnlich funktionierende ironische Passage in Hartmanns Gregorius, auf die immer wieder als Parallele hingewiesen wird; vgl. z. B. Pörksen (wie Anm. 16), 60f.; Alois Wolf, »Die adaptation courtoise. Kritische Anmerkungen zu einem neuen Dogma«, GRM NF 27 (1977), 257–283, wieder in: ders., Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur, hrsg. von Martina Backes u. a., Tübingen 1999, 111–140, hier: 124; Mertens (wie Anm. 13), 631 (Kommentar zu V. 366–385); Rachel Raumann, ›Fictio‹ und ›historia‹ in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im ›ProsaLancelot‹, Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 57), 47, Anm. 62: die Beschreibung des Einsiedlers Gregorius als eines schönen, wohlgenährten, gepflegten und prächtig gekleideten Mannes (V. 3379–3400), die als Trugbild des Erzählers entlarvt wird: »den envunden si [die beiden römischen Boten] niender dâ« (V. 3401), denn Gregorius ist nackt, völlig verwildert und ausgemergelt (V. 3410–65). 33 Vgl. Ernst Scheunemann, Artushof und Abenteuer. Zeichnung höfischen Daseins in Hartmanns ›Erec‹, Darmstadt 1973 [zuerst Breslau 1937], 20f.; Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Erster Teil: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 21977, 119; Wiebke Freytag, »Zu Hartmanns Methode der Adaptation im Erec«, Euphorion 72 (1978), 227–239, v. a. 230–232; Joachim Bumke, Der ›Erec‹ Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006, 25f.

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genen Wohnraum, empfangen (V. 473–476). Dort prasselt ein helles Feuer im Kamin (V. 484), und man ist gut mit Sitzgelegenheiten und Essen versorgt (V. 477–500). Bei Hartmann wirkt das Haus hingegen verlassen, alt und verfallen, fast wie eine Ruine,34 und es scheint lediglich einen bewohnbaren Raum zu haben (V. 250–276); nur deshalb beschließt Erec, dort Quartier zu nehmen. Das ›Armutsgefälle‹ von Chrétien zu Hartmann setzt sich bei der Einführung von Koralus in die Textwelt fort: Hartmann betont seine ärmliche Kleidung (V. 281– 287), die bei Chrétien nicht erwähnt wird, und tilgt dafür Chrétiens Hinweis, dass der Hausherr mehrere Pferde besitzt (V. 453); auch davon, dass dieser einen Diener, allerdings keine Kammerzofen für die Damen hat (V. 485–487), ist bei Hartmann keine Rede mehr. Zusätzlich steigert Hartmann das Gefälle, indem er aus Chrétiens einfachem Edelmann (»vavasor«; V. 375) einen ehemals mächtigen Grafen macht (»er was ein grâve rîche«; V. 402).35 Bei Chrétien findet sich in der Bewirtungs-Szene dann auch keine Spur einer ironischen Haltung des Erzählers. Die Ruhebetten dienen als Sitzgelegenheit während der Mahlzeit (V. 478f.), sie sind mit Steppdecken und Teppichen bedeckt (V. 479); der Diener bereitet die Mahlzeit zu – es gibt Fleisch und Geflügel (V. 488f.). Chrétien erwähnt beides nur kurz, die ausführliche Schilderung von Lager und Mahlzeit ist eine amplificatio Hartmanns im Sinne einer dilatatio materiae,36 und genau

|| 34 Für Jürgen Wolf, Einführung in das Werk Hartmanns von Aue, Darmstadt 2007, 50, ist Koralus’ Behausung ein »verfallene[s] Gemäuer«, für Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 32007, 180, ein »Ruinenquartier«, für Ruh (wie Anm. 33), 118 und 119, eine »Ruinenwohnung«. Auch in dem zum ›Mabinogion‹-Korpus gehörenden Gereint fab Erbin (verschriftlicht im 14. Jh., entstanden wohl um 1200, Datierung unsicher), das auf eine mögliche Nebenquelle Hartmanns verweisen könnte, wird die Behausung von Enits Vater als Ruine beschrieben. Eine ironische Haltung des Erzählers ist hier allerdings nicht auszumachen, vielmehr wird ein prächtiges Mahl beschrieben, das das bei Chrétien deutlich übertrifft; vgl. Ystorya Gereint uab Erbin, hrsg. von Robert L. Thomson, Dublin 1997 (Medieval and Modern Welsh Series 10), Z. 707–710; nhd. Übersetzung: Die Geschichte von Gereint, dem Sohne Erbins, in: Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur, aus dem Mittelkymrischen übertragen, mit Einführungen, Erläuterungen und Anmerkungen versehen von Helmut Birkhan, Teil 1, Kettwig 1989 (Erzählungen des Mittelalters 1), 177–244, hier: 186f. (Gereint sah »einen alten heruntergekommenen Hof und darin einen halbverfallenen Palas«; 186). 35 Vgl. dazu Scholz (wie Anm. 13), 642 (Kommentar zu V. 402). 36 Vgl. dazu grundlegend Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue, Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 1–30, v. a. 27–30 (zur Terminologie); vgl. auch Freytag (wie Anm. 33). Raumann (wie Anm. 32), 44f., weist auf die poetologische Funktion der Stelle als Reflexion über die »Möglichkeiten mittelalterlichen Dichtens« (44) und die »Möglichkeit von Literatur [... ,] etwas zu erfinden, dessen Berechtigung unabhängig von einer (vorgegebenen) faktischen bzw. integumentalen Wahrheit existiert« (45), hin.

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diese Erweiterung der Vorlage verknüpft Hartmann mit einer eindeutig ironischen Haltung des Erzählers. Fragt man nach der Funktion der Ironie an dieser Stelle und danach, worauf sie abzielt, so lässt sich auf den ersten Blick aus dem deutlichen Unterschied in der Haltung des Erzählers zwischen Chrétien und Hartmann Kapital schlagen. So wurde die Umgestaltung der Stelle durch Hartmann von Wilhelm Gaede als Polemik gegen Chrétien und den dort zu konstatierenden Widerspruch zwischen Koralus’ bitterer Armut und der höfisch angemessenen Bewirtung gewertet.37 Auch Green geht von einer polemischen Absetzung Hartmanns von seiner Quelle aus,38 zieht aber – da dies ein Publikum voraussetzt, das Chrétiens Erec et Enide sehr gut kennt39 – zudem eine zweite Zielrichtung von Hartmanns Polemik in Betracht, nämlich das kritisch-ironische Unterlaufen von konventionellen Publikumserwartungen: Hartmann »ironicizes the conventional expectations of his audience by deliberately disappointing them«.40 So sei die Stelle einerseits für ein mit Chrétien vertrautes Publikum reizvoll, andererseits aber auch ohne spezifische Chrétien-Kenntnis verständlich: Such an ironic discrepancy between expectation and fulfilment, between an idealized description and the humdrum reality, would be most effective with an audience acquainted with Chrétien and therefore hoodwinked into thinking that Hartmann was doing the same as the French poet, but also effective without knowledge of Chrétien, since aristocratic hospitality was also a literary convention in German literature, so that a German poet 41 could achieve results by appealing to this.

Aus dieser Perspektive, aber ohne eine explizit polemische Stoßrichtung gegen die Vorlage oder die Erwartungen des Publikums, lässt sich die Stelle auch so auffassen, dass Hartmann die Geschichte, die beim Publikum – auf welche

|| 37 Vgl. Wilhelm Gaede, Die Bearbeitungen von Chrétiens ›Erek‹ und die Mabinogionfrage, Berlin 1913, 10. 38 Hartmann »polemicizes against his source«; Green, »Damning« (wie Anm. 4), 149; ähnlich ders., »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 121f., und ders., Irony (wie Anm. 4), 229. 39 Dieses Operieren mit zwei ›Verständnisebenen‹ – mit ›eingeweihten‹ und ›nicht eingeweihten‹ Adressaten – spiegelt auch der dritte Versuch einer Begriffsbestimmung für Ironie bei Green, »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 129: »Die Ironie ist eine Aussage, deren eigentliche, den Eingeweihten mitgeteilte Bedeutung von der vermeintlichen, den Uneingeweihten vorgetäuschten Bedeutung abweicht«. Bezogen auf die fragliche Erec-Passage ist aus dieser Formulierung leicht ersichtlich, dass Hartmanns ironische Erzählhaltung nur von ›Eingeweihten‹, also von Rezipienten, die Chrétiens Erec et Enide kennen, als ›ironisch‹ dekodiert werden kann. 40 Green, »Damning« (wie Anm. 4), 149; ähnlich auch ders., »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 122, und ders., Irony (wie Anm. 4), 229f. 41 Green, »Damning (wie Anm. 4), 149.

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Weise auch immer – bekannt ist, in einer neuartigen Form präsentieren möchte.42 Schließlich könnte sich die Ironisierung der Bewirtungsszene auch weniger auf die konservativen Publikumserwartungen, sondern auf die vorgängigen literarischen Beschreibungen, die diese erst erzeugen, beziehen. Es wären dann »Parodien auf die Lobschablonen des höfischen Romans«, die inhaltlich »einer zumindest teilweisen Dekonstruktion der idealen höfischen Scheinwelt«43 dienen. So überzeugend die skizzierten Vorschläge zum Verständnis der Stelle auf den ersten Blick wirken – sie haben einen Schwachpunkt, denn alle rechnen mehr oder weniger stark mit einer unbekannten Variablen als Hauptfaktor: dem Publikum. Die Deutung als gezielte Polemik gegen Chrétien beachtet zudem zu wenig, dass der Widerspruch zwischen Koralus’ Armut und dem höfischen Quartier bei Chrétien lange nicht so stark ausgeprägt ist wie bei Hartmann.44 Hartmann hätte also die Diskrepanz, gegen die er polemisiert, erst erzeugt, was wiederum neue Fragen nach Hartmanns Intention aufwerfen würde. Kann die Vorlage tatsächlich die Zielscheibe von Hartmanns ironischem Spott sein? Und will sich Hartmann mit seiner ironischen Haltung wirklich über sein Publikum und dessen Erwartungen lustig machen? Der Schlüssel zu einem besseren, weil nicht auf die unkalkulierbare Variable ›Publikum‹ bezogenen Verständnis der ironischen Haltung des Erzählers an dieser Stelle ist m. E. in den benachbarten Textpassagen zu suchen: der Schilderung von Koralus’ Umgang mit seiner Armut, die auf zwei Abschnitte verteilt den gesamten Komplex umrahmt (V. 270–307, 396–439), und der darin enthaltenen Beschreibung von Enite (V. 308–365). Bei Koralus’ erstem Auftritt in der Erzählwelt sieht man diesen aus Erecs Perspektive, der eben das »alte[] gemiure« (V. 252) auf der Suche nach einem Nachtlager betreten hat und unerwartet dem Hausherrn gegenübersteht. Koralus erscheint als alter Mann, ärmlich mit einem Rock und einem Hut aus Schaffell bekleidet (V. 281–287) und auf »ein krücke« (V. 290) angewiesen, aber dennoch gepflegt – das Haar ist sauber und gekämmt (V. 277–280), die Kleidung so gut, wie es die Umstände zulassen (»als in sîn state leite«; V. 286). Insgesamt

|| 42 Vgl. Günter Mecke, Zwischenrede, Erzählerfigur und Erzählhaltung in Hartmanns von Aue ›Erec‹. Studien über die Dichter-Publikum-Beziehung in der Epik, München 1965, 5. 43 Beide Zitate Pörksen (wie Anm. 16), 161. Ähnlich auch Raumann (wie Anm. 32), 43: »Der Erzähler spielt hier also mit traditionell üblichen Bewirtungsszenen, indem die hyperbolische Prachtentfaltung dargeboten, aber im Anschluß wieder zurückgenommen wird.« 44 Das übersieht Green; vgl. z. B. Green, »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 121f. Der Vergleich der Hartmann-Stelle mit Chrétiens Beschreibung von Erecs Krönungsmahl von Raumann (wie Anm. 32), 48f., ist hier wenig weiterführend.

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bietet er trotz seiner offensichtlichen Not eine würdevolle Erscheinung: »sîn gebærde was vil hêrlich, / einem edeln manne gelîch« (V. 288f.). Dem Attribut edel wird Koralus auch durch sein Verhalten gerecht. Trotz seiner Armut empfängt er den schamrot um Unterkunft bittenden Gast (V. 303) freundlich und großzügig (V. 304–306), was der Erzähler explizit vermerkt: »dar an mohte man schouwen, / daz er rîches muotes wielt« (V. 313f.). Etwas später wird Koralus’ edle Gesinnung nochmals bestätigt, wenn Hartmann nach der Bewirtungsszene seine Geschichte erzählt, die anders als bei Chrétien der Erzähler, nicht Koralus selbst vorträgt. Der ehemals reiche und mächtige Graf (V. 400–402), der unschuldig (V. 403) verarmt ist, ist trotz seiner Armut gastfreundlich (V. 396–399) und erduldet den Mangel würdevoll und »mit zühten« (V. 419). Die Mühen der Armut wiegen für ihn gering gegen die »schame« (V. 427), die er wegen seiner Notlage empfindet. Wohl auch deswegen ist Koralus bemüht, so viel höfische Idealität wie möglich zu wahren. Sein ritterlicher muot zeigt sich zudem darin, dass er seine Rüstung sowie Schild und Speer aufbewahrt, falls ein Freund sie brauchen sollte (V. 597–601), und sie nicht zur Linderung der Not zu Geld gemacht hat. Auch davon profitiert Erec. Das Mitleid des Erzählers mit Koralus und seiner kleinen Familie, den »edeln armen« (V. 432),45 ist angesichts der Umstände leicht nachvollziehbar. In der Beschreibung des Koralus und seiner Haltung in der Not setzt Hartmann, den bei Chrétien angelegten Gegensatz gezielt erweiternd und verstärkend, den Schwerpunkt auf den Unterschied zwischen äußerlicher Armut und innerem Edelmut bzw. ›Tugendadel‹.46 Die Gegensätze erscheinen als zwei unterschiedliche Aspekte, zwei ›Seiten‹ derselben Figur, die sich gegenseitig einem Möbiusband ähnlich überlagern und dadurch ein Spannungsverhältnis erzeugen zwischen einem ›falschen‹ Ist-Zustand und einem zu erlangenden ›richtigen‹ Soll-Zustand, der offensichtlich früher schon einmal bestand. Entscheidend ist der innere rîche muot in der äußeren ärmlichen Hülle, der diese aber überstrahlt, was Hartmann rhetorisch ›meisterhaft‹ in seiner Darstellungsweise deutlich werden lässt, indem er »den Alten nach dem Muster des weisen senex«47 stilisiert, der seine ›äußerliche‹ Armut mit Fassung trägt, ohne seine höfischen Ideale aufzugeben, und im Vergleich zu Chrétien die ›märchenhaften‹

|| 45 Vgl. dazu Timothy R. Jackson, Typus und Poetik. Studien zur Bedeutungsvermittlung in der Literatur des deutschen Mittelalters, Heidelberg 2003 (Beihefte zum Euphorion 45), 104–115. 46 Hartmann neigt grundsätzlich »zu vereindeutigender Schwarz-Weiß-Malerei«, wodurch hier »der Tugendadel der ganzen Familie [...] durch die gesteigerte Armut noch deutlicher zum Vorschein [kommt]«; Brunner (wie Anm. 16), 107. 47 Wolf (wie Anm. 32), 123, Anm. 23.

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Motive der Episode stark reduziert, dafür aber eine »ungleich deutlichere Herausarbeitung des Psychologischen und des Allegorischen«48 bietet. Ganz ähnlich verfährt Hartmann in der zweiten dem Ironie-Abschnitt benachbarten Textpassage, der diesem direkt vorangestellten Beschreibung Enites und ihres Pferdedienstes. Auch hier nimmt Hartmann im Vergleich zu seiner Vorlage Änderungen vor, um die bei Chrétien angelegten Gegensätze zwischen äußerer Erscheinung und innerer ›Art‹ zu verstärken. Bei Chrétien ist Enide zwar auch ärmlich gekleidet (V. 407–409), doch Hartmann verstärkt dieses Motiv wieder deutlich:49 Seine Enite trägt anstelle einer alten, aber weißen Bluse mit löcherigen Ellbogen (»que as costez estoit perciez«; V. 408) unter einem weißen rockartigen Hemd (V. 403f.) ein durchlöchertes grünes Kleid (»der roc was grüener varwe, / gezerret begarwe, / abehære über al«; V. 324–326), das Hemd darunter ist »sal / und ouch zebrochen eteswâ« (V. 327f.). Entscheidend ist aber ein anderer Unterschied: Chrétien erwähnt lediglich, dass Enides Körper unter der ärmlichen Kleidung schön ist (»mes desoz estoit biax li cors«; V. 410);50 Hartmann lässt den Körper seiner Enite weiß durch die völlig durchlöcherte Kleidung schimmern und malt dieses Bild als Zeichen von Enites Schönheit mit zwei bedeutungsschweren Vergleichen weiter aus: Zunächst wird Enites unter der Kleidung hervorblitzender Leib als »wîz alsam ein swan« (V. 330) beschrieben, dann wird er mit einer weißen Lilie im schwarzen Dornengestrüpp verglichen: »ir lîp schein durch ir salwe wât / alsam diu lilje, dâ si stât / under swarzen dornen wîz« (V. 336–338).51 Hartmann greift gezielt in die Art der Beschreibung der Kleidung ein, indem er die Farbgebung und den Zustand verändert, um den Kontrast zwischen den armseligen Kleidern und der überwältigenden Schönheit von Enites Körper zu verstärken. Ähnlich wie bei Koralus, aber wesentlich intensiver in der Gestaltung, entwirft er wieder einen diametralen Gegensatz zwischen Außen und Innen, der sich zunächst auf die körperliche Schönheit und die in der betonten Körperlichkeit angedeutete erotische Verlo|| 48 Vgl. Wolf (wie Anm. 32), 123–127 (Zitat 124). 49 Vgl. z. B. Scheunemann (wie Anm. 33), 13–16, der auch die anderen Fassungen des ErecStoffes vergleichend einbezieht. 50 Chrétien fügt hier einen ausführlichen Schönheitspreis ein (V. 411–441), der ausgehend vom Topos der Natur als Schöpferin der Schönheit als ›klassische‹ descriptio des Kopfes entwickelt wird: Das Haar übertrifft das von Isolde, Stirn und Gesicht sind lilienweiß und rot, die Augen strahlen wie zwei Sterne, Nase, Mund und Augen könnten nicht schöner sein. 51 Die zahlreichen Konnotationen, die sich aus Hartmanns Umgestaltung der Schönheitsbeschreibung Enites ergeben, sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. dazu den Kommentar von Scholz (wie Anm. 13), 634–638, und zusammenfassend Christoph Schanze, »Schatten und Nebel. Die dunkle Seite des Artusromans«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 185–205, v. a. 202–204.

66 | Christoph Schanze ckung bezieht,52 dann aber auch und in erster Linie auf die ›inneren Qualitäten‹.53 Eine ähnliche Spannung erzeugt Hartmann durch eine kleine Ergänzung bei Enites Pferdedienst: »daz pherit begienc ze vlîze / ir hende vil wîze« (V. 354f.). Das Detail der weißen Hände, die sich liebevoll um Erecs Pferd kümmern, verweist als »höfisches Attribut der Dame« auf »den Gegensatz von Stand und Beschäftigung Enites«.54 Am Ende der Passage führt Hartmann dann die beiden auf Enite bezogenen Gegensatzpaare, den schönen Leib im armseligen Gewand und den unpassenden Pferdedienst der Grafentochter, zusammen: swie si schine in swacher wæte, sô weiz ich, daz wîp noch man süezern schiltkneht nie gewan dan Êrec fil de roi Lac, dô si sînes pherdes phlac. (V. 359–363) Auch wenn sie sich in ärmlicher Kleidung zeigte, so bin ich doch sicher, dass niemand je einen entzückenderen Schildknecht hatte als Erec, fils du roi Lac, als sie sich um sein Pferd kümmerte.

Mit der Beschreibung Enites gelingt Hartmann ein rhetorisches Glanzstück en miniature, das einerseits – intradiegetisch – Enite auf exzeptionelle Weise in den Text einführt und ihre Bedeutung hervorhebt sowie Ausdruck ihrer Idealität ist und zugleich verheißungsvoller Vorschein auf den Status, den sie nach dem Sperberkampf und der Hochzeit mit Erec erreicht und der am Ende des Romans bestätigt sein wird. Andererseits nutzt Hartmann die Passage, um sich in seiner Erzählkunst im Vergleich zu Chrétien zu profilieren bzw. diese überhaupt erst vorzuführen. Deutlich sichtbar ist das an der konnotationsreichen und in der

|| 52 Kritisch dazu (mit Verweis auf einschlägige Forschungspositionen) Annette Gerok-Reiter, »Körper – Zeichen: narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007 [SIA 6], 405–430, hier: 413–417. 53 Gerok-Reiter (ebd., 416f.) verweist darauf, dass Enites »körperliche Schönheit in unmittelbarer Weise – so der Kontext der Farbsymbolik, Vergleiche und Erzählerkommentare – all jene Qualitäten impliziert, die über den ›nur‹ körperlichen Bereich hinaus auf ethische, zugleich gesellschaftlich relevante Vollkommenheit verweisen«. Explizit thematisiert Erec diesen Umstand nur wenig später, als er Herzog Imain verbietet, Enite für den Sperberkampf neu einzukleiden: Erec »sprach: ›des ensol niht geschehen. / er hæte harte missesehen, / swer ein wîp erkande / niuwan bî dem gewande. / man sol einem wîbe / kiesen bî dem lîbe, / ob si ze lobe stât, / unde niht bî der wât [...]« (V. 642–649). 54 Beide Zitate Freytag (wie Anm. 33), 236.

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Übertragung auf das höfische Erzählen ›innovativen‹ Bildsprache55 – Enite als ›Leda‹ (Schwanen-Motiv), als Braut des Hohelieds (Lilie unter den Dornen, Beschreibung nach dem Modell nigra sum sed formosa) und damit als ›säkularisierte Maria‹56 –, sowie an der Konzeption der descriptio. Chrétien hat hier den ›klassischen‹ Weg ›von oben nach unten‹ gewählt (siehe dazu Anm. 50), bei Hartmann folgt Enites Beschreibung »der narrativen Choreographie von außen nach innen (Kleid – Hemd – lîch), eine Perspektivierung des Blickweges, die durch die durchlöcherte Kleidung deutlich unterstützt wird: Flucht- oder Zielpunkt ist ohne Zweifel der weiße Leib Enites.«57 In beiden Merkmalen – der Inszenierung des Erzählers als rhetorischen ›Meisters‹ und der Betonung des in eins gesetzten Kontrastes, der enggeführten, ja zusammenfallenden und zugleich erkennbar bleibenden Differenz zwischen äußerer und innerer Oberfläche,58 einer Art ›Coincidentia Oppositorum‹, die für die Figurenzeichnung funktionalisiert wird, entsprechen sich die Beschreibungen von Enite und Koralus. In dieses fast schon plakativ inszenierte Spannungsverhältnis von Außen und Innen, von oberflächlichem Schein und innerem Sein, reiht sich auf einer übergeordneten Ebene auch der narrative Raum ein, in dem sich diese Spannung entfaltet, nämlich die ›arme Herberge‹ mit ihren verfallenden, ›löcherigen‹ Wänden, die edelste Bewohner beherbergt: die »edeln armen« (V. 432) in ihren armseligen, ebenso löcherigen Gewändern. Mit nur leicht anderem Fokus nehmen auch die ironisch gefärbte Beschreibung des Luxusquartiers und des Festmahls diesen Gegensatz auf – inhaltlich, indem durch die ironische Verkehrung der armseligen Bewirtung der ›Bruch‹ zwischen Schein und Sein offengelegt wird, v. a. aber ›formal‹, indem die Funktionsweise der rhetorischen Ironie selbst thematisiert und zugleich funktionalisiert wird: Das Gesagte ist ›falsch‹, gemeint ist das Gegenteil, aber eine Spur der

|| 55 Vgl. dazu Ruh (wie Anm. 33), 118: »Motiv der Szene, die in der mittelalterlichen Epik nichts Vergleichbares hat: Schönheit in der Armut, in ›Knechtsgestalt‹.« 56 Vgl. Ursula Schulze, »Âmîs unde man. Die zentrale Problematik in Hartmanns Erec«, PBB 105 (1983), 14–47, hier: 19. 57 Gerok-Reiter (wie Anm. 52), 414. 58 Dazu ebd., 417: Das Verhältnis von außen und innen erscheint »als Ineinander der metaphorisch divergenten Räume [...]. Das heißt, das semiotische Kongruenzzeichen zwischen Innen und Außen wird in räumlicher Hinsicht gleichsam wörtlich genommen: Statt der räumlichen Zweischenkligkeit des üblichen Verweisbezugs liegt hier alles im lîp beschlossen. Die Schönheit des Leibes verweist nicht auf die Schönheit der Seele in einem inneren, dahinterliegenden Bereich, sondern repräsentiert diese in sich selbst. Innerer und äußerer Bereich gehen, so gesehen, in der narrativen Engführung ineinander über. Die Personalitätskriterien sind der Oberfläche der weißen Haut eingezeichnet.«

68 | Christoph Schanze ursprünglichen Bedeutung bleibt erhalten:59 So, wie durch Enites löcheriges Gewand ihr herrlicher Körper schimmert und wie unter der armseligen Erscheinung des Koralus sein Edelmut sichtbar bleibt, so zeigt sich auch in dem einfachen Lager und dem nicht vorhandenen Festmahl in der ›armen Herberge‹ der wahre Reichtum von Koralus und Enite, der die Ärmlichkeit der gesamten Szenerie wie ein Versprechen überstrahlt. Auf genau diesen Punkt, der erst im Zusammenspiel mit den umgebenen Textpassagen erkennbar wird, weist die Ironie des Erzählers an dieser Stelle hin. Sie erlangt poetologische Qualität.60 Die Bewohner der ›armen Herberge‹ werden dabei zum ›Spiegel‹ für Erec.61 Auch er ist bei seiner Ankunft in Tulmein ›arm‹, denn er ist entehrt und hilfsbedürftig. Dadurch ist er in den »Bereich der Armut«62 des Koralus einbezogen: »Koralus spiegelt Erecs eigene Scham und Mittellosigkeit.«63 Aber auch bei ihm

|| 59 Zu dieser Eigenheit der Ironie – der »Sinn wird verkehrt, bleibt aber in der verkehrten Spiegelung sichtbar« – vgl. Kragl (wie Anm. 22), 26f. (mit anschaulichen Beispielen). 60 Sogar auf der Wortebene sind einzelne Formulierungen der Passage bzw. der Umgebung in das bipolare Spannungsfeld zwischen Innen und Außen, zwischen Schein und Sein eingefügt, die dieses reflektieren, etwa die Formel vil tiure, die die Beschreibung des prächtigen Lagers als nicht real markiert. Sie ist als Litotes (bzw. Meiosis) ein Beispiel für die sogenannte mhd. Ironie, eine inhaltliche Verneinung durch gezielte Untertreibung auf stilistisch ambivalente Weise (die ›Standardfälle‹ dafür sind lützel und wenic); vgl. dazu grundlegend Alfred Hübner, Die ›mhd. Ironie‹ oder Litotes im Altdeutschen, Leipzig 1930 (Palaestra 170), sowie Fritz Peter Knapp, »Die sogenannte mittelhochdeutsche Ironie: ein Stilphänomen?«, in: Thomas A. Fritz u. a. (Hrsg.), Literaturstil – sprachwissenschaftlich. FS Hans-Werner Eroms, Heidelberg 2008 (Germanistische Bibliothek 32), 87–102. An der vorliegenden Stelle bedeutet tiure nicht wie üblich ›selten‹, sondern ›fehlend‹; vgl. Green, Irony (wie Anm. 4), 192 (mit Anm. 2), und Scholz (wie Anm. 13), 641 (Kommentar zu V. 381); zu tiure als Negation vgl. Hübner, 102–106. Raumann (wie Anm. 32), 43, Anm. 49, weist zu Recht darauf hin, dass »die Dimension des Kostbaren [...] ebenfalls in dem Begriff mitschwingt«. Der eigentliche Reiz der Verwendung von tiure als Litotes besteht an dieser Stelle also darin, dass in der Schilderung, auf die sich die Ironie bezieht, der semantische Wert von tiure (›wertvoll‹, ›prächtig‹) zentral ist und Hartmann dadurch auch auf sprachlicher Ebene den Gegensatz zwischen arm und reich inszeniert. Somit besteht eine »enge Verknüpfung zwischen rhetorischer Ausgestaltung und Inhalt« (ebd.). 61 Vgl. dazu auch Anette Sosna, Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200: ›Erec‹, ›Iwein‹, ›Parzival‹, ›Tristan‹, Stuttgart 2003, 62f., die das Verhältnis von Erec und Koralus (bzw. Enite) aus identitätsanalytischer Sicht als Spiegelverhältnis auffasst. 62 Scheunemann (wie Anm. 33), 22. Zu Erecs notdürftiger Ausrüstung, die er von Koralus erhält, vgl. ebd., 23f. 63 Ebd., 63. Ruh (wie Anm. 33), 118, verweist auf die drei Attribute »habelôs« (V. 238), »unerkant« (V. 245) und »wîselôs« (V. 250) und Hartmanns »bedeutsame Akzentuierungen der Chrétien-Interpretation«; vgl. dazu auch Sosna (wie Anm. 61), 61.

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sind der momentane äußere Schein und das innere Sein nicht deckungsgleich.64 Für alle Figuren in dieser Szene gilt: Der Gegensatz zwischen Erscheinung und tatsächlichem Sein dient auf der intradiegetischen Ebene der Figurenzeichnung; der äußeren Armut ist innerer Reichtum gegenübergestellt. Zwar steht »[d]ie erste Begegnung Erecs und Enites [...] im Zeichen der Bedürftigkeit«,65 aber diese Bedürftigkeit ist, mit Blick auf die spätere Handlung und v. a. das Ende des Romans, ›nur‹ Vorschein künftiger Herrlichkeit. Auf der Ebene des Erzählens dienen die drei Passagen primär der rhetorischen Selbstinszenierung des Sprechers und der Vorführung seiner hohen ›Kunst‹. Die Ironie ist hier neben der descriptio ein Element dieser Inszenierung. Sie markiert eine äußerst souveräne Haltung des Erzählers – gegenüber dem Erzählten und gegenüber seinem Publikum. Grundsätzlich ermöglicht sie dem Erzähler das Reflektieren über seine Tätigkeit. Im Fall von Hartmann geht es dabei nicht so sehr um eine Distanz des Erzählers von der erzählten Geschichte wie bei Chrétien oder bei Wolfram; vielmehr laden bei ihm die »Ironie-Signale [...] eher zum Nachdenken über die poetischen Darstellungsmittel ein.«66 || 64 Ich spare hier bewusst die vielfältigen Probleme, die sich aus dem verligen in Karnant ergeben, aus, weil sie mit der Entwicklung im ersten Teil des Romans (zunächst) nichts zu tun haben. Dass die erste Begegnung von Erec und Enite in Tulmein und ihre Begleitumstände im Rückblick möglicherweise in einem anderen Licht gesehen werden könnten, führt hier zu weit und ist für meine Argumentation im Hinblick auf das Verständnis der ironischen Haltung des Erzählers auch nicht von Bedeutung. 65 Bumke (wie Anm. 33), 27. 66 Ebd., 136. Im weiteren Verlauf der Erzählung gibt es mehrere Stellen, für die das ebenfalls zutrifft. Zwei prominente Beispiele mögen genügen: Nach der Hochzeit mit Enite und dem Sieg im Hochzeitsturnier preist Hartmann Erec überschwänglich und vergleicht ihn mit Salomon, Absalom, Samson und Alexander (V. 2811–25). Green geht davon aus, dass dieser Preis durch die Doppeldeutigkeit der Vergleichsfiguren und durch die Nähe zum nur rund hundert Verse später erzählten verligen als ironisch entlarvt wird; vgl. Dennis H. Green, »Hartmann’s ironic praise of Erec«, MLR 70 (1975), 795–807; ders., »Alieniloquium« (wie Anm. 4), 147f.; ders., »Damning« (wie Anm. 4), 149–151, ders., Irony (wie Anm. 4), 38f.; ders., »Erkennen« (wie Anm. 4), 42f.; ähnlich Ranawake (wie Anm. 20), 110f. Kritisch dazu Knapp (wie Anm. 1), 11: »Der Gedanke ist ingeniös, aber schwer zu verifizieren.« Deutlicher wird der skizzierte Zusammenhang in Hartmanns ironischer Reaktion auf die mögliche Ungeduld des Publikums angesichts der ausufernden Beschreibung von Enites Pferd (V. 7286–7767), die ja für sich genommen schon ein Metakommentar auf die Kunst des Erzählens ist. Der Erzähler ironisiert sich hier selbst, indem er immer wieder beteuert, sich kurz fassen zu wollen (V. 7429f., 7450–54, 7481– 84, ähnlich 7495, 7497, 7499, und wieder 7573f., 7591–93), was »in ironischem Kontrast zur Länge der Schilderung steht«; Pörksen (wie Anm. 16), 186. Zudem nimmt er im Dialog mit einem fiktiven Zuhörer (V. 7493–7525) eine Art Rollentausch vor: Dieser unterbricht den plauderfreudigen Hartmann, der wortreich seine Unfähigkeit beteuert, den Sattel von Enites Pferd angemessen zu schildern: »nû swîc, lieber Hartmann« (V. 7493), und versucht sich selbst an

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Damit komme ich abschließend nochmals zurück zu Hartmanns ironischer Beschreibung von Erecs Bewirtung in der ›armen Herberge‹. Die Szene ist ein Beispiel für Hartmanns »rhetorisch glänzende humoristische Einschübe« und seinen »erzählerischen Schabernack«,67 sie bietet »humorvoll-ironische Zwischentöne«,68 sie destruiert die »Scheinwelt« des »konventionellen Lobschemas« mit »einer humoristischen Pointe«,69 so wie der Erzähler Hartmann generell die »Formen erzählerischen Hervortretens« immer wieder »humoristisch«70 einsetzt. Zumindest in der Wahrnehmung der neuzeitlichen Interpreten hängen Ironie und Komik bzw. Humor anscheinend eng zusammen. Ironie kann komisch sein, muss es aber nicht. Sieht man die Stelle als Spitze gegen Chrétien, so kann man sie durchaus auch als einen auf Hartmanns Vorlage zielenden Witz auffassen. Es wäre dann aber auch ein Witz auf Koralus’ Kosten, was angesichts des Mitleids des Erzählers mit der unverschuldet verarmten Familie und der Betonung von Koralus’ Edelmut kaum Hartmanns Intention sein kann: »swen dise edeln armen / niht wolden erbarmen, / der was herter dan ein stein« (V. 432–434). Die Formulierung verdeutlicht, dass Hartmann »die leiseste Idee von Unvollkommenheit oder gar Schuld von seiner Darstellung der Armut Enites und ihrer Eltern fernhält«,71 v. a. da der Erzähler kurz zuvor betont, dass die Familie ihre Armut klug erduldet und den Mangel soweit möglich »mit zühten« (V. 419) überspielt. Lacht der Erzähler ›Hartmann‹ an dieser Stelle also über den armen Koralus oder über seinen Vorgänger Chrétien? Nein, wohl eher nicht; er freut sich allenfalls über sein erzählerisches Können und die Art und Weise, wie er dieses präsentiert – und weil er sein Publikum erfolgreich an der Nase herumgeführt hat, und zwar in jedem Fall. Ob das Publikum das ›lustig‹ gefunden hat, muss selbstverständlich offen bleiben. Insgesamt ist die Textpassage auf zwei verschiedenen Ebenen von Bedeutung: Intradiegetisch markiert sie zusammen mit der Schönheitsbeschreibung von Enite und der Darstellung von Koralus’ Umgang mit seiner Armut den Un|| einer Sattelbeschreibung. Der Erzähler verunsichert ihn aber in einem stichomythischen FrageAntwort-Spiel so sehr, dass er schließlich resigniert; vgl. dazu z. B. Bumke (wie Anm. 33), 127f.; Green, »Erkennen« (wie Anm. 4), 45f.; Worstbrock (wie Anm. 35), 25–27. Am Ende der Passage nimmt der Erzähler die Selbstironisierung seines Ausschweifens nochmals auf, indem er mit der Bemerkung »nû ist zît, daz si rîten« (V. 7767) wieder zur eigentlichen Handlung zurückkehrt. 67 Beide Zitate Brunner (wie Anm. 16), 112. 68 Cormeau/Störmer (wie Anm. 34), 180. 69 Alle Zitate Pörksen (wie Anm. 16), 160. Von einer »humoristischen Darstellung[]« spricht Pörksen auch auf der folgenden Seite. 70 Beide Zitate ebd., 210. 71 Scholz (wie Anm. 13), 643 (Kommentar zu V. 432–434).

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terschied zwischen Schein und Sein. Hartmann hat hier »mit allem Nachdruck die Opposition ›äußere Armut – innerer Reichtum‹ durchgespielt«.72 Diese Differenz verweist durch die ihr eingeschriebene Spannung auf Enites spätere Stellung. Zudem befindet sich Erec in einer ähnlichen Situation wie die verarmte Familie, der er in Tulmein begegnet. »Beider Schicksal berührt sich im Gefühl der Scham«73 über die Situation, die den wahren inneren Adel überdeckt. Auch für Erec gilt also die ›Verheißung‹ des guten Endes, die die ›arme Herberge‹ ausstrahlt. Auf der Ebene der Kommunikation des Erzählers mit dem Publikum dient die ironische Schilderung von Luxusquartier und Festmahl zusammen mit den umgebenden Textabschnitten der Inszenierung des Erzählers ›Hartmann‹. In der Episode der ›armen Herberge‹ zeigt dieser zum ersten Mal im Roman sein großes rhetorisches Können, das für ›Eingeweihte‹, die Chrétiens Vorlage kennen und deshalb Hartmanns Kunst der dilatatio materiae bewundern können, und ›Uneingeweihte‹ gleichermaßen reizvoll ist.

|| 72 Wolf (wie Anm. 32), 127. 73 Sosna (wie Anm. 61), 63.

Alissa Theiß

»ich hân ouch mennischlîchen list« Ironie in den Trevrizent-Szenen: ›dramatisch‹ oder ›sokratisch‹? Abstract: This paper deals with the possible use of Socratic irony in Wolfram von Eschenbach’s Parzival, in Trevrizent’s conversation with the eponymous hero. The discrepancies between Trevrizent’s behaviour in books IX and XVI have puzzled generations of scholars. Here it is argued that the key to the changing interpretations lies in their changing characterization of Trevrizent; each reflects the particular mentality of the time in which the work was interpreted. In 19th- and 20th-century interpretations it was not deemed feasible to criticize a holy man who unselfishly takes on the sins of others; however, anomalies in the description of Trevrizent are traceable within the epic itself and these were obviously intended by Wolfram. Once one has accepted this, Trevrizent’s ›lie‹ does not seem to be out of character, and his use of irony in his conversation with Parzival becomes a possibility. Through his use of what appears to be Socratic irony, Trevrizent manages to redirect Parzival to his proper destiny, freeing him from his sin – his alienation from God – by eliciting a voluntary admission of his guilt.

1 Die Diskussion um Trevrizents ›Lüge‹ Dramatische Ironie basiert auf der Diskrepanz zwischen dem Wissen des Autors bzw. Rezipienten und dem der Figuren.1 Hartwig Heckel beschreibt sie folgendermaßen: »Äußerungen, Handlungen oder Ereignisse [gewinnen] aus der Sicht des Rezipienten einen Sinn [...], den sie aus der Perspektive der Figuren nicht haben«.2 Als klassisches Beispiel ist Sophokles’ Ödipus zu nennen, der unwissentlich seinen Vater erschlägt und damit zugleich die Prophezeiung des Teirisias erfüllt. Dass vom Vorkommen von dramatischer Ironie in Wolframs Parzival ausgegangen werden darf, ist spätestens seit L. Peter Johnsons gleichnamigem

|| 1 Vgl. Reinhold F. Glei, »Einleitung«, in: ders. (Hrsg.), Ironie. Griechische und lateinische Fallstudien, Trier 2009, 9–13, hier: 10. 2 Hartwig Heckel, »Was ist Ironie?«, in: Reinhold F. Glei (Hrsg.), Ironie. Griechische und lateinische Fallstudien, Trier 2009, 15–31, hier: 22. Vgl. auch das Beispiel in Anm. 32.

74 | Alissa Theiß Aufsatz3 Konsens in der Wolfram-Forschung. Ob im Fall der Gesprächsführung Trevrizents im zentralen IX. Buch des Parzival auch ›sokratische Ironie‹ zum Tragen kommt, soll hier diskutiert werden. Der Terminus ›sokratische Ironie‹ wird der heutigen Nomenklatur folgend verwendet, also im Sinne der Untertreibung, d. h. des Sich-Verstellens und des Vorgebens, einen Sachverhalt nicht zu kennen, obwohl man ihn kennt, um auf diese Weise den Gesprächspartner zum Nachdenken anzuregen und ihn dazu zu bringen, scheinbar von sich selbst aus die Wahrheit zu sagen. Die dissimulatio, d. h. die ›Untertreibung‹ als Redefigur, worunter wir heute im Allgemeinen sokratische Ironie verstehen, war schon zur Zeit Wolframs geläufig, wenngleich sie nicht mit Sokrates in Verbindung gebracht wurde.4 Die Trevrizent-Szenen im Parzival Wolframs von Eschenbach stellen die Forschung von Beginn an vor Interpretationsschwierigkeiten, stellt sich doch der Trevrizent des IX. Buchs auf den ersten Blick ganz anders dar als der des XVI. Aus dem unfehlbaren, heiliggleichen Psychopompos des IX. Buchs, wie er traditionell von der älteren Forschung wahrgenommen wurde, wird am Ende des Epos ein gutmütiger Onkel, der sich geirrt, ja mehr noch, der Parzival sogar angelogen hat. Wie kann der weise Einsiedler fehlgehen? Wie kann er sich einer Lüge bezichtigen, wo er doch ganz klar sagt: »ich enbinz niht der dâ triegen kan« (476, 24)?5 Die vordergründigen Diskrepanzen der Figurendarstellung haben Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt.6 Schon 1955 merkt Peter Wapnewski an: »Hier ist einer der Punkte, wo Sekundärliteratur schon ein Teil

|| 3 L. Peter Johnson, »Dramatische Ironie in Wolframs Parzival«, in: Peter F. Ganz, Werner Schröder (Hrsg.), Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969, Berlin 1972, 133–152. 4 Vgl. hierzu Michael Becker, »Ironia. Mittelalterliche Ironietheorie von der Antike bis zur Renaissance«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 357–393, v. a. 393. Zur dissimulatio als Figur höfischer Rede vgl. Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, 305–311. 5 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. 6 Vgl. Joachim Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie, München 1970, v. a. 263–266; Diskussion der Textstellen sowie der Forschungsliteratur bei Bernd Schirok, »Ich louc durch ableitens list. Zu Trevrizents Widerruf und den neutralen Engeln«, ZfdPh 106 (1987), 46–72; zuletzt Cornelia Herberichs, »Erzählen von den Engeln in Wolframs Parzival. Eine poetologische Lektüre von Trevrizents Lüge«, PBB 134 (2012), 39–72, und Michaela Schmitz, Der Schluss des Parzival Wolframs von Eschenbach. Kommentar zum 16. Buch, Berlin 2012, 89–94.

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des Forschungsgegenstandes selbst geworden zu sein scheint.«7 Doch liegt bei der Gestaltung der Trevrizentfigur überhaupt eine Problematik vor, oder ist diese Problematik nicht vielmehr in der Forschungsgeschichte selbst begründet? Bevor ein Vorstoß in das Gebiet ›sokratischer Ironie‹ unternommen wird, soll zunächst ein Blick auf Trevrizents ›Lüge‹ und das in der Forschungsliteratur tradierte Trevrizent-Bild geworfen werden. Üblicherweise wird Trevrizents Lüge, derer er sich im XVI. Buch selbst bezichtigt,8 mit seinen Aussagen über die ›neutralen Engel‹ in Verbindung gebracht.9 Wir befinden uns im IX. Buch: Nach viereinhalb Jahren des Umherirrens und der Absage an Gott kommt Parzival an einem Karfreitag zu Trevrizent, der ihn von seiner Gottesferne erlösen wird. Parzival erklärt, dass er sich nach dem Gral und nach seiner Frau sehnt. Trevrizent lobt ihn ob der Liebe zu seiner Frau, erklärt ihm jedoch, dass er einfältig sei (»ir tumber man«; 468, 11), wenn er sich nach dem Gral sehne, denn niemand könne unberufen den Gral erlangen. Im Zuge von Trevrizents Ausführungen über den Gral berichtet er auch von den neutralen Engeln und gibt vor, nicht zu wissen, was seither mit ihnen geschehen ist: di newederhalp gestuonden, dô strîten beguonden Lucifer unt Trinitas, swaz der selben engel was, die edelen unt die werden muosen ûf die erden zuo dem selben steine. der stein ist immer reine. ich enweiz op got ûf si verkôs, ode ob ers fürbaz verlôs. was daz sîn reht, er nam se wider. (471, 15–25)

|| 7 Peter Wapnewski, Wolframs ›Parzival‹. Studien zu Religiosität und Form, Heidelberg 1955, 152. 8 »ich louc durch ableitens list / vome grâl, wiez umb in stüende« (798, 6f.). 9 Vgl. Matthias Däumer, »Die Paradoxie der unerlösten Erlösung. Überlegungen zu Wolframs Neutralen Engeln«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 225–239; Ulrich Ernst, »Neue Perspektiven zum Parzival Wolframs von Eschenbach. Angelologie im Spannungsfeld von Origenismus und Orthodoxie«, in: Wendelin Knoch (Hrsg.), Engel und Boten, Berlin 2006 (Das Mittelalter 11/1), 86–109, hier: 105–109; Arthur Groos, »Trevrizent’s ›Retraction‹: Interpolation or Narrative Strategy?«, DVjS 55 (1981), 44–63; Herberichs (wie Anm. 6); Schirok (wie Anm. 6); Schmitz (wie Anm. 6), 89f.

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Die nicht auf dieser noch auf jener Seite standen, als Lucifer und Trinitas den Kampf begannen, alle diese hohen, edlen Engel mußten zur Erde hinab zu dem Stein. Dieser Stein ist immerwährend rein. Ich weiß nicht, ob ihnen Gott die Schuld vergaß oder ob er sie noch tiefer hinabstieß. Wenn seine Majestät es ihm erlaubte, so hat er sie gewiß wieder 10 angenommen.

Im XVI. Buch sagt er dann jedoch, sie seien auf ewig verdammt: daz die vertriben geiste mit der gotes volleiste bî dem grâle wæren, kom iu von mir ze mæren, unz daz si hulde dâ gebiten. got ist stæt mit sölhen siten, er strîtet iemmer wider sie, die ich iu ze hulden nante hie. swer sîns lônes iht wil tragn, der muoz den selben widersagn. êweclîch sint si verlorn: die vlust si selbe hânt erkorn. (798, 11–22) Daß die verbannten Geister und mit ihnen die Fülle göttlicher Macht beim Grâl so lange geblieben wären, so habt Ihr nach alledem, was ich Euch darüber erzählte, glauben müssen, bis sie genug auf Gottes Gnade gewartet hätten. Gott ist aber in seinem Willen ganz unwandelbar, und also ist er ihnen, von denen ich behauptet habe, sie könnten Versöhnung finden, feind für alle Zeit. Wer von ihm Lohn erhofft, muß jenen Geistern Krieg ansagen. Auf ewig sind sie verloren, sie haben sich ihr Unglück selber so bestimmt.

Ob sich Trevrizents Lüge tatsächlich auf die neutralen Engel bezieht, wird wohl niemals abschließend geklärt werden können. Sagt er doch lediglich: »ich louc durch ableitens list / vome grâl, wiez umb in stüende« (798, 6f .).11 Bei dem Versuch der Erklärung von Trevrizents Lüge, die als ›Widerruf‹ in die Forschungsgeschichte eingegangen ist, wurde zuweilen erstaunlich unsachlich argumentiert. Bernard Willson beispielsweise vergaß in der emotional aufgeladenen Diskussion, dass Autor, Erzähler und Figur nicht identisch sind.12 Der Widerruf wurde als Widerruf Wolframs gesehen, den seine theologischen Bera-

|| 10 Die Übersetzung folgt hier und im Folgenden der zitierten Ausgabe (wie Anm. 5). 11 Zu einer neuen Interpretation gelangt Herberichs, die die Stelle mit dem Bogengleichnis des V. Buchs in Verbindung bringt. Vgl. Herberichs (wie Anm. 6), hier: 64f. 12 Vgl. Bernard Willson, »Wolframs neutrale Engel«, ZfdPh 83 (1964), 51–63, hier: 51f.; vgl. Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs ›Parzival‹, Frankfurt a. M. u. a. 2000, 308, Anm. 240, und Schmitz (wie Anm. 6), 90, Anm. 37.

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ter auf angeblich am Rande der Ketzerei stehende Bemerkungen im IX. Buch hingewiesen hätten, worauf Wolfram gezwungen gewesen sei, diese Aussagen zu revidieren.13 Es musste ja schließlich ein Ausweg aus dem Dilemma mit der unantastbaren Heiligkeit der Trevrizent-Figur gefunden werden, denn es war undenkbar, dass Trevrizent bewusst gelogen hatte. Es musste eine andere Erklärung für den Widerruf geben. Die tradierte Charakterisierung Trevrizents ist es, die Aufschluss über die Haltung der Forscher zu dieser Figur gibt; und diese Haltung ist nie unvoreingenommen. In ihr kommt die jeweilige Zeitbindung und Geisteshaltung zum Ausdruck, und genau darin liegt ein Großteil der Interpretationsangebote zu den Trevrizent-Szenen begründet. Schon in den ersten Jahren des 20. Jh. wird Trevrizent von Gustav Ehrismann als Parzivals »greiser Freund« bezeichnet,14 und Albert Bernhardt Faust nennt ihn »the kind old hermit«,15 ein Bild, das sich in den Forscherköpfen hartnäckig gehalten hat; es scheint geradewegs aus dem kollektiven Gedächtnis zu kommen.16 Doch ist Trevrizent überhaupt alt? Lesen wir nicht, dass er, noch bartlos, Parzivals Vater begegnet ist, als dieser schon ein berühmter Ritter war?17 Aus dem wohlwollenden Großvater wird so ein Mann, der offenbar jünger ist als Parzivals Vater Gahmuret, und damit wohl zu jung, um als ›alter Einsiedler‹ oder gar als ›Greis‹ bezeichnet werden zu können.

|| 13 Vgl. Schmitz (wie Anm. 6), 90; zuerst thematisiert bei Karl Lachmann, »Über den Eingang des Parzivals«, in: ders., Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, hrsg. von Karl Müllenhoff, Berlin 1976, 480–518, hier: 488; zum Ketzereiverdacht vgl. die kritische Diskussion bei Paulus Bernardus Wessels, »Wolfram zwischen Dogma und Legende«, PBB 77 (1955), 112–135. 14 Gustav Ehrismann, »Über Wolframs Ethik«, ZfdA 49 (1908), 405–465, hier: 441. 15 Albert Bernhardt Faust, »A defense and interpretation of the ninth book of Wolfram’s Parzival«, Modern Philology 1/2 (1903), 275–293, hier: 282. 16 Vgl. z. B. Louise Gnädinger, »Trevrizent – Seine wüstenväterlichen Züge in Wolfram von Eschenbachs Parzival (Buch IX)«, in: Leo S. Olschki (Hrsg.), Studien zur deutschen religiösen Literatur. Sergio Lupi zum Gedächtnis, Florenz 1972, 135–175, hier: 174f.: »Hier zeigt sich [...], daß Wolfram besonders bei der Gestaltung von Parzivals Begegnung mit dem Einsiedler und bei dessen Charakterisierung auf eine lange, bis zu den Wüstenvätern reichende Tradition zurückgriff.« 17 »nu hœre, lieber neve mîn. / dô mich der werde vater dîn / ze Sibilje alrêrste sach, / balde er mîn ze bruoder jach / Herzeloyden sînem wîbe, / doch wart von sîme lîbe / mîn antlütze nie mêr gesehn. / man muose ouch mir für wâr dâ jehn / daz nie schœner mannes bilde wart: / dannoch was ich âne bart« (497, 21–30). Auch die Attributreihe des Texts liefert keine Hinweise auf ein mögliches hohes Alter Trevrizents. Der graue Ritter bezeichnet ihn als »heilec man« (448, 23), andere Attribute sind »kiusche« (452, 15; 459, 22; 472, 12; 493, 9) und »getriwe« (459, 18). Am häufigsten findet sich die Bezeichnung »guote[r] man« (457, 2; 458, 25; 460, 19; 476, 23; 487, 24).

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Petrus W. Tax belegt Trevrizents Auftreten mit den Attributen »menschliche Wärme und tiefe Sympathie«,18 bei Friedrich Maurer heißt es: »Mit unendlicher Geduld, Zartheit und Feinfühligkeit gelingt es Trevrizent, jenes Bedürfnis zum Gutmachen auch der unwissentlich begangenen Verschuldungen [bei Parzival] zu wecken.«19 Bei Walter Henzen liest man von der »kindlichen Zuflucht« Parzivals zum »vertrauenswürdigst gestalteten Oheim und Berater«,20 und Wapnewski charakterisiert den Einsiedler als einen Mann »ohne Falsch und Arg [...], von schonungsloser Ehrlichkeit gegen sich und andere«.21 Zu lügen sei »seiner ganzen Haltung und moralischen Integrität so inadäquat«,22 dass Wapnewski sich weigert, Trevrizents Selbstaussage zu glauben. Das ist erstaunlich, und vielleicht wird man darüber schmunzeln, wie es Wolfram gelungen ist, Trevrizent in eine Aura der Autorität zu hüllen, die noch 700 Jahre später wirkt,23 die Wolfram aber selbst gleich mehrfach in Frage stellt und vielleicht sogar konterkariert. Kritik zu üben an einem gottesfürchtigen Mann, einem selbstlosen Büßer, der die Sünden anderer auf sich nimmt, scheint noch während des gesamten 20. Jh. undenkbar gewesen zu sein. Erst Cornelia Schu bricht mit der Tradition und postuliert, dass Trevrizent von Anfang an nicht der Mann mit jener weißen Weste ist, in die ihn die Forschung gerne eingekleidet hat.24 Doch sollte hier auch angemerkt werden, dass eigentlich jedem, der den Text aufmerksam liest, die gleichen Zweifel kommen müssten: So berichtet Trevrizent, der Parzival immer wieder zu Demut ermahnt, ohne mit der Wimper zu zucken davon, was für ein gutaussehender Draufgänger er in seiner Jugend war: Het irz niht für einen ruom, sô trüege ich fluht noch magetuom. [...]

|| 18 Petrus W. Tax, »Trevrizent. Die Verhüllungstechnik des Erzählers«, in: Werner Besch u. a. (Hrsg.), Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. FS Hugo Moser, Berlin 1974, 119–134, hier: 122. 19 Friedrich Maurer, »Parzivals Sünden. Erwägungen zur Frage nach Parzivals ›Schuld‹«, DVjS 24 (1950), 304–346, hier: 342. 20 Walter Henzen, »Das IX. Buch des Parzival. Überlegungen zum Aufbau«, in: Erbe der Vergangenheit. Germanistische Beiträge. FS Karl Helm, Tübingen 1951, 189–217, hier: 206. 21 Wapnewski (wie Anm. 7), 164. 22 Ebd., 169. 23 Vgl. auch die Beobachtungen zu 476, 14f. und 488, 21 von Nine Miedema, »Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse«, in: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hrsg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, Berlin, New York 2010, 35–67, hier: 62, Anm. 92: »Unklar bleibt, warum Parzivals Ausruf Verzweiflung ausdrücke, während Trevrizents gleichlautender Satz als ›milde‹ (Schirok [...]) bzw. als ›ausgeglichene[] und maßvolle[] Reaktion‹ zu verstehen sei (Tax [...])«. 24 Vgl. Schu (wie Anm. 12), 307–321.

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mir geriet mîn flæteclîchiu jugent unde eins werden wîbes tugent, daz ich in ir dienste reit, da ich dicke herteclîchen streit. die wilden âventiure mich dûhten sô gehiure daz ich selten turnierte. [...] man muose ouch mir für wâr dâ jehn daz nie schœner mannes bilde wart[.] (458, 1f.; 495, 15–21; 497, 28f.) Ich will vor Euch nicht prahlen, aber im Fliehen bin ich noch Jungfrau. [...] Meine Schönheit und Jugend und der Zauber einer adeligen Frau haben mich verführt, und so wurde ich der Ritter dieser Dame und habe oft und hart in ihrem Dienst gekämpft. In der Welt draußen mit ihren wilden Abenteuern fühlte ich mich so daheim, daß ich in bloßen Turnierkämpfen selten auftrat. [...] Damals mußte jeder von mir sagen, daß niemals ein Mann schöner war von Gestalt[.]

Erscheinen diese Selbstaussagen schon nicht ganz kongruent zum quasi sakrosankten Eremiten, zu dem Trevrizent von einigen Interpreten gemacht wurde, so sollte man spätestens dann stutzig werden, wenn Trevrizent erklärt, dass er damals, als er sich inkognito in Sevilla aufhielt und auf Gahmuret traf, seine Identität bewusst nicht preisgab, ja sogar soweit ging, falsche Eide zu schwören, um nicht erkannt zu werden. Gahmuret hatte Trevrizent sofort als Herzeloides Bruder erkannt, was Trevrizent vehement leugnete und erst zugab, nachdem Gahmuret insistierte: für dise rede ich dicke swuor manegen ungestabten eit. dô er mich sô vil an gestreit, verholn ichz im dô sagte; (498, 2–5) Was er behauptete, das leugnete ich mit vielen Eiden – freilich war da kein Richter, der mir seinen Stab hingehalten hätte. Als er mich aber immer wieder attackierte, da sagte ich’s ihm schließlich im geheimen[.]

Und schließlich sagt Trevrizent von sich selbst: ein wârheit ich iu sagen kan, ichn fürhte niht swaz mennisch ist: ich hân ouch mennischlîchen list. (457, 28–30) Mit Wahrheit kann ich Euch sagen, daß ich nichts fürchte, was menschlich ist; denn was ein Mensch ersinnen kann, das weiß ich alles auch.

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Wie können diese Befunde interpretiert werden? Mit Schu wird auch am Beispiel von Trevrizent der parrierte Mensch dargestellt,25 der sowohl weiß wie auch schwarz in sich trägt. Diesem Interpretationsansatz steht nichts im Wege, lesen wir doch schon im Elsterngleichnis des Prologs, dass es in der Geschichte um genau dieses Thema gehen soll.26 Es scheint also gar kein unvereinbarer Bruch zwischen dem Trevrizent des IX. und dem des XVI. Buches zu bestehen, wie es unter anderem Wapnewski so vehement vertreten hat.27 Trevrizent ist von vornherein (und wie sollte es auch anders sein?) ein Beispiel des elsternfarbenen Menschen, der an beidem Teil hat, dem Schwarzen und dem Weißen, der Hölle und dem Himmel, der Ernsthaftigkeit und dem Humor, und das auch noch, als er schon Eremit geworden ist. Die Schwierigkeiten, die die Wolframexegeten damit hatten, zu akzeptieren, dass beide Seiten in der Einsiedlerfigur vereint sind, sind anscheinend der Grundlagenforschung bzw. der darin zum Ausdruck kommenden Geisteshaltung des 19. Jh. geschuldet, die schon seit Bodmer und Lachmann28 ein Interpretationsmodell vorgab, das es nicht zuließ, eine Autoritätsperson in Frage zu stellen, und sei sie auch aus einer Geschichte, die vor über einem halben Jahrtausend geschrieben wurde! In einer Idealfigur wie Trevrizent durfte es für das 19. Jh. vor dem Hintergrund eines Ideal-Diskurses keine ironischen Brüche geben, denn damit wäre die Trevrizent-Figur als Projektionsfolie unbrauchbar geworden.29 Diese Vorlage von Trevrizent als Idealmodell wurde von der Forschung des 20. Jh. weitgehend übernommen.

|| 25 Vgl. Schu (wie Anm. 12), 310. 26 Vgl. Miedema (wie Anm. 23), 54; Schu (wie Anm. 12), 310f.; Schmitz (wie Anm. 6), 91. 27 »So begegnet uns im XVI. Buch ein pervertierter Trevrizent [...]. Der Trevrizent des IX. und der Trevrizent des XVI. Buches schließen einander aus«; Wapnewski (wie Anm. 7), 172. 28 Vgl. Josef Götz, Die Entwicklung des Wolframbildes von Bodmer bis zum Tode Lachmanns in der germanistischen und schönen Literatur, Endingen am Kaiserstuhl 1940, v. a. 7–16 und 32. 29 Besonders pointiert ausgedrückt ebd., 10f.: »Dem Menschen der klassizistischen Kritik des 18. Jahrhunderts war Dichtung mehr oder weniger eine angenehme und nützliche Sache, der Folgezeit dagegen eine notwendige und erhabene Lebensfunktion und Lebensäußerung, eine Enthüllung tiefer Wahrheiten und Geheimnisse fast religiöser Art, die den innersten Menschen in Dichter und Hörer oder Leser angehen.«

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2 Sokratische Ironie und ›trevrizentische‹ Gesprächsführung Ließe man sich als moderner Leser unvoreingenommen auf die Lektüre ein, käme man, wie oben dargelegt, wohl nicht umhin, bei Wolframs Einsiedler eine gewisse Verschmitztheit zu erkennen. Es könnte beinahe so aussehen, als spiele Trevrizent mit seinem armen Neffen ein Spiel, dem ironische Untertöne nur schwer abzusprechen sind: Nachdem Parzival offengelegt hat, worum es ihm geht,30 erklärt Trevrizent mit unzweideutigen Worten, dass niemand unberufen zum Gral kommen kann; er solle sich das gleich aus dem Kopf schlagen. Nur ein einziges Mal sei jemand einfach so nach Munsalvæsche gekommen, aber das sei ein Desaster gewesen. Der Rezipient weiß natürlich, dass Parzival der Besucher war, aber weiß das auch Trevrizent? Schauen wir uns – in neuhochdeutscher Paraphrasierung – an, was Trevrizent im Folgenden sagt: ›Irgend so eine Dumpfbacke‹ – an dieser Stelle verwendet Trevrizent dieselbe Formulierung, wie er sie ganz zu Anfang ihrer Begegnung für Parzival verwendet hatte – ›ist auf die Gralsburg gekommen und hat die Frage nicht gestellt; aber ich will ja niemanden schimpfen, der wird schon sehen, was er davon hat‹: [...] der grâl ist unerkennet, wan die dar sint benennet ze Munsalvæsche ans grâles schar. wan einr kom unbenennet dar: der selbe was ein tumber man und fuorte ouch sünde mit im dan, daz er niht zem wirte sprach umben kumber den er an im sach. ich ensol niemen schelten: doch muoz er sünde engelten, daz er niht frâgte des wirtes schaden. (473, 9–19) [...] nie [hat] einer den Grâl gesehen außer denen, die dazu berufen wurden und zum Haus des Grâls in Munsalvæsche gehören. Bloß einer ist einmal ungeheißen hingekommen, das war ein stumpfsinniger Mensch; er ist aber auch mit Sünde wieder fortgegangen, denn er hat den Herrn dort nicht angesprochen und nicht nach seinem Leiden gefragt, das er doch an ihm sah. Ich will über niemanden schimpfen, doch der muß für seine Sünde zahlen, daß er nicht fragte, was ihm weh tat, seinem Wirt.

|| 30 »mîn hôhstiu nôt ist umben grâl; / dâ nâch umb mîn selbes wîp« (467, 25f.).

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Und weiter fragt er: ›Seid Ihr eigentlich Lähelin?‹ – »Hêrre, sît irz Lähelîn?« (474, 1). Ohne Parzivals Antwort abzuwarten, fährt Trevrizent fort und merkt an, Parzival solle sich Frimutel zum Vorbild nehmen. ›Ihr seht ihm ziemlich ähnlich. Der war übrigens auch mal Gralskönig‹ (»iwer varwe im [Frimutel] treit gelîchiu mâl. / der was ouch hêrre übern grâl«; 474, 21f.). Daraufhin erklärt Parzival, er sei nicht Lähelin, sondern der Sohn Gahmurets. Trevrizent klärt ihn jetzt über die verwandtschaftlichen Verhältnisse auf (Parzival ist mütterlicherseits sowohl der Neffe Trevrizents wie auch der des Anfortas, des Gralskönigs) und geht noch einmal dezidiert auf den tumben Besucher ein, der es versäumte, die erlösende Frage zu stellen, wobei er nicht müde wird, Anfortas’ schlimmes Leiden in allen Einzelheiten zu schildern, von dem der Gralskönig jetzt immer noch nicht befreit ist, und zu betonen, dass die tumpheit des Besuchers schuld daran ist. Trevrizent scheint also genau zu wissen, wen er vor sich hat: den designierten Gralskönig nämlich, der beim ersten Besuch auf Munsalvæsche versagt hat.31 Sollte dies der Fall sein, kann Trevrizents Frage, ob Parzival etwa Lähelin, der Todfeind von Parzivals Familie, sei, nur provokativ oder eben ironisch aufgefasst werden.32 Ebenso wäre der Vergleich mit Frimutel, der ja Parzivals Großvater ist, ein ›Wink mit dem Zaunpfahl‹. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Trevrizent Parzival dazu bringen möchte, seine Verfehlungen von sich aus zuzugeben. Dass er dieses Ziel mit seinen Ausführungen erreicht hat, wird deutlich, wenn es am Ende der Passage heißt, dass sie beide voller Trauer waren. Dann, gerade als es in Parzival zuckt, die Wahrheit über seinen Besuch beim Gral preiszugeben – und wir dürfen davon ausgehen, dass Trevrizent dieses Zucken genau wahrnimmt – unterbricht ihn der Onkel forsch mit der Aufforderung: ›So, Schluss mit dem Gerede, jetzt wird erstmal gegessen!‹ (»der wirt sprach ›gê wir nâch der nar‹«; 485, 3).

|| 31 Vgl. hierzu auch die Deutungen von Wapnewski (wie Anm. 7), 151–173, und Bernd Schirok, »Trevrizent und Parzival. Beobachtungen zur Dialogführung und zur Frage der figurativen Komposition«, ABäG 10 (1976) 44–71, hier: 61, sowie die Diskussion bei Herberichs (wie Anm. 6), 49, Anm. 34, und 53, Anm. 50. 32 Vgl. dazu Johnson (wie Anm. 3), 143: »hier [haben wir] den erstaunlichen Umstand, daß Parzival mit seinem Erbfeind Lähelin gleichgestellt und des rêroubes bezichtigt wird, worauf er den rêroup an seinem Verwandten Ither gesteht, den er einmal mit seinem Erbfeind Lähelin gleichgestellt hatte. Stärkere Ironie gibt es nicht!« Johnson geht hierbei allerdings lediglich vom Einsatz von dramatischer Ironie durch Wolfram und nicht vom Gebrauch von sokratischer Ironie seitens Trevrizents aus.

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Ob sich Trevrizent im Dialog mit seinem Neffen nun der dissimulatio, also der sokratischen Ironie, bedient hat,33 oder ob er tatsächlich nicht weiß, dass er es mit dem gescheiterten Gralsburgbesucher zu tun hat, und es sich lediglich um eine Form von dramatischer Ironie handelt, die Wolfram hier anwendet, liegt wohl letztlich im Ermessen des Rezipienten. Vielleicht darf man, ganz modern gesprochen, auch so weit gehen, zu sagen, dass beide Formen der Ironie im Text angelegt sind und je nach Interpretation bzw. Vortragsintention das Augenmerk mal auf die eine und mal auf die andere Form gelegt wurde.34

3 Fazit Beim hier vorgenommenen Gang durch die Trevrizent-Szenen in Wolframs von Eschenbach Parzival und die sich darum rankende, über 150 Jahre alte Forschungsdiskussion ist deutlich geworden, auf wie vielen Ebenen textliche Ironie wirken kann. Neben der stets mitgedachten Möglichkeit des Vorhandenseins von dramatischer Ironie – einem Mehrwissen der Rezipienten, die Parzivals Taten kennen, gegenüber dem Helden selbst, der diese Taten zunächst vor Trevrizent zu verbergen sucht – finden sich auf einer anderen Ebene zahlreiche Indizien, die auf intendierte sokratische Ironie in Trevrizents Äußerungen schließen lassen. Fakt ist, dass Trevrizent Parzival durch sein Vorgehen dazu bringt, das zu tun, was den jungen Ritter wieder Gott näher bringen wird: seine Schuld aus eigenem Antrieb einzugestehen, und das sogar, ohne dass er selbst es zu bemerken scheint. Trevrizents Gesprächsführung kann also nur als gelungen bezeichnet werden. Parzival selbst nimmt Trevrizents mit den Worten »ich hân ouch mennischlîchen list« (457, 30) offen gelegte Ironie anscheinend nicht wahr. Für ihn ist und bleibt alles ›ernst‹. Wie die zeitgenössischen Rezipienten mit dieser wohl intendierten Doppelbödigkeit umgingen, bleibt offen; über die Wahrnehmung des mittelalterlichen Publikums kann nur spekuliert werden. Die Wahrnehmung der Trevrizent-Szenen durch die Forschung des 19. und 20. Jh. hingegen ist – wie hier augenzwinkernd und zugegebener Maßen über-

|| 33 Siehe dazu Anm. 6; vgl. dagegen Miedema (wie Anm. 23), 64: »Für den Parzival sind somit Dialogregeln einzubeziehen, die nicht der höfischen Gesprächskultur entstammen und die auf eine um 1200 vorhandene wachsende Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten des Einsatzes von Techniken der aktiven, bewussten Dialogführung verweisen.« 34 Zur Performanz höfischer Epen vgl. Matthias Däumer, Stimme im Raum, Bühne im Kopf. Überlegungen zum performativen Potential der mittelalterlichen Artusromane, Bielefeld 2012, v. a. 40–74.

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spitzt dargelegt wurde – bekannt: Genau wie für den jungen Ritter Parzival war es auch für die ›Väter‹ der Mediävistik undenkbar, dass ein ›heiliger‹ Mann wie Trevrizent zu solch unlauteren Mitteln der Gesprächsführung greifen würde. Nichts lag ihnen ferner, als an dieser Stelle Ironie zu vermuten. Trotzdem scheint genau dies der Knackpunkt für das Verständnis der Trevrizent-Szenen, vielleicht sogar des ganzen Parzival, zu sein. Worin liegt nun die Relevanz des ausgebreiteten Diskurses? Quasi als ›Nebenprodukt‹ offenbart sich hier ein ganz anderer guter Grund für die Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten im 21. Jh.: Sie ermöglicht uns, mehr noch als uns einen Ausschnitt der Realität vergangener Lebenswelten zu zeigen, einen Einblick in unsere eigene (Fach-)Kultur und damit, ganz sokratisch, Erkenntnis unserer Selbst.

Susanne Knaeble

Ironische Distanzierung im Fokus intertextuellen Erzählens Der westjiddische Widuwilt als Rezeptionsgegenstand Abstract: This contribution focuses on irony in the Western Yiddish story Widuwilt, an adaptation of a Middle High German Arthurian romance produced for a Jewish audience. In this case, ›irony‹ is understood as a phenomenon of reception. Since the literary source of the Widuwilt, Wirnt von Grafenberg’s Wigalois, deals with many implicitly Christian eschatological motifs and patterns of thought, it is worth examining the possibility that ironic effects are generated within the Yiddish text by alterations to such motifs and patternings. The paper concentrates on two models of structural irony: first, on selfreferential irony within the intertextual framework of the Arthurian romance, and second, on the possible introduction of ironic effects for the benefit of Jewish recipients. It is possible to interrogate the function of ironic elements within Widuwilt on this basis. On the one hand it is demonstrated that irony has the potential to create a significant distance; on the other, it also marginalizes differences in a particular way, since the ironic perspective never establishes a category of the complete other but always remains closely related to the object of irony.

1 Ernst, Ironie und Intertextualität Auf die Frage seiner Frau, welchen Namen das gemeinsame Kind tragen solle, antwortet der Artusritter Gabein in der westjiddischen Fassung des Wigalois des Wirnt von Grafenberg, dem Widuwilt oder sogenannten Artushof, schlicht: »wi du wilt« (49).1 Gabeins Antwort erzeugt aus rezeptionsorientierter Perspektive

|| 1 Grundlage der folgenden Ausführungen ist die 1974 veröffentlichte Transkription des Widuwilt nach der Edition Wagenseils von 1699: Ritter Widuwilt. Die westjiddische Fassung des ›Wigalois‹ des Wirnt von Gravenberc. Nach dem jiddischen Druck von 1699, besorgt und hrsg. von Siegmund A. Wolf, Bochum 1974. Die Überlieferung des Widuwilt umfasst drei unvollständige Handschriften. Zur Überlieferung des Widuwilt vgl. Achim Jaeger, Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ›Widuwilt‹ (›Artushof‹) und zum ›Wigalois‹ des Wirnt von Graven-

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einen ironischen Effekt, da die Namensgebung im höfisch-ritterlichen Kontext wesentlicher Bestandteil der Identitätsstiftung ist. Nicht die Aussageintention der Figur ist hier also Gegenstand einer strukturell-ironischen Verkehrung, sondern die Bedeutung der Namensgebung im höfischen Diskurs, welche genuin Herkunft und Abstammung spezifiziert:2 Die Namensgebung wird ihrer identifizierenden Funktion beraubt und stattdessen mit völliger Willkür affiziert. Aus der Beobachterperspektive zweiter Ordnung erscheint der Name ›Widuwilt‹ als ironisch verkehrt – und dies vermutlich auch nicht allein aus Sicht des modernen Rezipienten.3 Die Abweichung gegenüber der mittelhochdeutschen Fassung, dem Wigalois Wirnts von Grafenberg, in welcher der Protagonist den sprechenden und identifizierenden Namen Gwî von Gâlois trägt,4 verstärkt diese Lesart zudem noch. Literarischer Ironie scheint stets zu eignen, dass sie auf eine Wirkung bzw. den Rezeptionsprozess bezogen ist, wodurch die eindeutige Identifizierbarkeit von Ironie im Text gleichsam zum Problem wird. Dieser Schwierigkeit soll hier dergestalt begegnet werden, dass nicht die mögliche Intention des Autors zentral gesetzt wird, sondern die Möglichkeiten der Rezeption, um nämlich das Phänomen ›Ironie‹ aus einer ebenso wichtigen, die Erzählstruktur beleuchtenden Perspektive zu betrachten. Einerseits wird hierfür die semantische Vielfalt der Ironie auf eine spezifische Arbeitsdefinition für das romanhaft-höfische

|| berc, Tübingen 2000 (Conditio Judaica 32), 29; vgl. auch den Beitrag von Matthias Däumer im vorliegenden Band, hier: 263, Anm. 13. 2 Wird diese Funktion nicht erfüllt, bekommen die Figuren in der Regel ein Identitätsproblem. Das ist z. B. bei Parzival der Fall, der seine ritterlich-höfische Identität erst sukzessive zugewiesen bekommt. 3 Auch im Sinne der antiken Rhetorik kann diese Äußerung als ironisches Stilmittel verstanden werden. Harald Weinrich zitiert mit Tryphon von Alexandrien eine der ältesten überlieferten Definitionen der Ironie: »Ironie ist eine Redeweise, die einen Sachverhalt durch ihr Gegenteil ausdrückt in Verbindung mit einer ausdrucksvollen Betonung oder Haltung«; Harald Weinrich, Art. »Ironie«, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, 577–582, hier: 577. Ich werde mich im Folgenden wie bereits angesprochen allerdings nicht auf die Intention von Aussagen, sondern die höfisch-diskursiven Rezeptionsmöglichkeiten beziehen. 4 »Gwî von Gâlois bin ich genant« (V. 1574). Zitierte Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, Wigalois, hrsg. von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005. Auch Jaeger versteht die Umbenennung und das Spiel mit der Identität als poetologisches Programm für die Rezeption des Wigalois im Widuwilt: »Der Erzähler spielt offenbar mit den Erwartungen der Rezipienten und schafft durch die Umbenennung des Protagonisten zudem erzählerische Freiräume, die es ihm erlauben, an der einen oder anderen Stelle vom Erzählprogramm des Wigalois abzuweichen«; Jaeger (wie Anm. 1), 248.

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Erzählen mittelalterlicher Literatur fokussiert, andererseits das Konzept der Intertextualität aufgegriffen. Konkret sind am Beispiel des Widuwilt zwei Komplexe fraglicher Ironisierung anzusprechen, nämlich die Ironisierung von Wirnts Wigalois bzw. des intertextuellen Konzepts ›Artushof‹ zum einen und die Ironisierung christlicher Erzähllogiken und Denkschemata artushöfischer Literatur in der Bearbeitung im Dienste einer jüdischen Rezeption zum anderen. Gerade der religiöse Bezug erweist sich bei diesen Texten hinsichtlich der Frage nach der Ironie als zentral. Als Phänomen ist – wie bereits von Green formuliert – Ironie kaum gegenüber anderen Formen des verkehrenden und distanzierenden Witzes abgrenzbar.5 Zudem tritt das Phänomen Ironie als relationales auf, denn nimmt man die Funktionen der Ironisierung scharf unter die Lupe, tritt auch zugleich der Ernst des ironisierten Gegenstandes in den Vordergrund. Daher scheint es bedenkenswert, ob der dialektische Zusammenhang von Ironie und Ernst nicht auch spezifisch der deutschen Geistesgeschichte geschuldet sein könnte:6 Man schreibt die deutsche Ausformung der Ironie als ironische Erzählhaltung in der Literaturgeschichtsschreibung üblicherweise den Frühromantikern zu, v. a. der Kunsttheorie Friedrich Schlegels.7 Die poetologische Form der ›romantischen Ironie‹ meint hierbei ein äußerst spezifisches Konzept einer poetischen Grundhaltung, das die Poesie essenziell mit der Philosophie zur ›progressiven Universalpoesie‹ verknüpft.8 Vergessen wird bei diesem Postulat kunsttheoretischer Ironie als Erzählhaltung allerdings in der Regel, dass diese ›romantische Ironie‹ bereits im ausgehenden 18. Jh und auch in den folgenden Jahrzehnten nicht

|| 5 Fragt man nach Ironie nicht dem Begriff, sondern der Sache nach, d. h. also nach der Ironie als Phänomen, so zeigt sich sogleich eine spezifische Unschärfe. Nicht umsonst formuliert Green, dass er keine klare Unterscheidung von Humor, Satire, Parodie usw. beabsichtige; vgl. Dennis H. Green, Irony in the medieval romance, Cambridge u. a. 1979, 10f. 6 Die Identifikation von Ironie hat unzweifelhaft auch einen deutlich nationalen Charakter, denkt man allein schon an den ›English Humour‹, die ›Ironie Française‹ und schließlich den ›Deutschen Ernst‹. Gerade diese nationale Komponente, die mit Sicherheit auch mitverantwortlich dafür ist, dass in der englischsprachigen vergleichenden Literaturwissenschaft nach dem Phänomen Ironie im romanhaften Erzählen des Mittelalters früher als in Deutschland gefragt werden konnte, beschreibt ein historisch gewachsenes Konstrukt, das es in einer hermeneutisch arbeitenden Disziplin in seiner historisch-gesellschaftlichen Entstehung zu betrachten gilt. 7 Vgl. Detlef Kremer, Art. »Literaturtheorien der Romantik«, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar 42008, 633–636. 8 Vgl. ebd., 633.

88 | Susanne Knaeble mehr verstanden wurde.9 Der Neugermanist und Literaturtheoretiker Karl Heinz Bohrer spricht dementsprechend von einem »Ironieverlust des 19. Jahrhunderts«:10 Die theoretische Ironie der Frühromantiker sei in der Philosophie einem »Ernstdiskurs« gewichen,11 die ersten »ernsten Männer hießen Fichte, Schelling, Hegel«,12 und in der Sprache des deutschen Idealismus hätten die späteren ironischen Schriftsteller Georg Büchner und Heinrich Heine schließlich den »Meistern einer nichtironischen Sprache Platz machen müssen: Richard Wagner und Friedrich Hebbel«.13 Bemerkenswerterweise schließt Bohrer seine Analyse mit einer Begründung der Dominanz des Ernstdiskurses im 19. Jh., nach welcher Philosophie und Dichtung mit einer neuen Sprache der Religiosität überformt worden seien, und zitiert hierzu Schelling: »Die deutsche Nation ist ihrem innersten Wesen nach religiös«.14 Aufschlussreich erscheint dieser Zusammenhang insbesondere deshalb, weil auch die sich im 19. Jh. konfigurierende Germanistik ein spezifisch ernstes Religionsbild des Mittelalters hervorgebracht hat, d. h. der Religiosität mittelalterlicher Literatur wurde weitestgehend ein geradezu ›heiliger Ernst‹ zugeschrieben.15 Im Bereich des höfischen Romans wurde diese Ernsthaftigkeit der Religiosität in der Forschung bislang auch kaum in Frage gestellt; so stehen am Religiösen partizipierende Erzählstrukturen, welche die höfische Literatur intensiv nutzt,16 bisher keineswegs unter Ironieverdacht. Fraglich scheint daher, ob die gegenwärtige Vorstel-

|| 9 Vgl. Karl Heinz Bohrer, »Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes: Das Problem«, in: ders. (Hrsg.), Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes, Frankfurt a. M. 2000, 11–35, hier: 13. 10 Ebd., 17. 11 Vgl. ebd., 13: »Der Ernstdiskurs vereinnahmte sozusagen die Ironie selbst in apologetischer Absicht als philosophisches Theorem! Das Nichtverstehen der Schlegelschen Ironie stellt den besonderen Fall des generellen Syndroms dar: Ironische Sprache verschwindet aus der deutschen Literatur«. 12 Ebd., 22. Oder wie Heinz Dieter Kittsteiner es formuliert: »Hegel kritisiert die romantische Ironie; er wird aber selbst zum geschichtsphilosophischen Ironiker. Er wirft den Romantikern mangelnden Ernst im Umgang mit der Welt vor – ist aber weit entfernt davon, das Handeln der Menschen ernst zu nehmen. Vielmehr könnte man umgekehrt sagen: Hinter der romantischen Ironie steht ein verzweifelter Ernst«; Heinz D. Kittsteiner, »Erkenne die Lage. Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken«, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes, Frankfurt a. M. 2000, 233–252, hier: 239f. 13 Bohrer (wie Anm. 9), 27. 14 Ebd., 33. 15 Auch Greens Auswahl seiner Untersuchungsgegenstände zeigt, dass dem mittelalterlichen Roman in der Forschung in der Regel Ironie nur an den Stellen zugestanden wird, an welchen er Profanes thematisiert; vgl. Green (wie. Anm. 5). 16 Vgl. hierzu Susanne Knaeble, Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ›Parzival‹, Berlin, New York 2011 (TMP 23).

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lung von der Ernsthaftigkeit des Religiösen in der mittelalterlichen Literatur nicht noch immer auf einem tradierten Mittelalterbild des 19. Jh. gründet, das dem Religiösen eine unantastbare Heiligkeit attestiert und einen eher spielerischen Umgang der Dichtung mit dieser Thematik exkludiert. Die jüngsten Untersuchungen zur Ironie im Mittelalter von Gerd Althoff und Christel Meier geben diesbezüglich entscheidende Anreize, den Ernst des Mittelalters im Umgang mit dem Religiösen in Frage zu stellen.17 Althoff und Meier behandeln zwar nicht die Ironie im höfischen Roman, dafür aber den hier zentral anschlussfähigen Komplex der »Ironien der Heilsgeschichte«:18 Ironische Aussagen werden in heilsgeschichtlichen Zusammenhängen v. a. zwischen den Testamenten des Alten und Neuen Bundes getroffen; Ironien treten insbesondere an den Stellen hervor, in denen Antagonismen zutage treten und die Aussagen der Protagonisten dementsprechend als doppelsinnige erscheinen.19 Althoff/Meier verstehen Ironie als »fast so etwas wie der fünfte Schriftsinn oder eben eine eigene Spezies der Allegorie (wie auch die Rhetorik sie bestimmt hatte)«.20 Sie kommen in ihrer Darstellung zu dem Schluss, dass die »literarische Textproduktion« im Mittelalter (insbesondere in Form der Bibelallegorese) [...] nicht nur eine enorme Zahl von ironia-Belegen auf[weist], sondern [...] seit dem Hochmittelalter [...] eine ganz neue Anwendung in typologisch-heilsgeschichtlichen Zusammenhängen [entwickelt], in denen semantische Umkehrungen der ironischen Inversionen in heilsrelevante Ernstformen vorgenommen werden, die Gottes Ironie in gnaden21 hafte Erlösung verwandeln.

Ernst und Ironie treten hiernach also auch in Formen des Religiösen in ein folgenreiches Spannungsverhältnis. Die Fragerichtung dieser Studie nach Eschatologie und Ironie sowie nach der Bedeutung der Intertextualität in diesem

|| 17 Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011. Althoff/Meier thematisieren Ironie in zwei Formen: als Mittel der mündlichen Kommunikation, im Sinne einer omnipräsenten Umgangsform, und als literarische Strategie, womit eine elaborierte Form der Literatur gemeint ist. Ironie als Rhetorik verstehen sie einerseits begrifflich als »literarische Doktrin« (ebd., 16) des Mittelalters, andererseits wird das Phänomen Ironie zugleich als literarische Vertextungsstrategie begriffen, womit v. a. Gattungsfragen, Autorpositionen, Intertextualität und ironische Zitattechniken angesprochen sind. Ziel der Untersuchung ist es, die in der Forschung bislang unbeachtet gebliebene Ironiekompetenz mittelalterlicher Autoren und das vorausgesetzte Ironieverständnis bei den jeweiligen Rezipienten sichtbar zu machen. 18 Ebd., 39–58. 19 Vgl. ebd., 39. 20 Ebd., 54. 21 Beide Zitate ebd., 219.

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Zusammenhang wird im Folgenden als Anstoß begriffen, diesem Konnex auch in dem stark heilsgeschichtlich orientierten Erzählen des Wigalois22 bzw. konkret in seiner westjiddischen Fassung des Widuwilt nachzugehen.23 Besonders aufschlussreiche Untersuchungsgegenstände sind Änderungen in der Erzählstruktur, der Motivik oder gar ganze Umarbeitungen der Handlung.

|| 22 Im Wigalois fungiert der Protagonist augenscheinlich deutlicher als in anderen Artusromanen als ›Werkzeug Gottes‹, er wird nachdrücklich als Erlöser inszeniert. Vgl. hierzu auch Cora Dietl, »Wunder und zouber als Merkmal der âventiure in Wirnts Wigalois?«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, Tübingen 2003 [SIA 5], 297–311, hier: 309: »Der Ritter mit dem Fortunarad und sein Schicksal sind offensichtlich ›von oben‹ gelenkt. Fragt man, auf welches Ziel hin er gelenkt wird, so bieten sich zwei Antworten an: (1) Die Wiederherstellung der kosmischen Ordnung. Wigalois wird wiederholt als der von Gott gesandte Erlöser dargestellt […]«. 23 Von der bislang die Forschung dominierenden Fragestellung, ob mittelalterliche Autoren überhaupt über eine bedeutende Ironiekompetenz verfügen, werde ich hierbei deutlich abweichen. Denn dies scheint mir bereits hinreichend belegt: erstens durch Green (wie Anm. 4), der zu Recht sagt, Autoren der höfischen Literatur seien rhetorisch gebildet und daher auch mit der Ironie vertraut (vgl. 18), sowie zweitens durch Althoff/Meier (wie Anm. 17), indem sie Ironie auch als genuin literarisches Phänomen in ironieaffinen Gattungen behandeln (vgl. 151–200); drittens wurde bereits gezeigt, dass Wirnt von Grafenberg im Besonderen über Ironiekompetenz verfügte. Christoph Fasbender hat auf die exzeptionelle Funktion ironischer Kommentare innerhalb der Ausdifferenzierung von Autor- und Erzählerrolle im Wigalois hingewiesen, in welcher u. a. der Erzähler Wirnt den Dichter Wirnt mit einem Scherz zu ironisieren vermag; vgl. Christoph Fasbender, Der ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung, Berlin, New York 2010, 137. Speziell zum Widuwilt liegen keine Untersuchungen zur Ironie vor. Generell ist der faktisch singulär in jüdisch-deutscher Sprache überlieferte Artusroman, der für ein jüdisches Publikum produziert wurde, wohl nicht allein aufgrund eines altgermanistischen Desinteresses an jiddischer Literatur, sondern auch aufgrund seiner Überlieferung in hebräischen Lettern von der Forschung kaum wahrgenommen worden. Zu Beginn der Fachgeschichte der Germanistik, bis in die 1840er Jahre, haben sich von der Hagen und andere mit jüdisch-deutscher Literatur beschäftigt, danach blieb der Widuwilt weitestgehend unbeachtet. Die wohl bislang bedeutendste Monographie stammt von Achim Jaeger aus dem Jahr 2000. Er beschäftigt sich mit dem christlich-jüdischen Literaturtransfer und dem kulturell-religiösen Kontext, der diesen Transfer bedingt und ermöglicht; vgl. Jaeger (wie Anm. 1). Jaeger fragt konkret, »welche möglichen Anreize es überhaupt für die Rezeption eines Artusromans in jüdischen Kontexten gegeben haben könnte« (15). Er kommt hierin – ähnlich wie Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61) – zu dem Ergebnis, dass es einen lebendigen wechselseitigen Literatur- und Kulturtransfer von jüdischen und christlichen Rezipienten während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gegeben hat; vgl. Jaeger, 399. Zur ausführlichen Darstellung der Überlieferungs- und Forschungsgeschichte des Widuwilt vgl. ebd., 29–91.

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Solche wesentlichen Änderungen gegenüber der Vorlage,24 die gleichsam eine Verlagerung von rezeptionsbezogener Ironie im Text erwarten lassen, sind augenfällig, z. B. in Form der geringeren Ausdifferenzierung der Erzählinstanz im Widuwilt: Während im Wigalois gerade die Kommentare der Erzählinstanz als ironisch beschreibbar sind,25 sind Erzählerkommentare im Widuwilt verhältnismäßig reduziert, und ironische Darstellungen finden sich stärker auf der Handlungsebene wie z. B. in der Darstellung des Figurenhandelns konzentriert. Auch die Aussparung der Namurepisode des Wigalois fällt ins Gewicht, sodass rezeptionsbezogene Ironisierungen nicht etwa auch auf politisches Handeln, sondern ganz zentral auf Bewährung als Erzählstruktur der Artusromane ausgerichtet sind.26 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Erkenntnisinteresse an der Funktion der Ironisierung im intertextuellen Kontext spezifizieren: Diese Untersuchung zielt somit nicht auf vom Autor deutlich eingefügte oder aber subtile Ironiesignale des Textes; vielmehr soll versucht werden, auf Textebene Strukturen der Ironisierung sowohl im Gattungskontext als auch im religiösen Kontext aufzudecken, welche als ironische Distanzierung beschreibbar sind und die Rezeptionsmöglichkeiten im Besonderen belangen. Zentral ist hierbei die Inblicknahme der narrativen Gestaltung, um die kommunikative Funktion von Ironie im Widuwilt als Rezeption des Wigalois beschreiben zu können. Mit der Formulierung einer ›kommunikativen Funktion‹ soll zugleich deutlich gemacht werden, dass Ironie als erzählerisches Mittel fungiert, um durch Verkehrung etwas anderes, vielleicht verborgenes beobachtbar zu machen. Ich plädiere || 24 Vgl. hierzu auch Carola Gottzmann, Artusdichtung, Stuttgart 1989 (Sammlung Metzler 249), v. a. 194f.: »Nicht nur der Vergleich des Umfangs zeigt, daß im Jiddischen erhebliche Umformungen vorgenommen wurden [...], sondern auch die Handlungsfolge sowie der Tenor der Dichtung wurden verändert. Das Werk stellt aber keine Kurzfassung dar, vielmehr kann es als eine eigenständige Bearbeitung der Wirntschen Dichtung gelten. [...] Die Veränderungen in der Handlungsstruktur sind so vielzählig, daß eine neue Konzeption intendiert ist. Die religiösen Anschauungen des Wirntschen Textes, wonach Wigalois als miles christianus in der Nachfolge Christi dargestellt ist, waren aus jüdischer Sicht unannehmbar«. 25 Vgl. Fasbender (wie Anm. 23), v. a. 137. 26 Vgl. Jaeger (wie Anm. 1), 168: »Wirnt folgt im Wigalois zwar nicht explizit dem Symbolaufbau des Erec und Iwein oder der von Chrétien experimentell konzipierten Doppelwegstruktur, doch sind auf dem gestuften Weg des Protagonisten Doppelungen und Korrespondenzen einzelner Episoden vorhanden. So sind die Gawein-Geschichte und die Gwigalois-Geschichte aufeinander bezogen, und die Gwigalois-Geschichte selbst enthält Doppelungen. Gwigalois durchläuft den Handlungsweg als miles christianus, wobei die Korntin-âventiure den definitiven Bezug des Erzählens darstellt. Auf dem âventiure-Weg steigern sich die Gegner ebenso wie die Kräfte des Helden, der tendenziell zu einem ›Heiligen‹ stilisiert wird. [...] Der Held bewegt sich von der literarischen Ebene des Artushofes (literarisierte Ritter) über eine religiöse (›teuflische Gegenwelt‹) bis zur ›historischen‹ Ebene (Namur, Friedensherrschaft)«.

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daher im Kontext der gegebenen Fragestellung für folgende (Arbeits-)Definition von Ironie: Als Ironie wird eine spezifisch narrative Strategie verstanden, die durch verkehrende oder entstellende Veränderung eine Distanz zwischen der Erzählinstanz und ihrer Darstellung schafft und zugleich als Vermittlung zwischen Text- und Rezeptionsebene fungiert. Der Akt der Ironisierung bezeichnet dementsprechend eine doppelt codierte Perspektivierung: die Perspektivierung eines intertextuellen Kontextes, die eine nicht offen zu Tage tretende Beobachtungsmöglichkeit für den Rezipienten entschleiert. Mit dieser Definition der doppelten Codierung soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Ironisierung artushöfischer Erzählstrukturen im Widuwilt nicht um irgendeine Ironisierung der Vorlage handelt, sondern dass diese Ironisierung in besonderer Verbindung zum Religiösen steht: zur jüdischen Rezeption eines exzessiv christliche Motive und Strukturen nutzenden höfischen Romans. Konkreter Gegenstand der Untersuchung sind erstens Textstellen, in welchen nicht nur der Artushof des Widuwilt gegenüber dem Artushof des Wigalois verändert wird, sondern auch der intertextuelle Bezugsrahmen ›Artuswelt‹, an welchem der Wigalois intensiv partizipiert und der im Widuwilt einer ironisierenden Veränderung unterliegt. Zweitens gilt es, die ironischen Veränderungen eines populären höfischen Erzählschemas herauszuarbeiten, nämlich die Ironisierung der Erlösungsstruktur, basierend auf der Annahme, dass die höfische Literatur des Mittelalters nicht nur die Gestaltung des Religiösen überformt, sondern eben selbst auch an religiösen Denkmustern partizipiert. Hierbei gehe ich gerade im Kontext des in der Forschung von Althoff/Meier bereits gut beleuchteten Zusammenhangs von Ironie und Heilsgeschichte der These nach, dass, gerade weil im Widuwilt die Grenze zur schärferen und offeneren Polemik im Religiösen nicht überschritten wird, die Identifikation von Ironie im Umgang mit christlichen Erzählstrukturen und -motiven in der jüdischen Bearbeitung nicht unbedingt als Gegensatz zu einer Anschlussfähigkeit des Textes für jüdische und christliche Rezipienten zu begreifen ist. Als Unterscheidungskriterium für die auf Intertextualität basierende Ironisierung artushöfischer Erzählstrukturen gegenüber der ironischen Distanzierung von christlichen Vorstellungen bietet sich die Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdironie an.27 Als Selbstironie lassen sich in diesem Sinne Änderungen der Konzeption des Artushofes im Widuwilt im Vergleich zu Wirnts Wigalois bzw. zur intertextuellen Konzeption des Artushofes in der hochhöfischen Literatur begreifen. Als Fremdiro-

|| 27 Auch die antike Rhetorik, wie beispielsweise bei Tryphon belegt, unternimmt bereits eine Unterscheidung von Fremdironie und Selbstironie. Vgl. Weinrich (wie Anm. 2), 577f.

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nisierung sind Umgestaltungen des Textes zu verstehen, die dezidiert auf die Änderung der religiösen Konzeption zielen. Diese analytische Differenzierung erweist sich jedoch nur für die Ebene der Handlungssequenzen und Motivkomplexe als einigermaßen trennscharf, auf der Ebene der komplexeren Erzählkonfiguration, wie z. B. der Ausgestaltung der Erlösungstat, greifen Artushöfisches und Religiöses unmittelbar ineinander.

2 Gattungsbezogene Selbstironie Bereits in der Einführung des Artushofs in die Handlung weist die Darstellung im Widuwilt eine konzeptionelle Änderung auf, welche markiert, dass der Artushof als intertextuelles Konzept vorgestellt wird. Es handelt sich dabei um die Umwandlung einer ›Sitte‹ (im Sinne von ›Gewohnheit‹) in eine rechtliche Verpflichtung, die auf den ersten Blick zwar als marginal erscheinen mag, jedoch im Gattungskontext ein spezifisch literarisches Selbstverständnis des Textes offenbart. Wirnts Wigalois reformuliert den artushöfischen Topos: Nu hêt der künic einen sit – dâ was sîn hof getiuret mit – daz er ze tische nie gesaz des morgens, ê er eteswaz von âventiure hêt vernomen. (Wigalois, V. 247–251) Nun hatte der König eine Gewohnheit – wodurch sich sein Hof auszeichnete –, dass er sich niemals morgens zu Tisch setzte, bevor er nicht irgendetwas von Aventüre vernommen hatte.

Die Bearbeitung des Widuwilt verschärft diese sit erheblich: ess wor och ein recht on dem hof: er wer riter oder grof, un och der kinig selbert un di kinigin fein un al, di auf dem hof mochten sein, do wor keiner, der sich durft formeßen zu trinken oder zu essen, forwor ich eich dos sog, bis mon erscht hort neie mer ale tog. un wer dos gebot ibertret, der must forliren sein leben, un het er al der welt gut zu geben. (Widuwilt, 5) Auch gab es am Hof ein Recht: Keiner, weder Ritter noch Graf, nicht einmal der König selbst und die edle Königin, noch irgendjemand, der sich am Hofe aufhielt, durfte sich he-

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rausnehmen, zu trinken oder zu essen – das sage ich euch wahrhaftig –, bevor man nicht täglich eine neue Geschichte vernommen hatte. Und wer dieses Gebot übertrat, der musste sein Leben verlieren, auch wenn er alle Schätze der Welt zu vergeben hätte.

Das recht betrifft also alle, die sich bei Hofe aufhalten, und die Missachtung des Gesetzes ist mit der Todesstrafe versehen. Diese Verschärfung ist im Sinne einer doppelt codierten Perspektivierung insofern als Ironisierung beschreibbar, als die Rezeption des intertextuellen Konzepts ›Artushof‹ als Anforderung einer spezifischen Interpretationsleistung vorausgesetzt ist. Für den Rezipienten wird auf diese Weise eine Form der Selbstreferentialität artushöfischen Erzählens einsehbar: Die Lebensfähigkeit des (literarischen) Artushofes ist abhängig vom Erzählen. Das Erzählen am Artushof und – mit autoreferentiellem Bezug – über den Artushof wird zur existen28 tiellen Größe. Ein Verstummen bedeutet den Tod der arthurischen Gesellschaft.

Für das Konzept ›Artushof‹ im Widuwilt bedeutet dies, dass sein Fiktionalitätsstatus markiert und herausgestellt wird, indem der Text eine Ebene der Distanzierung – gewissermaßen eine Beobachterebene zweiter Ordnung für die Beobachtung der gattungskonstitutiven artushöfischen Konzeption – installiert.29 Selbstverständlich ist Fiktionalisierung nicht ohne weiteres mit Ironisierung gleichzusetzen. Allerdings macht diese Ausstellung des Fiktionalen in der Verknüpfung mit der Todesstrafe eine derartige Überspannung des Topos einsehbar, dass die Markierung des Artushofes als eines literarischen Artushofes aus der Beobachtung zweiter Ordnung jeglicher Ernsthaftigkeit beraubt scheint und man, bei aller Vorsicht im Umgang mit der Begrifflichkeit, wohl durchaus von einer auf den Rezipienten ausgerichteten ironischen Distanzierung sprechen darf.30 Folgt man dieser Lesart, so fungiert die Wahrheitsbeteuerung der Erzählinstanz als weitere Markierung der ironischen Distanzierung. Für diese Art der Ironisierung lassen sich allerdings freilich keine ›harten Kriterien‹ festmachen, da deren Erkennen unmittelbar mit dem Interpretationsakt und den Kenntnissen der Gattungskonventionen der Rezipienten verknüpft ist. Unstrittig scheint || 28 Jaeger (wie Anm. 1), 220. 29 Mit Green (wie Anm. 4) wäre ein solch ironisches Phänomen auch als »structural irony« zu bezeichnen. 30 Vgl. auch Wulf-Otto Dreessen, »Wigalois – Widuwilt. Wandlungen des Artusromans im Jiddischen«, in: Astrid Starck (Hrsg.), Westjiddisch. Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Le Yiddish occidental. Achtes du Colloque de Mulhouse, Aarau u. a. 1994 (Sprachlandschaft 2), 84–98, hier: 88: »Von Aventiure als dem täglichen Brot, dem ideellen Lebenselixier des Artuskreises bleibt keine Spur, stattdessen wird durch parodistische Übersteigerung seine märchenhafte Ferne verstärkt«.

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hingegen, dass die jüdisch-deutsche Bearbeitung gleich zu Beginn deutlich macht, dass sie einen spielerischen Umgang mit den artushöfischen Konventionen und Sozialformen pflegt.31 Sehr viel deutlicher tritt Ironie in einer verkehrenden Darstellung des Artushofes im gattungskonventionellen Kontext zutage, in welcher einsehbar wird, dass die Artusritter im Widuwilt genau das Gegenteil von jener Tugendhaftigkeit repräsentieren, wofür sie eigentlich stehen: Sie sind feige anstatt tapfer, scheuen die Aventüre und beraten ihren König überdies noch schlecht. Als ein unbekannter Ritter32 der Königin einen Gürtel anbietet, raten alle Artusritter außer Gabein zur Annahme des Gürtels.33 Allein Gabein ist um die Ehre der Königin besorgt (Widuwilt, 17), und er erteilt Artus sogar Nachhilfe in Sachen herrscherlicher Pflichten: ich mein, doss es eier meisstat besser onzeme, dos ir goben gebt un keine neme, wen in alen landen seit ir gelobt un geert, kinig Artiss, der hochgeboren kinig werd. (Widuwilt, 17) Ich meine, dass es Eurer Majestät besser ziemen würde, wenn Ihr Gaben verteilt und keine annehmt, denn in allen Landen werdet Ihr, König Artus, als hochgeborener und edler König gelobt und geehrt.

Im Wigalois fungiert Gawein als Repräsentant der Artusritterschaft, wohingegen Gabein sich im Widuwilt durch seine Tugendhaftigkeit gerade von ihr abgrenzt:

|| 31 Auf den spielerischen Umgang hat auch Jaeger bereits hingewiesen, allerdings sieht er hierin weniger eine ironieverdächtige Überziehung artushöfischer Konventionen als eine Christentum und Judentum verbindende Vorstellung über den Zusammenhang von Speise und heiligem Wort: »Konnotiert die Nahrungsthematik (›Brot des Lebens‹) im Wigalois durchaus das christliche Motiv der Eucharistie, so ist auf eine ganz ähnliche Vorstellung vom ›Essen des Wortes‹ (bzw. der Schrift) im Judentum hinzuweisen: Anlässlich der Einschulung in den Cheder, die Elementarschule, wurde ein Knabe vom Vater in die Schule getragen, wo er eine Schiefertafel erhielt, auf der die Buchstaben des hebräischen Alphabets aufgeschrieben waren und die mit Honig bestrichen war. Diese durfte der Junge ablecken, womit ihm das Lernen ›versüßt‹ wurde«; Jaeger (wie Anm. 1), 220. Wenngleich Jaegers Kontextualisierung interpretativ durchaus reizvoll ist, so erscheint mir diese die Ernsthaftigkeit des Religiösen betonende Lesart sowohl für den Wigalois als auch für den Widuwilt nicht weniger spekulativ als die Annahme einer im Gattungskontext Ironie erzeugenden Darstellung. 32 Im Wigalois handelt es sich hierbei um die Figur des Joram. 33 Auch im Wigalois ist es Gawein, welcher der Königin von der Annahme des Gürtels abrät. Der wesentliche Unterschied zum Widuwilt besteht nun aber darin, dass die Königin im Wigalois Gawein explizit alleine und in seiner Funktion als herausragender Artusritter zu sich ruft, um ihn um seinen Rat zu fragen.

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Gabein muss seinen König offenkundig an seine soziale Stellung sowie an die vasallitische Konvention erinnern, nach welcher der Akt des Gebens Symbol der herrscherlichen milte ist und die Annahme von Geschenken als Ausdruck des Untergebenseins fungiert.34 Doch nicht nur König Artus wird den bekannten artushöfischen Tugenden nicht gerecht,35 auch seine Ritter zeigen ein äußerst ungewöhnliches Verhalten, indem sie auf die Herausforderung des unbekannten Ritters zum Kampf mit Ablehnung reagieren und Gabein unsolidarisch zum alleinigen Verantwortlichen für den Kampf machen: do antworten di riter al gemein mit einem schal: her, het ir gefolget unserm rot, aso kemt ir izund nit in disen schpot. mir kumen mit uns alen dem edeln kinig zu gefalen, zu fechten um sein er, ess sei gleich wu ess wer; ober dis mol scheiden mir dorfon, ir het nit solen folgen einem einzigen mon. (Widuwilt, 23) Da antworteten die Ritter alle zugleich in einem Ausruf: ›Herr, wäret Ihr unserem Rat gefolgt, dann wäret Ihr nun nicht diesem Spott ausgesetzt. Wir kamen alle, um dem hochgeborenen König zu gefallen und um seine Ehre im Kampf zu verteidigen, ganz gleich gegen welchen Gegner. Aber dieses Mal werden wir das nicht tun, denn Ihr hättet nicht dem Rat eines einzigen Mannes folgen sollen‹.

Auf die Artusritter fällt allein schon deshalb ein schlechtes Licht, weil sie keine Argumente anbringen, sondern über einen bloßen Mehrheitsentscheid argumentieren36 und den Kampf um Artus’ Ehre verweigern. Die Darstellung ihrer enormen Feigheit wird im Fokus intertextueller Bezüge sogar noch gesteigert,

|| 34 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Gabe und Herrschaftsanspruch Marion Oswald, Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur, Göttingen 2004 (Historische Semantik 7). 35 Jaeger (wie Anm. 1), 223, beurteilt Artus hier als ambivalente Figur: »Die Charakterisierung des Königs erscheint hier ambivalent: relativ unsicher und geschwächt, in existentiellen Fragen von der Unterstützung seiner zahlreichen Ratgeber abhängig, vielleicht aber auch nur besonnen und vorsichtig«. Ich meine jedoch, dass die relativ deutliche Stellungnahme bzw. gar Zurechtweisung der Königin und des Königs durch Gabein im Widuwilt die Herrschaftsträger des Artushofs weit mehr in ihrem höfischen und herrschaftlichen Status demontiert, als Jaeger hier annimmt. 36 Die Entscheidung nach der Mehrheit gilt für die vasallitische Artusgesellschaft schließlich nicht als Norm.

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denn im Widuwilt sind die Ritter nicht nur als ›feige Hasenfüße‹, die am Rande des Turnierplatzes stehen, gezeichnet, sondern sie begeben sich zudem, wie es üblicherweise Art der Frauen ist, auf die Zinnen, um dem Treiben von oben zuzusehen: do gingen ale riter zuhant oben on die zinen schten un wollten sehen, wi ess im wert gen. (Widuwilt, 25) Da gingen alle Ritter sofort, um oben an den Zinnen zu stehen. Sie wollten beobachten, wie es ihm ergehen würde.

Indem die Artusritter sich wie durch Gewaltunfähigkeit definierte höfische vrouwen vom Kampfgeschehen in den sicheren Abstand einer beobachtenden Position bringen, wird das Bild des tapferen Artusritters ironisch in sein Gegenteil verkehrt. Diese Darstellung ist als gattungsbezogene Selbstironie zu bezeichnen, da es sich um eine spezifische Änderung des Widuwilt gegenüber dem Wigalois handelt: In Wirnts Wigalois sind die Artusritter keineswegs feige, vielmehr sind alle Ritter kampfeswütig und verlangen in dem Moment, in dem sie den Herausforderer erblicken, nach Schild, Lanze, Harnisch und Ross (Wigalois, V. 445–448). Die Erzählinstanz führt namentlich Keie, Didones, Segremors und Meljanz an und schließt die Kampfdarstellung mit der Bemerkung, dass die gesamte »tugenthafte schar / von der tavelrunde« (Wigalois, V. 471f.) die Tjost reitet und sieglos bleibt. Doch diese Niederlage der Artusritterschaft bleibt bei Wirnt letztendlich kein Zeichen der Ehrlosigkeit, da Joram Gawein später das Geheimnis des Gürtels, die Unbesiegbarkeit seines Trägers, verrät. Die Figur des Gabein ist im Widuwilt mindestens ebenso hervorgehoben wie Gawein im Wigalois. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass sich die Exzeptionalität Gabeins gerade nicht aus seiner Funktion als bester Artusritter, sondern als Vater ableitet. Dies zeigt sich insbesondere in jener Episode, in welcher Widuwilt bereits am Artushof aufgenommen ist und der König angewiesen hat, ihn im ritterlichen Treiben sowie im Schreiben und Lesen37 zu unterrichten. In diesem Zusammenhang findet erneut eine Demontage des Artushofs statt, denn Widuwilt kann vom Artusritter Gabein, anders als Gwigalois von Gawein,38 nichts mehr lernen, da er alles Ritterliche und Höfische

|| 37 Diese Angabe fehlt im Wigalois. 38 »her Gâwein underwant sich sâ / des knaben mit sîner lêre; / des gewan er vrum und êre« (Wigalois, V. 1601–03).

98 | Susanne Knaeble bereits von seinem eltervoter beigebracht bekommen hat.39 Während nun der Artusritter Gawein gerade in der Unwissenheit um die Vater-Sohn-Beziehung auch für den Hof Ehre gewinnen kann, indem er Gwigalois unterweist und integriert, so hat im Widuwilt ausnahmslos die Familie Widuwilts an der Tapferkeit des Knaben teil. Aus Sicht des Rezipienten wirkt Gabein sogar noch aktiv an der Diskreditierung des Artushofs mit, indem er im Unwissen darüber, dass Widuwilt sein Sohn ist, vor den König tritt und folgende Worte an ihn richtet: kein selchen riter ich ni sach as widuwilt is, der junge mon, den ich solt gelernt hon. dos kann er forher besser also fil, mer als ich sogen kann oder will. derzu hot er monheit un grosse kraft, er is ein blum aler riterschaft. er mus gewiss sein einess mechtigen kinigss kint, ale riter auf disem hof sein kegen im ein wint. (Widuwilt, 77f.) Ich habe noch niemals einen solchen Ritter wie den jungen Widuwilt gesehen, den ich unterweisen sollte. Doch alles beherrscht er schon zuvor, besser, als ich es zu sagen oder zu wünschen vermag. Darüber hinaus besitzt er Tapferkeit und sehr viel Kraft. Er ist eine Blume der gesamten Ritterschaft. Gewisslich ist er das Kind eines mächtigen Königs. Kein Ritter auf diesem Hof ist mit ihm vergleichbar.

Aufgrund des Mehrwissens des Rezipienten um die Vaterschaft Gabeins tritt in dessen Worten ein höhnischer Spott gegenüber Artus zutage, welcher insofern eine ironische Darstellung des Artushofes einsehbar macht, als allein aufgrund der doppelten Perspektivierung Gabeins Exponierung als Vater und eben nicht als Artusritter erkenntlich ist: Gabein bleibt der Beste, jedoch eben nicht als Artusritter. Das Erzählmittel der Ironisierung fungiert hier als verhüllende Demontage Artus’ und mit ihm seiner Ritterschaft. Auch Widuwilt selbst exponiert sich gegenüber dem Artushof schließlich im selben Maße wie sein Vater, als die (in diesem Text namenlos bleibende) Jungfrau mit dem Zwerg an den Hof kommt, Artus um Hilfe für ihre Herrin bittet und keiner der Artusritter die Aventüre annehmen will. Im Wigalois bereitet der junge Ritter dem König aufgrund seines Ungestüms, mit welchem er die Herausforderung an sich gerissen hat, sowie wegen seiner Unerfahrenheit großen Verdruss (Wigalois, V. 1800–04). Im Widuwilt hingegen bedarf es eines solchen || 39 »wen in nun riter Gabein, / der edle foter sein, / wolt lernen schtechen un turnirn, / so kont erss besser as seiner firn / un mer als ale riter, di do woren; / so wor er in alen riterschpil erforen. / den er hot ess doheim fun seinem elterfoter gelernt also« (Widuwilt, 77).

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Vordrängens des Helden gar nicht erst, denn keiner der Artusritter konkurriert mit ihm um die Aventüre; am Hof herrscht keinerlei Kampfbereitschaft. Artus schickt einen Herzog zu den Rittern, um ihnen die Bitte der Jungfrau um Hilfe gegen den Riesen Luzifer und seine zauberische Mutter vorzutragen. Die Ritter zeigen sich abermals feige und antworten ihm: si wolten gor nit mit ir reiten un mit keinem teifel schreiten. derweil er einem ganzen kinigreich also hot geton, wie kent den for im beschten ein einziger mon? (Widuwilt, 92) Sie wollten nicht mit ihr mitreiten und auch gegen keinen Teufel den Kampf aufnehmen. Wenn er einem ganzen Königreich derart überlegen war, wie sollte dann gegen ihn ein einziger Mann bestehen?

Auf Rezipientenebene mag eine solche ironische Verkehrung artushöfischer Tapferkeit durchaus zum Lachen reizen, doch auf Handlungsebene wird daraus bitterer Ernst im Sinne eines großen Ansehensverlustes des Königs und seiner Ritter, denn die Jungfrau spricht in Folge der Ablehnung ihres Hilfegesuchs Artus alle Ehre ab und verkündet, dass sie seine Schändlichkeit in allen Landen verbreiten wird: ess is sicher gelogen durch ale landen weit, wos mon fun kinig Artiss sogt is kein worheit. pfui dich on kinig Artiss un al dein reken, ir derft nit ein maus aufweken. ich will ausbreiten dein laßter un dein schant iberal, wu ich kum in di lant. (Widuwilt, 93) Ganz offensichtlich ist eine Lüge in allen Landen verbreitet, denn das, was man über König Artus berichtet, entspricht nicht der Wahrheit. Pfui auf dich, König Artus, und alle deine Helden, ihr würdet nicht einmal eine Maus aufschrecken. Ich werde überall, wohin ich in die Lande komme, deine Schmach und Schande verbreiten.

Der Artushof büßt also im Widuwilt deutlich nachhaltiger seine Idealität,40 seinen Rang der höchsten Ritterschaft und den Status als Sitz weltlicher Ehre ein.41

|| 40 Ohne allzu sehr auszuholen, sei an dieser Stelle kurz erklärt: Mit der ›Idealität des Artushofs‹ ist nicht gemeint, dass der Artushof in den entsprechenden Texten tatsächlich als Ideal vorgestellt wird. In den meisten Fällen befindet er sich entweder selbst in einer Krise (z. B. im Parzival) oder die Krise des Helden belangt den Hof gleichermaßen (z. B. in den Artusromanen Hartmann’scher Prägung). Mit ›Idealität‹ ist folglich die Imaginationsfolie gemeint, auf welcher ein krisenhafter Status überhaupt erst entworfen werden kann.

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Für sich genommen ist diese Feststellung natürlich noch nicht Grund genug, um von einer ironischen Darstellung auszugehen. Von einer gezielt auf die Rezeption des Textes zielenden Ironie zu sprechen, scheint hingegen dadurch gerechtfertigt, dass gerade die jüdische Rezeption eine spezifische ›Christianisierung‹ der Erzählung vornimmt, wodurch eine religiöse Distanzierung angelegt und Ironie in besonderer Weise ermöglicht wird. Der Artushof im Widuwilt ist nicht wie in Wirnts Text der üblicherweise gezeichnete gesellschaftliche Ort der besten Ritter und schönsten Frauen, sprich: ein Ort des höfischen Adels. Am Artushof des Widuwilt ist ausdrücklich auch der Klerus zugegen: Teil der Hofgesellschaft sind neben den üblichen »edlen riter un grof« namentlich »gor fil ept un bischof un prelaten« (Widuwilt, 2), und der Artushof wird zu »pfingsstenzeiten« (Widuwilt, 3)42 in die Handlung eingeführt. Die christlich-kirchliche Rahmung gehört hier in einer Art und Weise zur Zeichnung des Schauplatzes Artushof, die so weder Teil der aus der hochhöfischen Literatur bekannten Konstitution des Artushofs ist noch markanter die Funktion erfüllen könnte, Distanz zu den bekannten Darstellungskonventionen zu generieren.43 Diese Distanzierung markiert bereits einen Übergang von gattungskonventioneller || 41 In der weiteren Handlungsfolge hat diese Demontage des Artushofs überdies zur Konsequenz, dass auch die Identitätskrise Widuwilts wesentlich abgeschwächt ist gegenüber derjenigen Gwigalois’: Widuwilts Identität ist nicht vom Artushof abhängig. Vgl. hierzu auch Dreessen (wie Anm. 31), 91: »Widuwilt beherrscht das Ritterhandwerk bereits auf das Vollkommenste. Erst als er vom Artushof aufbricht, also unmittelbar vor den Bewährungsaventiuren, gibt er sich seinem Vater Gawein zu erkennen, erhält dessen Helm und lehnt es dann ab, sich weiter von ihm helfen zu lassen [...]. Hier geht es also von Anfang an um Überbietung, nicht um Identitätssuche. Schon beim Verlassen des Artushofes verfügt Widuwilt über alles, was er nötig hat, und wenn es in den vor ihm liegenden Aventiuren Steigerungen gibt, können diese nur quantitativ die jeweilige Gefährlichkeit betreffen, aber nicht mehr qualitativ den Grad der Idealität des Helden bestimmen«. 42 Christliche Feiertage wie Ostern oder Pfingsten werden im Zusammenhang mit dem Geschehen am Artushof häufig genannt, so z. B. Widuwilt, 55 und 78. Das Pfingstfest ist freilich topisch für die Darstellungskonvention des Artushofes, im Widuwilt ist es jedoch sehr deutlich als Teil der christlichen Rahmung installiert. 43 Es leuchtet wenig ein, diese auffällige ›Christianisierung‹ wie Jaeger (wie Anm. 1), 249, nicht als ein distanzierendes, sondern als ein die Rezipienten verbindendes Moment zu verstehen: »Wie zu sehen ist, stellt eine Tilgung ›christlicher Motive‹ nicht unbedingt ein zuverlässiges Kriterium in der Bearbeitung jüdisch-deutscher Texte dar. Im Gegensatz zu der in der Forschung vertretenen These ist sogar eine punktuelle ›Christianisierung‹ [...] innerhalb der jüdisch-deutschen Überlieferung feststellbar, die sehr wohl darin begründet sein kann, eine möglichst ›authentische‹ Erzählatmosphäre zu schaffen«. Die feststellbare ›Christianisierung‹ ist nämlich sehr deutlich nur auf das setting des Artushofes bezogen, andere christliche Motive, die auf die Erzählstruktur einwirken, wie z. B. das Fortunarad, wurden in der jüdischen Adaptation sehr wohl umfangreich getilgt.

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Selbstironie – jenem intertextuellen Spiel, das insbesondere auch den späteren Artusromanen zu eigen ist – zu einer Form der Fremdironie durch religiöse Überformung und Ausstellung des religiös ›Anderen‹. In diesem Zusammenhang der heiklen, weil auf die historische Rezeption ausgerichteten Unterscheidung von Selbst- und Fremdironie stellt sich nun auch zwangsläufig die Frage, welche Effekte die Ironisierung artushöfischer Erzähltopoi erzeugt, bzw. welchen möglichen Zweck sie verfolgt. Ins Zentrum der Untersuchung rücken somit jene Änderungen in der jüdischen Bearbeitung, welche die Narrationsstruktur eines im Christlichen verankerten Erzählens wesentlich verändern oder auch durch andere ersetzen.44

3 Fremdironie im Kontext jüdischer Rezeptionsmöglichkeiten In den vorgestellten Textpassagen wird deutlich, dass im Widuwilt die Demontage des Artushofs in erster Linie zugunsten der Aufwertung der Familie erfolgt. Unterstützt wird diese Beobachtung überdies durch weitere Änderungen gegenüber dem Wigalois: Widuwilts Mutter ist nicht verstorben, sondern die Familie wird wieder vereint. Auch der Kampf gegen den Lindwurm hat eine Wiedervereinigung einer Familie zur Folge, und die Schlusspartie des Widuwilt ist als eine einzige große Hochzeit – und das bedeutet hier: Familienfeier – gestaltet; kurz: die Bedeutung von Familie ist im Widuwilt immens.45 Als bemerkenswert erscheint hierbei, dass die Konzentration auf die Familie eine allumgreifende ist, denn selbst ›das Böse‹ ist in Familienstrukturen organisiert: Der gegnerische Riese hat eine Mutter, und sogar der Lindwurm, den Widuwilt erschlägt, hat Kinder (Widuwilt, 226 u. ö.). An der Aufwertung der Familie allein lässt sich || 44 Zur Beantwortung dieser Frage greife ich auf Überlegungen zurück, die ich gemeinsam mit Ralf Schlechtweg-Jahn zur Frage nach der Konfiguration des Religiösen im Widuwilt angestellt und auf der Tagung »Vergessene Texte« in Göttingen 2012 vorgetragen habe. Ein gemeinsamer Beitrag zum Widuwilt ist in Vorbereitung. 45 Auch der Wigalois thematisiert zentral Verwandtschaft, doch liegt sein Akzent sehr viel stärker auf der Begründung einer dynastischen Herrschaftslinie. Vgl. hierzu auch Jaeger (wie Anm. 1), 251f.: »Nicht allein der Widuwilt schenkt also der genealogischen Thematik durch die Aufzählung der vir Beachtung. Auch der Wigalois wurde konsequent und in größerem Umfang unter diesem Aspekt konstruiert. Ein markanter Unterschied besteht allerdings darin, daß der Wigalois den Gesichtspunkt der Dynastiebegründung stärker gewichtet, während der Widuwilt die familiäre Herkunft des Protagonisten im Zusammenhang mit der Hochzeitsthematik besonders unterstreicht«.

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jedoch noch keine Fremdironie im Dienste einer spezifisch jüdischen Rezeption festmachen, denn diese Änderung ist zwar einerseits im jüdischen Kontext deutbar, andererseits lässt sie sich ebenso dem städtischen Umfeld zurechnen, aus welchem der Text überliefert ist: Trotz der großen Bedeutung der Familie im Judentum ist die Familienthematik im Widuwilt in ihrer Tragweite mit Sicherheit nicht allein aus diesem kulturellen Kontext zu be46 gründen.

Vielmehr wird das Thema ›Familie‹ erst als spezifisch auf den religiösen Kontext bezogene Umarbeitung erkennbar, wenn es im Kontext des Erzählens von Erlösung betrachtet wird: Der Held des Widuwilt wird zwar häufig als Erlöser angesprochen, doch die Figur bildet schließlich kein Äquivalent zur christologisch gestalteten Figur des Gwigalois.47 Thesenhaft lässt sich zunächst formulieren, dass das Auffälligste, woran der Einsatz von Ironie als erzählstrategischem Mittel festgemacht werden kann, die Vorführung eines christlichen Erlösungsglaubens ist. Signifikant ausgespart werden im Widuwilt gerade jene Wunderdarstellungen, welche sich mit dem zentralen Wunder des Christentums, also der Überwindung des Todes durch Christi Auferstehung, in Verbindung bringen lassen. Generell treten an die Stelle der Transzendenzbezüge des Wigalois signifikanterweise Erklärungen immanenter Natur; so ist Widuwilts Gegner kein Heide wie Roaz,48 der zudem mit dem Teufel im Bunde ist, sondern er ist schlicht ein || 46 Jaeger (wie Anm. 1). 238f. Vgl. ebenso Wulf-Otto Dreessen, »Zur Rezeption deutscher epischer Literatur im Altjiddischen. Das Beispiel Wigalois – Artushof«, in: Wolfgang Harms, L. Peter Johnson (Hrsg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, 116–128, hier 124: »Man kann schließen, daß die Rettungs- und Befreiungsmotivik, das Familienmotiv und das Heiratsmotiv den Stoff für ein jüdisches Publikum anziehend gemacht haben, weil sie an traditionelle Vorstellungen ebenso wie an gegenwärtige Wünsche anknüpften. Zudem konnte eine Aufstiegsgeschichte Erfahrungen und Ansprüche widerspiegeln, die in den mittelalterlichen Städten Deutschlands und Oberitaliens für das Bewußtsein der jüdischen wohl ebenso wie für das der nichtjüdischen Bürger maßgebend geworden war«. 47 Unterstützt wird diese Frage nach dem Vergleich mit der heilsgeschichtlich orientierten Erzählstruktur des Wigalois darüber hinaus noch durch den Umstand, dass der Wigalois ja auch selbst erzählerisch intertextuell ausgerichtet ist, wobei die Verweise auf das heilsgeschichtliche Erzählen des Parzival extrem präsent sind. Dreessen geht dagegen davon aus, dass nicht Wirnts Wigalois Vorlage für den Bearbeiter des Widuwilt war, bzw. sogar keine bestimmte Dichtung als Vorlage fungierte, sondern er sieht die jüdische Bearbeitung einer breiteren mündlichen Tradition im Sinne der Spielmannstradition geschuldet. Vgl. Dreessen (wie Anm. 47), hier: 127. 48 Im Wigalois heißt es über Roaz entsprechend: »daz bûwet nû ein heiden, / Rôaz von Glois ist er genant; / sîn manheit diu ist erkant / als wîte sô diu werlt ist. / er hât durch sînen zouber-

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Riese. Ein Riese ist er zudem aus ganz sozial-höfischen Gründen, denn er ist ein Usurpator, der Lorel, die Tochter des Königs, zur Frau will und sich diese unhöfisch wie ein Riese auch mit Gewalt nehmen würde (Widuwilt, 87–89). Die den Artushof um Hilfe ersuchende Botin nennt ihn zwar einen »teifelschen mon« (Widuwilt, 88), was jedoch mit keinem Transzendenzbezug wie im Wigalois versehen ist, sondern vielmehr bezeichnet, dass sein unhöfisches Verhalten in der Immanenz auch kein rechtes Leben vor Gott ist (»der firt ein so gotlos leben«; Widuwilt 88). Er trägt den Namen Luzifer (»ein schtarker ris, Luzifer is er genant«; Widuwilt, 86), hat jedoch mit dem gefallenen Engel überhaupt nichts gemein. Stattdessen fungiert die Namensgebung eher als ironische Markierung dafür, dass im höfischen Diskurs der Riese eigentlich der entscheidende Gegner der christlichen Erlöserfigur sein sollte – und im Wigalois ja auch als solcher fungiert –,49 was aber in diesem Text gerade nicht eingelöst wird. Im Widuwilt ist die Mutter des Riesen, die auch das Land aus Rache für die Zurückweisung von Lorels Vater durch Zauberei verflucht und verdorben hat, schließlich die Gegnerin im Kampf. Sie herrscht zudem über vierhundert Frauen, die als »teifelsgeschpens« (Widuwilt, 200f.) bezeichnet werden und die eine Art Hexensabbat zelebrieren (Widuwilt, 269).50 Insgesamt bleiben die Darstellungen von Zauberei und Magie im Widuwilt weit mehr der Immanenz verhaftet als ihr Äquivalent im Wigalois. Entscheidend für die motivische Umarbeitung scheint schließlich zu sein, dass der Tod und in dessen Folge das Jenseits sowie der zentrale christliche Erlösungsgedanke der Auferstehung im Widuwilt konsequent ausgespart werden. Dies schlägt sich zunächst einmal in auf den ersten Blick eher unauffälligeren Umständen nieder, wie z. B. darin, dass Widuwilt seine Gegner nicht wie Gwigalois unbeabsichtigt tötet; auch im Kampf gegen den Lindwurm kommt niemand zu Tode, und ebensowenig stirbt Widuwilts Mutter. Deutlich augenscheinlicher sind hingegen die erzählerischen Umgestaltungen der Korntinepisode, die in der Darstellung des namenlos bleibenden Landes51 zwar immer

|| list / beidiu sêle unde leben / einem tievel gegeben; / der tuot durch in wunders vil: / er vüeget im allez daz er wil; / alsô gevuocter im daz lant« (Wigalois, V. 3648–61). 49 Vgl. auch Jaeger (wie Anm. 1), 306: »Die Stilisierung des Roaz zum Antagonisten des Gwigalois korrespondiert offensichtlich mit der Ausgestaltung der orientalischen Welt im Wigalois (Ortsnamen wie Damaskus, Babylon, Askalon etc. beziehen sich möglicherweise auch auf Erfahrungen der Kreuzzüge) und der heilsgeschichtlichen Dimension des Textes«. 50 Als Figuren treten diese an die Stelle des den Heiden Roaz warnenden Feuerwesens Marrien im Wigalois, während die Riesenmutter selbst eine Art Hybridwesen aus dem Endgegner Roaz und dem Waldweib Ruel darstellt. 51 In F wird das Land als ›Ungarn‹ bezeichnet.

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noch Anlehnungen an eine Höllendarstellung aufweisen, das spezifisch Christliche hierbei jedoch suspendieren:52 Die Protagonisten beider Romane müssen auf dem Weg zu ihrer Bestimmungsaventüre in ein schwer zugängliches brennendes Land eindringen, in welchem sie außer dem Herrscher des Landes (in seiner tierischen Gestalt) auch einer turnierenden Ritterschar begegnen. Im Wigalois handelt es sich hierbei um die Seelen der verstorbenen Ritter des Herrschers von Korntin, welcher über sie aussagt, dass sie sich »zallen zîten / in der helle viure« (Wigalois, V. 4714f.) befinden; im Widuwilt bezeichnet der Vater Lorels sie hingegen nicht als Tote, sondern warnt seinen zukünftigen Schwiegersohn vor ihnen lediglich mit den folgenden Worten: du must dich for in hiten ton, dos du ir keine rirsst on, ess mecht dich sunsst koschten dein leben. nem nikss fun in, wos si dir auch weln geben. dich wert dunken, wie sie tanzen, schpringen un jubiliren, hauen un schtech un turnieren, un wi si trinken un essen, so hot got irer forgessen. (Widuwilt, 193) Du musst dich vor ihnen in Acht nehmen, so dass du auch niemanden berührst, es könnte dich ansonsten dein Leben kosten. Nimm nichts von ihnen an, was sie dir auch anbieten mögen. Du wirst meinen, dass sie tanzen, springen und jubilieren, hauen, stechen und turnieren, und dass sie trinken und essen. Doch Gott hat sie vergessen.

Die Warnung des Schwiegervaters vor der höfischen Gesellschaft ähnelt zwar in mehrerlei Hinsicht auch dem Gebot des erlösungsbedürftigen Herrschers im Wigalois, nicht die Tjost gegen die turnierenden Ritter aufzunehmen, doch wird die Gesellschaft im Widuwilt nicht im Jenseits verortet. Sie wird nicht offenkundig wie im Wigalois in einer Art Vorhölle oder Fegefeuer gezeigt, vielmehr wird lediglich ausgesagt, dass sie sich an einem Ort befindet, an welchem Gott sie vergessen hat. Ebenso ist der König selbst im Widuwilt nicht getötet, sondern wie der Rest des Landes schlicht von der Riesenmutter verflucht und verzaubert || 52 In der Forschung wird die Korntinfahrt des Gwigalois vornehmlich als Jenseitsreise gedeutet, da sie in der Beschreibung des Landes (mit Feuer, Schwefel, Pech, Bergen, Moor usw.) an Höllendarstellungen in der (apokryphen) geistlichen Literatur, Berichte der Jenseitsfahrten oder die Visionsliteratur erinnern. Betont werden hierbei u. a. die Assoziation zu Christi Höllenfahrt; so bereits Max Wehrli, »Wigalois«, DU 17 (1965), 18–35, hier: 30; auch Christusanalogien der Gwigaloisfigur wurden herausgearbeitet; vgl. ›Wigalois‹, The Knight with the Fortune’s Wheel, übers. und eingeleitet von John Wesley Thomas, Lincoln 1977, hier: 38 sowie 46f. Zum Vergleich christlicher und jüdischer Höllenvorstellungen und ihrer Adaptation in den beiden Romanen vgl. Jaeger (wie Anm. 1), 256–268.

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worden (Widuwilt, 85).53 Dementsprechend entfällt auch die Darstellung des paradîses, einem temporären Ort der Befreiung von den Höllenqualen, welchen der Herrscher Korntins für seine guten Taten von Gott erhalten hat.54 Im Widuwilt wird somit nicht nur die christliche Konnotation der Jenseitsvorstellung eliminiert, vielmehr verweigert der Text generell eine Vereindeutigung, ob sich der Protagonist in dem verzauberten und gottvergessenen Land überhaupt auf eine ›Reise in den Tod‹ begibt.55 Aus diesem Vergleich des Umgangs mit den religiösen Jenseitsvorstellungen ist schließlich festzuhalten, dass im Widuwilt ein spezifisches Spannungsverhältnis zwischen der dezidiert christlichen Rahmung der Artuserzählung einerseits und dem Wegfall christlicher Paradigmen im Erzählen andererseits deutlich wird. Eben jenes Spannungsverhältnis bietet auch einen besonderen Raum für die Entfaltung ironischer Distanzierung, wie im Folgenden gezeigt wird. Eine besonders plastische Form von Fremdironie findet sich in der Darstellung des Kampfes mit der Riesenmutter, die Widuwilt mit einem Speer unter der Achsel verwundet (Widuwilt, 292). Um eine Heilung überhaupt zu ermöglichen, weist sie ihn an, sich an folgende magische Bedingungen zu halten: so tu ich dir bekannt, dos du solsst reden kein wort, dir sei den dos heil geschehen zufort dos dich heisst Lorel reden ale tog ein schtunt drei tog nochanander, so wersstu wider gesunt; un tu dich sunsst nit bemihen. los dir auch nimant anderscht den schper aus der akßel zihen den Lorel, di schene meid. (Widuwilt, 297)

|| 53 Besonders augenfällig wird die Aussparung des Transzendenten auch daran, dass Motive und Erzählelemente, die im Wigalois ihre Exklusivität aufgrund des Wirkens Christi oder auch Gottes generieren, im Widuwilt prinzipiell mit Magie und Zauberei affiziert sind. So ist das Motiv des paradiesischen Angers, auf dem sich der Vater Laries vom Fegefeuer erholen kann, durch einen Quellbrunnen ersetzt, dessen Wirken auf Zauberei gründet (Widuwilt, 186f.). Das Schwert, das Widuwilt führt, ist nicht wie das Schwert von Gwigalois durch einen zettel eines Priesters geweiht, sondern es handelt sich schlicht um ein Zauberschwert (308). Der Speer, mit dem er den Drachen tötet, ist keiner, der von einem Engel zu diesem Zweck hinterlassen wurde, sondern der des Schwiegervaters (217). Auch der Stuhl, der die Tugendprobe am Artushof erlaubt, bezieht sein Wirken nicht aus göttlicher Magie. 54 »zeinem paradîse / gap mir got ditz ze lône hie« (Wigalois, V. 4674f.). 55 Für den Wigalois herausgearbeitet wurde dies von Claudia Brinker, »Hie ist diu aventiure geholt. Die Jenseitsreise im Wigalois des Wirnt von Grafenberg. Kreuzzugspropaganda und unterhaltende Glaubenslehre?«, in: dies. u. a., Contemplata aliis tradere. FS Alois M. Haas, Bern u. a. 1995, 87–110, hier: 90.

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So sage ich dir, dass du kein Wort sprechen darfst, es sei denn, dir ist zuvor glücklicherweise widerfahren, dass dich Lorel täglich an drei aufeinander folgenden Tagen jeweils einmal darum gebeten hat, dann wirst du wieder gesunden; anders brauchst du es nicht zu versuchen. Lass dir den Speer von niemand anderem aus der Achsel ziehen als von Lorel, der schönen jungen Frau.

Die Riesenmutter macht folglich sehr deutlich, dass nur Widuwilts künftige Ehefrau ihm den Speer unter den entsprechenden Bedingungen aus der Wunde ziehen darf. Hierin lässt sich eine Ironisierung christlicher Erlösungsgläubigkeit sehen, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund des eschatologisch orientierten Erzählens des Wigalois – konkret finden sich Parallelen zum Tode Christi am Kreuz und der Auferstehung: Die Wunde weist eine deutliche Referenz zur Speerverletzung auf, das dreimalige Ansprechen der rechten Ehefrau erinnert an die Kirche als Braut Christi sowie die dreimalige Verleumdung durch den Kirchenbegründer Petrus in den drei Tagen zwischen Christi Tod und Auferstehung. Das bedeutendste aller christlichen Wunder, die Auferstehung als Kernpunkt des christlichen Glaubens, wird im Widuwilt also mit einer sehr immanent gedachten magischen Begebenheit analogisiert. Warum nun letztendlich von einer ironischen Distanzierung zu sprechen ist und nicht etwa von einer in der Artusliteratur durchaus nicht unüblichen Christusparallele auf symbolischer Ebene, ist dem Aufmerksamkeit erregenden Umstand geschuldet, dass schließlich die falsche Frau den Speer aus der Wunde zieht (Widuwilt, 317) – und daraus überhaupt keine Konsequenzen entstehen. Die gesamte Magie entpuppt sich als unwirksam. Überträgt man dies auf eine jüdische Perspektivierung des christlichen Erlösungsglaubens, so ist die Wirkung der ironischen Darstellung, dass er als äußerst naiv und fragwürdig erscheint: Während der Wigalois sehr deutlich an dem Narrativ christlicher Erlösung partizipiert,56 findet sich im Widuwilt nirgends ein unmittelbares Eingreifen Gottes oder Christi, es wird beständig eine deutliche Distanz zum göttlichen Wunderwirken gewahrt. Zuschreibungen, nach welchen etwas mit der Hilfe Gottes geschehen ist, erfolgen ausschließlich als Figurenaussagen. Die Erzählinstanz des Widuwilt entwirft in erster Linie das Bild eines Schöpfergottes, der Ursprung von Kraft

|| 56 Gwigalois hat eine unmittelbare Beziehung zu Gott, welcher auch ganz unmittelbar in das Geschehen eingreift: So lösen sich beispielsweise, nachdem Gwigalois von Ruel festgesetzt worden war, seine Fesseln als direkte Antwort auf sein Gebet (Wigalois, V. 6494–6507), und es ist Christus selbst (»daz tet der süezen mägde kint«; Wigalois, V. 6865), der die tödliche Schwertradbrücke für den Helden passierbar macht, indem er einen Nebel aufkommen lässt, der das antreibende Wasser des Rades erstarren lässt (Wigalois, V. 6861–86).

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und Schönheit ist,57 doch es ist kein Gott, dessen Wirken in der Immanenz unmittelbar beobachtbar wäre. Vor diesem Hintergrund wird schließlich auch die Widuwilt-Figur als Distanz erzeugende Ironisierung einer Erlöserfigur deutbar.58 Widuwilt wird geradezu penetrant von anderen Figuren als Engel und Erlöser bezeichnet: Nachdem der Protagonist die Tugendprobe auf dem Marmorstuhl bestanden hat, berichtet ein Bote am Artushof: »ich will eich sogen neie mer, / ess is ein engel zu unss kumen her« (Widuwilt, 70); bei der Ankunft an der Burg Lorels schildert der Bote: »er reit einem engel gleich« (Widuwilt, 170); in der Fischerepisode sagt der Fischer zu seiner Frau: »doss is ein engel auss dem paredeiß zwor« (Widuwilt, 240), und mindestens zwei Mal wird Widuwilt dezidiert als Erlöser angesprochen (Widuwilt, 183f.). Das christliche Personal will also permanent die unmittelbare Wirkungsmacht Gottes in seinem Handeln, den Einbruch der Transzendenz in die Immanenz sehen – dies wird allerdings weder durch die Erzählinstanz positiv bestätigt, noch gibt die Handlung diese Zuschreibung entsprechend wieder. Denn während Gwigalois den entscheidenden Kampf gegen den Teufelsbündner Roaz gewinnt, wobei die anderen Kämpfe als reine Vorläufer einer Aventürenreihe erscheinen, und er hierdurch tatsächlich eine Erlösung für den verstorbenen König, dessen Ritter und das Land herbeiführt, ist diese ›eine‹ Erlösungstat Widuwilts nicht auszumachen. Wenn man überhaupt von einer Erlösungstat sprechen möchte, so stellt sich diese eher als ein Geflecht dreierlei Kämpfe dar, von denen keiner allein die eine entscheidende Erlösungstat zu repräsentieren vermag: Widuwilt besiegt zwar den Riesen Luzifer, doch er ist nicht der eigentliche Gegner. Die Antagonistin ist vielmehr dessen zauberkundige Mutter, doch im Kampf gegen sie unterliegt Widuwilt schließlich. Die Riesenmutter lässt ihn nur am Leben aus Dank dafür, dass er den Lindwurm getötet hat. Dies wäre somit die dritte Tat in diesem Geflecht, denn die Riesenmutter hatte trotz ihrer Zaubermacht so große Furcht vor dem Drachen, dass sein Tod ihre Dankbarkeit und Gnade gegenüber Widuwilt zu erzwingen scheint. Insofern lässt sich dieser Akt der Ironisierung des Erzählens von Erlösung als ein narrativ entfaltetes Oszillieren zwischen Fremd- und Selbstironie deuten: Fremdreferentiell fungiert die Ironisierung christlicher Erlösungsvorstellung, d. h. Fremdironie bedeutet im Widuwilt die Ironie gegenüber dem Neuen Bund,

|| 57 Z. B. Widuwilt, 36, 38, 277. 58 Mit der hier feststellbaren ironischen Distanzierung ist nicht gleich auch ablehnende Kritik verbunden, vielmehr ermöglicht sie eine Distanz, die auf Ähnlichkeit und nicht auf Fremdheit gründet.

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in welchem die Menschwerdung Gottes, die Ankunft des Messias, bereits vollzogen ist. Diese Fremdironie schlägt jedoch – ironisierend enttarnt als Erzählstruktur artushöfischen Erzählens – auch wieder in gattungsbezogene Selbstironie um.59 Mithilfe des Narrationsmittels Ironie wird im Widuwilt somit eine relative Distanz geschaffen und keine absolute Fremdheit. Diese relative Distanzierung lässt wiederum auf Anschlussfähigkeit des Textes für sowohl jüdische als auch christliche Rezeptionskreise schließen.

|| 59 An die Stelle der ironisierten Christusanalogie tritt in der jüdischen Rezeption dafür ein alttestamentarisches Motiv in den Vordergrund, das man als ein ›David gegen Goliath‹-Motiv verstehen kann. Auch Wirnts Gwigaloisfigur wird insbesondere von gegnerischen Figuren als junger und unerfahrener Ritter gesehen, v. a. auch von der Botin Nereja. Doch Widuwilt wird symptomatisch in jeder Begegnung als unerfahrenes Kind bezeichnet, egal ob von Freund oder Feind, und seine Gegner sind in diesem Text keine Heiden, sondern Riesen. Besonders anschaulich wird dieses Motiv in einer Ansprache eines Riesen, der im Widuwilt an die Stelle des Grafen Adan tritt (der sich von Gwigalois später unbedingt zum Christentum bekehren lassen will): »un du ormess kint selsst liber noch essen brei. / den doss du laufsst unter leiten / un wilsst schon fechten un schreiten, / ich mag ess deiner jugent nit bezemen; / ich mus mich auch for mir selbert schemen. / ich nem dich sunsst mit zwei fingern also / un zurebelt dich gleich als ein flo. / drum flukß lauf mir aus meinen augen / heim zu deiner mem, noch ein weil titen saugen« (Widuwilt, 281f.).

Andrea Moshövel

»der rede wart vil gelachet da« Zum Ironie- und Provokationspotential der Artusfahrt im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein Abstract: Dressed up as King Arthur, the first-person narrator in Ulrich von Liechtenstein’s Frauendienst depicts situations in which either he or some other knight causes the company to laugh at his remarks. Based on theoretical approaches to ironic speech acts in reference to the function of ›irony as a weapon‹ (Althoff/Meier), the role of the audience (Stempel, Warning, Wellersdorf), and the modes of integration and exclusion in regard to the ›discourse of law‹ (Hamon), this paper interrogates historical-political constellations that may be reflected in the Frauendienst. Special attention is paid to the knight Kadolt Weise; a person with this name is known to have had close ties to King Ottokar II of Bohemia (1253–78); Kadolt is also praised in later chronicles and in Seifried Helbling as the epitome of Arthurian bravery and courtliness. Inkongruenzen zwischen literarischen Vorbildern und ihren Verkörperungen durch einen Ich-Erzähler sowie mit ihm interagierenden (scheinbar) realen Personen an realen Schauplätzen sind eines der Hauptmerkmale des vermutlich um 1255 entstandenen Frauendienstes Ulrichs von Liechtenstein.1 Der Text, in dem ein Ich-Erzähler namens Ulrich von Liechtenstein sein Leben als Minnesänger und -ritter erzählt, nimmt als fiktive Autobiographie mit Detailrealismen literaturgeschichtlich eine Sonderstellung ein.2 Das politische Leben des urkundlich gut bezeugten historischen Ulrich von Liechtenstein, der als steiri-

|| 1 Zitierte Ausgabe: Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, hrsg. von Franz Viktor Spechtler, Göppingen 22003 (GAG 485). Zur Einführung vgl. Jan-Dirk Müller, Art. »Ulrich von Liechtenstein«, in: 2VL, Bd. 9, 1274–1282; einen Forschungsüberblick gibt Sandra Linden, »Kommentierte Bibliographie zu Ulrich von Liechtenstein«, in: dies., Christopher Young (Hrsg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung, Berlin, New York 2010, 535–586. – Die Idee zu diesem Beitrag geht zurück auf mein DAAD-Lektorat (2006–11) in Olomouc/Olmütz und das Projekt Lexikon der regionalen Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters in Tschechien (GAČR 405/08/0900) der Sektion Mediävistik am Lehrstuhl für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität Olomouc. Für anregende Diskussionen möchte ich Mgr. Jiří Černý herzlich danken. 2 Auffällig ist v. a. die Gattungsmischung: In die Ich-Erzählung von knapp 2000 achtversigen Strophen sind 48 Minnelieder, mehrere Briefe sowie drei (didaktische) ›Büchlein‹ eingelassen.

110 | Andrea Moshövel scher Ministeriale hohe Ämter innehatte, bleibt fast gänzlich ausgeklammert.3 Geschildert wird vielmehr der Minnedienst an zwei Damen. Während der erste Dienst (14, 1–1375, 8) von sakral-burlesk anmutenden Zurichtungen des Körpers dominiert wird,4 verläuft das zweite Minneverhältnis (1390, 1–1850, 8), in das Ulrich nach einer nicht näher benannten Untat seiner ersten Dame (1361, 1–8) wechselt, weitgehend harmonisch. Indes gewinnt es an politischer Dimension, da es von ›Realitätseinbrüchen‹ wie dem Tod Herzog Friedrichs II. von Österreich (1659, 1–1688, 8) und einer längeren Gefangenschaft Ulrichs (1696, 1– 1731, 8) überschattet wird.5 Zu den beiden Diensten gehören die Schilderungen zweier großer Turnierfahrten, in denen sich der Ich-Erzähler jeweils in Anlehnung an literarische Rollenvorbilder verkleidet. So unternimmt Ulrich im Rahmen seines ersten

|| 3 Der Name Ulrich bezeichnet hier und im Folgenden den Ich-Erzähler und gleichzeitigen Protagonisten seiner Geschichte, der in seinen verschiedenen Rollen jedoch nicht bzw. nur bedingt mit dem Autor gleichzusetzen ist. Wenn ich mich auf den Autor bzw. die historische Person beziehe, werde ich dies durch den Zusatz ›historisch‹ bzw. die Benutzung des vollen Namens ›Ulrich von Liechtenstein‹ kenntlich machen. 4 So trinkt Ulrich z. B. als junger Knappe das Handwaschwasser seiner Dame; etwas später lässt er sich den Mund operieren, weil dieser seiner Dame missfällt; als Minneritter opfert er seiner Dame einen in ihrem Dienst im Turnier verletzten Finger und sendet ihn ihr aufwändig als Reliquie verpackt; bei ihrem unmittelbaren Anblick steht er wiederholt wie ein Narr vor ihr, weil ihn Minnestummheit befällt; als Aussätziger verkleidet, wartet er vor ihrer Burg auf ein Stelldichein, während ein Wächter von der Zinne auf ihn herunter uriniert. 5 Historisch nachgewiesen ist nur der Tod des Herzogs in der Schlacht bei Leitha 1246, eine Gefangenschaft des historischen Ulrich von Liechtenstein vor 1255, der mutmaßlichen Entstehungszeit des Frauendienstes, jedoch nicht. Die spätere Gefangenschaft des historischen Ulrich von Liechtenstein und anderer Landherren durch den böhmischen König Přemysl Otakar II., von der in der Österreichischen Reimchronik des mit dem historischen Ulrich verwandten Ottokars von Steiermark berichtet wird, ist auf die späten 1260er Jahre zu datieren. Anlass war die Übergabe und Zerstörung der gegen das Verbot des Königs errichteten Burgen. Nur wenig später, d. h. ab 1270, war Ulrich von Liechtenstein allerdings schon wieder als Marschall im Dienste König Přemysl Otakars II. tätig; vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik, Halbbd. 1, nach den Abschriften Franz Lichtensteins hrsg. von Joseph Seemüller, Hannover 1890 (MGH, Deutsche Chroniken 5/1), I, 1968–2303, 5932–6065, 9851–10542; vgl. auch zusammenfassend Hans-Joachim Behr, »Frauendienst als Ordnungsprinzip. Zum Verständnis von Wirklichkeit und deren Bewältigung im Frauenbuch Ulrichs von Lichtenstein, in: Alfred Ebenbauer u. a. (Hrsg.), Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, Bern u. a. 1988 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 23), 1–13, hier: 1f. Zum literarischen Status der ›Realitätseinbrüche‹ vgl. außerdem Christelrose Rischer, »wie süln die vrowen danne leben? Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion am Beispiel des Frauendienstes von Ulrich von Lichtenstein«, in: Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky (Hrsg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, Stuttgart 1992, 133–157.

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Dienstes eine ausgedehnte Turnierfahrt durch die Steiermark, Kärnten und Österreich, bei der er sich als Ideal einer Minnedame, nämlich als niemand Geringeres als Königin Venus, verkleidet, um die ansässigen Ritter zur Tjost für ihre Damen herauszufordern (470, 1–985, 8). Das Pendant im zweiten Teil ist eine Turnierfahrt, bei der Ulrich in Verkleidung als König Artus agiert und nicht mehr das Geschlechterverhältnis, sondern politische Hierarchien und Bündnisse unter den am ›Spiel‹ beteiligten österreichischen und steirischen Adeligen im Vordergrund stehen (1400, 1–1609, 8).6 Die Forschung hat mehrfach – zu nennen sind hier v. a. Sandra Linden und Christiane Ackermann – ein ironisches Spiel bzw. ironische Verfahrensweisen im Frauendienst ausgemacht, ohne diese Ironie allerdings näher zu bestimmen.7 Folgt man Dennis H. Greens Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie, bestehen hierbei auch erhebliche Schwierigkeiten, müssen wir uns doch aufgrund des zeitlichen und kulturellen Abstands notgedrungen zu den ›Uneingeweihten‹ im Rezipientenkreis eines mittelalterlichen Textes rechnen: Die Ironie ist eine Aussage oder Darstellung einer Handlung oder Situation, deren eigentliche, den Eingeweihten sichtbar gemachte Bedeutung absichtlich von der vermeintlichen, den Uneingeweihten vorgespiegelten Bedeutung abweicht und ihr nicht angemes8 sen ist.

Ausgehend von der These, dass Ironie eines Publikums bedarf und sich die ›Eingeweihten‹ innerhalb des Publikums durch eine Reaktion, z. B. auch durch einvernehmliches Lachen, offenbaren können, möchte ich im Folgenden die Stellen der Artusfahrt im Hinblick auf ihr Ironie- und Provokationspotential

|| 6 Zum Unterschied zwischen Venus- und Artusfahrt und zum Bündnischarakter der Artusfahrt vgl. Christiane Witthöft, Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters, Darmstadt 2004 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne 11), 194; Ursula Peters, Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung, Göppingen 1971 (GAG 46), 173–205. 7 Hervorgehoben werden v. a. das gebrochene Verhältnis von Inszenierung und Realität bzw. von Rolleninkongruenzen und Fiktionalitätssignalen; vgl. Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein, Tübingen, Basel 2004, v. a. 241–243; Christiane Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach und im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein, Köln u. a. 2009 (ORDO 12), 306. 8 Dennis H. Green, »Alieniloquium. Zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie«, in: Hans Fromm u. a. (Hrsg.), Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. FS Ohly, 2 Bde., München 1975, Bd. 2, 119–159, hier: 156; vgl. auch Thomas Gutwald, Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin, Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Mikrokosmos 55), 81f.

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beleuchten, in denen das textinterne Publikum auf eine Figurenrede mit Lachen reagiert.9 Ironie wird dabei als ein Kommunikationsmodus aufgefasst, in dem nach dem Modell von Philippe Hamon Ein- und Ausschlussverfahren mit Bezug auf einen ›Diskurs des Gesetzes‹ wirksam werden.10 Im Anschluss an eine Analyse der ironieverdächtigen Figurenreden in der Artusfahrt mithilfe des Modells soll vor dem Hintergrund einiger verstreuter historischer Nachrichten nach ihrer möglichen Funktion für das textexterne Publikum gefragt werden.

1 Ulrichs ›Artusspiel‹ Aufgrund eines Doppelblattverlusts (nach fol. 99v) der einzigen fast vollständig erhaltenen Handschrift des Frauendienstes (München, BSB, Cgm 44) setzt die Handlung der Artusfahrt unvermittelt mit Artus’ Einkleidung ein (1400, 1– 1407, 8).11 Die Spielregeln der Turnierfahrt erschließen sich erst nach und nach: Derjenige verdient sich einen Platz in der Tafelrunde, der hintereinander drei Speere mit Ulrich/Artus versticht, ohne ihn zu verfehlen (1429, 1–8). Dem damit formulierten Idealitätsanspruch, der auf die Konstituierung einer Elite zielt, folgen allerdings sofort Unzulänglichkeit und/oder Willkürlichkeit ihrer Einhaltung. Bereits von Spiegelberc her Lantzilet verfehlt Ulrich/Artus mit dem dritten

|| 9 Zur Komik und zur Funktion des Lachens im Frauendienst vgl. auch Ingo Reiffenstein, »Rollenspiel und Rollenentlarvung im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein«, in: Gerlinde Weiss (Hrsg.), FS Adalbert Schmidt, Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 4), 107–120; Jan-Dirk Müller, »Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein«, DVjs 58 (1984), 38–73; Linden (wie Anm. 7), 100–112, 239–244; Ackermann (wie Anm. 7), 258–263, 304–307. 10 Siehe dazu Abschnitt 2 des vorliegenden Beitrags. 11 Neben der Münchener Handschrift existieren noch zwei Fragmente (A: Augsburg, Staatsund Stadtbibl., Fragm. germ. 102; L: Landshut, Staatsarchiv, Vom Einband der Fischmeisteramtsrechnungen 1510) mit nur jeweils wenigen Versen; die in die Erzählung eingebetteten Lieder sind zudem in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Cpg 848, fol. 237r–247r) überliefert; vgl. dazu Jürgen Wolf, »Überlieferung, Handschriften. Ulrich von Liechtenstein im Buch«, in: Sandra Linden, Christopher Young (Hrsg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung, Berlin, New York 2010, 487–514; Sandra Linden, »Die Liedüberschriften im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtenstein und die Handschriftenlücke vor der Artusfahrt. Ein Klärungsversuch«, ZfdPh 122 (2003), 409–415. – Aus 1429, 4–8 geht allerdings hervor, dass analog zur Venusfahrt auch zu Beginn der Artusfahrt ein Brief mit den Spielregeln gestanden haben könnte; vgl. auch Linden (wie Anm. 7), 213f.

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Speer, bleibt aber dennoch Mitglied der Tafelrunde (1430, 1–1434, 8; 1446, 1–8).12 Andere Ritter wiederum erhalten erst gar nicht die Chance, mit Ulrich/Artus drei Speere hintereinander zu verstechen, weil Ulrich/Artus schon nach dem ersten bzw. zweiten Speer seinen Helm abbindet oder sie gleich an einen seiner gesellen verweist (z. B. 1434, 1–1435, 8; 1446, 1–8). Ulrichs/Artus’ Aufnahmeverfahren entspricht demnach kaum den von ihm aufgestellten Regeln, sondern erfolgt nach Prinzipien, die ›Uneingeweihten‹ nicht transparent, sondern willkürlich und ›sympathiebedingt‹ erscheinen müssen.13 Als Ulrich/Artus mit einem inzwischen auf mehr als hundert Ritter angewachsenen Zug von Musik begleitet in Richtung Wiener Neustadt zieht (1451, 1– 1455, 8), wird er von einem ihm entgegen eilenden Boten des Herzogs von Österreich willkommen geheißen, der ihm gleichsam augenzwinkernd mit bestem Dank für Artus’ Besuch aus dem Paradies die Dienstbereitschaft des Herzogs anträgt: Der Herzog wünsche der Regel gemäß mit Artus drei Speere zu verstechen, um einen Platz in der Tafelrunde zu erwerben und sein Dienstmann zu werden (1456, 1–1458, 8). Ulrich/Artus reagiert, indem er sich im Gegenzug als mächtiger Lehnsherr präsentiert, der dem Herzog als seinem Dienstmann großzügig Burgen, Leute und dazu Land, Lehen und Gaben anbietet (1459, 1–8). Die Unangemessenheit des von Ulrich/Artus artikulierten Herrschaftsanspruchs als Lehnsherr könnte, wenn er ernst gemeint wäre, durchaus als politische Provokation verstanden werden. Entschärft wird Ulrichs/Artus’ Bemerkung jedoch durch die Anspielung auf die nicht schwinden wollende Unermesslichkeit seines Reichtums, die diesen wie zuvor schon die Anspielung auf seine Herkunft aus dem Paradies in das Reich des Imaginären verweist und den Dialog als Rollenspiel markiert.14 Im gemeinsamen Lachen der umstehenden Ritter konstituiert sich hierbei eine Gemeinschaft von Eingeweihten, die sich dem ›Diskurs des Artusspiels‹ unterstellen und denen die Diskrepanz zwischen den ›realen‹ und den gespielten Machtverhältnissen bewusst bleibt.15 Im Rahmen einer Überlagerung bzw. eines möglichen Ineinandergreifens ›realer‹ und gespielter Macht-

|| 12 Erst in Hohenwang und Glogentz, der sechsten und siebten Station Ulrichs/Artus’, werden die Aufnahmebedingungen in korrekter Weise erfüllt (1436, 1–1445, 8). Vgl. dazu und zum Folgenden auch Linden (wie Anm. 7), 220–224. 13 Dabei mag die Tatsache, dass einige der von Ulrich/Artus in die Tafelrunde aufgenommenen Ritter auch im Umfeld des historischen Ulrich urkundlich belegt sind, durchaus eine Erklärung für Ulrichs/Artus’ willkürliche Regelanwendung bieten; vgl. Linden (wie Anm. 7), 223f. 14 Zu Artus’ ›Märchenstatus‹ vgl. Linden (wie Anm. 7), 248. 15 Zur Verkehrung der realen Machtverhältnisse als ›Spiel‹ mit den beiden Ebenen des arthurischen Modells und der ›Realität‹ vgl. Müller (wie Anm. 9), 38–40; Linden (wie Anm. 7), 247– 252.

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verhältnisse sind die Rede des Herzogs und die Gegenrede Ulrichs/Artus’ jedoch auch ironieverdächtig: Scheinbare Selbstherabsetzung und prahlerische Selbstüberhebung galten bereits in der Antike als deutliche Ironiesignale.16 Wenn im Folgenden berichtet wird, wie der Herzog den Boten bereits am Tor ungeduldig empfängt, und Boten- und Herzogrede jeweils wörtlich wiedergegeben werden (1461, 2–1465 ,1), wird die Begrenztheit der Ich-Perspektive im Modus eines omnipräsenten, allwissenden Erzählers und Augenzeugen des Redewechsels gebrochen. In der Rede des Boten wächst sich Ulrichs/Artus’ Machtanspruch als Lehnsherr gleichsam zu einer real bedrohlich wirkenden ritterlichen Macht von »wol tusent sper« aus (1462, 8). Die Benennung der militärischen Stärke des Artuszuges mag dem textexternen Publikum hierbei amüsant und brisant zugleich erschienen sein; in der Forschung ist es jedenfalls umstritten, inwieweit der historische Ulrich als steirischer Ministeriale dem historischen Herzog hätte ernsthaft gefährlich werden können: 1236 wurde von Kaiser Friedrich II. die Reichsacht über den gleichnamigen Herzog von Österreich verhängt, 1237 wurden die steirischen Ministerialen vom Kaiser zu Reichsministerialen ernannt, was ihren Machtbereich erweiterte.17 Fritz-Peter Knapp hat die Artusfahrt im Frauendienst vor diesem Hintergrund als eine bildhafte Verklärung der »Rekonziliation des Liechtensteiners und anderer Landherren mit dem damals noch geächteten Herzog Friedrich im Jahre 1239«18 bezeichnet. Tatsächlich ermöglicht in der fiktionalisierten Welt des Frauendienstes der Verweis des Boten auf die Freude, die die prächtige Kleidung und höfische Vorbildlichkeit des Artuszuges in ihm erzeugt, es dem Herzog, Ulrichs/Artus’ Worte nicht als Affront, sondern spielerisch aufzufassen und das Artusspiel mitzuspielen. Unter der Voraussetzung, dass sich alle Beteiligten ritterlich verhalten und kein Unglück geschehe, sieht er im Artuszug eine Ergänzung seines Machtbereichs zu Ulrichs/Artus’ und seinem eigenen Vorteil:19 Do sprach der fürste Friderich: ›wir mugen wohl bede werden rich,

|| 16 Vgl. dazu Norman Knox, »Die Bedeutung von ›Ironie‹: Einführung und Zusammenfassung«, in: Hans-Egon Hass, Gustav-Adolf Mohrlüder (Hrsg.), Ironie als literarisches Phänomen, Köln 1973, 21–30, hier: 21. 17 Vgl. Linden (wie Anm. 7), 247; Bernd Thum, Ulrich von Lichtenstein. Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit, Diss., Heidelberg 1968, 114–118; vgl. auch Karl Lechner, Die Babenberger. Markgrafen und Herzoge von Österreich 976–1246, Wien u. a. 31985, 279–284. 18 Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994 (Geschichte der Literatur in Österreich 1), 89. 19 Zur Integrationsbereitschaft Friedrichs vgl. auch Linden (wie Anm. 7), 250.

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swie arm ich gegen dem künige bin, teilt er mit mir und ich mit im; wir mügen guotes vil bejagen, welle wir uns ritterlich betragen, ez füege danne groz ungeschiht, wir verderben an dem guote niht.‹ (1464, 1–8) Da sagte der Herzog Friedrich: ›Wir können wohl beide reich werden, wie arm auch immer ich gegenüber dem König bin, wenn er mit mir teilt und ich mit ihm; wir können viele Güter gewinnen, wenn wir uns ritterlich verhalten. Wenn nicht ein großes Unglück passiert, verarmen wir nicht.‹

Aus der Sicht des textexternen Publikums stellt sich allerdings die Frage, ob Herzog Friedrich überhaupt eine andere Wahl hat, wenn er nicht von vornherein als Spielverderber das Spiel unterbinden und Gefahr laufen will, eine Konfrontation mit dem Artuszug bzw. zwischen seinen Männern und den steirischen Ministerialen heraufzubeschwören.

2 Ironie als Kommunikationsmodus: Komplizenschaft und Ausschlussverfahren Ironie ist, wie Gerd Althoff und Christel Meier herausgearbeitet haben, nicht nur eine rhetorische Figur, sondern auch ein Kommunikationsmodus und in diesem Sinne im Mittelalter eine wirksame »Waffe in Auseinandersetzungen [...], in denen man Interessen ohne Gewaltanwendung durchsetzen wollte«. Einerseits wiesen ironische Bemerkungen ihre Sprecher jeweils »als Herren der Situation« aus, andererseits konnten sie »nicht als Beleidigungen aufgefasst werden [...], die einen legitimen Anlass zur Anwendung von Gewalt darstellten. Vielmehr musste man gute Miene zum bösen Spiel machen«.20 Indes beinhaltet Ironie mehr als einen Schlagabtausch zwischen zwei Personen bzw. Parteien. Es geht auch um eine ›Solidarisierung‹ der ersten Person, des ›Ironikers‹, mit einer dritten Person, d. h. einem Publikum, g e g e n die zweite Person (oder auch eine || 20 Alle Zitate in diesem Abschnitt Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011, 89. Das Konzept von Ironie als Waffe findet sich bereits bei Aristoteles; vgl. dazu Knox (wie Anm. 16), 22. Vgl. auch allgemein Wolf-Dieter Stempel, »Ironie als Sprechhandlung«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 205–235, hier: 209f. und 218, der konstatiert, dass Ironie keine Möglichkeit des Widerspruchs, des Einklagens oder allein des Einforderns einer Begründung zulässt.

116 | Andrea Moshövel Institution) als dem Objekt der Ironie.21 Das Gelingen des ironischen Sprechakts hängt hierbei weniger vom Verständnis auf Seiten der zweiten Person ab (die auch abwesend sein kann) als vielmehr von der dritten. Nur wenn diese die Ironiesignale versteht, so Dirk Wellersdorf, ist »die Solidarisierung mit Person 1 gegen Person 2 möglich«: Im Licht der blitzschnell erfaßten Absicht von Person 1 muß sie [Person 3] möglicherweise eigene Einstellungen korrigieren oder aufgeben, weil sie unausdrücklich von der ironischen Attacke mitbetroffen sind. Person 3 rettet sich dann in die Gemeinschaft mit dem Angreifer, in die von ihm angebotene überlegene Position, indem sie ihm ein Signal der 22 Zustimmung schickt.

Person 2 als Objekt der Ironie kann jedoch, wenn sie anwesend ist, ebenfalls eine überlegene Position beziehen, indem sie z. B. den Angriff selbstironisch kontert oder sich mithilfe eines ironischen Gegenangriffs mit Person 3 wiederum gegen Person 1 solidarisiert. Mit anderen Worten: Durch den Gebrauch von Ironie geraten, wie Wellersdorf konstatiert, »eingefrorene Interaktionsmuster und Machtverhältnisse in Bewegung«.23 Der französische Literaturtheoretiker Philippe Hamon hat in seinem Modellentwurf des ironischen Sprechaktes die komplexe Beziehung zwischen Sprecher und Publikum noch um einen weiteren zentralen Aspekt erweitert: den eines ›Bezugspunkts‹ des ironischen Sprechens.24 Als »Diskurs des Gesetzes« kann dieser abhängig vom Kontext eine »abstrakte Regel [...], eine Person, die die Macht verkörpert, ein traditionelles Genre oder auch ein allgemein bekannter Text« sein.25 Damit korrespondiert zugleich eine Aufspaltung des Publikums in ›Komplizen‹ und ›Naive‹ in der Form, dass »ein integratives Verhältnis,

|| 21 Vgl. Stempel (wie Anm. 20); vgl. auch Rainer Warning, »Ironische Solidarisierung«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 416–423; Dieter Wellersdorf, »Schöpferische und mechanische Ironie«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 423–425, hier: 424. 22 Ebd., 424. 23 Ebd., 424; Stempel (wie Anm. 20), 220, zufolge besteht aber auch die Gefahr einer Erstarrung und Verfestigung. 24 Vgl. Philippe Hamon, L’ironie litteréraire. Essai sur les formes de l’écriture oblique, Paris 1996. Zur analytischen Anwendung von Hamons Modell auf die Literatur des Mittelalters am Beispiel der Erzählerironie Herbots von Fritzlar vgl. Andrea Sieber, Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters, Köln u. a. 2008, 225–232. 25 Zusammenfassung und Zitate bei Philippe Despoix, Justus Fetscher, Art. »Ironisch/Ironie«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2001, 196–244, hier: 241.

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das den Ironisierenden mit seinem Publikum verbindet«, ein »Ausschlussverhältnis« bedingt, »in dem der oder das Ironisierte sowie auch der naive Zuhörer zu der ironischen Äußerung steht«.26 Für den ironieverdächtigen Redewechsel zwischen dem Herzog und Ulrich/Artus ergibt sich damit folgende Konstellation: Herzog Friedrich ordnet sich scheinbar seinem Dienstmann unter. Aus Sicht des (textinternen und wohl auch des textexternen) Publikums kann dies angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse als ein selbstironischer Akt der Verkehrung seines Status aufgefasst werden, bei dem Ulrichs Artusspiel als ›Diskurs des Gesetzes‹ den Bezugspunkt darstellt. Im Unterschied zu späteren Redewechseln fehlt jedoch jedes Signal einer Reaktion und damit jede explizite Solidarisierung des textinternen Publikums mit dem Herzog. Eine Solidarisierung erfolgt vielmehr mit Ulrichs/Artus’ Entgegnung, mit der dieser durch eine scheinbare Selbsterhebung die scheinbare Selbstunterwerfung des Herzogs kontert. Daraufhin stellt sich der Herzog als Komplize in Ulrichs Spiel auf die Seite des lachenden textinternen Publikums in der Hoffnung, dass er Gewinn daraus ziehen könne.

3 Positionen in Ulrichs Artusspiel: Komplizen, Gegenspieler und Naivlinge Weitere Textstellen, in denen das textinterne Publikum als Reaktion auf einen Redewechsel lacht, zeigen indes – wenn man das Hamon’sche Modell anwendet –, dass der Status der Komplizenschaft des Herzogs prekär ist. Er bleibt nicht in der Mitspieler-Position, vielmehr wird er durch andere Figuren wieder mehr und mehr in die Position eines Gegenspielers zu Ulrich/Artus gerückt. Als sich Ulrich/Artus mit seinem prächtigen Zug Wiener Neustadt, dem Sitz des Herzogs, nähert, reitet ihm eine Reihe von Rittern mit ihrem jeweiligen Gefolge entgegen, um ihn ritterlich zu begrüßen (1465, 1–1488, 8). Unter ihnen befinden sich in sehr großer Zahl Dienstmannen Friedrichs, bei denen es sich dem Historiker Heinz Dopsch zufolge aus realhistorischer Sicht um neue Vertrauensleute Friedrichs nach dem Bann handelt, um soziale Aufsteiger.27 Auf die Ambivalenz der Begrüßung in ihrer politischen Dimension hat Sandra Linden hingewiesen: || 26 Despoix/Fetscher (wie Anm. 25), 240f., mit einer graphischen Visualisierung des Schemas, die Hamon (wie Anm. 24), 124 (Erläuterungen 122–126), nachgebildet ist; vgl. auch Sieber (wie Anm. 24), 229f. 27 Vgl. Heinz Dopsch, »Zwischen Dichtung und Politik. Herkunft und Umfeld Ulrichs von Liechtenstein«, in: Franz Viktor Spechtler, Barbara Maier (Hrsg.), Ich – Ulrich von Liechtenstein.

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Das Riesenaufgebot zur Begrüßung von König Artus erweist diesem höchste Ehre, ist zugleich aber auch eine probate Möglichkeit für Friedrich, dem Artusgefolge ein großes 28 Herzogsgefolge gegenüberzustellen und noch einmal auf die eigene Macht hinzuweisen.

Als erstes wird Ulrichs/Artus’ Zug von »Von Habechspach schench Heinrich« (1467, 1) und einem Aufgebot von mehr als vierzig Rittern begrüßt (1467, 1– 1469, 8), gefolgt von den »Breuzel«-Brüdern (1470, 7), die in ihrer positiv hervorgehobenen Tapferkeit als besondere Günstlinge des Herzogs charakterisiert werden (1470, 1–1471, 8).29 Ersterer ist realhistorisch mit Schenk Heinrich von Haßbach, letztere sind wohl mit den Preußels zu identifizieren. Geschichtlich gehörten sowohl die Haßbacher als auch die Preußels in den Jahren 1236–39 zu denjenigen, die dem Herzog, als dieser von Kaiser Friedrich II. geächtet worden war, ihre Treue hielten und dafür in hohe Positionen aufstiegen.30 Schenk Heinrich begrüßt Ulrich als »chünec Artus« (1468, 3) und weist sich durch ein Zitat als Kenner eines der Minnelieder Ulrichs aus.31 Damit ist es ihm möglich, Ulrichs Artus-ritterschaft nicht politisch, sondern höfisch als Vergnügen an ritterlicher Betätigung unter dem Vorzeichen des Minnedienstes zu betrachten: Do mich der schench alrerst ersach, uz hohem muote der biderbe sprach: ›got willechomen, chünec Artus! ich sihe wol, daz diu minne hus für war in iwerm herzen hat, wan si iuch selten ruowen lat; si raetet iu unmuoze vil, des müezt ir sin tyoste zil.

|| Literatur und Politik im Mittelalter, Klagenfurt 1999 (Schriftenreihe Akademie Friesach 5), 49– 104, hier: 94. 28 Linden (wie Anm. 7), 251. 29 Im Frauendienst wird die besondere Stellung der ›Breuzel‹-Brüder an späterer Stelle auch dadurch verdeutlicht, dass der Herzog seine Absicht erklärt, sich unter ihrem Banner am Massenturnier beteiligen zu wollen (1576, 1–1577, 8). 30 Vgl. Max Weltin, »Landesherr und Landherren. Zur Herrschaft Ottokars II. Přemysl in Österreich«, Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 44/45 (1978/79), 159–225, hier v. a. 159–199; Heinz Dopsch u. a., Österreichische Geschichte 1122–1278. Die Länder und das Reich. Der Ostalpenraum im Hochmittelalter, Wien 1999, 255f., 304; vgl. auch Reinhold Hangler, Seifried Helbling. Ein mittelhochdeutscher Dichter aus der Umgebung des Stiftes Zwettl, hrsg. von Christian und Lisa Hawle-Ambrosch, Göppingen 1995 (GAG 623), 172. 31 Es handelt sich um Lied XXXII; vgl. dazu auch Ackermann (wie Anm. 7), 306; Linden (wie Anm. 7), 241.

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Do ich nu jungest von iu schiet, do sunget ir guot niuwiu liet, der selben liet sprach einez so, daz iwer herze sprünge ho und wie ez stiez an iwer prust: daz was der ritterschaft gelust, daz ich nu wol verstanden han‹. der rede man lachen do began. (1468, 1–1469, 8) Sobald mich [Ulrich/Artus] der Schenk gesehen hatte, sprach der Tüchtige in freudig erhöhter Stimmung: ›Gott willkommen, König Artus! Ich sehe wohl, dass die Minne wahrlich in Eurem Herzen wohnt, denn sie lässt Euch nie ruhen; sie rät Euch zu viel Geschäftigkeit, deshalb werdet Ihr unablässig zu Tjosten herausgefordert. Als ich nun zuletzt von Euch schied, da sangt Ihr treffliche neue Lieder, von diesen Liedern lautete eines so, dass Euer Herz hoch spränge und wie es an Eure Brust stieß: Das war das Vergnügen an ritterlicher Betätigung, wie ich nun wohl verstanden habe‹. Über die Worte lachte man.

Das einvernehmliche Lachen, das der Schenk durch seine geistreichen Bemerkungen erzielt, zeichnet ihn als Herrn der Lage aus und erlaubt es ihm, Ulrichs Spiel mitzuspielen und gleichzeitig Distanz zu wahren.32 Auffällig ist, dass der Schenk im weiteren Verlauf der Artusfahrt aktiv als Mitspieler in Ulrichs Artusspiel agiert, indem er wiederholt eine Wortführerrolle übernimmt: Er ist der erste, der Kadolt Weises Einladung zu einem Turnier nach Mähren annimmt und damit auf breite Zustimmung bei den anderen Rittern stößt (1511, 1–1512, 8). Er ist zudem derjenige, der, als Herzog Friedrich später die Einzeltjost-Kämpfe zugunsten eines vorgezogenen Mannschaftsturniers abbrechen lässt, darauf drängt, dass der Herzog und Ulrich/Artus in getrennten Mannschaften antreten (1572, 1–8), was kämpferische Reizreden auf Seiten des Herzogs und Ulrichs/ Artus’ provoziert (1577, 1–1578, 8). Überraschend ist aber v. a., dass er anschließend beim Mannschaftsturnier als Mann des Herzogs, nachdem dieser wieder in die Gegenspieler-Position zu Ulrich/Artus gerückt ist, nicht in der herzoglichen Mannschaft, sondern in der Ulrichs/Artus’ am Turnier teilnimmt (1581, 1– 1589, 8).33

|| 32 In der Forschung wird das Lachen meist auf einen Rollenbruch bzw. auf eine ›Vermischung der Realitätsebenen‹ bezogen; vgl. Ackermann (wie Anm. 7), 306, Linden (wie Anm. 7); Müller (wie Anm. 9), 47. 33 Die Prinzipien der Zuteilung zu den Mannschaften bleiben – nicht zuletzt, weil offensichtlich ein Vers fehlt – unklar. Der Herzog trägt Ulrich/Artus auf, die Teilung vorzunehmen (1568, 5). Nachdem der Schenk seinen Vorschlag vorgebracht hat, sind es jedoch letztlich ›die Ritter‹, die die Mannschaften auf König Artus und den Herzog verteilen (1572, 5f.; 1574, 3).

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Ein anderer Kandidat, der während des Begrüßungszeremoniells Lachen erzeugt, ist »her Rapot von Valkenberc« (1491, 1f.).34 Wie der Schenk scheint Rapot, indem er an der Begrüßung teilnimmt, Anwärter auf eine Komplizenschaft in Ulrichs/Artus’ Spiel zu sein. Allerdings wird er vom Erzähler von vornherein durchweg negativ als jemand charakterisiert, der gewaltsam die Armen beraubt und seinem Herrn unholt sei (1491, 1–1492,8). Tatsächlich bleibt ›Rapot‹ gegenüber den anderen Rittern, die sich im Lachen anlässlich seines (nicht wörtlich wiedergegebenen) Grußes als Gemeinschaft konstituieren (1493, 2), ein Außenseiter. Dadurch, dass er nie lächle – »daz nie ersmielte sîn munt«, so heißt es von ihm –, zeige sich seine »unbescheiden site«, seine rücksichtslose Gesinnung (1493, 3–5). Im Modell befände er sich damit in der Position des ›Naivlings‹, d. h. desjenigen, der das Spiel nicht versteht (in diesem Falle, weil er des Spiels nicht würdig ist).35 Im Mannschaftskampf gehört er später der Partei Herzog Friedrichs an (1584, 1–1587, 8).

4 Selbstinszenierung im eigenen ›Diskurs des Gesetzes‹: die Figur des Kadolt Weise Die interessanteste Figur, an die sich im Rahmen der Artusfahrt Lachen knüpft, ist jedoch »der biderbe Weise Kadolt« (1500, 2). Der sich über vier Strophen erstreckende Lobpreis, mit dem der Ich-Erzähler ihn einführt (1496, 1–1500, 8), erregt nicht nur durch seine Länge und die einleitende Publikumsapostrophe Aufmerksamkeit, sondern auch durch seine Metaphorik und den Kadolt verliehenen Namen »Swendenwalt« (1498, 4), in dem Wolframs Bezeichnung »waltswende« für Feirefiz (Parzival, 57, 23) anklingt.36 Kadolt, der Artus/Ulrich mit || 34 Zum historischen Rapot von Falkenberg vgl. Hangler (wie Anm. 30), 114; Franz Schnürer, »Falkenberg und die Falkenberge«, Blätter des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich NF 19 (1885), 348–419, hier: 371f., 384f., 389f.; Helmut Birkhan, Art. »Rapot von Falkenberg«, in: 2VL, Bd. 7, 992f. Rapot war sowohl mit den Kuenringern als auch mit den – für den vorliegenden Zusammenhang wichtigen – Waisen verwandt; vgl. Anna M. Drabek, »Die Waisen. Eine niederösterreichisch-mährische Adelsfamilie unter Babenbergern und Přemysliden«, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 74 (1966), 292–332, hier: 312–317 und 330. 35 Zur Frage, inwieweit das Lachen der Gemeinschaft gar einem ›Verlachen‹ gleichkommt, d. h. zum Grad des Ausschlusses bzw. der problematischen Integration ›Rapots‹ vgl. Linden (wie Anm. 7), 107, sowie Müller (wie Anm. 9), 50. 36 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, 2 Bde., nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und komm. von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt

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einem Aufgebot von fünfzehn Rittern begrüßt, führt eine schöne Jungfrau mit sich, bei der es sich laut Ulrich um eine von »frow Ere« (1500, 7) in die Steiermark ausgesandte Botin handelt. Diese lädt im Namen ihrer Herrin die Anwesenden zu einem Turnier »in Beheim lant [...] ze Krumbenowe« (1501, 6f.) ein, bei dem der Weise Kadolt seiner und ihrer Herrin diene und sich ihre Herrin selbst zum Turnierpreis aussetze (1501, 1–1507, 8).37 In diesem Zusammenhang singt sie ein Loblied auf Kadolt als leuchtendes und ruhmreiches Vorbild im ritterlichen Dienst von frow Ere. Kadolt reagiert darauf mit gespielter Beschämung und dem Vorwurf, sie lobe ihn in spotes wis: ›[...] Der Weise mir der rede gestat, her Kadolt, dem si [vrow Ere] ofte hat vil werdeclichen gruoz gegeben: er chan ze dienst ir schone leben, von herzen er ir wol behaget, er hat vil ofte pris bejaget in ir dienste ritterlich, des ist er von ir lobes rich.‹ Der Kadolt Weise der sprach also: ›vrowe, ir lobt mich alze ho, ir lob mich waen in spotes wis, und het ich also hohen pris, als ir von mir hie habt gesaget. lat iwern spot vil schoeniu maget, iwer übric lop mich machet rot, des gat mir wol von schulden not!‹ Der rede manic ritter lachte da. do sprach diu maget aber sa: ›ich het vil gerne daz vernomen, wer hinze der ritterschaft wolde chomen ze Krumbenowe; und west ich daz, mir were verre deste baz.

|| a. M. 2006 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 7). Bereits im ersten Teil des Frauendienstes hat Ulrich die Metapher auch für ›Ilsunc von Scheuflich‹ verwendet (656, 2). 37 Beheim ist hier als Sammelbezeichnung für das böhmische Reich aufzufassen, das auch Mähren einschloss (vgl. dazu Prosabrief B, 107, 55; und 953, 1f., wo Ulrich jeweils über die Thaya nach Beheim zieht), und Krumbenowe entsprechend als Mährisch Kromau; vgl. Theodor von Karajan, »Anmerkungen zum Frauendienst«, in: Ulrich von Lichtenstein, hrsg. von Karl Lachmann, Berlin 1841, Nachdruck Hildesheim, New York 1974, 661–679, hier: 679; Matthias Prangerl, »Die Witigonen; ihre Herkunft, ihre ersten Sitze und ihre älteste Genealogie«, Archiv für österreichische Geschichte 51 (1873), 503–576, hier: 526f., Anm. 5.

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mir enhatz dehein ritter noch verjehen, dar an ist leide mir geschehen.‹ (1508, 1–1510, 8) ›Der Weise gestatte mir diese Worte, Herr Kadold, dem sie [Frau Ehre] oft viele ehrenvolle Freundlichkeiten hat zukommen lassen. Er versteht es auf feine Weise ihr zu Diensten zu sein, er gefällt ihr von Herzen gut, er hat sehr oft in ihrem ritterlichen Dienst Ruhm erworben, daher erhält er von ihr hohes Lob‹. Der Kadolt Weise entgegnete folgendermaßen: ›Herrin, Ihr lobt mich allzu hoch, Ihr lobt mich, wie ich glaube, spöttisch, auch wenn ich tatsächlich so hohes Lob verdient hätte, wie Ihr es von mir hier gesagt habt. Lasst Euren Spott, schöne Jungfrau, Euer übermäßiges Lob macht mich rot, das bringt mich wohl zurecht in Bedrängnis.‹ Über diese Worte lachten da viele Ritter. Da sagte die Jungfrau abermals Folgendes: ›Ich hätte gerne erfahren, wer zum ritterlichen Turnier nach Kromau kommen wollte; und wüsste ich das, mir wäre desto besser (zumute). Mir hat noch kein Ritter zugesagt, das betrübt mich.‹

Kadolts Unterstellung, seine Ehrenbotin würde ihn spöttisch loben,38 entspricht als scheinbare Selbstherabsetzung einer Form der Selbstironie, da seine Ehrenbotin Teil eines von ihm initiierten Arrangements der Selbstinszenierung ist. Das Lachen der umstehenden Ritter signalisiert ihm hierbei, dass er verstanden wurde, seine selbstironische Selbstinszenierung also gelungen ist. Indem seine Ehrenbotin die Komplizenschaft der umstehenden lachenden Ritter sofort erfolgreich ausnutzt, um konkrete Zusagen für das Turnier in Krumbenowe einzuwerben, gelingt es Kadolt darüber hinaus, sein vrow-ere-Spiel gegenüber Ulrichs Artusspiel als einen weiteren ›Diskurs des Gesetzes‹ zu etablieren. Im weiteren Verlauf der Artusfahrt zeigt sich, dass die Beziehung zwischen Kadolt und Ulrich/Artus eine ganz besondere ist. Als beobachtbar wird, wie sich die Tafelrunde mehr und mehr von den übrigen Rittern absetzt, bittet Kadolt Ulrich/Artus heimlich und persönlich um das Privileg, ihm am nächsten Morgen die erste Tjost zu gewähren (1531, 1–8). Ulrich/Artus kommt dieser Bitte nicht nur bereitwillig nach, sondern betont, aufgrund von Kadolts hohem Ansehen sei er umgekehrt derjenige, der dies von Kadolt erbitten müsse (1532, 1–8). Kadolts Auftritt wird bei seiner Ankunft auf dem Turnierplatz ausführlich beschrieben: Er führt einen Löwen im Wappen, sein prächtiges Gefolge besteht neben der schönen ›Ehrenbotin‹ aus 70 Rittern, er und Ulrich/Artus reiten eine Tjost, wie sie nicht schöner sein kann (1534, 1–1540, 8). Als Ulrich/Artus allerdings zu einer weiteren Tjost ansetzt und einen zweiten Speer zur Hand nimmt, lässt Kadolt ihm über seine Ehrenbotin ausrichten, dass er aufgrund einer Handverletzung nicht mehr weiterstechen könne (1541, 1–8). Anders als Fried|| 38 Zur verbalen Ironie in Form von »Tadel durch Lob« und »Lob durch Tadel« vgl. auch allgemein Ingrid Tomkowiak, Art. »Ironie«, in: Rolf Wilhelm Brednich u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Märchens, Bd. 7, Berlin 1993, 285–294, hier: 286; Knox (wie Anm. 16), 21f.

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rich, der sich mit seinem öffentlichen Dienstangebot (scheinbar) den Artusspielregeln unterordnen will, vermeidet Kadolt auf diese Weise von vornherein die Statusfrage von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu Ulrichs Artusgefolge. Er erwirbt sich vielmehr im Rahmen seiner eigenen Diskursregeln einen privilegierten Status und kann damit das Artus-Spiel ergänzen, ohne in Konkurrenz treten oder Statusfragen klären zu müssen.39 Dass die Auflösung des Artusspiels am Ende mit der Figur Kadolts zusammenhängt, wird im Frauendienst zwar nicht explizit gemacht, aber nahe gelegt. Bei der Teilung des Turniers fällt Kadolt, dessen Erwähnungen weiterhin jeweils von betontem Erzählerlob begleitet werden, der Mannschaft Ulrichs/Artus’ zu (1581, 1–1588, 8). Dadurch, dass anschließend lobend erzählt wird, wie »der biderbe man« (1590, 4) im Turnier zwei Pferde von namentlich genannten Männern des Herzogs gewinnt, bekommt das Spiel neben der imaginären allerdings eine deutlich materiell-realistische Dimension.40 Es ist dies der Augenblick, in dem, ohne dass dies vom Erzähler weiter kommentiert würde, der Bote des Herzogs heran reitet und den ›Breuzel‹-Brüdern als den Anführern der herzoglichen Mannschaft vom Herzog weiteres Turnieren untersagt (1591, 1–1599, 8). Sowohl die Männer des Herzogs als auch Ulrich und seine Mannschaft fügen sich – voller Zorn und Trauer – dem Befehl des Herzogs; das Turnier ist zu Ende (1592, 1–1600, 8). Die Machtdemonstration des Herzogs reicht jedoch noch weiter: Als Ulrich/Artus anschließend zum Turnier nach Krumbenowe reiten will, verbietet ihm der Herzog in einer persönlichen Unterredung und unter Aufrechterhaltung der Artusfiktion die Fahrt. Er befürchte, so erklärt er, dass der böhmische König Ulrich/Artus gefangen nehmen würde (1605, 1–1607, 8).41 Teilnahme und Nicht-Teilnahme am Turnier in Krumbenowe werden gleichsam zu einem Loyalitätstest für den Herzog: Wer von seinen Männern an diesem Turnier teilnehme, so der Herzog, sei sein Gegner (1608, 1–8). Indem der Herzog durch direkten Befehl, nämlich per Verbot, den Gehorsam seiner Männer ein-

|| 39 Ähnlich Linden (wie Anm. 7), 242–244. 40 Genannt werden Pilgrim von Kapellen und Reimbot von Newalin. Zumindest die Kapeller gehörten nachgewiesenermaßen zu den Ministerialen im Traungau, die Herzog Friedrich während der Ächtung die Treue hielten; vgl. Dopsch u. a. (wie Anm. 30), 307. 41 Den historischen Hintergrund für die angespannte Situation bildet vermutlich der heiratspolitische Konflikt zwischen Herzog Friedrich und König Wenzel I. Der Herzog hatte seine Nichte Gertrud zunächst Vladislav, dem Sohn und Thronerben König Wenzels I., versprochen; die Verlobung fand 1241 statt. Dann aber bot er Gertrud Kaiser Friedrich II. an, woraufhin Wenzel I. die Herausgabe der Braut mit Gewalt erzwingen wollte; sein Heer wurde aber am 26. Januar 1246 bei Staatz besiegt; vgl. dazu Jörg K. Hoensch, Přemysl Otakar II. von Böhmen. Der goldene König, Graz u. a. 1989, 29f.; Dopsch u. a. (wie Anm. 30), 442.

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fordert, macht er sich und seine Leute absichtlich zu Ausgeschlossenen in Kadolts höfisch-ritterlichem vrow Ere-Spiel. Das Turnier in Krumbenowe, so berichtet Ulrich, wird jedoch unabhängig vom herzoglichen Verbot ein großer Erfolg: In vielen Ländern sei man voller Lob für Kadolt Weise, der es nach eren wol durchgeführt habe (1609, 5–8).42 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unabhängig davon, ob man in den skizzierten Redeszenen interaktionelle Ironiesignale erkennen will oder nicht, diese sich dem Hamon’schen Modell als einem Analyseinstrument öffnen, das Ein- und Ausschlussverfahren innerhalb der Figurenkonstellation beschreibbar macht. Das textinterne Publikum wird auf der Handlungsebene des Frauendienstes in Komplizen und Ausgeschlossene im Artusspiel aufgeteilt. Während zur ersteren Gruppe Schenk Heinrich und eine Gemeinschaft von Rittern gehören, die sich im Lachen konstituiert, besteht die letztere Gruppe zum einen aus ›Rapot‹, der des Spiels nicht würdig ist, und dem Herzog, der zwischen den Positionen eines komplizenhaften Mitspielers und eines Gegenspielers pendelt. Anders als diesen beiden Gruppierungen gelingt es hingegen dem Ritter Kadolt Weise, sich sämtlichen zur Disposition stehenden Positionen und damit den Ein- und Ausschlussverfahren des Artusspiels zu entziehen. Mit seinem vrow Ere-Spiel als einem eigenen ›Diskurs des Gesetzes‹ tritt er gleichsam als dritte Macht neben die Gegenspieler Ulrich/Artus und den Herzog als Repräsentanten der Machtverhältnisse in der Artusspielwelt und der ›Realität‹. Wer ist er bzw. für wen steht er?

5 Verstreute Nachrichten: die historischen Waisen im Dienste des böhmischen Königs Urkundlich sind die historischen Waisen (Orphani), denen sich Ulrichs ›Kadolt‹ vermutlich zuordnen lässt, d. h. Kadold II. und Siegfried IV., als Teil einer niederösterreichisch-mährischen Adelsfamilie belegt, die unter ihrem Vater, Siegfried III., noch zur babenbergischen Ministerialität gehörte, aber bereits im Rahmen einer Doppelministerialität Lehen vom böhmischen König in Mähren || 42 Die Anmerkung Hartmut Bleumers, dass »[d]ie Artusfahrt [...] für Friedrich von Österreich das Anerkenntnis [sic!] des ritterlichen Ideals ins Bild [bringt], was für seinen Gegner, den böhmischen König, gerade nicht gelten soll«, erscheint mir rein aus der Perspektive des Herzogs gedacht und missverständlich; vgl. Hartmut Bleumer, »Der Frauendienst als narrative Form«, in: Sandra Linden, Christopher Young (Hrsg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung, Berlin 2010, New York, 358–397, hier: 387.

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besaß.43 1239 gaben die Brüder ihren Besitz in Österreich auf und unterstellten sich ganz dem böhmischen König.44 Seit den vierziger Jahren sind sie wiederholt im Umfeld Wenzels I. (böhmischer König 1230–53) bezeugt, seit 1249, also bereits zur Markgrafenzeit, auch in dem seines Sohnes, dem späteren böhmischen König Přemysl Otakar II. (1253–78).45 Spätestens ab 1254, d. h. etwa zur Entstehungszeit von Ulrichs Frauendienst, gehört Kadold zu den engsten Vertrauten Otakars.46 Auch in einigen volkssprachlichen Chroniken sind die Waisen keine Unbekannten: Im 1271 entstandenen Fürstenbuch Jans Enikels und in der 1394 fertiggestellten Chronik von den 95 Herrschaften Leopolds von Wien kämpfen sie am 26. Januar 1246 in der Schlacht von Laa an der Thaya auf der Seite der Böhmen gegen die beiden Preußel-Brüder, die zur Partei Herzog Friedrichs II. gehören.47 || 43 Im Unterschied zu Drabek (wie Anm. 34), 308, die ausgehend von der üblichen Datierung der Artusfahrt auf 1240 annimmt, dass ›Kadolt Weise‹ mit Kadold dem Älteren, dem Bruder Siegfrieds III. zu identifizieren ist, halte ich durch die Tatsache, dass ›Kadolt‹ auf Ulrichs Artusfahrt zusammen mit den ›Breuzel‹-Brüdern auftritt, eine Bezugnahme auf Kadold II. für wahrscheinlicher. Gerstingers – an der Handverletzung und ›Kadolts‹ Tjostabbruch festgemachter – Hinweis auf ›Kadolts‹ hohes Alter im Frauendienst vermag ebenfalls nicht zu überzeugen; vgl. Heinz Gerstinger, Frau Venus reitet ... Die phantastische Geschichte des Ulrich von Liechtenstein, St. Peter ob Judenburg 1995, 116. 44 Vgl. Weltin (wie Anm. 30), 170; ders., »Zur niederösterreichischen Stadtministerialität im 13. Jh. (am Beispiel von Laa an der Thaya)«, Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 44 (1973), 113–128, hier: 116–120; ders., Die ›Laaer Briefsammlung‹. Eine Quelle zur inneren Geschichte Österreichs unter Ottokar II. Přemysl, Wien u. a. 1975, 17f. und 48; Hangler (wie Anm. 30), 115f.; Ursula Liebertz-Grün, Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling, München 1984 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), 83–85. 45 Vgl. Drabek (wie Anm. 34), 309f.; Hangler (wie Anm. 30), 115. 46 Vgl. Hoensch (wie Anm. 41), 45 und 51. Zugeteilt wurden den Waisen die Festung Laa an der Thaya und die Burgen Litschau und Heidenreichstein im Waldviertel; vgl. Weltin (wie Anm. 44), 120. Darüber hinaus trägt heute noch die Burgruine Sirotči hrad (Burg Waisenstein) bei Klentnice (Klentnitz) ihren Namen. Ich danke Herrn Prof. PhDr. Václav Bok, CSc. für diesen Hinweis. – Kadold starb am 26. Juni 1260 im Krieg gegen die Ungarn zusammen mit anderen Vertrauten Otakars in einem Hinterhalt bei Staatz; sein Besitz zerfiel, da er keine Erben hinterließ. Sein Bruder Siegfried verlor später aus undurchsichtigen Gründen – möglicherweise hatte Wok von Rosenberg daran Anteil – die Gunst Otakars und damit die Burgen Litschau und Heidenreichstein; vgl. Drabek (wie Anm. 34), 317–319; Hoensch (wie Anm. 41), 115; Hangler (wie Anm. 30), 115. 47 Vgl. Jansen Enikels Werke. Weltchronik – Fürstenbuch, hrsg. von Philipp Strauch, Hannover 1891–1900, Nachdruck München 1980 (MGH Deutsche Chroniken 3), V. 3071–4214; Die Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hrsg. von Joseph Seemüller, Hannover, Leipzig 1906–09, Nachdruck Dublin u. a. 1974 (MGH Deutsche Chroniken 6), 3, 241–244. Enikel hat den Böhmeneinfall allerdings auf den 11. November 1245 verlegt; vgl. Strauch (Hrsg.), 653f., Anm. 4.

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Enikel schildert hierbei ausführlich sowohl die imposante ritterliche Erscheinung Siegfrieds und Kadolds (Fürstenbuch, V. 3071–3097) als auch die höfischritterlich anmutenden Zweikämpfe zwischen den Waisen und den Preußels, die in der Gefangennahme der Waisen durch die Preußels münden (Fürstenbuch, V. 3395–3776).48 Als der Herzog die Waisen, denen er untriuwe vorwirft, enthaupten lassen will, setzen sich die Preußels nicht nur umgehend und vehement für sie ein, sondern nehmen sie nach ihrer breit auserzählten, dramatischen Rettung an den Händen, um sie in der Stadt Laa ritterlich mit Pferden und Kleidung auszustatten (Fürstenbuch, V. 3955–4222).49 Im 1291 entstandenen Gedicht XIII der Lehrgedicht-Sammlung des Seifried Helbling (Kleiner Lucidarius) werden die Waisen ebenfalls als Inbegriff höfischer Ritterlichkeit erwähnt und charakterisiert.50 Den Kontext ihrer Erwähnung bildet eine lobende Aufzählung ritterlich lebender Landherren, deren Reihenfolge sich an der Ständeordnung orientiert:

|| 48 Witthöft (wie Anm. 6), 90–95, verweist – wenngleich mit zwischenzeitlichen irritierenden Ungenauigkeiten und Verwechslungen von Böhmen und Ungarn – auf den Kontrast zwischen der Ritterlichkeit der nachträglich geschilderten Zweikämpfe gegenüber der Unritterlichkeit des österreichischen Siegs: Der Herzog konnte auf Anraten seines Hauptmanns Wernhart Preußel zuvor einen Großteil der böhmischen Ritter gefangen nehmen, weil er auf unritterliche Weise die Pferde der Böhmen durch seine Armbrustschützen erschießen ließ (Fürstenbuch, V. 2829–3394); vgl. auch Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273–1439. 1. Halbbd.: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrecht II. 1358, Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich 2/1), 250f. 49 Drabek (wie Anm. 34), 310, zufolge äußert sich hierin »der starke Zusammenhalt der Adelsschicht jener Zeit [...], die über Landesgrenzen hinweg durch die gemeinsame ritterliche Lebensweise verbunden war.« Anders hingegen Witthöft (wie Anm. 6), 97, die den Einsatz der Preußels allein auf »das ganz konkret gegebene Sicherheitsversprechen gegenüber den Gefangenen« zurückführen will. Anspielungen auf eine besondere Freundschaft zwischen den Preußels und den Waisen, die zeitlich später in Ereignisse nach 1253 eingebettet sind, bietet jedoch auch Ottokars Österreichische Reimchronik (wie Anm. 5), I, 1327–35. – Schwierig zu beurteilen ist, inwieweit nach der Schlacht bei Laa 1246 zunächst eine erneute Bindung der Waisen an den Herzog erfolgte. Siegfried ist offensichtlich bereits wenige Monate später im Juni im Gefolge Herzog Friedrichs urkundlich belegt. Nach dem Tod des Herzogs sind die Waisen ab 1249 in der Umgebung Přemysl Otakars II. zu finden; vgl. Drabek (wie Anm. 34), 310. 50 Zitierte Ausgabe: Seifried Helbling. [Der kleine Lucidarius.], hrsg. und erkl. von Joseph Seemüller, Halle a. d. S. 1886, Nachdruck Hildesheim u. a. 1987, XIII, 69–87; zur wahrscheinlichen Rezeption des Frauendienstes durch den Dichter vgl. Knapp (wie Anm. 48), 273; vgl. außerdem allgemein Hangler (wie Anm. 30); Ingeborg Glier, Art. »Helbling, Seifried«, in: 2VL, Bd. 3, 942–947; Ursula Liebertz-Grün, Seifried Helbling. Satiren kontra Habsburg, München 1981; dies. (wie Anm. 44), 11–69.

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Der Dichter nennt zunächst die edelfreien Hardegger und Schleunzer, dann die Kuenringer [denen er mutmaßlich nahesteht] als bedeutendstes Ministerialengeschlecht und läßt 51 die Falkenberger, Maissauer und Waisen folgen.

Die Waisen werden an prominenter Stelle am Schluss der Auflistung als Tote beklagt und vom Verfasser des Seifried Helbling als würdige Gegner Gahmurets und Parzivals gerühmt. Anders als Wolfram von Eschenbach, der die Waisen nie habe kennen lernen können, um ihr Loblied zu singen, habe sie der Verfasser selbst getroffen und könne die ihnen entgegengebrachte Achtung bezeugen: ich klag die edlen Weisen, gên vîntlîchen reisen pflâgen sie ritterlîcher sit. her Kâdolt und her Sîfrit, zwên helde manlîch unde milt, fuorten den leun an dem schilt und heten ouch des leun muot. der leu snelliclîchen tuot sîn getât mit krefte. sô sie ze ritterschefte zimierten sich ûf ritters wal, Gamuret und Parzivâl hieten dô funden strîtes vil. doch brâht ir lop zem hAhsten zil Wolfram von Eschenbach, der ir einen nie gesach: sô hân ich dise wol gesehen daz in ist êren vil geschehen. die werden immer sint ze klagen. (V. 69–87) Ich beklage die edlen Waisen, auf feindlichen Kriegszügen übten sie sich in ritterlichem Verhalten. Herr Kadold und Herr Siegfried, zwei Helden, tapfer und freigebig, führten den Löwen auf dem Schild und hatten auch die Gesinnung eines Löwen. Der Löwe vollbringt seine Taten rasch mit ganzen Kräften. So schmückten sie sich zur Ritterschaft auf dem Schlachtfeld des Ritters, Gahmuret und Parzival hätten da viele gegnerische Zweikämpfe gefunden. Wenngleich Wolfram von Eschenbach ihren Lobpreis zur höchsten Vollendung brachte, hatte er nie einen der beiden [Waisen] gesehen: Hingegen habe ich sie wohl gesehen [und bemerkt], dass ihnen hohes Ansehen zuteil wurde. Die (beiden) Vortrefflichen sind für immer zu beklagen.

|| 51 Hangler (wie Anm. 30), 113f. Der von Ulrich negativ charakterisierte Rapot von Falkenberg erscheint möglicherweise auch hier ambivalent (Seifried Helbling XIII, V. 42–55).

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6 Das Artusspiel und seine mögliche Funktion Inwieweit können die verstreuten und sicherlich unvollständigen späteren historischen Nachrichten zu Kadolt Weise dazu beitragen, die mögliche Funktion der skizzierten Redewechsel im Hinblick auf das textexterne Publikum zu erhellen? Die Auffassung, dass die Artusfahrt für die Eingeweihten eine politische Botschaft besitzt, ist in der Forschung nicht neu: Fritz-Peter Knapp etwa vermutet, dass »spezielle politische Aktionen dahinterstehen« könnten, die über die unübersehbare Beschwörung eines »aristokratische[n] Solidaritäts- und Sendungsbewußtsein[s]« hinausreichen.52 Hermann Reichert, der die Artusfahrt als »pseudo-historisches« Ereignis im Jahr 1240 ansiedelt, vermutet in ihr eine ›Werbemaßnahme‹ für die ab 1241 nachweisbare Tätigkeit des historischen Ulrichs von Liechtenstein als dapifer Stirie (Truchsess der Steiermark) und die Anpreisung damit verbundener Vorzüge desselben: »Beliebtheit bei den gegen den österreichischen Herzog eingestellten Steirern, gepaart mit absoluter Loyalität und Gefolgstreue diesem gegenüber«.53 Ungeachtet der Frage, ob die Artusfahrt überhaupt historisch stattgefunden hat, ist der Frauendienst mutmaßlich um 1255 entstanden, was bedeutet, dass die Erzählung aus dem Gestus eines Rückblicks erfolgt.54 Da literarische Fiktion außerdem keinerlei Anspruch auf historische Richtigkeit erhebt, hat sie überdies die Möglichkeit, verschiedene historische Ereignisse und deren Personal zusammenzuziehen. Ironie – und dies würde auch das Vorführen ironischer Interaktionsmuster zwischen Personen in einer fiktionalisierten Vergangenheit einschließen, die dem textexternen Publikum als Zeitgenossen bekannt sind – kann hierbei als ein Mittel fungieren, mit dem auf veränderte, komplexer gewordene außerliterarische Verhältnisse reagiert wird und das als Distanzierungsstrategie ein spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit ausdrückt.55

|| 52 Beide Zitate Knapp (wie Anm. 18), 489. Eine »äußerste Steigerung der ›Artusfahrt‹ ins Ideologische« sieht auch Marie-Luise Dittrich, »Die Ideologie des guoten wîbes in Ulrichs von Lichtenstein Vrowen dienst«, in: Dietrich Hofmann, Willy Sanders (Hrsg.), Gedenkschrift für William Foerste, Köln, Wien 1970 (Niederdeutsche Studien 18), 502–530, hier: 518. 53 Hermann Reichert, »Exzentrizität als Zentralgedanke. Ulrich von Liechtenstein und seine Artusfahrt von 1240«, Österreich in Geschichte und Literatur 27 (1983), 25–40, hier: 38–40. 54 Dies sieht auch Reichert (wie Anm. 53), 40, demzufolge jedoch Ulrich und sein ›Tristan‹ Nicolâ von Lebenberc bereits 1258 wieder in feindlichen Heeren belegt seien und Ulrich daher »die tatsächlichen Verhältnisse von 1240 geschildert« haben müsse; vgl. dazu Ottokars Österreichische Reimchronik (wie Anm. 5), I, V. 6012–6134. 55 Green (wie Anm. 8), 147, zufolge legt Ironie oftmals eine »komplexere [...] Wahrheit« nahe; für Umberto Eco ist die »ironische Rückschau«, die er als Markenzeichen sowohl der Postmo-

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Im Zusammenhang mit den angeführten historischen Zeugnissen lässt sich festhalten, dass in der Darstellung des Frauendienstes die Figur Kadolt Weises auf Böhmen als eine weitere bedeutsame politische Kraft mit hohem höfischritterlichem Standes- und Wertbewusstsein im Spannungsfeld zwischen dem österreichischen Landesherrn und Ulrich/Artus als Repräsentanten der steirischen Landherren verweist. Ulrich von Liechtenstein war zur Zeit der Abfassung seines Frauendienstes um 1255 vielleicht ein Panegyrikus des Spruchdichters Sigeher bekannt, in dem der böhmische König Wenzel I. als ein von Fruote, Salomon und Artus gekrönter König in einer Vorrangstellung vor allen Königen gepriesen wird.56 Auffällig ist außerdem, dass sich, abgesehen vom engstem Kreis der Tafelrundenritter, in Ulrichs/Artus’ Turnierpartei am Ende der Artusfahrt mit dem Schenk Heinrich von Haßbach, Kadolt Weise, Heinrich von Liechtenstein und Otto von Haslau ausschließlich Männer aus dem Kreis der österreichischen Ministerialen befinden, die 1251 dem böhmischen Thronfolger Přemysl Otakar zur landesfürstlichen Machtübernahme in Österreich verhalfen.57 Der

|| derne als auch der nostalgischen Mittelalterrezeption im 16. Jh. betrachtet, v. a. durch den Verlust von ›Unschuld‹ und ›Idealismus‹ gekennzeichnet; Umberto Eco, »Postmodernism, Irony, the Enjoyable«, in: Peter Brooker (Hrsg.), Modernism/Postmodernism, London u. a. 1992, 225–228, hier: 226f.; vgl. ders.: »Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen« (1983), in: ders., Über Spiegel und andere Phänomene, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München, Wien 1988, 111–126, hier: 119. 56 Vgl. Meister Sigeher, hrsg. von Heinrich Peter Brodt, Breslau 1913, Nachdruck Hildesheim, New York 1977, 93, Nr. 8. Dieser Spruch muss noch zu Wenzels Lebzeiten, d. h. vor dem 22. September 1253, entstanden sein; vgl. dazu auch Hans-Joachim Behr, Literatur als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am böhmischen Königshof im 13. Jahrhundert, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 9), 83–85. – In einem weiteren Lobspruch (Nr. 9) empfiehlt das Sprecher-Ich König Artus die beiden Preußel-Brüder für seine Tafelrunde; vgl. dazu Ulrich Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, Göppingen 1974 (GAG 55/56), 126, der einen möglichen Zusammenhang mit der Artusfahrt Ulrichs von Liechtenstein vermutet; vgl. auch Knapp (wie Anm. 18), 303f. Als terminus ante quem für diesen Spruch kann der 3. Oktober 1267 gelten, da zu diesem Zeitpunkt beide Brüder tot sind; vgl. dazu Behr (wie Anm. 56), 93f. Nach dem Tod Herzog Friedrichs erscheint die Parteizugehörigkeit der Preußels wechselhaft: In den fünfziger Jahren stehen beide wohl auf ungarischer Seite; vgl. dazu Hangler (wie Anm. 30), 172; Weltin (wie Anm. 30), 163, Anm. 14, 181, 199; Behr (wie Anm. 56), 93f. 57 Zu diesem Personenkreis Weltin (wie Anm. 30), 177, Anm. 82, der die »Hardegger, Kuenringer, Haslauer, Maissauer, Seefeld-Feldsberger, Haßbacher, Zagging-Sommerauer, Liechtensteiner, Lenbach-Kreuzensteiner, Pottendorfer, Falkenberger und vielleicht noch die WolkerdorfUlrichskirchner« nennt; vgl. auch die Aufstellung bei Sandra Linden, »Biographisches und Historisches. Eine Spurensuche zu Ulrich von Liechtenstein«, in: dies., Christopher Young (Hrsg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung, Berlin 2010, 45–98, hier: 82– 84, sowie Hangler (wie Anm. 30), 112–116, 172f., Hoensch (wie Anm. 41), 28–54, 135f. und Regis-

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historische Ulrich von Liechtenstein selbst unterhielt zur Zeit der Abfassung des Frauendienstes ebenfalls enge politische Beziehungen zu Přemysl Otakar: So war der Liechtensteiner am 11. Februar 1252 bei Otakars Hochzeit mit Margarete von Österreich anwesend und stieg – allerdings erst mehr als ein Jahrzehnt später – unter Otakar in hohe politische Ämter auf.58 Vor dem Hintergrund des Wissens um die historischen Zusammenhänge können die skizzierten Redeszenen auf das textexterne Publikum ironisch wirken, müssen es aber nicht, zumal die Fähigkeit, ihre möglicherweise intendierte Ironie zu erkennen, den ›Eingeweihten‹ vorbehalten bleiben muss. Als Konfiguration von interaktionellen Ein- und Ausschlussverfahren, die anhand einer fiktionalisierten Vergangenheit vorgeführt werden, signalisieren sie jedoch unbestreitbar komplizierte Parteizugehörigkeiten in einer komplexen politischen Konstellation. Für die Eingeweihten könnte die Figuration hierbei auch eine rückwirkende politische Erklärung oder Rechtfertigung beinhalten: Mit der Figur des Ulrich/Artus kann sich der Autor Ulrich von Liechtenstein in seinem unverbrüchlichen Gehorsam gegenüber dem Landesherrn Herzog Friedrich zugleich als mächtig inszenieren und zeigen, dass er auch immer schon auf der ›richtigen‹ Seite stand, d. h. der des hoch angesehenen ritterlich-höfischen böhmischen Königs, dem österreichischen Landesherrn und Machthaber um 1255, mit dem und dessen Gefolgsleuten ihn besondere Beziehungen verbinden.

|| ter, Dopsch u. a. (wie Anm. 30), 442–449 und Register. – Schenk Heinrich von Haßbach, der zu einem der treuesten Parteigänger Přemysl Otakars wurde, starb wahrscheinlich wie Wernhard Preußel 1267 beim Feldzug Otakars gegen Bayern. Heinrich von Liechtenstein wurde bereits 1249 von Přemysl Otakar die villa Nikolsburg geschenkt (Bestätigung 1262), 1260 amtierte er in der Steiermark als iudex provincialis und capitaneus Styrie, wurde dann aber nach wenigen Monaten von Wok von Rosenberg abgelöst. Otto von Haslau, der Přemysl Otakar vorbehaltlos unterstützt, übernimmt ab 1269 für Bruno von Olmütz die Geschäfte des Landeshauptmanns der Steiermark, wechselt aber 1276 zusammen mit Otto von Perchtoldsdorf zu Rudolf von Habsburg über. Ab 1262 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Otakar und den zu diesem Zeitpunkt noch lebenden einflussreichen österreichischen Ministerialen, bis es 1265 zu einem offenen Konflikt kam, an dem möglicherweise auch Heinrich von Kuenring-Weitra beteiligt war und in dessen Rahmen u. a. Otto von Maissau als Verschwörer hingerichtet wurde. 58 Noch unter Herzog Friedrich II. war Ulrich von Liechtenstein 1244–45 Truchsess der Steiermark (dapifer Styrie), 1267–1272 war er Marschall, 1272 Landrichter der Steiermark (iudex provincialis Styrie); vgl. die Einleitung von Spechtler (Hrsg.) (wie Anm. 1), V; ders., »Die Urkunden-Regesten zu Ulrich von Liechtenstein. Bemerkungen zu den Urkunden und zu einer Biographie Ulrichs von Liechtenstein«, in: Franz Viktor Spechtler, Barbara Maier (Hrsg.), Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, Klagenfurt 1999 (Schriftenreihe Akademie Friesach 5), 441–493. Bereits am 17. Mai 1253 taucht Ulrich von Liechtenstein im Umfeld Otakars als Zeuge auf (ebenda, 457, Schönbach Nr. 35); vgl. auch Hoensch (wie Anm. 41), 154f. und Register; Dopsch u. a. (wie Anm. 30), 617 (Register).

| II. Polemik und Provokation

Tina Terrahe

»Nu lerne, waz sterben si!« Zum höfischen Umgang mit drô und spot am Beispiel der kampfeinleitenden Reizreden bei Hartmann und Wolfram Abstract: In classical Arthurian literature we find only scant traces of heroic ›flyting‹ (the exchange of antagonistic speech between warriors, characteristic of Germanic heroic epic). This scarcity has led to a consensus among scholars that heroic combative speech is merely a conventional narrative embellishment lacking in semantic content. However, an analysis of such passages in Hartmann von Aue’s Erec and Iwein as well as in Wolfram von Eschenbach’s Parzival suggests that these dialogues actually represent a novel and modern (in contrast to examples drawn from the heroic tradition) reaction to threatening behaviour (drô) and mockery (spot). In fact, they constitute a courtly response, and shape the role of the knight in Arthurian literature. Hartmann’s works portray the protagonist within the context of the traditional system of knightly adventures, which in the main is concerned with personal reputation (prîs). The hero’s pursuit of personal honor frequently causes him to engage in senseless antisocial acts of combat that result in many women being widowed. In contrast, Wolfram’s Gawan is cast as a different type of knight – one who reflects upon his own actions, calculates the potential risks and advantages of an impending battle, and enjoys greater popularity – especially among female audiences.

1 Zielsetzung Den kampfeinleitenden Reizreden liegt meist eine stereotype Situation zugrunde: Der Held des höfischen Romans trifft während seiner Aventüre-Fahrt auf einen Kontrahenten. Teils kommt es ohne Umschweife zum Kampf, in vielen Fällen geht diesem Kampf aber ein polemisches Wortgefecht voraus, in welchem sich die Gegner mittels spot und drô provozieren. Auf der Grundlage von Hartmanns Erec und Iwein sowie Wolframs Parzival sollen diese Reizreden im Folgenden näher untersucht werden: Welche Mittel und Termini der Provokation werden benutzt und kann man diese mit dem Grad der hövescheit der Kontrahenten in Verbindung bringen? In diesem Zusammenhang verstehe ich höveschheit mit Harald Haferland als »ein Verhalten, das

134 | Tina Terrahe Anerkennung des anderen ausdrückt«1 und auf Gegenseitigkeit beruht. Im Dialog würde dies bedeuten, jegliche Feindseligkeiten zu vermeiden und das jeweilige Gegenüber nicht zu diffamieren, sondern vielmehr respektvoll anzusprechen. Zu fragen ist also: Pöbelt ein unhöfischer Gegner, etwa ein Zwerg oder ein Riese, anders als der höfische Protagonist? Lassen Vokabular und rhetorischer Stil Rückschlüsse auf den sozialen Status des Widersachers zu? Sprich: Fordert man einen Riesen anders heraus als etwa den unerkannten Bruder? Darüber hinaus sollen die Funktionen der Reizreden näher eingegrenzt werden: Nach welchem Schema laufen sie ab? Was bezwecken die verbalen Attacken und welche Rolle spielen sie im narrativen Gefüge des Textes?2

2 Forschungsabriss Die Forschung hat die kampfeinleitenden Dialoge des Artusromans bisher weitgehend vernachlässigt und wenn man sich ihrer annahm, so konnte man ihnen wenig abgewinnen. Herta Zutt hält diese Wortgefechte für eingestreuten Schmuck ohne Funktion für das Handlungsgefüge, woraus sie die m. E. fragliche These ableitet, Hartmann habe »im Erec die Bedeutung des gesprochenen Wortes noch nicht erkannt« und deshalb die direkte Rede so häufig verwendet.3 Peter Wiehl geht von der topischen Struktur dieser Redeszenen aus, die im

|| 1 Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), 174; zur höfischen Kommunikation vgl. Nine Miedema, »Gesprächsnormen. Höfische Kommunikation in didaktischen und erzählenden Texten des Hochmittelalters«, in: Elke Brüggen u. a. (Hrsg.), Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, Berlin, Boston 2012, 251–278. 2 Inwieweit dieser gesamte Komplex auf eine historische Realität bzw. auf die Erwartungshaltung des Publikums etc. anwendbar ist, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht untersucht werden. Auch wenn es generell problematisch ist, literarische Darstellungen mit einer empirischen Wirklichkeit in Beziehung zu setzen, können z. B. die in der Literatur dargestellten Konflikte doch halbwegs objektiv in die mittelalterliche Rechtspraxis eingeordnet werden. Deshalb bilden die Reizreden und v. a. die kampfauslösenden Konfliktsituationen gerade für diese Fragestellung eine günstige Forschungsbasis; vgl. hierzu u. a. (allerdings nur peripher auf die Reizreden bezogen) Oliver Bätz, Konfliktführung im ›Iwein‹ des Hartmann von Aue, Aachen 2003, und Antje Holzhauer, Rache und Fehde in der mittelhochdeutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Göppingen 1997 (GAG 639). 3 Herta Zutt, »Die Rede bei Hartmann von Aue«, DU 14, 6 (1962), 67–79, hier: 72.

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Rahmen eines Kampfrituals vom Autor beliebig eingesetzt werden könnten, jedoch ohne semantische Relevanz für die Sinnstruktur des Romans seien.4 Intensiv hat sich Martin Jones mit den Reizreden beschäftigt und sie mit dem heroic flyting, dem kampfeinleitenden Wortwechsel der Kontrahenten in der Heldendichtung, verglichen.5 Seiner Einschätzung nach gehört diese Art der Dialogführung zum »Arsenal der Register, über die der ritterliche Held verfügen muss und die er unter gegebenen Umständen als Mittel der ›verbalen Kriegsführung‹ anwendet«.6 Aus der Tradition der heldenepischen Reizreden entlehnt entsprächen sie allerdings nur noch bedingt dem höfisch-ritterlichen Verhaltens-Code, da sich der Protagonist hier einer Sprache bediene, die seiner eigentlichen Rolle als Vertreter von Recht und sittlicher Ordnung nicht entspräche.7 Demnach geht Jones davon aus, diese Dialoge seien in der Artusepik nur noch || 4 Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprachund Literaturwissenschaft 10), 52. Ausführlich hat Marcel Bax einige Kampfszenen in mittelniederländischen Ritterromanen des 13. und 14. Jh. untersucht und die rituelle Struktur der kampfeinleitenden Redeszenen betont, hält jedoch seinen Ansatz aufgrund des schmalen untersuchten Korpus’ selbst nur begrenzt für anwendbar; vgl. zuletzt Marcel M. H. Bax, »Rites of Rivalry. Ritual Interaction and Emergence of Indirect Language Use«, Journal of Historical Pragmatics 1 (2002), 61–106; vgl. hierzu auch Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), 95–99, der die Reizreden unter dem Terminus ›Kampfgespräch‹ behandelt. Auch Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997, 254, bezeichnet diese Szenen als »rituelle Sprechakte«. 5 Martin H. Jones, »nû wert iuch, ritter, ez ist zît (Erec, v. 4347). Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfes in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts«, in: Franz Hundsnurscher, Nine Miedema (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), 139–156. Die Reizreden der Heldenepik oder auch der Chanson de Geste-Tradition haben in der (v. a. angelsächsischen) Forschung wesentlich mehr Beachtung gefunden; vgl. John H. McDowell, »Verbal Duelling«, in: Teun A. van Dijk (Hrsg.), Handbook of Discourse Analysis, Bd. 3: Discourse and Dialogue, London u. a. 1985, 203–211; Ward Parks, »The flyting speech in traditional heroic narrative«, Neophilologus 71 ( 1987), 285–295; ders., Verbal Dueling in Heroic Narrative. The Homeric and Old English Traditions, Princeton 1990; Norbert Voorwinden, »Kampfesschilderung und Kampfmotivation in mittelalterlicher Dichtung. Zur Verschmelzung zweier Traditionen in der deutschen Heldenepik«, in: Hermann Reichert, Günter Zimmermann (Hrsg.), Helden und Heldensagen, Wien 1990 (Philologica Germanica 11), 431–444; Claudia Brinker-von der Heyde, »Redeschlachten – Schlachtreden. Verbale Kriegsführung im Rolandslied«, in: Ulla Günther u. a. (Hrsg.), ›Krieg und Frieden‹ – Auseinandersetzung und Versöhnung in Diskursen, Tübingen 2005, 1–25. 6 Jones (wie Anm. 5), 156. 7 So auch Sandra Linden, Art. »Reizrede«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10, Berlin u. a. 2012, 1051–54, hier: 1053.

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in stark reduzierter Form vorhanden, da man hier eigentlich ein höfischkorrektes Verhalten vorführen wolle. Sein Fazit lautet daher, die Reizreden hätten im Artusroman »ganz einfach ihren Reiz verloren«.8 Doch haben sie das wirklich?

3 Zu Aufbau und Struktur der Reizreden Ein erster Blick auf die kampfeinleitenden Dialoge bei Hartmann und Wolfram bestätigt diesen Eindruck zunächst pauschal, doch bei näherer Betrachtung drängt sich schnell der Verdacht auf, dass diese Passagen vom Erzähler durchaus planvoll an zentralen Stellen eingeflochten worden sind. Darüber hinaus scheint es ebenso bedeutsam zu sein, wenn ein Kampf ohne jegliche Reizrede inszeniert wird. Wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, hat nämlich gerade das Nichtsprechen vor dem Zweikampf oftmals fatale Folgen. Die Reden scheinen also definitiv eine Funktion auszuüben, auch wenn sich diese in Kämpfen ohne vorhergehenden Dialog nur ex negativo zeigt. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um relativ stereotype und austauschbare Gesprächsschemata ohne nennenswerten Einfluss auf den Fortgang der Handlung. Auch rhetorisch zeichnen sie sich weder durch sprachliche Brillanz noch durch einen besonderen Unterhaltungswert aus – halbwegs reizlose Textstellen also, die scheinbar keiner näheren Untersuchung bedürfen. Fasst man die Fragestellung aber etwas weiter, bezieht die vorhergehenden und nachfolgenden Textpassagen mit ein und liest diese Dialoge auf einer Metaebene, so scheint ihr Zweck eben gerade in ihrer Rudimenthaftigkeit und Zurückgebildetheit zu liegen. Als Rezipient bekommt man den Eindruck, es sollte die Reizreden eigentlich nicht geben, da eine derartige Gesprächsführung weder dem Verhaltenscodex des höfischen Protagonisten noch dem Sprachstil eines am Hof vortragenden Erzählers entspricht. Liegt also der eigentliche Reiz der Reizrede darin begründet, dass sie eigentlich nicht existieren sollte, und ist ihre Funktion daher auf einer tieferliegenden Ebene jenseits von Handlungsmotivierung und Sinnkonstruktion zu suchen? Zunächst sollen die grundlegenden Aspekte der Reizreden, also ihr Aufbau und die verschiedenen Gesprächsschemata, nach denen die Dialoge angelegt sind, betrachtet werden. Hier gibt es zwei Typen: Erstens die unhöfische, ›un-

|| 8 Jones (wie Anm. 5), 156.

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elegante‹ Form der Reizrede und zweitens die Reizrede, die den Gepflogenheiten des höfischen Sprechens folgt. Beim ersten Typus trifft der Held als Repräsentant der höfischen Ordnung auf einen Kontrahenten. Die Widersacher stehen sich bewaffnet gegenüber, wobei jeder der Auffassung ist, sich im Recht zu befinden, und daher keiner von beiden kompromissbereit ist. Es steht einzig zur Diskussion, wer dem anderen im Kampf unterliegen wird. In dieser Konstellation droht man sich gegenseitig mit der Absicht, sein Gegenüber einzuschüchtern, zu verängstigen oder zu diffamieren. Meistens sind die Dialoge kurz und lassen sich inhaltlich auf eine Kampfansage reduzieren, in welcher dem Gegner die eigene Niederlage angedroht wird, sollte er sich nicht augenblicklich ergeben. Der adäquate sprachliche Modus hierfür ist spot, der sich hervorragend dazu eignet, den Gesprächspartner gleichzeitig zu erniedrigen und zu provozieren.9 Diese Form der kampfeinleitenden Rede findet man v. a. bei der Begegnung mit unhöfischen Aggressoren, etwa in allen von Hartmann geschilderten Riesenkämpfen. Ein Beispiel ist der Dialog zwischen Iwein und dem Riesen Harpin: dô in der rise komen sach, daz was sîn spot, unde sprach: ›ouwê, ir vil tumber man, waz nemt ir iuch an daz ir als ungerne lebt unde sus nâch dem tôde strebt? daz ist ein unwîser rât: unde swer iu den gerâten hât, dem ist iuwer leben leit, unde wil sich mit der wârheit vil wol an iu gerochen hân als er ouch hât getân, er hât sich gerochen wol, wand ich daz schiere schaffen sol daz ir im niemer getuot deweder übel noch guot.‹

|| 9 Die provocatio lässt sich als Redeform definieren, »durch die der Redner seinen Gegner zum Streitpunkt der Auseinandersetzung herausfordert«; Stefan Matuschek, Art. »Provocatio«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, 380–382, hier: 381. Im heutigen Verständnis zielt sie v. a. »auf die Hervorrufung von sprachlichen Handlungen (Beleidigung, Angriff, Unterstellung, Herausforderung, Bedrohung etc.)«; ebd., 381. Vom Streitgespräch (auch Kontroversgespräch, Kampfgespräch/Gesprächskampf), in dem es darum geht, den Kontrahenten mit Argumenten von einer anderen Ansicht zu überzeugen, muss die Reizrede demnach deutlich differenziert werden; vgl. François Renaud, Art. »Streitgespräch«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Tübingen 2009, 178–189.

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Sus antwurt her Îwein dô: ›rîter, waz touc disiu drô? lât bœse rede und tuot diu werc: ode ich entsitze ein getwerc harter danne iuwern grôzen lîp. lât schelten ungezogeniu wîp, die ne mugen niht gevehten. unde wil sîn unser trehten nâch rehtem gerihte pflegen, 10 sô sît ir schiere gelegen.‹ (V. 4991–5016) Als ihn der Riese kommen sah, begann er zu spotten und sagte: ›Ach, Ihr dummer Kerl, was ist mit Euch, dass Ihr so lebensmüde seid und so in den Tod rennt? Das ist ein verrückter Rat, und wer Euch das geraten hat, dem ist Euer Leben leid, und er will sich im Grunde nur richtig an Euch rächen, was ihm auch gelungen ist: Er hat sich tatsächlich gerächt, denn ich werde Euch bald dazu bringen, dass Ihr ihm niemals mehr etwas tut, weder Böses noch Gutes.‹ Darauf antwortete Herr Iwein: ›Ritter, was soll diese Drohung? Lasst das böse Geschwätz und lasst Taten folgen, oder ich fürchte einen Zwerg mehr als Euch großen Kerl. Lasst ungezogene Frauen schimpfen: Die können nicht kämpfen. Und wenn unser Herr Gott hier gerecht richtet, so liegt Ihr bald am Boden.‹

Im höfischen Umfeld bedient sich v. a. auch Keie dieser Form der Provokation und lässt sich bekanntermaßen sowohl bei Hartmann als auch bei Wolfram heftige verbale Attacken zuschulden kommen. Die zweite Form der Reizrede, bei der es sich ebenfalls um ein ritualisiertes Gesprächsschema mit gewissen Regeln handelt, weicht von der ersten deutlich ab. Zwar fungiert sie auch als Kampfansage, sie entspricht jedoch im Gegensatz zur ersten Redeform den höfischen Verhaltensregeln. Jones hat für diese Form der Dialogführung spezielle Termini eruiert, mit denen die Gesprächssituation treffend gekennzeichnet werden kann: grüezen und widersagen.11 Eingeleitet wird die Rede, indem ein Kontrahent dem anderen offiziell widersagt, d. h. er äußert eine rechtlich korrekte Fehdeansage und legitimiert dadurch den darauf folgenden Waffengang. Dabei benennt der Angreifer zu-

|| 10 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Greogrius – Der arme Heinrich – Iwein, hrsg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 29). Die Übersetzung folgt Volker Mertens, allerdings erlaube ich mir – wie bei allen Übersetzungen – einige Änderungen an signifikanten Stellen. 11 Vgl. Jones (wie Anm. 5), 142–148. Der Terminus findet sich im rechtlichen Kontext von Fehdehandlungen in zahlreichen mhd. Erzähltexten, so etwa im Nibelungenlied (z. B. 116, 4; 235, 4; 240, 1; 869, 4; 873, 4 u. ö.) und im Parzival (262, 16; 287, 8; 300, 25). Vgl. hierzu auch Bätz (wie Anm. 2), 106, Anm. 502; zu ähnlichen »rituelle[n] Akte[n] am Beginn von Konflikten« vgl. Althoff (wie Anm. 4), 65f., Anm. 28.

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nächst die Streitwerte des Konflikts, definiert das Vergehen des Gegners und sichert sich insofern rechtlich ab, dass er dem Antagonisten die Möglichkeit einer Reaktion gewährt. Der Angreifer kann somit nicht beschuldigt werden, seinen Gegner grundlos und unvermittelt angegriffen zu haben. Eine Diskussion über die Schuldfrage hingegen ist in dieser Situation nicht vorgesehen und findet auch meist nicht statt, die Rede führt vielmehr direkt zum Zweikampf. Im Iwein führt Askalon diese Form der Kampfansage vorbildlich gegenüber Kalogreant aus, nachdem dieser seinen Gewitterbrunnen begossen hat: ›rîter, ir sît triuwelôs. mirne wart von iu niht widerseit, unde habt mir lasterlîchez leit in iuwern hôchvart getân. nû wie sihe ich mînen walt stân! den habt ir mir verderbet unde mîn wilt ersterbet unde mîn gevügel verjagt. iu sî von mir widersagt: ir sult es buoze bestân ode ez muoz mir an den lîp gân. daz kint daz dâ ist geslagen, daz muoz wol weinen unde clagen: alsus clag ich von schulden. ichn hân wider iuwern hulden mit mînem wizzen niht getân: âne schulde ich grôzen schaden hân. hiene sol niht vrides mêre wesen: wert iuch, ob ir welt genesen.‹ (V. 712–730) ›Ritter, Ihr brecht den Frieden, Ihr habt mir keine Fehde angesagt, und doch habt Ihr mir Schaden und Schande aus Anmaßung angetan. Wie sehe ich jetzt meinen Wald dastehen! Den habt Ihr mir verwüstet und mein Wild zu Tode gebracht und meine Vögel verjagt. Ich sage Euch Fehde an! Ihr sollt mir Buße tun, oder ich verliere selbst mein Leben! Das Kind, das geschlagen worden ist, das darf weinen und klagen. Ebenso klage ich mit gutem Grund. Ich habe Euch wissentlich nichts zuleide getan. Ohne Schuld leide ich großen Schaden. Hier soll es keinen Frieden mehr geben: wehrt Euch, wenn Ihr am Leben bleiben wollt!‹

Besonders deutlich wird an Askalons Aussage, dass es einem Rechtsbruch gleichkommt, jemanden anzugreifen, ohne zuvor eine korrekte Fehdeansage auszusprechen, in der die Gründe für den Streit benannt werden. Dieses Verhal-

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ten stellt einen eindeutigen Verstoß gegen das Fehderecht dar und wird daher von Askalon als triuwelôs beanstandet.12 Fast ebenso wichtig wie das widersagen ist das grüezen, das allerdings nicht zwangsläufig zum Kampf führt, denn zwei Ritter, die unvermittelt aufeinandertreffen, können sich natürlich auch freundschaftlich, ritterlich bzw. allgemein höfisch, d. h. respektvoll grüßen. Hier ist also noch eine Spezifizierung des gruozes notwendig, um die eigentliche Intention zu verdeutlichen.13 Nachdem auch Iwein Askalons Brunnen begossen hat, fordert der Brunnenherr ihn schon von Weitem heraus: »der gruozte in harte verre / als vîent sînen vîent sol« (V. 1002f.). Als Parzival in seinem tranceartigen Zustand – ausgelöst durch den Anblick der drei Blutstropfen – unversehens voll bewaffnet und mit erhobener Lanze unweit des Artushofes auf dem offenen Feld steht, wird er in diesem Habitus von den Artusrittern als Aggressor wahrgenommen.14 Gawan, der als dritter Ritter von der Tafelrunde auf ihn zureitet, um die Gründe für Parzivals vermeintlich aggressives Verhalten herauszufinden, grüßt ihn, aber im Gegensatz zu Segramors und Keie fordert er ihn nicht direkt zum Kampf auf, sondern ist freundlich um ein klärendes Gespräch mit Parzival bemüht:

|| 12 Zum Fehdewesen vgl. Christine Reinle, Art. »Fehde«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 2008, 1515–1525; Andrea Boockmann, Art. »Fehde, Fehdewesen«, in: LexMA, Bd. 4, 331–334: »Das Fehdewesen als eines der Grundprinzipien des ma. polit. und rechtl. Lebens [...] gesteht ein Recht auf Fehdeführung auch bei Ehrenkränkung [...]. Der freigeborene Mann war zur Rache verpflichtet, wenn Ehre, Besitz oder Leben seiner Sippe verletzt worden waren. Der Kampf der männl. Mitglieder zweier feindl. Familienverbände war erbarmungslos und auf gründl. Ausrottung des Gegners bedacht. [...] Die rechte F. bedurfte eines allgemein anerkannten Anlasses. [...] Doch ist zumeist, wie schon in älterer Zeit, Schädigung oder Ehrenkränkung, aber auch die Aussage, der Gegner habe wider das Recht gehandelt, oder einfach Feindschaft als allgemein verständl. Argument zu nennen. [...] Die Erklärung der F. erfolgte schriftlich in Form eines Fehdebriefes, der Ab-, Wider- oder Aufsage. Nach Anrede des Gegners, Nennung des Absenders und Angabe des Fehdegrundes mußte die Bewahrung der Ehre des Fehdeführenden folgen; nur dadurch wurden die nachfolgenden Schädigungen des Gegners zu Fehdehandlungen, die keine Wiedergutmachungsforderungen nach sich zogen. [...] Grundsätzl. herrschte zw. den Fehdegegnern nach Zustellung der Absage ein Kriegszustand, der jederzeit in offenen Kampf übergehen konnte« (331–333). Entscheidend ist, dass das Fehdewesen im 12. Jh. »einen größeren Stellenwert besaß, als ein Gerichtsverfahren«; Althoff (wie Anm. 4), 84. Zum Zweikampf in diesem Zusammenhang vgl. u. a. Udo Friedrich, »Die ›symbolische Ordnung‹ des Zweikampfs im Mittelalter«, in: Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hrsg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005, 123–158. 13 Zu den vielfältigen Bedeutungen des Terminus vgl. Lexer, Bd. 1, 1099. 14 Vgl. Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee: über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea NF 94), 92, Anm. 206.

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er wolde güetlîche ersehen, von wem der strît dâ wære geschehen. dô sprach er grüezenlîche dar 15 ze Parzivâl [...]. (300, 9–12) Er wollte ganz friedlich nachsehen, wer es war, der da gekämpft hatte. Er sprach Parzival an mit einem Gruß [...].

Unterlässt allerdings einer von beiden den gruoz oder erwidert ihn nicht, wird dies gleichfalls als Zeichen der Feindseligkeit gewertet, die – da keine Bereitschaft zum Gespräch gezeigt wird – umgehend in die direkte Kampfhandlung mündet.16 So versteht Gawan Parzivals Schweigen wie selbstverständlich als direkte Aufforderung zum Kampf: »hêrre, ir welt gewalt nu tuon, / sît ir mir grüezen widersagt« (300, 24f.). An der Blutstropfen-Episode wird darüber hinaus deutlich, dass die Textpassagen nicht zwangsläufig eine Dialogstruktur aufweisen, sondern eher als Monologe angelegt sind, auf die keine Gegenrede erfolgt; vielmehr sprechen anschließend nur noch die Waffen. Nach diesem Muster sind auch die beiden Räuberkämpfe im Erec konzipiert. Das hier zugrundeliegende Prinzip lautet: Taten statt Worte (»lât bœse rede unde tuot diu werc«; Iwein, V. 5009) – die Standard-Parole, die in allen untersuchten Texten das Ende des Sprechens markiert und direkt zum Kampf überleitet. Teils wird sie ausgesprochen, doch ebenso kann diese Forderung nonverbal kommuniziert werden, indem man die Lanze ausrichtet und dem Pferd die Sporen gibt.

4 Die Funktionen der Reizreden Nachdem sowohl der Aufbau als auch die Struktur der Dialoge konkretisiert wurden, sollen nun die Funktionen der Textstellen ermittelt werden, die die Forschung ja meist grundlegend negiert. Haben die Reizreden im Artusroman also einen Sinn oder handelt es sich lediglich um rudimentäre Überbleibsel der einst so glanzvollen heroischen Kampfrede – und haben sie deshalb ihren Reiz verloren?

|| 15 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mhd. Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, Einf. zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. 16 Vgl. hierzu auch Jones (wie Anm. 5), 142–145.

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Wie sich zeigen wird, erfüllen sie durchaus einige Funktionen. Zunächst werden in diesen Kampfgesprächen meist die Gründe für die Auseinandersetzung rekapituliert und der darauffolgende Waffengang somit legitimiert. Die Benennung der Gründe dient einerseits dem narrativen Gefüge des Textes und ist für den Leser respektive Zuhörer hilfreich: Zwar kennt er die Auslöser des Streites meist schon aus der vorangehenden Erzählung, hier werden aber die wichtigsten Argumente nochmals zusammengefasst, was das Textverständnis wesentlich erleichtert haben dürfte – besonders wenn die Erzählung mündlich vorgetragen wird.17 Auf der Figurenebene dient (wie oben bereits erwähnt) die Legitimierung der Kampfhandlung der rechtlichen Absicherung: Die Definition und Benennung der Streitwerte garantiert die Rechtmäßigkeit des anschließenden Waffengangs und legitimiert den Angriff. Alleine deshalb bilden die Reizreden handlungslogisch einen wesentlichen Bestandteil der bewaffneten Auseinandersetzung und können somit nicht ganz funktionslos sein. Speziell bei Hartmann kommt den Reizreden aber noch eine weitere Funktion zu, die in der Forschung für einige Irritation gesorgt hat, da er besonders in diesen Kampfdialogen höfisches Sprechen beispielhaft vorführt und den Kontrast zum unhöfischen Schimpfen betont. Hatte man in diesem Zusammenhang den Blick bisher weniger auf die Reizreden gerichtet, so herrscht doch grundsätzlich Konsens über die Annahme, dass Hartmann höfisches Sprechen anhand seiner Protagonisten exemplifiziert.18 Dieser Aspekt ist von großer Bedeutung und kann an vielen Stellen im Text leicht belegt werden, beispielsweise anhand von Iweins Antwort auf die Drohrede des Riesen Harpin: »lât schelten ungezogeniu wîp, / die ne mugen niht gevehten« (V. 5012f.). Das schelten wird hier also als ein Sprachstil gekennzeichnet, der von unhöfischen Riesen oder garstigen Frauen verwendet werden mag, den der höfische Ritter für sich selbst jedoch deutlich ablehnt. Durch höfisch-vorbildliches Sprechen kommt es aber gerade bei Hartmann immer wieder zu Dialogen, die aus heutiger Perspektive offenbar missverständ-

|| 17 Vgl. auch Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ›Parzival‹. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u. a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), 241f. 18 So erklärt auch Niene Miedema, »Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue«, in: Franz Hundsnurscher, Nine Miedema (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), 181–201, hier: 192, im Erec würden höfische Sprechakte exemplarisch vorgeführt, wobei sich der unhöfische Gesprächspartner eben gerade dadurch selbst disqualifiziere, dass er die »kommunikative Indirektheit nicht erkennt (oder nicht bereit ist, sich ihr anzupassen)«.

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lich sind, denn man liest zuweilen, der Protagonist (hier Erec) lege ein extrem defensives Gesprächsverhalten an den Tag und entziehe sich mit spitzfindigen Ausreden der Kampfaufforderung, was nur den Schluss zulasse, Hartmanns Gesprächregie sei rätselhaft – so Sandra Linden und Martin Jones.19 Aus diesen Gründen hat Linden die problematische Theorie entwickelt, der Ritter agiere hier gewissermaßen als Mediator, der den Konflikt rein verbal zu lösen suche, weil er den Kampf scheue und vermeiden möchte. Dies wird an der ersten Guivreiz-Szene im Erec vorgeführt, in der der Protagonist auf einen ihm unbekannten Gegner trifft. Hartmann beschreibt zuerst die äußere Erscheinung des kleinen Ritters, den Erec noch nie zuvor gesehen hatte (V. 4279). Dem Rezipienten wird zwar mitgeteilt, dass Guivreiz ein würdiger Gegner sei, der noch keinen Kampf verloren habe, doch Erec selbst nimmt nur sein Äußeres wahr: ein vil kurzer man, [...] vil nâch getwerges genôz, wan daz im vil grôz wâren arme unde bein. (V. 4282–86) Ein sehr kleiner Mann [...], beinahe so wie ein Zwerg, hätte er nicht sehr lange Arme und Beine gehabt.

Nach einem höflichen Gruß stellt Guivreiz fest, Erec sei ein Ritter auf der Suche nach Aventüre, der hier im Falle seines Sieges großen »prîs bejagen« (V. 4345) könne, und fordert ihn ohne Umschweife zum Kampf heraus: »nû wert iuch, ritter, es ist zît« (V. 4347). Nun führt Hartmann eine meisterhafte Form des höfischen Sprechens vor: Es ist eine Form von Spott, jedoch nicht so plakativ wie in manch anderen Dialogen, sondern vielmehr ein Spott, der der höfischen Indirektheit verpflichtet und daher nicht ohne Weiteres als solcher erkennbar ist. Stets die lächerliche Erscheinung des Guivreiz vor Augen (aufgrund seiner langen Arme und Beine hat Joachim Heinzle gerne von einer ›Spinnenphysiognomie‹ gesprochen) spricht Erec ihn an, und zwar durchaus höflich: »riter biderbe unde guot« (V. 4350). Doch pointiert der Erzähler hier überdeutlich,

|| 19 Vgl. Sandra Linden, »Im Dialog mit dem Aggressor. Mediation als ritterliches Handlungsideal?«, in: Monika Unzeitig u. a. (Hrsg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), 117–136, hier: 130f.; Martin H. Jones, »Chrétien, Hartmann, and the Knight as Fighting Man: On Hartmann’s Chivalric Adaption of Erec et Enide«, in: Martin H. Jones, Roy Wisbey (Hrsg.), Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, Cambridge 1993, 85–109, hier: 105f. Ähnlich Will Hasty, Art of Arms. Studies of Aggression and Dominance in Medieval German Court Poetry, Heidelberg 2002, 34: »Erec behaves somewhat oddly«.

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dass Erec spottet und die folgenden Worte ironisch gemeint seien: »sus antwurte im durch sînen spot / Erec« (V. 4348f.) – je nach Übersetzung (höhnisch, ironisch, spöttisch, im Spaß) ergeben sich an dieser Stelle zwar unterschiedliche Nuancen, allen Übersetzungsoptionen ist aber eines gemein: Erecs Antwort ist nicht ernst gemeint. In diesem präzise vom Erzähler codierten Gesprächsmodus äußert Erec dann, er sei nicht gewillt zu kämpfen, denn Guivreiz habe ihn höflich gegrüßt, deshalb verstoße ein Zweikampf nun gegen die triuwe (V. 4352).20 Besonders lächerlich wirkt dann seine Bitte, Guivreiz solle ihn »mit gemache lân, wan ich habe iu niht getân« (V. 4360f.) – wo doch gerade der Begriff gemach das Schlüsselwort aus der verligen-Szene ist. Gemach ist genau das, was Erec auf seiner Fahrt vermeiden will, da er sein Leben in Karnant ausschließlich auf gemach ausgerichtet hatte und diesen Fehler nun zu korrigieren sucht, was er später auch Gawan gegenüber ausspricht: »ich hân ze disen zîten / mich gemaches bewegen gar« (V. 4977f.).21 Ignoriert man allerdings das Ironiesignal des Textes, so könnte man Erec tatsächlich für »verzaget« (V. 4366) halten, wie Sandra Linden diese für sie »irritierende Rollenverteilung« interpretiert: Erec entziehe sich der Herausforderung mit einer raffinierten Ausrede und falle »mit diesem Verhalten heraus aus der Rolle des typischen Aventüre-Ritters, der sich im Kampf mit anderen Rittern in die höfische Ruhmhierarchie einordnet«.22 Martin Jones hält Hartmanns Hinweis auf die Spottrede für »a difficult phrase in the context«, zieht aber zumindest in Erwägung, dass es sich bei Erecs Antwort tatsächlich um Spott (»mock«) handeln könnte.23 Letztlich stellt Jones aber die These auf, dass sich Erec tatsächlich ängstlich und friedfertig gegenüber Guivreiz verhalte und den Kampf vermeiden wolle. Ihm fehle die mentale Einstellung, mit der Herausforderung umzugehen; seine Angst und zageheit (Hasenherzigkeit, Feigheit,

|| 20 Jones (wie Anm. 5), 143f., verweist zwar mit Recht auf die höfische Regel, »die einen Zweikampf nach einem Willkommensgruß nicht erlaubt« (Rolf Endres, Studien zum Stil von Hartmanns ›Erec‹, München 1961, 3), und belegt dies an verschiedenen Stellen im Parzival. Zugleich verweist er jedoch ebenfalls darauf, dass gruoz als Terminus polyvalent verwendet wird, dem gruoz also verschiedene Intentionen zugrunde liegen können, die jeweils spezifiziert werden müssen (siehe oben 140f., v. a. Anm. 13), sodass diese Regel in manchen Fällen zwar zutreffen mag, jedoch keinesfalls generell auf den gruoz angewendet werden kann. 21 Vgl. hierzu exemplarisch Joachim Bumke, Der ›Erec‹ Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006, 58f. und 98–100. 22 Beide Zitate Linden (wie Anm. 19), 131f. 23 Jones (wie Anm. 19), 105.

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Verzagtheit) seien Resultate mangelnder Kampfübung, da er in Karnant ein so seichtes und gemach-volles Leben geführt habe.24 Liest man allerdings nur wenige Verse weiter, dann definiert der Erzähler unmissverständlich Erecs eigentliche Kampfmotivation: zesamene riten zwêne man der ietweder nie gewan zageheit dehein teil [...]. ir ietweder wart gewert volleclîchen an der stat des er lange got bat, daz er im sande einen man, dâ er sich versuochte an. (V. 4382–84, 4399–4403) Zwei Männer ritten aufeinander los, von denen keiner je im Geringsten feige gewesen war [...]. Jeder bekam an diesem Ort zu Genüge, worum er Gott lange gebeten hatte: einen Mann, an dem er sich bewähren könne.

Erecs Ziel war es also, endlich einen würdigen Gegner im Kampf zu finden, und diesen erkennt er in dem zunächst lächerlich wirkenden Guivreiz. Dass er ernsthaft den Kampf gegen den kleinen Mann mit den langen Armen und Beinen aus Bequemlichkeit unterlassen wollte, erscheint mir deshalb keineswegs plausibel. Vielmehr liegt hier – der angekündigten Spottrede entsprechend – eine groteske Übertreibung und ironische Umkehrung aller ritterlichen Werte vor, die indirekt-höfische Form des Spottes, die an den drei genannten Stellen deutlich markiert wird. Dass das Publikum diesen Dialog ebenfalls äußerst überraschend und komisch gefunden haben wird, ist naheliegend und muss hier nicht weiter ausgeführt werden. An dieser Szene, die für die Darstellung des indirekten und höfischen Spottes exemplarisch ist, wird zudem ein weiterer Aspekt deutlich, der sowohl für die Darstellung des Spottes als auch generell für das Verständnis der Reizreden unverzichtbar ist: die Performanzanweisungen und Ironiesignale, die der Autor bzw. Erzähler durchweg sehr präzise codiert, also Hinweise für den Vortragenden, wie er die schriftlich fixierte wörtliche Rede im mündlichen Vortrag umzusetzen habe.25 Überliest man diese Signale und nimmt die ironisch intendierten || 24 Vgl. Jones (wie Anm. 19), 105f. 25 Auch Zutt (wie Anm. 3), 79, geht davon aus, »daß das mhd. Epos dramatisierend vorgetragen wurde. [...] Das mhd. Epos braucht Leben, um zu seiner vollen Wirkung zu kommen. Werden wir ihm erst durch einen gemäßeren Vortrag gerecht, so wird sich vielleicht auch manches Problem der Interpretation lösen, da sich dann ›von selbst‹ das Entscheidende vom bloß Schmückenden abhebt«. Die Forschung hat sich jüngst den akustischen Phänomenen der

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Spottreden für bare Münze, so kommt man natürlich zu irritierenden Ergebnissen. Diese dramaturgischen Hinweise betreffen einerseits die Stimmlage, also die Intonation, andererseits aber auch die Intention, mit der gesprochen wird.26 Askalons Stimme etwa ist »lûte sam ein horn« (Iwein, V. 701) und entsprechend setzt er sie auch ein: »vil lûte rief er unde sprach« (V. 710). Als Iwein in der Harpin-Szene das Angebot des Burgherren ablehnt, dessen Tochter zu heiraten, »antwurte im der her Îwein / dem gelîch als er wær verzagt« (V. 6620f.); bei dem Torwächter, der Iwein vor der Harpin-Episode empfängt, potenziert Hartmann dieses narrative Verfahren: der schalc dô schalclîchen sprach. Als er gein dem tor gienc, der schalc in schalclîchen enpfienc: er sprach ûz schalkes munde sô er schalclîchest kunde. (V. 6238–42) Der Boshafte antwortete darauf boshaft. Als er zum Tor ging, empfing ihn der Boshafte boshaft: er redete mit dem Mund eines Boshaften so boshaft er nur konnte [...].

Erec wird in der Cadoc-Episode von großem Mitleid ergriffen, weshalb »vil nâch weinende sprach / der tugendhafte man« (V. 5337); bei der Beschreibung von Mabonagrins Stimme wird diese Form der Attribuierung besonders ausführlich umgesetzt: nû gehôrte er eine stimme starc unde grimme, diu lûte sam ein horn dôz,

|| mhd. Literatur zugewandt; vgl. Mireille Schnyder, »Gefangene Stimmen – geordnete Körper. Die Stimme in Texten des Mittelalters. Eine Skizze«, in: Jürg Glausner (Hrsg.), BalladenStimmen. Vokalität als theoretisches Phänomen, Tübingen 2012 (Beiträge zur Nordischen Philologie 40), 21–38; Florian Kragl, »Bild, Rede und Schrift im Text. Zur ›Performativität‹ mittelalterlicher Literatur«, Études médiévales 7 (2005), 258–265; Ingrid Bennewitz, William Layher, ›der âventiuren dôn‹. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters, Wiesbaden 2013 (Imagines medii aevi 31); auch die Tagung »Klang-Spiele. Vormoderne Texte zwischen Sinn und Klang. Internationaler Workshop, 23./24. Mai 2013«, veranstaltet von Susanne Köbele und Christine Stridde, verfolgte ein ähnliches Thema. 26 Zur Stimme in der mittelalterlichen Literatur vgl. v. a. Schnyder (wie Anm. 25); dies., »Erzählte Gewalt und die Gewalt des Erzählens. Gewalt im deutschen höfischen Roman«, in: Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hrsg.), Gewalt im Mittelalter. Realität und Imagination, München 2005, 365–379.

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wan im was der drozze grôz, von dem si gie [...]. (V. 8992–95) Da hörte er eine Stimme, kräftig und zornig, die laut wie ein Horn dröhnte, denn der hatte einen großen Schlund, von dem sie herrührte.

Hartmann definiert also einerseits die Intonation der Stimme, andererseits aber auch die Intention, mit der Mabonagrin spricht: nû reit er zuo dem gaste und gruozte in ein teil vaste gelîch einem übelen man. (V. 9024–26) Jetzt ritt er auf den Fremden zu und grüßte ihn recht heftig wie ein boshafter Mann.

In dem Dialog zwischen Erec und Mabonagrin folgt eine Passage, die ein Zuhörer, der den Text selbst nicht vor Augen hat, unmöglich verstanden haben kann, sollte der Vortragende seine Stimme nicht verstellt haben: er sprach: ›valschære, nû sage an, wer hiez iuch der vrouwen sô nâhen gân?‹ ›waz hân ich dar an missetân?‹ ›ez ist eht vil tœrlich.‹ ›herre, war umbe scheltet ir mich?‹ ›dâ dunket ir mich der vrouwen ze balt.‹ ›herre, ir sprechet iuwern gewalt.‹ ›saget, wer brâhte iuch her?‹ ›guote vriunt.‹ ›nû saget doch, wer?‹ ›mîn herze und mîn selbes muot.‹ ›dâ enriet ez iu dehein guot.‹ ›ez hât mich noch gewîset wol.‹ ›daz endet sich hie.‹ ›ez ensol.‹ ›zwiu sihe ich iuch gewâfent sîn?‹ ›herre, dâst der harnasch mîn.‹ ›wiltû vehten wider mich?‹ ›welt dan ir, sô wil ouch ich.‹ ›wes ist dir, tumber gouch, gedâht?‹ ›des werdet ir wol innen brâht.‹ ›ez wirt dir ein vil leidez spil.‹ ›ir’n sprechet niht: ob got wil.‹ ›wie versmâhet dir mîn rede sô?‹ (V. 9028–48) Er sagte: ›Du Betrüger, sag mir, wer hat Euch geraten dieser Dame so nahe zu kommen?‹ ›Was habe ich dabei falsch gemacht?‹ ›Es ist die reine Torheit.‹ ›Herr, warum scheltet Ihr mich?‹ ›Mir scheint, Ihr seid der Dame gegenüber zu aufdringlich.‹ ›Herr, Ihr tut mir mit Euren Worten Gewalt an.‹ ›Sagt, wer hat Euch hier hergebracht?‹ ›Gute Freunde.‹ ›Jetzt

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sagt doch, wer?‹ ›Mein Herz und mein eigener Wille.‹ ›Da haben sie Euch nicht gut beraten.‹ ›Bisher haben sie mich immer richtig geführt.‹ ›Damit wird hier Schluss sein.‹ ›Das wird es nicht.‹ ›Wozu seid Ihr bewaffnet?‹ ›Herr, das ist mein Harnisch.‹ ›Willst du gegen mich kämpfen?‹ ›Wenn Ihr wollt, will ich auch.‹ ›Was denkst du dummer Trottel dir?‹ ›Das werdet Ihr schon merken.‹ ›Es wird für dich ein schlimmes Spiel werden.‹ ›Ihr vergesst zu sagen: wenn Gott es so will.‹ ›Warum kritisierst du meine Worte so?‹

Die Sprecher wechseln in diesem Dialog so schnell und v. a. ohne verbum dicendi, also ohne den jeweiligen Sprecher zu markieren, dass der Vorlesende gezwungen ist, den Text zu inszenieren, d. h. abwechselnd zwei verschiedene Stimmen zu imitieren, um den Zuhörer nicht zu verwirren; selbst als Leser hat man Schwierigkeiten, die Sequenzen den beiden Kontrahenten zuzuordnen. Beachtenswert ist darüber hinaus der markante Bruch in der Anrede: Erec verwendet konsequent das höfische ir, wohingegen sich Mabonagrins grobschlächtiger Sprachgestus im Wechsel zum unhöflichen du manifestiert – ein sprachlicher Stilbruch, der in der Performanz durchaus stimmlich unterstrichen worden sein könnte. Derartige Dialoge zeigen jedenfalls, dass den Performanz- oder Regieanweisungen semantisch evidente Funktionen zukommen können, weshalb die akustische Dimension des Textes stets zu berücksichtigen ist.27 Der entsprechende Terminus für diese ›Kunst‹ lautet pronuntiatio und wird in der Ars grammatica des Marius Victorinus beschrieben als die Kunst der Wiedergabe eines Geschriebenen mit passender Unterscheidung der Sprecher, wie zum Beispiel wenn die Befindlichkeit eines Greises oder die Ungestümheit eines Jünglings oder die Schwäche einer Frau oder die Natur irgendeiner Person gezeigt werden soll und die 28 Art irgendeiner Ausdrucksweise.

Indem der Rezitator der im Text schriftlich fixierten Stimme im Vortrag neues Leben einhaucht, ist er automatisch zur Interpretation des Textes genötigt, für die der Text aber deutliche Hinweise beinhaltet. Realisiert der Vortragende diese Signale des Autors nicht korrekt, so wird »nicht nur seine innere Ordnung

|| 27 So auch Monika Unzeitig, »Die Kunst des ironischen Sprechens. Zu den Keie-Szenen in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein«, in: Monika Unzeitig u. a. (Hrsg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), 255–272, hier: 271f.; Schnyder (wie Anm. 25), 34–37; Zutt (wie Anm. 3), 78f. 28 »Pronuntiatio quid est? Scriptorum secundum personas accommodata distinctione similitudo, ut puta cum aut senis temperamentum aut iuvenis protervitas aut feminae infirmitas aut qualitas unius cuiusque personae ostendenda est et mores unius cuiusque habitus exprimendi«; zitiert nach Schnyder (wie Anm. 25), 35f.

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und seine Verstehensordnung gestört, sondern auch die der Hörer und somit der ganze Kontext.«29 Vernachlässigt man diese Dimension und nimmt die Erzählung ausschließlich auf der Textoberfläche wahr, kann dem selbst-lesenden Rezipienten gerade dieser feinsinnige, indirekte Spott entgehen, der vom Erzähler dezidiert durch Interpretationssignale markiert wird und den Reizreden m. E. dann durchaus ein nicht unbeträchtliches Maß an Reiz verleiht. Auf der inhaltlichen Ebene wird dem Leser respektive Zuhörer anhand eines solchen Dialoges vorgeführt, wie der ritterliche Held – selbst wenn er derb und unqualifiziert beschimpft wird – stets die Regeln der höfischen Kommunikation wahren und seinen Kontrahenten im Rahmen dieses Regelsystems in die Schranken weisen kann. Im Anschluss daran erzählt Erec nämlich Mabonagrin die Parabel von den beiden Bergen, die prahlten, ein hübsches Kind zeugen zu wollen, so groß wie sie selbst. Zum Spott der Leute gebaren sie dann leider nur eine Feldmaus. Erec achtet also nicht auf Mabonagrins Drohung, wie er einleitend auch entspannt äußert: »ich enahte niht ûf iuwer drô« (V. 9049). Zwar haben die deutschen Dichter die stichomythischen Dialoge von ihren französischen Vorlagen übernommen, doch erweitert Hartmann diese Form des Sprechaktes Chrétien gegenüber. Er verwendet sie besonders in emotional stark aufgeladenen Dialogen, v. a. aber auch an Stellen, die Chrétien gerade nicht stichomythisch gestaltet hat;30 Hartmann legt also besonderen Wert auf solche Textstellen. Möglicherweise gründet dieser Umstand in einem besonderen Verständnis der (hier indirekten und höfischen) Polemik, die sich unter Betonung des Kunstcharakters (ars), also [als] rhetorisch durchgeformte gelehrte Fehde [...] primär nicht an den Bekämpften und dessen Ansicht, sondern an den Leser [richtet], der mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln letztinstanzlich auf die Seite des 31 Polemisierenden gezogen werden soll.

|| 29 Schnyder (wie Anm. 25), 36. 30 Vgl. Nine Miedema, »Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen Epik«, Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), 263–281, hier: 271–273; Wiehl (wie Anm. 4), 51 und 130f. 31 Hermann Stauffer, Art. »Polemik«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, 1403–1415, hier: 1404; vgl. zur Polemik auch Jürgen Stenzel, »Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik«, in: Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann (Hrsg.), Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, Tübingen 1986 (Akten des VII. internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985; Kontroversen, alte und neue 2), 3–11.

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Gerade der Dialog mit Mabonagrin, an den Erec die Geschichte der beiden Berge anknüpft, könnte von Hartmann im Sinne eines solchen Kunstcharakters entworfen worden sein, da hier der Kontrast zwischen Erecs diffiziler Streitkunst und Mabonagrins plumpen und unsachlichen Verunglimpfungen besonders hervorgehoben wird. Die beiden Kontrahenten reden förmlich aneinander vorbei und Mabonagrins Beschimpfungen laufen ins Leere; einem Zweikampf gleich weicht Erec dessen verbalen Schlägen aus, anstatt zu parieren oder zurückzuschlagen, und trifft seinen Gegner mit der Parabel schließlich subtil an der ungeschützten Flanke, wo Mabonagrin wohl keinen Angriff erwartet hat.

5 Der Reiz der Reizreden Mit dem verbalen Sieg Erecs bin ich nun an dem eigentlichen Kern meiner Überlegungen zu den kampfeinleitenden Reizreden angelangt. Hier wird auch die Frage virulent, weshalb die Reizreden in der Forschung so divergent interpretiert werden und sie im Artusroman im Gegensatz zur Heldendichtung nur noch in zurückgebildeter Form erscheinen, wodurch man den Eindruck gewinnt, sie sollten eigentlich gar nicht existieren. Die Reizreden erfüllen ihre Funktion nämlich nicht eo ipso; es scheint vielmehr um die angemessene, d. h. höfische Reaktion auf drô und spot zu gehen, die anhand verschiedener Streitdialoge vorgeführt werden soll. Dem Protagonisten stehen innerhalb des ritterlichen Verhaltens-Codes nämlich nicht nur die beiden bisher vorgestellten Optionen zur Verfügung: entweder Taten statt Worte sprechen zu lassen oder der Provokation höfisch-indirekten Spott entgegenzusetzen, wie es im Erec noch überwiegend vorgeführt wird. Im Iwein setzt Hartmann eine dritte Variante sehr viel stärker um: Der Protagonist zeichnet sich hier besonders dadurch aus, dass er auf Provokationen überhaupt nicht eingeht, sich weder irritieren noch beleidigen lässt und sich v. a. nicht auf die Sprachebene seines Kontrahenten herablässt. Explizit wird dieses Verhaltensprinzip gleich zu Beginn des Romans dargestellt, als Iwein ankündigt, Kalogreants Schande am Gewitterbrunnen rächen zu wollen. Keie greift ihn daraufhin sehr unqualifiziert an: Iwein habe zu viel Wein getrunken und sei nun übermütig geworden. Selbst die Königin tadelt Keie für dessen Schmährede, doch Iwein zeigt musterhaft höfische Affektkontrolle und analysiert die Situation besonnen: ›ich wil des iemer sîn ein zage daz ich im sîniu bœsen wort vertrage. ouch enhebet er niht den strît

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der den êrsten slac gît: wan unz ez der ander vertreit: sô ist der strît hin geleit. ichn wil mich mit dem munde niht gelîchen dem hunde, der dâ wider grînen kan, sô in der ander grînet an.‹ (V. 869–878) »So werde ich immer ein Feigling sein, weil ich seine Schandreden hinnehme. Nicht der fängt einen Streit an, der den ersten Schlag austeilt, denn wenn der andere es hinnimmt, unterbleibt der Streit. Ich will es mit meinem Mundwerk nicht dem Hunde gleichtun, der 32 zurückknurrt, wenn der andere ihn anknurrt.«

Der Streit entsteht demzufolge nicht durch die Provokation, also durch drô und spot per se; erst die Reaktion darauf ist entscheidend. Würde man es dem verbalen Angreifer mit gleicher Münze heimzahlen, wäre das der eigentliche Auslöser für den Streit;33 in diesem Fall würde man sich aber mit dem unqualifizierten Sprecher auf eine sprachliche Ebene begeben und die Grenzen des respektvollen höfischen Umganges überschreiten. Dementsprechend finden sich im Iwein zahlreiche Stellen, in denen der Ritter Drohungen nicht beachtet, sich nicht einschüchtern lässt und Schmähreden lachend ignoriert: [Iwein] schiet lachende dan, als der sich mittem bœsen man mit worten niht beheften wil, unde hete sîn rede vür ein spil. (V. 6279–6282) [Iwein] ging lächelnd fort, wie einer, der sich mit einem gemeinen Kerl nicht mit Worten anlegen will, er nahm seine Rede als Scherz auf.

Deshalb liegt der eigentliche Reiz der Reizrede darin, sich von ihr nicht reizen zu lassen, sondern sie zu vermeiden – oder anders gesagt: die Funktion der || 32 Der Vergleich des unqualifizierten Schimpfens mit dem Gebell eines Hundes findet sich auch bei Wernher von Elmendorf, der sich dabei auf Juvenal beruft: »Ich horte zu einem male / ein wort von Iuuenale. / ich gedencke dicke sin da bie / er spricht, daz an dem schalke nicht ergeris si / dan die zunge an sinem munde. / der gelichet cleine [deme?] bellenden hunde«; Wernher von Elmendorf, hrsg. von Joachim Bumke, Tübingen 1974 (ATB 77), V. 1060–65; vgl. hierzu auch Hartmann von Aue, Iwein, Mhd./Nhd., hrsg. und übers. von Rüdiger Krohn, komm. von Mireille Schnyder, Stuttgart 2012, 505f. (Kommentar zu V. 875–878). 33 So auch Norbert Sieverding, Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram: seine Bewertung im ›Erec‹ und ›Iwein‹ und in den Gahmuret- und Gawan-Büchern des ›Parzival‹, Heidelberg 1985, 101; Zutt (wie Anm. 3), 37.

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Reizrede liegt v. a. darin, dass es sie eigentlich nicht geben sollte, denn der vorbildliche Ritter zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er diese Form des Sprechens gänzlich unterlässt. Dann wird auch klar, weshalb die Reizreden im Artusroman wie Rudimente der heroischen Reizrede konstruiert sind. Sie führen das angemessene höfische Gesprächsverhalten ex negativo vor. Deshalb sind sie aber nicht ohne Reiz; ihre Funktion bzw. ihre Stellung im narrativen Gefüge hat sich nur gewandelt. Betrachtet man nun auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse ähnlich angelegte Textstellen bei Wolfram, so zeigt sich, dass im Parzival genau dieser geschilderte Ansatz Hartmanns nicht nur übernommen, sondern gewissermaßen weiterentwickelt wird – insbesondere bei der Darstellung von Gawan. Beispielhaft hierfür ist die Blutstropfen-Episode, in der die möglichen Reaktionen auf die vermeintliche Bedrohung durch Parzival nacheinander vorgeführt werden: Der erste Artusritter, der den in Minnetrance versunkenen Parzival anspricht, ist Segramors, der Parzival den Regeln gemäß widersagt. Er nennt die Gründe für den Streit, fordert ihn auf, sich augenblicklich zu ergeben, ansonsten werde er ihn angreifen und Parzival werde ihm unterliegen: ir sît ûf strît ze nâhe geriten. doch wil ich iuch durch zuht biten, ergebet iuch in mîne gewalt; odr ir sît schier von mir bezalt, daz iwer vallen rüert den snê. (287, 27–288, 1) Ihr sucht Streit, darum seid Ihr so nahe hergeritten. Doch aus Courtoisie will ich Euch bitten: Ergebt Euch in meine Gewalt, sonst wird die Rechnung gleich beglichen sein und Euer Fallen wird den Schnee aufwirbeln.

Als zweiter Artusritter will Keie gegen den Fremden antreten. Auch er spricht Parzival an, bevor er ihn mit der Lanze attackiert. Ganz seinem Element entsprechend provoziert er ihn unqualifiziert und verspottet ihn – spot und drô par excellence: nemt iuch selben an ein brackenseil unt lât iuch für in [König Artus] ziehen. iren megt mir niht enpfliehen, ich bringe iuch doch betwungen dar: sô nimt man iwer unsanfte war. (294, 4–8) Legt Euch selbst ein Hundehalsband um und lasst Euch vor den König führen, mir könnt Ihr doch nicht entkommen. Sonst bringe ich Euch als Besiegten hin und dann wird man Euch unsanft behandeln.

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Gawan hingegen, der als Dritter zu Parzival auf das Feld reitet, verhält sich äußerst höflich, grüßt den fremden Ritter freundlich, woraufhin sich beide erkennen und den Streit sofort beilegen können. Die von Wolfram entworfenen Gesprächsschemata stimmen also mit denen von Hartmann überein, er bringt aber darüber hinaus einen bestimmten Terminus ins Spiel, der bei Hartmann in dieser Form nicht vorkommt und der im Parzival die Schlüsselfunktion für den angemessenen Umgang mit drô und spot einnimmt: die schame. David Yeandle stellt klar heraus, dass der Begriff bei Wolfram eine zentrale Stellung hat und im Parzival erstmals »in aller Deutlichkeit als ethischer Oberbegriff« erscheint.34 Scham fungiert hier als eine Art inneres Gewissen, das dem Ritter ermöglicht, moralische Entscheidungen zwischen Gut und Böse zu treffen, wobei er sich schuldig macht, wenn er gegen eine moralische oder religiöse Vorschrift verstößt. Insofern wirkt die »verinnerlichte Scham als Hemmnis für böses Verhalten auf allen Ebenen.«35 Auch Jan-Dirk Müller hat jüngst zu »Scham und Ehre« gearbeitet; er bringt neben den üblichen Definitionen – schame als ritterliche Kardinaltugend, die Gurnemanz an erster Stelle benennt (vgl. auch Parzival 3, 5 und 319, 9–11), schame als Reaktion auf unangemessene Lebensumstände und natürlich schame als generelle Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung – einen weiteren Aspekt der schame im Artusroman ins Spiel: schame als eine innere Instanz des Protagonisten, die strengere Wertmaßstäbe anlegt, als es die äußere Gesellschaft bzw. die strafende Instanz tut.36 Dieses Phänomen lässt sich sowohl anhand der Darstellung von Erec als auch der von Parzival belegen: Beide werden nach ihrer persönlichen Krise aufgefordert, den Artushof zu besuchen, und es wird klar, dass die höfische Gesellschaft ihnen keinerlei Restriktionen auferlegt, die Ehre der beiden Artusritter also nicht angezweifelt wird. Erec und Parzival stellen allerdings selbst || 34 David N. Yeandle, ›schame‹ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung, Heidelberg 2001, XII. 35 Ebd., 166. 36 Jan-Dirk Müller, »Scham und Ehre. Zu einem asymmetrischen Verhältnis in der höfischen Epik«, in: Katja Gvozdeva, Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne, Berlin, Boston 2011 (TMP 21), 61–97. Zu diesem Komplex vgl. auch David N. Yeandle, »Shame in Middle High German Literature: The Emotional Side of Medieval Virtue«, Euphorion 99 (2005), 295–321; ders. (wie Anm. 34); ders., »The Concept of shame in Wolfram’s Parzival«, Euphorion 88 (1994), 302–338; ders., »Schame in the Works of Hartmann von Aue«, in: Volker Honemann u. a. (Hrsg.), German narrative literature of the twelfth and thirteenth centuries. FS Roy Wisbey, Tübingen 1994, 193–228.

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strengere Ansprüche an sich und verweigern daher den Besuch am Hof: Erec fühlt sich »sô unhovebære, daz ich wol hoves enbære« (V. 5064f.),37 und Parzival schämt sich noch zu sehr: »ich schame mich noch sô sêre, / ungern ich gein in kêre« (696, 3f.). Scham tritt hier also gewissermaßen zusätzlich zu den äußeren strafenden Instanzen als persönliche Selbstreflexion hinzu: Sie ist nicht mehr primär gesellschaftsbezogen, Reaktion auf die anderen, sondern bezeichnet ein Selbstverhältnis, das zwar noch der Bestätigung durch die anderen bedarf, 38 aber deren Urteil durch das eigene strengere Urteil ersetzt.

Müller stellt abschließend bei Parzival eine »Diskrepanz des individuellen und des kollektiven Urteils (an dem sich die Scham doch orientieren müsste)« fest und endet mit der Frage, was »unter diesen Bedingungen mit dem Entwurf einer idealen höfischen Gesellschaft«39 werde. Bezieht man diese Überlegungen auf die Frage, wie der höfische Ritter korrekt mit spot und drô umgeht – anstatt sich zu einer Reizrede hinreißen zu lassen –, so können hier möglicherweise verschiedene Fäden zusammengeführt werden. Wo Hartmann den Begriff noch meist in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet, also eng an die Dichotomie von Scham (Schande/Schmach) vs. Ehre geknüpft, bringt Wolfram eine weitere Bedeutungsdimension ins Spiel: »Scham wird hier als Gegenmittel gegen törichtes Benehmen empfohlen«.40 Interessanterweise kommt dieses neuartige Bedeutungsspektrum des Schambegriffes auch bei Chrétien nicht vor und scheint alleine auf Wolfram zurückzugehen, was die Forschung bisher allerdings nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hat:41 Es handelt sich in diesem Fall eher um die Anwendung eines inneren Wertmaßstabs des Anstands als um eine Reaktion aus Furcht vor den Folgen der öffentlichen Schmach. So-

|| 37 Vgl. hierzu auch Müller (wie Anm. 36), 77. 38 Ebd., 93; vgl. hierzu auch Jean Claude Bologne, Histoire de la pudeur, Paris 1997, 9f., sowie Peter von Moos, »Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne«, in: ders., Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 2, hrsg. von Gert Melville, Berlin 2006 (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 15), 307–430, hier: 384: »Wenn es besser ist, sich vor Menschen zu blamieren, als im Herzen und vor Gottes Auge zu sündigen, so wird der Mangel an Scham zu einem Prinzip, nicht als Schamlosigkeit (impudeur), sondern als Schamenthobenheit (apudeur).« 39 Beide Zitate Müller (wie Anm. 36), 93. 40 Yeandle (wie Anm. 34), 140. 41 Vgl. ebd., 234f.

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mit hält diese verinnerlichte Scham Gawan von tadelnswertem bzw. falschem Handeln ab 42 und stellt einen Teil seiner zuht dar.

Indem der Held sein eigenes Handeln vorausschauend überwacht, um Peinlichkeiten im Voraus zu vermeiden, erkennt er sich selbst und wird sich der eigenen Identität in Abgrenzung zur Gesellschaft bewusst. So wird auch anhand von Parzivals Erkenntnisprozess deutlich, dass die Scham letztendlich stellvertretend für die Reflexion des eigenen Verhaltens steht.43 Je mehr Parzival über seine eigene Identität erfährt und sich selbst erkennt, desto klarer erkennt er die Vergehen, derer er sich schuldig gemacht hat. Als er im Gespräch mit Trevrizent seine Schuld vor sich und seinem Gegenüber eingesteht, ist die Folge dieser Selbstreflexion einerseits seine große Scham, andererseits liegt gerade in diesem Schamgefühl der Schlüssel zur persönlichen Entwicklung bzw. Selbsterkenntnis und zur Motivation, es in Zukunft besser zu machen – und zwar nicht gerade so viel besser, bis ihn die Gesellschaft wieder akzeptiert, sondern bis er sich selbst akzeptieren kann und sich selbst wieder für gesellschaftsfähig hält. Versteht man Scham auf diese Weise, so ist es nur plausibel, dass sie als Kardinaltugend ritterlicher hövescheit gilt, denn auch »Höflichkeit muß die Reflexivität gegenseitigen Verhaltens einbeziehen«.44 Hartmanns Provokationstheorie (der Streit ist von der Reaktion des Angegriffenen abhängig) wird von Wolfram insofern weiterentwickelt, als er im Zusammenhang mit Provokationen die schame als die Eigenschaft schlechthin darstellt, die den Ritter dazu veranlasst, sich nicht plump provozieren zu lassen, sondern stattdessen einen besonneneren Weg zu wählen. Er führt dies exemplarisch an Gawan vor, der von Keie provoziert wird. Dieser wirft Gawan vor, so sanftmütig wie seine Mutter zu sein, wo er doch eigentlich seinem Vater nachstreben und ohne Zögern sofort in jeden Kampf reiten sollte. Nun kommentiert der Erzähler Gawans Reaktion auf die infame Beleidigung und hebt dessen Verhalten auf eine allgemein vorbildhafte Ebene: sus was der wol gelobte man gerant zer blôzen sîten an mit rede: er kunde ir gelten niht, als wol gezogenem man geschiht,

|| 42 Yeandle (wie Anm. 34), 143. 43 Vgl. auch Irmgard Gephart, Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ›Erec‹, Frankfurt a. M. 2005 (Beiträge zur Mittelalterforschung 8), 21: »Dabei setzt die Scham ein entwickeltes Ichgefühl voraus, das sich [...] seiner selbst positiv oder, im Falle der Scham, negativ bewußt werden kann.« 44 Haferland (wie Anm. 1), 174.

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dem scham versliuzet sînen munt, daz dem verschamten ist unkunt. (299, 13–18) So wurde dieser hochgelobte Mann an der ungedeckten Flanke attackiert mit Worten. Er konnte sie nicht vergelten, wie das einem wohlerzogenen Mann leicht geschieht, wenn ihm Scham den Mund verschließt: demjenigen, der seinen Sinn für Scham verloren hat, ist so etwas unbekannt.

Es geht Gawan nicht im Geringsten darum, den Kampf zu vermeiden, denn er rüstet sich augenblicklich und siegt gewohnheitsmäßig. An seinem Verhalten – wie auch an den eingestreuten Erzählerkommentaren – wird hingegen die sehr ambivalente Wahrnehmung des traditionellen Aventüre-Systems deutlich. Zwar bereitet Hartmann dies teilweise schon vor, doch treibt Wolfram die Kritik an diesem System auf die Spitze und nutzt hierzu vielfach die Szenen, in denen es auf den richtigen Umgang mit drô und spot ankommt. Mittels der kampfeinleitenden Reizreden führt Wolfram exemplarisch vor, dass es nicht mehr notwendig ist, sich als Ritter dem traditionellen Schema gemäß naiv provozieren zu lassen und sich daraufhin blindlings in den Kampf zu stürzen, wie es Parzival mustergültig vorführt. Der Ritter nämlich, der sich ›schämt‹, also sein eigenes Handeln selbstreflexiv und vorausschauend analysiert und seine Selbsteinschätzung nicht ausschließlich von der Wertung der Gesellschaft abhängig macht, sondern sich selbst sogar strengeren, eigenen Wertmaßstäben unterstellt, hat sich natürlich weit von einem heldenepischen Typus entfernt – um nicht zu sagen: emanzipiert. Hier ist offenbar das traditionelle Aventüre-System in die Kritik geraten oder wird zumindest ausgesprochen ambivalent wahrgenommen. Auch bei Hartmann klingt diese Kritik schon deutlich an, doch sind seine Protagonisten noch vornehmlich auf prîs bedacht. Als Iwein gegen Gawan kämpft, klagt der Erzähler zwar ausufernd darüber, dass diese beiden Ritter gegeneinander antreten, doch bleibt es bei der üblichen Konsequenz: »des wouchs ir êre und ir heil« (V. 7208). Das traditionelle System wird zwar bemängelt, aber als naturgegeben hingenommen: Ehre und prîs wachsen prinzipiell mit jedem gewonnenen Zweikampf. Bei Hartmann ist auch die Ritterschaft um der Frauen willen schon vorgegeben,45 doch handelt es sich zumeist um die geliebte Ehefrau, wohingegen die wichtigsten Protagonisten im Parzival grundsätzlich auf jegliche Form der Minne aus sind. Nicht notwendigerweise muss die eigene Ehefrau zum Ziel der Be-

|| 45 »nû durch wen möhte ein biderbe man / gerner wirden sînen lîp / danne durch sîn biderbe wîp« (Iwein, V. 2860–63).

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gierde werden und eine Ehe hindert den Ritter auch nicht daran, einer anderen Frau zuliebe in den Kampf zu ziehen. Besonders Gawan wird als Minneritter schlechthin dargestellt, lässt auf seinem Weg gebrochene Herzen zurück und kann nur durch die Vereinigung mit Orgeluse sein persönliches Glück finden (523, 22–25). Wolfram legt insgesamt großen Wert auf die Darstellung der Frauen, deren Wahrnehmung der Kämpfe sowie auf die Wirkung der Ritter auf das andere Geschlecht, außerdem problematisiert er an vielen Textstellen die bitteren Konsequenzen, die das ritterliche Aventüre-System für die Frauen mit sich bringt. Damit geht Wolfram insofern einen Schritt weiter als Hartmann, als er alternativ zum archaischen Haudegen, der seinen Gegner grundsätzlich auch erschlägt und stets auf den eigenen Tod gefasst sein muss (man denke an die Todesfälle Gahmuret, Schionatulander, die drei Söhne des Gurnemanz und die vielen Frauen, die daraufhin wiederum an gebrochenem Herzen verstarben), mit seiner Darstellung von Gawan ein alternatives Modell vorführt: nämlich das eines Ritters, der den Frauen vreude bringt, der sich nicht blindlings in den Kampf stürzt, d. h. sein Leben riskiert, sondern der darüber hinaus – ohne weibisch oder feige zu wirken – Konflikte manchmal auch mit friedlichen Mittel zu lösen vermag. Ein solcher Ritter kalkuliert sorgfältig und kann unnötige Kämpfe durch Dialoge mit dem Gegner vermeiden oder zumindest das Risiko des Kampfes adäquat einschätzen und über die richtige Taktik nachdenken. Die Grundlage für die nötige innere Verfassung bildet dabei die scham, die ihn dazu befähigt, seine Reaktion auf drô und spot besonnen abzuwägen (»scham gît prîs ze lône«; Parzival 319, 9). Dieser Ritter hat das Berufsrisiko ›Tod‹ auf ein Minimum reduziert; seine Heldenhaftigkeit büßt er aber nicht ein, weil er sich im Angriffsfall resolut verteidigt und seinen Gegner unterwirft.46 Parzival hingegen repräsentiert den traditionellen Typus par excellence, die Negation all der positiven, neuartigen und ungewöhnlichen ritterlichen Eigenschaften, die Gawan aufweist. Zu Anfang verkörpert er einen unkontrolliertegoistischen Kampfeszorn und erschlägt in unreflektierter Gier nach der Rüstung seinen Verwandten Iders – von scham (d. h. Reflexion des eigenen Verhaltens) keine Spur.47 V. a. spricht Parzival zu wenig und agiert meist nach der || 46 »Gawan, der Kämpfe vermeidet und nur kämpft, wenn er damit etwas erreicht, beeindruckt bereits im Conte du Graal durch sein diplomatisches Geschick. Wolfram hat das noch verstärkt und hat Gawans Fähigkeit, Gegensätze zu überwinden, Konflikte zu lösen und Menschen miteinander zu versöhnen, zum Zentrum seiner Gawan-Konzeption gemacht«; Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 82004 (Sammlung Metzler 8), 151. 47 So konstatiert auch Bumke (wie Anm. 14), 91f., dass Parzival selbst weniger um Weisheit bemüht, sondern stattdessen »sein ganzes Interesse [...] auf Kühnheit und Kampf« gerichtet ist.

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Devise ›Taten statt Worte‹. Positiv wirkt sich dabei zwar aus, dass er sich selbst nicht auf die Ebene des Schimpfens herablässt, doch begeht er (wie schon in der Gralsburg) immer wieder den Fehler, gar nicht zu sprechen und stattdessen ohne zu zögern mit jedem zu kämpfen, der ihm vor sein Visier kommt, sei es Feind, Freund oder Bruder.48 Daran wird deutlich, dass die Ignoranz einer Provokation ebenfalls als inadäquater Umgang mit unhöfischer Provokation gewertet werden muss, da das Nicht-Sprechen vielmehr schwerwiegende Katastrophen nach sich zieht, wie beispielsweise den Kampf gegen den eigenen Bruder. Hier lässt sich dann auch die letzte wichtige Funktion der Reizreden ablesen: Sie ermöglichen, das unerkannte Gegenüber zu identifizieren – sei es entweder, um sich gegenseitig als lange gesuchte Erzfeinde zu erkennen oder auch den Kampf gegen einen Freund oder Verwandten vermeiden zu können:49 Die Stimme ist in der Literatur des Mittelalters als Ausdruck der Identität und somit Erkennungsmittel eingesetzt. Sie kann eine veritas offenbaren, die durch Kleider und Worte verborgen wird. Die verfälschte Stimme, die verstellte Stimme [...] gibt es nicht. Wenn Identität unter Bekannten verheimlicht werden soll, dann durch Schweigen, durch ›Ver50 bergen‹ der Stimme.

Dadurch, dass er viel zu ihm sagt, erkennt Keie Erec an seiner Stimme, ohne dass dieser seinen Namen genannt hat (V. 4851–57).51 Parzivals Sprachlosigkeit hingegen führt ihn konsequenterweise wiederholt in die katastrophale Situation, seinen Gegner nicht rechtzeitig zu erkennen, unwissentlich einen Verwandten zu töten und somit schwere Sünden auf sich zu laden.52 Man könnte angesichts der vorliegenden Ergebnisse versucht sein, eine Entwicklung des ritterlichen Verhaltenskodex anzunehmen, wie sie Norbert Elias in seinem Prozeß der Zivilisation entworfen hat.53 Auf die hier untersuchten

|| 48 »Parzival fragt nicht lange danach, wer die Ritter sind, die er trifft, sondern schlägt einfach los. Vom ersten Kampf, gegen Ither, bis zum letzten, gegen Feirefiz, bleibt er blind für die Identität seiner Gegner«; Bumke (wie Anm. 14), 149. 49 Vgl. Urscheler (wie Anm. 17), 236: »Erst die höveschheit macht die Anagnorisis, das Erkennen von Verwandtschaft möglich.« 50 Schnyder (wie Anm. 25), 31. 51 Vgl. ebd., 30f. 52 Vgl. hierzu auch Bumke (wie Anm. 14), 95: »Die Beliebigkeit und moralische Indifferenz von Parzivals Kämpfen ist gepaart mit einer charakteristischen Blindheit für die Identität seiner Gegner. In den meisten Fällen weiß Parzival nicht, gegen wen er kämpft; und es scheint ihm auch gleichgültig zu sein.« 53 Vgl. Norbert Eilas, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M. 51978.

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Texte bezogen könnte man etwa von dem heroisch exorbitanten Krieger in der Heldenepik ausgehen, der für die Vermehrung des eigenen Ruhmes kein Risiko scheut und kompromisslos den eigenen Untergang zelebriert. Im Zuge der ›Verhöflichung‹ des Kriegers, der allgemeinen Verfeinerung der Sitten und Affektsublimierung könnte sich dann zunächst das klassische Aventüre-System ausgebildet haben, in welchem der Krieger seine Kampfeslust in Friedenszeiten alternativ im Turnier oder der Aventüre-Fahrt ausleben kann. Der oben skizzierte Gegenentwurf des Ritters, wie Gawan ihn bei Wolfram repräsentiert, wäre dann als nächste Entwicklungsstufe der ritterlichen Ideologie anzunehmen, die das klassische Aventüre-System ablöst und schließlich in ein Verhalten mündet, das durch gesteigerte Affektkontrolle und Kompromissbereitschaft, Friedfertigkeit und Selbstreflexion (scham) gekennzeichnet ist – eine Entwicklung also, bei der sich (bedingt durch zunehmend friedlichere und ›zivilisiertere‹ Lebensumstände) der äußere Krieg mehr und mehr in einen inneren Kampf wandelt, in einen inneren Konflikt mit den eigenen Affekten und unwillkürlichen Reaktionen, die es immer stärker zu reflektieren und zu kontrollieren gilt (Stichwort: Selbstzwang). Bekanntlich verlaufen Entwicklungsprozesse in den seltensten Fällen linear, und besonders in Bezug auf das literarische Heldenbild ist ein ausgeprägtes Nebeneinander von Alt und Neu zu beobachten. Dennoch erleidet das traditionelle Ritterideal in der klassischen Blütezeit definitiv einen Bruch bzw. verändert sich.54 Wolfram nimmt Hartmanns Bild auf, entwickelt es weiter und führt an Parzival und Gawan zwei konträre Prinzipien vor, ohne jedoch das eine aufund das andere abzuwerten, denn selbst Gott lässt sich von Parzivals Verhalten nicht davon abhalten, ihn am Ende zu erlösen und zum Gralskönig zu befördern. Deshalb ist es an dieser Stelle noch nicht angezeigt, ein ›neues‹ Ritterideal zu veranschlagen oder eine kontinuierliche Entwicklung des Idealbildes anzunehmen; in den Texten lässt sich aber eine ambivalente Wahrnehmung der bisherigen Verhaltensnormen und Ideale eindeutig belegen. Besonders am Beispiel der kampfeinleitenden Reizreden reflektieren Wolfram und Hartmann die angemessene Reaktion auf spot und drô und somit auch das in der zeitgenössischen Literatur transportierte Ideal des ritterlichen Verhaltens.

|| 54 Ob es sich hierbei um eine Entwicklung oder vielmehr um parallel existierende verschiedene Heldenentwürfe handelt, müsste in einer breiter angelegten Untersuchung geklärt werden, die ich mir an anderer Stelle vorbehalten möchte.

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6 Schluss Im Vergleich zur Heldendichtung begegnen die Reizreden im Artusroman zwar in reduzierter und zurückgebildeter Form (teils fallen sie auch ganz weg), aber dennoch erfüllen sie noch immer wichtige Funktionen. Hier ist als erstes die Benennung der Gründe des Konflikts hervorzuheben, die auf der Figurenebene der rechtlichen Absicherung dient und außerdem dem Rezipienten das Textverständnis erheblich erleichtert. Es konnte gezeigt werden, dass die Kampfreden, die von der Forschung wiederholt als topische Schmuckelemente bzw. ritualisierte Gesprächsschemata ohne inhaltliche Relevanz verkannt wurden, tieferliegende Funktionen erfüllen. Diese erschließen sich oftmals nur durch die vom Autor präzise eingesetzten Performanz-Signale, mittels derer die Reizreden eine klare Sinnstruktur erhalten. Überliest man solche Regieanweisungen (wie oft bei einem rein literaturwissenschaftlichen Ansatz geschehen, der sich ausschließlich auf der Textebene bewegt und die Performativität der Aufführungssituation nicht berücksichtigt), erscheinen die Textstellen durchaus missverständlich und unklar. Der Grund hierfür liegt aber darin, dass sie eben v. a. ex negativo der exemplarischen Darstellung höfischen Sprechens dienen, dass sie zeigen, wie man hövesch mit Provokation, also mit drô und spot umgehen sollte. Negativbeispiele sind meist Zwerge und Riesen, die sich durch ihre unhöfischen Beschimpfungen selbst disqualifizieren. Auf drô und spot mit ›Taten statt Worten‹ zu antworten, stellt sich als problematisch heraus, da dieses Verfahren Parzival großes Unheil bringt und sonst meist von unhöfischen Figuren angewandt wird. Eine angemessene Reaktion ist bei Hartmann entweder der höfischindirekte Spott oder das Ignorieren des unqualifizierten Gesprächspartners. Bei Wolfram kommt darauf aufbauend noch die scham als innere Geisteshaltung hinzu, die dem Ritter »sînen munt versliuzet« (Parzival, 299, 17), ihm aber somit ermöglicht, sich selbst zu erkennen, zu reflektieren und sich unabhängig von einer äußeren strafenden Instanz eigene Verhaltensmaßstäbe anzueignen. Demzufolge erfüllen die Reizreden also weitere differenzierte Funktionen: Sie dienen primär der Figurencharakterisierung, indem sie hövescheit und Menschlichkeit als vorbildliche ritterliche Werte demonstrieren; sie ermöglichen das Erkennen des Gegners und somit die Vermeidung unnötiger Kämpfe, wodurch die Anzahl der Toten und somit das ritterliche ›Berufsrisiko‹ auf ein Minimum reduziert werden können. Bei Hartmann schon vorgebildet, wird besonders bei Wolfram anhand der Kampfszenen ein alternatives Modell vorgeführt, nach welchem der Held als Ritter existieren kann, ohne dass in der Folge reihenweise Frauen entweder zu

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Witwen werden oder an gebrochenem Herzen sterben. Wolfram legt gewissermaßen den Finger in die Wunde des traditionellen Ritterideals – und zwar äußerst publikumswirksam. Gerade die »guotiu wîp« (827, 25), die persönlich massiv unter der unwillkürlichen Gewalt des Rittertums zu leiden haben, spricht Wolfram wiederholt als Rezipientinnen an und liefert mit seiner Heldendarstellung eine weniger leidvolle und dennoch ruhmreiche Alternative. Auch dass er die Geschichte zu Ende gebracht hat, sei »durch ein wîp« geschehen, die ihm nun »süezer worte jehn« muss (827, 29f.).

Rachel Raumann

Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot Abstract: This article argues that the Middle High German Prose Lancelot contains intradiegetic narrations which serve not only to convey information, but are also used to play on the earlier literary Arthurian tradition and on the audience’s knowledge of this narrative environment. Hence these narrations are highly reflective and could be described as a form of second-order (or literaryhistorical) provocation that is often combined with comical features tending towards (rhetorical) irony. Moreover, this provocation playfully reveals the poetological and narrative differences between the Prose Lancelot and the classics. In vielen seiner Erzählungen verschafft der deutsch-georgische Dichter Giwi Margwelaschwilis dem literarischen Personal eine ›neue‹ Freiheit, indem er z. B. die für die Figuren typischen Erzählkonstellationen aufbricht, sie in untypische Situationen befördert oder sie über die ihnen vorgezeichneten literargeschichtlichen Erscheinungsformen nachdenken lässt. Die Typisierung der Figur wird somit spielerisch desavouiert und zum Anlass genommen, Neues zu erzählen bzw. das Bekannte in einem neuen Licht erscheinen zu lassen.1 So äußert z. B. der von seinem literarisch verbürgten, ›festgeschriebenen‹ Heldentum ›genervte‹ Hektor, er wolle, wenn es zum Kampf gegen Achilles komme, dieser heldenepischen Erzähltradition ein Schnippchen schlagen: Ich werde, ehe ich mich dem Peleiaden stelle, vor ihm davonlaufen. Da staunst du [Helenos], was? Ja, ein Held darf nicht weglaufen. Selbst wenn sein Gegner ein mehrfach gewaltigerer ist als er, darf er das nicht. Ich aber werde es tun. Und weißt du auch warum? Weil ich unseren Verderbern, der miesen Muse und ihrem Dichter eins damit auswischen möchte: weil das ihr Heldenepos, welches auf unsere, trojanische, Kosten sie zu realisieren gedenken, zum Kippen bringt. Denn in solchen Epen suchen Helden [...] niemals das 2 Weite.

|| 1 Vgl. die Rezension von Ralph Schock, »Ein Wartbürger im kolchosischen Häuschen gefangen. Der deutsch-georgische Dichter Margelaschwili [sic!]: ein tragisches Unikum«, Frankfurter Rundschau, 28. August 1990, online unter: http://www.giwi-margwelaschwili.de/downloads/ RalphSchock1990.pdf [letzter Zugriff: 30. August 2013]. 2 Giwi Margwelaschwili, Hektors Racheplan gegen die Musifizierung, 2, online unter: http://www.giwi-margwelaschwili.de/downloads/leseprobe_musifizierung.pdf [letzter Zugriff: 30. August 2013].

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Hektor weiß also um die eigene literarische Tradition, um die Typisierung seiner Figur zur ›Heldenrolle‹, und er kündigt an, ›aus dieser Rolle zu fallen‹ und ein ›Hector profugus‹ zu werden. Dabei verschweigt er auch nicht die seinem Rollenwechsel zu Grunde liegende Intention: Er wolle dem Dichter und dessen Eingebung ebenso wie den Rezipienten eins auswischen, indem er ihre Erwartungen brüskiert und genau das tut, was nicht gattungs- und rollenkonform ist: Der Held flieht (nicht). Ihren Reiz bezieht diese Figurenrede des Helden freilich aus der Tatsache, dass Hektor in der Ilias ja tatsächlich vor Achill davonläuft und erst durch das Erscheinen Athenes, die ihm in Gestalt seines Bruders Deiphobos gegenübertritt, dazu bewegt wird, gegen Achill anzutreten (Ilias, XXII, 143–367).3 Was der moderne Text bietet, ist folglich eine neue Begründung des zwiespältigen ›alten‹ Heldenverhaltens, indem Hektors Flucht als bewusste, gegen die (vermeintlich gültigen) Mechanismen heldenepischen Erzählens gerichtete Entscheidung der Figur inszeniert wird. Selbstredend zeichnet für Hektors ›Aufmüpfigkeit‹ letztlich der Verfasser verantwortlich und nutzt ›seine‹ Figur so nicht nur zur Provokation ihrer eigenen literarischen Bedingtheit, sondern er spiegelt in ihren Äußerungen auch die Fragilität ihrer produktions- und rezeptionsästhetischen Konstitution. Provoziert wird also im doppelten Sinne des Wortes: Die Gattungselemente werden mittels der sie kritisierenden Figurenrede sowohl herausgefordert als auch überhaupt erst explizit hervorgerufen.4 Ein vergleichbar explizites und reflektiertes Aufbegehren gegen die literarischen Sujet- und Gattungszwänge begegnet in der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur vielleicht zuerst bzw. am deutlichsten in der Minnelyrik, wobei hier natürlich von einer anderen Organisation der Sprechinstanzen auszugehen ist:5 z. B., wenn ein Sänger-Ich mit den Gattungskonventionen des ›hohen Sangs‹ bricht und der vrouwe nicht bloß den Dienst aufkündigt, sondern ihr

|| 3 Homer, Ilias, Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975. 4 Zu den der Provokation eignenden Momenten des Herausforderns und Hervorrufens vgl. Stefan Matuschek, Astrid Urban, Art. »provocatio«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, 380–382, hier: 381. Vgl. auch Oliver Ruf, Die Ästhetik der Provokation. Kritik und Literatur nach Hugo Ball, Bielefeld 2012, 14, Anm. 29. 5 Vgl. Thomas Cramer, Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148), v. a. 125–158, sowie – freilich mit anderer Akzentuierung – Jan-Dirk Müller, »Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang«, in: Michael Schilling, Peter Strohschneider (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996, 43–74.

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zu verstehen gibt, dass sie des Sängers literarisiertes, fiktionales Konstrukt ist,6 dessen (literarische) Existenz sich letztlich seinem Gutdünken verdankt. Die Ironie, in ihrer rhetorischen Bedeutung,7 scheint hier gleichsam offengelegt: Der Gegensatz zwischen wörtlicher und eigentlicher Bedeutung wird zunächst expliziert, aber er schafft gerade durch die Offenlegung eine zweite ironische Ebene, die etwa – wie jüngst Susanne Köbele dargelegt hat – bei Walthers stæte-Lied (L 96, 29) u. a. darin zu finden ist, dass er die Dame destruiert und gleichzeitig ihre ästhetisch repräsentative Allgemeingültigkeit demonstriert.8 Die »ironische Distanzierung des Kernparadigmas von Minnesang«9 ist hier gleichwohl nur punktuell vollzogen, so dass »das Liedganze die Verbindlichkeit höfischer Normen und vorgegebener Hierarchien [...] nicht preisgibt.«10 Aus der Provokation des Schemas erwächst somit schließlich auch seine ironische Bestätigung. Auch die mittelalterliche Epik lässt bekanntlich immer wieder vergleichbare poetologische Momente erkennen, in denen Provokationen, mithin auch Normbrüche und -transgressionen11 vorgeführt und zugleich der Reflexion übereignet werden. Provoziert wird dabei auf unterschiedlichen Ebenen: etwa auf der

|| 6 Erinnert sei hier nur an die in den Handschriften E, F und O überlieferte Strophe von Saget mir ieman (Kan mîn frouwe siuze siuren) oder auch an Walthers sumerlaten-Lied. Vgl. Susanne Köbele, »Ironie und Fiktion in Walthers Minnelyrik«, in: Ursula Peters, Rainer Warning (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. FS Jan-Dirk Müller, München 2009, 289–317. Weiterhin kann auch die Dame mit den Regeln brechen; zu denken wäre hier z. B. an Ulrichs von Winterstetten Komen ist der winter kalt, in dem die Besungene das Sänger-Ich mit der derb-deutlichen Wendung ern weiz, wes ars er treit (III, 6) zurückweist. Vgl. dazu Corinna Laude, »Minnesangs Ohnmacht – Minnesangs Chance. Zur Kunstauffassung Ulrichs von Winterstetten«, GRM 53 (2003), 1–26. 7 Vgl. zur rhetorischen Definition von Ironie v. a. Dennis H. Green, Irony in the medieval romance, Cambridge 1979, v. a. 4–10, sowie Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011, v. a. 19–28. Vgl. auch Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 3 1990, 302f. (§ 582–585) und 729f. (§ 1244), sowie Ernst Behler, Art. »Ironie«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, 599–624. Vgl. – unter besonderer Berücksichtigung der ›Markierungsproblematik‹ – auch den Beitrag von Fritz Peter Knapp im vorliegenden Band. 8 Vgl. Köbele (wie Anm. 6) v. a. 290–292 und 316f. 9 Ebd., 308f. 10 Ebd., 309. 11 Der Normbruch kann als ein wesentliches Moment von Provokation gelten. Vgl. Rainer Paris, Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt a. M. 1998, 58f. Natürlich können dabei nicht nur (literarisch inszenierte) Sozialsysteme (etwa ›höfische Ordnungen‹), sondern auch traditionelle Erzählmuster und -schemata sowie Gattungssysteme überschritten werden.

166 | Rachel Raumann Handlungsebene,12 in der Figuren- oder Erzählerrede oder auch, indem traditionelle sowie gattungstypische Erzählschemata konterkariert werden.13 Auf der Ebene der histoire und des discours können so etwa die gültigen (literarisch) inszenierten, sozialen Gefüge von den Protagonisten oder der Erzählinstanz hinterfragt und neu verhandelt bzw. affirmiert werden.14 Für den textexternen Rezipienten ergibt sich weiterhin die Möglichkeit, eben diese ›Verhandlungen‹ und (punktuellen) Überschreitungen des Bekannten mit seinen Erwartungen abzugleichen.

|| 12 Dass die Normverletzung konstitutiv mit bestimmten Erzählschemata bzw. -mustern verbunden sein kann, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in Erzähltexten, die an das so genannte Mahrtenehenmuster angelehnt sind. Ist die Provokation im ersten Fall handlungsauslösend, so zeigt sie sich im zweiten Beispiel in Form des Tabus, das als alternativer (narrativer) Normhorizont überschritten wird. Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin, Boston 2012, v. a. 153–291. Freilich handelt es sich bei diesen Erzählmustern und den ihnen inhärenten provokativen Schnittstellen um Beschreibungskonstrukte, deren Gültigkeit für jeden Text neu zu bestimmen ist. Vgl. zum Artusroman die zwar z. T. polemische, aber in vielen Einzelheiten durchaus berechtigte Kritik von Elisabeth Schmid, »Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Forschung«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur, Tübingen 1999 [SIA 4], 69–86. Zum Mahrtenehenschema vgl. Armin Schulz, »Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ›gestörten Mahrtenehe‹«, Wolfram-Studien 18 (2004), 233–262, sowie Rachel Raumann, »›Dich im Unendlichen zu finden, mußt unterscheiden, dann verbinden‹. Retextualisierung im II. Teil von Ulrich Fuetrers Buch der Abenteuer«, in: Brigitte Burrichter u. a (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 55–69. 13 Vgl. Green (wie Anm. 7). Vgl. auch den Beitrag von Björn Reich im vorliegenden Band. Dass diesen Provokationen bzw. den Reaktionen auf solche Provokationen häufig auch ein ironisches Moment eignet, haben mit Blick auf historiographische Zeugnisse jüngst Althoff/Meier (wie Anm. 7), v. a. 66–69, gezeigt. Die Frage, ob und – wenn ja – wie diese Ironiesignale dabei dargeboten werden, ob sie letztlich von Produktionsseite intendiert oder vielmehr erst (vielleicht auch ausschließlich) auf Seiten der Rezipienten entstehen, ist freilich nicht pauschal, sondern für jeden Text neu zu beantworten, zumal bekanntlich bei ›vor-modernen‹ Werken der jeweilige Situations- und ›Gebrauchskontext‹ nicht eindeutig zu bestimmen ist. Gleichwohl lässt sich festhalten, dass Formen von Provokation und Ironie häufig nahe beieinander liegen, ja geradezu interdependente Erscheinungsformen bilden können. Vgl. auch Köbele (wie Anm. 6). 14 Zur Provokation als Mittel des Neuaushandelns von ›Normalität‹ vgl. Paris (wie Anm. 11), 71.

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Dies gilt nicht zuletzt15 für den mhd. Prosalancelot, der – vereinfacht formuliert – schon aus literaturgeschichtlicher sowie literarästhetischer Sicht eine ›Provokation‹ darstellt: So wurde der Zyklus u. a. als »Endspiel«16 oder auch als radikale Historisierung der arthurischen Erzählgattung17 gelesen – um nur zwei prominente Deutungen zu zitieren. Wie auch immer eine Gesamtdeutung des Großromans letztlich ausfällt, fest steht, dass der Prosalancelot die ihm vorausgehende Erzähltradition immer – sei es affirmativ oder kontrapunktisch – mitverhandelt.18 Dabei ist es freilich nicht allein die heilsgeschichtliche Perspektivierung des Erzählten (insbesondere innerhalb der Queste und der Mort Artu),19 die das arthurische Erzählen auf die (historisierende) Probe stellt. Vielmehr werden auch andere Elemente, wie etwa grundlegende thematische und/oder

|| 15 Hier sei nur auf Hartmanns Iwein (Warnung vor dem verligen, V. 2860–78) und Heinrichs Crône hingewiesen (Parzival-Anspielungen bei Gaweins ›Gralbegegnung‹, z. B. V. 29484–96); zitierte Ausgaben: Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. von G. F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearb. von Ludwig Wolff, Bd. 1: Text, Berlin 71968; Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282–30042), nach der Handschrift Cod. Pal germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach Vorarbeiten von Fritz Peter Knapp und Klaus Zatloukal hrsg. von Alfred Ebenbauer und Florian Kragl, Tübingen 2005 (ATB 118). Im Prosalancelot wird diese Tendenz möglicherweise noch durch die Tatsache verstärkt, dass eine übergeordnete Erzählinstanz nur selten hervortritt, so dass die häufigen Figuren- und Binnenerzählungen umso deutlicher hervorstechen. 16 Walter Haug, »Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot«, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), 251–266. 17 Vgl. Fritz Peter Knapp, »Erzählen, als ob es Geschichte sei. Antifiktionalität und Geschichtstheologie im Prosalancelot«, in: ders., Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005, 169–189. 18 Vgl. Haug (wie Anm. 16) und Knapp (wie Anm. 17), v. a. 179–183. Vgl. u. a. Nikola von Merveldt, Translatio und Memoria. Zur Poetik der Memoria des ›Prosa-Lancelot‹, Frankfurt a. M. u. a. 2004 (Mikrokosmos 72); Klaus Ridder, Christoph Huber (Hrsg.), ›Lancelot‹. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, sowie Rachel Raumann, Fictio und historia in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im ›Prosa-Lancelot‹, Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 57). 19 Damit einher geht freilich auch eine – zumindest punktuelle – Einschränkung der Sinngebung des Erzählten, die anders als in der Chrétien’schen und v. a. der Wolfram’schen Perceval-/ Parzival-Dichtung eine Vereindeutigung des Erzählten vornimmt. Die bei Chrétien bereits angelegten und bei Wolfram dann offen zu Tage tretenden Aporien werden so (etwa in der Gralsuche) aufgelöst bzw. zugunsten des heilsgeschichtlichen Paradigmas entschieden.

168 | Rachel Raumann stoffliche Konstellationen sowie narrative Muster20 der vorgängigen Artus-GralErzähltraditionen aufgegriffen, umgedeutet oder gar konterkariert.21 Es ist nun eine Eigentümlichkeit des Prosalancelot, dass er eben diese Verhandlungen der ihm vorausgehenden narrativen Tradition und der mit ihnen verbundenen gattungsbestimmenden Elemente immer wieder auf der Figurenebene, d. h. auch in der Figurenrede22 offenlegt und damit auch innerepisch der Reflexion übereignet.23 In den folgenden Überlegungen werden daher zwei Binnenerzählungen aus dem Prosalancelot in den Mittelpunkt gerückt, deren provokative Elemente nicht allein auf der Handlungsebene, sondern auch auf einer ›Metaebene‹ anzusiedeln sind, da in ihnen die narrativen Möglichkeiten und Limitationen traditions- und gattungsbedingten (arthurischen) Erzählens ent-

|| 20 Vgl. dazu die in Anm. 18 genannte Literatur. Am deutlichsten zeigt sich diese Tendenz wohl in den Umdeutungen des Aventüre-Begriffs, die sich sowohl auf den weltlichen Bereich (v. a. Lancelots Liebe zu Ginover) als auch auf die heilsgeschichtliche Akzentuierung beziehen. 21 Vgl. Raumann (wie Anm. 18), v. a. 220–239 (mit weiterer Literatur). Zur Umdeutung des Aventüre-Verständnisses unter besonderer Berücksichtigung des Kontrasts zwischen EinzelAventüre und Gruppenkämpfen vgl. Cora Dietl, »Höfisch – freundschaftlich – gewalttätig. Ritterliche Gewaltgemeinschaften in der mittelalterlichen Literatur, untersucht am Beispiel des deutschen Prosalancelot«, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, 39–55. 22 Die Untersuchung von Figurenreden sowie von Dialog- und Redeszenen ist in der germanistischen Mediävistik in den letzten Jahren (wieder) vorangetrieben worden. Vgl. dazu grundlegend den Sammelband Nine Miedema, Franz Hundsnurscher (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36); vgl. auch Anja Becker, Poetik der ›wehselrede‹. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Mikrokosmos 79); Nine Miedema, »Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse«, in: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hrsg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, Berlin, New York 2010 (TMP 19), 35–67; Silvia Schmitz, »Stimmen aus dem Jenseits. Prophetie und Autorschaft im Zuge fortschreitender æmulatio«, in: Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.), Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, Berlin 2014, 201–220. 23 Eine der bekanntesten Stellen ist wohl Gaweins bzw. Artus’ Bemerkung bei der Ankunft des Schiffes, in dem sich das tote Fräulein von Challot befindet (PL V, 688, 24–35): Beide Protagonisten bringen das Erscheinen des Schiffes mit einem möglichen Aufleben der Aventüren in Zusammenhang und kontrastieren damit die arthurischen Aventüren selbst mit der Suche nach dem Gral, jener großen suchung, die alle anderen Abenteuer übertreffen wird. Vgl. Monika Unzeitig-Herzog, Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im ›Prosalancelot‹, Heidelberg 1990, 110f., sowie Raumann (wie Anm. 18), 216f. Zitierte Ausgabe: Prosalancelot I–V, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. von Reinhold Kluge, erg. durch die Handschrift Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., komm. und hrsg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a. M. 1995–2004 (Bibliothek des Mittelalters 14–18); die Übersetzungen der Zitate im Folgenden nach Steinhoff.

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blößt und hinterfragt werden.24 Anhand einer Reihe auf den ersten Blick recht typischer Spott- bzw. Reizreden aus dem Lancelot sowie einer zunächst eher unauffälligen Figureninvektive aus der Gralsuche möchte ich zeigen, dass Provokationen auch aus der Kommunikation zwischen dem Text, den literarischen Vorläufern und der Kenntnis des (kundigen) Rezipienten erwachsen können. Dies vollzieht sich, so die These, indem diesen Figurenreden ein literargeschichtliches Wissen ›eingeschrieben‹ wird, das den binnenliterarischen Wissensstand der Figuren überschreitet und letztlich die vorgängige Erzähltradition sowie das Vorwissen des Rezipienten gegen das aktuell Erzählte ausspielt. Die traditionelle Determiniertheit der Figurentypik bzw. bekannter Erzähl- und Handlungsmuster wird somit nicht einfach durch eine andere, ›neue‹ Form zu erzählen ersetzt; vielmehr bleibt das Vorgängige präsent und wird dazu genutzt, den (textexternen) Rezipienten auf die Diskrepanz zwischen ›traditionellen‹ und ›neuen‹ Elementen hinzuweisen. Aus diesem ›Spiel‹ mit den (Rezipienten-)Erwartungen wird eine Provokation auf der ›Metaebene‹, eine literargeschichtliche Provokation generiert, die alte und neue arthurische Erzählprogramme kontrastiv aufeinander bezieht.

1 »Niemand spricht in unserer Gegenwart so von uns wie in unserer Abwesenheit«:25 Gawein vs. Grohadaim Den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bildet eine auf den ersten Blick nicht unbedingt auffällige Episode: die Befreiung der Dame von Rodestock, die im Lancelot propre in die Suche nach dem Roten Ritter (also Lancelot) integriert ist (PL I, 832, 16–1222, 12, hier: 842–894, 17 und 908, 24–938, 25). Im Mittelpunkt steht im Folgenden die erste Begegnung von Gawein und Hector bzw. Gaweins Begegnung mit dem Zwerg Grohadaim, deren Grundzüge der besseren Verständlichkeit wegen skizziert seien: Auf ihrer Suche nach dem Roten Ritter beobachten Gawein sowie die Artusritter Giflet, Key, Segremors und Iwein, wie ein Ritter (Lancelots Halbbruder Hector) auf einer Lichtung ei-

|| 24 Den Zusammenhang zwischen (intradiegetischer) Figurenrede und poetologischen bzw. narratologischen Prinzipien untersucht unter besonderer Berücksichtigung des Parzival Miedema, »Dialoganalyse« (wie Anm. 22), 50–65. 25 Blaise Pascal, Gedanken, aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Kommentar von Eduard Zwierlein, Berlin 2012 (Suhrkamp Studienbibliothek 20).

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nen schwarzen, mit silbernen Tropfen übersäten Schild betrachtet und dabei abwechselnd zu klagen und sich zu freuen beginnt. Um herauszufinden, was es mit dem Verhalten des Ritters (den Key einen Narr, einen schnudel schimpft; PL I, 844) auf sich hat, beschließen sie, ihn zu fragen; sollte er nicht antworten, dann – so Key – wolle er ihn zum Zweikampf herausfordern. Gerade als Key sich aufmachen will, greift ihm Segremors in die Zügel und beansprucht die Rolle des ersten Kundschafters für sich (846).26 Nacheinander werden Segremors, Key, Giflet und Iwein von dem fremden Ritter besiegt, der überdies ihre Pferde davontreibt. Gerade als Gawein sich aufmacht, um als letzter gegen den Kontrahenten anzutreten, wird er von einem Zwerg überholt. Dieser Zwerg schlägt den unbekannten Ritter mit einem Prügel, befiehlt ihm aufzusitzen und mit ihm davonzureiten (850). Auf Bitten Giflets fängt Gawein eines der Pferde ein und reitet dann allein auf der Spur von Ritter und Zwerg weiter.27 Am nächsten Tag gelangt Gawein zu einem schönen Zelt, in dem sich eine junge Dame befindet. Gawein reitet hinein und grüßt das Fräulein. Sie erkennt ihn als einen derjenigen, die dem unbekannten Ritter nicht gegen den Zwerg beigestanden haben, und beginnt ihn zu schelten. Noch bevor Gawein etwas erwidern kann, bricht sein Pferd unter ihm zusammen, da der Zwerg ihm einen Spieß in den Bauch gestochen hat. Gawein packt das geczwerg und will es zerschmettern (854), worauf der Zwerg zu schreien beginnt und ausruft, seine Mutter habe ihm ja prophezeit, dass ihn ein unwert wicht töten werde; nun sei er sich sicher, dass ihn das argest mensch, das nu lebet, in Händen halte (854). Gawein ergreift die Gelegenheit buchstäblich ›beim Schopf‹ und bietet seinem ›Gegner‹ einen Tauschhandel an: Wolle er ihm erklären, welche Bewandtnis es mit dem klagenden Ritter habe, dann werde er ihm das Leben lassen. Das geczwerg kontert mit einer Gegenforderung: Wenn sich Gawein bereit erkläre, gegen den Unbekannten oder auch einen anderen Ritter anzutreten, wenn es der Zwerg befehle,

|| 26 Dies entspricht der Typik Segremors’: Das Epitheton begegnet ähnlich schon in Chrétiens Erec (»desreez«; V. 1701); zitierte Ausgabe: Chrétien de Troyes, Erec et Enide, übers. und eingel. von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17); vgl. auch Wolframs Parzival, (284, 30–288, 26); zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, 2 Bde., nach der Ausg. Karl Lachmanns revidiert und komm. von Eberhard Nellmann, übertr. von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 2006 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 7), sowie den Gauriel (V. 729 und 765–786), in dem Segremors ebenfalls als erster gegen den Ritter mit dem Bock antritt; zitierte Ausgabe: Der Ritter mit dem Bock. Konrads von Stoffeln ›Gauriel von Muntabel‹, neu hrsg., eingel. und komm. von Wolfgang Achnitz, Tübingen 1997 (Texte und Textgeschichte 46). 27 Mit der Absonderung Gaweins von den anderen Artusrittern wird das ›traditionelle‹ arthurische Prinzip der Einzel-Aventüre in das Erzählte hineingeholt.

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dann werde er ihm alles berichten. Man einigt sich,28 der Zwerg lässt Hector holen und beginnt zu erzählen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Passage einige Provokationen enthält, die in erster Linie von Grohadaim, dem Zwerg, ausgehen und sich sowohl in seinem verbalen (Beleidungen Gaweins) als auch v. a. in seinem nonverbalen Handeln (Erstechen des Pferdes)29 zeigen. Grohadaim entspricht damit zum einen dem traditionellen Typus des niederträchtigen Zwergs, wie er sich ja nicht zuletzt in Chrétiens und Hartmanns Erec findet.30 Zum anderen ist er aber – wie Gawein und die textexternen Rezipienten aus seiner sich anschließenden Erzählung erfahren – von edler Herkunft und der Onkel des jungen Fräuleins, das wiederum die Geliebte Hectors ist (856). Mit der Begegnung zwischen Gawein und Grohadaim wird gleich von Beginn an jene antagonistische Tendenz etabliert, die den gesamten weiteren Verlauf der Episode prägt. Symptomatisch zeigt sich das in dem Ausruf des Zwergs, seine Mutter habe ihm prophezeit, ein unwert wicht werde ihn töten (854), was aus dem Munde eines Zwergs einer gewissen Komik nicht entbehrt, fungiert Gawein in der vorgängigen Erzähltradition doch als (obgleich nicht immer uneingeschränktes) Bild des ›Musterritters‹.31 Das Epitheton unwert verkehrt diesen traditionellen Blick ad hoc, um dann noch durch die gleichsam als Alliteration angefügte Apostrophierung (unwert – wiht) verstärkt zu werden. Die Komik

|| 28 Dass Gawein auf das Gegenangebot Grohadaims eingeht und ihn nicht tötet, um so die Identität des fremden Ritters zu erfahren, entspricht der im Prosalancelot immer wieder begegnenden Suche nach Identitäten. Vgl. dazu grundlegend Judith Klinger, Der mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im ›Prosa-Lancelot‹, München 2001 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 26). Hinzu tritt ferner die den Roman prägende Tendenz, das Erzählen von Begebenheiten, v. a. von Aventüren, zu privilegieren. Vgl. Raumann (wie Anm. 18), 176–180, und von Merveldt (wie Anm. 18), v. a. 37. 29 Mit der Durchbohrung des Pferdes ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der Provokation, wie sie Paris (wie Anm. 11) definiert, erfüllt, und zwar das Moment der Überraschung. Sowohl für Gawein als auch für den textexternen Rezipienten, dem das Zusammenzucken und Zusammenbrechen des Pferdes aus der Wahrnehmung Gaweins, also fokalisiert dargeboten wird (Mit dem entzuob myn herre Gawan [...]. Er sah hinder sich [...]; PL I, 854), erfolgt die Handlung unerwartet. Darüber hinaus betont die Tötung des Pferdes das unhöfische, unritterliche Verhalten Grohadaims. 30 Vgl. Chrétien (wie Anm. 26), V. 161–230, Hartmann, V. 95–98; zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39). Eine dem Erec vergleichbare Szene findet sich auch im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven (V. 426–439); zitierte Ausgabe: Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, 2 Bde., hrsg. von Florian Kragl, Berlin, New York 2006. 31 Vgl. zur Gawein-Figur u. a. Bernhard Anton Schmitz, Gauvain, Gawein, Walewein: Die Emanzipation des ewig Verspäteten, Tübingen 2008 (Hermaea NF 117).

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entsteht dabei auf der sprachlichen Ebene aus der Diskrepanz zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem (und nähert sich damit auch der rhetorischen Bedeutung von Ironie an)32 sowie aus der dargestellten Handlung: Gawein wird von einem Zwerg als wiht33 beschimpft, während der Ritter den eigentlichen ›Wicht‹ am Schopf gepackt hat und off von dem ertrich, also in der Luft hält. Für den Rezipienten kann Grohadaims Äußerung also insofern als Provokation des Protagonisten gelten, als er um den traditionellen, exzeptionellen Status sowie um Gaweins Identität weiß, und die Beleidigungen des Zwergs eben diese literarische Tradition bzw. Ausprägungen des Artusrittertums infrage stellen,34 für die der ›Musterritter‹ Gawein als Repräsentant gemeinhin einsteht. Auf der Handlungsebene hingegen kommen dem Ausruf des Zwergs zwei weitere Funktionen zu: Zum einen eröffnet Grohadaim Gawein mit seiner Beleidigung die Möglichkeit zur Deeskalation, indem der ritterliche Protagonist die Diffamie der Äußerung selbst handelnd zurückweisen kann: Da der Ritter den Zwerg nicht tötet, widerlegt Gawein die Prophezeiung bzw. die Zuschreibung, ein wertloser Wicht zu sein. Zum anderen bietet sich Gawein so die Option, mehr über den unbekannten Ritter und sein Verhalten zu erfahren. Dass Gawein den Provokateur nicht tötet, ist damit der Tatsache geschuldet, die Beleidigung des Zwergs auf der Handlungsebene zu widerlegen sowie weiterhin Auskunft über die Identität und das Verhalten des fremden Ritters zu erhalten. Hinzu tritt schließlich auch die (zumindest physische) Inferiorität Grohadaims, die eine ritterliche Reaktion kaum zulässt.35 Die folgende Binnenerzählung Grohadaims fungiert somit als Informationsquelle für das innerepische Personal und die textexternen Rezipienten. Zudem dient die narratio des Zwergs zugleich als Mittel der ›Ent-Spannung‹, indem sie den Antagonismus zwischen Gawein und Grohadaim punktuell aus- und den höfischen Kodex,36 freilich ebenso punktuell, einsetzt.

|| 32 Hier eher im Sinne der Ironie als »Wort-Tropus«, dessen Konnotationen »in einem Sinne verstanden werden, der ihrem eigentlichen Sinn entgegengesetzt ist«; Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik: Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, Ismaning 101990, 78f. (§232). 33 Zu den Konnotationen von mhd. wiht vgl. BMZ, Bd. 4, 650b. 34 Vgl. Schmitz (wie Anm. 31). 35 Vgl. den Lanzelet, in dem der Protagonist letztlich, obgleich ihm der Zwerg einen Geißelschlag versetzt, auch nicht auf die Provokation des Zwergs reagiert, »wan er dûht in ze swach«; V. 439. 36 Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen Erzählen und höfischem Kodex Haiko Wandhoff, »›Künec, vernemt von mir!‹ Zur Problematik des ehrenhaften Erzählens von der eigenen Person im Artusroman«, in: Ludger Lieb, Stephan Müller (Hrsg.), Situationen des Erzählens. Aspekte

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Die Figurenerzählung, die ich hier nicht in allen Einzelheiten referieren kann,37 klärt Gawein und die textexternen Rezipienten nicht nur über Hector und die Bedeutung des schwarzen gesprenkelten Schilds, sondern auch über einen Konflikt auf, in den Grohadaim auf Grund seiner lehnsrechtlichen Verpflichtungen involviert ist: Seine Herrin, die Dame von Rodestock, befindet sich im Streit mit Segurates, den sie nicht heiraten will und der die eheliche Verbindung nun mittels kriegerischer Auseinandersetzung zu erzwingen sucht. Zurzeit herrsche zwar ein einjähriger Waffenfriede, der sich aber bald seinem Ende zuneige. Die in der Binnenerzählung des Zwergs geschilderte Situation impliziert, zumindest für den kundigen Rezipienten, freilich schon den zu erwartenden Ausgang der Passage: Gawein wird der Dame von Rodestock beistehen, Segurates besiegen und Land, liute und vrouwe von der Bedrohung erlösen.38 Daher ist es zunächst umso erstaunlicher, dass Grohadaim seine Erzählung mit einer erneuten Beleidigung Gaweins beendet: »[...] mich dunckt nymant in der werlt als böse als du« (PL I, 866). Der Zwerg duzt den Ritter und zeiht ihn der (ritterlichen) Wertlosigkeit bzw. der Feigheit.39 Doch obgleich Gawein über den Verlust seines Pferdes erbost ist, zeigt er auch auf die neuerliche Beleidigung Grodahaims keinerlei Reaktion. Die Gesellschaft begibt sich zu Tisch; während des Mahls erscheint eine Botin der Dame von Rodestock und übergibt Grohadaim einen Brief, dessen Lektüre ihn zu einem misogynen Kommentar verleitet (PL I, 866). Auf die Nachfrage seiner Nichte, warum er auf Frauen nichts gebe, antwortet er Folgendes: ›Myn frau hatt mir enboten, [...] das ir fried schier súl ußgan und das ich zu des konig Artus hoff fare beide, tag und nacht, und bring ir myn herren Gawan, das er feht wiedder Seguratesen. Nu wenet si wol das ir botschafft als schier gethan mög syn als sie gedencket; und fure ich yczunt hinweg, ich keme dar nicht innwendig dem frieden. So ist auch myn

|| narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin, New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 20), 125–142. 37 Grohadaims Erzählung (PL I, 856–866) versorgt Gawein sowie die textexternen Rezipienten mit den wesentlichen Informationen. Hier scheint mir auch eine dem Prosalancelot prinzipiell eignende Spezifik deutlich zu werden: Die vergleichsweise ›zurückhaltende‹ übergeordnete Erzählinstanz wird kompensiert oder ergänzt durch innerepische, intra- sowie metadiegetische narrationes, deren Erzähler nicht nur z. T. am Geschehen beteiligt sind, sondern darüber hinaus auch deutlich souverän gestaltet werden. 38 Dass diese typische Konstellation gerade im Prosalancelot häufig prekär gerät, da sich der Held (oder die Heldengruppe) für die ›falsche‹ Seite entscheidet, betont Stefan Merl, »Der deutsche Prosalancelot. Die Auswirkung des Erscheinens von Galaad auf den Artushof«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 85–99, v. a. 88. 39 Vgl. zu mhd. bœse BMZ, Bd. 1, 224a.

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herre Gawan als gut nit zu finden als sie wenet. In funff jarn ist er nit zwirnat in syns öheims hof, er durchfert alle die werlt durch starck abentúr zu suchen, wann er der best ritter ist der nu lebet. Sin enmögen wir han nit, ich will ir aber an sin stat einen den fulsten ritter senden der ie schilt umb synen hals gedete, das ist dißer der hie by mir siczt.‹ (866) ›Meine Herrin hat mir mitgeteilt, [...] daß ihr Waffenfriede bald zuendegeht und daß ich Tag und Nacht eilen soll, an den Artushof zu kommen und ihr Gawan zu bringen, damit er gegen Segurates kämpfe. Nun meint sie sicher, ihr Auftrag sei so schnell zu erfüllen, wie er ihr eingefallen ist. Selbst wenn ich sofort aufbräche, käme ich nicht mehr innerhalb der Frist zurecht. Gawan ist aber auch nicht so leicht zu finden, wie sie glaubt. In fünf Jahren ist er keine zweimal am Hof seines Onkels; er zieht auf der Suche nach gefährlichen Aventüren durch die Welt, denn er ist der beste Ritter, den es gibt. Ihn können wir nicht bekommen, und ich werde ihr [der Dame von Rodestock] an seiner Stelle einen der trägsten Ritter schicken, die je den Schild um den Hals genommen haben, nämlich diesen, der hier bei mir sitzt.‹

In dieser kurzen Rede Grohadaims werden die für die Gawein-Figur typischen Elemente in verdichteter Form dargeboten: Gawein wird – so durch die Bitte der Frau von Rodestock – als der bevorzugte Kämpfer in einer Notsituation genannt, und eben diese Vorrangstellung wird sodann von Grohadaim mit der bekannten Problematik von Gaweins permanenter Absenz konfrontiert. Der beste lebende Ritter ist zugleich der – wie Schmitz pointiert formuliert hat – »ewig Verspätete«40 innerhalb der arthurischen Erzähltradition, dessen Hilfe zwar häufig gesucht, aber nicht zwangsläufig auch erlangt wird.41 Ausgehend von diesem (literargeschichtlich fundiertem)42 Vorwissen und angereichert um die rationale Erklärung, die Zeit würde ohnehin nicht ausreichen, um den Artushof zu erreichen, gelangt Grohadaim zu dem nicht ganz bruchlos zu vermittelnden Schluss, dass er statt des best ritters schlichtweg den trägsten Kämpfer

|| 40 Schmitz (wie Anm. 31). 41 Programmatisch wird dieses Prinzip natürlich v. a. in Hartmanns Iwein, der das Einhalten von Fristen bekanntlich nicht nur mit Blick auf den im Zentrum stehenden Protagonisten, sondern auch anhand der Gawein-Figur durchspielt; vgl. die nicht zustande kommende Hilfe für Lunete (V. 4275–4302) bzw. die Problematik, seinem Verwandten nicht gegen den Riesen Harpin beistehen zu können (V. 4520–4739); in der Binnenerzählung von Gaweins Schwager wird überdies deutlich, dass Gawein auch bei der Entführung Ginovers nicht zugegen ist und erst am nächsten Tag am Artushof erscheint (V. 4719f.). 42 Ein solches literargeschichtliches Vorwissen von Figuren konstatiert auch Christiane Schonert mit Blick auf Keie, der im Prosalancelot nicht mehr als die Negativfigur auftaucht, die er noch in den vorgängigen Artusromanen verkörpert. Vgl. Christiane Schonert, »Rüstung als Maske. Ein Täuschungsmanöver und seine Funktion im Prosalancelot«, in: Corinna Laude, Ellen Schindler-Horst (Hrsg.), List, Lüge, Täuschung, Bielefeld 2005 (Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 52), 348–361, v. a. 352–356.

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zu dem entscheidenden Zweikampf mitbringen werde (PL I, 866). Diese conclusio setzt die vorherigen Beleidigungen und Provokationen Grohadaims auf der Figurenebene fort,43 und auch diesmal schenkt Gawein ihnen keine weitere Aufmerksamkeit (wann er achtet es nit viel; 866). Auf der Handlungsebene zeigen die Schmähreden und Spöttereien des Zwergs also letztlich keinerlei Wirkung: Weder gibt sich Gawein zu erkennen, noch veranlassen ihn die Reizreden zu einer Gegenprovokation bzw. -reaktion (ausgenommen ist hier die Reaktion Gaweins auf die Tötung seines Pferds, die aber mittels der Binnenerzählung in eine andere Richtung gelenkt wird). Gaweins Beherrschtheit gegenüber dem inferioren Widerpart mag zunächst als Ausweis seiner (artus-)ritterlichen Tugend und seiner hövescheit gewertet werden.44 Dennoch entsteht durch das Verlesen des Briefs auch eine Diskrepanz, die freilich gegenüber der Bezeichnung Gaweins als unwert wiht noch gesteigert wird; denn in dem Moment, in dem das literargeschichtliche Wissen um Gaweins Exzeptionalität Einzug in Grohadaims Rede, also auch in die narratio, hält, intensiviert das Lob des Zwergs auf den vermeintlich abwesenden Gawein dessen Schmähung. Gleichsam ironisch ist demnach nicht die eigentliche Aussage des Zwergs, sondern die auf verschiedenen Ebenen narrativ ausgestaltete Situation:45 Grohadaims Äußerungen spiegeln gewissermaßen die GaweinTypik der ›(nach-)klassischen‹ arthurischen Erzähltradition wider, wenn der Zwerg davon ausgeht, Gawein niemals finden oder ihn gar vor sich haben zu

|| 43 Diese Leerstelle wird auch später, bei der eigentlichen Anagnorisis, nicht vollends aufgelöst (vgl. PL I, 910–938): Hier gelangt die Frau von Rodestock gemeinsam mit dem Zwerg Grohadaim an den Artushof, und der König selbst entdeckt ihr auf Grund ihrer Erzählung und ihrer Beschreibung der Rüstung des Ritters, dass es wohl niemand anderes als Gawein gewesen sein könne, der sie von Segurates erlöst habe. Nicht nur die Dame von Rodestock, sondern auch Grohadaim reagiert darauf äußerst beschämt. Der Zwerg erklärt sein Verhalten gegenüber Gawein damit, dass er ihn viele schlimme Dinge tun sehen habe. Was mit diesen Dingen (zeichen) gemeint ist, bleibt unklar; allenfalls könnte damit Gaweins unterbliebene Hilfeleistung für Hector gemeint sein. Nicht unerheblich ist hier ferner, dass Gawein bei dieser Anagnorisis selbst nicht zugegen ist, so dass seine typische Absenz auch hier erneut in Erinnerung gerufen wird. 44 Zur Differenzierung zwischen unhöfischen Reizreden und höfischen, den Kämpfen vorangestellten Dialogen sowie zum Verhalten des Herausgeforderten vgl. den Beitrag von Tina Terrahe im vorliegenden Band. Auch heißt es im Prosalancelot später, Gawein sei stets höflich gewesen und habe sich seiner Taten niemals gerühmt (vgl. PL III, 212). 45 Dass insbesondere Gawein ›Opfer‹ solch erzählerischer ›Übergriffe‹ wird, zieht – mit Blick auf den Parzival – auch Becker (wie Anm. 22), 95, in Erwägung, allerdings ohne auf die literargeschichtliche Dimension einzugehen.

176 | Rachel Raumann können.46 Gawein hingegen wird binnenliterarisch nachgerade zum Rezipienten dieser ihm eignenden Typik stilisiert und mit dem von ihm in der vorgängigen Artusliteratur etablierten Bild konfrontiert.47 Grohadaims Preis des vermeintlich abwesenden Gaweins wird somit auch dem Vorwissen des kundigen Rezipienten angenähert, wobei sich freilich eine feine Nuancierung ergibt; denn wie der Rezipient aus dem bereits Erzählten ableiten kann, handelt es sich bei Gawein im Prosalancelot zwar um einen über weite Strecken48 ausgezeichneten, aber eben nicht mehr um de[n] best ritter [...] der nu lebet; gebührt die Auszeichnung, der beste lebende Ritter zu sein, doch bekanntlich primär Lancelot, um dann an seinen keuschen, zum Gral berufenen Sohn Galaad überzugehen.49

|| 46 Vgl. zur Keie-Figur Schonert (wie Anm. 42), 355, die die negative Einschätzung Keies durch einige Figuren als »altes Vorurteil« bezeichnet, dies aber mit Blick auf die Ebene des discours nicht weiter verfolgt. 47 Für diese Stelle könnte daher salopp konstatiert werden, dass Gawein, wenn er denn schon einmal da ist, auf Grund seiner eigentlich typischen Abwesenheit nicht erkannt wird. Dieses Nicht-Erkennen des Anderen ist natürlich ebenfalls traditionell. Nicht zuletzt Gawein gehört zu den Rittern, die von ihrem Gegenüber häufig nicht erkannt werden, etwa im Yvain bzw. im Iwein oder im Parzival. Vgl. dazu Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300, München 1963, und Green (wie Anm. 7), v. a. 274–281. Ob dieses gerade bei Gawein beliebte Nicht-Erkennen motivgeschichtlich herzuleiten ist, kann nicht abschließend geklärt werden, allerdings existieren Versionen, in denen Gawein/ Walwanius als ›namenloses‹ uneheliches Kind von der Schwester von Artus und König Lot begegnet. Das Nicht-Erkennen würde hier mit der prekären Identität bzw. der Namenlosigkeit korrelieren. Vgl. zu diesem Komplex Fritz Peter Knapp, »Vom höfischen Roman zur historischen Biographie: Jung-Gaweins Abkunft und Aufstieg«, in: ders., Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005, 85–100. 48 Problematisch gerät Gawein nicht nur mit Blick auf seine ›Frauengeschichten‹, sondern v. a. gegen Ende der Erzählung, wenn er im Krieg gegen Lancelot antritt (vgl. die Partie ›Die Gawan-Brüder‹ in PL V, 742–777). Programmatisch ist hier auch Gaweins Aufenthalt auf Burg Corbenic sowie seine Gralsschau: Er scheitert vor seinem Eintritt in die Burg daran, die Dame aus dem Zuber mit kochend heißem Wasser zu befreien (dies wird erst Lancelot gelingen, vgl. PL III, 536). V. a. aber scheitert er an seiner Gralsbegegnung. Zwar bewundert Gawein die Herrlichkeit des Grals, als weitaus beeindruckender erscheint ihm allerdings die Trägerin des Kelchs, von der Gawein seine Augen erst dann abwenden kann, als sie den Raum verlassen hat (PL III, 162). Die ›Strafe‹ für sein Verhalten folgt auf dem Fuß, denn während die Burgbewohner mit dem typischen Speisewunder belohnt werden, bleibt Gaweins Teller leer. 49 Vgl. u. a. Walter Haug, »Das erotische und das religiöse Konzept im Prosa-Lancelot«, in: Klaus Ridder, Christoph Huber (Hrsg.), ›Lancelot‹. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, 249–263, sowie Merl (wie Anm. 38), 98f.

Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot | 177

Zwar reißen die Beleidigungen Grohadaims auf der Reise nach Rodestock nicht ab (PL I, 868 und 872),50 aber erst unmittelbar vor dem Kampf gegen Segurates führt eine neuerliche Provokation Gaweins auch zu einer Reaktion:51 Diesmal geht die Beleidigung allerdings nicht von Grohadaim, sondern von Segurates selbst aus, wenn er äußert, er hoffe für seinen Herausforderer, dass dessen Unterstützer sich so für ihn und die Dame von Rodestock einsetzen werden, als were Gawan selb hie, des konig Lotes sůne (PL I, 886). Auch in dieser Reizrede wird somit erneut auf Gaweins ›sprichwörtliche‹ Abwesenheit rekurriert. Gaweins Antwort an Segurates gibt zwar seine Identität nicht direkt preis, aber er bezeichnet sich als denjenigen, der Segurates davon abhalten werde, sich der Landesherrin zu bemächtigen. Noch einmal kommt auch Grohadaim zu Wort, der sich über den schnudel, den Narren wundert, der so bereitwillig in den Tod gehe (886). Der folgende Sieg Gaweins über Segurates führt das Erzählte wieder in traditionelle Bahnen, auch wenn es nicht zur Anagnorisis kommt und Gawein unentdeckt davonreitet. Die in der hier untersuchten Episode begegnenden Provokationen und Schmähungen Grohadaims überschreiten also den Rahmen traditioneller (unhöfischer) Reizreden, da sie nicht bloß handlungsauslösend (oder retardierend) sind, sondern zugleich auf eine literargeschichtliche Dimension verweisen. Damit wird eine Provokation auf der Metaebene generiert, indem die aus der arthurischen Erzähltradition bekannten typischen Eigenschaften der GaweinFigur bereitgestellt werden und auf Grund ihrer deutlichen Präsenz den kundigen Rezipienten gleichsam dazu auffordern, sein ›Vorwissen‹ mit dem der Figuren sowie mit dem Erzählten abzugleichen. Zum einen wird somit auf den für den Prosalancelot spezifischen narrativen und literarischen Entwurf, in dem Gawein eben nicht mehr der, sondern nur noch ein (Muster-)Ritter unter vielen ist, verwiesen,52 so dass Gawein punktuell zum Gegner der ihm eigenen Typik avanciert. Zum anderen aber wird durch das wiederkehrende Aufrufen der traditionellen Elemente deren Präsenz punktuell ironisch affirmiert, indem explizit auf ihre ursprüngliche Geltung sowie ex contrario53 auf Gaweins Exzeptionalität rekurriert wird. Das ironische Moment resultiert dabei aus der Diskrepanz zwischen traditioneller Determiniertheit des Protagonisten (Figurenrede) auf der || 50 Auch Hector, der sich für die Schmähreden des Zwergs schämt, äußert an einem Punkt des Erzählten gegenüber Gawein, er solle nichts auf die Worte des Zwergs geben, selbst wenn er Gawein selbst wäre, würde ihn Grohadaim auf diese Weise behandeln (PL I, 872). 51 Dies lässt sich natürlich dadurch erklären, dass Gawein mit Segurates nun ein ebenbürtiger Gegner gegenübersteht. 52 Vgl. zur Keie-Figur Schonert (wie Anm. 42) sowie allgemein Dietl (wie Anm. 21). 53 Vgl. Lausberg (wie Anm. 7), 302f. (§ 582).

178 | Rachel Raumann einen und aus der geschilderten Situation auf der anderen Seite,54 da der Handlungskontext und die in der Meta-Diegese begegnende Figurentypik nicht mehr vollständig übereinstimmen. Auch hier scheinen somit die unterschiedlichen Konnotationen der provocatio auf: Das aus der literarischen Tradition Bekannte wird dem Adressaten in Erinnerung gebracht und durch das ›neue‹ Erzählte konterkariert.

2 Das Lachen des Sornehans: milites perpetui? Das zweite Beispiel ist der Gralsuche entnommen und Lancelots Weg zur Gralsburg (Corbenic) unmittelbar vorgeschaltet (PL III, 366–374). Gaheries zieht aus, um seine Brüder Guerrehes und Agravain aus der Gefangenschaft von Sornehans zu befreien, der die beiden Ritter in seiner Burg auf dem Unglucklich Bergk festhält (366). Nachdem Gaheries Sornehans im Zweikampf besiegt hat, lässt der Burgherr die Gawein-Brüder frei und veranstaltet ein Fest, obgleich er auf Grund seiner Blessuren kaum zu sprechen fähig ist (372). Am nächsten Tag erscheint der noch vom Kampf gezeichnete Sornehans im Palas und muss erkennen, dass Agravain, der über lange Zeit schwer verwundet war, nahezu vollständig genesen ist. Angesichts dieser ›wundersamen‹ Heilung beginnt Sornehans zu lachen [...] und sprach: ›Furware, die von der tafelrunde sint gluckhafftiger dann all ander ritter, wann wern sie dot, sie fúnden nach mym dúncken die ghenen die sie wiedder lebendig mechten. [...]‹. (372) [...] und sagte: ›Wahrhaftig, die von der Tafelrunde haben mehr Glück als alle anderen Ritter. Denn selbst wenn sie tot wären, fänden sie noch jemanden, so kommt es mir vor, der sie wieder lebendig machte [...]‹.

|| 54 Prinzipiell Vergleichbares findet sich vielleicht am deutlichsten in Heinrichs Crône, in der Gawein auf dem Weg zu Amurfina auf Ywalin / Riwalin trifft und sich von ihm über einige seiner Aventüren sowie das ihm stets gewogene heil ›belehren‹ lässt. Gawein, der sich hier ebenfalls zunächst nicht zu erkennen gibt, entgegnet nach einem längeren Glücksexkurs letztlich, er hoffe, ihm werde eben dieses Glück zuteil, das auch Gawein stets vergönnt gewesen sei (V. 6013–15). Im Unterschied zu der hier erwähnten Stelle des Prosalancelot ›spielt‹ der Protagonist hier allerdings selbst mit der ihm eignenden Typik; vgl. dazu Matthias Meyer, »Sô dunke ich mich ein werltgot. Überlegungen zum Verhältnis Autor-Erzähler-Fiktion im späten Artusroman«, in: Volker Mertens, Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Fiktionalität im Artusroman, Tübingen 1993 [SIA 3], 185–202, hier: 198f.

Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot | 179

Natürlich handelt es sich bei dieser Figurenbemerkung nicht um eine solche Form von Provokation, wie sie in Grohadaims Äußerungen begegnet, da sie innerhalb der narratio keinerlei Spott oder Schmähung intendiert. Dennoch weist auch Sornehans’ Feststellung ein provokatives Potential auf, und zwar insofern, als seine Äußerung eben die Bedingungen arthurischen Erzählens aufruft, die im Prosalancelot keine (uneingeschränkte) Gültigkeit mehr besitzen; führt das Erzählen den (oder die) Held(en) doch nicht mehr – um Walter Haug zu zitieren – durch den »symbolischen Tod«,55 sondern tatsächlich in den (freilich literarisch inszenierten) Tod. Zwar ist dies den textexternen Rezipienten an diesem Punkt des Erzählten noch nicht uneingeschränkt bekannt, doch ist es bereits vorhersehbar.56 Was hier in Sornehans’ Bemerkung aufscheint, kann auf der Figurenebene als bloße Komik verstanden werden (»Es ist schön und erstaunlich, dass Ihr so rasch gesundet seid«); für den textexternen Rezipienten allerdings zeigt der Verweis auf das aus der vorgängigen Erzähltradition Bekannte, was nun nicht mehr gilt: Das typische ›Märchenglück‹ der Artusritter ist (literarische) Vergangenheit – es könnte gestorben werden. Somit wird – vergleichbar den Provokationen von Grohadaim – ein dem ›klassischen‹ arthurischen Erzählen inhärentes Moment (rex und miles perpetuus) in der Figurenrede aufgerufen und punktuell gegen das im Prosalancelot Erzählte ausgespielt. Eben dieses Element evoziert zugleich eine Korrelation sowie eine Diskrepanz zwischen der Figuren- und der textexternen Rezipientenebene, die den Aspekt des Provokativen und des Ironischen57 je unterschiedlich nuancieren; denn die mittels der Figurenrede aufgerufene Präsenz des Bekannten erlangt ihre Brisanz insofern, als sie die Differenz zwischen Erzähltem, Figurenstandpunkt und textexternem Rezipientenwissen anzeigt und somit verdeutlicht, dass das zu Erwartende nicht mehr uneingeschränkt eingelöst werden kann. Als ironisch kann die Äußerung des Sornehans a u ß e r h a l b der Diegese daher insofern gelten, als sie – mit Blick auf das weitere Erzählte – die Möglichkeit der gegensätzlichen Bedeutung entblößt und antizipiert; zwar wird Agravain an dieser Stelle des Erzählten geheilt, aber die Kontingenz des Todes hat – anders als in den ›traditionellen, symbolischen‹ Heilungen etwa Erecs oder Iweins – als

|| 55 Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, 99. 56 Das Geschehen verlagert sich bekanntlich »mehr und mehr aus der Artuswelt in den Gralbereich«, und die Vorausdeutungen auf das Ende des Erzählten (Mort Artu) nehmen zu; Steinhoff, Kommentar zu PL III, 743. Ebenfalls symptomatisch ist natürlich auch Gaweins Scheitern auf der Gralsburg (siehe die Ausführungen oben in Anm. 48). 57 Vgl. Raumann (wie Anm. 18), 293, sowie Unzeitig-Herzog (wie Anm. 23), 163, die dieses literargeschichtlich-ironische Moment allerdings nicht aufgreift.

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narrative Option Einzug in das arthurische Sujet erhalten. In der Diegese führt dies – ähnlich wie im Falle Grohadaims – zu Fehleinschätzungen der Situation, werden die Artusritter im Prosalancelot letztlich doch den (literarischen) Tod erleiden; für den kundigen Rezipienten hingegen offenbart sich die Möglichkeit, sein Vorwissen zu korrigieren bzw. der im Prosalancelot entworfenen narrativen Konzeption anzupassen. Allerdings vollzieht sich diese Form der ›Anpassung‹ nicht uneingeschränkt; denn die Präsenz des Vorgängigen, die auf der Figurenebene evoziert wird, verweist den Rezipienten zugleich auf die mögliche erzählerische Alternative58 und unterläuft damit zumindest punktuell das vermeintlich ›geschlossene‹ Erzählprogramm des Prosalancelot.

3 Fazit In den hier untersuchten Figurenreden bzw. Binnenerzählungen wird deutlich, dass die in ihnen vorgebrachten Aspekte nicht allein der Informationsvermittlung oder der »Selbstcharakterisierung«59 der Figuren dienen, da sie wiederholt auf ein literargeschichtliches Wissen rekurrieren, das dem des kundigen Rezipienten entspricht. Sowohl die Protagonisten als auch ihre Äußerungen werden damit deutlich als narrative/literarische Konstrukte ausgewiesen, deren Bedeutung und Funktion über die Handlungsebene hinausweisen: Ihr provokatives Potential entfalten die Meta-Diegesen somit nicht ausschließlich in der Herausforderung oder Schmähung des innerfiktionalen Gegenübers, vielmehr halten sie den textexternen Adressaten dazu an, sein Wissen den unterschiedlichen Ebenen und literargeschichtlichen Ausprägungen des Erzählten anzupassen. In beiden hier betrachteten Beispielen wird so ein Kontrast zwischen alten und

|| 58 Dies in Anlehnung bzw. als Umdeutung des von Peter Strohschneider geprägten Begriffs der ›abgewiesenen Alternative‹, den er insbesondere mit Blick auf das Nibelungenlied im Anschluss an Überlegungen von Jan-Dirk Müller entwickelt hat. Strohschneider verwendet den Terminus, um die im Nibelungenlied begegnenden ›Brüche‹ – wie etwa im Erzählmuster ›Brautwerbung‹ – zu fassen, in dem eigentlich dem stärksten Bewerber auch die Schönste zustehe. Vgl. Peter Strohschneider, »Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied«, in: Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, Stuttgart, Leipzig 1997, 43–77. Ich möchte in den von mir untersuchten Stellen insofern nicht von einer ›abgewiesenen Alternative‹ sprechen, als hier – anders als im Nibelungenlied – die Alternativen in der Figurenrede explizit aufgerufen und damit dem literargeschichtlichen Vorwissen des textexternen Rezipienten angeglichen werden. 59 Miedema, »Dialoganalyse« (wie Anm. 22), 42.

Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot | 181

niuwen arthurischen mæren impliziert, der nicht nur die inhaltliche, sondern auch die jeweilige narrative und poetologische Dimension ergreift und der Reflexion übereignet: Punktuell konterkariert wird damit zum einen die (vorgängige) literarische Tradition, zum Umdenken provoziert wird zum anderen aber auch der Rezipient, der dieses Changieren zwischen den innerepisch vermittelten Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens zu bewältigen und mit seinen Erwartungen abzugleichen hat. Das provokative Potential der Figurenreden erwächst demnach v. a. aus dem kontrastiven Zusammenspiel von MetaDiegesen, Handlungsebene und Rezipientenwissen, in denen eine je unterschiedliche Perspektive auf das Erzählte deutlich wird. Das Figurenwissen im Prosalancelot weist somit eine Tendenz auf, die im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte immer wieder aufs Neue inszeniert und poetologisch funktionalisiert wird. Dass hier keine lineare Entwicklung anzusetzen ist, versteht sich von selbst; daher sei zum Ende einer weiteren Figur das letzte Wort gelassen: ›Aber Brüder, ihr alten Brüder!‹ antwortete er und beugte sich zu ihnen mit gebreiteten Armen. ›Was sagt ihr da auf? Als ob ihr euch fürchtetet, ganz so redet ihr und wollt, daß ich euch vergebe! Bin ich denn wie Gott? [...] Geht ihr mich um Vergebung an, so scheint’s, daß ihr die ganze Geschichte nicht recht verstanden habt, in der wir sind. Ich schelte euch nicht darum. Man kann sehr wohl in einer Geschichte sein, ohne sie zu verstehen. Vielleicht soll es so sein, und es war sträflich, daß ich immer viel zu gut wußte, was da gespielt wurde. Habt ihr nicht gehört aus des Vaters Mund [...], daß es mit mir nur ein Spiel gewesen sei und ein Anklang? [...] Aber wenn es um Verzeihung geht unter uns 60 Menschen, so bin ich’s, der euch darum bitten muß, denn ihr mußtet die Bösen spielen‹.

|| 60 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Frankfurt a. M. 22008, 1323f. Vgl. zur Reflexivität der Figurenrede in Manns Josephroman Hans Wißkirchen, »Hauptsache Unterhaltung! Thomas Manns Joseph-Roman als ›Fest der Erzählung‹«, in: Thomas Sprecher (Hrsg.), Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt a. M. 2004 (Thomas-Mann-Studien 29), 35–50.

Claudia Ansorge

(De)stabilisierende Provokationen Zur Tugendprobe im Ambraser Mantel-Fragment Abstract: Provocation in its various manifestations in the Middle High German narrative Der Mantel forms the object of study in this paper, which argues that internal and external provocations not only challenge Arthurian society but also provide means to overcome the inner crisis of the court. Provocation is overtly present in the virtue test that calls the reputation of Arthur’s court into question by exposing its hidden vices. But while this âventiure challenges the noble society of the Round Table from without, there is also reason to believe that the court is under threat from within. The ambivalence of the extravagant feast, the shifting symbolic meaning of the mantle, and the polemical and ironic verbal attacks on the characters all contribute to a ›provocative‹ reading of the text. Comparison with other instances of the virtue test found in Heinrich von dem Türlin’s Crône and Ulrich von Zatzikhoven’s Lanzelet serves to illustrate how other Arthurian works deal with this threat and shows how they pursue their didactic or entertaining agendas by means of ›provocative‹ narration.

1 Der Mantel zwischen Unterhaltung und Didaxe Das anonym überlieferte Mantel-Fragment aus dem 13. Jh. nimmt in der Tradition der deutschen Artusliteratur eine recht singuläre Position ein und wird bis heute kontrovers diskutiert.1 Die mediävistische Forschung hat sich intensiv mit

|| 1 Diese Aussage geht von der Annahme aus, dass es sich bei dem Mantel-Fragment nicht um den Anfang eines verloren gegangenen Lanzelet-Romans handelt, sondern »um eine kurze Erzählung nach der Art der französischen Lais«, wie Achnitz es für möglich hält. Eine solche Erzählung hätte »im Bereich der deutschsprachigen matière de Bretagne nur in dem Episodengedicht Tristan als Mönch eine Parallele«; Wolfgang Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung, Berlin, Boston 2012, 234. Bumke geht noch einen Schritt weiter, wenn er in Betracht zieht, dass der Mantel vom Redaktor des Ambraser Heldenbuches zum Zweck einer Symbiose der Erzählung mit dem Erec – quasi als Ersatz für den verlorenen Anfang von Hartmanns Werk – umgearbeitet worden sein könnte; vgl. Joachim Bumke, Der ›Erec‹ Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006, 12. Als Indiz hierfür kann die gemeinsame Überschrift von Mantel und Erec im Codex gelten. Achnitz gibt jedoch zu bedenken, dass trotz der möglicherweise geplanten Symbiose »die syntaktische Struktur [...] an

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der Frage seiner Entstehung und der seiner Überlieferung im Ambraser Heldenbuch beschäftigt, kommt jedoch weder bezüglich des Ursprungs noch des Verfassers oder der Beziehung des Mantels zum Erec Hartmanns von Aue innerhalb des Codex zu einem eindeutigen Ergebnis.2 Werner Schröder bemerkt in diesem Zusammenhang, dass weder nachweisbar sei, dass Heinrich von dem Türlin der Dichter des Mantels ist, noch, dass es sich hier um den Anfang eines verloren gegangenen Lanzelet-Romans handelt: Für beide Thesen »bietet der Ambraser Mantel keinerlei plausiblen Anhalt«.3 Der Mantel erzählt von einer Tugendprobe, die beim Pfingstfest am Artushof stattfindet – ähnlich wie z. B. im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven (Mantelprobe) oder in der Crône Heinrichs von dem Türlin (Becher- und Handschuhprobe). Die versammelten Damen müssen ihre Tugendhaftigkeit öffentlich unter Beweis stellen, indem sie einen von einer Fee gefertigten Mantel anprobieren, der nur derjenigen passt, die sich keiner Verfehlung schuldig gemacht hat. Bei fast allen Damen kommen verborgene Laster durch Schrumpfen oder Weiten des Kleidungsstücks zum Vorschein. Nur Enite passt der Mantel fast perfekt. Die Tugendprobe veranschaulicht den Zustand des gesamten Hofes: Was dem Rezipienten in stark komprimierter Form vorgeführt wird, ist die Artusgesellschaft in ihrer ganzen moralischen Ambivalenz und Defizienz.

|| der Nahtstelle gestört [ist] und ein inhaltlicher Zusammenhang [...] nur grob [besteht]«; Achnitz, 233. 2 Besonders über die Datierung herrscht Uneinigkeit. Während Cormeau für eine Entstehung des Mantels vor 1230 plädiert, spricht sich z. B. Volker Mertens mit 1240–50 für einen späteren Zeitpunkt aus; vgl. Christoph Cormeau, Art. »Heinrich von dem Türlin«, in: 2VL, Bd. 3, 894– 899, hier: 895; Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, 51. Die Diskussion um die Entstehung ist eng verknüpft mit der Verfasserfrage und dem Verhältnis zum Erec bzw. zu Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet und Heinrichs von dem Türlin Crône. Der Bezug zu letzteren wird v. a. durch die dort erzählten Tugendproben hergestellt. Zudem galt Heinrich lange Zeit als Verfasser des Mantels, da er in der Crône auf eine solche Tugendprobe anspielt, diese dort jedoch nicht erzählt wird; vgl. Cormeau, 895; Otto Warnatsch, Der Mantel. Bruchstück eines Lanzeletromans des Heinrich von dem Türlin, Hildesheim, New York 1977, 85–110. Diese Zuschreibung der Verfasserschaft gilt jedoch, wie zuerst Bernd Kratz herausgestellt hat, als unsicher und wird hier deshalb nicht übernommen; vgl. Bernd Kratz, »Die Ambraser MantelErzählung und ihr Autor«, Euphorion 71 (1977), 1–17; Werner Schröder, Art. »Der Mantel«, in: 2 VL, Bd. 11, 962–965. 3 Das Ambraser ›Mantel‹-Fragment, nach der einzigen Handschrift neu hrsg. von Werner Schröder, Stuttgart 1995 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. 33, 5), 175.

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In der Forschung wird zuweilen der didaktische Charakter des Mantels betont:4 Tugendprobe und Fest offenbarten die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Ideal und Wirklichkeit, Tugenden und Lastern. Die kritischen Erzählerkommentare und provokanten Figurenreden trügen ihren Teil zur Belehrung bei, indem sie die verwerflichen Laster mehr oder weniger subtil reflektierten und den erstrebenswerten Tugenden gegenüberstellten. Andererseits werden die unterhaltsamen Aspekte der Erzählung hervorgehoben:5 Da die Kommentare des Erzählers und der Figuren nicht selten von Ironie und Spott geprägt sind, ließe die Probe die lasterhaften Damen durch burleske und teilweise obszöne Szenen lächerlich wirken. Zudem reproduzierten Figuren wie Keie und Artus durch ihre übertriebenen Handlungen und polemischen Äußerungen die Laster des Hofes und wirkten hierdurch grotesk. Während sich die Forschung diesbezüglich weitgehend mit der Frage befasst hat, in welchem Verhältnis didaktischer und unterhaltsamer Charakter des Mantels stehen, spricht sich Knapp für eine radikalere Beurteilung aus: »Der dt. Mantel ist nun im Grunde weder burlesk noch höfisch-galant. Ihm ist die Heiterkeit so ziemlich ausgetrieben«.6 Knapp bezieht sich bei seiner Einschätzung auf die Figurenebene: Keie werde als »bösartiger Frauenhasser«7 inszeniert, der ganze Hof trauere ob der Schande der Damen, und selbst Artus könne nur verbittert über die Tugendprobe lachen. Wie verhält es sich jedoch, wenn auch die Rezipienten in den Blick genommen werden? Hier scheint das unterhaltsame Potential nicht vollständig abhanden gekommen zu sein. Die Ambivalenzen der Worte und Taten der Figuren lassen erahnen, dass nicht nur e i n e Lesart möglich ist:8 Übertrieben komische Sze-

|| 4 Der didaktische Charakter der Erzählung wurde z. B. von Patricia Hardin, »The Didactic Nature of Der Mantel. Chivalric Balance«, Colloquia Germanica 31/2 (1998), 97–103, hier: 97, hervorgehoben: »While Der Mantel is indisputably humorous, its humor should not obscure the clear didactic nature of the work«. 5 Mertens (wie Anm. 2), 51, spricht z. B. von einer »burlesken arthurischen Kurzerzählung«; Ineke Heß, »Rezeption und Dichtung im Mittelalter. Zur Überlieferung des Mantel im Ambraser Heldenbuch«, in: Steffen Groscurth, Thomas Ulrich (Hrsg.), Lesen und Verwandlung. Lektüreprozesse und Transformationsdynamiken in der erzählenden Literatur, Berlin 2011, 155–185, hier: 162, betont den »burlesk-obszönen Gestus« des Mantels. Beide verweisen hierbei auf den Unterhaltungswert der Erzählung. 6 Fritz Peter Knapp, »Höfisch-galante Erzählungen«, in: ders. (Hrsg.), Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur, Berlin, Boston 2013 (Germania Litteraria Medievalis Francigena 6), 15–55, hier: 54. 7 Ebd. 8 Dies ist ein Unterschied zu rein didaktischen Werken, die auf direktem Wege und ohne Zweideutigkeiten versuchen, ihre Lehre zu vermitteln. Vgl. Karina Kellermann, »Verkehrte Rituale. Subversion, Irritation und Lachen im höfischen Kontext«, in: Werner Röcke, Helga

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nen, obszöne Doppeldeutigkeiten und ironische Kommentare könnten dazu beigetragen haben, dass die erzählte Lasterhaftigkeit des Artushofes auf die Rezipienten weniger gravierend wirkt und dadurch auch die Kritik an möglichen eigenen Verfehlungen abgemildert wird. Was in der Mantelprobe für die Figuren also ›offensichtlich‹ negative Konsequenzen haben kann, kann bei den Rezipienten in erster Linie ein Nachdenken über Tugenden und Laster anstoßen. Linden sieht deshalb in den Tugendproben eine Ethik zutage treten, die »eine Gelassenheit gegenüber kleinen Fehlern und menschlichen Unzulänglichkeiten« entwickle und »die einzelne Abweichungen verkraften kann, ohne ihre Normen gleich gefährdet zu sehen.«9 Motiviert und kommentiert wird die Handlung im Mantel dabei durch zahlreiche Provokationen, die den Artushof von außen sowie von innen in seiner Idealität herausfordern, ihn jedoch nie ganz in Frage stellen. Diese Provokationen, die den ambivalenten Charakter des Hofes sichtbar werden lassen, sollen im Folgenden im Fokus der Analyse stehen. Wie generieren, motivieren und beeinflussen sie die Handlungen beim Fest und während der Tugendprobe? Auf welchen Ebenen sind sie anzutreffen? Die Herausforderung des als ideal imaginierten Artushofes wirft zugleich die Frage auf, welche höfischen Lösungsansätze die Erzählung bereitstellt, um der erlittenen Bloßstellung der Hofgesellschaft zu begegnen. Letztlich sind es die diversen Provokationen selbst, die eine Lösung des Problems überhaupt erst ermöglichen. Diese ›provokante‹ Lesart des Textes nimmt zudem Rücksicht auf die unterschwellige Komik und subtile Kritik des Mantels, der auf diese Weise nicht nur Unterhaltung, sondern auch Belehrung zu vermitteln vermag.

|| Naumann (Hrsg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und früher Neuzeit, Paderborn u. a. 1999, 29–46, hier: 32. 9 Sandra Linden, »Tugendproben im arthurischen Roman. Höfische Wertevermittlung mit mythischer Autorität«, in: Hans-Jochen Schiewer, Stefan Seeber (Hrsg.), Höfische Wissensordnungen, Göttingen 2012 (Encomia Deutsch 2), 15–38, hier: 38.

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2 Das Fest zwischen arthurischem Ideal und Wirklichkeit 2.1 Provokation von innen Eine »hochgezit« (V. 110)10 soll den Rittern und Damen im Artusroman – und nicht nur hier – v. a. Freude und Vergnügen bereiten. Diese Vorstellung ist auch im Mantel präsent: Mit großem Aufwand laden Artus und Ginover nach traditionellem Brauch die Gäste ein, die von nah und fern herbeikommen und reich beschenkt werden. Der Erzähler rühmt daraufhin die Pracht des Festes, da »weder er noch sit / nie kein grœzer wart gesehen« (V. 131f.). Auch für die nötige »kurzwile« (V. 286) während der Feierlichkeiten ist gesorgt: Das gängige Unterhaltungsinventar – Turnier und Tjost, Spiel und Gesang – findet sich auch im Mantel. Nicht nur durch die Anzahl der Gäste und die zur Schau gestellte Pracht, sondern auch durch die reichen Gaben wird das Fest im Folgenden zu einem Ereignis der Superlative. Artus lässt die Ritter mit Waffen und Rüstungen ausstatten und die Pferde für die Turniere vorbereiten, Ginover beschenkt die Damen mit herrlichen Kleidern und kostbarem Schmuck. Während der König jedoch befürchtet, seine Freigiebigkeit könnte nicht ausreichend sein, betont der Erzähler: »ezn wart nie grœzer richtuom / zeiner hochgezit vertan« (V. 201f.). Hier tritt durch die Verwendung des Verbs vertuon eine erste Ambivalenz der arthurischen Idealität zutage, denn neben ›hingeben‹ kann es auch mit ›verschwenden‹ oder eben ›vertun‹ übersetzt werden. Hierdurch kann subtile Kritik ausgedrückt werden: Es handelt sich nicht mehr um Freigiebigkeit, sondern um Verschwendung. Artus sollte sich also keine Sorgen über ein geizig wirkendes ›zu wenig‹, sondern über ein maßloses ›zu viel‹ machen. Die Maßlosigkeit des Schenkens setzt sich im Mantel auch während der Messe fort: »ezn wart nie opfer richer« (V. 379) heißt es dort. Dass dies jedoch nicht unbedingt ein Grund zur Freude ist, zeigt die Reaktion des Bischofs auf die Gabe: Das Opfer »was so riche und so groz, / daz es den bischof verdroz« (V. 380f.). Hier wird das Verb verdriezen gebraucht, welches in Bezug auf das Schenken ausdrückt, dass diese Handlung ›lästig ist‹ oder ›zu lange dünkt‹.

|| 10 Zitierte Ausgabe: Das Ambraser ›Mantel‹-Fragment (wie Anm. 3). Längere Zitate sind mit eigener Übersetzung versehen.

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Die Tugend der Freigiebigkeit wird hier gleich zweifach mit der Lebenswirklichkeit des Artushofes, also der lasterhaften Maßlosigkeit des Schenkens, kontrastiert: Die imaginierte Idealität stellt sich ein erstes Mal als brüchig heraus. Die Provokation geht dabei vom Herrscherpaar und von der Hofgesellschaft selbst aus. Nichts dergleichen findet sich in Artusromanen wie der Crône11 oder dem Lanzelet,12 in denen ähnliche Feierlichkeiten im Vorfeld der Tugendproben beschrieben werden. Im Lanzelet heißt es an entsprechender Stelle z. B.: »des en wart eines tages sô vil / nie gegeben« (V. 5731f.). Hier wird das im Kontext des Schenkens positiv besetzte geben verwendet, eine Assoziation mit Verschwendung wird also nicht erzeugt. Die Crône verfährt ähnlich: Neben »geben« (V. 495) wird zudem »teilen« (V. 565) benutzt. Die Festschilderung im Mantel macht noch etwas deutlich: Die Hofgesellschaft findet v. a. Gefallen an weltlichen Freuden, äußerlicher Schönheit und oberflächlicher Tugendhaftigkeit. Das jedoch, was im Inneren der Figuren verborgen liegt und sich dem öffentlichen Blick entzieht, kann nicht durchschaut werden. Wie wird diese Problematik in Szene gesetzt? Als die Ritter am Morgen gemeinsam zum Münster gehen, schreiten sie nicht andächtig zum Gottesdienst, sondern geraten in hitzige Diskussionen darüber, welche der anwesenden Damen die Schönste sei: »groz was der ritter schouwen / an den gemeiten vrouwen« (V. 334f.). Dabei beziehen sich die meisten Wertungen auf äußerlich sichtbare Merkmale der Frauen. Dass die Entscheidung kein einfaches Unterfangen ist, bemerkt zuvor bereits der Erzähler: »man mohte übel uz erweln / die

|| 11 In der Crône wird von zwei Tugendproben erzählt, die sowohl die Damen als auch die Ritter bestehen müssen. Bei der Becherprobe (V. 457–3272) zu Beginn der Handlung ist Artus der einzige, der die Probe bestehen kann, auch Ginover verschüttet nur einen Tropfen. Im Gegensatz zur ersten Bewährung kommt die Handschuhprobe (V. 22502–25549) überraschend über die Hofgesellschaft. Hier sind es Artus und Gawein, die den Test glimpflich bestehen. Zitierte Ausgabe: Heinrich von dem Türlin, Diu Crône. Kritische Mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hrsg. von Gudrun Felder, Berlin, Boston 2012. Für längere Zitate wurde zusätzlich die Übersetzung von Florian Kragl herangezogen: Heinrich von dem Türlin, Die Krone, ins Nhd. übers. von Florian Kragl, Berlin, Boston 2012. 12 Die Tugendprobe im Lanzelet (V. 5676–6225) erfolgt mit dem gleichen Testgegenstand wie im Mantel. Während Lanzelet in Pluris gefangen ist und Iblis die Abwesenheit ihres Geliebten betrauert, lässt Artus ein großes Fest ausrufen, denn er hofft, Neuigkeiten über den Verschollenen zu erfahren. Hier findet eine Mantelprobe statt, bei der am Ende Iblis ausgezeichnet wird, da sie ihrem Geliebten in Treue verbunden ist. Zitierte Ausgabe: Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, Text, Übers., Komm., Studienausgabe, hrsg. von Florian Kragl, Berlin, New York 2009 (die Übersetzungen der Zitate sind dieser Ausgabe entnommen).

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bea schent under in« (V. 161f.).13 So dauert dieser Streit an, bis die Hofgesellschaft am Münster angekommen ist und der Gesang des Bischofs das Gespräch beendet. Eine befriedigende Antwort darauf, welcher Dame der Vorzug zu geben ist, konnte (vorerst) nicht gefunden werden. Die Pracht und Herrlichkeit des Festes kann im Mantel ambivalent gesehen werden, denn die Freigiebigkeit steht im Verdacht der Maßlosigkeit, alle Freuden sind rein weltlich und Schönheit und Tugend allein an äußerlichen Merkmalen erkennbar. Die unmâze kann einerseits ein Indiz dafür sein, dass es um andere Tugenden noch schlechter bestellt ist (wie sich dann auch herausstellen wird), dass also Defizite in einem Bereich durch übertriebene Handlungen in einem anderen überdeckt werden sollen. Andererseits könnte sie darauf hinweisen, dass auch andere Bereiche des höfischen Lebens durch Maßlosigkeit gekennzeichnet sind (auch dies trifft zu). Damit zeigt sich im Mantel in komprimierter Form, was sich wie ein roter Faden durch die gesamte Artusliteratur zieht: Die immerwährende Spannung zwischen drohender Krise und angestrebtem Ideal.14 Besonders die Beschreibung der übertriebenen Freigiebigkeit lassen Artus an seinem eigenen Idealbild scheitern und offenbaren ein inneres Ungleichgewicht des Königs, das sich auch auf seine Herrschaft auswirkt. Dies ist eine Eigenart des Mantels, denn Lanzelet und Crône inszenieren Artus als positive Figur, die allgemeine Kritik ist in diesen Werken einseitig auf den Spötter Keie gerichtet.

2.2 Verbale Provokationen: Kritik und Polemik beim Festmahl Zum Fest gehören im Mantel auch das gemeinsame Mahl und die Tradition des Königs, nicht mit dem Essen zu beginnen, bis er nicht »nach gewonem site vor / etliche aventiure« (V. 447f.) gehört hat. Auch der Erzähler weist ausdrücklich auf diesen Brauch hin und bemerkt, dass die Speisen beinah auf dem Feuer »verdurben« (V. 400), weil Artus so lange auf Aventüre wartete. Die doppelte Erwähnung dieser Tradition unterstreicht deren Relevanz für das Handeln von

|| 13 Der Ausdruck bea schent ist dem Französischen entlehnt und bedeutet ›schöne Leute‹. Durch die vorhergehende Aussage des Erzählers »ouch was der vrouwen da so vil« (V. 158) wird deutlich, dass sich ›schön‹ hier auf die Damen bezieht. 14 Vgl. Friedrich Wolfzettel, »Der Artushof. Ideale Mitte oder problematische Idealität?«, in: Matthias Däumer u. a. (Hrsg.), Artushof und Artusliteratur, Berlin, New York 2010 (SIA 7), 3–19, hier: 8. Wolfzettel hält es für wahrscheinlich, dass die Krise im Artusroman »integraler Bestandteil eines immer nur postulierten, nie verwirklichten Ideals ist«. Für den Mantel nimmt dies Hardin (wie Anm. 4), 100f., an.

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Artus und gilt somit auch als Direktive für die anwesenden Ritter, die nun ihrerseits (an)gespannt auf Aventüre warten. Dass sie auf die Annehmlichkeiten des Mahls verzichten müssen, »des verdroz die ritter alle« (V. 410), so der Erzähler. Der Gebrauch von verdriezen hat eine Parallele in der zuvor erwähnten Reaktion des Bischofs auf die reichen Opfergaben. Somit hat sich der Kreis derer, die die Feierlichkeiten teilweise in negativem Licht sehen, vergrößert. Der erste offene Konflikt wird dann auch durch das Essensverbot ausgelöst und zwischen Artus und dem bekannten Spötter Keie, der als Truchsess die Aufgabe hat, in höfischen Angelegenheiten zu vermitteln, ausgetragen. Während Artus in seiner Rolle ambivalent dargestellt wird, steht bei Keie von Anfang an dessen negative und provokante Ausstrahlung im Vordergrund.15 Ausführlich beschreibt der Erzähler seinen Charakter: Keie ist hinterlistig und böse und verschwendet16 seine ganze Zeit damit, andere Menschen durch sein loses Mundwerk zu erniedrigen und zu verletzen. Deshalb versucht jeder, so gut es geht, »siner eitermeiligen zunge« (V. 277) zu entfliehen. Durch sein Aussehen (er hat seine Haare zu einem Zopf geflochten) und sein Verhalten separiert er sich von der restlichen Hofgesellschaft, was auch bildlich inszeniert wird: Er sitzt an einem eigenen Tisch. Seine mangelnde Tugendhaftigkeit versucht er durch »spot unde honkust« (V. 247) zu überdecken, denn »des hete er genuoc« (V. 248). Während Keie im Lanzelet ebenso negativ dargestellt wird, werden in der Crône auch »sînes adels hêrschaft« (V. 1524) und seine Tapferkeit hervorgehoben, denen sein rücksichtsloses und spöttisches Wesen nichts anhaben könne. Zunächst tritt Keie im Mantel jedoch nicht in erster Linie als Spötter, sondern als Kritiker des Königs auf. Da er selbst vom königlichen Machtwort betroffen ist, mag er wohl auch kein Interesse daran gehabt haben, Artus zornig zu stimmen. Keie möchte zunächst den Grund für die Verzögerungen erfahren: ›herre, waz sol daz, daz dise ritter ungaz sitzent also lange?‹ (V. 426–428) ›Herr, was soll das, dass diese Ritter so lange hier sitzen, ohne etwas gegessen zu haben?‹

|| 15 Hier nimmt Keie eine Position ein, die ihm in der Artusliteratur gern zugewiesen wird. Der Außenseiter trägt komisches Potential auch in sich selbst, wie Haupt bemerkt: »Eine erste, grundsätzliche Form der Komik ist also in jeder Keie-Gestaltung angelegt als der Kontrast von Wollen und Tat, Reden und Sein«; Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 57), 122. Ähnlich urteilt auch Heß (wie Anm. 5), 163, über Keie bei den Tugendproben. 16 Wieder wird durch das Verb vertuon (V. 236) ein maßloses Verschwenden hervorgehoben, wie dies bereits bei der Freigiebigkeit des Königs der Fall war.

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Es könnte sich hierbei auch um eine rhetorische Frage handeln, denn eigentlich müsste Keie wissen, dass Artus auf konventionelle Weise handelt. Das würde bedeuten, dass Keie durch die Frage indirekt seinen eigenen Unmut äußern bzw. durch die Verallgemeinerung, alle Ritter wären betroffen, den Druck auf Artus erhöhen möchte. Dies wird besonders deutlich in der darauffolgenden Drohung Keies, einige der Ritter »wellen riten hin« (V. 434), und in seiner Bemerkung »ouch zürnet diu künegin« (V. 435). Er schließt sein Plädoyer mit der Aufforderung, dass es nun an der Zeit wäre, mit dem Festmahl zu beginnen. Keies Worte sind forsch und direkt, sie stellen jedoch gleichzeitig eine ernst gemeinte Kritik an König Artus dar. Doch dieser fühlt sich durch die Zurechtweisung persönlich angegriffen. Anstatt sachlich zu bleiben, konzentriert er sich im Folgenden darauf, Keie bloßzustellen: ›hei, Keii, wie unsanft du maht,‹ sprach der künec, ›erbiten! also tuostu ze allen ziten. dich müet daz du biten muost. du tuost mir sam du tuost aller der werlt.‹ (V. 439–444) ›Ach, Keii, wie ungeduldig du warten kannst!‹ sprach der König, ›Auf diese Weise machst du es immer. Dich ärgert, dass du warten musst. Du behandelst mich, wie du die ganze Welt behandelst.‹

Artus’ polemischer Kommentar soll Keie als Person diskreditieren17 und dessen Kritik so indirekt wirkungslos erscheinen lassen. Seine Ungeduld sei nicht verallgemeinerbar, sondern ein Wesenszug des Truchsesses, der bei solchen Gelegenheiten des Öfteren zum Vorschein käme. Dies wäre ganz im Sinne der Polemik, deren Ziel es nicht ist, den Gegner umzustimmen, sondern »die Erregung von Aversionen gegen ihn beim Publikum«18 zu bewirken, indem man sich mit diesem verbündet. Im Gegensatz dazu stellt sich Artus als vorbildlicher Herrscher dar, der ganz auf seine Prinzipien setzt und diese auch unter Druck verteidigt. Keie muss erkennen, dass er sich mit dem Falschen angelegt hat, denn Artus ist nicht nur genauso stur und herrisch wie er selbst, sondern er hat im Zweifelsfall auch das letzte Wort. Und das heißt nun einmal ›Warten‹. Dem Disput wird somit ein rasches Ende gesetzt, und eine größere Eskalation kann

|| 17 Der König würdigt Keie zusätzlich dadurch herab, dass er ihn unhöfisch mit du anspricht. 18 Sigurd Paul Scheichl, Art. »Polemik«, in: RdL, Bd. 3 (2007), 117–120, hier: 118. Das Publikum wird in diesem Fall durch die anderen Ritter repräsentiert.

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vermieden werden, da just in diesem Moment ein fremder Bote am Hof erscheint. Während die Handschuhprobe in der Crône unerwartet über die Artusgesellschaft kommt,19 wird bei der Becherprobe ebenfalls ein ›Warten auf Aventüre‹ inszeniert, das jedoch ganz anders motiviert ist als im Mantel und daher nicht als Provokation des arthurischen Idealbilds aufgefasst werden kann. Hier heißt es über den König, dass er »nâch des hoves gewonheit« (V. 922) bereits mit seinen Gästen das Festmahl einnimmt, als ihnen allen bewusst wird, dass ihnen der Sinn nach Aventüre steht: nuor daz ein senen sie alle samt twanc, daz nâch âventiure ranc. diu red von tisch ze tische gienc und aller willen sô gevienc, daz sie ir selber vergâzen unde ungâz sâzen nuor von diesen dingen. (V. 925–932) Doch eine Sehnsucht quälte sie alle: jene nach Aventiure. Die Rede ging von Tisch zu Tisch und fesselte all ihren Willen, sodass sie einzig aus diesem Grund sich selbst vergaßen und herumsaßen, ohne zu essen.

Der Wunsch nach Aventüre ist hier also allen gemein; zudem wird der arthurischen Tradition des Essensverbotes die Tradition des gemeinsamen Speisens gegenübergestellt. Der Konsens der Hofgesellschaft verhindert in diesem Fall, dass das Warten auf Aventüre negative Stimmungen erzeugt und in einen offenen Konflikt ausartet. Mit der positiven Bedeutung der hochgezit wird im Mantel provokant gespielt: Zwar finden sich auch hier die zentralen Komponenten des Festes, ihnen haftet jedoch eine gewisse Ambivalenz an. Die Pracht und die Größe des Festes sowie die Freigiebigkeit des Herrscherpaars werden durch die Benutzung zweideutiger Wendungen durch den Erzähler subtiler Kritik ausgesetzt und in ihrer Idealität gebrochen. Auch an Figuren wie Keie und Artus, die durch ihre provokanten und polemischen Kommentare auffallen, oder an den Rittern, die nur auf oberflächliche weibliche Schönheit Wert legen, wird diese Doppelbödigkeit deutlich. Die Bewertung des Festes und der Hofgesellschaft gerät dadurch in || 19 Die Artusgesellschaft ist so sehr in Trauer darüber, dass Gawein die Verpflichtung zur Gralsfahrt auf sich genommen hat, dass niemandem nach Unterhaltung zumute ist. Auch im Lanzelet kommt die Probe überraschend. Hier heißt es lediglich, dass eine Botin am Hof eintrifft, als die Artusgesellschaft gerade mit dem Frühstück beginnen will.

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eine ›Kippbewegung‹, da sich deren Ambivalenz als elementarer Bestandteil der inneren Krisenhaftigkeit des Artushofes herausstellt. Doch die Beschreibung des Festes ist lediglich der Vorspann zur nun folgenden Tugendprobe, die den Verfall des Ideals entweder aufzuhalten vermag oder die Hofgesellschaft zu einem ironischen Zerrbild ihrer selbst werden lässt.

3 Die Aventüre als Bedrohung des arthurischen Ideals 3.1 Provokation von außen »Ein aventiure do geschach« (V. 59), lässt der Erzähler zu Beginn des Mantels verlauten. Dass es sich hierbei nicht um eine ritterliche Bewährung in einer außerhalb des Artushofes gelegenen magischen und bedrohlichen Welt handelt, wird schnell deutlich. Da die ursprüngliche Provokation und Bedrohung des eigenen Ideals vom Hof selbst ausgeht, ist auch die Aventüre in diesen Raum verlagert. Wie wird dies inszeniert? Der Wunsch des Königs beim Festmahl, eine Aventüre zu erfahren, ist ambivalent. Wahrscheinlich hat Artus keine bevorstehende Bewährungsprobe der anwesenden Damen – die stellvertretend für den gesamten Hof dessen Ehre verteidigen sollen – im Sinn, als er diesen Wunsch äußert, sondern die Erzählung einer ritterlichen Aventürefahrt. Auch die Ritter erwarten schließlich »unkunde[] mære« (V. 419).20 Und doch werden die Damen kurz darauf am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, sich in aller Öffentlichkeit bewähren zu müssen. Die Verlagerung des Handlungsraums der Aventüre21 macht das Agieren der sonst eher unbeteiligten Frauen am Hof erst möglich. Der Handlungsspielraum der weiblichen Figuren bleibt dennoch stark eingeschränkt. Einerseits wissen sie zu Beginn nicht, dass ihnen überhaupt eine Tugendprobe bevorsteht – der

|| 20 Das Erzählen von ritterlichen Bewährungsfahrten beim Fest ist ein gängiges Motiv in der Artusliteratur und wird auch in der Crône umgesetzt. Hier wird von den Rittern berichtet, sie »seiten âventiure« (V. 654). Denkbar wäre auch, dass dem Wunsch nach Aventüre ein ritterlicher Wettkampf am Hof folgt, indem ein fremder Ritter eintrifft, der seine Kontrahenten innerhalb der höfischen Welt herausfordert. Wie auch immer der Wunsch gemeint ist, die männliche Bewährung steht im Vordergrund. 21 Heß (wie Anm. 5), 161, betont: »In Tugendproben-Episoden bricht die âventiure [...] als Ereignis in den Herrschaftsbereich ein und fordert seine Bewährung in seiner Gesamtheit.«

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Mantel wird ihnen als prachtvolles Geschenk angepriesen. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu vielen ritterlichen Aventüren, bei denen den männlichen Figuren von vornherein bewusst ist, dass sie sich im Folgenden bewähren müssen.22 Andererseits sind die Damen zwar als Testpersonen aktiv an der Probe beteiligt, ihre Teilnahme wird jedoch von Artus angeordnet. Nach dem Scheitern der Königin steht es keiner der Damen mehr frei, sich der Tugendprobe zu entziehen. Viele Merkmale, die die ritterliche Bewährungsfahrt ausmachen, finden sich jedoch auch in der Mantelprobe. Erstens kann die Aventüre meist allein vom besten Ritter erfolgreich bestritten werden, die übrigen Herausforderer müssen mit der Schande ihrer Niederlage leben. So ist es auch bei der Mantelprobe: Allein die Tugendhafteste der Damen kann das Testobjekt als Geschenk erhalten, alle anderen werden durch ihr Scheitern bloßgestellt. Die ›Gewinnerin‹ trägt damit zweitens sowohl zur Gefährdung als auch zur Stabilisierung des Hofes bei. Gefährdend wirkt sie, da sie als einzelne Person bzw. im Verhältnis zu ihrem Partner durch ihre Tugend aus der Menge heraussticht und die Gescheiterten an ihr eigenes Versagen erinnert; stabilisierend wirkt sie, indem sie durch ihren Ehrgewinn auch zur Steigerung des Ansehens des Artushofes beiträgt. Drittens wird die »wunderbare und bedrohliche Welt«23 der Aventüre hier durch den magischen Testgegenstand repräsentiert. Auch wenn die Bewährung der Damen an den Hof verlagert ist, bleibt sie bedrohlich, denn anders als die Ritter, die bei ihrem Schönheitspreis an der Oberfläche sichtbare Merkmale der Damen hervorgehoben haben, zielt die Tugendprobe darauf, deren innere Befindlichkeiten nach außen zu kehren und sie danach zu bewerten. Dabei kommen zahlreiche Laster – sowohl Verfehlungen »mit werke« als auch »mit muot« (V. 594) – zum Vorschein, die ohne die wundersamen Eigenschaften des Mantels verborgen geblieben wären. Täuschen und Verheimlichen hat nun keinen Zweck mehr, denn »ez geschach nie niht so inner, / ezn kœme wol ze liehte« (V. 980f.). Viertens betritt der Artusritter in der Aventüre eine Welt, »in der die Regeln und Formen der höfischen Interaktion keine Geltung besitzen«.24 Auch bei der Mantelprobe scheinen die zwischenmenschlichen Beziehungen gestört: Einerseits muss die Artusgesellschaft erkennen, dass sich die schöne Fassade höfischen Lebens bei genauerer Betrachtung als Trugbild herausstellt. Andererseits offenbart sich mit der Enthüllung der Lasterhaftigkeit des Hofes auch eine

|| 22 Diese Unwissenheit der Damen ist allerdings kein fester Bestandteil von Tugendproben. Bei der Handschuhprobe in der Crône werden die Damen eingeweiht, bevor die Probe stattfindet. 23 Bumke (wie Anm. 1), 23. 24 Ebd., 23.

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Krise der Kommunikation. Verheimlichen und Täuschen stellen sich als grundlegende Taktiken des Umgangs miteinander heraus, die es durch die Aventüre aufzudecken und zukünftig zu vermeiden gilt. Zuletzt sei noch auf die Verletzlichkeit hingewiesen, der die Ritter und Damen während der Aventüre ausgesetzt sind. Eine Korrespondenz lässt sich besonders deutlich im Vergleich der Scheiternden zeigen. Auch wenn die Damen keine körperlichen Verletzungen davontragen, ähnelt ihre Verwundbarkeit doch auf andere Weise derjenigen der Ritter: Die Aventüre birgt immer die Gefahr der Bloßstellung und des Ehrverlusts. Die Bloßstellung des lasterhaften Verhaltens der Damen wird in der Mantelprobe am Körper sichtbar, verletzt ihn also indirekt. Das Verhalten und Denken der Damen ist somit – gewollt oder ungewollt – bedeutungsvoll für das Ansehen des Hofes. Durch das Aufdecken der Laster während der Mantelprobe wird gleichwohl die latente Krise des Artushofes und dessen brüchige Idealität sichtbar gemacht.

3.2 Ein provokantes Kleidungsstück Warum wird ausgerechnet ein Mantel als Testobjekt in der Tugendprobe benutzt? Eine Erklärung können die verschiedenen symbolischen Bedeutungen des Mantels in der Literatur – aber nicht nur hier – liefern.25 Am häufigsten begegnet der Mantel als Herrschafts- und Rechtssymbol. Zudem gilt es als besonders freigiebig, wenn ein Herrscher bei Besuchen neben anderen Gaben auch einen kostbaren Mantel verschenkt. In Bezug auf den Damenmantel stellt Kellermann fest: »Er [...] kommt vornehmlich im Rahmen des Festes zum Einsatz. [...] Er kann die Damen in ihrer offiziellen Funktion schmücken oder auch als repräsentatives Geschenk dienen«.26 Auch im Lanzelet ist dieses Kleidungsstück im Vorfeld der Probe Bestandteil der höfischen Gabe: Die Königin »gab ze dem anpfange / mentel vil lange« (V. 5735f.).27

|| 25 Vgl. zum Motiv des Mantels allgemein Elke Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1989, 81–86; Julia Bertschik, Art. »Mantel«, in: Günter Butzer, Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 22012, 259f.; Sigrid Fährmann, Art. »Mantel«, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 9 (1999), 232–236; Karina Kellermann, »Entblößungen. Die poetologische Funktion des Körpers in Tugendproben der Artusepik«, in: dies. (Hrsg.), Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung, Berlin 2003 (Das Mittelalter 8/ 1), 102–117, hier: 111f. Der Mantel kann im Mittelalter auch einen langen, ärmellosen Umhang bezeichnen; vgl. Fährmann, 232. 26 Kellermann (wie Anm. 25), 111. 27 Im Mantel heißt es unspezifischer, dass Ginover »kleit und kleinot« (V. 170) verschenkte.

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Die Symbolik des Mantels in der Literatur trägt starke Züge des Ein- bzw. Verhüllens sowie des Zu- bzw. Verdeckens.28 Das, was sich unter dem Mantel befindet, ist vor Sichtbarkeit oder Gefahren geschützt, er kann also einerseits als Tarnmantel, andererseits als Schutzmantel Verwendung finden. Die Täuschung, die mittels eines Mantels erfolgen kann, wird oft durch dessen magischen Charakter hervorgerufen.29 Wird er als magisches Testobjekt30 in Tugendproben benutzt, dann wird mit dieser Symbolik gespielt. Führt man die verschiedenen Bedeutungsebenen zusammen, dann handelt es sich im Mantel nicht nur um eine Verkehrung seiner Repräsentationsfunktion, sondern auch seiner Tarn- und Schutzfunktion: Der Mantel verhüllt nicht, sondern deckt auf, und er tut dies ohne Rücksicht auf die Verletzbarkeit der Probandinnen; er ist repräsentativ, aber eben nur für eine tugendhafte Dame. Allein seine Funktion als Symbol der Rechtsprechung bleibt indirekt erhalten: Der Mantel selbst ist Richter und Beweismittel zugleich. Die Damen, die sich zu Beginn der Probe der magischen Qualitäten des Mantels nicht bewusst sind, prüfen durch Blicke, ob ihnen das Kleidungsstück passen könnte, das ihnen als Geschenk dargeboten wird. Sie werden durch seine Pracht regelrecht geblendet31 und vertrauen bei ihrer Bewertung wie üblich auf ihre Augen: »ieglichiu hete in da zehant / vil gerne an geleit« (V. 714f.). Doch die Ritter haben einen Wissensvorsprung gegenüber ihren Geliebten, denn sie haben vom Überbringer des Mantels bereits erfahren, welche ungewöhnlichen Fähigkeiten dieser besitzt: || 28 Vgl. die Wortherkunft vom Lateinischen mantellum (›Hülle‹, ›Decke‹). 29 Vgl. Bertschik (wie Anm. 25), 260, und Fährmann (wie Anm. 25), 233. 30 Auch im Lanzelet wird explizit auf den magischen Ursprung des Mantels eingegangen: »ein zouberlist geschuof daz / von nigromanzîe« (V. 5830f.). In der Crône wird berichtet, dass den Becher »von nigromancîe / ein meister« (V. 1090f.) angefertigt habe. Vom Handschuh heißt es, dass »dar an michel wunder« (V. 23173) war. 31 Nicht nur in einem Mantel, sondern in repräsentativer Kleidung per se kann sich ›der Blick verfangen‹. Dies zeigt sich z. B. an Enites prachtvoller Kleidung im Erec, die im Gegensatz zu ihren ärmlichen Kleidern zu Beginn der Handlung keinen Blick auf den »Körper als Repräsentanten eines Inneren« erlaubt, wie Gerok-Reiter herausgearbeitet hat: »Enite wird somit von einer konsequenten Außenperspektive her wahrgenommen, die eine Spannung zwischen körperlichem und seelisch-ethischem Bereich gerade nicht einräumt«; Annette Gerok-Reiter, »Körper – Zeichen. Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007 [SIA 6], 405–430, hier: 421. Dennoch korrespondiert Enites prachtvolle Kleidung mit ihrem Inneren, was – wie in den Proben zu sehen ist – nicht immer der Fall ist. Dass die Kleidung die Augen trügen kann, weiß auch Erec: »er hæte harte missesehen, / swer ein wîp erkande / niuwan bî dem gwande« (V. 643–645). Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, Mhd. / Nhd., hrsg., übers. und komm. von Volker Mertens, Stuttgart 2008.

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hat si mit deheiner valscheit zuo ir manne missetan, der stet der mantel twerhes an. daz selbe er der vrouwen tuot, diu mit werke oder mit muot ir amis gevelschet hat. der mantel ir niender rehte stat, ern si ze kurz oder ze lanc: sus meldet er valscher minne kranc. (V. 590–598) Hat eine ihrem Mann durch Untreue Schaden zugefügt, dann sitzt ihr der Mantel schief. Dasselbe fügt er der Dame zu, die in Gedanken oder durch ihr Tun ihren Geliebten betrogen hat. Der Mantel steht ihr keinesfalls gut, sei er zu kurz oder zu lang: so zeigt er das Übel falscher Minne.

Der Mantel stat nur einer tugendhaften Dame rehte. So doppeldeutig wie diese Wendung ist auch die Benutzung des Verbs gezemen (V. 624 und 730) zu verstehen. Hier steht ›passend sein‹ eindeutig in Verbindung mit ›geziemen‹ bzw. ›angemessen sein‹.32 Den Damen wird also zum Verhängnis, dass sie diese Ambivalenz nicht durchschauen. Im Übrigen vertrauen auch die Ritter blind darauf, dass ihre Geliebten den Test bestehen können. Die Probe offenbart somit »eine Spannung zwischen gewöhnlicher und magisch-außergewöhnlicher Sichtbarkeit«.33 Becher und Handschuh erfüllen in der Crône eine ähnliche Funktion wie der Mantel, da sie valschez herz (V. 1132 und 23113) bei Rittern und Damen offenbaren. Ginover soll bei der Tugendprobe die erste sein, die den Mantel anlegt. Sie ist ob ihrer Unwissenheit nicht skeptisch, obwohl gerade ihr »vient« (V. 814) Keie das Geschenk anpreist: Der Mantel sei »lobesam / einer künegin ze tragen« (V. 700f.).34 Zweifel am Sichtbaren und an Keies Kommentar kommen ihr erst,

|| 32 Vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, 326: »›Passen‹ im einen wie im anderen Sinne muß immer an der Oberfläche sichtbar werden. Und hier offenbart der Mantel bei den meisten Frauen erhebliche Mängel. Wer gewöhnlich elegant erscheint, sieht plötzlich schlecht angezogen aus, wenn der Schnitt des Mantels den Schnitt des Ethos abbildet.« 33 Ebd., 327. Müller sieht den Sinn der öffentlichen Sichtbarmachung dieser Spannung in der daraus resultierenden Möglichkeit einer Korrektur des Verhaltens; vgl. ebd., 326. Auch im Lanzelet kommt die Ambivalenz von gezemen zum Tragen. Hier bittet die Botin Artus, den Mantel denjenigen zu geben, denen er müge zemen (V. 5836). Allerdings wissen die Ritter genauso wenig wie die Damen von den Fähigkeiten des Testobjekts bzw. von der ambivalenten Bedeutung, die gezemen hier angenommen hat. 34 Auf Keies ironische und spöttische Kommentare während der Probe soll im nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen werden.

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als es bereits zu spät ist: Als Ginover den Mantel anprobiert, offenbart dieser ihre Lasterhaftigkeit, indem er schrumpft. Da hilft es auch nichts, dass die überraschten Ritter Ginovers Schande abwenden wollen, indem sie gemeinschaftlich am Mantel ziehen: und hete man in zerizzen oder mit mezzern zesniten, ern wære ir niht enmitten nider komen an daz bein, swie in die ritter doch gemein mit ziehen nider noten. (V. 732–737) Auch wenn man ihn zerrissen oder mit Messern zerschnitten hätte, er hätte ihr nicht einmal bis zur Hälfte des Beins gereicht, wie auch immer ihn die Ritter gemeinsam mit Gewalt hinabzerrten.

Dieser Szene haftet eine gewisse Komik an, was durch die Hilflosigkeit aller Beteiligten und ihre übertriebenen Reaktionen deutlich wird.35 Doch Artus, der das Scheitern der Königin mit ansehen muss, ist nicht zum Lachen zumute: »der künec wart des ungevröuwet« (V. 747). Er tadelt aus »zorn« (V. 752) Ginovers Lasterhaftigkeit, relativiert seine Aussage jedoch sogleich: Man könne behaupten, sie sei nicht aufrichtig gewesen – was er aber nicht tun würde. Schließlich gibt er ihr den Rat, sie solle sich in Zukunft besser vor solchen Dingen hüten. Die Bloßgestellte lässt im Folgenden nichts über den eigenen Besserungswunsch verlauten, stattdessen errötet und erblasst sie abwechselnd und verflucht den Hersteller des Mantels, der ihr solche Schande bereitet hat. Artus kann nur im Stillen und bitter über das Leid lachen. Nun wird auch den anderen Damen bewusst, dass der schöne Schein sie betrogen hat und dass es hier um ihre Ehre geht. Als Artus daraufhin allen Damen die Pflicht auferlegt, den Mantel zu testen, bricht unter ihnen Unruhe aus, denn sie kennen – anders als die Ritter – sehr wohl ihre Laster. Die im Folgenden aufgedeckten Vergehen der Damen ähneln den Verfehlungen des Hofes: V. a. Maßlosigkeit und extreme Neigungen werden angeprangert. Die Ritter, zuvor noch vom Anblick der Damen entzückt, sind nun mehrheitlich tief bestürzt über das schlechte Abschneiden ihrer Freundinnen, die sich, wie auch der äußere Schein, als unzuverlässig erweisen.

|| 35 Die Ritter handeln wider besseres Wissen: Sie wollen die Wahrheit, dass der Mantel seiner eigenen Gesetzmäßigkeit – von der sie zuvor erfahren haben – folgt, nicht anerkennen und versuchen – vergeblich –, durch Körperkraft wieder zu verhüllen, was durch die Tugendprobe offenbart wurde.

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Die Bloßstellung der Damen kann in der Probe in zweifacher Hinsicht gedeutet werden. Bezogen auf ihre Verfehlungen wird die innere Lasterhaftigkeit im übertragenen Sinne äußerlich durch die Veränderung des Mantels sichtbar. Doch an Keies Freundin, bei der sich der Mantel bis zur Gürtellinie hinauf verkürzt, wird gezeigt, dass die Bloßstellung auch wörtlich verstanden werden kann. Hier berichtet der Erzähler: »nu stet si under der gürtel bar« (V. 881). Durch die Verwendung von bar, das mit ›nackt‹ übersetzt werden kann, wird deutlich, dass hier wie an anderer Stelle mit der Ambivalenz von Wörtern gespielt wird. Der spöttische Kommentar von Bruns Senpite, auf den unten noch genauer einzugehen ist, nimmt diese Doppeldeutigkeit wieder auf und verstärkt den burlesken Charakter der Szene. Denn auch wenn die Handlungslogik nahelegt, dass die Damen unter dem Mantel ihre eigenen Kleider tragen, wird durch die Wortwahl performativ die Möglichkeit offen gehalten, dass hier tatsächlich die Nacktheit des Körpers gemeint sei.36 Die Provokation, die von der Tugendprobe ausgeht, wird somit potenziert: Die Damen geben sich moralisch u n d körperlich die Blöße. Die meisten Figuren scheinen diese Art von Komik nicht zum Lachen zu finden, im Gegenteil: »daz was ir aller truren« (V. 817).37

|| 36 Während die Doppeldeutigkeit der Enthüllungen im Lanzelet und bei der Becherprobe in der Crône weitgehend ausgeblendet werden, wird in der Handschuhprobe genau entgegengesetzt verfahren: Hier wird das burleske Potential des Tests vollends ausgeschöpft und reicht – zumindest bei der Erprobung der Damen – bisweilen ins Obszöne hinein. Nicht nur »munt« (V. 23638), sondern auch »brust« (V. 23727) und das, was man bei Frauen »niht offenlîchen ze sehen begert« (V. 23977), werden performativ enthüllt. Von Keies Freundin heißt es sogar, sie sei – bis auf ihre Augen, die unsichtbar sind – vollkommen »blôz« (V. 23906). Auch der Umgang mit der Schande differiert: In der Crône können die Anwesenden über das Vorgefallene lachen, nicht aber im Lanzelet. 37 Anders könnte es sich möglicherweise auf der Rezipientenebene verhalten haben. Bereits Christine Kasper, Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren. Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums, Göppingen 1995 (GAG 547), 46, weist auf diese Funktion komischen Erzählens hin, die besonders in den Tugendproben zum Vorschein kommt. V. a. Themen, die mit Sexualität und Körperlichkeit verbunden sind, so Kasper weiter, laden zu komischen Brechungen ein, »zum einen, weil die Befangenheit des Menschen davor sich am ehesten im Lachen befreien kann, und zum anderen, weil Komik letztlich auf Erniedrigung abzielt und sich damit in ein Machtdenken einordnet, das auch die Sexualität stark bestimmt«; ebd., 47.

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3.3 Verbale Provokationen: Ironie und Spott bei der Tugendprobe Nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch in der Figurenrede und den Erzählerkommentaren wird mit der Ambivalenz von Sprache gespielt. Dies zeigt sich v. a. in den spöttischen und ironischen Kommentaren, die in erster Linie der Provokateur Keie von sich gibt. Welche Kommentare fallen in dieses Raster? Ironie bezeichnet eine »ambivalente, indirekte Redeweise [...], da sie in Worten das Gegenteil oder etwas anderes sagt, als sie meint«.38 Anders jedoch als der Lügner, der seine Absichten komplett verschleiert, macht der Ironiker »deutlich, daß er sich verstellt«.39 Ironie muss verstanden werden, um ihre volle Wirkung entfalten zu können. Spott40 im einfachen Sinne benötigt diese ›Verstellung‹ nicht, er kritisiert, verlacht, provoziert und demütigt auf direktem Wege. Ironie kann also weitaus subtilere Kritik beinhalten als der Spott. Wird dieser allerdings in einem komplexeren Sinne verwendet, kann er z. B. mit Ironie einhergehen. Wer auf ironische Weise spottet, will seine Überlegenheit demonstrieren, denn diese Art der Herabsetzung des Anderen »bedarf des Witzes, der Raffinesse, Komplexität, Hintergründigkeit und versteckten Aggressivität«.41 Durchschaut der Verspottete die Ironie nicht, kann er auch das Verlachen der Spötter nicht völlig verstehen. Auch in den Tugendproben stehen die spöttischen Kommentare der Figuren oft im Zeichen der Ironie. Ein wichtiges Indiz für die Benutzung von Ironie sind bestimmte Signale, die der Sprecher nutzen kann – in Texten sind dies meist sprachliche Signale.42 In der Crône können die Hinweise des Erzählers auf die Sprechhaltung Keies bei seinen Kommentaren zu den Tugendproben als solche Ironiesignale verstanden || 38 Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011, 12. Vgl. zur Begriffsbestimmung auch Wolfgang G. Müller, Art. »Ironie«, in: RdL, Bd. 2 (2007), 185–189; Dennis H. Green, Irony in the Medieval Romance, Cambridge u. a. 1979, 4f.; ders., »Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur«, in: Dietmar Peil (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 35–56, hier: 35. 39 Green, »Erkennen« (wie Anm. 38), 39. 40 Es gibt verschiedene Arten von Spott: »Begrifflich wird einerseits zwischen dem S[pott] in der milden Bedeutung, der nicht verletzt und dem Scherz nahe steht, und dem S[pott] im schärferen Sinne unterschieden, der auf Häme, Herabsetzung und Verachtung ausgerichtet ist«; Helmut Fischer, Art. »Spott«, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 12 (2007), 1080–86, hier: 1080. In den Tugendproben handelt es sich meist um Spott in der zweiten Bedeutung. 41 Althoff, Meier (wie Anm. 38), 12. 42 Vgl. Green, »Erkennen« (wie Anm. 38), 39. Das Erkennen bzw. Verkennen von Ironiesignalen betrifft sowohl die Figuren- als auch die Rezipientenebene; vgl. ebd., 41.

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werden. Hier heißt es z. B. »er lachet unde sprach« (V. 2188) oder: er sprach »mit spot« (V. 23705), »mit grôzer âkust« (V. 23728) und »mit vâre« (V. 24234). Doch auch der einfache Spott kann sich einiger dieser Signale bedienen, weshalb erst am konkreten Beispiel ersichtlich wird, wie eine Aussage zu werten ist. Wenn diese Signale allerdings fehlen, kann Ironie leicht missverstanden werden bzw. wird sie mitunter unterstellt, obwohl sie gar nicht intendiert ist.43 Auch im Mantel lassen sich spöttische und ironische Kommentare finden, die für die Figuren meist mit Schmach und Erniedrigung verbunden sind.44 War das Fest schon in seinem Ansatz ein Hinweis auf eine latente Krise des Artushofes, so tritt diese in der Tugendprobe nun für alle Beteiligten offen zutage. Wie bereits angedeutet, ist es hierbei v. a. Keie, der sich zwecks Provokation in unernster Rede übt. Er benutzt seine »kündekeit« (V. 851), um die Probe zu manipulieren und die Schmach der Damen zu erhöhen. Nachdem er Ginover und den anderen Damen die Botschaft überbracht hat, dass der König sie sehen möchte, schlüpft er in die Rolle des gehässigen Spötters, die ihm sichtlich gefällt: dem herren Keii was gach und gienc spottende in den sal. er vröute sich uf der vrouwen val. (V. 668–670) Herr Keii hatte es eilig, und er ging spottend in den Saal. Er freute sich auf den Fall der Damen.

Keies Schadenfreude lässt bereits hier kein gutes Ende erahnen. Seine Abneigung gegenüber den Damen beruht indessen auf Gegenseitigkeit. Dies wird einerseits deutlich, wenn Artus seinem Truchsess zu verstehen gibt, die Damen hassten ihn zeitlebens: »ir gruoz si iu mit valsche gebent, / ir herze iu keines guotes gan« (V. 648f.). Andererseits überträgt sich die Abneigung gegen Keie sogar auf seine Freundin, von der es heißt: »von Keiin kom ir daz, / daz si hete ir aller haz« (V. 869f.).

|| 43 Dies zeigt sich z. B. in Hartmanns Erec, als Koralus glaubt, der junge Ritter treibe seinen Spott mit ihm, als dieser um die Hand seiner Tochter Enite anhält (V. 525–559). Erec schwört bei Gott, dass er redliche Absichten verfolgt: »daz sult ir ûz dem muote lân / und mîniu wort vür ernest hân. / waz solde mir iezuo der spot?« (V. 564–566). In Aussagen wie diesen sieht Dennis H. Green einen wichtigen Hinweis darauf, dass die Menschen im Mittelalter durchaus die Fähigkeit besaßen, zwischen ironischer und ernster Rede zu unterscheiden; vgl. Green, Irony (wie Anm. 38), 45f. 44 Nicht anders gestaltet es sich im Übrigen bei der ritterlichen Aventüre. Auch die Ritter sind bei Versagen nicht vor dem Spott der anderen gefeit, wie ein Beispiel aus dem Erec zeigt: »doch er [Iders] guot ellen trüege, / Êrec in von dem rosse schiet / ze spotte aller der diet«; V. 821–823.

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Keies Spott richtet sich zuerst gegen Ginover, der er den Mantel anpreist, da er ihrer würdig sei. Zwar fehlen hier entsprechende Reaktionen der Ritter, die sich der Ironie womöglich gar nicht bewusst sind, doch scheint diese Aussage bereits hinterlistig gemeint zu sein. Als die Lasterhaftigkeit der Königin daraufhin dadurch zum Vorschein kommt, dass der Mantel schrumpft und die Ritter vergeblich daran ziehen, wird dies von Keie höhnisch kommentiert: »man solte in beschroten, / [...] ein teil ist noch ze lanc« (V. 738f.). Das Offensichtliche noch übertreibend, stellt Keie die Königin hier zusätzlich durch seine verbale Attacke bloß. Danach richtet sich Keies Spott gegen Ginover selbst, der der Mantel sehr gut stünde:45 »ir triuwe sint gewesen guot / wider minen herren, als ir seht« (V. 744f.). Der ironische Gehalt der Aussage wird wiederum durch die Diskrepanz zwischen Gesagtem und Offensichtlichem – also dem, was jeder sehen kann – deutlich. Ginover durchschaut erst später, dass Keie sie mit seinen anfänglichen Schmeicheleien in die Irre führen und für ihren Hass ihm gegenüber bestrafen wollte. Keies Freundin ist die Nächste, die den Mantel anprobieren muss, sehr zu ihrem Leidwesen. Der Mantel steht ihr vorn gut, sodass Keie sogleich ein ernst gemeintes Loblied auf seine Liebste anstimmt. Doch was er nicht sieht, ist, dass ihr der Mantel hinten nur bis zur Gürtellinie reicht. Diese Diskrepanz zwischen der für Keie sichtbaren Tugendhaftigkeit und der für die anderen Ritter sichtbaren Lasterhaftigkeit der Dame reizt Bruns Senpite zu einem ironischen Kommentar: es sei ganz so, wie Keie sagt, »si ist an triuwen unerværet« (V. 893). Dass es sich hierbei um Ironie handelt, wird gleich darauf ersichtlich, wenn Bruns Senpite sich darüber lustig macht, dass ihr aufgrund ihrer schlecht bedeckten Treue »der ars so blecket« (V. 898).46 Dies ist eine direkte Anspielung auf die Verbindung von Nacktheit und Unkeuschheit, die sich an Keies Freundin zeigt. Schließlich kann sich nicht einmal der Erzähler zurückhalten, wenn es darum geht, den Vorfall ironisch zu kommentieren: müesez sin daz si einen sac des tages solte haben getragen, daz tete her Keii baz verklagen. (V. 878–880)

|| 45 Auch hier ist eine Doppeldeutigkeit angelegt: Nimmt man ›gut stehen‹ wörtlich, so passt ihr der Mantel überhaupt nicht. Versteht man die Aussage jedoch im übertragenen Sinn, dann steht Ginover der Mantel in dem Sinne gut, dass er zu ihrer Tugend passt und die ist nun einmal zu kurz gekommen. 46 Im Übrigen erinnert die Schmährede im Aufbau an jene, die Keie an Ginover richtet. Auch bei der Bloßstellung von Engreweins Freundin wird blecken verwendet, hier jedoch vom Erzähler: »er [der Mantel] spien sich so hinden, / daz si vorne blahte« (V. 918f.).

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Hätte es sein sollen, dass sie an diesem Tag einen Sack getragen hätte, das hätte Herr Keii eher verschmerzt.

Die Demütigung der Dame erfolgt sowohl bei Bruns Senpite als auch beim Erzähler durch den Bezug zu ihrem Freund Keie: Er ist derjenige, an den die Schmähworte indirekt gerichtet sind. So mutiert Keie zwischenzeitlich vom Spötter zum Verspotteten.47 Seine Selbsteinschätzung und das Bild, das er von seiner Freundin hat, werden durch die Mantelprobe als falscher Schein entlarvt. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, im weiteren Verlauf auch die Frauen der anderen Ritter zu verspotten, denen der Mantel nicht passen will. Gelernt hat er aus der Mantelprobe anscheinend nichts, wie auch der Erzähler am Ende bemängelt. Gaweins Freundin ist das nächste Opfer von Keies Spott, was nicht nur Gawein selbst, sondern allen, die seine Gutmütigkeit kennen, »kumber« (V. 939) bereitet. Selbst Enite, die sich als die Tugendhafteste unter den Damen entpuppt, bleibt von seiner Kritik nicht verschont. Doch so demütigend Keies Kommentare auch sein mögen, sie enthalten wohl ein Fünkchen Wahrheit. Wie viel davon allerdings in seinen Aussagen steckt, muss in mehrfacher Hinsicht im Dunkeln bleiben. Einerseits erleiden alle ohne Unterschied Keies Spott, was der Erzähler bereits zu Beginn deutlich macht: »ez entwichen sinem worte / alte unde junge« (V. 275f.). Andererseits wird noch etwas deutlich: Keie bleibt über weite Strecken der einzige Kommentator der Tugendprobe. Zwar zeigt der Mantel Verfehlungen an, indem er schrumpft, sich weitet oder löchrig wird bzw. dadurch, dass seine Spange zerbricht. Hierdurch lässt sich jedoch nicht direkt auf konkrete Laster schließen. Weder der Erzähler noch der Überbringer des magischen Testgegenstandes schalten sich als glaubhafte Interpretatoren der Tugendprobe ein. Allein Keie wäre durch seine Kommentatorenfunktion im Stande, über die Art der Verfehlungen Auskunft zu geben, doch er ist nicht allwissend und belässt es vielleicht deshalb bei hasserfülltem und erniedrigendem Spott. Auch in der Crône fungiert Keie als kritischer und spöttischer Kommentator der Proben. Neben ihm ist es hier jedoch der Erzähler, der v. a. die Verfehlungen der Ritter aufzählt und den Spott des Truchsesses so an konkrete Beispiele bindet. Keie geht hierbei noch einen Schritt weiter als im Mantel, denn er ist so sehr dem Spott verfallen, dass er nicht einmal sich selbst oder seine Geliebte davon ausnimmt. Und noch etwas ist anders: Keie erzeugt – wenn auch in den meisten || 47 Diese Darstellung deckt sich mit der Feststellung von Haupt (wie Anm. 15), 121, der erklärt: »In jeder Keie-Darstellung kommt unweigerlich der Augenblick, wo die angemaßte Würde des Truchsessen kollidiert mit unverhohlener Lächerlichkeit. Falsche Größe, eitle Ernsthaftigkeit werden bloßgestellt, darin liegt das befreiende Moment von Komik.«

204 | Claudia Ansorge Fällen heimliches – Gelächter unter den Anwesenden.48 Im Lanzelet nimmt Keie zwar nicht die allgemeine Rolle des Spötters ein, aber er wird als Lästermaul charakterisiert. Die Deutung der Verfehlungen übernimmt jedoch die Botin, die das Geschenk überbracht hat, Keie kommentiert lediglich die Durchführung der Mantelprobe bei seiner Freundin.49 Im Mantel tauschen sich die Damen heimlich über ihre Fehltritte aus, die spöttische Kommentierung durch Keie beschränkt sich meist auf ihre Bloßstellung und Erniedrigung. In der Crône können die Verfehlungen in Bezug auf die Ritter und teilweise auch auf die Damen nachvollzogen werden, da der Erzähler und Keie hier auf konkrete Laster eingehen. Im Lanzelet tritt nun mit der Botin zusätzlich eine Autorität auf, welche die Untugenden einzeln erklärt – ganz im Sinne des übergeordneten minnedidaktischen Konzepts dieses Romans. Sie tut dies jedoch nicht in abwertender und spöttischer Weise, da die Belehrung hier wichtiger ist als der Unterhaltungswert der Probe. Auch Linden stellt heraus, dass die Kommentare der Botin im Lanzelet primär als »allgemeine Tugendlehren«50 zu verstehen sind. Während hier durch die Reduzierung von Provokationen ein höherer Grad der Belehrung erreicht werden kann, verfährt die Crône || 48 In der Becherprobe springt v. a. der Disput zwischen Artus und Keie ins Auge. Auf den königlichen Rat, Keie solle sich mit seinem Spott »mâzen« (V. 1763), kontert der Truchsess höhnisch: »ay, herre, / ir künt ouch schelten?« (V. 1785f.). Dann lästert er darüber, dass es »ein michel ungevuoc« (V. 1803) sei, dass Artus so lange auf sein Getränk warten müsse und deshalb fast verdurste. Den Spott haben die Anwesenden sehr wohl verstanden, was sie durch Augenzwinkern und gegenseitiges Anstupsen (V. 1820f.) kenntlich machen. In der Handschuhprobe werden v. a. die Zweideutigkeiten in Bezug auf Nacktheit verstärkt. Bei fast allen Damen werden Körperpartien entblößt, die eindeutig sexuelle Konnotationen beinhalten. Diese körperliche Nacktheit scheint nun auch hier – wieder entgegen der Handlungslogik, die nahelegt, dass die Damen und Ritter normale Kleidung tragen – für alle sichtbar zu sein. Keies ironische Schelten richten sich hier auch gegen seine eigene Freundin, die sich als besonders lasterhaft erweist und dadurch gleichfalls seine Ehre gefährdet. Weil sie sich sehr schnell ihren Gelüsten hingebe, sei sie zu loben, bemerkt er ironisch: »vür den künic nâch mînem wân / hât sie mit milte getreten« (V. 23930f.). Natürlich ist das Lob ihrer ›Freigiebigkeit‹ nicht ernst gemeint, und auch nicht der Rat, sie solle alles weiter so betreiben wie bisher. 49 Wie im Mantel, so irrt sich der Truchsess auch hier, als er die Tugend seiner Geliebten preist: Wiederum ist der Makel auf der Rückseite des Mantels zu finden, die sich dem Blick Keies zunächst entzieht. Das erfolglose Ziehen am Mantel wird hier nicht bei Ginover thematisiert, sondern bei Keies Freundin geschildert: »swi vil man in nider zô, / sô denter sich fürnamens niet« (V. 5952f.). Auch im Lanzelet führt das vorschnelle Lob des verhassten Truchsesses zu einer spöttischen Kommentierung; nun spricht jedoch nicht ein einzelner, sondern »alliu diu diet« (V. 5954): »daz ist ein wol stândez kleit« (V. 5955). Auch diese Aussage ist aufgrund der für die Artusgesellschaft offensichtlichen schlechten Passform des Mantels ironisch zu verstehen. 50 Linden (wie Anm. 9), 33.

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entgegengesetzt. Die Provokationen stehen hier oftmals mit Spott in Verbindung und tragen in erster Linie zur Unterhaltung bei. Der Mantel bedient sich stärker beider Strategien und hält somit die Balance zwischen Unterhaltung und Didaxe. Provokationen erscheinen hier sowohl auf der Handlungsebene als auch in der Figurenrede und den Erzählerkommentaren potenziert.

4 Höfische Lösungsansätze 4.1 Der Mantel Im Mantel erscheint die oberflächliche Idealität des Artushofes, repräsentiert durch das Pfingstfest, als brüchig: Die Freigiebigkeit des Königs schlägt um in Maßlosigkeit, die Übereinstimmung von äußerer Schönheit und innerer Tugendhaftigkeit bei den Damen erweist sich im Verlauf der Probe als trügerisch. Nur Enite passt der Mantel schließlich fast wie angegossen. Der Erzähler merkt an, dass man kaum sehen konnte, dass er ihr etwas zu kurz war, denn »so vil was ringer / ir schulde denne der da vor« (V. 968f.). Enites Schönheit korrespondiert hier wie auch im Erec mit ihrer Tugendhaftigkeit.51 Sie ist letztlich diejenige, der der Preis gebührt.52 Der Erec bestätigt das Bild der tugendhaften und beständigen Enite, bei der das Innere mit dem Äußeren in Einklang ist: »ir kleit was rîch, si selbe guot« (V. 1578). Daran ändert auch Keies Spott nichts. Seine Kommentare können somit nicht als wirkliche Belehrung gelten, sondern dienen in erster Linie der Unterhaltung. Das macht auch der Erzähler nochmals deutlich, indem er den Mantel mit einer langen Kritik Keies beendet. Zudem kann Keies Verlachen der Laster zu einer milderen Einschätzung der dargestellten Verfehlungen führen und als Impuls für ein entlastendes Lachen der Rezipienten fungieren. Auch hier ist eine klare Stoßrichtung zu erkennen: Es geht in erster Linie nicht um eine Erniedrigung der gesamten Artusgesellschaft, sondern um die Erhöhung der beiden Protagonisten Erec und Enite, vergleichbar mit der positiven Darstellung von Lanzelet und Iblis bei Ulrich von Zatzikhoven. Dennoch scheint der Mantel grundsätzlich ein kritischeres Bild des Artushofes zu entwerfen als der Lanzelet und die Crône, da hier neben den || 51 Vgl. zur Bewertung von Enites Tugendhaftigkeit im Erec Gerok-Reiter (wie Anm. 31), 416f. Zudem stellt sich die »Erprobung der Frau« als gemeinsames Motiv der beiden Werke heraus; Heß (wie Anm. 5), 173. 52 Vgl. auch Schröder (wie Anm. 3), 175.

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verbalen Querschlägen Keies auch das Idealbild des gerechten Herrschers – und mit ihm das Fest als Ausdruck seiner Freigiebigkeit und Güte – zu kippen droht. Doch sind es letztlich nicht erst die Provokationen dieses Ideals, die eine Lösung des Problems überhaupt erst ermöglichen? Die eigentliche Belehrung im Mantel bietet die Tugendprobe selbst. Die Aventüre offenbart den Rittern und Damen »der hochgezite hochvart« (V. 819), die ihnen »von schulden« (V. 818) schlecht bekommt. Das Bloßstellen der Laster in aller Öffentlichkeit kann zur Besserung der Gescheiterten führen, hierin liegt »des heiles slüzzel« (V. 820), wie der Erzähler nach Ginovers Versagen betont. Die Einsicht in das persönliche Fehlverhalten wird begleitet von Sorgen und Leid, so dass die Betroffenen »sit lange vröudenlos« (V. 824) und »truric« (V. 825) sind. Dass selbst mit Enite als Gewinnerin der Versuch einer Idealsetzung brüchig bleibt, kann einerseits mit ihrer Rolle im Erec, andererseits mit der generellen Sündhaftigkeit des Menschen, die selbst die Tugendhaften nicht gänzlich verschont, erklärt werden. Zudem darf der Text bei aller Belehrung nicht als Spiegelbild der realen Hofgesellschaft angesehen werden. Das Verlachen fiktionaler Charaktere und ihrer Probleme durch die Rezipienten mag sehr viel leichter gewesen sein, als dies für die Figuren selbst der Fall ist. Hierzu bemerkt Kasper: »Worüber man lachen kann, wenn es andere, und noch viel mehr, wenn es überhaupt nur fiktive Personen betrifft, muß man nicht unbedingt auch lachen können, wenn man selbst und unabdingbar damit konfrontiert ist.«53 Die provokanten Bloßstellungen der Damen könnten außerdem noch eine weitere unterhaltsame Dimension beinhaltet haben: Je mehr Artusromane und Figuren der Artuswelt die Rezipienten kannten, desto mehr konkrete Verfehlungen konnten sie ihnen zuordnen und umso weniger skurril mochten ihnen die ›nackten Tatsachen‹ erscheinen. Höfische Lösungsansätze bietet jedoch nicht nur der Mantel, sondern sie sind auch im Lanzelet und in der Crône anzutreffen. Sie stellen ein wichtiges Element der Stabilisierung des arthurischen Ideals dar und zeigen, dass sich sowohl in eher belehrenden als auch in eher unterhaltsamen Tugendproben funktionierende Strategien zur Überwindung von Krisen finden. Da diese Lösungsansätze in der Forschung keinen prominenten Platz einnehmen, soll ihnen an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zugestanden werden.

|| 53 Kasper (wie Anm. 37), 46.

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4.2 Heinrichs von dem Türlin Crône und Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet Mit Bezug auf die Crône postuliert Linden, dass die Tugendproben trotz des Scheiterns der Ritter und Damen, »abgesehen von der Scham- und Spottreaktion während der Probe, keine Konsequenzen auf der Handlungsebene nach sich«54 ziehen. Dieser Einschätzung möchte ich zwar nicht grundsätzlich widersprechen, bezüglich der Becherprobe jedoch eine mögliche Lösungsstrategie aufzeigen. Nachdem Artus die Probe bestanden hat, indem er nichts von seinem Getränk verschüttet, wird ihm der Becher vom Boten als Geschenk überreicht. Mithilfe des magischen Gegenstands kann Artus fortan seine Gäste prüfen: Wenn einer darunter ist, der ihm gegenüber nicht aufrichtig ist, »der vellet sunder sînen danc« (V. 2624). Hier wird also eine Instanz geschaffen, die den Schein vom Sein unterscheiden und diese Diskrepanz offenbaren kann. Die Probe bleibt auch in anderer Hinsicht nicht ohne Folgen, denn anders als bei der Handschuhprobe oder im Mantel und im Lanzelet wird hier durch »dirre âventiure« (V. 3196) eine Diskussion unter den Rittern und Damen angeregt: swâ iender zwên gesâzen, da enwart daz niht verlâzen, dâ würde vil von gereit und ir zît wurt dar an geleit. (V. 3201–04) Man unterließ es nicht, viel davon zu reden und viel Zeit darauf zu verwenden, wo immer zwei zusammensaßen.

Auch hierin lässt sich eine Lösungsstrategie für die Krise erkennen: Das Sprechen über begangene Fehltritte kann ein Reflektieren über das eigene Verhalten auslösen und so zur Besserung beitragen. Hier wird also in erster Linie eine »Diskursivierung der Tugendwerte«55 angeregt, die auch auf Rezipientenebene stattgefunden haben könnte. Ebenso verkannt wird meines Erachtens der Lösungsansatz, den der Lanzelet bietet. Die in der Forschung häufig postulierte Folgenlosigkeit der Tugendprobe ist meist direkt auf die Geschehnisse beim Fest bezogen: Alle gehen erstaunlich schnell zur »Tagesordnung«56 über, wirkliche Konsequenzen bleiben aus. Positive Auswirkungen hat die Probe lediglich für Iblis: »Iblis, die den

|| 54 Linden (wie Anm. 9), 34. 55 Ebd., 35. 56 Ebd., 31.

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Mantel behalten darf, hat sich und Lanzelet Ehre erwiesen, aber nicht dem Artushof«.57 Da der Mantel zukünftig nicht wie der Becher in der Crône als richterliche Instanz fungieren kann, sondern allein dafür da ist, Iblis’ Schmerz zu lindern, stellt er lediglich »eine individuelle Konsequenz, keine gesellschaftliche«58 dar. Wie könnte eine solche ›gesellschaftliche Konsequenz‹ aussehen? Geht man davon aus, dass die Damen nicht nur als Individuum, sondern insbesondere in ihrem Verhältnis zu ihrem Partner getestet werden, lohnt sich hier ein Blick auf den Protagonisten. Als Lanzelet aus seiner Gefangenschaft in Pluris an den Artushof zurückkehrt, wird ein großes Fest gehalten. Am Abend zieht er sich mit Iblis in die privaten Gemächer zurück und unterhält sich mit ihr über die bestandene Tugendprobe – es freut ihn sehr, dass »ir der mantel rehte kam« (V. 7826) – sowie über »hübscheit« und »minne« (V. 7833). Als Iblis ihm daraufhin von einer wundersamen Drachenkuss-Aventüre (V. 7817–8040) erzählt, kann es Lanzelet kaum erwarten, diese anzutreten. Die Aventüre steht somit in direktem Bezug zu den Themen Minne und Tugend, die zuvor Inhalt des Gesprächs waren. Sie wird, wie sich am Ende herausstellt, auch der Schlüssel zur Überwindung der Krise im Inneren sein. Die Bewährungsfahrt führt Lanzelet zu einem Drachen, der ihn um einen Kuss bittet. Als der Ritter dem Ungeheuer seinen Wunsch erfüllt, verwandelt es sich in eine schöne Dame. Diese hatte in der Vergangenheit sehr viele Werber untugendhaft abgewiesen und wurde zur Strafe mit einem Zauber belegt. Die Dame erklärt sich daraufhin bereit, an den Artushof zu gehen und dort fortan als »rihtærîn über di hübscheit« (V. 8035) zu fungieren: swer in der massenîe streit von ihte, daz an minne war, daz beschiet siu schône und gar, wan siu sô grôze arbeit durch valsche minne vor des leit. (V. 8036–40) Wenn einer im Gesinde wegen irgendetwas stritt, das mit Liebe zu tun hatte, schlichtete sie es angemessen und vollständig, weil sie zuvor so große Mühsal wegen falscher Liebe gelitten hatte.

Wie die Tugendprobe zuvor nur von einer Dame bestanden werden konnte, so kann die Ehre des Hofes nur durch den besten Ritter wieder hergestellt wer-

|| 57 Kellermann (wie Anm. 25), 116. 58 Ebd.

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den:59 Dies gelingt erst in der Drachenkuss-Aventüre. Die Krise wird somit keineswegs vertuscht, die Lösung wird lediglich nachgeliefert. Alle Proben bieten somit auf die eine oder andere Art höfische Lösungsansätze, die das Erlebte verarbeiten und Möglichkeiten zur Besserung liefern. All diese Ansätze scheinen zudem dazu geeignet zu sein, einen Diskurs über Tugenden und Laster auf der Rezipientenebene anzuregen.

5 Schluss Damit will ich abschließend noch einmal kurz auf die anfangs aufgeworfene Frage nach dem didaktischen bzw. unterhaltenden Potential des Mantels zurückkommen. Hier wird v. a. mit der Ambivalenz von Gesagtem und Gesehenem gespielt. Der Mantel kann aufgrund dieser strukturellen und situativen Doppeldeutigkeiten zweifach gelesen werden: als provokante und komische Tugendlehre. Auch die Bewertung des Festes und der Aventüre kann mit und ohne diese ›Kippbewegung‹ stattfinden. Der Ernst der Erzählung ist dabei wie auch die Oberflächlichkeit dessen, was man mit den Augen wahrnehmen kann, trügerisch. Keie als Kommentator erfüllt zudem eine doppelte Funktion, denn er spottet und verlacht nicht nur, sondern übt mehrfach ernste Kritik. Ob das befreiend-komische Potential der Erzählung auf der Rezipientenebene wahrgenommen wurde oder ob den Rezipienten – ähnlich wie den Figuren – das Lachen im Halse stecken blieb, muss offen bleiben. Auch das Verständnis der polemischen und ironischen Figurenreden kann letztlich von Rezipient zu Rezipient unterschiedlich sein. Die Tugendproben in der Crône stehen ebenfalls im Zeichen derb-komischer Unterhaltung, was in erster Linie durch die ambivalente Figur des Keie und die obszönen Entblößungen der Damen deutlich wird. Die Provokation und die Offenlegung der Krise scheinen hier weniger bedeutsam zu sein als der Unterhaltungswert des Erzählten. Dagegen wird das komisch-befreiende Potential im Lanzelet größtenteils reduziert, was v. a. auf den Austausch des Kommentators während der Tugendprobe zurückzuführen ist. Die Ernsthaftigkeit der Aussagen der Botin wird nicht angezweifelt.

|| 59 Ähnlich gestaltet es die Handschuhprobe in der Crône. Hier muss sich Gawein erst in mehreren Aventüren außerhalb des Artushofes beweisen und frühere Fehltritte wieder gut machen, bevor der Handschuh endgültig am Artushof verbleiben kann.

210 | Claudia Ansorge Auch wenn es Fehltritte allgemein zu vermeiden gilt,60 haben die Bloßstellungen der Artusgesellschaft doch eine ganz eigene Funktion, denn nur durch eine Reflexion des Ideals und der Wirklichkeit, von Schein und Sein kann die latente Krise des Hofes überwunden werden. Die Provokationen von außen und innen, die die Handlung immer wieder vorantreiben, und die Bloßstellungen in der Tugendprobe haben somit auch eine stabilisierende Funktion. Der spielerische Umgang mit Schwächen und die »Erkenntnis, daß man nicht der einzige Betroffene ist«,61 offenbaren jene ›Gelassenheit‹ gegenüber Fehltritten, die auch Linden in den Tugendproben sieht: Die Lehre wird subtil durch das ›Spiel‹ mit dem Erzählten und nicht durch eine Moral »des erhobenen Zeigefingers«62 vermittelt. Die Tugendprobe im Mantel kann daher sowohl als provokant als auch als komisch aufgefasst werden.

|| 60 So auch Werner Röcke, »Provokation und Ritual«, in: Peter von Moos (Hrsg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, Köln u. a. 2001 (Norm und Struktur 15), 343–362, hier: 343: »Sie [Fehltritte] rufen peinliches Befremden oder gar Empörung hervor, wirken entehrend und provozieren häufig genug ein abschätziges Gelächter, das die Irritation über den Bruch der Konventionen ebenso zum Ausdruck bringt wie Hohn und Spott über den Übeltäter.« 61 Kasper (wie Anm. 37), 46. 62 Linden (wie Anm. 9), 38.

Danielle Buschinger

Die Gestalt des Kei in der Crône Tradition und Innovation: Vom Spötter zum Gralssucher Abstract: This paper deals with the character of Kei in the Crône by Heinrich von dem Türlin. As Kei’s characterization within the text, the narrator’s comments directed at him, and comments made by the other characters all illustrate, Kei is not conceived of here as caricature; rather, like Wolfram, Heinrich von dem Türlin is interested in rehabilitating Kei as an ambivalent figure. On the one hand, he mocks others, thus acting in accordance with his traditional, intertextually determined image (he is seen as a begrudging ›loser‹ by other characters and by the narrator). On the other hand, however, his status is enhanced in the narrative by new tasks assigned to him as well as by modifications to some of his traditional character traits. In the Crône he is a knight with positive attributes. Overall, then, the character of Kei fluctuates between the two poles of ›mockery in the name of the ideal‹ and of ›fighting for the ideal‹. Kei,1 König Artus’ Truchsess, gehört zum Stammpersonal der Artusliteratur; in bestimmten Texten ist er sogar der Ziehbruder des zukünftigen Königs. Er wird oft als hochmütig und eitel dargestellt. Jürgen Haupt bezeichnet ihn als »spöttische[n] Kritiker der Hofgesellschaft«, als »ein täppisches Großmaul« im Erec, wo der Erzähler ihn »quâtspreche« (V. 4664)2 nennt, als »ehrgeizige[n] Haudegen« im Lancelot, als »arrogante[n] Höfling« im Perceval, als »neidische[n] Intrigant[en]« im Iwein.3 Gerade in Hartmanns Iwein wird Keie symbolisch degradiert, potentiell aus der Artus-Ritterschaft ausgestoßen [...]. Hartmann geht [...] [in der Entführungsszene] im Negativen der Keie-Figur über Chrétien 4 hinaus wie nie zuvor. Keie ist hier der wahrhaft ›Böse‹: des ›tiuvels geverte‹ (4676).

Wolfram von Eschenbach hebt »sich von Chrétien und vor allem von Hartmann ab«.5 Er versucht, »die Keie-Figur aufzuwerten« und »reduziert die allgemeine

|| 1 Ich wähle für den Namen des Seneschalls in der Crône im Folgenden die Schreibung ›Kei‹. 2 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). 3 Alle Zitate Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 57), 10. 4 Ebd., 44.

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Kritik an Keie, die Chrétien massiv durch König und Königin aussprechen ließ«.6 Er rehabilitiert Kei vollständig.7 Bei Wolfram »wird Keie zum exemplarischen Ausdruck konventionell-höfischen Ordnungsdenkens«.8 Im Allgemeinen stimme ich dem zu, was Jürgen Haupt über Kei in der klassischen mhd. Literatur geschrieben hat. Dagegen lehne ich seine Beurteilung der Kei-Figur in Heinrichs von dem Türlin Crône (um 1220) vollkommen ab, auch wenn es zutrifft, dass in der Crône »die Keie-Szenen einen großen Umfang« einnehmen und Kei in diesem Roman »zu einer Art von Hauptfigur«9 wird. Aber Haupts Behauptung, Kei degeneriere zu einer Karikatur seiner selbst,10 erscheint als vollkommen abwegig und ungerechtfertigt. Im Folgenden werde ich versuchen, die Kei-Gestalt in der Crône direkt anhand des Textes zu charakterisieren, und zwar unter drei Gesichtspunkten: dem der Handlung, der Kommentare der verschiedenen Figuren sowie der Erzählerkommentare. Schon zu Beginn der Handlung, bei der Becherprobe, kommentiert der Erzähler, Keis größter Fehler sei, dass er gerne spotte und dass niemand diesem Spott ausweichen könne (V. 1541–44).11 Doch wie hätte er im Gesinde des Königs bleiben können, »Wær er also arch gewesen, / Sam maniger von im hat geseit?« (V. 1539f.). Somit ist der Rahmen bestimmt, innerhalb dessen Kei agieren wird. Genau wie Wolfram von Eschenbach ist Heinrich von dem Türlin in seiner Crône bemüht, die Kei-Figur zu rehabilitieren. Einerseits begegnen traditionelle, ›topische‹ Züge, andererseits ganz neue Aspekte, so dass man von einer gespaltenen Figur mit durchaus provokativen Eigenheiten sprechen kann. In der Crône gibt es zwei unterschiedliche Kei-Figuren: den ironischen Spötter als Verlierer und den positiven Ritter als Gewinner.

|| 5 Haupt (wie Anm. 3), 47. 6 Beide Zitate ebd., 51. 7 Vgl. ebd., 47–72, v. a. 52–59. 8 Ebd., 59. 9 Beide Zitate ebd., 114. 10 Vgl. ebd., 115. 11 Zitierte Ausgabe: Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000 (ATB 112); Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282–30042), nach der Handschrift Cod. Pal germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach Vorarbeiten von Fritz Peter Knapp und Klaus Zatloukal hrsg. von Alfred Ebenbauer und Florian Kragl, Tübingen 2005 (ATB 118).

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1 Die traditionellen Züge der Figur: Der ironische Spötter als Verlierer In der Crône ist Keis Spott mehr als ein Charakterzug; er ist ein kritisches Leitmotiv des Romans und ein ironischer Hinweis auf die Artusgesellschaft, vielleicht auch auf den Artusroman selbst. Im Roman unterziehen sich alle Figuren zwei Tugendproben, zuerst der Becher-, dann der Handschuhprobe, wobei Kei die Gelegenheit ergreift, seine oft bissige Meinung über die Betroffenen zu äußern, über sie zu spotten, gar sie zu provozieren – so, wie er es gewohnt sei (»Nah alter gewonheit«; V. 1240), betont der Erzähler. Somit wird die Gestalt des Kei in eine feste Tradition eingegliedert. Viele der Vorwürfe, die er macht, sind berechtigt, so wenn er Laudine vorwirft, Iwein gegenüber so grausam gewesen zu sein, dass er nahe daran gewesen sei zu sterben. Sie habe eine Sünde gegen die Liebe begangen, als sie sich weigerte, ihm zuzuhören und ihm zu verzeihen: Sie messe dem Eid Iweins mehr Wert bei als der Liebe, die er für sie hege (V. 1341–60). Bei der Becherprobe wird Lancelot dafür bestraft, dass er einen Augenblick gezögert hat, in den Karren zu steigen (V. 2098–2110); Erec habe gleichfalls seine Strafe verdient, weil Enite ihn so oft vor den Gefahren im Wald gewarnt habe (V. 2163–68); ebenso Parzival, weil er dem Gralskönig die von ihm erwartete Frage nicht gestellt habe; er habe sich übrigens mehrfach schuldig gemacht (V. 2207–24). So ist Keis Spötterei vollkommen berechtigt: Er erweist sich als ein gut informierter Zensor der Gesellschaft und als romaninterne kritische Instanz. Außerdem wird er dadurch zu einer wichtigen Figur in der Crône, während er bei Chrétien de Troyes (und seinen deutschen Bearbeitern) eine Nebenfigur ist. Dennoch wird er von Artus verurteilt, der ein negatives Porträt seines Seneschalls entwirft und ihm rät, sich zu mäßigen (V. 1723–77). Jeder fürchtet sich vor der Probe (V. 1854–85), aus Angst vor dem, was Kei über ihn verraten würde. Sogar Gawein wird für einen unbedeutenden Fehler gestraft. Nur der König bleibt unbescholten. Kei, dem der Spott eigen ist und zu dessen Natur er gehört (V. 2657), erträgt seinerseits gleichfalls den Spott anderer und wird dafür bestraft, dass er alle anderen verhöhnt hat. Wenn er aus Hochmut selbst aus dem Becher trinken will, wird »sein zvhtlos hohvart« (V. 2559) gestraft. Nun spottet der Narr Cuiliantz über ihn. Trotz der Schmach, die er beim darauffolgenden Zweikampf gegen den Boten erleidet, fängt er wieder an zu spotten. Der Erzähler kommentiert: Da pei sült ir wizzen daz, Swer spotes alle weg phliget,

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Daz den dehein laster bewiget, Swie oft ez im wider vert. (V. 3180–83) Dabei sollt ihr wissen, dass, wenn jemand ständig spottet, diesen keine Schande beunruhigt, wie oft sie ihm auch widerfährt.

Als Artus seinen engsten Vertrauten erzählt, dass Ginover ihn mit der Geschichte vom Ritter, der bei großer Kälte nur mit einem Hemd bekleidet Lieder singt, verspottet habe, antwortet Kei, wie er es gewohnt ist, mit Ironie (»nah alter gewonheit«; V. 3465). Sowohl der Erzähler (V. 3458–64) als auch König Artus (V. 3512–27) rügen den Truchsessen, der damit die Huld des Königs verliert. Als Gasoein, der weiße Ritter, Anspruch auf Ginover erhebt und beide einen Termin für den Zweikampf vereinbart haben, trifft Artus Kei, der ihm seine Niederlage in aller Offenheit erzählt. Der König macht sich über ihn lustig (V. 5153–80), was der Seneschall in aller Ruhe erduldet, denn ein Spötter erträgt den Spott anderer – so kommentiert der Erzähler (V. 5181–93). Daraufhin spottet Kei wiederum über seine zwei Kumpane (V. 5194–5215), was sie sehr verärgert und zornig macht. Bevor Kei sich mit Gawein, Calocreant und Lantzelet auf den Weg zum Gral macht, muss sich der ganze Hof der Handschuhprobe unterziehen. Wie bei der Becherprobe spottet Kei über alle und schlüpft wieder in seine alte Rolle, obwohl er, wie wir sehen werden, zwischenzeitlich viele andere Rollen übernommen hat. Meistens ruft er allgemeines Gelächter hervor (V. 23468–71), was den Eindruck erweckt, als ob alle Anwesenden ihm zustimmten. Wie beim ersten Mal sind Keis Spöttereien meistens berechtigt. Er trifft damit jeden an seiner Schwachstelle. Sofern er nur Angehörige des Hofes und keinen Fremden verspottet, tritt er hier als Tugendwächter, als Zensor des Artushofes, als Sittenrichter auf. Doch wie bei der ersten Tugendprobe rügt ihn der Erzähler, er habe »sunder not« (V. 23540) gespottet und werde dafür hart bestraft. Ihm wird hier vornehmlich seine Frauenfeindlichkeit – sein »wijbes hasz« (V. 23529) – vorgeworfen. Darum soll er sich als erster der Probe unterziehen. Der Handschuh lässt ihn erst dann los, als er sich selbst aller brutalen Spöttereien beschuldigt, mit denen er die anderen belastete, und der üblen Streiche, die er ihnen spielte. Nun übernimmt Calocreant Keis Rolle als Spötter und macht sich über Kei lustig. Am Schluss der Episode ist der Ritter mit dem Bock, der den Handschuh gebracht hat und nun den Handschuh selbst anlegt und verschwindet, bemüht, Kei zu narren. Die schlimmste Strafe, die Kei erleiden muss, besteht darin, dass man ihm nicht glaubt. Als Kei dem Hof und Artus den Ratschlag gibt, auf die Warnung des kleinen Mädchens zu achten, das, vom Winde getragen, hereingeschwebt

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ist und zur Vorsicht gegenüber dem ›Ritter mit dem Bock‹ mahnt (V. 25105–15), folgt Artus dem Rat nicht und wird vom Fremden betrogen, der die beiden Kleinodien (den Ring der Frau Sælde, der den Fortbestand des Artushofes gewährleistet, und den Edelstein aus Fimbeus’ Gürtel, den Gawein braucht, um zum Gral zu gelangen) sowie die beiden Zauberhandschuhe heimtückisch raubt. Gawein weiß, warum Keis Ratschlag nicht befolgt worden ist: Auch wenn der Truchsess oft und zu gegebener Zeit nützliche Ratschläge gibt, hat dieser Ratschlag, den er da gegeben hat, nichts genutzt, weil man ihn nicht ernst genommen, sondern seinen Rat als einen Scherz betrachtet hat, da seine Zunge selten »ernsthafftige rede« (V. 25639) spreche und öfter »schimpff vnd spott« (V. 25640) hervorbringe. Ohne Zeit zu verlieren und ohne jemanden darum zu bitten, holt Gawein selbst das Mädchen, das nun sagt, man solle sich an Gansguter wenden, durch den allein die verlorenen Objekte zurückerobert werden könnten. Während man Kei nicht glaubt, schenkt man Gawein Glauben. Trotzdem meint der Erzähler, man könne nichts gegen die ›Spottsucht‹ Keis unternehmen. Als Kei über seine eigene Geliebte mehr spottet als über andere, entschuldigt ihn der Erzähler: Man solle ihm verzeihen, denn er wolle niemand von seinen Spöttereien ausschließen. Niemand sei fähig, seiner Verspottung zu entgehen, so tüchtig er auch sein möge. Er selbst spotte über sich. Dies habe er sein ganzes Leben gemacht und man könne nichts dagegen tun (V. 24056–67). Viele Ritter äußern den Wunsch, mit Gawein auf die Suche nach dem Gral zu gehen, und bei jedem Antrag spottet Kei; derjenige, den sein Spott am meisten trifft, ist Parceval (V. 25926–43). Er brauche Goorz von Goromant, der ihm alles sagen würde, was den Gral anbelangt, auch wenn ihm verboten worden sei, eine einzige Frage zu stellen, als er ihm die »ritterschafft« (V. 25941) beigebracht habe, deren Regeln er so gut befolge: »das tet zucht vnd nit zagheit« (V. 25943). Dabei soll unterstrichen werden, dass Keis Spottreden dazu beitragen, den Inhalt der klassischen Artusromane ins Gedächtnis zurückzurufen, was eben Heinrich von dem Türlin erlaubt, seinen eigenen Roman in den allgemeinen Kontext der Artusepik und in die arthurische Tradition zu integrieren und zugleich gegen diese auszuspielen. Kei wurde verspottet und spottet weiter. So wird aus der Kei-Gestalt gleichsam eine Art Exempel gemacht, und die Einschätzung der Figuren wird vom Erzähler in seinen Kommentaren bestätigt. Kei als kritische Instanz steht auf der Verliererseite, was sich auch in mehreren Niederlagen zeigt (z. B. im Kampf gegen den Boten nach der Becherprobe oder gegen den weißen Ritter).

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2 Der andere Kei: der positive Ritter als Gewinner Entscheidend ist: Der Erzähler verurteilt Kei nie. Auch wenn es ihm an guter Erziehung mangelt, weicht er nie einer Gefahr aus und trotzt ihr immer, weil er mutig ist. Artus war in seiner Jugend bemüht, loyale und tüchtige Menschen in seinem Gefolge zu haben. Der Dichter-Erzähler sagt zu Anfang des Romans programmatisch: Swie Key wær ein schaure Vnd an allen dingen zuhtlos, Da mit er doch niht verlos Seins adels herschaft, Wan er was so manhaft, Daz er dehein vreise schauhte, Div in ze starch dauhte, Ern getörst sie vil wol bestan, Swie im gelung dar an. Ouch mügt ir wol wizzen, Seit sich so gar gevlizen Artus het an tvgende Vnd sein rein ivgende Selch gesind het erwelt, Daz dehein chrench an valsch entwelt, Sine warens alle svnder, Wie möht er dar vnder Dehein weil sein genesen, Wær er also arch gewesen, Sam maniger von im hat geseit? (V. 1521–40) Obwohl Key ein regelrechter Hagelschauer war und völlig unanständig, verlor er dadurch doch nicht seinen hohen Adel, denn er war so tapfer, dass er keine ihm noch so groß erscheinende Gefahr scheute; er wagte immer, ihr entgegenzutreten, egal was ihn auch erwartete. Ihr sollt auch wissen: Da Artus sich so sehr der Tugendhaftigkeit verschrieben hatte und in seiner reinen Jugend ein solches Gefolge gewählt hatte, das keine tadelnswerte Schwäche zeigte – sie waren alle frei davon –; wie hätte er unter diesen auch nur einen Moment bestehen können, wenn er so schlecht gewesen wäre, wie viele von ihm gesagt haben?

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2.1 Kei als Minneritter In der Maultierepisode übernimmt Kei »eine für ihn ungewöhnliche Rolle: die des Minneritters«.12 Er löst sich vorläufig von seiner Spötterrolle. Als Sgoidamur dem, der ihr hilft, das Zaumzeug und somit ihren Thron zurückzuerobern, ihre Liebe verspricht (»dorch min mynne«; V. 12703), erklärt sich Kei sofort bereit, das Abenteuer zu bestehen, um den Minnelohn zu erhalten. Er überwindet viele Gefahren, aber als das Maultier an einem breiten Fluss ankommt, über den eine Art Schwertbrücke führt, wagt er nicht überzusetzen und kehrt wieder um. Er ziehe es vor, für immer auf die Freuden der Liebe zu verzichten, statt nun zu ertrinken (V. 12864f.). Dies könnte als Feigheit betrachtet werden, doch kann man auch annehmen, dass dieses Abenteuer Gawein vorbehalten ist, der dazu bestimmt ist, eine Reihe von Prüfungen zu bestehen, u. a. die des gegenseitigen Kopfabschlagens mit Gansguter,13 dem Onkel Amurfinas, der Geliebten Gaweins, und Sgoidamurs. Peter Stein hebt übrigens hervor, dass »ihm, wie der Erzähler ausdrücklich vermerkt, keiner der Artusritter seine Umkehr als zagheit an[rechnet], als später Gawein von den Gefahren des Unternehmens berichtet (13745–51)«.14 Somit bahnt sich eine Wende in der Darstellung des Kei in der Crône an: Kei wird in Beziehung zu Gawein gesehen, und zwar zum ersten Mal in der Episode vom vermeintlichen Tod des Haupthelden Gawein, in der Kei als ›Trauerredner‹ auftritt, wie Christine Schonert hervorhebt .15

2.2 Kei als ›Trauerredner‹ Als der Kopf des ›anderen Gawein‹ an den Hof von Artus gebracht wird (V. 16845–67) und alle glauben, Gawein sei tot, äußert Kei einen tief empfundenen Schmerz und klagt selbst Gott an, dass er so Schreckliches zugelassen hat. Dieser Schmerz zeuge von der Treue Keis und von seiner aufrichtigen Freund-

|| 12 Christiane Schonert, Figurenspiele. Identität und Rollen Keies in Heinrichs von dem Türlin ›Crône‹, Berlin 2009 (Philologische Studien und Quellen 217), 108. 13 Zusätzlich zu den Details in der Gralsszene (vgl. Heinrich von dem Türlin, La Couronne, übers. und komm. von Danielle Buschinger, Paris 2010, Einleitung, 61) mag Heinrich der ersten Fortsetzung des Conte du Graal auch diese Kopfprobe (Caradoc-Episode) entlehnt haben. 14 Peter Stein, Integration – Variation – Destruktion. Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans, Bern u. a. 2000 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 32), 268. 15 Vgl. Schonert (wie Anm. 12), 123–133.

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schaft zu Gawein, kommentiert der Erzähler (V. 16866f. und 16875f.). Es bleibt nichts mehr von Ironie und Provokation. Seine Empathie lässt ihn dem Hof Anweisungen geben, wie sich alle verhalten sollen, der König, die Damen und die Mägde (V. 17026–91); »er setzt die Normen für das Verhalten der Mitglieder des Artushofes«.16 Als der Hof später erfährt, dass Gawein noch am Leben ist (V. 21940–52), wird Keis Freundschaft zu Gawein vom Erzähler überschwänglich gelobt. In V. 22132–50 führt der Erzähler, der auf Keis scharfe Zunge und seine spöttischen Kommentare zurückkommt, als wollte er den Hörer bzw. Leser auf den Wandel in der Kei-Figur aufmerksam machen, die alte, in der Tradition verankerte Persönlichkeit und die neue zusammen. Durch die »selig krafft« (V. 22135) der Freundschaft sei er fest an Gawein gebunden (V. 22134–36), der ihm Gleiches mit Gleichem vergilt: Er nennt ihn »min frùnt, her Kay« (V. 25866). Für Gawein hätte er alles aufgegeben: Land und Güter, Herren, Seele und Leben, Verwandte, Kinder und Ehefrau. Daran sehe man, dass sein Spotten nicht von Missgunst und Bosheit herkommt. Er möge die Tüchtigsten und Tapfersten und hasse die Minderwertigen. Dennoch werde keiner geschont, wenn er zu spotten und zu tadeln beginne. Dies ausgenommen sei er »ein fromm man« (V. 22150), ein tüchtiger Mensch. Gemäß seinem Amt und seiner Funktion am Hofe (»das was sin recht«; V. 22220) organisiert Kei dann die Heerfahrt und führt das Heer, um Gawein beizustehen.

2.3 Kei als ›Gralssucher‹ Als Gawein die Fahrt nach dem »wunderlichen gral« (V. 22776) antreten soll, wie er es versprochen hatte, erklären sich zunächst Lantzelet und Calocreant bereit, ihn zu begleiten; sie bitten Artus um urloup. In einem ironischen Kommentar erklärt der Erzähler, es wäre nicht erstaunlich gewesen, wenn sich Kei dieser Bürde entzogen hätte, denn man beschuldige ihn oft der Zagheit und einer schlechten Lebensführung (»vnfůr«; V. 22962). Das war jedoch nicht der Fall. Als er sieht, wie glanzvoll dieses Abenteuer sein wird, bittet Kei Artus gleichfalls um die Erlaubnis zu gehen. Auf diese Weise soll vermutlich sein schlechter Ruf korrigiert werden. So ist Kei einer der vier Artusritter, die sich auf den Weg zum Gral begeben, was zu seiner völligen Rehabilitierung beitragen wird. Der Umstand, dass Kei an der Gralsqueste teilnimmt, ist meiner Meinung

|| 16 Schonert (wie Anm. 12), 132.

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nach nicht parodistisch zu interpretieren,17 wie es Linda Govans behauptet (für sie ist es ein Zeichen dafür, dass Heinrich es nicht ernst meint, und sie bezeichnet dies als »parody«),18 oder Jillings, der die Gralsqueste, wie sie Heinrich auffasst und erzählt, als »patently a pastiche of Grail motifs«19 bezeichnet; dass Kei neun Ritter besiegt, sei Ironie. Im Gegenteil trägt Keis Teilnahme an der Gralsqueste zu seiner völligen Rehabilitierung bei und sollte zusammen mit der Neugestaltung der Kei-Figur interpretiert werden, die Heinrich von dem Türlin vornimmt. Dies wird im Laufe der Erzählung bestätigt. Zunächst kämpft er gegen einen Ritter und nimmt ihn gefangen (V. 26115–34). Etwas später kämpft er gegen einen weiteren Ritter und überwindet ihn – dabei ist er besser als seine zwei Gefährten Calocreant und Lantzelet: »Vnder disen dryen uszerkorn / Hatt nú Kayn der beste« (V. 27094f.); aber eine alte Wunde bricht auf, und er verliert »Beyde krafft vnd maht« (V. 27121). Keis Tapferkeit wird nun immer wieder herausgestrichen. Neue Kämpfe werden ausgefochten (V. 27990–28070), und »Kay was der erst man, / Der da gesigte under den dryn« (V. 28244f.). Dass er als guter Kämpfer auch geschätzt wird, zeigt der Umstand, dass er, als Gawein einen Ratschlag gibt, als einziger von den dreien mit Namen genannt wird: »Kay sprach: ›Das lob ich!‹, / Vnd die andern da by« (V. 28356f.). Kei wird aber nicht nur Erfolge erzielen. Er gelangt nach Illes, und da er vom Gral und von einem Abenteuer in einer Kapelle der Burg gehört hatte – wer an diesen Ort kommt, kann die ganze Geschichte des Grals erfahren und dort gefangene Frauen und Männer erlösen –, geht er in diese Kapelle und scheitert, wie es übrigens Gansguoters Schwester Manbur prophezeit hatte (V. 28557–90). Keis ›Kapellenabenteuer‹ steht im Gegensatz zu Gaweins Erlösung der Gralsgesellschaft in der Gralsburg. Kei findet in der Kapelle nur die Statue eines alten Ritters, dessen beide Knie von einem scharfen Speer durchstochen sind. Er zerbricht die Statue, um zu sehen, ob Blut darinnen ist. Er hätte sich lieber davor hüten sollen, denn nun ist er gefangen; es war eine schlechte Einschätzung der Lage, denn er hat den Speer für die Gralslanze gehalten. Die Gefangennahme wird als eine Art Strafe und Buße für all seine Spottreden betrachtet (V. 29065f.).

|| 17 Ich folge hier Fritz Peter Knapp, ›Chevalier errant und fin’amor‹. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten. Studien zum ›Lancelot en prose‹, zum ›Moriz von Craûn‹, zur ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, zu Werken des Strickers und zum ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtenstein, Passau 1986 (Schriften der Universität Passau, Reihe Geisteswissenschaften 8). 18 Linda Govans, Cei and the arthurian legend, Cambridge 1988 (Arthurian Studies 18), 117. 19 Lewis Jillings, ›Diu Crone‹ of Heinrich vom dem Türlein: The attempted emancipation of secular narrative, Göppingen 1980 (GAG 258), 134.

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Als man am Hof erfährt, dass Kei gefangen ist, beklagt man ihn aufrichtig, und Damen, Mädchen und Ritter bitten inständig Gott, »Das er jne widder sande / Gesunt vnd frisch zü lande / Von dem sorglichen bande« (V. 29788–90). Er kann sich nur befreien, wenn er neun tapfere, bis dahin unbesiegte und durch Zauberkraft unbesiegbare Ritter nacheinander im Zweikampf besiegt, also durch eine Heldentat. Nachdem Gawein das Gralsabenteuer bestanden hat, zieht er nach Illes, wo er den Gefangenen Kei findet. Dem Rat von Gansguters Schwester folgend gibt er ihm seinen »halsperg« und »tett [...] den sinen an« (V. 29731–33). Es handelt sich um eine Zauberkraft besitzende Rüstung, die ihm Gansguoter geschenkt hatte (V. 27343–68). Daraufhin kann Kei die neun Ritter besiegen. Man darf Keis Leistung im Vergleich zu Gawein nicht herabwürdigen, wie manche Kritiker es machen, weil er eine magische Rüstung trägt, die es ihm ermöglicht, die neun Ritter zu besiegen, hat doch Gansguoters Schwester Gawein gesagt, wie er sich in der Gralsburg zu verhalten habe (V. 28501–39): Gawein musste nur diesen Anweisungen folgen, um das Gralsabenteuer zu bestehen. Er bleibt aber in jedem Fall der Hauptheld, denn nur von ihm ist im Epilog die Rede: »Das alle auentùre / Von Gaweins tùre / Sagent [...]« (V. 29913–15). Mit seinen neun Gefangenen kehrt Kei an den Artushof zurück. Seine Rückkehr wird nicht bemerkt; man kann die Worte Keis, »Der wirt hab dang, / Das er min gebiten hab!« (29864f.) ironisch verstehen, wie Christiane Schonert anmerkt.20 Alle freuen sich über Keis Sieg (V. 29871). Doch die Freude, die nun wieder am Artushof herrscht, ist erst an dritter Stelle auf Keis Rückkehr zurückzuführen. Der erste Grund ist, dass Gawein und seine Gefährten Nachrichten vom Gral erhalten haben; der zweite ist, dass eine zweitrangige Figur wie Angaras Artusritter geworden ist; der dritte, dass Kei sich selbst befreit hat (V. 29876–87).

2.4 Kei und die Frauen Bevor er sich auf die Gralssuche begibt, nimmt Kei Abschied von den Rittern, von den Mädchen und den Frauen, an die er eine scherzhafte Abschiedsrede hält. Er sagt, sie sollten nicht allzu sehr betrübt sein, nicht zu sehr trauern, sondern ihre Klagen mäßigen (V. 25966–26071), was besonders witzig ist, kennt man doch seine Frauenfeindlichkeit, ob der er schon scharf gerügt worden ist: Die Damen werden bei den Tugendproben oft mit erotischem Spott bedacht, wie Hartmut Bleumer betont: Es »müssen sich insbesondere die Damen des Hofes nun die zu allem Überfluss mit allerlei Frauenfeindlichkeiten gewürzten Kom-

|| 20 Vgl. Schonert (wie Anm. 12), 165.

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mentare Keis zu ihren Minnetugenden anhören, in denen ausgesprochen direkt das Sexualverhalten thematisiert ist«.21 Nachdem Kei gefangen gehalten wurde, wendet sich der Erzähler an die Damen und fordert sie auf, bei Gott für ihn einzutreten und für ihn zu beten. Sie sollen ihm vergeben, dass er so oft über sie auf üble Art gespottet habe; was würde es ihnen nützen, wenn er das Leben wegen seiner Spöttereien verlöre? Sein Schicksal liege in den Händen der Frauen. Er kommentiert: »Wellent ir, er verfellet; / Wellent ir, er ist genesen« (V. 29075f.). Es werde aber kein selbstloses Unternehmen, denn die Frauen würden doch auf mancherlei Weise davon profitieren (V. 29087–96). Als man von seiner Gefangennahme am Hof erfährt, beklagt man ihn aufrichtig, und Frauen, Mädchen und Ritter bitten Gott inständig, ihn heil zurückzubringen (V. 29788–90). Als das geschieht, freuen sich die Frauen, dass Gott ihre Bitte erfüllt hat, denn von nun an werde er für sie kämpfen. Aber der Erzähler nimmt Abstand von dem Gesagten: Kei werde sich weiterhin über die anderen lustig machen (V. 29899–29908). Der Erzähler wälzt also nun ironisch die Verantwortung auf die Figur ab, falls Kei vom Weg abweicht. Ob es der rechte Weg ist oder der gewohnte Weg – die »Rückkehr zu alten Gewohnheiten«22 –, bleibt offen. Somit wird die neue, positive Beurteilung der Kei-Figur in der Crône wieder rückgängig gemacht. Er wird am Schluss wieder zum Spötter.23

|| 21 Hartmut Bleumer, Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997 (MTU 112), 362. 22 Schonert (wie Anm. 12), S. 167. 23 Wie ich nachgewiesen habe, hat Heinrich von dem Türlin für die Gralsepisode die erste Fortsetzung des Conte du Graal benutzt; vgl. Danielle Buschinger, »Burg Salie und Gral. Zwei Erlösungstaten Gaweins in der Crône Heinrichs von dem Türlin«, in: dies., Studien zur Deutschen Literatur des Mittelalters, Greifswald 1995. Nun ist zu überlegen, ob Heinrich nicht auch von der ersten Chrétien-Fortsetzung zur Gestaltung der ambivalenten Kei-Figur angeregt worden ist. In der ersten Fortsetzung tritt nämlich eine Kei-Figur auf, die von der in der französischen Literatur des 12. Jh. abweicht. Einige Beispiele: Als Ke erfährt, dass ein Ritter der Tafelrunde gleichzeitig gegen zwei Gegner kämpfen soll (Dynadarés und Guingambresil), wehrt er sich dagegen: »Malemant est partiz mi jeus« (V. 5138). Als er dann erfährt, dass dieser Ritter Gauvain sein soll, nimmt er heftig Partei für ihn: »Ce poise moi molt durement« (V. 5162). Daraufhin setzt er sich bei Artus für ihn ein, und der König bebt bei dieser Nachricht vor Zorn und Unwillen: »D’ire et de mautalant tressut« (V. 5188). Aber Ke ist nicht nur der Mitleidende. Er ist auch eine zwiespältige Figur. Um sich für die Schmach zu rächen, die ein fremder Ritter ihm zugefügt hat, indem er ihn vom Pferd stach, so dass er zu Fuß zur Königin zurückgehen musste (dies ist die herkömmliche Verliererrolle), durchsticht Ke ohne Kriegserklärung seinen Gegner hinterhältig mit einem Wurfspeer (Handschrift M, V. 16997–99) und tötet ihn. Danach entflieht Ke. Dieser Mord an dem unbekannten Ritter führt Gauvain in die Gralsburg. Demnach ist Ke in der ersten Fortsetzung eine zwiespältige Figur, einerseits voller Empathie Gauvain gegenüber, andererseits ein gemeiner Mörder. Es ist möglich, dass Heinrich den ersten Zug der

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3 Fazit Heinrich von dem Türlin hat die traditionellen, ›topischen‹ Aspekte der KeiFigur wieder aufgenommen, etwa Keis ironische Spötter- und Provokateurrolle, die ihm angeboren ist, oder seine Verliererrolle. Dennoch weicht Heinrich im zweiten Teil seines Romans weitgehend von der herkömmlichen Darstellung der Gestalt ab, indem er neue Aspekte hinzufügt und die traditionellen abwandelt. So besteht Kei während der Gralsaventüre eine ganze Reihe von Kämpfen siegreich. Er übernimmt neue Rollen: die des ›Minneritters‹ in der Episode der Maultierzaumepisode, die des ›Trauerredners‹, der von seiner Treue und seiner aufrichtigen Freundschaft zu Gawein zeugt, und hauptsächlich die des ›Gralssuchers‹. Im Grunde könnte man in der Crône einen experimentellen Roman sehen, was sich in den beiden konträren Rollen zeigt, in denen Kei begegnet – als negative und als positive Figur. Kei als Spötter und Verlierer stellt die Artusgesellschaft, wie sie bei Chrétien, Hartmann und Wolfram zu finden ist, in Frage: Der erste Teil des Romans ist dann ›implizite‹ Parodie, ist doch, wie Paul Lehmann unterstreicht, die Geschichte aller mittelalterlichen Literatur [...] für mehrere Jahrhunderte in hohem Maße eine Geschichte der Aufnahme, Verarbeitung und Nachahmung fremden Gutes. [...] 24 Die Parodie, wie ich sie auffasse, ist eine besondere Art literarischer Nachahmung.

Ich verstehe wie Paul Lehmann unter Parodien [...] solche literarischen Erzeugnisse, die irgendeinen als bekannt vorausgesetzten Text oder – in zweiter Linie – Anschauungen, Sitten und Gebräuche, Vorgänge und Personen scheinbar wahrheitsgetreu, tatsächlich verzerrend, umkehrend mit bewusster, beabsichtigter und bemerkbarer Komik, sei es im ganzen, sei es im einzelnen, formal 25 nachahmen oder anführen.

|| ersten Fortsetzung entnahm, aber den zweiten wegließ, weil er ihm zu grob und zu negativ erschien. Heinrich könnte ebenfalls der ersten Fortsetzung (Caradoc-Episode, V. 7137–7425) die Kopfprobe entlehnt haben (V. 13103–85), so wie vielleicht auch die Geschichte von dem von einem Schwan gezogenen Nachen. Er hätte sie dann umfunktioniert (V. 18375–18556): Statt eines toten einbalsamierten Ritters befindet sich im Nachen bei Heinrich ein Liebespaar (V. 26484–26684). Zitierte Ausgabe der 1. Chrétien-Fortsetzung: The Continuations of the old french ›Perceval‹ of Chretien de Troyes, vol. 2: The first continuation, Redaction of the Mss E M Q U, hrsg. von William Roach und Robert H. Ivy, Jr, Philadelphia 1950 (Reprint 1965). 24 Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, Stuttgart 21963, 2. 25 Ebd., 3.

Die Gestalt des Kei in der Crône | 223

Kei als positiver Ritter und Gewinner hat sich an die Artusgesellschaft angepasst und ihre Normen akzeptiert und angewendet; dabei verliert er seine kritische Rolle. Nun wird Kei in Beziehung zu Gawein gesehen; doch obwohl er nach der Befreiung aus seiner Gefangenschaft versucht, Gawein einzuholen, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn des Wortes,26 gelingt ihm das nicht. Gawein bleibt der Hauptheld, denn nur von ihm ist im Epilog die Rede (V. 29913–15). So kann man nicht sagen, Kei sei zu einem Doppelgänger Gaweins geworden, wie etwa Johannes Keller behauptet.27 Vielmehr ist Christiane Schonert zuzustimmen: Es »wird keine Doppelgängerschaft mit dem Protagonisten konstruiert«.28 Es ist also zu einer Aufwertung der Kei-Figur gekommen; dennoch macht der Erzähler am Schluss kehrt und sagt, Kei wird sowieso wieder über andere spotten. Der Erzähler provoziert somit die Zuhörer bzw. Leser seines Werkes und überlässt seiner Figur die Verantwortung für ihr Handeln. Die Aufwertung der Figur wird am Schluss vom Erzähler dermaßen relativiert, dass man sich fragen muss, ob die ›topischen‹ Aspekte seiner Persönlichkeit nicht doch die Oberhand gewinnen. Heinrich lässt die Frage offen. Aber warum ist das so? Im ersten Teil spottet Kei über die Artusgesellschaft, die ihre eigenen Ideale verraten hat. Es ist aber kein billiger Spott, sondern eine Kritik der Artusgesellschaft im Lichte der Ideale, die sie hätte verwirklichen sollen, aber nicht verwirklicht hat. Im zweiten Teil hat man das Gefühl, dass Heinrich von dem Türlin Kei, der zuerst die Artusgesellschaft von außen kritisierte, erlaubt zu zeigen, wie man es richtig macht, d. h. ihm erlaubt selbst für diese Ideale zu kämpfen: Dies ist Integration von innen. Danach kann er sich zurückziehen und sich wieder zum Spötter machen. Man hätte somit drei Phasen: zuerst Spott im Namen des Ideals, dann Kampf für das Ideal, und schließlich wieder Spott im Namen des Ideals. Wie dem auch sei, Kei, dem Heinrich eine moralisierende Funktion verliehen hat, ist zu einer der wichtigsten Gestalten des Romans geworden.

|| 26 Vgl. Schonert (wie Anm. 12), 164. 27 Vgl. Johannes Keller, ›Diu Crône‹ Heinrichs von dem Türlin: Wunderketten, Gral und Tod, Bern u. a. 1997 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 25), 135. 28 Schonert (wie Anm. 12), 171.

Ricarda Bauschke

Der Artushof als Provokation Überlegungen zum Konzept der ›Symbolstruktur‹ Abstract: This essay discusses the function of the exordial provocations that motivate plot in Arthurian fiction, and their significance in relation to the symbolic structure of Arthurian romance. Despite the prevalent assumption that the provocation comes from the outside, a closer look at Erec and Iwein proves that it is in fact endogenous. This has a distancing effect on the narrative’s treatment of Arthurian ideality, as perceived by the audience. The reappraisal of the exordial provocation brings about a redefinition of the symbolic significance of the structure of Arthurian romance as well as of the relationship between the individual and the society. Der ›doppelte Kursus‹ wird als Gliederungsprinzip der Artusromane in Wellenbewegungen immer wieder behauptet, revidiert, erneut zum Leben erweckt, und er bleibt damit – sei es zustimmend, sei es ablehnend – zumindest in der germanistischen Mediävistik eine feste Bezugsgröße zahlreicher Interpretationen. Für die postulierte Doppelwegstruktur spielt die exordiale Provokation des Artushofes eine wesentliche Rolle: Durch einen einzelnen Kontrahenten, ein äußeres Ereignis mit mehreren Beteiligten oder ein erinnertes Erlebnis werde die Artusidealität gefährdet; ein Ritter ziehe stellvertretend für die Gemeinschaft aus, heile den Affront, restituiere die Artuswürde und finde dabei selbst erst den ihm angemessenen Platz in der Gesellschaft. Die behauptete Artusidealität einerseits und die Herausforderung derselben andererseits, um damit den Protagonisten zum Auszug zu motivieren und das Geschehen überhaupt in Gang zu bringen, sind konstituierende Elemente der insbesondere durch Walter Haug ermittelten Symbolstruktur und der ihr zugeschriebenen sinnstiftenden Funktion. In einem doppelten Kursus, der in zwei qualitativ sich steigernden Aventüre-Fahrten durchlaufen werden müsse, finde der auserwählte Ritter seinen Platz in der Gesellschaft und bringe Minne und êre in ein Verhältnis der mâze.1

|| 1 Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985; ders., »Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain/Iwein«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999 [SIA 4], 99–118; ders.,

226 | Ricarda Bauschke

Walter Haug greift für seine These auf ältere Überlegungen zur binären Struktur des Erzählens zurück, wie sie bereits Wilhelm Kellermann,2 Reto R. Bezzolla3 und dann v. a. Hugo Kuhn4 in seinem grundlegenden Aufsatz zu Hartmanns Erec formuliert haben. Zwar erkennt schon Hans Fromm, dass die Dynamik des Doppelweges genuin mit der Geschichtslosigkeit des Artusromans verbunden scheint,5 doch erst Walter Haug verknüpft die auf dem doppelten Kursus basierende Sinnstruktur mit der Fiktionalität und setzt schemabezogene Aventüre-Fahrt sowie fiktionales Erzählen in ein Bedingungsverhältnis.6 Seither ist Haugs bahnbrechender Entwurf auf den unterschiedlichsten Ebenen kritisiert worden: Joachim Heinzle7 stellt die behauptete Fiktionalität des Artusromans grundsätzlich in Frage; Friedrich Wolfzettel8 relativiert die Anwendbarkeit des arthurischen Strukturmodells auf die romanische Erzählpraxis, indem er an das linear gedachte Aktantenmodell erinnert, wie es Rainer Warning9 entworfen hat. Gegen den Doppelweg und die ihm eingeschriebene Symbolstruktur als Ganzes wendet sich dekonstruktivistisch Elisabeth Schmid,10 während Gert Hübner11 mit Hilfe einer Aufarbeitung von Hartmanns Fokalisierungstechnik die Modellabweichung des Iwein gegenüber dem Erec konstatiert oder || »Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein. Das Spiel mit dem arthurischen Modell«, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, 223–238. 2 Vgl. Wilhelm Kellermann, Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman, Halle a. d. Saale 1936 (Beihefte zur ZrP 88). 3 Vgl. Reto R. Bezzola, Le sens de l’aventure et de l’amour, Paris 1947. 4 Vgl. Hugo Kuhn, »Erec«, in: FS Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen 1948, 122– 147, wieder in: ders., Christoph Cormeau (Hrsg.), Hartmann von Aue, Darmstadt 1973 (WdF 359), 17–48. 5 Vgl. Hans Fromm, »Doppelweg«, in: Ingeborg Glier u. a. (Hrsg.), Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. FS Hugo Kuhn, Stuttgart 1969, 64–79. 6 Siehe die in Anm. 1 genannten Titel. 7 Vgl. Joachim Heinzle, »Die Entdeckung der Fiktionalität. Zu Walter Haugs Literaturtheorie im deutschen Mittelalter«, PBB 112 (1990), 55–80. 8 Vgl. Friedrich Wolfzettel, »Doppelweg und Biographie«, in: ders. (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999 [SIA 4], 119–142. 9 Vgl. Rainer Warning, »Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman«, in: Jean Frappier, Reinhold Grimm (Hrsg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, 11 Bde., Bd. 4, 1, Heidelberg 1978, 25–59. 10 Vgl. Elisabeth Schmid, »Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999 [SIA 4], 69–87. 11 Vgl. Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44).

Der Artushof als Provokation | 227

Ludger Lieb12 den zweiten Teil des Erec einem neuartig akzentuierten Strukturschema unterwirft. Am Ende aber zeigt selbst der Versuch von Annette GerokReiter,13 das Artusromanmodell als formalen Mythos zu entlarven, bzw. das Unterfangen von Gerhard Wild,14 die Doppelwegstruktur durch den Nachweis zu relativieren, dass eben dieses Strukturprinzip – was freilich auch Haug sagt – im spätmittelalterlichen Erzählen aufgehoben werde, wie fest das Interpretationsmodell von doppeltem Kursus und Symbolstruktur im Forschungsdiskurs verankert ist. Auch neuere Deutungsentwürfe leiten sich immer noch davon ab, und zwar gerade auch dann, wenn sie den Doppelweg als Interpretament eigentlich verabschieden wollen.15 In den hier vorgestellten Überlegungen soll es in erster Linie nicht um einen weiteren Revisionsversuch der Doppelwegstruktur als solcher gehen. Die von Hugo Kuhn vorgelegte und von Walter Haug perfektionierte inhaltliche Gliederung für den Erec scheint durchaus sinnvoll, die Abstrahierung eines Modells als Verstehensfolie für andere Artusromane mehr als brauchbar. Systemtheoretisch gedacht sind Sonderheiten, gerade wenn sie als Abweichungen ausgezeichnet werden können, deutlicher profilierbar.16 Das Problem liegt meines Erachtens in dem normativen Charakter, den Haug der postulierten Symbolstruktur einräumt, und in der sich daraus ergebenden Konsequenz, die Semantik der Erzählung tendenziell auf die Struktur zurückzuführen, ja sogar die Bedeutungen aller Erzählungen auf ein und dieselbe Sinn gebende Struktur – und damit letztlich auf denselben Sinn – zu reduzieren; darauf wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein. Ausgangspunkt der Überlegungen ist vielmehr die kritische Prüfung einer anderen Grundannahme, nämlich der Polarisierung von arthurischer Idealität auf der einen Seite und »antiarthurischer

|| 12 Vgl. Ludger Lieb, »Ein neuer doppelter Kursus in Hartmanns Erec und seine Kontrafaktur in Gottfrieds Tristan«, DVjs 83 (2009), 193–217. 13 Vgl. Annette Gerok-Reiter, »Erec, Enite und Lugowski, C. Zum ›formalen Mythos‹ im frühen arthurischen Roman. Ein Versuch«, in: Gisela Vollmann-Profe u. a. (Hrsg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, 131–150. 14 Vgl. Gerhard Wild, »(Pseudo)-arthurisches recycling oder: Wie die Symbolstruktur des Artusromans im Spätmittelalter aufgehoben ward«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999 [SIA 4], 291–310. 15 Vgl. dazu auch Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin, Boston 2012, v. a. Kap. 4.2.3: »Zum Artusschema: Kuhn meets Propp«, 241–280. 16 Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1980–1995.

228 | Ricarda Bauschke Gegenwelt«17 auf der anderen. Selbst ein Kritiker wie Wolfzettel erkennt den Artushof »als ideologischen Fixpunkt[]« des jeweiligen »Erlöser-Held[en]«18 an; und obwohl Haug selbst zugibt, dass am Beginn des Iwein die Idealität des arthurischen Festes Risse zeige,19 setzt er alles daran, diese Abweichung in ein konstituierendes Basismodell vom vorbildlichen Artushof und dessen ideologischer Vorreiterrolle zu integrieren. Erst für die sogenannten ›nachklassischen‹ Artusromane wird das Verhältnis von Artusidealität und stellvertretendem Ritter auf Bewährungsfahrt dann differenzierter beurteilt: Mit der vermeintlichen Idealität des Artushofes werde nicht nur gespielt, sondern diese scheint bisweilen ganz aufgehoben zu sein. So lässt sich die Krise der Artusgesellschaft in Heinrichs von dem Türlin Crône wohl eher als Karikatur einer Idealität, wie sie für die klassischen Artusromane postuliert wird, beschreiben.20 Es wurde bereits angedeutet, dass mit systemtheoretischen Argumentationen auch derartige Textphänomene in den Griff zu bekommen sind; vor einem Grundmodell anerkannter Idealität kann sich inszenierte Artusdefizienz profilierter entfalten. Allerdings – und hier sollte die Kritik ansetzen – können bereits die sogenannten ›klassischen‹ Artusromane, aus denen Haug die Symbolstruktur abstrahiert hat und denen er Modellcharakter zugesteht, eine vorrangig idealisierende Wahrnehmung des Artushofes nicht rechtfertigen. Denn die Einschätzung des Artushofes als idealtypischer Institution hängt genuin mit der Bewertung des narrativen Bausteins ›Provokation‹ zusammen. Ist die positive Funktion der Tafelrunde gesetzt, ergibt es sich gleichsam automatisch, alle von außen kommenden Figuren, die den normalen Ablauf stören, als Provokateure einzustufen. Sie auf der Seite des Unrechts zu verorten, resultiert damit primär aus dem Wunsch, sie einer strukturell vermeintlich vorgegebenen Rolle zuzuordnen, und leitet sich weniger ab aus dem konkreten Figurenhandeln, das im jeweiligen Text geschildert wird. Es scheint daher nur konsequent, dass Haug darauf verzichtet, zwischen einem axiologischen und einem narratologischen Provokationsbegriff zu unterscheiden; und entsprechend bestimmt die Grundannahme von Provokation und Herausforderung der idealen Artusgesellschaft auch alle weiteren Deutungsaspekte der nachfolgenden Handlung, etwa die gängige Meinung, der Protagonist finde den ihm angemessenen Platz i n der Artusgesellschaft, und nicht etwa a u ß e r h a l b der Tafelrunde. Diesen Interpretationsmechanismus gilt es zu durchbrechen. Eine bewusst tendenziöse || 17 Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 1), 99. 18 Beide Zitate Wolfzettel (wie Anm. 8), 123f. 19 Vgl. Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 1), 129f. 20 Vgl. dazu Christoph Cormeau, ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, Zürich, München 1977 (MTU 57).

Der Artushof als Provokation | 229

Lektüre der Eingangssequenzen und weiterer Passagen aus Chrétiens bzw. Hartmanns Erec und Iwein soll zeigen, dass der Artushof selbst die eigentliche Provokation darstellt. Die nachfolgenden Ausführungen sind dezidiert als Experiment zu verstehen.

1 Erec Die Jagd nach dem weißen Hirsch, mit der Artus am Beginn des Erec zum Aufbruch aufruft, ist hochgradig problematisch. In Chrétiens Fassung wird dies an der kritischen Rede Gauvains offenbar:21 »›Sire!‹, fet il, ›de ceste chace / N’avroiz vos ja ne gre ne grace‹« (V. 41f.: »›Herr‹, sagt er, ›für diese Jagd werdet Ihr weder Dank noch Ruhm ernten‹«). Gauvain prophezeit großen Unmut, er ahnt die bevorstehende Konkurrenzsituation, dass jeder der 500 tapferen Ritter den Schönheitspreis für die eigene Dame erringen möchte. Über solch einen Vorwurf aber setzt Artus sich entschieden hinweg: »Ja ne doit estre contredite / Parole, puis que rois l’a dite« (V. 61f.: »Diesem Wort darf nicht widersprochen werden, denn es ist das Wort des Königs«). Der trotzige Hinweis auf das geltende Wort des Herrschers, mit dem Artus sich hier rechtfertigt, besitzt komisches Potential und bewirkt zugleich eine ironische Distanzierung von implizitem Erzähler und indirekt beschriebener Figur. Dem hausgemachten Problem, wem der Siegerpreis zu erteilen ist, entkommt Artus bekanntlich nur, weil Erec Enite gewinnt und an ihrer herausragenden Schönheit, die alle anderen Frauen aussticht, kein Zweifel besteht. Sollte an dieser Stelle bereits von Provokation die Rede sein, wäre es der König selbst, der durch sein unbedachtes Wettspiel den eigenen Hof herausfordert; Gauvains abwehrend-kritische Reaktion lässt solch eine Deutung jedenfalls zu. Doch nicht allein dieses Initium bewirkt eine irritierende Wahrnehmung der arthurischen Gesellschaft. Auch die sich anschließende Begegnung der beiden Dreiergruppen – Königin, Hofdame, Erec auf der einen Seite sowie Ritter, Fräulein, Zwerg auf der anderen – wirft ein durchaus problematisches Licht auf die Angehörigen des Artushofes: Die Trias um Ginover hat sich von der Jagdgesellschaft abgesondert, ihre Anwesenheit im Wald scheint damit ähnlich erklärungsbedürftig wie die der Zwergengruppe. Es ist die Königin selbst, die aktiv || 21 Zitierte Ausgabe: Chrétien de Troyes, Erec et Enide, übers. und eingel. von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 17). Vgl. dazu auch James R. Simpson, Travelling Arthurian Histories. Court Culture, Performance and Scandal in Chrétien de Troyes’s ›Erec et Enide‹, Oxford u. a. 2007; vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel in ZrP 126 (2010), 368–371.

230 | Ricarda Bauschke

wird und in die Rolle einer Provokateurin tritt. Aus Neugierde (»Viaut savoir«; V. 152) drängt sie sich der anderen Gruppe auf, indem sie ihr Fräulein losschickt, um die Identität der Fremden in Erfahrung zu bringen. Sie will den Ritter einfach einbestellen: ›Dameisele‹, fet la reïne, ›Cel chevalier qui la chemine Alez dire que vaingne a moi Et amaint sa pucele o soi. (V. 155–158) ›Fräulein‹, sagt die Königin, ›sagt diesem Ritter, der dort entlang reitet, er solle zu mir kommen und sein Mädchen mitbringen.‹

Gehorsam und Namensnennung leistet ein unbekannter Ritter im arthurischen Kontext üblicherweise erst dann, wenn er im Kampf unterliegt, so z. B. Guivreiz an späterer Stelle im Erec, aber auch Yder selbst, nachdem er den Sperberkampf verloren hat: [Erec: ›] Et ton non revuel ja savoir.‹ Lors li dist cil, ou vuelle ou non: ›Sire! Yders, li fiz Nut, ai non.[‹] (V. 1044–46) Erec: ›Und deinen Namen will ich jetzt wissen.‹ Also antwortete ihm jener, ob er nun will oder nicht: ›Herr, mein Name ist Yder, Sohn des Nut.‹

Im Kontext solcher Vergleichsfälle lässt sich das Unterfangen der Königin als provozierender Affront deuten. Chrétien hebt diesen Aspekt noch hervor; denn seine Hofdame stürmt dem Ritter entgegen, ohne sich vom Zwerg ablenken zu lassen: ›Dameisele! estez!‹, fet li nains, Qui de felenie fu plains; ›Qu’alez vos ceste part querant? Ça ne passeroiz vos avant!‹ ›Nains!‹, fet ele, ›leisse m’aller! A cel chevalier vuel parler; Car la reïne m’i anvoie.‹ (V. 163–169) ›Fräulein, haltet ein!‹, sagt der Zwerg, der voller Niedertracht war, ›Was habt Ihr hier zu suchen? Ihr werdet hier nicht vorbei reiten!‹ ›Zwerg‹, erwidert sie, ›lass mich durch! Ich will mit diesem Ritter sprechen; denn die Königin hat mich geschickt.‹

Das Mädchen drängt mit Gewalt an dem Gnom vorbei. Sicherlich apostrophiert der Erzähler den Zwerg als ›böse wie sonst niemand‹ (»fel tant que nus plus«;

Der Artushof als Provokation | 231

V. 218), doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hofdame den Zwerg ihrerseits herablassend behandelt und für ihre Ansprache eine sehr fordernde Diktion wählt. Auch der Ritter selbst wird einige Verse später als ›böse‹, ›maßlos‹, ›unhöfisch‹ und ›niederträchtig‹ bezeichnet: »felon et desmesuré« (V. 228), »vilains [...] et outrageus« (V. 241), weil er seinen Zwerg nicht an der Züchtigung des Hoffräuleins hindert. Eine Entschuldigung für den Auftritt der Artusgruppe ist dies aber keineswegs; vielmehr erweist sich ihr provozierendes Handeln als unbedacht und gefährlich. Weder Ginover noch ihre beiden Begleiter schätzen die Situation adäquat ein, und sie ziehen sich dadurch ihre Demütigung zu. Hartmann korrigiert die Situation in gewisser Weise, denn seine Hofdame richtet sich in ausgesprochen höflichem Tonfall bereits an den Zwerg. Ein Erzählerkommentar hebt die angemessene Diktion explizit hervor:22 mit zühten si zuo im sprach: ›got grüeze iuch, geselle, und vernemet waz ich welle. mîn vrouwe hât mich her gesant, diu ist künegîn überz lant[‹] (V. 31–35). Voller Anstand sagte sie zu ihm: ›Gott zum Gruße, mein Freund, hört mein Anliegen. Meine Herrin hat mich hierher geschickt; sie herrscht als Königin in diesem Land.‹

Wie bei Chrétien unterstreicht die Identifikation ihrer Herrin als Königin des Landes die Berechtigung zum Fragen. Auf der anderen Seite jedoch tilgt Hartmann die negativen Bewertungen der Figuren bzw. schwächt diese ab. Diskreditierende Erzählerkommentare vom Typ Chrétiens fehlen. Der Gnom wird nicht als böse ausgewiesen, sondern sein Aggressionspotential vielmehr erklärt. Die Züchtigung mit der Peitsche begründet sich aus der Einschätzung des Zwerges, sein Herr würde durch die neugierigen Fragen zu sehr bedrängt und müsse geschützt werden: [›]ir ensît niht wîse liute, daz ir sô vil hiute gevrâget von mînem herren[‹] (V. 88–90). ›Ihr seid dumme Menschen, dass Ihr jetzt derart viel über meinen Herrn wissen wollt.‹

|| 22 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39).

232 | Ricarda Bauschke

Den Ritter selbst verschont Hartmann von abwertenden Einlassungen, wie sie bei Chrétien zu finden sind. Dass er bereits zweimal den Sperberkampf gewinnen konnte, markiert ihn als tapfer. Nach dem Kampf in Tulmein entschuldigt er sich für die Begegnung im Wald: »geschach iu ie ungemach / von mînen schulden, deist mir leit« (V. 1001f.). Im Übrigen reagiert auch bei Chrétien Yder höfisch und einsichtig auf seine Niederlage; bereitwillig lässt er sich an den Artushof entsenden, und er versucht, die Motivation für Erecs unerbitterlichen Kampfeinsatz zu verstehen. Wird solch eine Lektüre gegen die übliche Deutung fortgesetzt, lassen sich auch andere narrative Bausteine neu akzentuieren. Erecs zunehmende ethische Vervollkommnung besteht dann nicht mehr allein darin, dass er lernt, vom reinen Notwehrhandeln (in den Räuberepisoden) zum mitfühlenden Einsatz für Hilfsbedürftige (nämlich den von Riesen entführten Kadoc) zu finden; er reift vielmehr vom provozierenden Ritter, der seine eigene Frau als Lockvogel einsetzt, zu einem besonnen Handelnden, der Gelegenheiten zum Kampf abwartet und angemessen dosiert. Es findet ein Prozess statt weg von der Provokation hin zur Reaktion. Das allerdings impliziert zugleich eine Fortentwicklung weg vom Artushof, wenn dieser, wie eingangs erläutert, die Provokation verkörpert. Zumindest Hartmann verfolgt diesen Weg konsequent, da er nach der Schilderung des abschließenden Artusfestes noch die Rückkehr Erecs nach Karnant anfügt und die Herrschaft des jungen Königs andeutet. Auf dieser Basis aber wird es notwendig, die beiden Teile des Doppelwegs neu aufeinander zu beziehen. Die übliche Deutung sieht vor, dass Erec im ersten Teil die gefährdete Artusidealität wieder herstellt und im zweiten Teil seine eigene ethische Vervollkommnung betreibt. Steht der Artushof aber für Provokation und muss Erec diese Einstellung im zweiten Teil des Kursus erst überwinden, dann ist nach der verligen-Szene nicht primär und schon gar nicht allein Erec erlösungsbedürftig, sondern der gesamte Artushof. Seine Defizienz s p i e g e l t sich in Erec, der nun stellvertretend für die arthurische Gesellschaft auf Aventüre-Fahrt geht. Auch diese Lesart lässt sich im Text verankern: Als die von Ginover eingekleidete Enite zum ersten Mal vor die Tafelrunde tritt, sind die anwesenden Ritter von ihrer Erscheinung überwältigt: dô diu maget in gie, von ir schœne erschrâken die zer tavelrunde sâzen sô daz si selber vergâzen und kapheten die maget an. (V. 1736–40) Als das Mädchen eintrat, erschreckten diejenigen, die dort an der Tafelrunde saßen, sich so sehr durch ihre Schönheit, dass sie sich selbst vergaßen und das Mädchen anstarrten.

Der Artushof als Provokation | 233

Die außerordentliche Schönheit Enites setzt übliches Verhalten außer Kraft, schneidet Aktivitäten mittendrin ab und bewirkt eine Konzentration ganz auf das strahlende Mädchen.23 Die Szene antizipiert Erecs Isolation von ritterlicher Betätigung im verligen. Zugleich wird sichtbar, dass der Artushof und sein Protagonist Erec offenbar nur zwei Extreme kennen: Provokation oder Passivität. Erst Erec bzw. allein Erec gelingt es, innerhalb der beiden Pole zu angemessenem Verhalten zu gelangen.

2 Iwein Diese andersartige Deutung lässt sich auf den Iwein übertragen, bzw. werden die am Erec festgestellten Punkte im Iwein geradezu potenziert.24 Das exordiale Artusfest ist in mehrfacher Hinsicht gestört und damit von einer wie auch immer postulierten Idealität weit entfernt: Die nachmittägliche Siesta des Königspaares redupliziert die verligen-Szene aus dem Erec:25 [...] und heten sich slâfen sâ mê durch geselleschaft geleit dan durch deheine trâkheit. (V. 82–84) [...] und sie hatten sich schlafen gelegt, mehr um der Zweisamkeit willen denn aus Müdigkeit.

Hartmann verharmlost an dieser Stelle die Vorgabe Chrétiens, der die Ungeheuerlichkeit der Situation eigens in Erzählerrede hervorhebt:26 Mes cel jor mout s’esmerveillierent Del roi, qui d’antre aus se leva,

|| 23 Die Komplexität der Paarbeziehung kann hier nicht ausdiskutiert werden; vgl. dazu Bruno Quast, »Getriuwe wandelunge. Ehe und Minne in Hartmanns Erec«, ZfdA 122 (1993), 162–180. Zu Enites Auftritt an der Tafelrunde vgl. Christoph Schanze, »Schatten und Nebel. Die dunkle Seite des Artusromans«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 185–205, hier: 202–205. 24 Für den Iwein hat auch schon Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 1), 129f., die Idealität der Tafelrunde kritisch beleuchtet. 25 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff, Übers. und Anm. von Thomas Cramer, 4., überarb. Aufl., Berlin, New York 2001. 26 Zitierte Ausgabe: Chrétien de Troyes, Yvain, übers. und eingel. von Ilse Nolting-Hauff, München 1983 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 2).

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S’i ot de tes, cui mout greva Et qui mout grant parole an firent Por ce, que onques mes nel virent A si grant feste an chanbre antrer Por dormir ne por reposer; (V. 42–48) Doch an diesem Tag wunderten sie sich sehr über den König, der sich aus ihrer Runde erhoben hatte; es gab einige, die dies sehr grämte und die deshalb große Worte darüber verloren, weil sie ihn niemals zuvor während solch eines großen Festes hatten auf sein Zimmer gehen sehen, um zu schlafen und sich auszuruhen.

Initiiert im Erec eine von Artus ausgerufene unselige Jagd alle Folgehandlungen, so ermöglicht im Iwein der mittägliche Beischlaf des Königs eine Gesprächsrunde der Ritter, die weitere problematische Aspekte hervorbringt und sich dadurch von arthurischer Idealität entfernt: Keie übertrifft mit seiner polemischen Wortführung sich selbst; die Königin muss ihn zurechtweisen. Von einem Ereignis, das bei Chrétien sieben, bei Hartmann sogar zehn Jahre zurückliegt, fühlt sich die Gemeinschaft schließlich derart herausgefordert, dass Iwein sich heimlich und ohne Auftrag ganz unmittelbar zur Rache aufmacht. Mit etwas Zeitverzögerung setzt sich dann der gesamte Artushof in Bewegung, um die vermeintliche Schmach zu sühnen. Dabei verhält sich die Sache eigentlich genau umgekehrt zu dem, wie es die Artusritter wahrnehmen. Ganz deutlich offenbart die verquere Definition gegenüber dem Wildhüter, dass Kalogrenant den Sinn von Aventüre komplett falsch verstanden hatte: ich heize ein riter und hân den sin daz ich suochende rîte einen man der mit mir strîte, der gewâfent sî als ich. (V. 530–533) Ich nenne mich Ritter und bin so ausgerichtet, dass ich suchend umherreite nach einem Mann, der so gewappnet ist wie ich und mit mir kämpft.

Doch nicht aktive Suche und Herausforderung machen Aventüre aus, sondern das, was auf einen zukommt: adventus. Die fatale Haltung Kalogrenants mündet bekanntlich in der Provokation des Brunnenwächters, dessen Wald durch das ausgelöste Gewitter zerstört wird. Rechtmäßig verteidigt dieser sein Land und schlägt den Angreifer in die Flucht. Iwein wiederholt nun sieben bzw. zehn

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Jahre später das Unrecht und steigert es noch, indem er Askalon tötet.27 Der Artushof handelt kaum besser: Artus selbst schöpft das Brunnenwasser, gießt es auf den Stein und löst damit schon wieder das Unwetter aus; Keie darf als Stellvertreter des Hofes gegen den Brunnenwächter antreten. Im ersten Viertel des Iwein wird damit eine Artusgesellschaft präsentiert, deren Gleichgewicht zwischen Passivität und Aktion nachhaltig gestört ist. Dem verligen von Artus und Ginover auf der einen Seite steht auf der anderen die dreimalige Provokation des Brunnenreiches gegenüber, wobei die Kriegserklärung in einem Fall sogar zum Totschlag führt. Die Vorstellung arthurischer Idealität besitzt damit keinerlei Ankergewicht im Text; und der narrative Baustein einer anfänglichen Provokation, den das Doppelwegschema vorsieht, wird vom Artushof selbst aktualisiert. Wie Erec lernt auch Iwein im weiteren Verlauf der Handlung, seine Aggressionsbereitschaft zu kontrollieren. Im Moment des Wahnsinns trifft sie nur noch ihn selbst;28 nach der Salbenheilung macht die P r o v o k a t i o n der angemessenen R e a k t i o n Platz. Iwein nimmt Herausforderungen durch andere an, setzt sich in den Wiedergutmachungsabenteuern für bedrängte Damen ein und meistert Terminkollisionen. Er provoziert nicht mutwillig, sondern passt seine Kampfeinsätze sozialen Erfordernissen an. Dass er dabei nicht nur den Artushof stellvertretend heilt, sondern über die arthurische Gemeinschaft hinauswächst, zeigt sich in der Gestaltung des Schlusses, wo Iwein den Artushof heimlich verlässt: Mit sînem lewen stal er sich dar, daz es nieman wart gewar dâ ze hove noch anderswâ. (V. 7805–07) Mit seinem Löwen stahl er sich heimlich davon, so dass es niemand am Hofe noch anderswo bemerkte.

|| 27 Diese Lesart impliziert allerdings keinerlei Zustimmung zur Interpretation von Thomas Cramer, »sælde und êre in Hartmanns Iwein«, Euphorion 60 (1966), 30–47, wieder in: Hugo Kuhn, Christoph Cormeau (Hrsg.), Hartmann von Aue, Darmstadt 1973 (WdF 359), 426–449, der Iweins primäre Verfehlung im Mord an Askalon sieht. Vgl. vielmehr die Position von Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, Berlin 1978 (Beihefte zur ZfdPh 3), der die zentrale Bedeutung der versäumten Jahresfrist hervorhebt. 28 Zu Iweins Wahnsinn vgl. grundlegend Timothy McFarland, »Narrative Structure and the Renewal of the Hero’s Identity in Iwein«, in: ders., Silvia Ranawake (Hrsg.), Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposion 1985, Göppingen 1988 (GAG 486), 129–157.

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Iwein findet seinen Platz an der Seite Laudines als neuer Quellenwächter im Brunnenreich. Die Artuswelt, die ihn nach der Hochzeit durch den schlechten Rat Gawans seiner Frau entfremdet hatte,29 ist nun endgültig überwunden. Das Land der Laudine wird damit zum höhergewichtigen Zentrum, das die Artuswelt zumindest für Iwein verabschiedet. Wie aber korrespondiert die ernüchterte Lesart des Artushofes mit dem Prolog, wo Hartmann die Artuswelt lobt? Bekanntlich verzichtet der Erzähler in der Autorrolle bereitwillig darauf, selbst zu Artus’ Zeiten zu leben, weil er allein durch die chronologische Distanz in die glückliche Lage versetzt ist, von der Vergangenheit zu berichten: ichn wolde dô niht sîn gewesen, daz ich nû niht enwære, dâ uns noch mit ir mære sô rehte wol wesen sol: dâ tâten in diu werc vil wol. (V. 54–58) Ich wollte damals nicht gelebt haben um den Preis, nun nicht zu leben, wo es uns jetzt durch die Erzählungen über sie so recht gut geht. Damals waren ihnen die Taten selbst angenehm.

Die Taten werden durch die E r z ä h l u n g von den Taten übertroffen. Haug sieht speziell diese Passage als Plädoyer für die Fiktionalität arthurischen Erzählens: »Die Überlegenheit der Literatur über die bloße Faktizität ist damit zum erstenmal explizit formuliert.«30 Karina Kellermann31 konnte Haugs Position nicht wirklich entkräften, und auch die hier vorgelegte Argumentation ist nicht einem solchen Impetus verpflichtet. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese Passage nicht noch mehr ist als das selbstzweckhafte Bekenntnis zu einer Erzählkunst, die ohne einen auf Faktuales bezogenen Wahrheitsgaranten auskommt. Die entschiedene Oppositionierung von mære und tâten impliziert nämlich ebenso, dass die Erzählung die Fakten korrigieren kann; und diese Möglichkeit der Korrektur nimmt auch Artus selbst nicht aus. Während »sîne lantliute [...] jehent er lebe noch hiute« (V. 13f.), weil der zu Lebzeiten erworbene Ruhm anhaltende memoria garantiert, präsentiert Hartmann (und vor ihm bereits Chrétien) einen Artus mit Schwächen. Seine Hofgemeinschaft ist erlösungsbe-

|| 29 Durch die immerhin rund 140 Verse Redeanteil (V. 2770–2912) erhält Gawans Ratschlag im Erzählfluss relativ breiten Raum. 30 Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 1), 125. 31 Vgl. Karina Kellermann, »Exemplum und historia. Zu poetologischen Traditionen in Hartmanns Iwein«, GRM NF 42 (1992), 1–27.

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dürftig, und die Protagonisten finden ihr Glück gerade dadurch, dass sie arthurische Defizienz überwinden und einen eigenen Weg einschlagen. Diese Deutung verhält sich an entscheidenden Punkten wiederum konträr zu Konstituenten der Symbolstruktur. Provokateure sind demnach nämlich nicht die fremden Ritter, sondern es ist der Artushof, der die anderen provoziert. Die Königin nimmt dabei eine wichtige Rolle ein; auch in Wolframs Parzival oder Wirnts Wigalois hat Ginover einen wesentlichen Anteil an der Störung des Gleichgewichtes. All das relativiert die postulierte Idealität. Für Haug wird arthurische Idealität erst dann prekär, wenn sie, wie am Beginn des Iwein, zur Ruhe kommt;32 und wie gezeigt birgt arthurische Passivität ein großes destruktives Potential. Der Umkehrschluss jedoch, dass arthurische Aktivität deren Idealität impliziert, trifft schlicht nicht zu. Vielmehr konnte die neue Lektüre der Auftaktszenen das Provokationshandeln bei den Artusfiguren selbst verorten. Das Strukturmodell vom doppelten Kursus wird in seiner rein technischen, die Handlung gliedernden Funktion dadurch nicht tangiert. Auch die Annahme einer Symbolstruktur, die den klassischen Artusromanen innewohnt, bleibt bestehen. Allerdings ist diese Symbolstruktur in ihrem symbolischen Gehalt neu zu definieren, und zwar in Bezug auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Zentral sind dabei zwei Aspekte: Zum einen rehabilitiert sich die als defizitär ausgewiesene Artusgesellschaft durch das heilende Wirken eines Einzelnen; zum anderen muss der Einzelne zugleich seinen eigenen Weg aus der Gruppe h e r a u s finden. Die Möglichkeit dazu eröffnet ihm die Liebe, denn sie teilt er – in den konkreten Personen der Liebenden gedacht – nicht mit der Gemeinschaft. Insgesamt geht es also keinesfalls um eine Bezugsnorm arthurischer Idealität, in deren Koordinaten der Ritter sich bewähren muss, um ein Teil von ihr zu werden. Seine Leistung liegt vielmehr darin, arthurische Defizienz zu erkennen und zu überwinden. Dieses Denkmodell lässt sich unmittelbar auf weitere Erzähltexte übertragen: In Wolframs Parzival wird die Subordination der Artusgesellschaft durch die Konkurrenz mit dem überlegenen Gralsreich evident. Hier überwindet Gawan das Stadium der Provokation, indem er nicht – wie zuvor Segramors und Keie – den verträumten Parzival attackiert, sondern die Blutstropfen im Schnee richtig deutet.33 Wirnt von Grafenberg zeigt die pervertierte Situation: Wigalois bewegt sich von Beginn an jenseits eines Stadiums aggressiver Herausforderung und scheint für Nereja damit ein völlig ungeeigneter Artusritter zu sein. In ih-

|| 32 Vgl. Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 1), 130. 33 Vgl. dazu grundsätzlich Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea NF 94).

238 | Ricarda Bauschke rem begrenzten Horizont hat sie damit sogar Recht.34 Entsprechend übernimmt Nereja selbst die Rolle der Provokateurin, wenn sie die gescheckte Bracke an sich bringt. Sie nötigt dadurch ihren Begleiter dazu, seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Wigalois schlägt sich loyal auf Nerejas Seite, tritt damit aber eigentlich zum Unrecht über; das manifestiert sich in der Tötung des Roten Ritters. Schon in der nächsten Aventüre korrigiert er jedoch sein Verhalten und engagiert sich für die klagende Elamie. In der Namur-Episode gelingt es Wigalois dann sogar, die Artusritter ganz in seinen Handlungsrahmen zu integrieren. Die Exordialsentenz des Iwein, Swer an rehte güete wendet sîn gemüete, dem volget sælde und êre (V. 1–3), Wer auch immer nach dem wahrhaft Guten strebt, dem fallen Glück und Ansehen zu,

behält ihren programmatischen Wert – nur dass die Artusgesellschaft zuerst einmal unter Beweis stellt, wie es genau n i c h t ablaufen sollte. Erec und Iwein überwinden dieses Stadium und führen vor, dass Gemeinschaften nur dann funktionieren, wenn jeder Einzelne sich fortentwickelt und Verantwortung übernimmt. Verschließt sich die Gemeinschaft der stellvertretenden Heilung durch den Einzelnen, bleibt nur die Option, ihr ganz den Rücken zu kehren. Im Iwein deutet sich das an. Auf dem Weg des Individuums zur Moderne markiert der Artusroman damit wohl einen noch größeren Schritt als bisher angenommen.

|| 34 In diese Richtung zielt auch die Deutung durch Joachim Heinzle, »Über den Aufbau des Wigalois«, Euphorion 67 (1973), 261–271.

Björn Reich

Der provozierte Rezipient Schemabrüche und Schemaübersteigerungen beim Pleier Abstract: This paper examines two Arthurian romances of ›Der Pleier‹, Tandareis und Floribel and Meleranz, investigating ways in which disruptions or extensions of the narrative pattern challenge the audience to question the received Arthurian world view. It is demonstrated not only that Der Pleier, whose works are discussed as an attempt to restore antiquated norms, is prepared to question the perfection of the Arthurian court, but also that a correlation exists between the characterization of the protagonists of the two romances and the ways in which conventional narrative structures are manipulated in the two works. In Tandareis, popular narrative structures are exaggerated with the result that the protagonist surpasses even Arthur’s sovereign perfection. In Meleranz, however, Arthurian narrative structures are fractured and the hero turns his back on the Arthurian world.

1 Der Schemabruch als Provokation Während es zur Ironie einen breiten Forschungszweig gibt,1 wurde das Thema Provokation bisher eher am Rande beachtet. Hier geht es zunächst um die Rezipienten-Provokation, bei der sich ähnliche Probleme wie bei der Ironie ergeben, denn so, wie eine Textstelle ohne explizite Ironiemarker nicht eindeutig als ›ironisch‹ lesbar ist,2 muss es bis zu einem gewissen Grad auch Mutmaßung

|| 1 Die Ironieforschung ist so vielfältig, dass hier nur eine kleine Auswahl speziell mediävistischer Studien (durchaus unterschiedlicher Qualität) genannt werden kann: Gerd Althoff, Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011; Michael Becker, Christina Brauner, »Orte der Ironie. Zum Verständnis und Gebrauch der Ironie in Mittelalter und Früher Neuzeit«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 331–332; Michael Becker, »Ironia. Mittelalterliche Ironietheorie von der Antike bis zur Renaissance«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 357–393; Dennis H. Green, »Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur«, in: Dietmar Peil u. a. (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 35–56; Mona Alina Kirsch, »Das er in spottes wise hette entpfangen – Einblicke in die literarische Darstellung von Spott und Ironie im Mittelalter«, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 395–418. 2 Vgl. den Beitrag von Fritz Peter Knapp im vorliegenden Band.

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bleiben, welche Abschnitte provozierend auf den Rezipienten eines mittelalterlichen Textes gewirkt haben, da über Reaktionen nur wenig bekannt ist. Aber schon die Frage, was überhaupt als ›Provokation‹ zu verstehen ist, ist nicht einfach zu beantworten: Zunächst meint pro-vocare schlicht das Hervorrufen einer bestimmten Reaktion, sei dies ein Wahrnehmungs-, Denk- oder Handlungsakt; in diesem Sinne müsste man die ganze mittelalterliche Literatur als provozierend bezeichnen, jedenfalls dann, wenn man ihren Anspruch, neben dem Erfreuen auch zu Nützen (prodesse et delectare), ernst nimmt, denn einem wie auch immer näher zu spezifizierenden prodesse eignet rhetorisch ein movere,3 ein Bewegen des Rezipienten. Literatur verfährt, da sie ein movere hervorrufen will, in diesem allgemeinen Sinne immer bewusst provozierend. Eingeengter könnte man als Provokation ein solches movere verstehen, das aus einem Normbruch resultiert und dadurch ›Anstoß erregt‹, d. h. einen Rezipienten dazu anstößt, etwas Bestimmtes zu tun oder zu denken. Dieses ›Anstoß erregen‹ muss nicht mit dem Erregen von Ärgernis einhergehen, der Normbruch muss kein ›moralischer‹ sein, kein Tabubruch. Er kann – zumindest scheinbar – weitgehend neutral verstanden werden, etwa bei ›formalen‹ Normverletzungen, wie z. B. beim Umgang mit narrativen Schemata.4 Natürlich wird ein Erzählschema niemals auf eine einzig mögliche Art und Weise ›erfüllt‹, da es seinen Sinn in der Regel aus der topischen Variation entfaltet.5 Trotzdem könnte man sagen, dass Erzählschemata bis zu einem gewissen Grade ›genormt‹ sind – wo die Abweichung von einem postulierten Normalfall zu groß wird, reagiert der Rezipient des Textes mindestens mit gesteigerter Aufmerksamkeit, vermutlich auch mit Überraschung und Reflexion.6 Er wird provoziert, das zu tun, weil er mit etwas Nicht-Genormtem und daher Unerwartetem konfrontiert wird.

|| 3 Vgl. Björn Reich, ›Name‹ und ›mære‹. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik, mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum ›Meleranz‹ des Pleier, ›Göttweiger Trojanerkrieg‹ und ›Wolfdietrich D‹, Heidelberg 2011 (Studien zur historischen Poetik 8), 34–36 und 56–63; Brian Vickers, Mächtige Worte – Antike Rhetorik und europäische Literatur, Berlin 2008. 4 Erzählschema wird dabei hier in seiner weitesten Bedeutung verwendet und meint sowohl einzelne kleinere Handlungsmotive als auch längere Handlungszüge, die bestimmten immer wiederkehrenden Mustern folgen, wie z. B. das rash-boon-Motiv, das Brautwerbungsschema etc. 5 Vgl. Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, 35; Willi Hirdt, Studien zum epischen Prolog. Der Eingang in der erzählenden Versdichtung Italiens, München 1975, 55. 6 So ist zwar vermutlich nirgends das sogenannte Brautwerbungsschema in Reinform realisiert, dennoch ist das Schema in seiner Normiertheit bekannt genug, dass Abweichungen davon auffallen, und der Rezipient merkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, wenn etwa Gunther einen Stellvertreter benötigt, um Brunhild zu erobern, Ortnit mit dem Brautvater keine

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Dabei stellt sich die Frage, ob solche narrativen Regelverletzungen tatsächlich ›neutral‹ auftreten können, oder ob sie stets dazu genutzt werden, auch werthafte Normen zu hinterfragen. Denn, so die These, das fertige Erzählschema verbürgt in gewissem Maße eine Regelhaftigkeit, die auf den Inhalt des Textes bzw. den Umgang damit ausgreift; der durch den narrativen Schemabruch zur Reflexion angeregte/provozierte Rezipient reflektiert weniger das Erzählen selbst als eben – dadurch vermittelt – das Erzählte. Weiter wäre zu fragen, ob die reflektierten Werte nicht nur überdacht bzw. ins Bewusstsein gerufen, sondern zusammen mit dem Erzählschema in Frage gestellt werden. Es ist zumindest anzunehmen, dass, je stärker die Abweichungen von den gängigen Erzählschemata sind, es desto mehr zu einer Neuorientierung und Neubewertung werthafter Normen kommt, wobei der spezifischen Art und Weise, wie ein Erzählschema abgewandelt und gebrochen wird, Rechnung zu tragen ist. Als Untersuchungsbeispiel eignen sich die Romane des Pleier. Der Autor gilt als einer, der an alten Konventionen festhielt und eher bemüht war, Norm wiederherzustellen als sie zu brechen. Dabei wird in der Forschung bereits – bewusst oder unbewusst – ein Zusammenhang vom Umgang mit Erzählnorm und Wertvorstellungen postuliert. So gehen die meisten Studien zum Pleier’schen Garel von dem Blühenden Tal davon aus, dass der Pleier versucht habe, den Daniel von dem Blühenden Tal des Strickers zu korrigieren und den Stoff zu re-arthurisieren.7 Diese Re-Arthurisierung des Stoffes geht, so etwa Buschinger, Hand in Hand mit einer Rückbesinnung auf die alten ritterlichen Tugenden, wie sie im Gegensatz zum Daniel eben im ›klassischen‹ Artusroman auftreten, und || Einigung erzielt und zugleich versäumt ihn zu töten, oder wenn Dietmar die umworbene Braut ohne Probleme erhält, dafür aber auf der Brautfahrt mit einem Drachen kämpfen muss. 7 Vgl. etwa Helmut de Boor, »Der Daniel des Stricker und der Garel des Pleier«, PBB 79 (1957), 67–84; Danielle Buschinger, »Ein Dichter des Übergangs. Einige Bemerkungen zum Pleier«, in: dies., Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Greifswald 1995, 235–243; Karin R. Gürttler, ›Künec Artûs der guote‹. Das Artusbild der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Bonn 1976, 249; Walter Haug, »Moral, Dämonie und Spiel. Der Übergang zum nachklassischen Artusroman«, in: ders., Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985, 250–278, hier: 262; Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 57), 111; Peter Kern, Die Artusromane des Pleier. Untersuchungen über den Zusammenhang von Dichtung und literarischer Situation, Berlin 1981 (Philologische Studien und Quellen 100), 160 und 213; Frank Roßnagel, Die deutsche Artusepik im Wandel. Die Entwicklung von Hartmann von Aue bis zum Pleier, Stuttgart 1996 (helfant 11), 83–89, 115 und 177–185. Dass diese Lesart des Garel und seines Helden insgesamt zu vereinfachend ist, habe ich zu zeigen versucht; vgl. Björn Reich, »Garel revisited – Die Auflösung der Artusherrlichkeit beim Pleier«, in: Friedrich Wolfzettel u. a. (Hrsg.), Artusroman und Mythos, Berlin, Boston 2011 (SIA 8), 109–126.

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damit mit einem Festhalten an alten Werten und Wertvorstellung, die der Pleier angeblich wieder in sein Recht gesetzt wissen wollte, so dass ihm sogar eine »konservative[], ja reaktionäre[] Einstellung« attestiert wurde.8 Auf der anderen Seite ist der Pleier als später Autor gezwungen, neue Wege zu gehen und alte Erzählschemata neu fruchtbar zu machen.9 Dies gilt insbesondere für seine beiden späteren Artusromane, den Tandareis und Flordibel und den Meleranz.10 Hat der Pleier erneut alte Erzählmuster restituiert und zugleich an alten Werten festgehalten? Oder ist hier ein freierer Umgang mit Erzählschemata zu beobachten, und wenn ja, wie wirkt sich dies auf den vermittelten Wertehorizont aus? Der Pleier, den de Boor als den »verhältnismäßig bedeutenste[n] und jedenfalls fruchtbarste[n] Vertreter«11 der so genannten ›Nachklassiker‹ bezeichnet, kann auch deshalb als gutes Beispiel dienen, weil hier drei Artusromane desselben Autors vorliegen, bei denen eine gewisse Ent-

|| 8 Vgl. Buschinger (wie Anm. 7), 241. 9 Grundlegend für die mittelalterliche Poetik ist bekanntlich die Tatsache, dass die Dichter nach eigenem Verständnis nichts Neues schaffen, sondern vorhandene Stoffe auffinden (inventio) und erneuern (erniuwen); vgl. Walter Haug, »Innovation und Originalität. Kategoriale und literaturhistorische Vorüberlegungen«, in: ders., Burghart Wachinger (Hrsg.), Innovation und Originalität, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 9), 1–13, hier: 9. Zur Stofferneuerung vgl. Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Darmstadt 21979, 47; Martin Pfennig, erniuwen – Zur Erzähltechnik im Trojaroman Konrads von Würzburg, Frankfurt a. M. 1995; Björn Reich, »Der Mythos und die Zahl: Evidenz und Reflexion des Erzählens im Trojaroman Herborts von Fritzlar«, in: Bent Gebert, Uwe Mayer (Hrsg.), Zwischen Präsenz und Repräsentation: Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen, Berlin, Boston 2013, 122–144; Hans Jürgen Scheuer, »Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans Daniel von dem Blühenden Tal«, ZfdPh 124 (2005), 23–46‚ hier: 24; Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue«, Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 1–30, hier: 1; ders., »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Walter Haug (Hrsg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), 128–142. 10 Ich gehe dabei von der von Kern plausibel gemachten Entstehungsreihenfolge der Pleier’schen Werke wie folgt aus: Garel – Tandareis – Meleranz; vgl. dazu Kern (wie Anm. 7), 22–31, sowie James Douglas Bruce, The Evolution of Arthurian Romance. From the Beginnings Down to the Year 1300, Bd. 2, Gloucester ²1958, 299; Christoph Cormeau, »Tandareis und Flordibel von dem Pleier. Eine poetologische Reflexion über Liebe im Artusroman«, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hrsg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), 39–53, hier: 28; Peter Kern, Art. »Der Pleier«, in: 2VL, Bd. 7, 728–737; James Robert Wahl, Investigations of the Pleier’s ›Meleranz‹, Diss., Michigan 1987, 6f. 11 Helmut de Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil 1250–1350, München 31967 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3/1), 78.

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wicklung sowohl in der erzählerischen Eigenständigkeit als auch in der Konzeption des Heldenbilds beobachtet werden kann.

2 Gebrochene Geschichten – Der Meleranz Als sich der junge Meleranz bei einem Aventüreritt einem seltsamen Haus im Wald nähert, vor dem zwei Riesen stehen, ist er – und mit ihm wohl auch der Rezipient – auf das Schlimmste gefasst.12 Ein Kampf scheint unvermeidlich,13 aber die Furcht vor oder die Hoffnung auf die nahende Auseinandersetzung wird jäh enttäuscht, denn die beiden Riesen erweisen sich als überaus gastfreundlich.14 Dabei handelt es sich bei Pûlâz und seiner Frau durchaus um die ›handelsüblichen‹ Raubriesen, die »rouben tegelîch« (V. 4629). Pûlâz klärt den Helden beim abendlichen Gespräch aber darüber auf, dass er nur gezwungenermaßen als Raubmörder arbeite – weil sein Herr ihn dazu anhalte.15 Er ist dabei so unglücklich mit seiner ›Arbeit‹, dass er sich Meleranz gegenüber als marterære bezeichnet (V. 4456).16 Es ist eine insgesamt seltsame Episode. Schon im Vorfeld, als Meleranz auf die beiden Riesen zureitet, denkt er so umständlich lange darüber nach, ob er nicht lieber die Flucht ergreifen solle, dass er aber kein zage sein wolle, dass man als Rezipient ins Grübeln kommt.17 Wenn dann || 12 Zitierte Ausgabe: Der Pleier, Meleranz, hrsg. von Karl Bartsch, mit einem Nachwort von Alexander Hildebrand, Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1861, Hildesheim, New York 1974. Vgl. auch die neuere Ausgabe: ›Melerantz von Frankreich‹. Der ›Meleranz‹ des Pleier. Nach der Karlsruher Handschrift. Edition – Untersuchungen – Stellenkommentar, hrsg. von Markus Steffen, Berlin 2011 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 48). 13 »dô er si [die Riesen] sach gên im gân / er wânt si wolden in bestân: / des was in un ze muote. / Meleranz der guote / was gên in ze wer bereit, / wan er nie kein zageheit / begienc bî allen sînen tagen. / vil ungelîch einem zagen / man den helt gebâren sach« (V. 4307–13); zur Riesenepisode vgl. Reich (wie Anm. 3), 131f. 14 Vgl. Wahl (wie Anm. 10), 244. 15 »mit roube muoz ich mich begân, / daz tuot mir herzelîchen wê. / ich wolt den tôt kiesen ê, / ê ich alsô lange wolde leben« (V. 4450–53); vgl. Otto Seidl, Der Schwan von der Salzach. Nachahmung und Motiv-Mischung bei dem Pleier, Diss. Dortmund 1909, 17. 16 »unser leben daz ist swære. / wir sîn marterære / und leben kumberlîche« (V. 4455–57). Interessanterweise ist einer der Hauptgründe für den Kummer der Riesen, dass ihnen ihr Herr Godonas nicht genug von dem Raub lässt: »mîn herre der ist rîche / von unserm gewinne. / er enruocht ob wir es immer triben, / daz wir alsô lang bî im beliben / daz wir im guot fuogten zuo / beide spâte unde fruo / und wir des solden niht geniezen, / wan daz wir sîn rouber hiezen« (V. 4458–66); vgl. Seidl (wie Anm. 15), 50. 17 Vgl. V. 4270–4315. Auch der Erzähler wiederholt auffällig oft, dass Meleranz »nie kein zageheit / begienc bî allen sînen tagen« (V. 4312f.).

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noch die mordenden Raubriesen unversehens als Märtyrer bezeichnet werden, ist die Verwirrung komplett.18 Handelt es sich hier wirklich nur um erzählerischen Missgriff, wie Panzer meint?19 Der Pleier bricht radikal mit einem Erzählschema, das Held und Raubriese feste Rollen zuschreibt.20 Die ritterlichen Werte scheinen nicht mehr selbstverständlich, denn der Pleier zeigt, dass es nicht viel braucht, um aus einem Helden einen Feigling und aus einem Mörder einen Heiligen zu machen. Die Provokation des Rezipienten, die sich aus dem Bruch mit seiner Rezeptionserwartung ergibt, führt mindestens dazu, über die Unfestigkeit und Relativität der höfisch-ritterlichen Werte nachzudenken. Ein derartiger Umgang mit Erzählschemata findet sich im Meleranz allenthalben: Immer wieder werden Erwartungen unterlaufen21 – so etwa auch in der Badeszene, als Meleranz seiner geliebten Tydomîe zum ersten Mal begegnet.22 Peter Kern hat gezeigt, wie der Pleier das aus verschiedenen Kleinerzählungen bekannte Schwanjungfrauenmotiv, das uns v. a. durch afrz. Lais wie dem Grælant bekannt ist,23 Schritt für Schritt und recht detailgetreu umkehrt.24 An-

|| 18 »Pulaz ist eine unwahrscheinliche Gestalt«; Ernst Herwig Ahrendt, Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik, Diss. Rostock 1923, § 131. 19 Vgl. z. B. ›Merlin‹ und ›Seifrid de Ardemont‹ von Albrecht von Scharfenberg in der Bearbeitung Ulrich Füetrers, hrsg. von Friedrich Panzer, Tübingen 1902, CXXVII; vgl. Wahl (wie Anm. 10), 36. 20 Für Kenner des Tandareis dürfte der erzählerische Bruch umso deutlicher sein, als der Pleier dort das Raubriesenmotiv schemagerecht erfüllt hat; vgl. Kern (wie Anm. 7), 295–311, und Reich (wie Anm. 3), 131. 21 Vgl. Ingrid Strasser, »Das Ende der Aventiure. Erzählen und Erzählstruktur im Garel des Pleier«, in: Paola Schulze-Belli, Michael Dallapiazza (Hrsg.), Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1988, Göppingen 1990 (GAG 532), 133–150, hier: 140; Wahl (wie Anm. 10), 244. 22 Vgl. dazu ausführlich Reich (wie Anm. 3), 133–137. 23 Es »besteht wohl kein Zweifel, daß der Pleier [...] für den ersten Teil dieser Geschichte den Lai de Grælant oder eine verwandte Darstellung der Gralantsage benutzt hat«; Hans-Friedrich Rosenfeld, »Zum Pleier«, Neophilologus 15 (1930), 34–39, hier: 34; »Das einleitende Motiv [des Meleranz], die badende Dame, ist der Gralantsage entnommen, die in einem französischen Lai (einer kurzen Versnovelle) behandelt war und auf ein Nixenmärchenmotiv zurückgeht«; Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Zweiter Teil: Die Mittelhochdeutsche Literatur, Schlussband, München 1966 (Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen 6/2, 2, 2), 60; vgl. außerdem Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), 564; Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, 230. 24 Die Grælant-Zitate folgen der Ausgabe: »C’est le lay de Graalent«, in: Tobin O’Hara, Mary Prudence (Hrsg.), Les Lais anonymes des XIIe et XIIIe siècles. Édition critique de quelques lais

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statt der Jungfrau das Kleid zu stehlen und sie so zu zwingen, nackt aus dem Bad zu steigen, muss der schüchterne Meleranz von der Frau geradezu aufgefordert werden, ihren Mantel herbeizubringen (V. 810–812). Und statt die Dame zu vergewaltigen, wovor etwa Grælant keine Scheu hat,25 bewacht der junge Meleranz die vor ihm lasziv hin drapiert schlafende Tydomîe (V. 827–881). Die Szene ist dabei so gestaltet, dass »die Vorlage – als Kontrastfolie – erkennbar bleibt«:26 Der Pleier führt seinen Romanhelden in eine Lage, die der Situation Grælents äußerst ähnlich ist, läßt ihn aber genau entgegengesetzt reagieren. […] Das Schwanjungfrauenmotiv 27 ist also geradezu umgestülpt.

Dadurch entstehen fortwährend komische Effekte, wenn ausgerechnet der friedliche Meleranz für einen »roubære« (V. 749) gehalten wird28 oder wenn er »bliuclîchen« (V. 914) neben Tydomîes Bett steht und die Mücken von ihrem hocherotischen Körper vertreibt (V. 831f.). Aber abgesehen von dieser Komik wird auch ganz ernsthaft ein neues Heldenbild verhandelt, denn Meleranz wirkt weniger ungeschickt als wohlgesittet. Vor der Folie des SchwanjungfrauenErzählschemas wird Meleranz als neuer Heldentypus etabliert, der nicht mehr primär seine Männlichkeit als Kriegerheld demonstriert, sondern sich höfisch vollkommen verhält, und der – trotz der deutlichen erotischen Affizierung29 – || Bretons, Genf 1976, 96–125; eine Übersetzung findet sich in Grælent, übers. von Eugene Mason, Cambridge/Ontario 2001. 25 »e bien entent que par proiiere / ne fera point de son plaisir, / n’il ne s’en veut ensi partir. / En l’espece de la forest / a fait de li ce que li plest« (V. 278–282). 26 Kern (wie Anm. 7), 281. 27 Ebd., 184. 28 Dies kann als Anspielung auf den Grælant (oder eine vergleichbare Vorlage) gelesen werden, da sich das mhd. Wort (rê-)roup nicht unbedingt auf den Diebstahl von äußeren Gütern bezieht, sondern Vergewaltigung und andere Gewalt einschließen kann (vgl. engl. ›to rape‹). 29 Die Erotik der Szene betonen Carsten Morsch, »Bewegte Betrachter. Kinästhetische Erfahrung im Schauraum mittelalterlicher Texte«, in: Christina Lechtermann, Carsten Morsch (Hrsg.), Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Bern u. a. 2004 (Publikationen zur ZfG NF 8), 45–72, hier: 60, Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin 2003 (TMP 3), 239, und Moritz Wedell, »Gaben aus der Wildnis. Ihre semiotische Ambiguität und die Umdeutung des arthurischen Erzählens zum Minne- und Aventiureroman im Meleranz von dem Pleier«, in: Margreth Egidi u. a. (Hrsg.), Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), 255–279, hier: 271–273. Dagegen: Gernot Schweifer, Die Rolle der Frau im ›Meleranz‹ im Vergleich zu Hartmanns ›Gregorius‹, ›Iwein‹ und ›Erec‹, Diss. masch. Wien 1993, 99; Knapp (wie Anm. 23), 565.

246 | Björn Reich seine Begierden und Affekte unter Kontrolle hat.30 Er »besteht die Probe unter Qualen, doch tadellos«.31 Während Grælant seine Virilität und Dominanz unter Beweis stellt,32 ist Meleranz ein selbstdomestizierter künftiger Herrscher. Auch hier verwendet der Pleier ein Erzählschema, bürstet es aber sozusagen gegen den Strich, macht so aus dem virilen Krieger einen besonnenen Herrscher und nutzt den Bruch mit dem Schema, um neue Wertvorstellungen zu etablieren.

3 Bis zum Äußersten – Tandareis und Flordibel Im Tandareis und Flordibel verwendet der Pleier ein anderes Erzählverfahren.33 Statt die Erzählmuster radikal umzukehren, verhält er sich hier regelkonformer, neigt aber dazu, die gängigen Schemata signifikant zu übersteigern. Auch hierfür seien zunächst Beispiele genannt. Als die junge Flordibel an den Artushof kommt, erbittet sie sich von Artus ein Blankoversprechen, das ihr dieser trotz der Warnungen Keies zugesteht,34

|| 30 Dass Selbstbeherrschung grundlegend für richtige Herrschaft ist, wird in der mittelalterlichen Moraldidaxe immer wieder betont; vgl. Ingrid Hahn, »Kosmologie und Zahl. Zum Prolog des Jüngeren Titurel«, in: Klaus Grubmüller u. a. (Hrsg.), Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, München 1984 (MMS 51), 149f.; Rüdiger Schnell, »Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter«, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1999, 103– 133, hier: 115–118. 31 Wedell (wie Anm. 29), 271. 32 In beiden Texten wird der Held auf die Probe gestellt. Im Grælant angedeutet durch die Worte »por vous ving jou a la fontainn« (V. 315), im Meleranz betont Tydomîe: »sô wil ich dir die wârheit sagen / und wil dich der niht verdagen: / wan ich dich versuochet hân / ich hiez mîn frowen von dir gân, / daz ich gewünne künde / wie dîn dinc stüende« (V. 1069–74); vgl. Neil Thomas, The Defence of Camelot. Ideology and Intertextuality in the ›Post-Classical‹ German Romances of the Matter of Britain Cycle, Bern u. a. 1992 (DLAS 14), 49f. Man wird nicht umhin können hinzuzufügen, dass ein Vortragender die Stimmung der ohnehin komischerotischen Szene durch Gestik oder Betonung verstärken konnte, da dinc bekanntlich als ›männliches Geschlechtsorgan‹ übersetzbar ist. 33 Zitierte Ausgabe: Der Pleier, Tandareis und Flordibel. Ein Höfischer Roman von dem Pleiære, hrsg. von Ferdinand Khull, Graz 1885. 34 Zum rash-boon-Motiv im Tandareis vgl. Der altčechische ›Tandarius‹, nach den 3 überlieferten Handschriften mit Einleitung und Wortregister, unter Beifügung der mhd. Paralleltexte hrsg. und übers., mit Einleitung und Wortregister versehen von Ulrich Bamborschke, Wiesbaden 1982, 105f.; Heiko Fiedler-Rauer, Arthurische Verhandlungen. Spielregeln der Gewalt in Pleiers Artusromanen ›Garel vom blühenden Tal‹ und ›Tandareis und Flordibel‹, Heidelberg 2003, 160–164; sowie allgemein Richard Firth Green, ›Rash Promises‹. A Crisis of Truth: Litera-

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auch wenn Artus offenkundig aus früheren Fehlern gelernt hat und mehrfach versichert, er würde nur eine Bitte gewähren, wenn sie bescheidenlîch sei.35 Flordibel wünscht sich daraufhin, dass Artus jeden töten lasse, der ihre Minne begehre. Dieses Minnebegehren erwächst aus dem Frauendienst, das Königswort dient als eine Art Schutzwall vor Frauenrittern wie z. B. Gawan, der eben aufgrund seiner Dienstbereitschaft den Frauen gegenüber nicht als ›Diener‹ für Flordibel in Frage kommt: hêr Gâwân, ich weiz wol daz ir sît so hübesch, daz ir niht lât, swie ez iu dar umbe ergât, ir dient ir umbe ir minne solt[.] (V. 598–602) Herr Gawan, ich weiß wohl, dass ihr so höfisch seid, dass ihr es nicht lassen könnt, mag es euch deswegen gut oder schlecht ergehen, um ihren Minnesold zu dienen.

Ein solcher Frauendienst ist eigentlich nicht verwerflich, sondern Höfischkeit, und genau so wird Gâwâns Verhalten auch bezeichnet (»ir sît so hübesch«). Das heißt aber, dass prinzipiell keiner der Artusritter für die Aufgabe Flordibel zu dienen in Frage kommt, weil sich alle Artusritter per se höfisch verhalten und daher vom Frauendienst gar nicht lassen können, sei er auch noch so gefährlich. Einen Ausweg bietet lediglich der junge, noch unschuldige Tandareis. Zehn Jahre geht diese Lösung gut (V. 741), bis schließlich auch Tandareis zum erwachsenen Mann und vollwertigen Ritter herangereift ist. Nichts an diesem rash-boon-Motiv ist ungewöhnlich. Zwar wird Keies Warnung vor dem Versprechen auffällig lange ausgeführt, aber da der Pleier ohnehin zur Weitschweifigkeit neigt, wird man daraus kaum eine besondere Stellung dieses arthurischen Blankoversprechens gegenüber anderen ableiten wollen. Auch dass ein solches Versprechen zu den Hof bedrohenden Problemen führt, ist üblich, das Schema wird regelkonform gefüllt. Und doch: Selten geht eine || ture and Law in Ricardian England, Pennsylvania 2002; Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 10), 162; Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor: Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca u. a. 1992, 55; Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. ›Erec‹, ›Iwein‹, ›Parzival‹, München 1975, 85. 35 »der künec sprach ›ich wil ir ger / unde ir bete sîn gewer, / kan si bescheidenlîchen gern.‹ / Kei sprach ›daz ist guot. / nû sehet daz ir rehte tuot! / ir sît so dicke betrogen / unt iwer gâbe alsô erzogen, / daz ir iuch sult bedenken ê, / daz iwer gewer niht ergê / als iu ouch zeime mâl geschach / dô man die maget komen sach / diu iu den mantel brâhte, / dâ mit si uns gedâhte / ze lastern alle gelîche.‹ / dô sprach der künec rîche / ›swes diu maget an mich gert / bescheidenlîch si wirt gewert‹« (V. 364–380).

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rash-boon-Bitte derartig schief – und zwar für alle Beteiligten. Wenn Artus z. B. im Chevalier de la charrette auf Grund seines Blankoversprechens Méléagant seine Frau Ginover verspricht, so gerät auch hier der Artushof in Bedrängnis, aber immerhin hat Méléagant das, was er wollte (V. 31–198).36 Im Tandareis hingegen geht die Sache für alle Beteiligten schlecht aus: Flordibel verliebt sich in Tandareis,37 aber durch ihre Bitte hat sie sich selbst den Weg zu dieser Minne verstellt. Als die beiden heimlich fliehen, bleibt Artus nichts anderes übrig, als Tandareis zu verfolgen und die Burg seines Vaters zu belagern. Es kommt zum Krieg.38 Alles läuft gesittet ab – Tandareis verschont die von ihm besiegten Ritter und gibt sie umgehend wieder frei (vgl. V. 2370 oder 2989); das Fatale aber ist, dass Artus dennoch nicht einlenken kann, da er an sein Versprechen gebunden ist: »unt wære Tandareis mîn kint, / ich bræch durch in niht mînen eit« (V. 3222f.). Nur aufgrund der noch unversehrten Jungfräulichkeit Flordibels und der Vermittlung zahlreicher Personen, kann, wie Heiko Fiedler-Rauer ausführlich gezeigt hat, die Todesstrafe für Tandareis in eine Verbannung abgewandelt werden.39 Dabei will eigentlich niemand diesen Krieg: Artus nicht, weil er seinen Neffen schätzt, was er immer wieder betont (z. B. »mir tæte verre baz / daz ich im dienet unt er mir«; V. 1840f.),40 Flordibel nicht, weil sie Tandareis liebt, und Tandareis am allerwenigsten. Trotzdem bleiben alle Parteien dem gegebenen Königswort unterworfen: Das Schema entwickelt eine Fatalität, die so deutlich werden lässt wie nie zuvor, dass der Artushof an seinen eigenen Regeln und ihrer Befolgung, mithin also an seiner eigenen Idealität zu Grunde gehen wird.41 Das an sich immer schon auf eine Krise des Hofes verweisende || 36 Chrétien de Troyes, Le Chevalier de la Charrette (Lancelot), hrsg. von Alfred Foulet und Karl David Uitti, Paris 1989. 37 Vgl. Cormeau (wie Anm. 10), 43. 38 Der Endkampf des Artushofes, bei dem sich die beiden Hauptsippen des Hofes gegeneinander wenden, scheint hier vorweggenommen, denn auch im Kriegszug gegen Tandernas stehen sich Artusritter als Feinde gegenüber; der Untergang des Artushofes, der diesem inhärent ist und den es von Roman zu Roman immer wieder zu verhindern gilt, ist hier so nah wie selten zuvor; siehe Anm. 41. 39 Vgl.Fiedler-Rauer (wie Anm. 34). 40 Gürttler (wie Anm. 7), 256f., sieht in Artus’ zorn einen negativen Charakterzug des Königs; dagegen betont Fiedler-Rauer (wie Anm. 34), 173–181, mit Bezug auf die Studien Althoffs die politische Notwendigkeit dieses zorns; vgl. Gerd Althoff, »Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation«, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien 17), 239–252; ders., »Empörung, Tränen, Zerknirschung; ›Emotionen‹ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters«, Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), 60–79. 41 Vgl. Erich Köhler, »König Artus und sein Reich. Geschichtliche Wirklichkeit und ritterliches Wunschbild«, in: ders., Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen

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rash-boon-Motiv wird hier auf die Spitze getrieben und übersteigert, indem alle Figuren in eine geradezu ausweglose Situation geführt werden. Auch in der zweiten Texthälfte arbeitet der Pleier mit der Übersteigerung eines Erzählschemas. Nachdem Tandareis Malmontan befreit hat, bricht er zu einer langen Aventürefahrt auf, in deren Verlauf er drei Frauen begegnet: Albiûn, Klaudîn und Antonîe. Während er die ersten beiden aus der Gewalt allzu minneversessener Männer befreit, befindet sich in der letzten Episode Tandareis in Gefangenschaft und wird von Antonîe gerettet. Obwohl er bei seinem Aufbruch vom Artushof Flordibel versprochen hatte, ihr immer treu zu bleiben,42 sammelt er Frauen wie der wîpsælige Lanzelet. Zwar fällt dabei nichts Unsittliches vor, aber dennoch treten die Frauen, die sehr bald die Lust verraten ihn zum Manne zu nehmen, oder ihm wegen seiner Verdienste um sie Hand und Land antragen, oder gar als Preis für seine siegreiche Tapferkeit 43 aufgestellt werden,

hier sehr offensiv auf. Sie alle melden Ansprüche auf den Helden an – sozusagen aufgrund eines gängigen Erzählschemas, auf das sie sich ›unwissentlich‹ berufen. Denn wie oft kommt es nicht vor, dass ein Artusritter eine Frau befreit oder – seltener – von ihr befreit wird und daraufhin die Dame minnt. Dieses ›Befreiuungsschema‹ sieht durchaus vor, dass Befreier und Befreite bzw. Befreierin und Befreiter liebend zusammenkommen, auch wenn dies natürlich nicht immer geschieht, da Artusritter viel zu viele Frauen retten, um mit allen eine Minnebeziehung einzugehen. Die Nichterfüllung bzw. unvollständige Erfüllung

|| Artus- und Graldichtung, Tübingen 21970, 5–36, hier: 22; Katharina Philipowski, Björn Reich, »Feen als Erzählfunktionen: Wie der Artusroman gegen sein Scheitern anerzählt«, in: Martin Przybilski, Nikolaus Ruge (Hrsg.), Fiktionalität im Artusroman des 13. bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven, Wiesbaden 2013 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 9), 133–154, hier: 146; Reich (wie Anm. 3), 97–102; Scheuer (wie Anm. 9), 44; Hans Jürgen Scheuer, Farbige Verhältnisse. Zur Topik kultureller und literarischer Farbkonzeption in Texten des 12.–14. Jahrhunderts und bei Heinrich von Kleist, Habil. masch., Göttingen 2000, 111, sowie Joerg O. Fichte, »Telling the End: Arthur’s Death«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Erzählstrukturen in der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999 [SIA 4], 275–290, hier: 275. 42 »[...] ouch swuor ir des der werde man / er wolde alle vröude lân / die wîle er von ir wære / und daz er gar verbære / gewerf nâch andern wîben, / er wolde stæte blîben / mit triwen an der schœnen maget« (V. 3849–55). 43 Franz V. Zillner, »Ein salzburgischer Dichter des 13. Jahrhunderts«, Mittheilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 33 (1893), 1–26, hier: 19.

250 | Björn Reich des Schemas ist in der Regel kein Problem44 – im Tandareis aber durchaus.45 Der Pleier führt vor, was passiert, wenn die befreiten und befreienden Damen ihre erzählschematisch bestehenden Ansprüche plötzlich einfordern, so dass der Held erneut vor Gericht landet. Keine der drei Damen will auf Tandareis verzichten. Bei der Klärung des Falls geht es um das Abwägen verschiedener Minnemodelle, die in der Gerichtsverhandlung diskutiert werden. Während Morolt als Fürsprecher Klaudîns auf ihre Befreiung und den Schmerz, den sie an Tandareis’ Seite erlitten hat, verweist,46 vertritt Antonîe selbstbewusst ihren Standpunkt als seine Retterin.47 Zuletzt erinnert Gawan im Auftrag Flordibels an deren lang andauernde Treue48 – sie entspricht damit dem vom Erzähler im Prolog als wichtigste Grundlage der Minne postulierten Prinzip der stæte.49 Der Streit|| 44 Sie tritt sogar so häufig auf, dass Seidl (wie Anm. 15), 27, von der »gewöhnlichen BefreitenVerschmähung« spricht. 45 Bei Albiun wird das noch nicht zum Problem. Zwar meldet sie Interesse an einer möglichen Verheiratung an, was durch ihren ganzen Hofstaat unterstützt wird (V. 9951f. und 10035–40), aber Tandareis’ Weigerung und sein Aufbruch von Albiûn wird unproblematisiert hingenommen. 46 »mit zühten er do saget / wie er erlôste die maget / von dem grâven Kalubîn / unt daz si vil hôhen pîn / enpfie von herzenleide / ûf der grüenen heide / dâ in bestuont Kandaliôn« (V. 15962–68). 47 »von êrst si sagen dô began / wie si den degen mære / zôch ûz dem kärkære / unt wie si an den stunden / im heilte sîne wunden / unt wie si in dar nâch sande / vil gar ân alle schande / in ir dienst gên Lover in daz lant / [...] ich behielt im daz leben sîn, / er sol von rehte wesen mîn« (V. 16005–12 und 16030f.). 48 »er sol von der schœnen jehen / stæt mit triwen âne wenken / unt sîne triwe an ir niht krenken« (V. 16122–24). 49 Z. B.: »swelh ân valsches herzen wanc / kunde triwen walten / die solde ein man behalten / mit guoten triwen immer / unt ir gewenken nimmer / mit dienste unz an sîn ende« (V. 70–75). Im Übrigen dient die Geschichte von Tandareis und Flordibel insgesamt dazu, vor voreiliger Liebe zu warnen. Bereits im Prolog mahnt der Pleier, allzu stürmischen Empfindungen nicht nachzugeben: »dem zallen dingen ist ze gâch / mit liebe oder mit zorne / der ist der verlorne. / wil er mit zorne gæhe sîn, / daz habet ûf die triuwe mîn / dâ von verliust er vröuden vil. / swer aber mit der liebe wil / sîn ze gæhe, dêst niht guot« (V. 6–13). Im Folgenden entwickelt der Pleier aus diesem Grundgedanken heraus seine Erzählung. Tandareis und Flordibel sind mit ihrer Liebe zu gæhe – Hals über Kopf fliehen sie vom Artushof (eine unnötige Überstürzung, da zu diesem Zeitpunkt noch nichts vorgefallen ist, was den zorn des Königs hätte auslösen müssen). Allzu gæhe liebe zieht aber, so will es die Spielregel, ebenso gæhen zorn nach sich: Und so lässt sich Artus’ zorn auch als ein schlichtes Kippen der Wertebalance verstehen, bei dem auf die gæhe liebe unweigerlich der gæhe zorn folgt; vgl. Karl Bünte, Beiträge zur Sittengeschichte aus ›Tandareis und Flordibel‹, Kiel 1893, 57. Später begegnet Tandareis auf seiner Aventürefahrt ausschließlich Paaren (oder Einzelfiguren), die sich durch aufbrausenden übergroßen Zorn (die Riesen, V. 5764–6727; Kandaljon, V. 10865f.) oder ebenso übergroße Liebe (Antonîe, V. 11935–60) auszeichnen.

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fall lässt sich zunächst nicht entscheiden:50 »Die Urteiler sind uneins [...]. Augenscheinlich hat jede der drei Frauen das Recht auf ihrer Seite«.51 Die Lösung, die darin besteht, dass der Held seiner Neigung gemäß entscheiden darf und Flordibel wählt, ist keineswegs banal.52 Insbesondere im Fall von Antonîe, die ja den drohenden Tod durch ihren Bruder auf sich genommen hat, sind die Ansprüche auf den Helden nicht unbegründet. Die Situation ist eine durchaus prekäre und erfordert »ein umsichtiges Konfliktmanagement«.53 Die sofort nach der Entscheidung erfolgende Brautgabe der übrig gebliebenen Damen an geeignete Männer ist keineswegs ein Zeichen für das »gute Herz des Pleiers«,54 sondern unumgänglich, denn die Oheime der nicht vergebenen Damen stehen bereits drohend im Hintergrund. Cormeau hat den Tandareis als »poetologische Reflexion über Liebe im Artusroman«55 verstanden; die Minnethematik bilde das zentrale Element dieses Romans.56 Der Text wird von Anfang an exzeptionell als Minneroman gestaltet, etwa indem der Pleier bereits im Prolog die übliche Paarreimstruktur unterbricht und ein Minnelied einflicht57 oder indem er beständig Minneabenteuer || 50 »dâ saz vil manec werder man / vor dem künege rîche; / die retten sumelîche / er solt vrou Flordibeln bestân, / sô ret dâ bî ein ander man / diu den degen lôste von der nôt / dâ er wære gelegen tôt / der solde er ze rehte sîn, / ouch wolde diu maget Claudîn / vil guot reht zu im hân« (V. 16131–39). 51 Fiedler-Rauer (wie Anm. 34), 233f. 52 Vgl. ebd., 234. 53 Ebd., 234. 54 Seidl (wie Anm. 15), 30. 55 Cormeau (wie Anm. 10), 39. 56 Vgl. ebd., 40 und 46. 57 Ich gebe dieses erstaunlicherweise kaum beachtete, die Paarreime unterbrechende und dann wieder nahtlos in diese übergehende Lied hier in voller Länge: »I Reiniu wîp! / iur süezer lîp / der müez immer sælic sîn! / stille [und] offenbâr / got iuch bewar / des wunschet iu daz herze mîn. II Mîn muot stât sô, / daz ich bin vrô, / swâ iu êren iht beschiht. / swer der sî, / leit wone im bî / der mir des geloube niht. III Wan mîn gedanc / ân valschen wanc / ie nâch wîbes hulden / mit triwen ranc. / mîn vröude ist kranc, / daz kumt von einer schulden. IV Diu hât ir zorn / ûf mich gesworn, / des bin ich vröuden âne. / het ich ir gruoz, / mir würde buoz / vil leides sunder wâne. V Vil sælic wîp, / dîn süezer lîp / der muoz mit vröuden alten; / geloube mir / des gan ich dir: / sus kan ich triwen walten. / VI Mir ist niht leit / dîn werdikeit, / wan ich dich mit triwen meine; / des enlâze ich niht, / swaz mir geschiht: / dû bist mir liep alleine / vür elliu wîp die wîle ich lebe. / got mir daz gelücke gebe / daz dir noch wert mîn triwe kunt, / daz mich dîn süezer rôter munt / vor sender nôt enbinde / daz ich werde îngesinde / in dînem herzn, wand dû muost sîn / immer mîns herzen künegîn. / die wîle unt ich mîn leben hân / sô wil ich nimmer abe gestân, / ich wel dir dienen immer. / dâ von geschiede ich nimmer / unt ger doch nihtes mêre / wan daz dû durch dîn êre / mir gelobest daz dû mir bist / liep âne allen valschen list / unt ich dir leides niht engan« (V. 103–155).

252 | Björn Reich aus anderen Artusromanen herbeizitiert.58 So finden sich etwa gleich nach der Albiûn-Episode zahlreiche Verweise auf den Tristan: Schon der Grenzübertritt nach Kurnewâl verlegt das Geschehen auf den Boden des Tristanstoffes – Tandareis reitet explizit durch Markes Gebiet: »Kurnewâl hiez daz lant, / daz wîlen Marken des küneges was« (V. 10155f.). Klaudîn stellt sich dann wohl auch nicht zufällig als die Enkelin Morolts heraus.59 Später wird im Kampf mit Kandaliôns Männern explizit auf Minneprobleme im Erec verwiesen (V. 10781–10800); die anschließende Antonîe-Episode, in der der Held in einem Hungerturm eingesperrt ist, hat, wie Peter Kern ausführlich gezeigt hat, ihre direkte und häufig detailgenaue Entsprechung im Lanzelotstoff.60 Die Geschichte von Tandareis stellt keinen individuellen Spezialfall dar; er repräsentiert den Artusminneritter schlechthin, so dass sich an ihm die Kernprobleme des Hofes widerspiegeln. Er ist als Typus des Minneritters gestaltet;61 durch die zahlreichen intertextuellen Verweise vereinigen sich in ihm die berühmtesten Minneritter des Artushofes in einer Person: Er ist ein zweiter Erec, Tristan und Lancelot. Durch die Exemplarik des Protagonisten und durch die Tatsache, dass gerade typische Handlungsweisen von Artus und seinen Rittern in der Übersteigerung der Erzählschemata in ihrer Krisenhaftigkeit deutlich werden, zeigt sich, wie oben bereits gesagt, sehr deutlich, dass die Artuswelt genau deshalb scheitert, weil sie sich ideal verhält: Weil Artus als idealer Herrscher seine Versprechungen einhält, weil die anderen Artusritter idealerweise höfisch gesittet sind (so dass es unausweichlich zum hier verbotenen Frauendienst kommt), und weil Tandareis ebenfalls dem Ritterideal folgend Frauen befreit und beschützt – || 58 Kern und Cormeau lesen den Tandareis als eine Adaption des (antiken) Liebesromans für die Artuswelt und als dezidierte Auseinandersetzung mit dem Liebeskonzept des Willehalm von Orlens; vgl. Cormeau (wie Anm. 10), 47f., Kern (wie Anm. 7), 232, sowie Fiedler-Rauer (wie Anm. 34), 156; Mertens (wie Anm. 23), 224. 59 »diu maget hiez Claudîn, / si het vil minneclîchen schîn, / ir muoter hiez Angnîe / vor valscheit die vrîe, / ir vater hiez Moralde / von dem schoenen walde« (V. 10722–27). Genau genommen kann es sich nicht um den bekannten Morolt aus dem Tristan handeln, da die chronologische Einordnung durch die Angabe, dass Tinas’ Sohn Lischeiz mittlerweile Herr des Bezirkes geworden ist, die Geschichte eindeutig nach der Handlung im Tristan erfolgen lässt und Morolt damit bereits tot sein müsste. 60 Laut Kern (wie Anm. 7), 253f., sind die »um Montanikluse zentrierten Szenen im Wesentlichen aus Motiven der Lancelot/Lanzelet-Geschichte aufgebaut«. Kern weist darauf hin, dass der Pleier vermutlich sowohl den Karrenritter als auch Ulrichs Lanzelet kannte; möglicherweise auch den Prosalancelot. Zu den literarischen Kenntnissen des Pleier vgl. Kern (wie Anm. 7), 32. 61 Der Name Tandareis dürfte vermutlich kaum auf das Griechische zurückgehen; vgl. dazu Meyer, der allerdings von der Namensform Tandarios ausgeht: Elard Hugo Meyer, »Über Tandarios und Flordibel. Ein Artusgedicht des Pleiers«, ZfdA 12 (1865), 470–514, hier: 482; eher dürfte er auf den Minneausruf ›Tandaradei‹ verweisen.

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genau deshalb gerät die Geschichte immer wieder außer Kontrolle. Der Artushof droht fortwährend an seiner eigenen Idealität zu zerbrechen. Das ist an sich weder ungewöhnlich noch neu und lässt sich ausgehend vom Erec so in fast jedem Artusroman als Problem wiederfinden.62 Erwähnenswert ist es hier jedoch deshalb, weil gerade der angeblich Norm-restitutive Pleier, der scheinbar an einer heilen Artuswelt festhält,63 die Unverbrüchlichkeit der arthurischen Werte z. T. recht radikal hinterfragt. Er tut dies durch seinen Umgang mit Erzählschemata, die er mal überzeichnet (Tandareis), mal bricht (Meleranz).

4 Provokatoren des Hofes? Wie der mittelalterliche Rezipient auf die Pleier’schen Texte reagierte, lässt sich natürlich nicht sagen. Die Schemabrüche im Meleranz oder die auf die Spitze getriebenen Erzählschemata im Tandareis mögen bei ihm zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit geführt haben, die ihn zu einer Reflexion der arthurischen Werte provozierte, sie könnten aber als intertextuelles Spiel auch lediglich seiner Belustigung gedient haben. Dennoch: Texte sind prinzipiell auf verschiedenen Ebenen rezipierbar, und die Annahme, dass der Umgang mit den Erzählschemata zur Reflexion anregen sollte, ist plausibel, da die Engführung von Schemabruch und Wertediskussion keine Pleier-spezifische Eigenheit ist. Sie ist nicht einmal typisch arthurisch: Wenn etwa Dietrich und Witege im Laurin den Rosengarten des Zwerges niedertrampeln, anstatt sich an die Aventürevorgaben zu halten und schlicht den (den Garten umspannenden) Seidenfaden zu durchtrennen, wird auch dort durch das gebrochene Erzählschema der Rezipient zu einer Wertereflexion provoziert.64 Wozu aber dann all diese Überlegungen zum Pleier? Vielleicht deshalb, weil sich bei einem Querschnitt durch die Pleier’schen Werke sehr schön zeigt, inwiefern das Maß der Schemaabweichung und die daraus resultierende (potentielle) Provokation des Rezipienten zusammenhängen und wie es mit der provozierenden Kraft des Helden innerhalb des Romans zusammenfällt: Vergleicht man Garel, Tandareis und Meleranz, so zeigt, sich, dass die zunehmende Radikalität, mit der der Pleier arthurische Erzählmuster umdeutet, mit der Stellung des jeweiligen Protagonisten zum

|| 62 Siehe Anm. 41. 63 So etwa Gürttler (wie Anm. 7), 249: Beim Pleier ist »die Artuswelt [...] zum paradigmatischen Topos für die gute alte Zeit geworden, in der alles noch seine Richtigkeit hatte.« 64 Zum Laurin vgl. Björn Reich, »Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im Laurin«, ZfG NF 23 (2013), 487–498, v. a. 491–493.

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Artushof und seiner zunehmenden Distanzierung von diesem Hof korreliert. Im Garel werden die Erzählschemata relativ problemlos behandelt; so ist auch Garel ein weitgehend problemloser Held. Glaubt man der Forschung, dann hat der Pleier im Garel versucht, den Daniel von dem Blühenden Tal zu re-arthurisieren, und so lässt sich auch sein Protagonist noch als ein Bewahrer des Hofgefüges und Restituent der arthurischen Ordnung verstehen.65 Tandareis und Meleranz aber sind keine Stabilisatoren der Artuswelt mehr, sondern eher so etwas wie stille Provokatoren derselben. Sie treten zunehmend als alternative Herrscher auf, als niuwe Artûse,66 die ihre Herrschaft zwar noch im Rückbezug auf, doch nicht mehr in Abhängigkeit von dem an sich maroden, weil aus sich selbst heraus zum Untergang verurteilten Artushof begründen. Bei Tandareis ist das noch wenig deutlich. Man kann hier nicht von echten Schemabrüchen oder -umkehrungen wie beim Meleranz sprechen – und so kommt es auch noch nicht zu einem radikalen Bruch mit den arthurischen Heldenbildern und ihren Werten. Dennoch lässt sich ein deutlicher Konnex zwischen dem Umgang mit den Erzählschemata und den arthurischen Werten erkennen. So, wie sich im Tandareis die Erzählschemata übersteigern und übererfüllen (im ersten Teil das rashboon-Motiv, im zweiten Teil das ›Befreiungsschema‹), so übererfüllt der Protagonist zuletzt das arthurische Ideal, indem er Artus als Herrscher überbietet. So heißt es etwa von seiner Freigiebigkeit als der klassisch arthurischen Herrschertugend: »dem künege Artûse / sölher milte wær ze vil« (V. 7950f.). Im Meleranz, wo die Erzählschemata deutlich gebrochen werden, bricht auch der Held mehr oder weniger mit der Artuswelt. Zwar besteht weiterhin ein gutes Verhältnis des Helden zu seinem Oheim, aber hier ist es zuletzt Meleranz, der zum Hoffest geladen hat, an dem Artus als ein Gast neben anderen auftaucht; und die Ratschläge für eine künftige Herrschaft erhält Meleranz zuletzt nicht mehr von Artus, sondern vom französischen König (V. 12614–30).67

|| 65 Dass dies eine nicht ganz unproblematische Deutung ist, habe ich bereits oben angedeutet. Mir fehlt indessen hier der Raum, um ausführlicher auf den Garel eingehen zu können; vgl. dazu Reich (wie Anm. 7). 66 Dass es insbesondere im Tandareis in besonderem Maße um die Artusnachfolge geht, zeigt sich vielleicht auch darin, dass die Blankenheimhandschrift k den Text »Von künig // Artus Sohn« betitelt; vgl. Bartsch (wie Anm. 12), 376; Peter Kern, »Eine Handschrift von Pleiers Tandarios und Flordibel im historischen Archiv der Stadt Köln«, ZfdA 104 (1975), 41–54, hier: 44; Steffen (wie Anm. 12), XXI; Riordan hält dies für einen schlichten Schreibfehler; vgl. John Lancaster Riordan, »A Vindication of the Pleier«, Journal of English and German Philology 47 (1948), 29–43. 67 Vgl. Wahl (wie Anm. 10), 97; vgl. dazu sowie zu den frankophilen Tendenzen des Pleier auch Reich (wie Anm. 3), 128f. und 156–159.

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Man wird vielleicht nicht unbedingt annehmen müssen, dass der Zusammenhang von narrativer Provokation und ›provozierendem Protagonisten‹ eine Eigenart des Pleier ist, wenn sich auch an seinen Werken sehr schön eine zunehmende Emanzipation seiner Helden von der Artuswelt beobachten lässt. Ähnliches gilt vermutlich für fast alle sogenannten ›nachklassischen‹ Artusromane. Aber vielleicht könnte man – und dies wäre weiter zu prüfen – mit einem Seitenblick auf den Daniel oder den Gauriel vorsichtig die These aufstellen, dass, je unkonventioneller und radikaler mit Erzählschemata verfahren wird, desto stärker auch die Protagonisten in Opposition zum Artushof und dem arthurischen Ideal treten.

| III. Parodie

Matthias Däumer

Das Lachen des verbitterten Idealisten Parodie und Satire im Widuwilt Abstract: Is Wigalois the most pious knight at Arthur’s court – or is he simply naive? Can the monstrous mother of a giant be seen as the signifier for an interreligious ideal? Is there a tradition of anti-Christian satire in West-Yiddish literature that functionalizes Arthurian narration? Taking ›parody‹ and ›satire‹ as two substantially different modes of (poetic) discourse, this paper analyses the Jewish novel Widuwilt not as an adaptation of Wirnt’s famous romance but as a polemic and idealistic work in its own right.

1 Von Parodie und Satire ›Satire‹ und ›Parodie‹: Auf den ersten Blick gehen sie harmonisch miteinander einher. Doch bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass diese Begriffe ein literaturtheoretisches Problem darstellen, da weder klar zu definieren ist, ob es sich bei ihnen um Bezeichnungen von Stilarten oder Genres handelt, noch in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.1 Im Folgenden sollen aus diesem Grund möglichst einfache und eindeutige Bestimmungen vorgenommen werden, nicht um die Begriffe (theoretisch) als Instrumentarium zu schärfen, sondern um (texthermeneutisch) einen bestimmten Wechsel nachzeichnen zu können, der die Intention des westjiddischen Artusromans Widuwilt und das Verhältnis zu seiner Vorlage, dem Wigalois Wirnts von Grafenberg, näher bestimmt. ›Parodie‹ soll zu diesem Zweck in Anlehnung an Genette2 bestimmt sein als ein durch und durch intertextuell-spielerisches Phänomen, eine Schreibart, die den Text in Dialog zu einem früheren setzt und deshalb auch nur eingedenk || 1 Vgl. z. B. Gero von Wilpert, Art. »Literatursatire«, »Parodie« und »Satire«, in: ders., Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 61979, 470f., 585–587 und 714–717. Wilpert nimmt als dritte Größe die ›Literatursatire‹ mit hinzu; definitorisch klärt er die Unterschiede jedoch nicht, sondern arbeitet mit einer Art ›Generationsmodell‹ (vgl. ebd., 585) und teils willkürlich wirkenden literaturgeschichtlichen Zuweisungen. Vgl. auch Burkhard Meyer-Sickendiek, Art. »Satire«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, 447–469. 2 Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, v. a. die Kategorisierung der hypertextuellen Verfahren: 32–47.

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dieser dialogischen Struktur funktionieren kann. Die Beziehung der Parodie zu ihrem Hypotext kann im gleichen Atemzug lästerlich wie anerkennend sein; die Parodie gleicht somit eher dem Scherz als der engagierten Kritik. Angesichts des graduell hoch-intertextuellen Charakters der mittelalterlichen Literatur muss der Begriff ›Parodie‹ mediävistisch äußerst weitläufig geraten.3 Doch so diffus ›Parodie‹ im mediävistischen Gebrauch auch ausfällt – ›Satire‹ beschreibt stets eine ihrer Grenzen. Sie ist im Gegensatz zur Parodie nicht intertextuell, sondern bezieht sich auf das Außertextuelle. Dieses fokussiert sie durch explizite Kritik, welche zugleich ein Ideal impliziert, oder wie Schiller schreibt: Satyrisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in der Wirkung auf das Gemüt kommt beides auf eins hinaus) zu seinem Gegenstande macht. [...] In der Satyre wird die Wirklichkeit als Mangel, dem Ideal als der höchsten Realität gegenüber gestellt. Es ist übrigens gar nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; dies 4 muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken.

Für Schiller ist es die implizite Berufung auf ein Ideal, welche die Satire von einer Schmähschrift oder auch einer Parodie unterscheidet. Der intertextuelle Charakter der letzteren bewirkt, dass der Hypotext in der parodistischen Geste sowohl persifliert wie geehrt wird; somit kommt es zu keiner Gegenüberstellung des Ist-Zustands mit einem impliziten und erst recht keinem außertextuellen Ideal. Das poetische Potenzial der Satire bestimmt auch Hegel, ebenso wie ihre schmerzhafte Wirkweise. Anhand römischer Texte bezieht er sich jedoch weniger auf deren Wesen als auf die Haltung des Satirikers. Nach ihm ist es die prosaische Auflösung des Ideals [...], welche sich im Satirischen kundgibt [...]. Poetischer kann diese an sich selbst prosaische Kunstform nur werden, insofern sie uns die verderbte

|| 3 ›Parodie‹ stellt somit eine spezielle Lesart des intertextuellen Schreibens oder der intertextuellen Rezeption dar, beides Vorgänge, welche zu den Grundzügen des mittelalterlichen Erzählens gehören. Aufgrund dieser grundlegenden Eigenschaft ist auch der von Friedrich Wolfzettel (in diesem Band) beschriebene inflationäre Gebrauch des Begriffs ›Parodie‹ zu erklären. Wolfzettel stellt zu Recht fest, dass der Begriff kaum noch analytisches Beschreibungspotenzial besitzt, weswegen der vorliegende Beitrag auch versucht, nicht die ›Parodie‹, sondern vielmehr eine ihrer Grenzen, die zum Bereich der ›Satire‹, zu beschreiben; vgl. den Beitrag von Friedrich Wolfzettel im vorliegenden Band. 4 Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung«, in: ders., Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, neue vollst. Edition, Frankfurt a. M. (Werke und Briefe in 12 Bänden 8, Bibliothek Deutscher Klassiker 78), 706–810, hier: 740f.

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Gestalt der Wirklichkeit so vor Augen bringt, daß dieses Verderben durch seine eigene Torheit in sich zusammenfällt [...], uns Torheiten schildert, welche, in ihren Mitteln ungeschickt, sich durch sich selber zerstören. [...] [Es] setzt sich die abstrakte Vorstellung des Rechten und der Tugend den Lastern direkt gegenüber, und hier ist es die Verdrießlichkeit, der Ärger, Zorn und Haß, der [...] den Lastern des Tages das Bild der alten Sitten, der alten Freiheit, der Tugenden eines ganz anderen, vergangenen Weltzustandes ohne wahrhafte Hoffnung oder Glauben vorhält, doch dem Wanken, den Wechselfällen, der Not und Gefahr einer schmachvollen Gegenwart nichts als den stoischen Gleichmut und die innere Unerschütterlichkeit einer tugendhaften Gesinnung des Gemüts entgegenzusetzen 5 hat.

Bei Hegel ist die Satire also auch nur insofern poetisch, als sie auf das textuelle Außen abzielt. An der Stelle des eher harmonischen ›Ideals‹ bei Schiller steht bei Hegel jedoch der stoisch hassende Fingerzeig auf eine selbstverschuldete gesellschaftliche Zersetzung. Mit anderen Worten: Satire als poetisches Ventil der Wut und des Schmerzes für diejenigen, die die Hoffnung auf Besserung schon verloren haben. Die implizite Anerkennung, die selbst die lästerlichste Parodie ihrem Hypotext zukommen lässt, einfach nur, i n d e m sie parodiert, steht dieser stoischen Ablehnung konträr entgegen. Angesichts dieser Poetisierung des Sarkastischen wird es wohl niemanden wundern, dass auch Kurt Tucholskys Betrachtung zu einer zeitgenössischen Form der Satire von der parodistischen Haltung Abstand nimmt, die sich mit Hegels Rückblick auf die römische Satire in ihren Grundzügen deckt: Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. [...] Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. [...] [Der Satiriker] heb[t] den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sag[t]: ›Seht!‹ – In Deutschland nennt 6 man dergleichen ›Kraßheit‹.

An der Grenze der Parodie, an der sich der Bezug auf einen Hypotext wandelt zu einem Bezug auf das Außertextuelle, liegt das poetische Potenzial und eine Wirkweise verborgen, die nur durch ihre ›Kraßheit‹ zu kultureller Relevanz gelangen kann. || 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Vorlesungen über Ästhetik. Zweiter Teil. Zweiter Abschnitt. Drittes Kapitel: Die Auflösung der klassischen Form. Drittens: Die Satire«, in: ders., Vorlesung über die Ästhetik II, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970 (Werke in 20 Bänden 14), 121–126, hier: 123–125. 6 Kurt Tucholsky, »Was darf die Satire?«, in: ders., Gesammelte Werke 2, hg. von Mary Gerold Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek b. H. 1975 (Gesammelte Werke in 10 Bänden 2), 42–44, hier: 43.

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2 Von Ghetto und goj Der Protagonist des momentan stark beforschten Wigalois7 ist schon ein besonderer Held – darin sind sich fast alle einig. Im Rahmen der Hauptaventüre, der Befreiung des Landes Korntin, kann ihn das wilde Weib Ruel fangen und gefesselt in eine Höhle werfen, weil der Held aufgrund seiner Höflichkeit zögert, gegen eine Frau sein Schwert zu ziehen. Als Wigalois’ Pferd wiehert, hält das wilde Weib diesen Laut für den eines nahenden Lindwurms, mit dem sie schon lange verfeindet ist, und flieht. Nun muss der Held sich schnell aus seinen Fesseln befreien, bevor seine Gegnerin ihren Irrtum bemerkt. Wie tut er dies? Indem er betet (V. 6204–6483).8 Hier wie auch an anderen Stellen innerhalb der Korntin-Aventüre9 offenbart sich ein schon mehrfach beschriebener Grundzug des Helden:10 seine (tendenziell zunehmende) Frömmigkeit, gepaart mit gottesgläubiger Einfältigkeit, größtenteils präsentiert ohne auch nur einen Anflug von ironischer Distanzhaltung. Nicht Aktion, sondern Hingabe an sein Schicksal errettet, nicht List, sondern fromme Naivität, und die Hilfe bleibt für den erwählten, mit vielen Erlöserprädikaten bedachten miles christianus nie aus: Nachdem Gott Wigalois’ Fesseln gelöst hat, schwört dieser sich jedoch, nie wieder sein Schwert ungezückt zu lassen, wenn ein Ungeheuer (und erst recht ein weibliches), sich ihm nähere.11 Bei einem Blick auf die Rezeption des Romans ist es schon erstaunlich, dass ausgerechnet dieser frommste aller Artusritter der hochmittelalterlichen Versromane (eventuell schon im 14. oder aber erst im 16. Jh.)12 eine Neugestaltung || 7 Forschungsüberblick bei Christoph Fasbender, Der ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg, Eine Einführung, Berlin, New York 2010, v. a. 179–181. 8 Zitierte Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers. und hrsg. von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005, im Folgenden mit der Sigle Wigalois. 9 Z. B. bei der Überwindung des Schwertrads im Anschluss an die Ruel-Episode; vgl. Wigalois, V. 6484–6860. 10 Zum Heldentypus des Wigalois zentral: Stefan Fuchs, Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31). 11 An dieser Stelle wird das Weibliche mit dem Monströsen überkreuzt, dem das christliche Schwert phallisch entgegensteht. Ich werde bezüglich der Widuwilt-Variante dieser Szene auf diese Kontrastierung zurückkommen; siehe Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrages. 12 Eine genaue Datierung der ursprünglichen westjiddischen Fabel ist aufgrund der Überlieferungslage (siehe die folgende Anm.) nicht möglich. Dennoch wird seit der Edition durch Leo Landau und der literaturgeschichtlichen Einordnung durch Max Erik eine Entstehung des Texts im 14. Jh. angenommen; vgl. Leo Landau, Arthurian Legends or the Hebrew-German

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durch die Aschkenasim erfuhr, die Westjiddisch sprechenden Juden im deutschen Sprachgebiet.13 Die Frage, warum ausgerechnet dieser ›Überchrist‹ in die westjiddische Literatur einging, hat die Forschung mehrmals beschäftigt, zumal

|| Rhymed Version of the Legend of King Arthur, Leipzig 1912 (Teutonia 21), und Max Erik, (alias S. Merkin), Geschichte fun der jidischer literatur fun di eltste zajtn bis der haskole-tkufe, Warschau 1928, 111. Der von Erik aufgezeigte mögliche Zusammenhang der Entstehung einer jüdischen Literaturlandschaft im deutschsprachigen Raum mit der Vernichtung nach den Pestjahren um die Mitte des 14. Jh. erscheint auch hinsichtlich der satirischen Aggression des Widuwilt einleuchtend; vgl. Wulf-Otto Dreeßen, »Midraschepik und Bibelepik«, ZfdPh 100 (1981, Sonderheft Jiddisch), 79–97, hier: 88 und 91f. Eine Anspielung auf die judenfreundliche Politik der toskanischen Großherzoge verweist auf das 16. Jh., wurde aber schon mehrfach als Einfügung verstanden; vgl. Christoph Cormeau, »Die jiddische Tradition von Wirnts Wigalois«, LiLi 32, 8 (1978), 28–44, hier: 30. Deshalb muss die von Häberlein als sicher präsentierte Datierung auf das 16. Jh. weiterhin fraglich bleiben; vgl. Bianca Häberlein, »Transformationen religiöser und profaner Motive in Wigalois, Widuwilt und Ammenmärchen«, in: Mathias Herweg, Stefan Keppler-Tasaki (Hrsg.), Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, Berlin, Boston 2012 (TMP 27), 66–86, hier: 68. Ebenso hat sich die direkte Abhängigkeit von Wirnts Wigalois trotz gelegentlicher Gegenstimmen als Forschungskonsens herausgebildet; für einen Zusammenhang mit dem Prosaroman vgl. Wulf-Otto Dreeßen, »Zur Rezeption deutscher epischer Literatur im Altjiddischen. Das Beispiel Wigalois – Artushof«, in: Wolfgang Harms, L. Peter Johnson (Hrsg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, 116–128. Die These, der westjiddische Roman baue auf dem Wigoleis auf, darf aufgrund triftiger Argumente als verworfen gelten; vgl. Cormeau (wie oben), 31–33, und Achim Jaeger, Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdischdeutschen ›Widuwilt‹ (›Artushof‹) und zum ›Wigalois‹ des Wirnt von Grafenberc, Tübingen 2000, 63–72. 13 Der Widuwilt ist in zwei Handschriften der Bibliothek der Carl-von Ossietzky-Universität Hamburg und einer Cambridger Handschrift im Trinity College (alle aus dem 16. Jh.) überliefert. Die Erzählung ist dort in Knittelversen verfasst, und keine der Handschriften ist vollständig. Der erste vollständige Überlieferungsträger ist der Prager Druck, der in den 70er Jahren des 17. Jh. entstand. Der älteste den knittelversigen Handschriften verwandte vollständige Überlieferungsträger ist der Amsterdamer Druck des Josel von Witzenhausen aus dem Jahr 1683. Es folgen gedruckte Prosaversionen, die jedoch nicht zu den entscheidenden Textvarianten zählen. In Anlehnung an die Siglen bei Jaeger werden die verwendeten Textfassungen wie folgt zitiert: Widuwilt A/B : Hs. Hamburg cod. hebr. 289 und Hs. Hamburg cod. hebr. 255. Ausgabe: Arthurian Legends (wie Anm. 12), 16–114. Die Zählung erfolgt nach Seiten- und Zeilennummerierung. Widuwilt C : Hs. Cambridge MS.F.12.44. Ausgabe: Irving Linn, Widuwilt Son of Gawein, PhD Thesis, New York University, Graduate School 1942. Widuwilt F: Johann Christoph Wagenseils Druck (1699) auf Basis des Drucks von Josel von Witzenhausen (1683). Ausgabe: Ritter Widuwilt. Die westjiddische Fassung des Wigalois des Wirnt von Gravenberc, bes. und hrsg. von Siegmund A. Wolf, Bochum 1974 (Sprach- und geschichtswissenschaftliche Texte 1). Die Zählung erfolgt nach Strophen und Versen. Witzenhausens Vorrede wird als Strophe 0 gezählt.

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nicht nur der Widuwilt selbst von einem Interesse an der Wirnt’schen Erzählung zeugt, sondern auch das Auffinden einer Wigalois-Handschrift in jüdischem Besitz.14 Christoph Cormeau schlägt (wahrscheinlich auch hinsichtlich der späteren Bezeichnung des westjiddischen Romans als Ammenmärchen)15 vor, die Überführung des Ritterromans in ein ›spielmännisches‹ Rittermärchen16 als Hauptintention der Bearbeitung zu sehen und stellt somit das Unterhaltungsbedürfnis eines jüdischen Publikums als Intention heraus. Auch Robert G. Warnock verortet den Text als »spielmännisch«,17 d. h. auch er rückt den Unterhaltungscharakter in den Vordergrund und versteht den Text, ausgehend von dem stark ausgebauten Hochzeitsfinale, als eine Gelegenheitsdichtung für ein Hochzeitsfest. Nun ist der Widuwilt auch wirklich eine sehr unterhaltsame und komische Erzählung, dennoch stellen beide Ansätze Reduzierungen des Texts auf die Wirkweisen der Parodie dar und implizieren über die Forschungsfiktion des ›jüdischen Spielmanns‹18 ein spezifisch ›jüdisches‹ Wissen des Bearbeiters. Dies ist eine normative und verknappende Wertung, die (basierend auf dem Klischee einer hebräischen ›Gelehrsamkeit‹) heute noch den literaturwissenschaftlichen

|| 14 »In noch unmittelbare Nähe zu unserem Gegenstand bringt uns eine Wigalois-Handschrift mit dem eingemalten Bild eines bärtigen Kopfs mit Judenhut, vermutlich das Wappen des ehemaligen Besitzers«; Robert G. Warnock, »Wirkabsicht und Bearbeitungstechnik im Altjiddischen Artushof«, ZfdPh 100 (1981, Sonderheft Jiddisch), 98–109, hier: 105; vgl. Werner Fechter, Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung, Frankfurt a. M. 1935, Nachdruck Darmstadt 1972 (Deutsche Forschungen 28), 44 und 55f. Das Wappen des jüdischen Besitzers ist in dem Ausstellungskatalog der Berliner Staatsbibliothek Aderlass und Seelentrost abgedruckt. Hier findet sich auch eine genauere Zuschreibung des Wappens bzw. der Handschrift, die ihre jüdische Herkunft zusätzlich dadurch verrät, dass das Vor- und Nachsatz-Pergament mit einem Talmud-Traktat (Mischna) beschrieben ist: »Als Eigentümer (und möglicher Auftraggeber?) kommt vermutlich der in Landshut ansässige Thomam Jud von Bruckberg (der Jüngere) in Frage (1493 als Hausbesitzer erwähnt). Die konvertierte Familie ist in dem unweit von Landshut gelegenen Dorf Bruckberg über mehrere Generationen belegt«; Renate Schipke, »Wirnt von Grafenberg: Wigalois«, in: Peter Jörg Becker, Eef Overgaauw (Hrsg.), Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, 101–103, hier: 102. 15 Vgl. Vom Koenige Artus und dem bildschoenen Ritter Wieduwilt. Ein Ammenmärchen, Leipzig 1786; dazu zuletzt: Häberlein (wie Anm. 12). 16 Vgl. Cormeau (wie Anm. 12), 41. 17 Vgl. Warnock (wie Anm. 14), 106. 18 Vgl. hierzu die radikale Abrechnung mit dem Konstrukt durch John. A. Howard, »Bemerkungen zu einem Aspekt altjiddischer Literaturgeschichte«, Archiv für das Studium der neueren Sprache und Literatur 215 (1978), 1–20. Gemäßigter: Dreeßen, »Midraschepik« (wie Anm. 12), 80f., 89 und 97.

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Blick auf den Stellenwert jiddischer Dichtung und den kulturwissenschaftlichen Blick auf das städtische Judentum des späten Mittelalters verstellt. Dabei wurde schon mehrfach dargelegt, dass die Denkgröße einer hermetischen und autochthonen Kultur und Literatur für das städtische Judentum vor dem 16. Jh. nicht angemessen ist und die westjiddische Literatur dieser Zeit das Produkt eines regen christlich-jüdischen Austauschs ist.19 Die Klischeeisierung einer per se ›jüdischen‹ und damit andersartigen Kultur führt – so will mir scheinen – auch noch im aktuellen Forschungsfeld zu einer erneuten ideen- und kulturgeschichtliche Ghettoisierung. Einen ersten Ansatz zu der vor diesem Hintergrund dringend notwendigen Neubewertung des Widuwilt stellt die Monographie Achim Jaegers dar. Dessen Hypothese, dass v. a. ein Drang zur Assimilation bzw. Akkulturation im städtischen Judentum das Interesse an dem Roman bedingt habe,20 liefert zumindest eine Alternative zur parodistischen Lesart. Jaeger sieht die assimilatorische Haltung einerseits in der Vorrede des Drucks von 1683 bestätigt.21 Dieser lässt sich die Tendenz auch wirklich ablesen,22 was jedoch nichts über das Interesse des ursprünglichen Bearbeiters an der christlichen Geschichte, sondern nur etwas über die Intention des Druckers verrät. Jaegers inhaltliches Argument

|| 19 »To be sure, even before the establishment of the ghetto as a legal institution in the seventeenth century, the homes and businesses of Jews in Germany and elsewhere in Europe were customarily concentrated in one section of town, but this was also frequently the case with other groups of citizens [...]. Such arrangements were at first more a matter of convenience and privilege than of persecution and discrimination. Nor where they, prior to the sixteenth century, always mandatory. [...] This relative freedom resulted in substantial, professional, commercial, social and cultural contacts between jews and Gentile«; Jerry C. Smith, »Introduction«, in: Elia Levita Bachur’s Bovo-Buch. A Translation of the Old Yiddish Edition of 1541, übers. von dems., Tuscon/Arizona 2003, IX–XXVII, hier: XIVf. 20 »Die Verankerung des jüdischen Artusritters in höchsten adligen Kreisen bringt dabei die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung zum Ausdruck und kommt damit offenbar den (Wunsch-)Vorstellungen einer ambitionierten, sozial hochgestellten jüdischen Rezipientengruppe nach Repräsentation und Legitimation ihres Status entgegen«; Jaeger (wie Anm. 12), 252. 21 Vgl. Widuwilt F, Str. 0. 22 Dort berichtet der Drucker beispielsweise, er habe aufgrund eines Sprichworts, laut dem es »hinen« (V. 11) zugehe wie an König Artus’ Hof, lange nach einem Buch gesucht, welches dies verdeutlichen könnte. Das ›hinen‹ kann nicht die jüdische Gemeinde meinen – warum sollte es bei dieser wie am christlichen Artushof zugehen? Es meint also die dominierende christliche Gesellschaft und empfiehlt somit implizit den jüdischen Rezipienten, am Beispiel der arthurischen Welt christliche Gepflogenheiten zu erlernen. Expliziert wird diese Zielsetzung in V. 31– 33: »mon ken och draus lernen, richtig / reden un schprechen zu alen zeiten / bei hern un ferschten un edelleiten«.

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besteht darin, dass er den Tilgungen christlicher Motive des Originaltexts anzumerken meint, dass der Protagonist der Bearbeitung ein jüdischer Ritter sein solle, der sich in einer christlichen Welt behaupte. Diese These ist jedoch auf äußerst unsicherem Boden gebaut. Nur in der Cambridger Handschrift steht hinsichtlich der Ausbildung des Helden: »an einem Freitag zolt der jung man / mit zeinm gizind zu schuln gan« (Widuwilt C, V. 747f.). Diese kurze Nennung des Freitags als Tag des Schulbesuchs reicht Jaeger als Bestätigung dafür, dass es sich um einen Synagogenbesuch in Zusammenhang mit der Sabbatfeier und somit beim Protagonisten um einen Juden handele – und das trotz der Tatsache, dass in den beiden Hamburger Handschriften statt schuln ein neutraler plazn zu finden ist23 und zudem die Stelle im Druck von 1683 wie folgt erzählt wird: ess wor nun auf ein osstertog, dos ess geschach, doss idermon wol sach den jungen kinig, den jungen mon, mit seiner muter schpaziren gan. (Widuwilt F, 55, 13–16) Es war an einem Ostertag, da es geschah, dass jedermann deutlich sah, dass der König, der junge Mann, mit seiner Mutter spazieren ging.

Der Synagogenbesuch wird durch einen Osterspaziergang ersetzt: Christlicher geht’s wohl nimmer. Auch wenn es sich bei der freitäglichen schuln um einen Anklang jüdischer Tradition handeln könnte, so ist dieser mit der Cambridger Handschrift zwar in der ältesten Handschrift, aber dennoch gänzlich singulär überliefert. Die späteren Handschriften scheinen hier einen Lapsus auszugleichen und durch die Substituierung des jüdischen durch ein dezidiert christliches Signal unmissverständlich zu verdeutlichen, dass der Protagonist kein Jude, sondern der Inbegriff eines goj ist.

3 Von Namensgebungen und christlicher Selbstüberwindung Ausgang nimmt das parodistische Potenzial des Widuwilt bei der EntHeroisierung des Helden.24 Diese ist schon dem Namen des Protagonisten abzulesen: Die Aschkenasim nannten ihren Protagonisten (und eventuell auch den || 23 Widuwilt A/B, 24, 2. Zu diesem Widerspruch vgl. die Rezension zu Jaegers Arbeit von Martin Przybilski, in: ZfdA 131 (2002), 532–539, hier: 537. 24 Vgl. stellvertretend für diese Position Warnock (wie Anm. 14), 102.

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Roman selbst) Widuwilt.25 Grund für diesen neuen Namen ist eine »spielerische Transformation«26 der bei Wirnt erzählten Herkunftsgeschichte. Als im westjiddischen Roman Gabein seine anderweltliche Gattin verlässt, bittet diese ihn hinsichtlich seines noch ungeborenen Kindes: »wos for ein nomen sol ich im geben?« Gabeins Antwort: »du magst in heissen wi du wilt« (Widuwilt F, 49, 10 und 12). Und das ist es dann auch, was die Mutter in einem Missverständnis der Worte Gabeins tut – nichts anderes bleibt ihr übrig, reitet ihr Ehemann doch direkt im Anschluss an diese lustlose Namensvergabe von ihr fort. Die Szene stellt primär eine Parodie auf den Hypotext Wigalois dar. Als solche eröffnet sie eine Bedeutungsebene, auf der der Wirnt’sche Herkunftsname (Gwî von Galois) ersetzt wird durch ein Zeichen väterlicher Willkür und damit einer Störung der Herkunftsidentität.27 Aber ebenso scheint an dieser Stelle schon ein satirisches Moment auf, das sich von der bloßen Intertextualität zu lösen vermag. Denn die willkürliche Namensvergabe im Widuwilt könnte ebenfalls – im Sinne einer kulturellen Anspielung – den christlichen Ritus der Namensvergabe reflektieren, wie er sich archetypisch in der neutestamentarischen Schilderung der Beschneidung des Johannes zeigt:28 et factum est in die octavo venerunt circumcidere puerum et vocabant eum nomine patris eius Zacchariam et respondens mater eius dixit nequaquam sed vocabitur Iohannes et dixerunt ad illam quia nemo est in cognatione tua qui vocetur hoc nomine innuebant autem patri eius quem vellet vocari eum et postulans pugillarem scripsit dicens Iohannes est nomen eius et mirati sunt universi apertum est autem ilico os eius et lingua eius et loquebatur benedicens Deum. (Lk 1, 59–64) Am achten Tag kamen sie zur Beschneidung des Kindes und wollten ihm den Namen seines Vaters Zacharias geben. Seine Mutter aber widersprach ihnen und sagte: Nein, er soll Johannes heißen. Sie antworteten ihr: Es gibt doch niemand in deiner Verwandtschaft, der so heißt. Da fragten sie seinen Vater durch Zeichen, welchen Namen das Kind haben solle. Er verlangte ein Schreibtäfelchen und schrieb zum Erstaunen aller darauf: Sein Name ist Johannes. Im gleichen Augenblick konnte er Mund und Zunge wieder gebrauchen, und er redete und pries Gott. || 25 Von dem Roman schreibt Josel Witzenhausen in der Vorrede: »ess heisst king Artiss hof oder riter Widewilt, / es doch ein gelt neiert gilt«; Widuwilt F, 0, 34f. Die ältere Forschung hat oftmals den Titel Artushof verwendet. Diese Bezeichnung ist jedoch zu unspezifisch, und da Witzenhausen in seiner Vorrede weitere Wortspiele mit dem zweitgenannten Titel treibt (»ir mecht ess leien oder singen, w i i r w e l t , es kosst eich als ein gelt«, Widuwilt F, 0, 22f., meine Hervorhebung), scheint es gerechtfertigt, den spezifischen Titel Widuwilt zu verwenden. 26 Genette (wie Anm. 2), 44. 27 Vgl. dazu auch den Beitrag von Susanne Knaeble im vorliegenden Band, hier: 85f. 28 Zitiert werden hier und im Folgenden der Text der Vulgata und die Übersetzung der Einheitsübersetzung.

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Vater Zacharias und Mutter Elisabeth demonstrieren eine ehegemeinschaftliche Einheit und geben ihrem Sohn entgegen der genealogischen Tradition den Namen Johannes, um so das Wort Gottes zu erfüllen. Der Vorgang bestätigt sich gleich in mehreren Medien (Elisabeths Worte und Zacharias’ Schrift) und sichert so die eigene Legitimation. Gabeins Gleichmut und die wortgläubige Naivität seiner Ehefrau stellen das direkte Gegenteil dieser christlichen Idealnamensgebung dar. Vergegenwärtigt man sich des Weiteren, dass jede Taufe ein Vorgang ist, in dem sich ein christliches Ur-Ritual wiederholt,29 nämlich die Taufe Christi im Jordan, liegt es nahe zu vermuten, dass ein Vater, der seinem Sohn nur Desinteresse entgegenbringt, auch einem Gott entsprechen könnte, der in seinem Sohn nicht den moschiah, sondern eben nur einen von vielen Propheten sieht. Vor dem Hintergrund der christlichen Taufe lässt sich anhand der Namensvergabe Widuwilts so eine scharfe Trennung anti-christlicher Satire von dem Scherzhaften der Parodie feststellen. Für die Wirksamkeit dieser Satire muss für den Verfasser30 wie für seine Rezipienten ein auch das Neue Testament umfassendes Wissen vorausgesetzt werden. Dies ist nicht unrealistisch, denn es war schon im späten 14. und auch noch im 16. Jh. üblich, dass Juden an christlichen Riten und Feierlichkeiten teilnahmen, was man sowohl durch interreligiöse Publikationen31 als auch aufgrund der erzwungenen Teilnahme von Juden am christlichen Gottesdienst32 weiß. Ebenso wie für die religiöse Sphäre ist ein interkultureller Austausch hinsichtlich der profanen Literatur anzunehmen.33 Im Widuwilt zeugen weitere parodistische Elemente von solch einem Wissen. So müssen dem Verfasser des Widuwilt auch die strukturellen Gegebenheiten des höfischen Romans in Grundzügen bekannt gewesen sein, greifen doch einige der Transformationen recht gezielt in die Bedeutungsstruktur des Wigalois ein. So entfällt beispielsweise die Krise des Helden, die bei Wirnt im Gegensatz zu den klassischen Romanen || 29 Vgl. Christian Kiening, »Medialität in mediävistischer Perspektive«, Poetica 39 (2007), 285– 352, hier: 336. 30 Da sich die von mir behandelten Passagen und v. a. der Schluss des Widuwilt beinahe gänzlich aus der intertextuellen Dialogizität lösen, ist es angemessen, nicht vom ›Bearbeiter‹, sondern vom ›Verfasser‹ zu sprechen. 31 Vgl. Moritz Gündemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Kultur der abendländischen Juden, Bd. 1, Wien 1880, 185. 32 Vgl. Israel Abrahams, Jewish Life in the Middle Ages, New York 1896, 417f. 33 »The Jews in Germany were also acquainted with the secular literature of the Gentiles, particularly as it was transmitted through popularized versions of the old epics and legends, such as those relating the exploits of Dietrich von Bern, Til Eulenspiegel, King Arthur and his knights, etc.«; Smith (wie Anm. 19), XVI.

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Chrétiens oder Hartmanns als Zitat der Iwein-Krise ohnehin nicht mehr sinntragend war: Als ein Drache den bewusstlosen Widuwilt an ein Seeufer schleudert, verliert dieser zwar auch wie Wigalois und vor ihm Iwein den Zugriff auf seine Identität; der Erzähler nimmt dieses ›Schleudertrauma‹ jedoch noch weniger ernst als seine Vorlage: Er formuliert das ›Leiden‹ des Protagonisten in einem Monolog voller Fragen, die im Zusammenschluss von Gegenständen und Identität gezielt banal wirken und so das Gefühl literarischer Ironie entstehen lassen.34 Indem der Widuwilt-Verfasser die Krise der so genannten ›klassischen‹ Artusromane nicht nur wie Wirnt entkräftet, sondern geradezu belächelt, nimmt er der Szene den letzten Anschein einer Sinnhaftigkeit. Stattdessen verlagert er den Modus des Identitätsverlusts und v. a. dessen Position. Verliert Wigalois (zumindest noch ansatzweise) den Zugriff auf sein Ich, weil ihm die Gegenstände und Insignien gestohlen wurden, die ihn zum Ritter machten, wendet sich der Autor des Widuwilt von dem Konnex ›Materialität/Identität‹ ab. Stattdessen eröffnet er mit dem Hochzeitsfinale (Widuwilt F, 318–354), in dem er ein Sprechverbot über seinen Helden verhängt, einen Diskurs, der den (aus moderner Sicht leichter nachvollziehbaren) Konnex ›Sprache/Identität‹ behandelt. Nun ist dieser Identitätsdiskurs jedoch in der Tat ›final‹ und wird kaum durch die vorherige Handlung vorbereitet. So befindet er sich auch nicht an einer Stelle des Romans, die im Sinne der Krise einen symbolischen Umbruch bezeichnen könnte. Zu solch einem Wendepunkt wird stattdessen eine andere Szene aus Wirnts Erzählung, die von einer bloßen Bewährungsaventüre zu einem sinn-strukturellen Gelenkstück des Romans umgebaut wird. Wigalois traf, bevor er Korntin betreten konnte, auf den Ritter Schaffilun, gegen den er im ritterlichen Schwertkampf sein Vorrecht auf die Aventüre klärte.35 Auch Widuwilt muss gegen einen (allerdings namenlosen) Ritter sein Vorrecht erkämpfen; dies geschieht jedoch nicht durch das Schwert, sondern durch ein Dolchwurfspiel, bei dem sich die Gegner wie Körper und Spiegelbild gegenüberstehen. Widuwilt gewinnt diesen Kampf, weil er einen Trickwurf seines Gegners als solchen erkennt und entsprechend mit einem Gegenwurf antworten kann. Verwundert über die gegnerische Fähigkeit stellt Widuwilt fest: »ich meint, doss niement auf erden wer, / der disen worf kent als ich un der elterfoter mein« (Widuwilt F, 156, 10f.).

|| 34 Vgl. Widuwilt F, 255, 3–256, 6; vgl. Widuwilt A/B, 93a, 37. 35 Vgl. Wigalois, V. 3286–3606; die Nennung des Namens erfolgt, wie bei vielen Figuren im Wigalois, erst sehr spät (V. 9095).

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In Wirnts Roman hat Schaffilun schon seit zehn Jahren auf den Eintritt in die Korntin-Aventüre gewartet (Wigalois, V. 3402) – d. h. seit deren Bestehen (Wigalois, V. 4316). Die Figur ist also eindeutig der Korntin’schen Sphäre verbunden. Die Figur des westjiddischen Texts jedoch entpuppt sich über den Trickwurf als Verwandter oder aber Doppelgänger des Protagonisten, als gebunden an dessen Heimatsphäre, oder anders: als Externalisierung und Personifizierung seiner Provenienz. Dadurch, dass Widuwilt den Namenlosen besiegt, überwindet er symbolisch seine Herkunft oder sogar (ähnlich wie Erec in der Joie de la curt-Episode) im Doppelgänger sich selbst. Solcherart wird ein neues sinntragendes Gelenkstück des Romans geschaffen, ein Eingriff, der das ›klassische‹ Modell interstrukturell (und damit parodistisch) ablehnt. Da die Selbst- oder Provenienzüberwindung nicht wie beim Erec am Ende des Romans, sondern vor der Hauptaventüre steht, liegt die Vermutung nahe, dass hier ouvertürenhaft ein neues Thema angestimmt wird. Diese Ouvertüre schließt an die Namensgebung des Helden an, der verglichen mit dem Wirnt’schen Protagonisten einen Herkunftsnamen gegen ein Zeichen der Störung provenienzaler Identität eintauschen musste. Die Frage an die Hauptaventüre muss also im Folgenden lauten: Inwiefern wird in ihr Herkunft überwunden bzw. in welchem Punkt überwindet sich der christliche Protagonist selbst?

4 Von Übermüttern und Ölbäumen Zuerst ist die Herkunftsüberwindung in Variationen der Wirnt’schen Bilder zu erkennen. So greift Widuwilt die – hier nicht in einem Höllenfeuer, sondern aufgrund eines Fluchs – brennenden Ritter nicht mehr wie bei Wirnt aus Übermut, sondern aufgrund eines lêre-Konflikts an. Dieser erinnert in seiner Struktur an Parzivals Gralsmisere und ebenfalls an Gaweins Situation in den Wunderketten der Crône: Widuwilts Großvater hatte ihn gelehrt, jede Tjost zu erwidern, woran er sich beim Angriff des brennenden Ritters erinnert (vgl. Widuwilt F, 211). Damit kommt er aber in Konflikt mit seinem zukünftigen Schwiegervater, der ihm eben dies kurz zuvor untersagt hatte (vgl. Widuwilt F, 194). Widuwilt richtet sich kurzentschlossen nach den Worten seines Großvaters – und seine Lanze verbrennt. Er muss so erkennen, dass die lêre seiner Herkunftssphäre im Rahmen der Hauptaventüre keine Gültigkeit mehr besitzt. Doch nicht nur in Motivvariationen (also parodistisch) verdeutlicht der Autor des Widuwilt diese Überwindung – immer stärker wendet er sich dem Satirischen zu. Das Ende des westjiddischen Texts hat nur noch leichte Anklänge an den Wirnt’schen Roman und vollzieht schon aufgrund dieser Eigenständigkeit

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bzw. durch den kontinuierlichen Abbau intertextueller Verbindungen den Sprung von der Parodie zur Satire. Entlang dieses Registerwechsels gilt es zu überlegen, welchem Ideal der jüdische Verfasser – frei nach Tucholsky – als ›gekränkter Idealist‹ nach- und gegen welche Schlechtigkeit er mittels der Provenienzüberwindung seines Protagonisten anrennt. Der ursprüngliche Gegner der Hauptaventüre war Roaz, ein heidnischer Teufelsbündler. Der westjiddische Roman ersetzt diesen durch einen Riesen namens Luzifer. In den beschreibenden Worten einer Botin heißt es lapidar: »Ein schtarker ris, Luzifer is er genant, / ich mein nit, doss er hi is bekannt« (Widuwilt F, 86, 3f.). In dieser marginalisierenden Bemerkung scheint abermals die anti-christliche Satire auf, so deutlich, dass sie im Verlauf der aschkenasischen Literatur zu einer Art satirischem Gemeinplatz wird:36 Der zentrale Antagonist des Christentums wird lediglich als ein Riese charakterisiert, der »hi« (sprich: beim jüdischen Publikum)37 nicht allzu bekannt – und dementsprechend nicht allzu gefürchtet sei. Zudem entpuppt sich dieser Luzifer im Verlauf der Geschichte als nicht wirklich ernstzunehmender Gegner, sondern als ein

|| 36 Der parodistische Umgang mit dem christlichen Antagonisten findet sich auch in dem satirischen Ritter-Versroman Bovo des Elia Levita Bachur aus dem 16. Jh. (entstanden 1507; erster Druck 1541). Der Roman basiert auf einer italienischen Vorlage, dem Bovo d’Antona von 1497, die selbst schon eine Rittersatire ist. Der aschkenasische Bearbeiter verschärft jedoch den satirischen und burlesken Gehalt des Originals. Zu den satirischen Drehungen der Schraube zählen einige Namensgebungen. So wird der Sohn des Sultans, der dem Protagonisten seine Geliebte streitig macht, Lucifer genannt. Ganz im Stil des Widuwilt arbeitet auch der (wahrscheinlich) jüngere Text daran, an Lucifer nicht allzu viel Bedrohliches zu lassen, was man der grotesken Beschreibung aber v. a. der Reaktion des Brautvaters anmerkt: »Now this same sultan’s son was the ugliest man who had ever been born. People ran away as soon as they saw him. He had huge eyes and huge ears and looked just like a dragon. He was darker than the darkest Moor and had a beard like a goat. He was tall and huge and old as well. [...] As soon as the king saw him, he said: ›Wretched heathen, away with you and your father! I never promised you my daughter. Indeed, I shit on the very idea‹«; Elia Levita Bachur’s Bovo-Buch. A Translation of the Old Yiddish Edition of 1541, übers. von Jerry C. Smith, Tuscon/Arizona 2003; für die Datierungen vgl. Smith (wie Anm. 19), IXf. 37 Auf Handlungsebene spricht die Botin zum Artushof. Wie bei Wirnt (Wigalois, V. 3607–3972) arbeitet die Passage – obzwar dramaturgisch anders funktionalisiert – mit der gleichen Verschaltungstechnik. Mittels fiktionsübergreifender performativer Formeln wird die Botin zur Rezitatorin und der Artushof zum lauschenden Publikum stilisiert. Das »er [is hie nit] bekannt« bezieht sich also nicht nur auf den fiktiven Hof, sondern ebenso – performativ – auf die jüdische Zuhörerschaft. Zur Technik der Verschaltung vgl. Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013, 329– 398; zu Wirnts Nereja-Bericht ebd., 438f.

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›Ödipussi‹, der ohne den Schutz seiner Riesenmutter, der »rechte[n] teifelin« (Widuwilt F 86, 7), nichts zu unternehmen vermag. Die Riesenmutter ist nach dem Vorbild des eingangs erwähnten wilden Weibes Ruel gestaltet, wegen dem sich Wigalois schwor, auch bei weiblicher Gegnerschaft nie wieder sein Schwert ungezückt zu lassen. Der durch den Kontrast einer ungehiuren Weiblichkeit mit dem phallischen Schwert sexualisierte38 Humor dieses Schwurs ist (vorerst) parodistischer Bezugspunkt des westjiddischen Texts: Auch die Riesenmutter fängt den Helden und sperrt ihn ein. Anhand dieser Szene betont der jüdische Verfasser jedoch in besonderem Maße die dem Phallischen entgegengesetzte Weiblichkeit: 1. Widuwilt zückt im Gegensatz zu Wigalois sein Schwert, was ihm aber auch nicht besonders viel hilft. 2. Wurde Wigalois noch in eine Höhle geworfen (was man schon als Anspielung auf eine Gefangenschaft im weiblichen Schoß interpretieren kann), so wird im westjiddischen Text die Sexualisierung noch verschärft: si trug in bei einen grossen bom, den si bei den zweigen nom, un si in also funanander schpaltet; drein sezt si Widuwilt un haltet 39 in, doss er sich nit kont riren oder umwenden. (Widuwilt F, 274, 15–275, 3) Sie trug ihn zu einem großen Baum, den sie bei den Zweigen fasste und so auseinander spaltete. Da hinein setzte sie Widuwilt und sperrte ihn ein, sodass er sich weder drehen noch wenden konnte.

Zwar klingt auch kurz »gotess wunderwerk« (Widuwilt F, 277, 15) an, doch hauptsächlich befreit sich der Held aus dieser Zwangslage, indem er zwei Tage und drei Nächte lang »seine grosse schterk« und »monhafte kraft« (Widuwilt F, 277, 13 und 16) anstrengt. Das Motiv des in einer Baumspalte gefangenen Helden taucht an vielen Stellen der Kulturgeschichte auf. Auch wenn das Bild nicht auf einen bestimmten mythologischen Ursprung zurückzuführen ist, zeugen doch verstreute Fundstellen davon,40 dass seine Sexualisierung die Norm darstellt. || 38 Zur Sexualisierung der Stelle bei Wirnt vgl. Cordula Böcking, »daz wær ouch noch guot wîbes sit, / daz si iht harte wider strit«. Streitbare Frauen in Wirnts Wigalois, in: Brigitte Burrichter u. a., Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin 2013 (SIA 9), 363–380, hier: 369– 376. 39 Vgl. Widuwilt A/B, 100, 1–5, und Widuwilt C, V. 3502–06. 40 In modernen populären Varianten ist es in J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings, in Karl Mays Old Surehand II und im Horrorfilm Poltergeist zu finden; vgl. J. R. R Tolkien, Der Herr der Ringe,

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Doch nicht nur aufgrund dieser: Alle Elemente der Szene scheinen darauf hin angelegt, ein allegorisches Suchbild zu gestalten. In der tendenziell weniger skripturalisierten Cambridger Handschrift wird die Baumgefangenschaft sogar inszenatorisch besonders betont, indem das Bild in einem Cliffhanger eingefro-

|| Buch 1: Der Ring wandert, übers. von Margaret Carroux, Stuttgart 1997, 148; Karl May, Old Surehand II, Bamberg 1949, 279; Poltergeist, Regie: Tobe Hooper, Drehbuch: Steven Spielberg u. a., Metro-Goldwyn-Mayer 1982, 35:55–39:10. Das Bild könnte zusammenhängen 1. mit dem aus der Rinde der baumverwandelten Myrrah geborenen Adonis, 2. mit Daphne, die der sexuellen Verfolgung des Zeus durch die Verwandlung in einen Lorbeerbaum entkommt, 3. mit der Bildung der ersten Menschen aus einem Baum in der altgermanischen Mythologie, 4. mit diversen Märchen von der Ehe eines Mannes mit einem Baum, 5. mit Ali Baba, dem sich in manchen Varianten auf das Zauberwort hin statt der Schatzhöhle eine Eiche öffnet, 6. mit Grabbäumen, die das Spiel verstorbener Geliebter fortsetzen, oder 7. mit blutenden Bäumen, welche bereits in der früh-jüdischen Esra-Apokalypse zu finden sind; vgl. Donald Ward, Art. »Baum«, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1 (1977), 1366–1374. Am nächsten kommen der Motivvariation des Widuwilt 8. die Bäume, die Flüchtige in sich verbergen, wobei diese Beheimatung gar mit einer Geburt im Baum und dem Auffinden des Kinds in der Baumspalte enden kann; vgl. ebd. 1372f. Auch der deutschsprachige höfische Roman kennt eine Variante dieser quasi-mütterlichen ›Baumgeborgenheit‹: Im Partonopier des Konrad von Würzburg zieht sich der Protagonist, vom falschen Rat der eigenen Mutter seiner Geliebten entfremdet, in den Ardennenwald zurück, um zu sterben. Als die wilden Tiere ihm nicht den ersehnten Tod bringen, legt er sich in eine hohle Eiche, um dort der Welt zu entfliehen – der Held sucht im uterusgleichen Baumversteck die weibliche Geborgenheit, die ihm durch die Mutter und durch die Geliebte (vorerst) versagt bleibt; vgl. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hrsg. von Karl Bartsch, Berlin 1970, V. 10492–10515. Diese Substituierung fehlender Weiblichkeit durch eine Baumspalte wurde am eindringlichsten in der Robinsonade Michel Tourniers umgesetzt, in der Robinsons Begierde sich zeitweise auf einen umgestürzten Baum bezieht, der ihm der sexuelle Zugang zur mütterlich-begehrten Insel sein soll; vgl. Michel Tournier, Freitag oder im Schoß des Pazifik, übers. von Herta Osten, Berlin, Weimar 1984, 106f. Bezüglich der die Männlichkeit gefährdenden Sexualisierung des Motivs ist an die Baumspalten zu denken, in welchen männliche Gestalten u. a. ihre Tatzen oder Bärte einklemmen, ein Löwe seine Zunge oder gar – nicht gerade subtil – der Teufel seine herunterhängenden Hoden; vgl. Helmut Breitenkreuz, Art. »Einklemmen unholder Wesen«, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3 (1981), 1261–71. Im jüdischen Märchenschatz ist auch das Einklemmen von Dalles, einer allegorischen Figur des Elends, bekannt (vgl. ebd., 1265 und 1267). Die bekannteste Baumgefangenschaft ist die des Luftgeists Ariel, der in Shakespeares The Tempest von der Hexe Sycorax für zwölf Jahre in einer gespaltenen Pinie festgesetzt wird; vgl. William Shakespeare, The Tempest, hrsg. von Virginia Mason und Alden T. Vaughan, London 1999, I, 2, 250–284. Und da in der Germanistik wohl keine Motivgeschichte vollständig wäre, wenn man sie nicht mit Goethe belegen könnte, sollen abschließend die Worte des Mephistopheles zitiert sein: »Einst hatt’ ich einen wüsten Traum; / Da sah ich einen gespaltnen Baum, / Der hatt’ ein ungeheures Loch; / So groß es war, gefiel mir’s doch«; Johann Wolfgang Goethe, Faust I, hrsg. von Erich Trunz, München 1999, »Walpurgisnacht«, V. 4136–39.

274 | Matthias Däumer ren wird.41 Das Publikum wird durch die erzwungene Pause ebenso wie durch die Gestaltung der Szene dazu angeregt, die Situation in besonderem Maße zu reflektieren. Da es sich hinsichtlich Widuwilts Namensgebung schon als hilfreich erwiesen hat, eine satirische Haltung zu erwarten, die sich auf christliche Rituale und somit in Anspielungen auf das Neue Testament bezieht, bietet sich auch für diese Reflexion eine Lesart der Baumgefangenschaft an, welche die symbolische Sexualität des Motivs mit einer religiösen Bedeutung überblendet: quod si aliqui ex ramis fracti sunt tu autem cum oleaster esses insertus es in illis et socius radicis et pinguidinis olivae factus es noli gloriari adversus ramos quod si gloriaris non tu radicem portas sed radix te dices ergo fracti sunt rami ut ego inserar bene propter incredulitatem fracti sunt tu autem fide stas noli altum sapere sed time si enim Deus naturalibus ramis non pepercit ne forte nec tibi parcat (Rom 11, 17–21) Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erhebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Nun wirst du sagen: Die Zweige wurden doch herausgebrochen, damit ich eingepfropft werde. Gewiss, sie wurden herausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Du aber stehst an ihrer Stelle, weil du glaubst. Sei daher nicht überheblich, sondern fürchte dich! Hat Gott die Zweige, die von Natur zum edlen Baum gehören, nicht verschont, so wird er auch dich nicht verschonen.

Im Römerbrief wird das Judentum als edler Ölbaum dargestellt, in den von Gottes Hand die Zweige eines wilden Ölbaums gepfropft wurden, wobei dieser aufgepfropfte Baum die griechischen Christen symbolisiert. In Verkehrung von oleaster und oliva bzw. in der Übertragung des Attributs ›edel‹ vom ursprünglichen auf den neuen Baum wurde diese Stelle im Sinne der Substitutionstheorie42 bis ins 18. Jh.43 zu einem »Symbol einer christlich dominierten Ent-

|| 41 »Noch mus Widwilt aso lang gifangn sein, / bis ir mir gibt zu trinkn gutn wein, / do wil ich im helfn wol / schenkt ir mir ein glas vol«; Widuwilt C, V. 3537–39. Zur Verwendung dieser Cliffhangertechnik und im Speziellen der topischen Weinforderung vgl. Däumer (wie Anm. 37), 450–464, zum Widuwilt 461f. 42 Zu den Fehldeutungen, die dem paulinischen Text untergeschoben werden mussten, um die Stelle im Sinne einer Ersetzung des Judentums durch das Christentum zu funktionalisieren vgl. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus Judaeus-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.), 2. überarb. Aufl., Frankfurt a. M. u. a. 1990, 101–103 und passim. 43 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, »Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zum erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben, Lindau a. Bodensee« [orig.: 1773], in: ders. Schriften zu Literatur und Theater. Gesamtausgabe, Bd. 15, Stuttgart, o. J., 46–55.

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wicklungs- und Veredelungsgeschichte der Menschheit mit einem unverkennbar anti[judaistischen] Unterton«.44 Wenn man diese auch im Mittelalter geläufige Interpretation auf Widuwilts Gefangenschaft im Baum bezieht, so wird offenbar, dass in direkter Analogie ein Christ auf den jüdischen Baum ›gepfropft‹ wird. Dabei ist die Dauer der Befreiung des Helden sicherlich nicht zufällig mit drei Tagen und zwei Nächten angesetzt: Widuwilts ›männlicher‹ Befreiungskampf entspricht der Dauer der messianischen Auferstehung. Das Aufpfropfen des Christlichen führt im Widuwilt jedoch nicht (wie im Römerbrief bzw. dessen Auslegungen) zu einer Veredelung oder friedlichen Symbiose, sondern zum gewaltsamen Zerstören der Verbindung der Religionen von Seiten des Christen. Das Bild erhebt so Anklage gegen das Scheitern einer Symbiose, die bestens zu der Situation des städtischen Judentums in der zweiten Hälfte des 14. Jh. passt.45

5 Von Geschwistern im satirischen Geiste: der Widuwilt und das Alpha Beta di Ben Sira Die Baumgefangenschaft weist also mittels Verschränkung des Sexuellen mit dem Religiösen dem Christlichen das Männlich-Aggressive zu, das von der weiblich-umfassenden Macht der Riesenmutter bedroht wird. Die Riesenmutter lebt auch im Widuwilt in Angst vor dem phallischen Lindwurm, und ihre überwundenen Gegner werden stärker christianisiert;46 all dies weist noch zusätzlich

|| 44 Uwe Wirth, Art. »Aufpfropfung«, in: Günter Butzer, Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2008, 28f., hier: 28. Wirth schreibt hier von einem ›antisemitischen Unterton‹, was aber irreleitet, da kein Rassismus gemeint sein kann. Zu dieser Begriffsdifferenz vgl. Schreckenberg (wie Anm. 42), 31. 45 Zur Datierungsfrage (14. oder 16. Jh.?) siehe Anm. 12. Vgl. dazu Dreeßen, »Midraschepik« (wie Anm. 12), 92: »[Es] liegt nahe, diese Literatur aus dem Zusammenhang der Bemühungen um die Erneuerung und Konsolidierung jüdischen Lebens nach der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zu verstehen. Das Scheitern der Symbiose mit den Christen schien den Juden nur die Wahl zwischen Assimilation und betonter Abgrenzung zu lassen.« 46 Lorels verfluchter Vater ist im Widuwilt ein Hirsch, der sich durch den Sprung in einen Brunnen vorübergehend in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln kann (vgl. Widuwilt F, 186–190). Dies erinnert an die nach Wasser lechzende Seele des 42. Psalms, aber v. a. an deren christlichen Deutung im Sinne der Taufe. Zusätzlich kommt die Eustachius-Legende in den Sinn, sodass der ehemalige Herrscher des nun von der Riesenmutter bewohnten Landes von einer auffallend christlichen Symbolik umgeben scheint.

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zur Baumbildlichkeit darauf hin, dass dem Jüdischen in Form der Riesenmutter das Weiblich-Monströse zugesprochen wird.47 Des Weiteren wird die Verschränkung von Geschlecht und Religion in den folgenden Passagen des Texts fortgeführt: Die Riesenmutter sticht Widuwilt seine eigene Lanze unter die Achsel (Widuwilt F, 289–293). Laut Susanne Knaeble kann man diesen Akt als christliche Stigmatisierung sehen;48 ebenfalls stellt er aber auch eine Imagination der Penetration eines Manns durch eine Frau dar. Die abermalige Verbildlichung eines den christlichen Mann gefährdenden weiblichen Judentums führt dadurch, dass die Riesenmutter Widuwilt zusätzlich für das kommende Finale die Sprache verbietet, zu einer doppelten Stigmatisierung: äußerlich-korporal (durch die Lanze) und innerlich-sozial (durch das Sprechverbot). Und, so scheint die Logik des Textes hier zu laufen: Die Wunden, die eine Frau riss, können auch nur von Frauen wieder geschlossen werden. So hebt die namenlose ›falsche Braut‹ die äußerliche, Lorel aber im Finale durch dreimalige Nachfrage die innerliche Stigmatisierung auf (Widuwilt F, 315–318 und 337–351). Widuwilt erscheint so am Ende des Romans von der Geschlechts- wie religiösen Markierung befreit: eine erste Antwort auf die Frage, inwiefern der Held, gänzlich in weiblichen Händen, einen Aspekt seiner Herkunft überwindet. Auf die Riesenmutter bezogen nimmt dieses Spiel mit der Verschränkung jedoch mehr als nur eine handlungsdynamische und binnen-diskursive Funktion an: Der Konnex ›Judentum/Weiblichkeit‹ ist ebenfalls als ein Verweis auf die jüdische Mythologie zu verstehen. Schon bei Jaeger klingt diese mythische Bedeutungsebene an,49 wenn er die Riesenmutter (recht assoziativ) auf die Midra-

|| 47 Zum Klischee der Effeminierung des Jüdischen und dessen Verwurzelung in der europäischen antisemitischen oder jüdisch-selbsthassenden Psyche schreibt Sander L. Gilman, The Jew’s Body, New York 1991, 127: »Being unclean, being a version of the female genitalia (with their amputated genitalia); the male Jew is read […] as really nothing but a type of female«. Ebenso zeigt Gilman am Beispiel der Fahndung nach einem jüdischen Jack the Ripper, dass auch die Kategorie des Monströsen nicht nur zu den anti-semitischen Fremd-, sondern unter Umständen ebenso zu den Eigenzuschreibungen des Judentums zählen kann; vgl. ders., »The Jewish Murderer. Jack the Ripper, Race and Gender«, in: ebd., 104–127. Zum Folgenreichtum des Zusammenhangs von Misogynie und Antisemitismus vgl. auch Christa von Braun, »Antisemitismus und Misogynie. Zum Zusammenhang zweier Erscheinungen«, in: Jutta Dicke (Hrsg.), Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1993, 179–215. 48 Vgl. den Beitrag von Susanne Knaeble im vorliegenden Band, hier: 105; vgl. auch Häberlein (wie Anm. 12), 77. 49 Die Riesenmutter steht mit dieser Verschränkung mit dem jüdischen Mythos nicht allein: Auch dem Sohn Luzifer könnte eine mythische Bedeutungsebene in Form der Og-Legende zugrunde liegen; vgl. Warnock (wie Anm. 14), 103f.

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schim-Beschreibungen der dämonischen ersten Frau Adams, der Lilith, bezieht.50 Im Jalkut Rёubeni51 aus dem 17. Jh. heißt es, Lilith sei wie Adam aus Erde geformt, jedoch aus verschmutzter. Es ist jedoch nicht diese jüngere misogyne Dämonisierung, über welche Lilith in den Widuwilt Einzug hält, sondern der Geist der Satire: Liliths erste Erwähnung und Ausgestaltung findet sich im wesentlich älteren Alpha Beta di Ben Sira, einer »aus biblischen und haggadischen Elementen zusammengesetzte[n] scharfe[n] Satire auf Bibel und rabb[inische] Religiösität«.52 Es ist vornehmlich der Gestus anti-christlicher Satire, in dem dieser wahrscheinlich im 10. Jh. entstandene und in Aschkenas schon seit dem 11. Jh. weitverbreitete Text53 dem Widuwilt gleicht. Der Protagonist des hebräischen Texts, Ben Sira, wird als eines der »Wunder, die nicht zu erzählen sind« angekündigt, als eine der Personen, »die erschaffen wurden, ohne dass die Frau, die ihn gebar, mit einem Mann geschlafen hätte«.54 Auch wenn es ältere jüdische Motive gibt, auf die diese Ankündigung fußen könnte,55 ist eine An-

|| 50 Vgl. Jaeger (wie Anm. 12), 286. 51 »Jalkut. Das erste Wort in dem Titel verschiedener Midrasch-Sammlungen. [...] Jalkut Rёubeni. Eine Sammlung kabbalistischer Kommentare zum Pentateuch von R. Rёuben ben Hoschke Cohen (gestorben 1673) in Prag«; Robert von Ranke-Graves, Raphael Patai, Hebräische Mythologie. Über die Schöpfungsgeschichte und andere Mythen aus dem Alten Testament, Reinbek b. H. 1986, 360; vgl. auch Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 8 1992, 343. 52 Ebd., 326f. Der Titel ist für das Werk nicht belegt und trifft nur auf die Passage zu, in welcher der Protagonist als Einjähriger das Alphabet lernen soll und zu jedem der Buchstaben seinem Lehrer einen Sinnspruch zu sagen weiß; die Bezeichnung hat sich jedoch seit der Ausgabe von Steinschneider durchgesetzt. 53 »E. Yassif hat die zahlreichen Handschriften in zwei Rezensionen gruppiert; beide sind ab dem 11. Jh. in Europa belegt, die eine (A) war in Frankreich und dann in ganz Europa verbreitet, die andere (B) in Italien und im Orient vertreten. [...] Trotz oder gerade wegen ihrer Religionskritik war die Schrift weit verbreitet, allerdings auch vielfach zensuriert und verharmlost [...]. Die Schrift ist wohl im 9.–10. Jahrhundert entstanden [...]; ihr Ursprungsland dürfte Babylonien sein«; Stemberger (wie Anm. 51), 326f.; vgl. auch Dagmar Börner Klein, »Einleitung« und »Interpretation«, in: Das Alphabet des Ben Sira. Hebräisch-deutsche Textausgabe mit einer Interpretation, hrsg. und übers. von Dagmar Börner-Klein, Wiesbaden 2007, XIII–XXII und 263–391; hier: XIVf. 54 Text und Übersetzung hrsg. und übers. von Dagmar Börner-Klein auf Basis der Handschrift ›Kaufmann 59‹ aus dem Rabbinerseminar in Budapest; Textgruppe B (wie Anm. 53); im Folgenden mit der Sigle Ben Sira B. 55 Für das Motiv des bewahrten Samentropfens vgl. Börner-Klein (wie Anm. 53), 265; zum Motiv der schwangeren Jungfrau vgl. ebd., 266f. und 284f. Ähnlichkeit scheint mir v. a. mit der im Zweiten (Slawischen) Henochbuch (1. Jh. n. d. Z.) beschriebenen jungfräulichen Geburt des Melchizedek zu bestehen, zumal dieser wie Ben Sira direkt nach seiner Geburt sprechen kann.

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spielung auf den christlichen Mythos der jungfräulichen Geburt kaum zu überhören.56 Diese Anspielung schließt an eine Tradition antichristlicher Satire an, die sich seit spätestens dem 3.Jh. n. d. Z. mit Vorliebe an Marias Virginalität entzündete.57 Der Spott, den der hebräische Text auf diese christliche Anspielung hin entfaltet, übersteigt bei Weitem das, was ein frommer Mensch als ›Wunder‹ bezeichnen würde: Einmal ging der Prophet Jeremia ins Badehaus und sah, dass alle, die im Badehaus waren, dort mit der Hand Samen hervorbrachten. [...] Sofort ergriffen sie ihn und sagten zu ihm:

|| Der entscheidende Unterschied ist jedoch die Abwesenheit jeglichen Humors in der Melchizedek-Geschichte: Er benutzt die frühzeitig erlangte Sprache dazu, die Mutter, aus deren toten Leib er soeben hervorkam, zu beklagen; vgl. 2 Hen 69–73. 56 Vgl. Israel Lévi, »La Nativité de Ben Sira«, Revue des Études Juives 9 (1894), 197–205. »Levi vertrat die These, dass ein jüdischer Verfasser aus Persien, der die arabischen Traditionen und insbesondere die Jungfrauengeburt Jesu kannte, darauf mit der Zeugungsgeschichte Ben Siras anspielte. Das Thema dieses Mythos findet sich auch in der griechischen und indischen Mythologie, jedoch lassen sich in diesen Fällen keine so offensichtlichen Analogien zu dem Alphabet des Ben Sira herstellen, wie bei dem persischen Mythos«; Börner-Klein (wie Anm. 53), 267f. Eine weitere Stelle des Alpha Beta di Ben Sira, die Lévis These stützt, ist bei der Frage Nebukadnezars zu finden, warum das Geschlecht Jonadab ben Rechabs und der Vogel Phönix dem Tod entrinnen können. Ben Sira weist ihn darauf hin, dass es weitere elf Menschen gab, die zu ihren Lebzeiten in den Garten Eden kamen, darunter: ‫משיח‬, der Gesalbte; vgl. Ben Sira B 136/137–140/141. »Da in der Liste ›Messias‹ als Eigenname genutzt wird, ist davon auszugehen, dass die christliche Messiasfigur gemeint ist«; Börner-Klein (wie Anm. 53), 299. 57 Die satirische Tradition lässt sich v. a. an den christlichen Reaktionen ablesen. Diese spitzen jüdische Aussagen sicherlich im Sinne der Adversus-Judaeos-Debatten zu, lassen den jüdischen Argumenten und (satirischen) Angriffen aber auch ihren Raum. Origines schreibt als erster vom jüdischen Standpunkt, »Jesus sei nicht Gott, sondern nur ein gewöhnlicher Mensch [...], nicht Gottes Sohn von einer Jungfrau, sondern illegitimer Sproß eines Unzuchtverhältnisses [...]. Die Jungfrauengeburt sei ein Abklatsch griechischer Mythologie, Jesus sei vielmehr der uneheliche Sohn Marias von dem Soldaten Panthera«; Schreckenberg (wie Anm. 42), 230. Im 5. Jh. scheint sich die satirische Schärfe noch verstärkt zu haben: So schreibt Maximinus, dass die Juden »nicht akzeptieren [wollen], daß eine unberührte Jungfrau ein Kind hat zur Welt bringen können und lehnen die Inkarnation Gottes über eine Schwangerschaft eines Weibes schroff ab.« Als Gegenargument verweist er »unter anderem auf die geschlechtslose Vermehrung der Würmer« (ebd., 332). Dieser Verweis des Gotenbischofs wirkt beinahe wie eine satirische Fehlzündung, verstärkt doch der Vergleich einer göttlichen Geburt mit der eines Wurms nur die Angriffsfläche. Aus diesem Grund wendet sich ein wenig später Augustinus explizit gegen diese Erklärung (vgl. ebd., 360). Für weitere Belege dieser lange und bis zur Entstehungszeit des Widuwilt anhaltenden Tradition vgl. die unter ›Jungfrau Maria, Jungfrauengeburt, Pathogenese, Geburt Jesu‹ verzeichneten Stellen in Schreckenberg (wie Anm. 42) und unter ›Maria, Marias Virginität, Jungfrauengeburt‹ in ders., Die christlichen Adversus-JudaeosTexte (11.–13. Jh.), 2. überarb. Aufl., Frankfurt a. M. u. a. 1991.

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›Warum hast du uns zugeschaut? [...] Wenn du es uns nun aber gleichtust, ist es gut. Und wenn nicht, werden wir an dir die Tat Sodoms vollziehen.‹ (Ben Sira B 6/7)

Solcherart genötigt onaniert Jeremia in das Wasser des Badehauses. Am nächsten Tag badet seine Tochter darin und wird durch den ›bewahrten Samen‹ zu einem Sinnbild des ›unbefleckten Inzests‹ – respektive zu einem satirischen Zerrbild der christlichen Maria. Mehr noch als diese groteske Zeugungsszene macht die Namensgebung die äquivalente satirische Intention (und eventuell den intertextuellen Zusammenhang) des Alpha Beta mit dem Widuwilt deutlich. Der Verfasser des Widuwilt hat sich auf das christliche Ritual der Taufe bezogen, was angesichts der christlichen Idealnamensvergabe einem satirischen Schlag gleichkommt. Im Alpha Beta findet sich eine entsprechende Passage, die ebenfalls kulturell kontrastierend oder gar neutestamentarisch inspiriert sein könnte: Der Protagonist kann direkt nach seiner Geburt sprechen. Er befiehlt seiner Mutter, ihm den Namen Ben Sira, also nach gematrischer Ausdeutung: ›Sohn des Jeremia‹58 zu geben und damit seinen inzestuösen Ursprung anzuerkennen. Als die Mutter den Neugeborenen fragt, warum er sich diese selbstständige Benennung erlaube, erzählt Ben Sira von der Namensgebung ihres gemeinsamen Vaters: Als seine [Jeremias] Mutter sich zum Gebären niederkauerte, öffnete das Kind seinen Mund aus dem Inneren seiner Mutter und sagte: ›Ich werde nicht herauskommen, bis ihr mir gesagt habt, wie mein Name ist.‹ Sein Vater und seine Mutter öffneten ihren Mund und sagten: ›Mein Sohn komm heraus, und wir geben dir den Namen Abraham.‹ Er sagte zu ihnen: ›So ist mein Name nicht.‹ ›Wir geben dir den Namen Isaak!‹ [...] Er aber sagte: ›Nicht mein Name‹, bis sie ihm die gesamte Generation [der Vorfahren] genannt hatten. Er aber sagte jedes Mal ›Das ist nicht mein Name‹, bis dass Elia, sein Andenken zum Gute, ihm beistand und zu ihm sagte: ›Dir sei der Name Jeremia gegeben!‹ Sogleich sagte er: ›Dies sei mein Name auf ewig!‹. (Ben Sira B 12/13f.)

Im Neuen Testament lehnen sich Elisabeth und Zacharias auf Gottes Geheiß gegen die jüdischen Ansprüche der genealogischen Namensgebung auf. Gerade der Vorgang der Auflehnung gegen die jüdische Tradition unterscheidet diese Szene augenfällig von vergleichbaren alttestamentarischen Szenen, bei denen Tradition und Verheißung nicht im Widerspruch stehen. Im Kontrast zu diesen verfestigen Elisabeth und Zacharias in einem Dissens gleich auf mehreren me|| 58 »Der Name ›Jeremia‹ hat nach der Regel der Gematria, nach der die hebräischen Buchstaben als Zahlen gedeutet werden, denselben Zahlenwert wie der Name ›Sira‹ [...]. Da es die Regel der Gematria ermöglicht, Wörter mit demselben Zahlenwert aufeinander zu beziehen oder sogar auszutauschen, kann Ben Sira völlig regelgerecht als der Sohn des Jeremia bezeichnet werden«; Börner-Klein (wie Anm. 53), 271.

280 | Matthias Däumer dialen Ebenen den Namen ihres Sohnes Johannes (des neuen Elia).59 Jeremias Eltern hingegen haben sich gegen den Eigenwillen eines schon im Mutterleib aufmüpfigen Sohnes zu wehren, der sich in einem grotesken Akt der Selbstbestimmung60 (und mit ein wenig Hilfe des Elia) selbst benennt und seine Mittel gar noch mit einem Tora-Zitat heiligt.61 Das satirische Element der verfrühten Namensgebung im Christentum wird hier ebenso wie im Widuwilt karikiert, auch wenn die Vorzeichen bezüglich der Unabhängigkeit des Helden verdreht sind. Sollte sich dieser Textzusammenhang als tragend erweisen, würde Widuwilts Namensgebung also nicht nur vom christlichen Ideal abweichen, sie würde auch das genaue Gegenteil der genealogischen und kulturellen Emanzipation darstellen, die den Protagonisten des Alpha Beta auszeichnet. Der Angriffspunkt der Satire wäre bei Widuwilt somit seine Frömmigkeit, (miss)verstanden als mangelnde Selbstbestimmung. Trotz aller Äquivalenzen muss der intertextuelle Zusammenhang bis hierhin noch als hypothetisch gelten, zumal sich eine ähnliche Haltung antichristlicher Satire auch in anderen Texten des aschkenasischen Erzählguts findet.62 Erst anhand der im Alpha Beta zu findenden ältesten Ausgestaltung der Lilith-Figur verfestigt sich der Verdacht. Mit 20 Jahren wird der universal gelehrte Ben Sira von Nebukadnezar an den Hof geladen, u. a. um dessen neugeborenen Sohn vor dem Kindstod zu bewahren. Ben Sira rettet diesen, indem er ein Amulett mit drei Engeln über das Kinderbett hängt, ein Schutzamulett gegen Lilith.63 In der aschkenasischen Tradition wird deren Geschichte wie folgt geschildert:

|| 59 In Lk 1, 16f. prophezeit ein Botenengel Johannes Eltern: »et multos filiorum Israhel convertet ad Dominum Deum ipsorum et ipse praecedet ante illum in spiritu et virtute Heliae«; (»Viele Israeliten wird er zum Herrn, ihrem Gott, bekehren. Er wird mit dem Geist und mit der Kraft des Elija dem Herrn vorangehen«). 60 Diese Selbstbestimmung und die aus ihr resultierende Überheblichkeit ist ein generelles Motiv in der Figurenkonzeption des Ben Sira: Sein Lehrer versucht gegen sie anzukommen, doch vergeblich, denn auch vor Nebukadnezar entgegnet Ben Sira gleich zweimal auf die Frage »Und wer hat dir diese Sache gesagt?«: »Ich mir selbst, denn so bin ich Prophet« (Ben Sira B 50/51; vgl. Ben Sira B 60/61). 61 Der letzte Satz des obigen Zitats entspricht 2 Mose 3, 15. 62 Dies trifft beispielsweise für den satirischen Ansatz des Bovo-Buch zu. Zum Zusammenhang Widuwilt/Bovo siehe Anm. 35. 63 Vgl. Ben Sira B 72/73–78/79. Mehrere Funde von mittelalterlichen Schutzamuletten zeugen von einem weit verbreiteten Lilith-Aberglauben der Aschkenasim; vgl. Jaeger (wie Anm. 12), 287. Der Zusammenhang des Kindstods mit der ersten Frau Adams wird in den Midraschim wie folgt begründet: Als Lilith sich weigert, zu Adam zurückzukehren, erkennt sie den Zweck ihres

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Adam und Lilith konnten niemals in Frieden miteinander leben; denn wenn er ihr beiliegen wollte, fühlte sie sich durch die liegende Position, die er von ihr verlangte, beleidigt. ›Warum muss ich unten liegen‹ fragte sie. ›Auch ich wurde aus Staub gemacht und bin dir also ebenbürtig.‹ Da Adam versuchte, ihren Gehorsam gewaltsam zu erzwingen, sprach Lilith wutentbrannt Gottes magischen Namen aus, erhob sich in die Lüfte und verließ ihn. 64 (Ben Sira A 47)

Die Midraschim berichten davon, dass, noch bevor es zum Bruch zwischen Adam und Lilith kam, der Verbindung unzählige Dämonen entsprangen.65 Auch nachdem Lilith sich emanzipiert hat und in die Lüfte davongeflogen ist, gebiert sie entweder von Teufeln oder (anderen Zeugnissen zufolge) durch die nächtlichen Samenergüsse Adams befruchtet66 viele Kinder, die so genannten lilim.67 Diese oft als über-sexualisierte Verführerinnen gezeichneten Lilith-Töchter sind es, die in der aschkenasischen Variante des Alpha Beta68 die Szene prägen, in der die drei Engel Adams Ex-Frau dazu zwingen wollen, wieder zu ihrem Angetrauten zurückzukehren: »Sie [die Engel] fanden sie [Lilith] in der Nähe des Roten Meeres, in einer Gegend, die von lüsternen Dämonen wimmelte, denen sie jeden Tag über hundert lilim gebar« (Ben Sira A 47).69 Dieses Bild der von lüsternen Dämonen und ihren nicht minder lüsternen Töchtern umringten Lilith ist die tragende Brücke zur Riesenmutter.70 Denn bei deren erstem Auftritt heißt es, sie lebe in einem Wald in Gesellschaft von

|| Daseins darin, menschlichen Säuglingen das Leben zu nehmen, und akzeptiert die Strafe, dass, falls sie vom Kindsmord durch ein Schutzamulett mit dem Namen der drei Engel abgehalten werde, sie sich gegen ihre eigenen Kinder wenden müsse; vgl. Ranke-Graves/Patai (wie Anm. 51), 80f. 64 Da Börner-Kleins Übersetzung sich auf die in Italien und Spanien verbreitete Textgruppe B bezieht, zitiere ich hier die auf der aschkenasischen Variante der Erzählung beruhende Übersetzung in Ranke-Graves/Patai (wie Anm. 51), 80; im Folgenden mit der Sigle ›Ben Sira A‹. Vgl. zu dieser Stelle auch Dorothee Pielow, Lilith und ihre Schwestern. Zur Dämonie des Weiblichen, Düsseldorf 2001, 41. 65 »Jalkut Rёubeni ad Gen. II. 21«; übersetzt in: Ranke-Graves/Patai (wie Anm. 51), 80. 66 Vgl. Pielow (wie Anm. 64), 40. 67 Vgl. Ebd. 37f. 68 Die Textgruppe B berichtet nicht von den lilim; sie scheinen Teil einer spezifisch aschkenasischen Erzähltradition zu sein; vgl. Ben Sira B 74/75–78/79. 69 Übersetzung: Ranke-Graves/Patai (wie Anm. 51), 80. 70 Das Bild der von ihren Töchtern umringten Lilith am Roten Meer ist generell und epochenübergreifend eines der bedeutendsten Symbolreservoires des Mythos. Hinsichtlich gegenwärtiger Umsetzungen ist an eine neun Exponate umfassende Ausstellung Anselm Kiefers zu denken (vgl. Anselm Kiefer, Lilith, Marian Goodman Gallery, New York 1992). Das Relief-Gemälde Lilith am Roten Meer befindet sich momentan in den Ausstellungsräumen des Hamburger Bahnhofs in Berlin. Es symbolisiert (wie auch Liliths Töchter) die lilim mit den von Kiefer häufig

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[...] firhundert frauen ungeheier un waren scheizlich un schwarz als die moren, so sochen auss die teiflischen huren. [...] si sochen arauss on zweifel als der lebendige teiffel. si waren als doss schtarken muter meid. (Widuwilt F, 269, 2–9) [...] vierhundert dämonischen Frauen, die waren scheußlich und schwarz wie die Mohren. So sahen sie aus, die teuflischen Huren. Ohne Zweifel sahen sie aus wie der lebendige Teufel. Sie waren alle die Dienstmädchen der starken Mutter.

So wie die Riesenmutter bei ihrem ersten Erscheinen in der Begleitung von 400 sexualisierten weiblichen Dämonen anzutreffen ist (die ab dem Ammenmärchen dann gar ihre Töchter sind),71 wird Lilith im prägnanten Bild ihrer Zurückweisung der Ehe von den lilim umringt imaginiert.72

6 Von kurzlebigen Idealen und assimilierten Müttern Wenn die weiblich-jüdische Stellvertreterfigur mit dieser vom mittelalterlichen Judentum negativ konnotierten Gestalt symbolisch verbunden wird, könnte man eine jüdische Selbstbezichtigung (sozusagen eine satirische Autoaggression) vermuten. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn im Endeffekt entpuppt sich die Riesenmutter als gar nicht so negative Figur, wie es am Anfang den Anschein hat. Bei ihrer Konfrontation mit dem Protagonisten sticht sie ihm – wie bereits erwähnt – seine eigene Lanze unter die Achsel: Der christliche Mann || für außerweltliche Wesen verwendete Kinderhemdchen, die, ihrer ehemaligen Weißheit/ Unschuld beraubt, auf und zwischen zwei Bleiwällen hängen. Ein größeres, mit einem unsauberen Schriftzug besudeltes Nachthemd symbolisiert Lilith. Die Bleiplatten wirken wie zwei Wälle eines sich teilenden Meeres. So kombiniert Kiefer den Lilithmythos mit dem jüdischen Auszug aus Ägypten und setzt die Zurückweisung der Ehe mit Adam der Befreiung des jüdischen Volks gleich. Durch diese Verschränkung der Mythen wandelt er die ›besudelte‹ Weiblichkeit zu einem Symbol der Emanzipation. Das Gemälde kombiniert somit die gleichen Elemente wie die Widuwilt-Variante: Weiblichkeit, Judentum, Monstrosität/Unreinheit und eine aus dieser symbolischen Überkreuzung erwachende emanzipatorische Hoffnung. 71 Vgl. Ammenmärchen (wie Anm. 15), 208f.; vgl. zu dieser Stelle Häberlein (wie Anm. 12), 84. 72 Teilweise wird die Zahl ihrer dämonischen Begleiter gar konkret mit 478 festgesetzt; vgl. Die Sagen der Juden, gesammelt von Micha Josef bin Gorion, hrsg. von Emanuel bin Gorion, übers. von Rahel bin Gorion, Frankfurt a. M. 1962, 85.

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wird vom Weiblich-Jüdischen stigmatisiert. Der Text lässt keinen Zweifel, dass die Riesenmutter den Helden nun töten könnte. Doch nach der Verhängung des Sprechverbots begnadigt sie ihn und gibt hierfür in den verschiedenen Versionen voneinander abweichende Begründungen. Diese Passage entstammt dem Druck von 1683: sich do, dos schenk ich dir, dos solsstu hoben fun mir: die schene Lorel zu einem weib, derweil du host gewagt deinen leib. [...] ich will dich genißen losen on scherz dein wolgemut, edel, unforzogt herz un dein monheit un grosse kraft, dos du mir hosst gute ru geschaft for dem lindwurm, den du hosst derschlogn. (Widuwilt F, 296, 1–13) Sieh her, dieses schenke ich dir, das sollst du von mir erhalten: die schöne Lorel zum Weib, um die du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast. Ich will dich am Leben lassen, ohne Scherz, dein mutiges, edles, unverzagtes Herz und deine Tapferkeit und große Stärke, dafür, dass du mir gute Ruh geschaffen hast vor dem Lindwurm, den du erschlagen hast.

Weil Widuwilt die ›Übermutter‹ vor der Bedrohung des Phallischen bewahrte, gibt sie ihm mit der satirischen Überzeichnung einer priesterlichen Geste (›Voraustrauung‹) Lorel zur Frau und leitet das märchenhafte Ende des Romans ein. Die Begründung für Widuwilts Schonung ist recht logisch; wie jedoch schon Warnock zeigt, handelt es sich hierbei wahrscheinlich um eine nachträgliche rationale Glättung der älteren Textstufen.73 Die Begründung für den schlichtenden Akt wird in einer älteren Variante der Passage (in der Cambridger Handschrift) mit einem expliziten Begriff bedacht, jedoch ohne dass vom Lindwurm die Rede ist: ich will dich ginisin lon deinr grosn kunheit (manheit) di got hat an dich gileit. (Widuwilt C, V. 3706–08) Ich werde dich heil davonkommen lassen um deiner großen Tapferkeit willen, die Gott dir gegeben hat.

Die jüdisch konnotierte Riesenmutter lässt den Christen Widuwilt aufgrund der männlichen Tapferkeit am Leben, die Gott ihm verlieh – nicht sein Gott, sondern ein gemeinsamer. In den Hamburger Handschriften wird am deutlichsten, || 73 Vgl. Warnock (wie Anm. 14), 107.

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dass diese Begründung nicht auf die Rettung vor dem Lindwurm anspielt. Dort ist es nicht Widuwilts kunheit, um deren Willen die Riesenmutter ihn am Leben lässt, sondern seine »weisheit« (Vgl. Widuwilt A/B, 104, 5). Mit dieser Begründung haben die Verse keinen Bezug mehr zum Drachenkampf, denn mit ›Verständigkeit‹ hatte dessen Erlegen nichts zu tun. Die weisheit ist generell weder die Stärke Wigalois’ noch Widuwilts, weswegen Warnock sie als wenig sinnvoll abtut.74 Sie scheint mir hingegen die sinnvollste Variante, wenn man sie im Sinne des Satirischen nicht auf die Figur, sondern auf das Außertextuelle bezieht – und dies, wie die Riesenmutter selbst sagt, »on scherz« (Widuwilt F, 296, 9). Dann nämlich äußert die monströse Frau im Berufen auf einen gemeinsamen Gott und auf die weisheit implizit einen Toleranzgedanken. Dieser sorgt auf der Textebene dafür, dass die Riesenmutter am Leben bleibt und nicht, wie sonst üblich, als Endgegner den Tod durch des Helden Hand findet. Des Weiteren setzt die Riesenmutter die ›Spielregeln‹ für das Ende des Romans fest, lenkt Widuwilt also auf die Bahn, auf der er sich im Folgenden für die richtige Frau entscheidet – so wie Lilith durch ihre (satirisch überzeichnete) Emanzipation75 bewirkte, dass Adam zu seiner Eva fand. Mit dem ›Schonungsgebot‹ klingt das Ideal der Satire an, und durch dieses ist schließlich auch eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Herkunft Widuwilt bzw. auf welche Art und Weise er sich selbst überwinden musste: Dadurch, dass er sein aggressiv-männliches Christentum in der direkten Konfrontation mit der Riesenmutter hintanstellt und weise ihr Toleranzangebot annimmt, das Jüdisch-Weibliche also im Gegensatz zu seinem Umgang mit dem Baum nicht zu zerstören versucht, darf er – nach der heilenden De-Stigmatisierung durch christliche Frauen – dem Happy End zusteuern. Kurzzeitig leuchtet so die Utopie einer jüdisch-christlichen Symbiose auf – ebenso kurzzeitig wie in der realen Geschichte. Das harmonische Ende der Begegnung von Riesenmutter und Protagonisten und damit die Utopie eines wenn auch nicht friedvollen, so doch toleranten Umgangs der Religionen miteinander, fällt direkt im Anschluss an die Szene wieder in sich zusammen: Widuwilt tötet Luzifer – er hatte der Riesenmutter ja auch nicht schwören müssen, dies zu unterlassen. Beinahe scheint es so, als ob die Mutter dieses Opfer für das kurze Aufscheinen des Ideals in Kauf genommen habe. Nach dem Tod des Sohns verschwindet sie aus dem Text; lediglich die von ihr festgelegten Regeln bestim|| 74 Vgl. Warnock (wie Anm. 14), 107, Anm. 28. 75 Die Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre stilisierte Lilith zu einem Mythos der selbstbestimmten Frau. Dabei wurde jedoch ausgeblendet, dass ihre ursprüngliche Charakterzeichnung im Ben Sira eine satirische ist, d. h., dass die Figur eher ein rabbinischer Schenkelklopfer denn eine emanzipatorische Leitgestalt ist.

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men das Hochzeitsfinale, und selbst diese werden letztendlich durch den Ratsschluss des alles ins Lot setzenden Artus ausgehebelt. Als freies Radikal wird das Ideal kurzzeitig fassbar, doch bindet es sich in kürzester Zeit wieder an die (Roman-)Realität. Seine Möglichkeit wird an der Textoberfläche ›märchenhaft‹, doch eingedenk des nicht-märchenhaften Außertextuellen satirisch-verbittert unter den arthurischen Teppich gekehrt und samt der Riesenmutter im Hochzeitstaumel ›assimiliert‹.

7 Schluss Entlang der Grenzziehung zwischen Parodie und Satire ist der Textverlauf also wie folgt zu beschreiben: Der Widuwilt startet als Parodie auf den Wigalois und streut nur gelegentlich nach aus dem Alpha Beta di Ben Sira bekannten Mustern anti-christliche Satire mit ein. Doch mit der neu aufgeladenen Ouvertüre zur finalen Aventüre und spätestens mit dem Erscheinen der jüdisch konnotierten Riesenmutter wandelt sich die intertextuelle Parodie zur auf das Außertextuelle bezogenen Satire. Dieses Außertextuelle wird in der Baumgefangenschaft über die Überkreuzung von Weiblichkeit und Judentum in den Text gespiegelt. In der Zerstörung des weiblich-jüdischen Baums durch den Christen und der anschließenden Stigmatisierung und Penetration desselben durch die Riesenmutter erscheint die Bloßstellung der destruktiven Mechanismen, welche die Satire nach Hegel auszustellen gedenkt. Im harmonischen Ende der Begegnung zwischen Pro- und Antagonist jedoch wandelt sich der Charakter des Texts vorübergehend: Es findet eine Explizierung des Ideals statt, die eher dem utopistischen denn dem satirischen Schreiben zuzurechnen wäre. Doch dadurch, dass das Ideal genauso schnell, wie es aufscheint, auch schon wieder in sich zusammenfällt, erneuert sich die stoische Haltung des Satirikers, der (ebenfalls nach der Hegel’schen Auffassung) das Ideal eines Religionsfriedens gar nicht mehr zu erhoffen vermag. Im Großen und Ganzen ist somit festzuhalten: Den Widuwilt als unterhaltsame Parodie eines Artusromans abzutun, wird dem Text nicht gerecht; er ist vielmehr, eingedenk der Satirentheorie Tucholskys, ›echt krass‹.

Brigitte Burrichter

Raouls de Houdenc La Vengeance Raguidel Komik und Parodie Abstract: Comic is a major component of the Vengeance Raguidel. Consequently, scholars have read this text as a parody of Arthurian romance or at least of the figure of Gawain. However, a close analysis of the narrative and its connection with one of its pre-texts, the Première Continuation Perceval, shows that Raoul de Houdenc uses comic and parodic narrative techniques that correspond to the plot of the Vengeance Raguidel. Seen from this perspective, the work is not a parody of Arthurian romance but rather an entertaining narrative with a unique solution to an aventure honteuse.

1 Einleitung La Vengeance Raguidel (›Die Rache Raguidels‹) ist ein in sich abgeschlossener Artusroman, der Gawain zum Protagonisten hat. Geschrieben wurde er wohl ganz zu Beginn des 13. Jh. in Nordfrankreich, sein Verfasser, Raoul, wird – wenn dies auch nicht eindeutig verifizierbar ist – mit dem auch anderweitig bekannten Raoul de Houdenc gleichgesetzt. Für die folgende Analyse spielt die Verfasserfrage keine Rolle, so dass diese Diskussion hier nicht aufgegriffen werden muss. Der Roman ist in zwei Manuskripten aus dem 13. Jh. erhalten. Eine knappe Inhaltsangabe weist diesen Roman eindeutig als Artusroman aus: Am Osterfest ist der ganze Hof in Carlion versammelt, man wartet auf ein Abenteuer. Dies stellt sich, wenn auch sehr spät, ein: Ein Schiff läuft in die Bucht ein, es ist menschenleer, einzig der Leichnam eines durch eine Lanze getöteten Ritters findet sich aufgebahrt an Bord. Ein kurzer Brief fordert zur Rächung des Toten auf, der Rächer brauche allerdings das Lanzenstück, das noch im Körper steckt, und die Ringe des Toten, um den Mörder zu besiegen. Nur Gawain gelingt es, das Lanzenstück herauszuziehen und damit das Abenteuer als das seinige auszuweisen; an den Ringen scheitert auch er. Die Ringe holt ein unbekannter Ritter, der gleich wieder verschwindet. Gawains Aufgabe ist also komplex: Er muss die Identität des Toten in Erfahrung bringen, den Mann mit den Ringen finden und mit diesem zusammen den Tod des Ritters rächen. Er reitet los, erlebt unterwegs mehrere Abenteuer, kehrt im Laufe seiner Abenteuerfahrt kurzzeitig an den Artushof zurück, stellt dort seine unterwegs

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gewonnene Freundin vor und besteht schließlich das Racheabenteuer. So erzählt handelt es sich um einen Artusroman, der die Gattungskonventionen kennt und befolgt. Die Besonderheit des Romans liegt in der Art und Weise, wie die Konventionen des Artusromans und insbesondere die Idealität seiner intradiegetischen Welt behandelt werden. La Vengeance Raguidel ist von den Kollegen des 19. Jh. indigniert aus der Reihe der ›anständigen‹ Romane ausgeschieden worden; man hat neben anzüglichen Abenteuern die mangelnde erzählerische Einheit gerügt.1 Die weniger prüde Kritik des 20. Jh. hat den Roman dann v. a. als Parodie eines Artusromans gelesen.2 Sowohl die Einheit des Romans als auch der parodistische Charakter wurden insbesondere an der Figur Gawain erklärt: Gawain ist der Protagonist aller Abenteuer, aber seine Abenteuer, v. a. mit Frauen, verlaufen nicht glücklich. Nun ist Gawain schon im Gralsroman der Frauenheld, dem die Frauenherzen zufliegen, der sie auch nicht alle verschmäht, ohne jedoch eine feste Bindung einzugehen. Ihn am Liebesideal der frühen Protagonisten Chrétiens oder an der Gawainfigur der frühen Romane zu messen, scheint für einen Roman des 13. Jh. nicht angemessen. Norris Lacy hat denn auch festgestellt, Gawain sei in La Vengeance Raguidel schlicht »gauvainesque«.3 Aber auch über Gawain hinaus gibt es Szenen, die komisch oder vielleicht auch parodierend aufgefasst werden können. Die Frage, ob die Vengeance Raguidel eine Parodie im eigentlichen Sinne sei oder ob einzelne Teile parodistisch seien, muss zweifach gestellt werden. Zum einen gilt es zu klären, ob der Roman als eine Parodie im modernen Verständnis aufgefasst werden kann, zum anderen aber stellt sich die Frage, ob er als Parodie intendiert war. In beiden Fällen kann eine Antwort nur auf der Basis einer Analyse der narrativen Techniken gegeben werden, die den ersten Teil der vorliegenden Untersuchung bildet. Der zweite Teil ist der Erörterung des Themas ›Parodie‹ gewidmet.

|| 1 Vgl. dazu das Vorwort von Sandrine Hériché-Pradeau in ihrer Ausgabe des Romans: La Vengeance Raguidel, übers. und komm. von Sandrine Hériché-Pradeau, Paris 2009, 11. Nachweise der Einheit des Textes führen aus unterschiedlichen Perspektiven Norris J. Lacy, »Convention, comedy, and the form of La Vengeance Raguidel«, in: Arthurian Literature 19 (2002), 65–75, sowie Heinz Klüppelholz, »Die Idealisierung und Idealisierung des Protagonisten in den altfranzösischen Gauvain-Romanen«, GRM NF 44 (1994), 18–36, hier: 25–27. 2 Vgl. Hériché-Pradeau (wie Anm. 1), 17–24. 3 Lacy (wie Anm. 1), 68.

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2 La Vengeance Raguidel als arthurischer Roman Der Hypotext (bzw. hier: die zugrundeliegende Gattung) des Romans ist mit der Anlehnung an die traditionelle Struktur des Chrétien’schen Artusromans deutlich erkennbar. Der Roman ist zudem hochgradig intertextuell konzipiert: Alle Romane Chrétiens (inklusive der ersten Fortsetzung des Gralsromans) sowie Lais von Marie de France sind in zum Teil deutlichen Anspielungen zitiert, zwei weitere kurze Gawainerzählungen sind in den Roman integriert.4 Die intertextuellen Bezüge, das lässt sich generell sagen, werden häufig eingesetzt, um die Idealität der Artuswelt der Prätexte zu durchbrechen. Das wichtigste Verfahren ist dabei die Herausstellung der alltäglichen Seiten der Ritterwelt sowie, in geringerem Maße, die Körperlichkeit (im karnevalesken Sinn), die in den großen Romanen ausgeblendet bleibt. Die folgende Analyse gilt also weniger den Inhalten der einzelnen Abenteuer als den Techniken des Erzählens, der Frage, wie und wann der Alltag die Idealität durchbricht. Der Roman besteht aus drei Teilen, die sich nicht nur aus inhaltlichen Aspekten ergeben, sondern auch hinsichtlich der Erzählweise Unterscheide aufweisen: Die Rache für Raguidels Tod bildet den Rahmen, in den zwei distinkte Abenteuer eingefügt sind, die ritterlichen Abenteuer mit dem Schwarzen Ritter und der Dame von Gaudestroit sowie das Liebesabenteuer Gawains mit Ydain, die jeweils als retardierende Momente für das Rachethema wirken. Der Beginn des Racheabenteuers und die beiden ersten großen Abenteuer bilden aus der Sicht der Erzählweise eine Einheit (Teil 1), von der sich das Liebesabenteuer mit Ydain deutlich abhebt (Teil 2). Der Abschluss der Rache wird wiederum anders erzählt (Teil 3).

2.1 Die ersten Abenteuer Die Erzählung beginnt mit der Beschreibung des Hofes, die sich mit Verweis auf einen vorgängigen conte darauf beschränkt, den Reichtum des Hofes zu bestätigen. Dieser conte lässt sich leicht identifizieren, denn die Handlung der Vengeance knüpft direkt an eine Episode der Première Continuation Perceval an, für die Raoul einen anderen Verlauf findet. In der Première Continuation betrachtet König Artus in einer schlaflosen Nacht das Meer und sieht ein prachtvolles Schiff kommen, das von einem || 4 Vgl. die Nachweise bei Gilles Roussineau, »Introduction«, in: Raoul de Houdenc, La Vengeance Raguidel, hrsg. von Gilles Roussineau, Genf 2004, 37–43.

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Schwan gezogen wird. Auf dem Schiff findet er den Leichnam eines schönen Ritters, ein Brief erklärt, wie Artus ihn behandeln soll: Der Leichnam soll im großen Saal aufgebahrt werden, bis es jemandem gelingt, den Lanzenstumpf aus seinem Körper zu entfernen. Wer dies tue, dem widerfahre dieselbe Schande wie Gueheret, es sei denn, der fragliche Ritter könne den Angreifer mit der Lanzenspitze töten. Niemand wagt es, das Abenteuer auf sich zu nehmen. Die Erzählung wendet sich dann Gueherets Schande zu, der in einem prachtvollen, scheinbar verlassenen Schloss auf einen verwundeten Ritter gestoßen und von dessen Zwerg im Zweikampf besiegt worden war. Voller Scham kehrt er nach einiger Zeit an den Artushof zurück. Dort bleibt er versehentlich an dem Lanzenstumpf hängen und zieht ihn heraus. Er reitet mit der Lanzenspitze zu dem verletzten Ritter zurück und tötet diesen im Zweikampf. Daraufhin kommt die Freundin des toten Ritters, der am Artushof aufgebahrt ist, kehrt mit Gueheret an den Hof zurück und verlässt diesen zusammen mit ihrem toten Freund auf dem Schwanenboot. Sie deutet an, dass der Ritter im Reich seiner Mutter, einer Fee, wieder zum Leben erwache. Damit endet die Première Continuation. Raoul belässt den Anfang, erweitert ihn aber um einige Motive und greift dann zwei Aspekte der Vorlage auf, die drohende Schande und die Bedeutung des Lanzenstumpfes. Gleich in den ersten Versen verweist der Erzähler darauf, dass sich Artus an die costume halten wolle, die wenig später präzisiert wird: Der König will mit dem Essen warten, bis sich ein Abenteuer zeigt. Dieser Brauch taucht im Gralsroman und in seiner Fortsetzung erstmals auf, dort kommt das Abenteuer jedes Mal prompt.5 In der Vengeance Raguidel aber scheinen die Regeln der Romanwelt nicht mehr zu funktionieren. Hier vergeht die Essenszeit, ohne dass sich das geringste Anzeichen eines Abenteuers einstellt. Die Ritter verlieren die Lust, sie fordern den König auf, auch ohne Abenteuer zu essen, er weigert sich, stellt allerdings den anderen frei, zu essen. Das nun wollen die Ritter nicht. Schon der Romaneingang zeigt also, dass dieser Roman zwar auf den Erwartungen des Artusromans aufbaut, sich diese aber nicht erfüllen, und dass die intradiegetischen Reaktionen darauf sehr menschlich sind: Enttäuschung und, in diesem Fall, Hunger sowie das Dilemma zwischen Pflichterfüllung (auf den König warten) und menschlichen Bedürfnissen (Hunger). Gawain löst das Problem wenigstens für die Ritter: Er setzt sich an den Tisch und isst, die anderen folgen seinem Beispiel. Diese pragmatische Haltung

|| 5 Vgl. Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal, hrsg. und übers. von Charles Méla, in: Chrétien de Troyes, Romans, hrsg. von Michel Zink, Paris 1994, 937–1211, hier : V. 2765–68, und Première Continuation de Perceval, hrsg. von Colette-Anne Van Coolput-Storms, Paris 1993, V. 3134–39.

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zur costume, zur Einhaltung eines Brauches, zeichnet Gawain schon bei seinem ersten Auftritt in Chrétiens Erec aus – dort allerdings geht es nicht ums Essen, sondern um den Frieden am Hof. Die Verlagerung ist subtil, doch die Idealität des Ritterromans wird dadurch bereits ein zweites Mal gebrochen. Spät in der Nacht, als alle außer dem König schlafen, kommt schließlich das mysteriöse Schiff mit dem Leichnam und der Anweisung, den unbekannten Toten zu rächen, ihm Lanzenstumpf und Ringe abzuziehen. Beglückt weckt der König seinen Hof und fordert dazu auf, sich an dem Lanzenstumpf zu versuchen. Auch hier bricht die Erzählung mit den Konventionen des Artusromans. Dort versuchen sich in der Regel alle Ritter an einer Aufgabe, bis sie schließlich dem Auserwählten mühelos gelingt; die vergeblichen Versuche werden nur summarisch erwähnt. Hier wird einer der erfolglosen Versuche am Beispiel Keus drastisch geschildert: Keu stellt sich auf den Leichnam und zerrt so sehr an der Lanze, dass die Wunde des Toten aufbricht. Der König rügt ihn dafür, aber dem Rezipienten wird deutlich vor Augen geführt, wozu solche Versuche führen können und was die großen Romane verschweigen. Auch alle anderen Ritter scheitern, erst Gawain erweist sich als der Auserwählte (zumindest, was die Lanze angeht): Er kann den Lanzenstumpf mühelos entfernen. Das Abenteuer ist da, man geht zum Essen. Der Erzähler korrigiert in dieser Szene in gewisser Weise seine Vorlage, in der sich niemand zu dem Abenteuer entschließen konnte und die Lanze schließlich versehentlich aus dem Körper des Ritters gezogen wurde. In der Vengeance wird daraus ein stringentes Abenteuer mit Gawain als Protagonisten. Mit dieser ersten Erzählsequenz endet der enge Bezug zur Première Continuation Perceval, der Erzähler fährt mit Szenen ohne erkennbare Vorlage fort. Aus der ersten Sequenz ist noch die Frage der Ringe offen, die ebenso wie der Lanzenstumpf für die Rache nötig sind. Während des Mahls schickt der König einen Diener in die Küche, er solle den Service beschleunigen, weil er nicht den ganzen Tag beim Essen zubringen wolle. Der Erzähler nutzt diesen wenig festlichen Befehl für eine kurze, sehr realistische Szene, die zeigt, wie der Alltag auch ganz ohne komische Absicht in die Erzählung eingefügt wird: Dem Diener schlägt in der Küche der Rauch entgegen, so dass er sich an ein Fenster flüchtet, um frische Luft zu schnappen. Der Blick in die Realität einer mittelalterlichen Schlossküche ist freilich nicht ohne narrative Funktion: Der Diener sieht, wie ein eleganter Ritter dem Toten die Ringe abzieht und wegreitet. Er will dies sofort dem König berichten, trifft aber vorher auf Keu, der nun, ganz seiner traditionellen Rolle gerecht, auf eigene Initiative den Ritter verfolgen will. Ein anderes Abenteuer kommt ihm dazwischen, Keu unterliegt im Kampf mit einem fremden Ritter.

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Artus erfährt zeitgleich vom Raub der Ringe und von Keus Niederlage. Gawains Aufbruch ist in dieser Situation ziemlich überstürzt, und in der Eile vergisst er den Lanzenstumpf, ohne den das Abenteuer nicht zu bestehen ist. Der Kommentar des Erzählers vermeidet jegliche Dramatik: Zwar stellt er klar, dass ohne die Lanze das Abenteuer nicht zu bestehen sei, aber er fasst das Problem kurz zusammen: »Il s’en vait, si l’a oblïé« (V. 547: »Er reitet weg und hat sie vergessen«). Damit endet die Eröffnungsepisode. Nach einer Nacht im Wald trifft Gawain in der Wildnis auf einen Viehhirten, den er allerdings nicht, wie Calogrenant im Yvain, nach dem Abenteuer fragt, sondern schlicht nach einer Einkehrmöglichkeit. Der Viehhirte ist auch kein wilder Mann wie sein Vorbild aus dem Yvain, sondern ein ganz normaler Mann aus dem Volk, der zudem sofort die Flucht ergreifen will, als er den Ritter sieht und völlig verängstigt auf Gawains Fragen antwortet – er hat offensichtlich schlechte Erfahrungen mit Rittern gemacht. Schließlich weist er Gawain den Weg zu einem Schloss, vor dem er aber eindringlich warnt:6 Der Schlossherr bringe jeden um, der das Schloss betrete, er, der Hirte, habe das Schloss einmal betreten und sei nur knapp mit dem Leben davongekommen. Gawain lässt sich weder von den Warnungen des Hirten noch von den Schädeln, die rund um das Schloss auf Pfählen aufgereiht sind,7 abschrecken und reitet in den großen Saal des Schlosses. Dieser ist menschenleer, ganz wie das Schloss, in dem Gueheret in der Première Continuation Perceval sein schändliches Abenteuer mit dem Zwerg erlebt. Zwar steht im Brief in der Vengeance nichts von der drohenden Schande für denjenigen, der das Racheabenteuer ohne den Lanzenstumpf unternehmen will, das Schloss als erstes Abenteuer Gawains weckt aber die Erinnerung an diese Gefahr. In diesem Schloss allerdings steht ein reichlich gedeckter Tisch, und Gawain, der die Nacht davor im Wald verbracht hatte, beginnt zu essen. Als er seinen Hunger gestillt hat, kommen Diener in den Saal und bringen den nächsten Gang,8 auch den lässt Gawain sich schmecken. Dann kommt der Hausherr – Maduc, der Schwarze Ritter – zurück und fordert ihn rüde zum Kampf auf. Gawain hat keine Lust zu kämpfen, er bietet an, das Essen ganz einfach zu bezahlen. Zum ersten Mal wird er hier in einer Situation gezeigt, die wenig ritterlich ist, müsste er doch eigentlich die Herausforderung sofort annehmen. Als Maduc auf dieses ebenso banale wie pragmatische Angebot nicht || 6 Der gefährliche Schlossherr stammt aus dem Chevalier à l’Épée, die Erzählung ist in der Vengeance Raguidel auf zwei distinkte Episoden aufgeteilt (zum zweiten Teil siehe unten). 7 Das Motiv stammt aus der Joie de la Cort-Episode in Chrétiens de Troyes Erec et Enide; vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, hrsg. und übers. von Jean-Marie Fritz, in: Chrétien de Troyes, Romans, hrsg. von Michel Zink, Paris 1994, 55–283, hier V. 5766–78. 8 Die Vorlage dieser Szene ist sehr deutlich die Gralsprozession aus Chrétiens Roman.

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eingeht, bittet Gawain um Aufschub – er möchte zu Ende essen. Der Herausforderer, der sich ansonsten auf keinerlei Bedingungen einlässt, wartet tatsächlich – die Situation entbehrt nicht einer gewissen Komik, die noch durch den Umstand gesteigert wird, dass Gawain sich während des Essens zum Kampf rüstet. Gawain besiegt seinen Gegner und erfährt, dass Maduc den Brauch mit dem gedeckten Tisch eingerichtet hat, um Gawain anzulocken, den er umbringen will: Gawain hatte ihn einst in einem Turnier besiegt, dessen Preis seine Freundin gewesen war. Gawain hatte auf die Dame verzichtet, diese allerdings liebt seither nur Gawain. Die beiden Männer schließen Freundschaft, Gawain beschließt, an ihren Hof zu gehen. Die Beschreibung des Hofes der Dame und der ihn umgebenden Stadt ist recht lang und illustriert nach der Essensszene ein weiteres Mal deutlich, wie der Erzähler die ideale Höhe des höfischen Romans bricht. Dort sind Städte, soweit sie beschrieben werden, prächtig und reich (insbesondere, wenn sie eine Herrin haben), im Gawainteil des Gralsromans werden auch die kriegswichtigen Handwerke beschrieben.9 In der Vengeance Raguidel erwähnt der Erzähler summarisch den Reichtum und zählt dann all die Handwerke auf, die es in der Stadt gibt, angefangen von den Webern bis zu den Kaufleuten und Ärzten mit ihren Praktiken, die Leute für dumm zu verkaufen, und zu den Putzmacherinnen. Es entsteht so ein sehr lebendiges Stadtporträt, das einen deutlichen Schwerpunkt auf den bürgerlichen Aspekt der Stadt legt und damit die Konventionen des Ritterromans durchbricht – zumal die Beschreibung keinerlei narrative Funktion hat. Ähnlich detailliert und mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den technischen statt den ritterlichen Aspekten beschreibt Raoul wenig später auch die Belagerung und Verteidigung von Maducs Burg. Die Herrin dieser Stadt, die Dame von Gaudestroit, hofft darauf, dass sich Gawain bei ihr einfinde, um sich dann an ihm zu rächen – sie will ihn umbringen. Um ihn anzulocken, hält sie seinen Bruder Caherïet gefangen, der in der Première Continuation Perceval Protagonist der Rache war. Eine ihrer Dienerinnen erkennt Gawain rechtzeitig und warnt ihn; um ihn zu schützen, will sie ihn für einen anderen ausgeben. In der Eile fällt ihr leider nur Keu ein, dessen schlechter Ruf so gar nicht zu dem höfischen Ritter passen will, den die Dame empfängt – aber sie lässt sich täuschen und erzählt dem vermeintlichen Keu ihre Pläne: Sie hat eine wundervolle Kapelle einrichten lassen, in der ein ebensolcher Sarkophag steht. Man kann von einem Nebenraum aus durch ein kleines Fenster in die Kapelle blicken – ein Fenster, das mit einem messerscharfen Fallbeil ausgestattet ist. Sollte Gawain seinen Kopf durch das Fenster stecken,

|| 9 Vgl. Chrétien, Le Conte du Graal (wie Anm. 5), V. 5684–5702.

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würde sie ihn töten. Dann würde sie sich selbst umbringen und sie beide gemeinsam im Sarkophag bestatten lassen, »boce a boce, vis contre vis« (V. 2298: »Mund an Mund, Gesicht gegen das Gesicht«) – ganz so wie Erec und Enide als Liebespaar beieinander liegen.10 Gawain wird bleich vor Angst und Schrecken (V. 2303–07) und ergreift am frühen Morgen die Flucht (nicht, ohne seinen Bruder zu befreien). Er rettet sich an Maducs Hof, dort fällt ihm plötzlich die vergessene Lanze ein und er beschließt, schnell an den Artushof zurückzureiten. In diesem ersten Teil wird immer wieder mit den Idealen der Ritterwelt gebrochen, wenn auch die meisten Verfahren eher subtil sind. So kümmert sich etwa Gawain statt um den Frieden am Hof um das Essen, in Maducs Burg will er sogar auf den ritterlichen Zweikampf verzichten, um in Ruhe essen zu können. Zunehmend dringt hier der Alltag außerhalb der idealen Ritterwelt in die Erzählung ein: Die großen Beschreibungen der bürgerlichen Stadt und des Kampfes um Maducs Burg mit allerhand Kriegsgerät anstatt durch ritterlichen Schwertkampf, aber auch kleine Szenen wie die verrauchte Küche oder die knappe Beschreibung, wie Gawain sich ein Nachtlager im Wald baut, schaffen eine zeitgenössische Welt, die den Abenteuern Gawains viel von ihrer romanhaften Aura nimmt. Diese Abenteuer sind Zitate vorgängiger Artusliteratur (v. a. Erec, Yvain und der Gralsroman), die sozusagen auf einer niedrigeren Ebene nachvollzogen werden: Aus dem Wilden Mann wird ein normaler, verängstigter Hirte; Gawain sucht zwar eigentlich sein Abenteuer, hat aber vorderhand erst einmal Hunger; Maduc verziert seine Burgpalisade zwar mit den abgeschlagenen Köpfen der Besiegten, aber er ist ein verbitterter, enttäuschter Liebhaber, kein Verteidiger eines Liebesgartens. Die Dame schließlich ist völlig desillusioniert: Selbst wenn sie Gawains Liebe erringen könnte, wäre diese nicht von Dauer, da Gawain notorisch untreu ist. Die Darstellung von Körperlichkeit ist in diesem Teil des Romans v. a. auf Keus Brutalität in der Lanzenprobe und auf die kurze Szene mit Gawain als Protagonisten reduziert: Er, der untadelige, tapfere Ritter, wird angesichts der Guillotine blass vor Schrecken und reagiert körperlich, als ihm plötzlich die vergessene Lanze einfällt. Diese Beschreibung wirkt auf uns ziemlich komisch, ist aber vielleicht eher für eine Geschichte der Körpersprache aufschlussreich. Gawain bekommt Herzklopfen, klagt laut, verdreht die Augen und hebt die

|| 10 Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide (wie Anm. 7), V. 2473: »Bouche a bouche entre braz gisoient«.

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Arme hoch.11 Es sind Körperäußerungen, die für einen Ritter nicht ungehörig sind, in einem traditionellen Ritterroman aber ausgeblendet bleiben. Zusammen mit dem Romananfang scheint mir das Ziel dieser Erzählmomente zu sein, die Idealität des hochadligen Ritterromans zu brechen und einen Rahmen zu finden, der wohl die reale Situation des mittleren und niederen Adels reflektiert (aus dem der Verfasser, wenn es tatsächlich Raoul de Houdenc ist, auch stammt). Einzelne dieser Szenen sind eindeutig komisch, insbesondere das Warten auf ein Abenteuer am Anfang und Gawains Affinität zu gutem Essen; die Quiproquos, als Gawain incognito in Maducs Burg und bei der Dame de Gaudestroit ist, kippen stellenweise ins Komische. Der Romananfang zeigt aus dieser Perspektive eine Steigerung: Am Anfang funktionieren die Abläufe der Artuswelt nicht mehr so problemlos wie in den Prätexten, der Anteil der alltäglichen und körperbetonten Aspekte nimmt während Gawains Queste zu, und zum Ende hin bekommt die Erzählung deutlich komische Züge.

2.2 Die Ydain-Episode Gawain macht sich von Maducs Burg aus auf den Weg zum Artushof. Unterwegs begegnet ihm das Abenteuer, das dem Roman die Rüge der älteren Forschung eingetragen hat. Gawain hört die Hilferufe einer Frau, die von einem Ritter misshandelt wird. Er fordert den Ritter zum Kampf heraus und befreit die Frau. Sie bietet sich ihm regelrecht an: »Dols amis, messire Gavains, / a vos me donis, a vos me rent!« (V. 3538f.: »Lieber Freund, Herr Gawain, Euch ergebe ich mich, Euch überlasse ich mich«). Zur Bekräftigung küsst sie ihren Befreier – und Gawain verliebt sich auf der Stelle. Die Beschreibung seines Sich-Verliebens spielt sichtlich auf die langen Ausführungen über die Liebe und die vielen Wortspiele etwa im Cligès oder im Yvain an: In einer langen Liste beschreibt der Erzähler, wie sehr Gawain liebt, die Satzstruktur ist dabei recht einheitlich: Er liebt sie, er sagt, dass er sie lieben will, er liebt sie mehr als sie ihn liebt, er liebt sie ein bisschen, er liebt sie mehr, er liebt sie viel mehr als seine Augäpfel usw. Am Ende bleibt kein Plätzchen in seinem Körper, das nicht von Liebe erfüllt wäre (V. 3590–3607).

|| 11 »Lors li veïst on gran duel faire / et demener et corecier, / les iels movoir, le cuer lancier, / les bras estendre et tresaillir«; V. 3128–31: »Da sah man ihn großen Schmerz zeigen und sich grämen und zürnen, die Augen verdrehen, das Herz schlagen, die Arme ausbreiten und zittern«.

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Auf dem Weg zum Artushof berichtet ein Bote von einer Treueprobe, die dort stattgefunden habe. Gawain bedauert sehr, dass er und seine Freundin nicht dabei waren, er ist überzeugt, dass sich Ydains Treue erwiesen hätte. Zurück am Hof sieht sich Gawain v. a. dem Spott Keus ausgesetzt, weil er dem Rache- ein Liebesabenteuer vorgezogen habe. Außerdem kommt ein missgebildeter Ritter und fordert Ydain, Gawains neue Freundin, für sich. Man verabredet einen Kampf um die Dame vier Wochen später an einem anderen Hof. Gawain zieht schließlich mit Ydain (und dem Lanzenstumpf) los, um endlich sein Abenteuer zu bestehen. Unterwegs treffen sie auf einen Ritter, der Gawain nicht etwa zum Kampf herausfordert, wie das Romanritter an Waldwegen gemeinhin tun; dieser Ritter ist abgestiegen, um zu urinieren. Gawain reitet dezent vorbei, ob Ydain etwas gesehen oder ihre Augen abgewendet hat, weiß der Erzähler nicht.12 Jedenfalls verfolgt der Ritter, als er wieder auf dem Pferd sitzt, die beiden und fordert Ydain für sich. Gawain greift ihn an, lässt sich dann aber auf einen Vorschlag des Herausforderers ein: Ydain soll entscheiden, mit wem sie reiten will. Zum zweiten Mal weicht Gawain hier einem Kampf aus, und Ydain wirft ihm denn auch vor, nicht einmal um sie kämpfen zu wollen – und geht zu dem fremden Ritter. Gawain reagiert wütend und enttäuscht. Am schlimmsten ist allerdings, dass er jetzt das Pfand verloren hat, um das er ja in vier Wochen kämpfen sollte – damit steht seine Ritterehre auf dem Spiel, der Liebesschmerz steht erst an zweiter Stelle. Aber Ydain kommt zurück, um ihre Hunde zu holen, und Gawain tötet nun ihren neuen Begleiter im Kampf. Ydain erklärt Gawain voller Freude, dass das Ganze nur eine Liebesprobe war – aber Gawain ist nicht Lancelot, der alle Zumutungen seiner Dame in unerschütterlicher Liebe erträgt, Gawain ist von der Liebe geheilt. Der Erzähler greift hier auf eine zeitgenössische Kurzerzählung mit eher burleskem Charakter zurück, den anonymen Chevalier à l’Épée. Dort erringt Gawain nach einigen Hindernissen eine Freundin und reitet mit ihr zum Artushof. Unterwegs nimmt ein vorbeireitender Ritter das Fräulein am Zügel und führt sie weg. Gawain kann nicht kämpfen, weil er, im Gegensatz zum anderen, nur leicht bewaffnet ist. Der Gegner schlägt vor, das Fräulein wählen zu lassen, sie entscheidet sich für den neuen Ritter. Die Hunde entscheiden sich für Ga-

|| 12 Die Edition von Roussineau (wie Anm. 4), die auf der Nottingham-Handschrift (University Library Mi LM 6) basiert, spricht von »ses braies« (V. 4452), seinen Unterhosen, das andere Manuskript (Chantilly, Musée Condé 472) ist noch expliziter und ergänzt »ço qu’il tint« (»was er [in seiner Hand] hält«).

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wain, sie verteidigt er trotz der ungleichen Bewaffnung und tötet den Gegner. Das Fräulein will zu ihm zurückkehren, er lehnt ab und lässt es allein im Wald zurück. In der Vengeance nimmt Gawain Ydain mit, er braucht sie ja als Pfand im Kampf gegen den missgestalteten Ritter. Ydain muss vor ihm her reiten, ohne zu wissen, was Gawain plant. Anders als Enide in der vergleichbaren Situation schweigt Ydain allerdings nicht, sondern redet ununterbrochen, um Gawain zurückzugewinnen. Sie kommen an den Hof des Herausforderers, Gawain besiegt ihn ohne Probleme – und überlässt ihm Ydain. Raoul ändert hier, wie schon am Anfang des Romans, seine Vorlage an einer Stelle, an der dort die Motivation fehlte. Im Chevalier à l’Épée will das Fräulein ausprobieren, wie der andere Ritter ist, da es Gawain ja kennt.13 In der Vengeance wird angedeutet, dass Ydain den anderen Ritter für den besseren Liebhaber halten könnte. Zudem fügt Raoul seine Szene, anders als der Verfasser der Vorlage, sehr sorgfältig in den Roman ein. Bereits Gawains Verliebtheit, mit der dieser mittlere Teil beginnt, erreicht – auch sprachlich – nicht die Höhenflüge der höfischen Liebe mit ihren an der antiken Rhetorik geschulten Ausdrucksformen; Ydain spielt zwar die Geliebte aus einem höfischen Roman, kann die Rolle aber nicht überzeugend ausfüllen. Ihre Ankunft am Artushof zitiert sehr deutlich diejenige Enides, allerdings ist Ydain aufs Herrlichste gekleidet und geschmückt und wird dadurch zur Gegenfigur. Die Mantelprobe aus dem Botenbericht entspricht in ihrer Misogynie dem Thema, die Damen am Artushof erweisen sich (fast) alle als untreue Ehefrauen oder Freundinnen. Die Begegnung mit dem fremden Ritter bildet den Höhepunkt des mittleren Teils, wenn nicht der ganzen Erzählung. Hier steigert sich die mangelnde Idealität von Gawains Liebe zur derben Komik. Der Ritter wird mit einer Verrichtung präsentiert, die eindeutig dem Karnevalesken Bachtin’scher Prägung zuzuordnen ist, die zudem umgangssprachlich benannt wird: »[Li] chevalier [...] pisça lés un busçon contre unes haies« (V. 4450f.: »Der Ritter pisste neben einem Busch gegen eine Hecke«). Die drastisch beschriebene Körperlichkeit verortet Gawains Liebe im rein Körperlichen und steht so im deutlichen Gegensatz zur Liebeskonzeption und -darstellung in den Chrétien’schen Artusromanen. Die Kommentatoren haben mit der Ydain-Episode ihre Mühe, sie scheint nicht in den Roman zu passen und wirkt wie ein burlesker Fremdkörper in der Artuswelt. Ganz beliebig ist die Szene allerdings nicht. Zum einen ist sie, wie

|| 13 Vgl. Chevalier à l’Épée, in: Two Old French Gawain Romances, hrsg. von R. C. Johnston, D. D. R. Owen, New York 1973, Teil 1: Le Chevalier à l’Épée, 30–60, V. 984–987. Der Erzähler ergänzt diese Entscheidung mit misogynen Kommentaren.

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gesagt, im Erzählton die negative Steigerung der vorausgehenden Szenen. Aber sie ist auch durchaus inhaltlich motiviert: In der Première Continuation wurde deutlich gesagt, was folgt, wenn ein Ritter ohne die Lanze zur Rache auszuziehen wird – eine Schande, wie sie Gueheret widerfahren ist. In der Vengeance ist von dieser Gefahr nicht die Rede, die Erzählung bringt sie aber über Gawains Bruder, der auch hier als Gefangener der Dame de Gaudestroit in einer schändlichen Situation ist, in Erinnerung und löst die Bedingung ein. Den Kampf im zunächst leeren Schloss besteht Gawain ohne Probleme. Danach muss er sich zwar als Keu ausgeben, was für Gawain durchaus schändlich ist, aber die wirkliche Schande trifft ihn in einem anderen Bereich: Er verliebt sich in eine Frau, die nicht höfisch ist, und wird von ihr in eine ausgesprochen unhöfische Situation gebracht. Aber nun hat er die Lanze dabei und kann, nachdem die Liebe überwunden und die Schande gerächt ist, das Abenteuer erfolgreich zu Ende führen.

2.3 Die Rache für Raguidel Gawain reitet nun allein weiter und vermeidet alle menschlichen Ansiedelungen, bis er schließlich ans Meer kommt, wo das Schiff des toten Ritters auf ihn wartet. Er besteigt es, nicht ohne Sorgen, denn so mutig er an Land ist – das Meer ist ihm nicht geheuer. Das Schiff bringt ihn nach Schottland, wo er gleich auf ein Fräulein trifft, das sich als die Freundin des toten Ritters herausstellt und sehnsüchtig auf Gawain wartet. Sie erzählt ausführlich, wie Raguidel von einem grausamen Ritter mit verzauberter Rüstung getötet wurde und wie eine wohlmeinende Fee den Leichnam auf das Schiff brachte, um damit Gawain als Rächer zu holen. Die Fee habe auch festgelegt, dass nur der Ritter mit der Lanze und der mit den Ringen zusammen den Mörder Raguidels besiegen können. Gawain, der auch in anderen Situationen wenig auf Zauber gegeben hatte, schreitet sofort zur Tat. Der böse Ritter ist nicht weit, der Kampf beginnt, Gawain scheitert allerdings an der Zauberrüstung seines Gegners. Erst, als er zum Lanzenstumpf greift, kann er den anderen niederzwingen. Nun greift der Bär, der den Ritter begleitet wie der Löwe Yvain, in den Kampf ein, zum Glück ist mittlerweile aber auch der Ritter mit den Ringen zur Stelle. Der Kampf wird dann schließlich, nachdem der Bär getötet ist, ritterlich und ohne Zauberhilfe entschieden: Gawain und der böse Ritter bekommen neue Rüstungen und Waffen, Gawain besiegt seinen Gegner im ehrlichen Kampf. Damit ist das Abenteuer beendet, wie der Erzähler ausdrücklich vermerkt: »Or est la mors vengié de Raguidau qui fust ocist« (V. 5732: »Nun ist der Tod Ragui-

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dels gerächt, der getötet wurde«). Die Erzählung endet am Artushof mit der allgemeinen Freude des Hofes. In diesem letzten Teil, in dem Gawain mit der Lanze, aber ohne Ydain unterwegs ist, ändert sich die Erzählweise. Die Welt des Abenteuers, in die er nun eintritt, ist durchweg romanesk. Es gibt übernatürliche Elemente (das Schiff, die Zauberrüstung und die Zauberwaffen Lanzenstumpf und Ringe), merkwürdige Bräuche (die Freundin Raguidels trägt ihre Kleidung falsch herum, bis ihr Freund gerächt wird), Ritterkämpfe und eine feudale Ordnung, die durch Gawains Sieg und sein überlegtes Handeln danach wieder herstellt wird. Alltäglichkeit oder Körperlichkeit wird nur sehr wenig eingesetzt, so, wenn Gawain sich auf dem Meer unwohl fühlt oder vor Freude und Aufregung mit den Armen rudert. Über den gesamten Roman betrachtet, erweist sich das Durchbrechen der arthurischen Idealität als sehr genau konzipiert. Am Anfang des Romans gibt es kleine Abweichungen von den üblichen Gegebenheiten des Artusromans, die mit dem Eindringen der alltäglichen Aspekte und den komischen Episoden deutlicher werden. Der Umschlag ins Burleske stellt eine weitere Steigerung dar, von der aus die Narration dann zum gattungskonformen Erzählen der Schlussepisode zurückkehrt. Wenn man Gawains Liebesabenteuer als die in der Premiere Continuation angedrohte Schande versteht, ist das allmähliche Hineingleiten der Erzählung ins Burleske und das recht schnelle Wiederhinaustreten aus dieser Gattung auch erzähllogisch motiviert. Held einer Burleske zu sein, ist für einen Ritter noch schändlicher, als gegen einen Zwerg zu verlieren; Raoul hat also eine ingeniöse Steigerung seines Prätextes gefunden.

3 Komik und Parodie in der Vengeance Raguidel Heinz Klüppelholz hat das Grundproblem aller Gawainromane damit beschrieben, dass Gawain als der perfekte Ritter durch seine Abenteuer nicht besser werden kann und damit das Grundschema der früheren Romane fehlt. Sie sind zudem nicht in den heilsgeschichtlichen Rahmen der Gralssuche eingebunden. Es bleibt nur die Krise als Auslöser für das Abenteuer, die Erzähler sind frei, ihren Text nach Belieben zu perspektiveren. Die Ironisierung des Protagonisten ist dabei ein beliebtes Verfahren.14

|| 14 Vgl. Klüppelholz (wie Anm. 1), 18f.

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Auch die Vengeance Raguidel greift zur Ironisierung, beschränkt sie aber nicht auf Gawain. Hier bewegt sich der Protagonist nicht mehr in der idealen Ritterwelt der Chrétien’schen Romane (deren Idealität, wenn auch auf andere Weise, auch immer schon gebrochen war), wohl aber gelten noch die Regeln des Abenteuers. Solange Gawain die Voraussetzungen für das Abenteuer nicht erfüllt, sich ohne die Lanze und damit ohne Berechtigung auf die Suche macht, ist er nicht besser als Keu, der sich jedes Abenteuer unberechtigt aneignen will (vielleicht ist der Deckname bei der Dame von Gaudestroit auch aus dieser Perspektive kein Zufall). Wie Keu in einer solchen Situation scheitert auch Gawain. Er bewegt sich in einer nicht primär ritterlichen Welt, und je länger die Situation andauert, umso tiefer fällt er – der Griff ins burleske Register illustriert dies überdeutlich. Als er dann mit der Lanze unterwegs ist, kann er, nach einigen Zwischenstationen, das Abenteuer lösen. Kann man bei der Vengeance Raguidel von einer Parodie – des Ritterromans, Gawains, der höfischen Liebe – sprechen? Selbst für den sehr weit gefassten Parodiebegriff mancher moderner Wissenschaftler, die jeden intertextuellen Bezug mit komischer oder satirischer Tendenz als Parodie werten, scheint dies problematisch. Raoul integriert in seinen Text höfische und nichthöfische Vorlagen und greift damit die ganze Bandbreite des arthurischen Erzählens um 1200 auf. Seine Umakzentuierung der intradiegetischen Welt kontrastiert Elemente der traditionellen arthurischen Welt mit nichthöfischen in einer Weise, die beide Aspekte deutlich erkennbar belässt und durch ihren Gegensatz immer wieder Komik erzeugt,15 die Raoul sehr kalkuliert einsetzt. In der Perspektive der Berechtigung zum Abenteuer lässt sich dieser Einsatz der komischen Passagen nämlich (abgesehen von der Eingangsszene) rein funktional lesen, erscheint also als eine folgerichtige Konsequenz der fehlenden Berechtigung zum Abenteuer. Raoul nimmt Gawains Rolle als Frauenheld zum Ausgangspunkt seiner Version der im Prätext angedrohten Schande und führt den Roman mit einem untadeligen Protagonisten zu Ende, nachdem dieser die Voraussetzung für das Abenteuer erfüllt. Weder der Roman noch sein Protagonist sind aus dieser Perspektive parodistisch zu erklären. Die Verfahren der Kontrastierung von höfischem und nicht-höfischem Register schließen aber Passagen ein, die einer Parodie im modernen Verständnis sehr nahe kommen. Dies gilt insbesondere für die Darstellung der Liebe. Sowohl die Liebe der Dame de Gaudestroit zu Gawain als auch insbesondere Gawains

|| 15 Vgl. die Überlegungen zur Komik als Kipp-Phänomen bei Wolfgang Iser, »Das Komische: ein Kipp-Phänomen«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 398–402, hier v. a. 399.

Raouls de Houdenc La Vengeance Raguidel | 301

Liebe zu Ydain sind wahre Karikaturen der höfischen Liebe. Aus der Sicht der Entstehungszeit ist diese Einordnung allerdings nicht unproblematisch. Den Begriff der Parodie gibt es im Altfranzösischen nicht, er dürfte aber gebildeten Autoren und vielleicht auch manchen Rezipienten aus dem Lateinischen geläufig sein. Dort gilt er im Mittelalter der Transformation kirchlicher, oft liturgischer Texte zu satirischen oder burlesken Zwecken, bei der vorausgesetzt wird, dass der Grundtext erkennbar und bekannt ist. Das grundlegende Verfahren besteht in einer Transformation eines Textes in ein niedrigeres Register, das aber nicht zum Ziel hat, den parodierten Text selbst ins Lächerliche zu ziehen oder zu kritisieren.16 Übertragen auf volkssprachliche Texte kann man den Begriff, bei aller Vorsicht in der Analogiebildung, vielleicht auf Transformationen von Passagen anerkannter, hochgeschätzter und bekannter volkssprachlicher Texte anwenden, wenn diese Transformationen komischen oder gar burlesken Charakter aufweisen. In der Vengeance gibt es Passagen, die eine Analogie zur Parodie im Lateinischen zeigen. Die Beschreibung der Stadt etwa folgt zunächst recht genau der Stadtbeschreibung in Chrétiens de Troyes Gralsroman und führt dann die Beschreibung mit der satirischen Darstellung der Ärzte und den ganz einfachen Gewerken fort. Die Stadt bekommt dadurch einen deutlich bürgerlichen Aspekt, den die Stadt bei Chrétien nicht hatte. Gawains Liebe nimmt in ähnlicher, wenn auch nicht so wörtlicher Weise Bezug auf Chrétien’sche Prätexte. Insbesondere im Cligès und im Yvain gibt es lange, komplexe Passagen über die psychischen Auswirkungen und das Ausmaß der Liebe. Raoul fasst diese in achtzehn Versen zusammen, von den elf mit or l’aimme beginnen (V. 3599–3602). Gawains Liebe ist intensiv, aber einfach, ihre Beschreibung weist sie als banal und vorrangig körperlich aus.17 Ein drittes Beispiel ist der Aufbruch Ydains zum Artushof, der deutlich an Enides Weg zum Hof angelehnt ist. In Erec et Enide legt Erec großen Wert darauf, Enide in ihren ärmlichen Kleidern zur Königin zu führen. Ydain dagegen kleidet sich sehr sorgfältig, und der Text unterstreicht dies:

|| 16 Ich folge hier Philippe Ménard, Le Rire et le sourire dans le roman courtois en France au moyen age, Genf 1969, 513. Vgl. die Diskussion – mit Rückgriff auf Ménard – bei Claude Lachet, La Prise d’Orange ou la parodie courtoise d’une épopée, Genf 1986, 199–201, und die Einleitung von Folke Gernert zu ihrer Studie Parodia y ›contrafacta‹ en la literature románica medieval y renacentista, San Millan de la Cogolla 2009, 13–31. 17 Dazu passt, dass sie nicht etwa schon durch den Anblick Ydains ausgelöst wird, sondern erst durch deren Kuss.

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Yde s’atorne, Yde se vest, Yde se lie, Yde se lace, Yde fait venir en la place Une mule bien afeltree. Tote sa cosse a demandee A sa maisnie. Lors monta. (V. 3744–49) Yde schmückt sich, Yde kleidet sich, Yde bindet sich, Yde schnürt sich, Yde lässt ein gut geschirrtes Maultier auf den Platz führen. Sie verlangt von ihren Dienern ihre ganzen Sachen zu bringen. Dann steigt sie auf.

Enide als Inbegriff der natürlichen Schönheit wird so die reich geschmückte Ydain gegenüber gestellt, bei der nur die äußere Schönheit zählt. Auch der gemeinsame Ritt zum Hof greift das Vorbild auf. Erec und Enide schauen sich während des Rittes unentwegt an und bewundern jeweils die Schönheit des anderen. Raoul spielt v. a. auf den Anfang der Szene bei Chrétien an. Dort heißt es: »De l’esgarder ne pot prou faire: / Quant plus l’esgarde, plus li plait, / Ne puet müer que ne la bait« (Erec et Enide, V. 1482–84: »Er kann sie nicht genug betrachten: Je mehr er sie betrachtet, umso mehr gefällt sie ihm, er muss sie küssen«). Auch Gawain betrachtet seine Freundin: »sovent le voit, sovent l’esgarde, / sovent le prent, sovent le baise« (V. 3773f.: »oft sieht er sie, oft betrachtet er sie, oft umarmt er sie, oft küsst er sie«). Der Erzähler blickt dann in die Zukunft: Da Gawain seine Freundin umso mehr liebt, je länger er sie anschaut, wird er sie nach fünf Jahren des Betrachtens noch mehr lieben als jetzt. Zeigt das anaphorische sovent des Szenenanfangs zunächst Gawains Liebe an, so wirkt es durch die Angabe der Jahreszahl nur noch repetitiv. An die Stelle der Beschreibung des schönen Paares tritt Gawains Vergleich seiner Freundin mit Rosen und Smaragden. Die Aufzählung wird durch einen Kommentar des Erzählers unterbrochen: »Certes, fole cosse a en cuer!« (V. 3784: »Wahrlich, er hat dummes Zeug im Herzen!«). Der Idealität des Liebespaares wird so durch die Art der Darstellung die blinde Liebe zu einer unwürdigen Frau entgegengesetzt. Die Vengeance Raguidel ist ein Gawainroman, der sich der Herausforderung des Genres stellt: Raoul nutzt den Prätext der Anfangsszene, um seinen Protagonisten in eine burleske Situation zu führen, er bricht mit der Idealität des Artusromans zunächst eher unauffällig, dann immer deutlicher und setzt dabei ganz verschiedene Verfahren ein: die Betonung des Alltäglichen und des Körperlichen, offene Komik und in einigen Szenen auch parodistische Techniken. Das Ergebnis ist eine hochgradig intertextuelle Erzählung, deren Brechung der Idealität, wo sie in Komik oder Burleske umschlägt, durch die Logik der Erzählung gerechtfertigt wird.

Friedrich Wolfzettel

Parodie und Artusroman Versuch einer Problematisierung Abstract: Recent Arthurian criticism shows a growing tendency to apply the label of parody to various phenomena of intertextual reference, bringing even such ›classical‹ and canonical texts as Le Chevalier au lion within its scope. However, if parodic devices may be conceived of as »one of the major forms of modern self-reflexivity« and a »form of inter-art discourse« (Hutcheon); if, moreover, medieval and especially Arthurian genres are liable to engage in what has been called »the conspiracy of allusion« (Kelly); and if the parodic scheme, often identified as an epigonal narrative device, is incompatible with the serious business of creative rewriting, then it is high time to question the validity of the parodic concept in all instances that do not openly mock Arthurian values. This paper suggests that seemingly parodic procedures actually serve to prepare the ground for the modernization and reinvigoration of Arthurian romance. Three 13th-century romances, using three different techniques, illustrate how the literary tradition of Arthurian romance would not exist without this revitalizing function: Le Chevalier aux deux épées, in which ›parodic‹ allusions at the beginning and at the end are used as generic reminders of dubious traditional elements; Floriant and Florete, in which major Arthurian elements are grafted onto a Greek genealogical romance in order to make it fit for generic competition; and Fergus by Guillaume Le Clerc, which transforms the mystic Perceval story into a modern local study of a Scottish upstart.

1 Die Omnipräsenz der Parodie Zeichnet sich bereits der Cligès-Roman durch parodistische Züge aus?1 Und deutet die Sprachkomik in »Chrétiens Ritterparodie«2 Le Chevalier au lion gleichsam metonymisch auf eine »parodistische Schreibweise« hin, durch die »das

|| 1 Vgl. Annalisa Comes, »Tra parodia e critica letteraria: Cligés, miles gloriosus e la distinzione cuer-cor«, Studi Mediolatini e Volgari 42 (1996), 119–128. 2 Xuan Jing, Subjekt der Herrschaft und christliche Zeit. Die Ritterromane Chretiens de Troyes, München 2012, 151.

304 | Friedrich Wolfzettel Ritterideal einer komischen Demontage unterzogen wird«?3 Kann man im Lancelot en prose von einem parodistischen Prozess sprechen, der letztlich auch die Idealität Lancelots tangiert?4 Ist die Joie de la Cité im Méraugis de Portelesguez ein parodistisches Spiel?5 Ist Cristal et Claris »un questionnement parodique et humoristique de l’idéal courtois«?6 Und kann der späte Roman de Fergus als Parodie oder Pastiche oder eher als »creative rewriting«7 bezeichnet werden? Nicht zufällig hat Romaine Wolf-Bonvin den Fergus zusammen mit dem Romanfabliau Trubert unter die Formen einer ›Narrenepik‹ (chevalerie des sots) eingereiht.8 Haben wir es in Les Merveilles de Rigomer mit einer parodistischen Entwertung der Artustradition in der Nähe zur Folklore zu tun?9 Verweist die Vater-Sohn-Problematik im Chevalier aux deux épées auf eine »nostalgic parody«?10 Und ist der späte Ipomedon, »a masterwork of trichery and disguise«,11 tatsächlich eine Parodie der Romane Chrétiens? Parodien, wohin man schaut, und die Beispiele ließen sich noch leicht vermehren. Es genügt, die letzten zwei Dutzend Jahrgänge des BBSIA durchzusehen, um die wachsende Konjunktur des Parodiebegriffs allein im afrz. Bereich zu bemerken. Nach den grundsätzlichen Arbeiten von Max Schiendorfer über die Parodie in der deutschen höfischen Literatur12 und von Kathryn Gravdal über die Transgression des Höfischen in der französischen Literatur des 12. und 13. Jh.13 scheint der parodistische Ansatz – vielleicht etwas vorschnell – im Beg-

|| 3 Jing (wie Anm. 2), 147. 4 Vgl. Bénédicte Milland‒Bove, »La pratique de la ›discovenance‹ comique dans le Lancelot en prose: les mésaventures amoureuses de Guerrehet«, AT 19 (2003), 105‒115. 5 Vgl. Michelle Szkilnik, »Méraugis et la Joie de la Cité«, CRM 15 (2008), 113‒127. 6 Christine Ferlampin-Acher, »Cristal et Claris et Perceforest: un problème de taille, du petit chevalier au Bossu de Suave«, in: Francis Gingras u. a. (Hrsg.), ›Furent les merveilles pruvees / Et les aventures truvees‹, FS Francis Dubost, Paris 2005, 225‒245, Zitat in BBSIA 58 (2006), Nr. 228. 7 Tony Hunt, »The Roman de Fergus: Parody or Pastiche?«, in: Rhiannon Purdie, Nicola Royan (Hrsg.), The Scots and Medieval Arthurian Legend, Cambridge 2005, 55‒69, hier: 69. 8 La ›Chevalerie des sots‹. Le ›Roman de Fergus‹, suivi de Trubert, fabliau du XIIIe siècle, übers. von Romaine Wolf-Bonvin, Paris 1990. 9 Vgl. Christine Ferlampin-Acher, »La Table Ronde dans Les Merveilles de Rigomer«, CRM 14 (2007), 40‒49. 10 Le Chevalier as deus espees, hrsg. und übers. von Paul Vincent Rockwell, Cambridge 2006 (French Arthurian Romance 3), »Introduction«, 15. 11 William Calin, »The Exaltation and Undermining of Romance: Ipomedon«, in: Norris Lacy u. a. (Hrsg.), The Legacy of Chrétien de Troyes, Amsterdam 1988, Bd. 2, 111‒124, hier: 123. 12 Vgl. Max Schiendorfer, Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram: Zur Parodie in der höfischen Literatur, Bonn 1983. 13 Vgl. Kathryn Gravdal, Vilain and Courtois: Transgressive Parody in French Literature of the 12th and 13th Centuries, Lincoln/NE, London 1989.

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riff, unser gattungsspezifisches Bild der höfischen Literatur maßgeblich zu verändern. Neben bisher geläufigen Fragestellungen wie der nach der kontestatorischen Parodie höfischer Werke in den Fabliaus (man denke an die Aufsätze von Albert Gier und Keith Busby14) werden so auch innerhöfische Bezüge als parodistisch gewertet, die man bisher eher unter dem Titel »Perspectives of Irony«15 verbucht oder im Sinne der Epenforschung dem Bereich des Burlesken und Spöttischen zugeordnet hätte,16 nicht der Satire und Parodie im engeren Sinn.17 Ist also der Parodiebegriff wirklich tauglich? Es sei daran erinnert, dass Gérard Genette in seinem oft zitierten Standardwerk Palimpsestes. La littérature au second degré vor einem »abus du mot parodie«18 gewarnt und z. B. gezeigt hat, dass der Begriff gerade im Hochbereich burlesk parodistischer Verfahren und Gattungen der frühen Neuzeit kaum üblich war19 – weshalb der Autor selbst lieber von »transformation« als von »parodie« sprechen möchte.20 In Bezug auf das Mittelalter stellt sich ohnehin die Frage, in welchem Verhältnis der sogenannte parodistische Diskurs zu einem auf formaler Stereotypie (Robert Guiette) und Kontrafaktur aufgebauten Literaturverständnis stehen könnte, und erst recht stellt sich die Frage in Bezug auf ein Korpus, das wie das arthurische in eminentem Maße auf intertextuellem recycling beruht. Norris Lacy hat von einem »interpretive overflow« gesprochen, der nicht zuletzt einem ständigen »motif shifting«21 zu verdanken sei und das Verständnis des Einzelwerkes immer schon von der Kenntnis des arthurischen Korpus als Ganzem abhängig mache. Umgekehrt heißt das natürlich, dass der mittelalterliche Autor um die Einführung wiederkehrbarer Versatzstücke bemüht sein müsste. Der || 14 Vgl. Albert Gier, »Chrétien de Troyes et les auteurs de fabliaux: La parodie du roman courtois«, in: Norris Lacy u. a. (Hrsg.), The Legacy of Chrétien de Troyes, Amsterdam 1988, Bd. 2, 207–214; Keith Busby, »Courtly Literature and the Fabliaux: Some Instances of Parody«, ZRP 102 (1986), 67‒87. 15 Vladimir B. Rossman, Perspectives of Irony in Medieval French Literature, Den Haag 1975. 16 Vgl. Bernard Guidot (Hrsg.), Burlesque et dérision dans les épopées de l’Occident médiéval, Actes du Colloque International des Rencontres Européennes de Strasbourg, Strasbourg 1995. Vgl. hierzu auch Massimo Bonafin, Parodia e modelli di cultura. Studi di teoria letteraria e critica antropologica, Mailand 1990, und Luciano Rossi, ›Trubert‹: Il trionfo della scortesia e dell’ignoranza. Considerazioni sui ›fabliaux‹ e sulla parodia medievale, L’Aquila 1979. 17 Vgl. Peter Richter (Hrsg.), Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters, Greifswald 1989 (Deutsche Literatur des Mittelalters 5). 18 Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, 41. 19 Vgl. ebd., 27. 20 Beide Zitate ebd., 40. 21 Beide Zitate Norris Lacy, »Motif Transfer in Arthurian Romance«, in: Douglas Kelly (Hrsg.), The Medieval ›Opus‹. Imitation, Rewriting and Transmission in the French Tradition, Amsterdam, Atlanta/GA 1996, 157–168, hier: 165.

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Parodieverdacht liegt dann nahe. Wenn überdies, wie Genette einmal bemerkt, »tout énoncé bref, notoire et caractéristique est pour ainsi dire naturellement voué à la parodie«,22 wenn nicht nur jeder Ausspruch, sondern auch jedes markante Werk notwendig zu jenem parodieverdächtigen »effect of interplay based upon the divergence of a work from a model«23 führt oder führen kann, wenn wir also in einem umfassenden Verweissystem gefangen sind, das Douglas Kelly einmal als »the conspiracy of allusions«24 bezeichnet hat, wenn die Vielzahl der intertextuellen Anspielungen noch kein Argument für parodistische Absicht bildet – wo wären dann die Grenzmarkierungen für die Parodie zu ziehen und welche Funktion hätte der Begriff überhaupt noch? Wie ließe er sich etwa von dem zentralen Begriff der Autoreflexivität unterscheiden, den Linda Hutcheon ihrer modernen Theory of Parody zugrunde legt, wenn sie Parodie als »one of the major forms of modern self-reflexivity« und als »form of inter-art discourse«25 definiert. Und ist die Parodie noch Parodie, wenn sie weniger »die verspottende, verzerrende oder übertreibende Nachahmung eines schon vorhandenen ernst gemeinten Werkes oder einzelner Teile daraus unter Beibehaltung der äußeren Form«26 betreibt, als dass sie in der Auseinandersetzung mit dem avisierten Text eine neue Bewusstheit, eine neue Aussage innerhalb des bekannten fremden Rahmens anstrebt? Durchaus überzeugend definiert Paul Lehmann die mittelalterliche Parodie: Ich verstehe hier unter Parodien nur solche literarischen Erzeugnisse, die irgendeinen als bekannt vorausgesetzten Text [...] verzerrend umkehrend mit bewußter, beabsichtigter 27 und bemerkbarer Komik [...] formal nachahmen oder anführen.

In ihrer Ausgabe von Floriant et Florete verzichten Annie Combes und Richard Trachsler ungeachtet der massiven, parodistisch anmutenden Anleihen des Romans bei Chrétien auf den Parodiebegriff und sprechen lieber von einer »écriture ›commutative‹«.28 Tatsächlich scheint das Problem aber nicht nur für das Mittelalter zu gelten. Charles Grivel hat die gängigen Parodiethesen als untaug-

|| 22 Genette (wie Anm. 18), 53. 23 Anne Elizabeth Cobby, Ambivalent Conventions. Formula and Parody in Old French, Amsterdam, Atlanta/GA 1995, 14. 24 Douglas Kelly, The Conspiracy of Allusion. Description, Rewriting, and Authorship from Macrobius to Medieval Romance, Leiden u. a. 1999. 25 Beide Zitate Linda Hutcheon, A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, New York, London 1985, 2. 26 Gero von Wilpert, Art. »Parodie«, in: ders., Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1961, 431. 27 Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, München 1922, Bd. 1, 13. 28 Floriant et Florete, hrsg. von Annie Combes und Richard Trachsler, Paris 2003, XXXIX.

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lich zurückgewiesen, insofern sie der jeweiligen Eigenart des ›parodistischen‹ Textes nicht gerecht werden und die Suche des parodierenden Künstlers nach der eigenen Identität vernachlässigen.29 Innerhalb eines virtuell geschlossenen Systemkorpus wie dem arthurischen Bereich wäre dann der parodisierende Ansatz, sofern man den Begriff verwenden will, die einzige Möglichkeit, die Vorgaben zu verändern, Originalität zu zeigen, ohne das System zu sprengen. Und dass ein solches Originalitätsbewusstsein in Frankreich und Deutschland durchaus vorhanden war, ja die Voraussetzung für die Bearbeitung der arthuriana bildete, konnte kürzlich Monika Unzeitig in ihrer Arbeit über mittelalterliche Autorschaft zeigen.30 Ich will das Gesagte an drei verschiedenen Beispielen erläutern: der punktuellen Anspielung, dem partiellen Werkbezug und der Variation eines ganzen Romans.

2 Punktuelle Anspielungen Der späte Roman Le Chevalier aux deux épées, der das Motiv des namenlosen Ritters variiert, ist als Identitätsdrama zunächst kaum parodieverdächtig. Dennoch gibt es zwei entsprechende Passagen, die als Anfang und Ende den Roman rahmen und gerade deshalb eine offensichtliche Signalfunktion haben. Die einleitende Passage unterstreicht offensichtlich eine gealterte arthurische Welt. Eben wurde noch das Lob des Königs Artus auf einem Pfingstfest verkündet, da lässt ein Bote des fremden Königs Ris jenseits der Humber (»Outre-Ombre«; V. 208) ausrichten, Artus’ Bart solle dem Usurpator zum Füttern seines Mantels dienen, den bereits die Bärte von neun unterworfenen Königen zierten; andernfalls würde er das ganze Königreich einnehmen, auch belagere er gerade die Königin von Caradigan, die ihr Lehen von Artus habe. Artus will zwar sofort gegen Ris zu Felde ziehen, aber die Ausführung des Plans verzögert sich, während das Fräulein von Caradigan sich in einer nächtlichen Mutprobe in der Wüsten Kapelle, wo Ris seinen Rock gelassen hat, selbst befreit und mit den zwei umgegürteten Schwertern des dort liegenden toten Ritters zwanzigtausend Rittern des Artushofes eine weitere Blamage zufügt. Die Episode folgt dem beliebten Muster der Tugendprobe, aus dem als Sieger der schöne fremde, aber

|| 29 Vgl. Charles Grivel, »Le retournement parodique des discours à leurres constants«, in: Clive Thompson, Alain Pagès (Hrsg.), Dire la Parodie. Colloque de Cerisy, New York u. a. 1989, 1‒34. 30 Vgl. Monika Unzeitig, Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin, New York 2010 (MTU 139).

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namenlose »chevaliers as .II. espees« (V. 1669) hervorgehen wird, um den es in diesem Gauvain-Roman hauptsächlich geht. Die Herausforderung des Königs durch Ris erinnert an eine Episode in Waces Brut, wo der Riese Rithon eine ähnliche Forderung an Artus stellt (V. 11561–92).31 Hinzu kommt nach Rockwell32 vielleicht die Anspielung auf König Rions am Anfang des Conte du Graal (V. 850‒58);33 dieser war freilich inzwischen von Artus besiegt worden. Die beiden Gründungstexte der Artussage machen die intertextuelle Funktion des parodistischen Verfahrens deutlich, sie unterstreichen überdies die Dekadenz des Reiches, das nicht mehr, wie bei Wace, durch einen barbarischen Riesen, sondern durch einen frechen Usurpator herausgefordert wird. V. a. aber wird aus Rithon oder Rion hier Ris, also das Äquivalent des Lachhaften: At the beginning of this romance, then, an invasion led by laughter threatens the hierarchy of Arthurian identities. Through the parodic rewriting of the twelfth-century tradition 34 the cultural values of the audience’s ancestors were perhaps called into question.

In beinahe allegorischer Weise dringt das fleischgewordene groteske Lachen aus dem Randbereich des Landes der barbarischen Riesen in den Kernbereich der höfischen Artuswelt und setzt am Anfang der Ereignisse ein Deutungssignal für das erwartete wissende Publikum. Als prominentes Beispiel des von Rockwell angesprochenen zentralen Verfahrens des »rewriting« stimmt die Eingangsepisode gleichzeitig auf die zahlreichen Anleihen an der klassischen Artusfiktion ein.35 Das offensichtlich parodistische Verfahren fungiert mithin zugleich als positives Signal der kreativen intertextuellen Auseinandersetzung mit der Tradition, die groteske Tonalität färbt aber auf die Folgeabenteuer nicht ab; eher im Gegenteil. Nachdem sich Ris, vom Ritter mit den zwei Schwertern besiegt, Artus ergeben musste, weitet sich das arthurische Abenteuer Gauvains und des jungen Ritters zu einem großen epischen Fresko,36 das erst am Ende –

|| 31 Zitierte Ausgabe: Wace, Le roman de Brut, hrsg. von Ivor Arnold, 2 Bde., Paris 1938. 32 Vgl. Rockwell (wie Anm. 10), 16. 33 Zitierte Ausgabe: Chrétien de Groyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal, hrsg. von William Roach, Genf, Paris 1959. 34 Rockwell (wie Anm. 10), 16. 35 Vgl. Robert Thedens, ›Li Chevaliers as deus espees‹ in seinem Verhältnis zu seinen Quellen, insbesondere zu den Romanen Chrétiens von Troyes, Göttingen 1908. 36 Vgl. dazu Friedrich Wolfzettel, »Zum Problem der Epizität im ›postklassischen‹ Artusroman«, in: Martin Przybilski, Nikolaus Ruge (Hrsg.), Fiktionalität im Artusroman des 13. und 14. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven, Wiesbaden 2013 (Trierer Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 9), 29‒41.

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der Ritter hat inzwischen seinen Namen Meriaduc erfahren – wieder in arthurische Bahnen einlenkt. Die Hochzeit Meriaducs, die den Roman beschließt, bildet nun das zweite Beispiel eines beinahe parodistischen Rückbezugs auf Chrétien. Der Krönungsmantel des Helden variiert offensichtlich den Mantel Erecs bei Chrétien, zeigt aber nicht die Sieben Freien Künste, sondern die Artusgeschichte selbst, deren Apotheose auf diese Weise den Roman beschließt – freilich mit einer gewichtigen Einschränkung, auf die auch Rockwell aufmerksam macht: Vor den »proëces« und »fait« des Königs (V. 12204) nimmt der Autor nur auf die betrügerische Vorgeschichte der Zeugung Arthurs Bezug, in der der Zauberer Merlin Uther hilft, die Züge seines Vasallen Gorloys anzunehmen, um der geliebten Ygerne beizuwohnen. Die Apotheose ist so zugleich die Geschichte eines Betruges, der die Legitimität des Artusreiches in Frage stellt und nach Rockwell auf das historische Versagen der Vätergeneration für die jetzt gleichsam im englischen Exil lebende, anglonormannische Generation der Söhne verweist.37 Der symbolischen Kastration Arthurs in der Geschichte des versuchten Bartraubs entspricht so am Ende die Erinnerung an die fragwürdige Vorgeschichte des Artusreiches und der Zeugung des Königs. Parodie – wenn man denn von Parodie sprechen will – fungiert als Deutungshinweis, der die innerfiktionale Identitätssuche des Ritters mit den zwei Schwertern und den ironischen Identitätsverlust des lange tot geglaubten Gauvain in eine historische Perspektive rückt und »the ambivalent view of historical continuity«38 nahelegt. Die auffällige Betonung der epischen und genealogischen Elemente scheint diesen Bedeutungsund Prestigeverlust der Artuswelt angesichts autonomer epischer Gegenwelten zu unterstreichen. Die Artuswelt, »a nebulous world in which misperception seems to be the rule«,39 hat sicherlich einen wesentlichen Teil ihrer ursprünglichen Deutungshoheit eingebüßt. Trotzdem bleibt fraglich, ob man mit Rockwell – wie eingangs angedeutet – insgesamt von einer »nostalgic parody« sprechen und dem Roman als Ganzem eine Parodie-ähnliche »mockery of the textual tradition«40 attestieren kann. Die Neufunktionalisierung der Artustradition erfordert den ironischen Vergleich mit dieser Tradition, nicht jedoch die Infragestellung der geschilderten epischen Welt als solcher durch die Parodie, geht es doch auch nach Meinung des Herausgebers um »the accomplishments of sons rather than the failures of fathers«.41 Das Happy End des Chevalier aux deux || 37 Vgl. Rockwell (wie Anm. 10), 10. 38 Ebd., 11. 39 Ebd., 7. 40 Ebd., 15. 41 Rockwell (wie Anm. 10), 10.

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épées parodiert nicht das Ende von Erec et Enide; es erinnert vielmehr an die fragwürdigen Voraussetzungen arthurischer Idealität, zeigt aber auch, dass ein solcher glücklicher Ausgang angesichts der veränderten historischen bzw. narrativen Bedingungen noch immer möglich ist. Was vordergründig als parodistische Anspielung erscheint, ist in Wahrheit Teil eines dekonstruktiven, ironischen Signalsystems im Zuge der Umwertung traditioneller arthurischer Elemente und der Neukonzeptionierung des arthurischen Romans.42

3 Partieller Werkbezug Das zweite Beispiel betrifft die parodieverdächtige Montage eines ganzen Erec et Enide-Teils und einer Yvain-Passage in dem synkretistischen späten Roman Floriant et Florete. Keith Busby spricht allerdings nicht von Parodie, sondern von »intertextual coordinates«,43 welche v. a. die Romane Chrétiens und den Lancelot en prose umspannen und nicht nur in einem Teil nachweisbar sind. Die arthurischen Reminiszenzen sind freilich nicht in ein primär arthurisches, sondern in ein byzantinisches Romanmuster eingearbeitet, das ungeachtet einer gewissen Nähe zum Cligès für einen epischen Grundton sorgt. Sara SturmMaddox hat den wahrscheinlich nach 1268 entstandenen Roman mit dem Ende der Normannenherrschaft in Sizilien in Verbindung gebracht und mit Guillaume de Palerne verglichen,44 den Christine Ferlampin-Acher kürzlich ebenfalls in die Nähe der Parodie gerückt hat.45 In der »feudal success story«46 geht es kurz gesagt um einen Helden, der seinen vom treulosen Seneschall ermordeten Vater Elyadus, den König von Sizilien, rächen und durch die Ehe mit der Kaisertochter Florete selbst Kaiser von Konstantinopel werden soll. Seine Entführung durch Morgane und seine enfances im Feenreich des Ätna erinnern natürlich an den Lancelot en prose, aber mit dem Artusreich in Berührung kommt er erst im Rahmen eines von Gauvain ausgerichteten Turniers, wo er ähnlich wie einst Cligés die Unterstützung von Artus für seinen Kampf gegen den Seneschall || 42 Vgl. hierzu Wolfzettel (wie Anm. 36). 43 Keith Busby, »The Intertextual Coordinates of Floriant et Florete«, French Forum 20 (1995), 261‒277. 44 Vgl. Sara Sturm-Maddox, »Arthurian Evasions. The End(s) of Fiction in Floriant et Florete«, in: Keith Busby, Catherine M. Jones (Hrsg.), ›Por la soie amisté‹. FS Norris J. Lacy, Amsterdam, Atlanta/GA 2000, 475‒490. 45 Vgl. Christine Ferlampin-Acher, »Guillaume de Palerne: une parodie?«, CRM 15 (2008), 59‒71. 46 Sturm-Maddox (wie Anm. 44), 484.

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erhält. Nach der Eroberung Palermos wird er von seiner Mutter über seine Identität aufgeklärt und kann die byzantinische Kaisertochter Florete gewinnen, die längst auf ihn aufmerksam geworden war. Mit der Bewältigung des dynastischepischen Konflikts wäre die Handlung eigentlich an ein Ende gekommen. Für die Logik der Haupthandlung spielt das arthurische Setting also nur eine nachgeordnete Rolle – auch wenn das Paar ganz am Schluss in das Feenreich Morganes zurückkehren wird und so für eine arthurische Rahmung gesorgt ist. Wie also kann man aus dem Ganzen noch einen Artusroman machen? Scheinbar sehr einfach, indem der Held, dem längst ein Thronfolger geboren wurde, seine späte arthurische Berufung entdeckt und den zweiten Teil des Erec‒Romans gleichsam nachstellt. Floriant et Florete führt in gewisser Weise vor Augen, dass die Entscheidung für den Artusroman einer gattungsgeschichtlichen Option gleichkommt; die Koordinaten der arthurischen Tradition können über ein beliebiges andersartiges Schema gestülpt werden und sind schon von daher naturgemäß parodieverdächtig. Fiktionaler Ausdruck dieser Gattungsumleitung ist das Motiv der Entführung des Kindes Floriant in das Morgane-Reich des Ätna, in dem die weltliche Fürstenerziehung im Rahmen eines archetypischen Schemas der Vaterrächung und Throngewinnung durch eine präarthurische Sozialisation ersetzt wird. Ein selbstverständlich gewordener Synkretismus lässt etwaige Probleme dabei gar nicht mehr in den Blick geraten. Tatsächlich setzt die erneute ›Arthurisierung‹ an einer scheinbar beliebigen Stelle ein. Von einer Frau im Volk der recreantise verdächtigt, schifft sich Floriant mit Florete, die ihn begleiten will, auf das italienische Festland und nach England ein, um unter dem Namen ›Le Beau Sauvage‹ die Wälder Britanniens zu durchstreifen und seine fehlende arthurische Bewährung nachzuholen. Wie Enide steht Florete ihrem Mann hilfreich zur Seite, v. a. als es darum geht, einen Drachen zu erschlagen, und wie im Fall Maboagrains besiegt der Held den gefürchteten König Julien, den seine Freundin dazu gezwungen hat, alle Ritter in seiner Burg herauszufordern. Das Abenteuer der Jungfraueninsel variiert überdies den Chevalier au Lion.47 Das Bemühen des Autors ist deutlich, die Elemente seiner Vorlage neu zu interpretieren, ohne die intertextuellen Parallelen zu verstecken. Wie bei einem Baukasten spricht Richard Trachsler von einem Spiel des Zerlegens und Neuzusammensetzens.48 Die Beinahe-Parodie dient dazu, ein arthurisches Gegengewicht zu den historischen Ereignissen zu schaffen und die arthurische Welt als Voraussetzung gegenwärtigen Erzählens auszuweisen. Es ist, als ob der Roman des späten 13. Jh. ohne arthurische Versatzstücke nicht denkbar

|| 47 Vgl. Trachsler (wie Anm. 28), XLIII. 48 Vgl. Trachsler (wie Anm. 28), XLII.

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wäre. Nur das scheinbar parodistische Verfahren gewährleistet die rasche Erkennbarkeit des traditionellen Materials, das auf diese Weise zugleich eine neue Funktion der Fiktionsbewahrung und Rechtfertigung erhält. Die parodistischen Signale sollen freilich gerade nicht das Vertraute persiflieren, sondern es in einen neuen Zustand archetypischer Rechtfertigung des Fiktiven überführen. Trachsler spricht zu Recht von einer »écriture commutative«.49 Deren Ort ist nicht nur die passgerechte Übernahme einzelner Elemente an entsprechenden Stellen der Handlung, sondern gewissermaßen die Transplantation ganzer Romanteile in einen andersartigen Kontext. Was sich wie eine Parodie ausnimmt, ist in Wirklichkeit der Versuch, das Alte in das Neue zu montieren, Altes und Neues nebeneinander zu stellen und die Gründungstexte zum Spielmaterial zu machen. Psychologisch gesprochen, verbürgt das arthurische Muster das gültige Modell einer Sozialisation, die schlimmstenfalls nachgeholt werden kann und die Sinnhaftigkeit des epischen Lebensweges des Helden garantiert. Gerade eine solche Perspektive der Werthaltigkeit scheint aber eine Parodie im engeren Sinn auszuschließen, geht es doch darum, die arthurischen Elemente zum unerlässlichen Bestandteil einer Ritterbiographie im Rahmen eines genealogischen Romans aufzuwerten. Die sogenannte ›Parodie‹ fungiert hier in paradoxer Weise als Gütesiegel der Tradition.

4 Variation eines ganzen Romans Ungeachtet seiner anerkannt literarischen Qualitäten ist wahrscheinlich kein anderer Artusroman so beharrlich in die Nähe der Parodie gerückt worden wie der Anfang des 13. Jh. entstandene Fergus von Guillaume Le Clerc.50 Die Yvain und Perceval nachempfundene Geschichte handelt von dem älteren Sohn eines schottischen Großbauern, der nach der Begegnung mit Artus und seinem Gefolge von seiner adligen Mutter unterstützt an den Artushof aufbricht und schließlich in Carduel (Carlisle) als Artusritter König von Lothian wird. Er wird Galiene heiraten, die Landesherrin, die er gleich am Anfang in Lidel getroffen hatte, die prompt liebeskrank geworden war, auf deren Liebe er jedoch ähnlich wie Perceval bei Blancheflor zugunsten der Bewährungsabenteuer zunächst verzichtet hatte. Nach dem Abenteuer mit dem Schwarzen Ritter am Schwarzen Berg erfährt er von Galienes Verschwinden, streift wie Yvain ein Jahr verloren durch || 49 Ebd., XXXIX. 50 Zitierte Ausgabe: Guillaume Le Clerc, The Romance of Fergus, hrsg. von Wilson Frescoln, Philadelphia 1989.

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die Wälder, wird durch einen Zauberbrunnen geheilt, aber nach weiteren Abenteuern zu Lande und auf See und dem Gewinn eines magischen leuchtenden Schildes im Kampf mit der Riesin von Dunostre erfährt er, dass Galiene in Rochebourc/Roxburgh belagert wird, und kann sie unerkannt befreien. Auf einem Turnier, als dessen Preis Artus die Hand der Prinzessin ausgesetzt hatte, gelingt dann die Zusammenführung der Liebenden, die am Johannistage heiraten und mit einem Königreich belohnt werden. Der dem Durmart le Gallois ähnliche Aufsteigerroman, der auf Malorys Erzählung von der Dame Lyones vorausweist,51 zeichnet sich durch keine anderen Besonderheiten aus als durch geographische Realistik und das meist gutgelaunte Selbstbewusstsein des jugendlichen Helden, aber möglicherweise genügt schon die etwas plakativ vereinfachte Handlung mit ihren unverkennbar ironischen Anleihen bei der klassischen Tradition, um den Verdacht der Parodie zu wecken: Ausdruck einer fabliau-ähnlichen »chevalerie des sots«,52 Vorläufer der als parodistisch eingestuften chantefable Aucassin et Nicolete,53 wie D. D. R. Owen meint,54 der von einer »comedy of reversal«55 spricht. Der Roman wäre das Beispiel einer metaliterarischen Parodie »in its equation of conjointure with the parodic«56 und der systematischen Dekonstruktion sinntragender Elemente bei Chrétien; das Muster von »parodic playfulness«57 in der Nähe zur Chanson de geste Ferraguz, aber auch dem Roman de Renart und dem Fabliau-Roman, wobei selbst die unarthurisch-realistische Geographie Schottlands als »a fictional frontier between serious Arthurian romance and the realm of parody«58 interpretiert wird. Dabei geht es natürlich nicht um schiere Parodie, wie schon die mittelalterliche Rezeption zeigt, sondern – ähnlich wie bei Freeman oder WolfBonvin – um »the peaceful coexistence of transgression and integration« und

|| 51 Vgl. Alexandre Micha, »Miscellaneous French Romances in Verse«, in: Roger Sherman Loomis (Hrsg.), Arthurian Literature in the Middle Ages, Oxford 1959, 377‒379. 52 So der Titel der Übersetzung von Romaine Wolf-Bonvin (wie Anm. 8). 53 Vgl. dazu Tony Hunt, »La parodie médiévale: le cas d’Aucassin et Nicolette«, Romania 100 (1979), 341‒381, der die Parodie-These Schritt für Schritt zurückweist. 54 Vgl. »Guillaume Le Clerc: The Romance of Fergus, Einleitung und Übersetzung von D. D. R. Owen«, Arthurian Literature 18 (1989), 79‒183, und ders., »The Craft of Fergus: Supplementary Notes«, French Studies Bulletin 25 (1987/88), 1–5, hier: 4. 55 D. D. R. Owen, »Chrétien, Fergus, Aucassin et Nicolette and the Comedy of Reversal«, in: Chrétien de Troyes and the Troubadours: Essays in memory of the late Leslie Topfield, Cambridge 1984, 186‒194. 56 Michelle A. Freeman, »Fergus: Parody and the Arthurian Tradition«, French Forum 8 (1983), 197‒215, hier: 211. 57 Gravdal (wie Anm. 13), 27. 58 Gravdal (wie Anm. 13), 25.

314 | Friedrich Wolfzettel das Echo eines »parodic of cultural change«,59 also um jene »generic transformation«,60 die man gerne an der rostigen Rüstung des Roten Ritters festmacht: Anders als im Perceval ist die rote Farbe lediglich dem Rost geschuldet, wie überhaupt die Anspielungen auf Chrétien »the gratuitous use of adventure and of the marvelous« und die Verweigerung eines »explicit symbolism or purpose«61 dokumentieren. Oder positiver gewendet: »une parodie, déplaçant, dépaysant et inversant le canon arthurien dans une perspective qui peut aller jusqu’à la critique«.62 Wie fragil solche Zuschreibungen anmuten, zeigt schon der genannte Aufsatz von Michelle Freeman, die den Fergus auch mit Le Bel Inconnu vergleicht, der in ähnlicher Weise als reworking verstanden werden kann, doch in Bezug auf die implizite Kritik arthurischer Motive hinter der bewussten kritischen Perspektive des Guillaume Le Clerc zurück bleibt, »a fascinating and openended meditation on the nature of romance composition«.63 Dass das realistisch gewendete Aufsteigermärchen, dessen ideologische Problematik noch keineswegs ausdiskutiert scheint,64 mit den traditionellen Vorgaben bewusster spielt als eine Reihe anderer Artusromane des 13. Jh., dass es die epischen Elemente in einem Maße verstärkt, dass schon Ernst Brugger darin die romaneske Vorlage für den epischen Huon de Bordeaux sehen konnte,65 dass der Roman selbst auf seine Quellen aufmerksam macht,66 aber gerade in dieser Hinsicht auf jede tiefere Symbolik verzichtet und den Helden stattdessen von Fortuna zu einem glücklichen Ende führen lässt, einer Fortuna, die eben nicht mehr das ritterliche Bewährungsabenteuer der aventure meint,67 dass dem Artushof selbst lächerli-

|| 59 Ebd., 49. 60 Freeman (wie Anm. 56), 27. 61 Ebd., 210. 62 Alex Devine in einem Vortrag auf dem 22. Internationalen Artuskongress, zitiert in: BBSIA LXI (2009), Nr. 172, 78. 63 Freeman (wie Anm. 56), 207. 64 Leo Jordan, »Zum altfranzösischen Fergusroman«, ZRP 43 (1923), 154‒176, interpretiert den Roman bekanntlich als ›demokratisches‹ Aufsteigermärchen, während Beate SchmolkeHasselmann, »Le roman de Fergus: technique narrative et intention politique«, in: Kenneth Varty (Hrsg.), An Arthurian Tapestry. Essays in memory of Lewis Thorpe, Glasgow 1981, 342‒353, den Sieg des adligen Blutes über die bäuerliche Herkunft und den konservativen dynastischen Hintergrund der schottischen Erzählung betont. 65 Vgl. Ernst Brugger, »Huon de Bordeaux and Fergus«, Modern Language Review 20 (1925), 158‒179. 66 Vgl. Wilhelm Marquardt, Der Einfluss Kristians von Troyes auf den Roman ›Fergus‹ des Guillaume Le Clerc, Diss. Göttingen 1906. Mit Tristan vergleicht sich der Held in V. 4216. 67 Vgl. Wolf-Bonvin, (wie Anm. 8), »Introduction«.

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che, ja parodistische Züge eigen sind – all dies dürfte schwerlich reichen, um den von Southworth mit Jaufre und Durmart verglichenen Roman68 in eine Reihe mit der programmatischen Parodie eines Trubert oder der explizit ludischen chantefable Aucassin et Nicolette zu rücken. Die »Veränderungen im Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit« – von der Brüchigkeit der Table Ronde bis zu dem Anti-Artus-Roman Yder – sind von Beate Schmolke-Hasselmann ausführlich und erneut in den Blick gerückt worden.69 Ein anderer Artusroman ist noch kein parodistischer Artusroman: »Fergus ist ein neuer, ein anderer Perceval«.70 Gleichsam im Gegenzug gegen ihre eigene Parodie-These hat Wolf-Bonvin die Originalität des Romans betont, der die Form des Ritterromans in die Richtung der von Élisabeth Gaucher71 untersuchten spätmittelalterlichen Ritterbiographie lenkt und die intertextuellen Bezüge dazu benützt, den Übergang in ein stärker realistisches Register vorzuführen, oder genauer: in ein Register, in dem auch das Wunderbare (Drachen, Riesen, Zauberbrunnen, Hexe, usw.) eine gewisse hausbackene Konkretheit besitzt. Wolf-Bonvin spricht diesbezüglich einmal von einem »merveilleux naturel«.72 Sie macht gegenüber dem ›klassischen‹ Wunderbaren die Nähe des merveilleux zum Märchen, hier dem Dümmlingsmärchen geltend; nicht zufällig hat Tony Hunt in dem genannten Aufsatz zu Aucassin et Nicolette73 vorgeschlagen, das parodistische Paradigma durch Kategorien des Märchenhaften zu ersetzen, das am Anfang des Artusromans steht. Und WolfBonvin zeigt schließlich, dass der höfische Ritter des Guillaume Le Clerc, der Ritter des Waldes, der wie Yvain ein Jahr der folie im Wald verbringt, bevor er die verlorene Geliebte Galiene wieder findet, in einer ganz neuen Weise mit dem Wald und der Natur verbunden ist74 und wohl auch deshalb an einem Johannisfest gekrönt werden soll: Anders als im Chevalier au lion, in dem die »feste saint Jehan« (V. 2752)75 das Ende der festgesetzten Frist für die Rückkehr Yvains be-

|| 68 Vgl. Marie-José Southworth, Etude comparée de quatre roman médievaux; ›Jaufré‹, ›Fergus‹, ›Durmart‹, ›Blancandin‹, Paris 1973. 69 Vgl. Beate Schmolke-Hasselmann, Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart: zur Geschichte einer Gattung, Tübingen 1980 (Beihefte zur ZrP 177), Kap. 3, 48‒85; vgl. auch dies. (wie Anm. 64). 70 Schmolke-Hasselmann (wie Anm. 69), 139. Vgl. auch 117–129 (»Das Prinzip der Variation: Fergus als ›neuer‹ Perceval«). 71 Vgl. Élisabeth Gaucher, La Biographie chevaleresque. Typologie d’un genre (XIIIe–XVe siècles), Paris 1994. 72 Wolf-Bonvin (wie Anm. 8), »Introduction«, 144. 73 Vgl. Hunt (wie Anm. 53). 74 Vgl. ebd., 154‒157. 75 Zitierte Ausgabe: Les romans de Chrétien de Troyes 4: Le Chevalier au lion (Yvain), hrsg. von Mario Roques, Paris 1978.

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zeichnet und auf die Problematik des zweiten Teils verweist, steht die Sommersonnwende hier für die natürliche Reife, mit der der Roman auch begonnen hatte und die diesen als Kreisform der Erkenntnis ausweist.

5 Fazit Die Wege der Artusforschung sind manchmal verwunderlich. Nichts deutet in diesem zugleich ironischen und handfesten, gutgelaunten und betont synkretistischen Ritterroman auf eine parodistische Intention. Eher hätte es nahe gelegen, das dem Floriant et Florete-Stoff aufgepfropfte Erec et Enide-Hors-d’œuvre als parodistisch einzustufen. Denn noch ein Aspekt ergibt sich verglichen mit dem Chevalier aux deux épées, in dem leicht parodistischen Elemente sich an den Rändern festsetzen, ohne jedoch – entgegen der Meinung Rockwells – den Roman als Ganzes zu tangieren: Floriant et Florete und Fergus, in gewisser Weise auch der hier nicht behandelte Durmart benützen das Perceval- und LancelotSchema des an den Artushof aufbrechenden Ritters, um eine existentielle Wahl sichtbar zu machen. Erst Floriants Erec und Yvain nachempfundene Abenteuer runden den Lebensweg des zum Kaiser von Konstantinopel berufenen Helden in Floriant et Florete ab, und nur die arthurischen Abenteuer erlauben dem Bauernsohn Fergus, die adlige Welt der Mutter zurückzugewinnen. Der Blick von außen lässt aber die Artuswelt nicht mehr als gegeben erscheinen, wie noch im Chevalier aux deux épées, sondern als eine Option unter mehreren, als Ziel einer Suche nach Werten. Ein solcher Blick von außen verträgt, ja bedingt die ironische Messlatte und den Blick auf die Tradition; er ist aber unvereinbar mit parodistischer Infragestellung, die nicht ohne kontestatorische Zielsetzung möglich ist. Es geht nicht darum, den klassischen Artusroman zu parodieren; es geht um die Suche nach Erzählformen, die das Prestige der Tradition einbringen, ohne das Neue gleichzeitig zum epigonalen Abklatsch des Alten zu machen. Wie Beate Schmolke-Hasselmann gezeigt hat, ist der Vorwurf der Epigonalität eine latente Versuchung für die um »Abhängigkeitsverhältnisse« bemühte Artusforschung, der es nur selten um die Neufunktionalisierung des scheinbar Epigonalen ging.76 Der Schritt von der Epigonalität zur Parodie ist nur gering, und er birgt offensichtlich die Gefahr, die vom Autor angestrebte Dialektik von Vorbild und Korrektur zu verzerren – dies umso mehr, als die positive Funktion des Helden als »an upwardly mobile Scot in the Norman period« in

|| 76 Schmolke-Hasselmann (wie Anm. 69), 34.

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der gleichzeitigen literarhistorischen Vermittlung mit »the broader tradition of the Continental romances«77 jede parodistische Intention ausschließen dürfte. Das Urteil gilt auch für den Artushof, der hier keineswegs zum ersten Mal von einer »overall atmosphere of decadence and ridicule«78 umgeben ist. Nicht der Hof ist das eigentliche Ziel des Möchtegern-Helden, sondern die arthurische Welt und ihre Tradition, die keiner parodistischen Verfremdung bedürfen, um dem zukünftigen König von Lothian, der immerhin von Artus abhängig bleibt, ein Fenster in eine wertvollere Wirklichkeit zu öffnen.

|| 77 Beide Zitate Neil Thomas, »The Old French Roman de Fergus: Scottish mis-en-scène and political implication«, Parergon 11 (1993), 91‒101, hier: 100. 78 Freeman (wie Anm. 56), 199.