Intimität in der Sprache: Eine Neukonzeption des zärtlichen Sprechens am Beispiel des chilenischen Spanisch 9783110772708, 9783110772647, 9783110772784, 2022932027

While much scholarly attention has already been paid to some of the various phenomena of affectionate language – for exa

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Intimität in der Sprache: Eine Neukonzeption des zärtlichen Sprechens am Beispiel des chilenischen Spanisch
 9783110772708, 9783110772647, 9783110772784, 2022932027

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung und Zielsetzung der Arbeit
2 Die Behandlung von Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung
3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands «zärtliches Sprechen»: ‘Intimes Sprechen’
4 Empirische Untersuchung des Konzepts ‘intimes Sprechen’ an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch
5 ‘Intimes Sprechen’ als fruchtbares Konzept für die Sprachwissenschaft – Fazit und Entwurf eines Forschungsfeldes
6 Literaturverzeichnis
7 Anhang
Sachregister

Citation preview

Britta Steinke Intimität in der Sprache

Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie

Herausgegeben von Éva Buchi, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti und Wolfgang Schweickard

Band 470

Britta Steinke

Intimität in der Sprache Eine Neukonzeption des zärtlichen Sprechens am Beispiel des chilenischen Spanisch

ISBN 978-3-11-077264-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077270-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077278-4 ISSN 0084-5396 Library of Congress Control Number: 2022932027 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Meinen Eltern

Danksagung Weil ich ohne ihre Unterstützung diese Arbeit weder begonnen noch beendet hätte, möchte ich an dieser Stelle danken: meinem Doktorvater Prof. Dr. Elmar Eggert für die zahlreichen Anregungen, die kontinuierliche Bestärkung und das Vertrauen in meine fachlichen und persönlichen Fähigkeiten, meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Bettina Kluge für ihre freundliche Beratung und ihr Entgegenkommen, den ReihenherausgeberInnen Éva Buchi, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti und Wolfgang Schweickard für die Aufnahme meiner Arbeit in die Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, mi amor, meinem Häschen, für die Liebe, die emotionale Unterstützung und natürlich für das Programmieren, meiner Mutter, meinem Vater und meiner Schwester für den unersetzlichen Rückhalt in jeder erdenklichen Hinsicht, meinen FreundInnen für das aufrichtige Interesse und die richtigen Fragen, meinen emsigen KorrekturleserInnen für den unabdingbaren Perspektivwechsel, meinen 14 PretesterInnen und meinen 617 StudienteilnehmerInnen, all meinen KollegInnen, KommilitonInnen und LehrerInnen für die fachlichen Diskussionen, die Inspiration und die Erkenntnis, dass Bildung am Ende vor allem heißt, eine Vorstellung davon zu haben, wie viel man nicht weiß, und schließlich jemandem, der auf meine wiederkehrenden thematischen Zweifel entgegnete: «Wäre unsere Welt nicht ungleich schöner und friedlicher, wenn sich die Menschen mehr dem zärtlichen Sprechen widmen würden?».

https://doi.org/10.1515/9783110772708-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung

VII

Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis

XIII XV

1

Einleitung und Zielsetzung der Arbeit

2

Die Behandlung von Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung 5 «Zärtliches Sprechen» als Modalität 5 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion» 10 Kosenamen – nominale Anredeformen 10 Hypokoristika 20 Diminutive – evaluative Suffixe 24 Privatcode – idiosynkratische Kommunikation 28 (Secondary) baby talk 31 Emotive Sprache 37 Schlussfolgerungen 45

2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.3 3 3.1

3.1.1 3.1.1.1 3.1.1.2 3.1.1.3 3.1.1.4 3.1.1.5 3.1.1.6 3.1.1.7 3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.3

1

Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands «zärtliches Sprechen»: ‘Intimes Sprechen’ 49 Von der Form zum Kontext: Definition des ‘intimen Sprechens’ auf Basis seiner spezifischen Kontextfaktoren 49 Die ‘intime Beziehung’ 51 Beziehungskultur 52 Geheimwissen 55 Spiel 58 Bindung 61 Emotionen 65 Nonverbale Kommunikation 69 Typen ‘intimer Beziehungen’ 74 Die ‘intime Situation’ 80 Die ‘intime Kommunikationsumgebung’ 81 Die ‘intime Handlung’ 84 Schlussfolgerungen und neue Terminologie 86

X

3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.2.5

Inhaltsverzeichnis

Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts: ‘Intimes Sprechen’ als Register 89 ‘Intimes Sprechen’ als Varietät 91 ‘Intimes Sprechen’ als diastratische Varietät 93 ‘Intimes Sprechen’ als diaphasische Varietät 96 ‘Intimes Sprechen’ als diamesische Varietät 109 ‘Intimes Sprechen’ zwischen Individualität, Traditionalität, Einzelsprachlichkeit und Universalität 116 Zur Komplexität, Dialektik und Dynamik von Kontext und Varietät 127 Schlussfolgerungen 132 Konsequenzen der Neukonzeption für die empirische Untersuchung ‘intimen Sprechens’ 134 Grundsätzliche methodische Probleme bei der Erhebung ‘intimen Sprechens’ 137 Eignung verschiedener Erhebungsmethoden für das ‘intime Sprechen’ 141 Offene Beobachtung 141 Rollenspiele 142 Filmische Dialoge 144 Discourse Completion Tasks (DCTs) 145 Schlussfolgerungen 148

Empirische Untersuchung des Konzepts ‘intimes Sprechen’ an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch 151 4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie 4.1.1 Chile als Dialektraum 152 4.1.2 Forschungsstand zum chilenischen Spanisch 165 4.1.3 Merkmale des chilenischen Spanisch 177 4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung 4.2.1 Methodischer Ansatz 193 4.2.2 Konzeption des Erhebungsinstruments 197 4.2.3 Durchführung der Erhebung 200 4.2.4 Rücklauf und Repräsentativität 201 4.2.5 Datenanalyse 206 4.3 Ermittelte Merkmale ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles 207 4.3.1 Phonetische Ebene 208 4.3.1.1 Imitation kindlicher Aussprache 209 4.3.1.2 Palatalisierung 214 4

152

193

Inhaltsverzeichnis

4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.3 4.3.3.1 4.3.3.2 4.3.3.2.1 4.3.3.2.2 4.3.4 4.3.4.1 4.3.4.2 4.3.4.2.1 4.3.4.2.2 4.3.5 4.3.6

Morphologisch-syntaktische Ebene 217 Häufung evaluativer Suffigierungen 217 Wechsel der grammatischen Person 224 Lexikalisch-semantische Ebene 226 Lexeme aus dem baby talk 228 Häufung emotiver Lexik mit Referenz auf SprecherIn und AdressatIn 231 Emotionsbezeichnende Lexeme 231 Emotionsausdrückende Lexeme 236 Pragmatische Ebene 244 Pronominal-verbale Anrede 245 Nominale Anrede 251 Lexik der nominalen Anrede 258 Modifikationen der nominalen Anrede 268 Paraverbale und nonverbale Ebene 273 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 277

5

‘Intimes Sprechen’ als fruchtbares Konzept für die Sprachwissenschaft – Fazit und Entwurf eines Forschungsfeldes 285

6

Literaturverzeichnis

7

Anhang

Sachregister

329 353

295

XI

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Abbildung 2 Abbildung 3 Abbildung 4 Abbildung 5

Das Modell der social penetration nach Altman/Taylor (1973), Abbildung übernommen aus Guerrero/Andersen/Afifi (2007, 92) 56 Verschiedene Äußerungsformen und ihre Verortung zwischen Medium und Konzeption nach Koch/Oesterreicher (1985, 18) 110 Nähe-Distanz-Modell nach Koch/Oesterreicher (1985, 23) 111 Verwaltungsregionen Chiles und ihre EinwohnerInnenzahlen gemäß Instituto Nacional de Estadística (2018) 158 Dialektale Gliederung Chiles nach Wagner (1996, 224) 163

https://doi.org/10.1515/9783110772708-204

Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20 Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23 Tabelle 24 Tabelle 25 Tabelle 26 Tabelle 27 Tabelle 28 Tabelle 29

Untertypen nominaler Anredeformen nach Fontanella de Weinberg (1999, 1419) 18 Merkmale des baby talk 33 Merkmale emotiver Sprache adaptiert nach Ortner (2014, 189–196) 41 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den ‘Typen intimer Beziehungen (im engeren Sinne)’ 76 Drei-Ebenen-Modell menschlicher Sprache nach Coseriu (1988a, 254) 90 Gegenüberstellung der Erhebungsmethoden hinsichtlich ihrer Eignung für die Erhebung ‘intimen Sprechens’ 150 Merkmale des informellen chilenischen Spanisch 179 Altersverteilung in der Grundgesamtheit und in der Studie 202 Einkommensverteilung in der Grundgesamtheit und in der Studie 203 Verteilung der formalen Bildung in der Grundgesamtheit und in der Studie 204 Reduplikation im Korpus 209 Silbenausfall im Korpus 210 Prothese im Korpus 210 Ersetzung von später erlernten Lauten durch früher erlernte im Korpus 211 Reduktion von Vokal- und Konsonantengruppen im Korpus 212 Konsonantenharmonie im Korpus 213 Palatalisierung im Korpus 215 Evaluative Suffixe im Korpus 218 Wechsel der grammatischen Person im Korpus 224 Lexien aus dem baby talk im Korpus 228 nanai im Korpus 230 Emotionsbezeichnende Lexeme mit Referenz auf SprecherIn und AdressatIn im Korpus 232 Emotionsausdrückende Lexeme mit Referenz auf SprecherIn und AdressatIn im Korpus 237 Pronominal-verbale Anrede im Korpus 246 Usted de cariño im Korpus 250 Die zehn häufigsten nominalen Anredeformen (über alle Beziehungstypen) im Korpus 252 Die fünf häufigsten nominalen Anredeformen in Paarbeziehungen im Korpus 253 Die fünf häufigsten nominalen Anredeformen gegenüber den Eltern im Korpus 255 Die fünf häufigsten nominalen Anredeformen gegenüber den eigenen Kindern im Korpus 256

https://doi.org/10.1515/9783110772708-205

XVI

Tabelle 30 Tabelle 31 Tabelle 32 Tabelle 32 Tabelle 34

Tabellenverzeichnis

Die fünf häufigsten nominalen Anredeformen gegenüber Geschwistern im Korpus 257 Arten von Quelllexemen der nominalen Anredeformen im Korpus 258 Arten der Modifikation der nominalen Anredeformen im Korpus 269 Nonverbale Merkmale in Korpus und Befragung 274 Ermittelte Merkmale ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles 278

1 Einleitung und Zielsetzung der Arbeit Dulcibus est verbis mollis alendus amor.

(Ovid, Ars Amatoria II, 152)

Es gibt Phänomene in der Sprache, denen wird sowohl von WissenschaftlerInnen als auch von LaiInnen im Allgemeinen eine zärtliche Funktion zugeschrieben: Kosewörter wie Schatz und Liebling gehören dazu, ebenso Diminutive wie Häschen, aber auch Namenskurzformen wie Alex oder Matze. Diese Phänomene sind sprachwissenschaftlich zum Teil gut untersucht, insbesondere was ihre Bildung, zum Teil auch was ihre Verwendungskontexte betrifft. Entsprechende Studien nehmen dabei in der Regel ein einzelnes sprachliches Phänomen als Ausgangspunkt und beschäftigen sich dann z. B. mit der Frage, welcher Quelllexeme sich Kosewörter typischerweise bedienen, welche unterschiedlichen Funktionen Diminutive im Gespräch erfüllen können oder welche phonetischen und morphologischen Verfahren der Bildung von Namenskurzformen zugrunde liegen. Mehr oder weniger explizit, in jedem Fall aber weitgehend unhinterfragt, werden die entsprechenden Phänomene dabei dem «zärtlichen Sprechen», der «Sprache der Liebenden» o. Ä. bzw. – auf Spanisch – dem «lenguaje afectuoso», dem «lenguaje cariñoso» oder auch dem «lenguaje amoroso» zugeordnet. Während damit verschiedene sprachliche Phänomene sowohl von WissenschaftlerInnen als auch von LaiInnen recht eindeutig als zu einer Art «zärtlichen Sprechens» zugehörig empfunden werden, ist auf der anderen Seite überraschenderweise bisher keine nähere Auseinandersetzung mit der Frage erfolgt, wie ein solches «zärtliches Sprechen» sprachwissenschaftlich überhaupt zu fassen ist – worin es besteht, wie man es abgrenzen kann, welche sprachlichen Merkmale dazugehören. Während also verschiedene Formen «zärtlichen Sprechens» in der Sprachwissenschaft bereits umfänglich behandelt wurden, gilt dies für «zärtliches Sprechen» als solches nicht. Dies überrascht umso mehr, als es sich beim «zärtlichen Sprechen» um einen der ursprünglichsten und elementarsten Bereiche menschlichen (Er-)Lebens und Wohlergehens handelt: Es betrifft im wahrsten Sinne des Wortes jeden Menschen auf der Welt, sei es in der Interaktion mit den Eltern, mit den eigenen Kindern, mit dem Partner bzw. der Partnerin oder mit den Geschwistern. Wenngleich Formen «zärtlichen Sprechens» nur in nicht institutionalisierten Kontexten auftreten und damit keinen festgeschriebenen (sprachlichen) Regeln folgen wie etwa Gerichtsverhandlungen oder Preisverleihungen, ist dennoch davon auszugehen, dass sich Regelmäßigkeiten in ihrer sprachlichen Ausformung feststellen lassen. Dabei liegt es nahe, dass das «zärtliche Sprechen» gerade nicht

https://doi.org/10.1515/9783110772708-001

2

1 Einleitung und Zielsetzung der Arbeit

nur Kosewörter, Diminutive und Namenskurzformen umfasst, sondern möglicherweise auch weitere Merkmale durchaus auch anderer sprachlicher Ebenen. Um diese zu ermitteln, muss das «zärtliche Sprechen» jedoch zuerst als solches linguistisch festgemacht werden. Dazu muss eine Definition des «zärtlichen Sprechens» erarbeitet werden, die es ermöglicht, es eindeutig und überschneidungsfrei von anderen, ähnlichen sprachlichen Modalitäten zu unterscheiden. Es muss also darum gehen, die spezifischen Merkmale des «zärtlichen Sprechens» im Sinne seiner differentia specifica herauszuarbeiten. Angestrebt wird in dieser Arbeit daher eine differentielle Definition und Beschreibung des «zärtlichen Sprechens». Vorhandene Definitionen des Adjektivs zärtlich, wie sie etwa der Duden (2020, s. p.) mit «1. starke Zuneigung ausdrückend» und «2. fürsorglich» angibt, helfen bei der Frage, wie sich «zärtliche» Äußerungen grundlegend von anderen abgrenzen lassen, kaum weiter. Stattdessen muss ein Perspektivwechsel in der wissenschaftlichen Herangehensweise an «zärtliches Sprechen» vollzogen werden: Statt wie bisher von den Formen, also von einzelnen sprachlichen Phänomenen, auszugehen und ggf. deren Verwendungskontexte zu identifizieren, muss gerade der Verwendungskontext als Ausgangspunkt für die Untersuchung und Identifikation der dazugehörigen Merkmale dienen. Ein solcher Perspektivwechsel soll in der vorliegenden Dissertation vollzogen und damit eine theoretische (Neu-)Konzeption des Gegenstandsbereichs «zärtliches Sprechen» vorgelegt werden. Das «zärtliche Sprechen» wird dazu unter Bezugnahme auf Erkenntnisse aus der Soziologie und Psychologie auf Basis seiner konstitutiven und differentiellen Kontextmerkmale definiert (cf. Kapitel 3.1). Als diese lassen sich zum einen die ‘intime Beziehung’, die zwischen den GesprächspartnerInnen vorliegt, und andererseits die ‘intime Situation’, in der die Kommunikation zwischen den GesprächspartnerInnen stattfindet, identifizieren. Neu geprägt wird für die so abgegrenzte Modalität der Sprache der Terminus ‘intimes Sprechen’. Die Funktion dieses ‘intimen Sprechens’ ist in erster Linie eine soziale: Es dient zur Aufrechterhaltung und Festigung der ‘intimen Beziehung’ zwischen den SprecherInnen. Das anhand seiner spezifischen Kontextmerkmale abgegrenzte ‘intime Sprechen’ wird im Anschluss sprachtheoretisch verortet (cf. Kapitel 3.2). Dabei geht es nach einer Verortung des ‘intimen Sprechens’ im Drei-Ebenen-Modell der Sprache nach Coseriu vor allem um die Frage, um welche Art sprachlicher Varietät es sich beim ‘intimen Sprechen’ handelt. Die dort angestellten Überlegungen legen nahe, dass sich ‘intimes Sprechen’ am ehesten auf der diaphasischen Dimension verorten und demnach als Register fassen lässt. Im Anschluss werden methodische Konsequenzen der vorgenommenen Neukonzeption für die Erhebung ‘intimen Sprechens’ aufgezeigt (cf. Kapitel 3.3). Hier rückt vor allem die Problematik der Untersuchbarkeit ‘intimen Sprechens’ als einer Modalität, die

1 Einleitung und Zielsetzung der Arbeit

3

gerade durch ihre Nicht-Zugänglichkeit durch Außenstehende definiert ist, in den Mittelpunkt der Diskussion. In diesem Zusammenhang werden auch verschiedene Erhebungsmethoden auf ihre Eignung für die Untersuchung des ‘intimen Sprechens’ hin evaluiert und verglichen. Erst auf Basis dieser theoretischen und methodischen Überlegungen können empirische Studien zum ‘intimen Sprechen’ durchgeführt werden und so die typischen Merkmale der Modalität in verschiedenen Sprachen und Dialekten identifiziert werden. Exemplarisch wird eine solche Untersuchung im empirischen Teil der Arbeit für eine Varietät des Spanischen, nämlich das Spanische Chiles, anhand eines mittels Discourse Completion Tasks erstellten ‘intimsprachlichen’ Sprachdatenkorpus durchgeführt (cf. Kapitel 4). Die 6298 Äußerungen im Korpus werden auf allen sprachlichen Ebenen analysiert und die daraus ermittelten Merkmale ausführlich präsentiert und kontextualisiert. Der Schwerpunkt der vorliegenden Dissertation ist klar ein theoretischer – es geht vorrangig um die theoretische (Neu-)Konzeption einer besonderen Art des Sprechens in bestimmten Kontexten, für die der Terminus ‘intimes Sprechen’ eingeführt wird. Der empirische Teil zum Spanischen Chiles dient dagegen in erster Linie dazu, die aufgestellte Theorie des ‘intimen Sprechens’ bereits auf ein solideres Fundament zu stellen. Dennoch hält die durchgeführte Korpusstudie gleichzeitig auch tiefe Einsichten in einen Bereich des chilenischen Spanisch bereit, für den bisher keine vergleichbaren Untersuchungen vorliegen, und stellt damit auch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des chilenischen Spanisch dar. Mit dem ‘intimen Sprechen’ wird erstmals in der Sprachwissenschaft eine Theorie von Sprechweisen vorgelegt, die in der bisherigen Forschung oft als «zärtlich», «cariñoso» o. Ä. beschrieben werden, zu denen es bislang jedoch an einer Theorie- und Terminologiebildung fehlt. Der vorliegende Beitrag gehört damit zur Grundlagenforschung eines in der Sprachwissenschaft bisher nur am Rande behandelten Bereichs der menschlichen Sprache. Das Konzept des ‘intimen Sprechens’ eröffnet damit ein weites Forschungsfeld und kann als Ausgangspunkt für vielfältige weitere Untersuchungen zur Thematik dienen. Grundlage für die Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands «zärtliches Sprechen» bildet zunächst ein Überblick über die bisherige Forschung zum Thema, der im folgenden Kapitel gegeben werden soll.

2 Die Behandlung von Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung The world of intimate talk remains largely unexplored by scholars. (Hopper/Knapp/Scott 1981, 23)

Im Mittelpunkt des Interesses der vorliegenden Arbeit steht eine Modalität der Sprache, die zunächst als «zärtliches Sprechen» bezeichnet werden soll und für die in den verschiedenen Sprachen jeweils unterschiedliche Begriffe geläufig sind, so z. B. engl. «intimate talk/discourse», dt. «zärtliches Sprechen/zärtliche Sprache» oder sp. «lenguaje cariñoso/afectuoso/amoroso» sowie daneben viele weitere.1 Ob und wie dieses «zärtliche Sprechen» in der bisherigen Forschung bereits behandelt worden ist, soll in den Kapiteln 2.1 bis 2.3 thematisiert werden. Dabei sind grundlegend zwei verschiedene Zugänge zur Thematik unterscheidbar: Zum einen sind solche Studien zusammenzutragen, die – wie auch die vorliegende Arbeit – den Zugang zur Modalität als solcher suchen und dieser ggf. bestimmte sprachliche Merkmale zuordnen; nur bei dieser Art von Untersuchungen handelt es sich um Vorarbeiten zu dieser Arbeit im engeren Sinne. Sie sollen in Kapitel 2.1 behandelt werden. Eher indirekt mit dem «zärtlichen Sprechen» beschäftigen sich dagegen Studien, die sich der Untersuchung bestimmter sprachlicher Phänomene widmen, denen im Verlauf der Analyse eine «zärtliche» Funktion zugeschrieben wird. Da das Interesse solcher Untersuchungen nicht in der Beschreibung einer Modalität, sondern bestimmter sprachlicher Phänomene liegt, stellen diese nur mittelbar Vorarbeiten für die vorliegende Arbeit dar. Sie sollen in Kapitel 2.2 vorgestellt werden.

2.1 «Zärtliches Sprechen» als Modalität Eine Recherche nach Publikationen zu den Modalitäten «intimate talk/discourse», «zärtliches Sprechen/zärtliche Sprache» und «lenguaje cariñoso/amo-

1 Der recht unkonkrete Terminus der sprachlichen ‘Modalität’ sowie die allgemeinsprachliche Bezeichnung «zärtliches Sprechen» werden hier und im Folgenden bewusst verwendet, um den Untersuchungsgegenstand noch nicht vorschnell terminologisch festzulegen. So ist im Verlaufe der Arbeit erst noch zu untersuchen, wie sich das «zärtliche Sprechen» terminologisch am besten fassen lässt (cf. Kapitel 3). Um zu signalisieren, dass es sich beim «zärtlichen Sprechen» um eine erste allgemeinsprachliche Umschreibung und nicht um einen Terminus handelt, wird die Fügung in der Arbeit durchgehend in doppelte Anführungszeichen gesetzt. Fachtermini erscheinen dagegen in einfachen Anführungszeichen. https://doi.org/10.1515/9783110772708-002

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

roso/afectuoso» erweist sich als kaum ergiebig. Zu nennen sind hier zunächst lediglich zwei Veröffentlichungen: Zum einen erschien im Jahr 1981 ein Artikel der Kommunikationswissenschaftler Robert Hopper, Mark L. Knapp und Lorel Scott mit dem Titel Couples’ personal idioms. Exploring intimate talk. Untersucht werden darin Fälle beziehungsspezifischer Lexik unter (englischsprachigen) Liebespaaren, die sog. personal idioms. Der Beitrag ist der Forschung zur idiosynkratischen Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ zuzuordnen, auf die in Kapitel 2.2.4 noch näher eingegangen wird. Die zweite Publikation, die einen der eingangs genannten Begriffe im Titel trägt, ist die Monographie Investigating intimate discourse (2016) des irischen Korpuslinguisten Brian Clancy. Auf Basis eines Korpus von Alltagsgesprächen zwischen Familienmitgliedern, LebenspartnerInnen und engen FreundInnen ermittelt Clancy häufige sprachliche Merkmale des «intimate discourse» in Irland. Insofern als es sich bei den analysierten Gesprächen allerdings um Alltagsgespräche verschiedensten Inhalts handelt, scheint sein Untersuchungsgegenstand trotz des vielversprechenden Titels nicht deckungsgleich mit dem des «zärtlichen Sprechens» in dieser Arbeit zu sein. «Zärtliches Sprechen» scheint deutlich enger zu fassen zu sein als lediglich auf Basis der Beziehung zwischen den GesprächspartnerInnen, wie in Kapitel 3.1 noch umfassend zu erläutern sein wird. So betreffen Clancys Ergebnisse vor allem auch Phänomene, die weniger für «zärtliches Sprechen», sondern vielmehr für ‘(konzeptionell) gesprochene Sprache’ im Allgemeinen typisch zu sein scheinen (cf. auch Kapitel 3.2.1.3), etwa wenn er viele turn-taking-Signale oder Diskursmarker als charakteristische Merkmale des «intimate discourse» identifiziert. Seine Studie ist damit nur begrenzt nützlich für die vorliegende Arbeit. Innovativ und aufschlussreich ist indes seine theoretische Verortung ‘intimer Beziehungen’ als communities of practice (cf. auch Kapitel 3.1.1.1 und 3.2.3). In zwei weiteren Artikeln mit den Titeln Intimate talk between parents and their teenage children (Solomon et al. 2002) und Intimate talk with family and friends (Sandel 2008) wird zwar ebenfalls der Begriff «intimate talk» verwendet, behandelt werden unter dem Stichwort aber in beiden Fällen die inhaltlichen und nicht die für diese Arbeit interessanten formalen Aspekte von Gesprächen in Familien- und Freundschaftsbeziehungen. Auch diese Beiträge sind für die vorliegende Arbeit daher nicht relevant. Nicht unerwähnt bleiben darf hingegen die bereits 1978 erstveröffentlichte und inzwischen bereits fünffach aufgelegte Monographie Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung des Schweizer Linguisten Ernst Leisi, die – wenngleich nicht unter Verwendung der soeben genannten Bezeichnungen – in jedem Fall den linguistischen Studien zum «zärtlichen Sprechen» als Modalität zuzurechnen ist. In seinem Werk unternimmt Leisi (1978) zwar nicht direkt eine Beschreibung des «zärtlichen Sprechens», er strebt jedoch zumindest eine Beschreibung der Sprache von (deutschsprachigen)

2.1 «Zärtliches Sprechen» als Modalität

7

Liebespaaren an, welche sicherlich als ein Bereich «zärtlichen Sprechens» anzusehen ist (cf. hierzu genauer Kapitel 3.1). Als zentrales Merkmal der Paarsprache identifiziert Leisi den ‘Privatcode’. Dieser Begriff ist als Synonym zum Begriff der bereits erwähnten personal idioms zu sehen und gehört damit ebenso wie diese zum Forschungsfeld der idiosynkratischen Kommunikaton in ‘intimen Beziehungen’, das in Kapitel 2.2.4 näher beschrieben wird. Weitere sprachwissenschaftliche Termini, bei denen zunächst naheliegen könnte, dass unter ihnen (auch) das «zärtliche Sprechen» behandelt wird, sind z. B. Liebessprache bzw. lenguaje del amor, familiäre Sprache bzw. familiar language bzw. lengua familiar oder auch affektive Sprache bzw. affective language bzw. lenguaje afectivo. Tatsächlich wird mit diesen Bezeichnungen allerdings nur in den seltensten Fällen der Untersuchungsbereich der vorliegenden Arbeit angesprochen. So beziehen sich lengua familiar, familiar language und familiäre Sprache fast immer auf das ‘informelle Register’ und nur in den seltensten Fällen – wie die Bezeichnung allerdings zunächst suggerieren könnte – auf den Sprachgebrauch innerhalb der Familie, der sich bereits eher mit dem «zärtlichen Sprechen» decken würde (cf. Kapitel 3.1.1 sowie zur Abgrenzung von «zärtlichem Sprechen» und ‘informellem Register’ Kapitel 3.2.1.2). Lenguaje afectivo, affective language und affektive Sprache wiederum umfassen in der Regel alle Formen des Ausdrucks von Emotionen in der Sprache (cf. auch Kapitel 2.2.6) und beziehen sich nur sehr selten speziell auf den Ausdruck bestimmter sozialer Emotionen gegenüber den AdressatInnen, was wiederum dem «zärtlichen Sprechen» näher kommen würde (cf. Kapitel 3.1.1.5). Unter den Termini lenguaje del amor, language of love und Liebessprache schließlich werden üblicherweise nicht Gespräche zwischen Liebenden analysiert, sondern entweder aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive der Liebesdiskurs in bestimmten Werken oder Briefen oder aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive der Liebeswortschatz, d. h. z. B. typische Bezeichnungen und Metaphern, um über Liebe zu sprechen (cf. auch Kapitel 2.2.6). Damit bestehen zwischen «zärtlichem Sprechen» und lenguaje del amor, language of love und Liebessprache ebenfalls nur sehr lose Verbindungen. Über die oben erwähnten Studien hinaus scheint die Modalität des «zärtlichen Sprechens» in der sprachwissenschaftlichen Forschung also nicht behandelt worden zu sein. Insofern als es sich beim «zärtlichen Sprechen» um ein Phänomen handelt, das – so viel sollte auch bei einem bisher groben Vorverständnis des Begriffs klar sein – ausschließlich in bestimmten sozialen Beziehungen auftritt, liegt allerdings nahe, dass sich eventuell die Sozialpsychologie aus ihrem Interesse an menschlichen Beziehungen der Thematik ausführlicher gewidmet hat. Doch wenngleich die zentrale Relevanz von Sprache für soziale Prozesse in der Sozialpsychologie nie angezweifelt wurde, stellt sie in der sozialpsychologischen

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Forschung bisher lediglich ein Randphänomen dar (cf. auch Noels/Giles/Le Poire 2003, 232; Holtgraves 2014, 2). In vielen Einführungen und Handbüchern zur Sozialpsychologie findet sich daher auch kein eigens ausgewiesenes Kapitel zu Sprache, geschweige denn zu «zärtlichem Sprechen» oder äquivalenten Begriffen (cf. z. B. Frey/Greif 1983; Bierbrauer 2005; Fiske/Gilbert/Lindzey 2010). Im Bemühen, sprachliche und sozialpsychologische Aspekte konsequenter zusammenzubringen, sind zwar bereits 1982 das Journal of language and social psychology gegründet worden und in den Jahren 1990, 2001 und 2014 entsprechende Handbücher erschienen; betrachtet man jedoch deren Themenspektrum, zeigen sich Schwerpunkte vor allem in den Themenfeldern ‘Soziolekte’, ‘Mehrsprachigkeit’, ‘Spracherwerb’, ‘Sprache und Identität’, ‘Persuasion’ und ‘Stereotypen’. Nach Beiträgen zur Sprache in persönlichen Beziehungen sucht man dagegen auch hier fast vergeblich. Die einzige (!) Ausnahme in den genannten Zeitschriften und Handbüchern bildet der Beitrag Language and interpersonal relationships von Steve Duck und Daniel A. Usera (2014) im Oxford handbook of language and social psychology. Die Autoren stellen hier sechs typische kommunikative Praktiken in engen persönlichen Beziehungen vor: self-disclosure (Selbstenthüllung), Metaphern, Narrative, «taken-for-granteds»2, idiosynkratische Kommunikation und spielerisches Verhalten. Die Liste enhält damit sowohl inhaltliche als auch formale Merkmale der Kommunikation; für die vorliegende Arbeit sind lediglich die formalen Merkmale aus der Liste, also Metaphern, «taken-for-granteds» und idiosynkratische Kommunikation von Interesse (cf. auch Kapitel 2.2.4). Ab den 1980er-Jahren etablierte sich die Beziehungsforschung als interdisziplinäres Forschungsfeld, das zwischen den Fächern Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Anthropologie, Soziologie und Biologie angesiedelt ist, allerdings deutlich von der Psychologie dominiert wird (Asendorpf/Banse 2000, 1; Fitness/ Fletcher/Overall 2003, 258; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 3–4; Lenz 2009, 24). Mit dem Journal of social and personal relationships und Personal relationships verfügt das Arbeitsfeld über zwei eigene Fachzeitschriften; Handbücher wurden von Steve Duck (1988; 1997), Jeffry A. Simpson und Lorne Campbell (2013) sowie Anita L. Vangelisti (2018) herausgegeben. Auch hier wären jeweils Beitrage zur Thematik des «zärtlichen Sprechens» (oder zumindest zum Überthema ‘Sprache und Beziehung’) zu erwarten – tatsächlich findet man solche jedoch kaum. In Anbetracht der Tatsache, dass die Linguistik nicht in größerem Maße am Forschungsfeld betei-

2 Darunter verstehen sie konversationelle Verkürzungen, die der Bekanntschaft zwischen den SprecherInnen geschuldet sind, z. B. «Hi, it’s me» am Telefon oder die Nennung von bestimmten Orts- oder Personennamen ohne weitere Erläuterung, worum es sich handelt.

2.1 «Zärtliches Sprechen» als Modalität

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ligt ist, ist dies vielleicht auch nicht überraschend. Stattdessen geht es in den Publikationsorganen der Beziehungsforschung vorrangig um psychologische Themen wie ‘interpersonale Anziehung’, ‘Bindung’ oder ‘Sexualität’. Wenn Kommunikation zum Thema wird, dann lediglich ihre Inhalte, z. B. worüber in einem bestimmten Beziehungstyp gesprochen wird und worüber nicht. Eine Ausnahme bildet der wichtige Artikel von Bombar/Littig Jr. (1996) zum baby talk in Liebesbeziehungen (cf. Kapitel 2.2.5). Die AutorInnen zeigen, dass bestimmte Merkmale des baby talk – das Register, das Erwachsene üblicherweise gegenüber Kleinkindern verwenden – auch unter (englischsprachigen) Liebespaaren genutzt werden und ziehen daraus eine Verbindung zwischen baby talk und ‘Bindung’ (cf. auch Kapitel 3.1.1.4). Die Erkenntnis, dass baby talk und «zärtliches Sprechen» eng zusammengehören, ist zentral für die vorliegende Arbeit. Auf die Merkmale und Verwendungskontexte des baby talk soll daher in Kapitel 2.2.5 ausführlicher eingegangen werden. Abgesehen von den benannten Ausnahmen (Bombar/Littig Jr. 1996 und Duck/Usera 2014) zeigt sich in Untersuchungen der Sozialpsychologie und Beziehungsforschung jedoch, wenn überhaupt, ein Interesse an den Inhalten der Kommunikation und nicht an ihrer Form. Drei Monographien, die sich dezidiert mit der Kommunikation in persönlichen Beziehungen beschäftigen, stammen schließlich aus der Kommunikationswissenschaft, und zwar Knapp/Vangelisti (2005), Guerrero/Floyd (2006) und Guerrero/Andersen/Afifi (2007). Letztere Publikation beschränkt sich allerdings auf die nonverbale Ebene (cf. Kapitel 3.1.1.6) und die beiden erstgenannten Bände legen ihren Fokus sehr stark auf Kommunikationsinhalte und kommunikative Handlungen (z. B. Komplimente, Geschenke, Unterstützung, Lügen, Konfliktverhalten). Stellenweise findet man jedoch in allen drei Publikationen kurze Anmerkungen zu verbalen Merkmalen. So werden nicknames und Kurzformen von Vornamen, baby talk, idiosynkratische Kommunikation bzw. personal idioms und Gefühlsbeschreibungen wie I love you als typische Merkmale der Kommunikation in engen Beziehungen genannt (Knapp/Vangelisti 2005, 184–188, 301–303; Guerrero/Floyd 2006, 111–112; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 11, 17, 175–177). Neu sind in dieser Liste einerseits die nicknames, die im Deutschen üblicherweise als ‘Kosenamen’ bezeichnet werden, sowie andererseits die Kurzformen von Vornamen, für die meist der Fachterminus ‘Hypokoristika’ verwendet wird. Insofern als beide Phänomene offenbar typisch für das «zärtliche Sprechen» sind, lohnt auch hier ein Blick auf die bisherige Forschung zu diesen Themen (cf. Kapitel 2.2.1 und 2.2.2). Ebenfalls neu in der Liste der Merkmale sind Gefühlsbeschreibungen. Bei einer näheren Beschäftigung mit dem «zärtlichen Sprechen» sollte daher auch der Themenkomplex ‘Sprache und Emotion’ in den Blick genommen werden (cf. Kapitel 2.2.6).

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Insgesamt erweisen sich die Forschungsbemühungen, die bisher zum Thema «zärtliches Sprechen» als Modalität unternommen wurden, als äußerst karg. Damit behält die Feststellung von Hopper/Knapp/Scott (1981), dass «the world of intimate talk remains largely unexplored by scholars» (23), auch fast 40 Jahre nach der Veröffentlichung ihres Artikels weitgehend ihre Gültigkeit. Die wenigen identifizierten Beiträge zum Thema (Leisi 1978; Hopper/Knapp/Scott 1981; Bombar/Littig Jr. 1996; Knapp/Vangelisti 2005; Guerrero/Floyd 2006; Guerrero/Andersen/Afifi 2007 und Duck/Usera 2014) sind dabei auch nicht deckungsgleich mit dem «zärtlichen Sprechen». So beschränken sich einige Beiträge auf die Paarbeziehung (Leisi 1978; Hopper/Knapp/Scott 1981; Bombar/Littig Jr. 1996), während «zärtliches Sprechen» doch – auch so viel sollte bereits bei einem groben Vorverständnis des Begriffs klar sein – durchaus auch in anderen Beziehungstypen wie z. B. gegenüber den eigenen Kindern vorkommen kann. Zudem stammen die Beiträge bis auf eine Ausnahme (Leisi 1978) nicht aus der Sprachwissenschaft. Dementsprechend liegen ihre inhaltlichen Schwerpunkte auch nicht auf der sprachlichen Modalität als solcher, sondern – wenngleich sie jeweils einige typische Merkmale des «zärtlichen Sprechens» nennen – z. B. auf psychologischen Prozessen oder Kommunikationsinhalten. Umfassende Abhandlungen zum Wesen und/oder den typischen Merkmalen des «zärtlichen Sprechens» existieren damit bisher nicht. Dementsprechend fehlt es auch an einer Theorieund Terminologiebildung zum Thema, was bereits die Wichtigkeit und den Wert der vorliegenden Dissertation für die sprachwissenschaftliche Forschung aufzeigt.

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion» Während eine Behandlung «zärtlichen Sprechens» als Modalität bisher nicht bzw. nur in sehr groben Ansätzen erfolgt ist (cf. Kapitel 2.1), sind in der Sprachwissenschaft zum Teil durchaus ausführliche Beschreibungen einzelner sprachlicher Phänomene vorhanden, denen eine «zärtliche Funktion» zugeschrieben wird. Auf die wichtigsten dieser Phänomene soll im Folgenden ausführlich eingegangen werden. Der Fokus liegt dabei aufgrund der fachlichen Ausrichtung der Arbeit auf Publikationen zum Spanischen, es werden aber auch Untersuchungen zu anderen Sprachen miteinbezogen.

2.2.1 Kosenamen – nominale Anredeformen Mit der Vorstellung von «zärtlichem Sprechen» verbindet man schnell die sog. ‘Kosenamen’. Es handelt sich beim Begriff des ‘Kosenamens’ allerdings um eine

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

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allgemeinsprachliche Bezeichnung, nicht um einen linguistischen Fachterminus. So findet sich der Begriff in linguistischen Wörterbüchern auch nur zum Teil: Bei Witkowski (1964) etwa ist er vorhanden, bei Bußmann (1990) dagegen z. B. nicht. Auch gibt es nur wenige wissenschaftliche Studien, die den Begriff ‘Kosename’ zum Ausgangspunkt nehmen (z. B. Schiller 2007; Spillner 2011; Nübling 2014; 2017; Schulz 2017).3 Die Beschreibung des Wesens und der Verwendungskontexte von Kosenamen ist aus diesem Grund bisher auch nur lückenhaft erfolgt (cf. auch Spillner 2011, 263; Nübling 2017, 99) und kann in wenigen Sätzen zusammengefasst werden: Der Wortbestandteil Kose- leitet sich von dem inzwischen im Deutschen ungebräuchlichen Verb kosen ‘zärtlich plaudern, zärtlich sein’ ab. Es handelt sich also bei Kosenamen um Namen, die eine «zärtliche Funktion» haben. Im Wörterbuch zur Namenkunde von Witkowski (1964) findet man unter dem Lemma Kosename die Erläuterung «1. Expressive Namenform mit kosender Bedeutung, hauptsächlich von Personennamen gebildet; 2. Gelegenheitsbildungen kosenden Charakters wie Mausi, Schatz, Schatzi, Männlein etc.». Hinsichtlich der Bildung von Kosenamen lassen sich also bereits zwei Verfahren unterscheiden: Namensableitungen einerseits und Bildungen auf der Basis von Appellativa andererseits. Die Funktion von Kosenamen wird bei Witkowski (1964) sehr knapp mit «kosend», also «zärtlich» umschrieben. Der Duden (2020) definiert ‘Kosename’ als «Name, der eine liebevolle, vertrauliche Beziehung zu jemandem ausdrücken soll» (s. p.). Die Verwendung von Kosenamen etabliert bzw. markiert also offenbar eine spezifische Nähebeziehung zwischen den GesprächspartnerInnen, was auch in den wenigen Forschungsbeiträgen zum Thema betont wird (z. B. Schiller 2007, 58; Spillner 2011, 264; Nübling 2014, 104; 2017, 99; Schulz 2017, 339). Die Verwendung von Kosenamen stärkt die Gruppenidentität und bewirkt gleichzeitig Abgrenzung nach außen, da Personen außerhalb der Nähebeziehung der Gebrauch der Kosenamen nicht gestattet ist (Schiller 2007, 161; Nübling 2014, 104, 107; 2017, 103; Schulz 2017, 340). Häufig unterliegen sie sogar der Geheimhaltung und ihre Offenbarung vor Dritten kann sowohl die BeziehungsteilnehmerInnen als auch die Außenstehenden unangenehm berühren (Spillner 2011, 264; Schulz 2017, 341). Kosenamen kommen in Dyaden aller persönlichen Beziehungen vor, von Paar- und Familienbeziehungen über Schul- und VereinskameradInnen bis hin zu ArbeitskollegInnen (Spillner 2011, 264; Nübling 2014, 108; 2017, 103). Gebildet werden sie (im Deutschen) aus unterschiedlichen Arten 3 Keinen wissenschaftlichen Charakter haben z. B. die Kosenamen-Wörterbücher von Karwath-Völz (1980) oder Grundies/Mursa (2009) – es zeigt sich hieran erneut, dass der Begriff ‘Kosename’ zwar in der Allgemeinsprache gängig ist, in der Wissenschaft aber kaum Verwendung findet.

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von Quelllexemen, vor allem aus Vornamen (z. B. Sarahlein), aus Appellativa (z. B. Maus) sowie aus Neologismen (z. B. Schnu) (Spillner 2011, 264; Nübling 2014, 108; 2017, 100; Schulz 2017, 340). Überraschenderweise findet sich für das so augenfällige und alltägliche Phänomen der ‘Kosenamen’ bisher kein linguistischer Fachterminus, geschweige denn ein international etablierter, unter dem das Phänomen intensiver behandelt worden wäre.4 Im Englischen gibt es keine einheitliche Bezeichnung für das Phänomen: Es konkurrieren im Wesentlichen die Bezeichnungen pet names, terms of endearment und nicknames. Auch im Spanischen fehlt eine einheitliche Bezeichnung, was auch Cano González/Kremer/Schweickard (2001, 875) feststellen. Während z. B. Brandimonte (2011, 258) oder Camacho Alfaro (2011, 9, 11, 134) von «vocativos cariñosos» sprechen, findet man bei Enajas (2004, s. p.) «vocativos amorosos», bei Flórez (1954, 79, 82) und Placencia (2010a, 355–356) wiederum «vocativos afectuosos». Wieder andere AutorInnen sprechen von fórmulas de tratamiento in bestimmten Beziehungstypen, z. B. «fórmulas de tratamiento en la relación amorosa» (Rigatuso 1993, 257). Interessiert man sich also für die Behandlung von Kosenamen in der bisherigen internationalen Forschung, muss man den Zugang über verschiedene Bezeichnungen suchen. Beim Blick auf die soeben genannten Bezeichnungen fällt zunächst die Konkurrenz zwischen den Wortbestandteilen Name, Anredeform und Vokativ auf. Eine Klassifikation und/oder Benennung des Phänomens als Namen findet sich interessanterweise lediglich in deutsch- und englischsprachigen Publikationen – in spanischsprachigen Veröffentlichungen ist sie dagegen unüblich. So wird das Phänomen auch nur in deutsch- und englischsprachigen Publikationen in der Disziplin der Onomastik behandelt und dort u. a. gemeinsam mit den ‘Spitznamen’5 den ‘inoffiziellen Personennamen’ zugeordnet (cf. z. B. Fleischer 1964; Kalverkämper 1976; Seibicke 1982; Kany 1992; Naumann 1996). Tatsächlich erscheint die Klassifikation der Kosenamen als Untergruppe der ‘Namen’ als pro-

4 Der Terminus ‘Hypokoristikon’, der zum Teil als Fachterminus und damit als Synonym für ‘Kosename’ angegeben wird (z. B. Naumann 1996, 1757; Spillner 2011, 263; Nübling 2017, 99), bedeutet etwas anderes: Er wird (in der Regel) auf Basis der Form definiert und bezieht sich auf traditionelle Namenskurzformen (cf. Kapitel 2.2.2). 5 Im Gegensatz zu Kosenamen werden Spitznamen in Gruppen und nicht in Dyaden verwendet (z. B. in Vereinen, Dorfgemeinschaften oder Schulen). Sie beziehen sich oft auf äußerliche oder charakterliche Merkmale einer Person und können kritische oder humoristische Funktion haben, so wenn zum Beispiel ein Lehrer scherzhaft von seinen SchülerInnen mit einem Spitznamen belegt wird (Spillner 2011, 263; ebenso Fleischer 1964, 20; Placencia 2010b, 965–991). Nicht nur bei LaiInnen findet man aber Überschneidungen in der Verwendung der Begriffe ‘Spitzname’ und ‘Kosename’.

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blematisch. So ist ein zentrales Merkmal von Namen (nomina propria) das Fehlen einer lexikalischen Bedeutung und eine daraus resultierende reine Identifikationsfunktion: «El nombre propio carece de significación, pero posee, en cambio, valor denominativo: nombra a los individuos particulares, a los que designa de manera unívoca, y los diferencia de otros de su misma especie» (NGLE 2009, 835–836; ebenso Kalverkämper 1976, 27; Conrad 1988, 157; Buesa Oliver 1988, 1516; Kany 1992, 12; Cano González/Kremer/Schweickard 2001, 869–870). Kosenamen dagegen sind wie Appellativa bedeutungshaltig und dienen daher im Gegensatz zu Eigennamen nicht nur der Identifizierung, sondern auch der Charakterisierung (Fleischer 1964, 11; Kany 1992, 170–171; Nübling 2017, 101). Weiterhin sind Kosenamen im Gegensatz zu den fixierten und erst durch ein bestimmtes (meist offizielles) Prozedere legitimierten Eigennamen häufig Gelegenheitsbildungen und damit im Gegensatz zu diesen «eher lose, temporäre Erscheinungen» (Kany 1992, 27). Formal sind Namen schließlich eine Untergruppe der Substantive und können als Nuklei von Nominalsyntagmen zum Ausdruck verschiedener syntaktischer Funktionen dienen. Typisch für Kosenamen ist allerdings, dass sie auf die syntaktisch-pragmatische Funktion der Anrede beschränkt sind und daher eher nicht in der 3. Person genutzt werden. Problematisch am Begriff ‘Name’ zur Bezeichnung des Phänomens ist letztendlich auch, dass er eine Beschränkung auf Namensableitungen (etwa mittels Suffigierung oder Kürzung) suggeriert. Tatsächlich sind mit dem Begriff (in der Regel) aber auch verschiedenste Appellativa wie Schatz, Maus oder Liebes gemeint, die in derselben Funktion genutzt werden.6 Es scheint daher wenig angebracht, das Phänomen weiterhin als ‘Kosenamen’ zu bezeichnen. Für die Suche nach einem adäquateren Terminus lohnt ein Blick auf die in der spanischsprachigen Forschung verwendeten Bezeichnungen, wo das Phänomen ‘Kosename’ anders als im Deutschen im Wesentlichen im Feld der fórmulas de tratamiento bzw. formas de tratamiento (jeweils ‘Anredeformen’)7 sowie der vocativos (‘Vokative’) behandelt wird. Die Bezeichnungen werden in den entsprechenden Untersuchungen oft synonym gebraucht (z. B. Weber de

6 Witkowski (1964, 42) und Schiller (2007, 9) schlagen wiederum eine Differenzierung in zwei Gruppen, und zwar ‘Kosenamen’ (Namensableitungen) und ‘Kosewörter’ (Appellativa in kosender Funktion) vor. Angesichts der Unschärfe der Bezeichnung -wort, der nach wie vor eingeschränkten Eignung der Bezeichnung -name sowie schließlich der Tatsache, dass beide Formengruppen offenbar dieselbe Funktion erfüllen, kann man die Notwendigkeit dieser Differenzierung (insbesondere aus einer funktional orientierten Perspektive wie der der vorliegenden Arbeit) jedoch in Frage stellen. 7 Cf. FN 12.

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Kurlat 1941; Flórez 1954; Alba de Diego/Sánchez Lobato 1980; Carricaburro 1997; Taquechel 2002; Placencia 2010a; Camacho Alfaro 2011; Brandimonte 2011). Dies sollte allerdings vermieden werden, da es sich bei ‘Vokativ’ um einen Begriff aus der Morphosyntax, bei ‘Anredeformen’ dagegen um ein Konzept aus der Pragmatik handelt und somit zwei Ebenen vermischt werden. So ist der Vokativ eine syntaktische Funktion, die in der Appellation besteht und durch ein Nominalsyntagma ausgedrückt werden kann.8 Appellation heißt, dass ein Individuum mittels des Vokativs direkt angesprochen oder (an-)gerufen wird, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen (Lázaro Carreter 1962, 411; Hernández 1971, 176–177; Brandimonte 2011, 251). Bei Kosenamen und damit beim «zärtlichen Sprechen» scheint diese appellative Funktion allerdings deutlich weniger von Bedeutung zu sein als eine soziale Funktion, nämlich die Aufrechterhaltung und Stabilisierung von Beziehungen, womit der Begriff ‘Vokativ’ nicht ideal zur Bezeichnung des Phänomens ‘Kosenamen’ geeignet scheint.9 Da es sich beim ‘Vokativ’ um eine rein syntaktische und nicht um eine semantisch-pragmatische Funktion handelt, können zudem auch Formen diese syntaktische Funktion ausfüllen, die im konkreten Kontext nicht der direkten Anrede an das Gegenüber dienen, sondern z. B. als Diskurspartikel (z. B. hombre) oder als reiner Ausruf (z. B. Dios mío) fungieren. Solche Fälle sind für die vorliegende Arbeit kaum interessant, da davon ausgegangen wird, dass Diskurspartikeln und Ausrufe nicht spezifisch für «zärtliches Sprechen» sind, sondern es sich um übliche Merkmale ‘(konzeptionell) gesprochener Sprache’ (cf. Kapitel 3.2.1.3) handelt.10 Insofern ist der Begriff ‘Vokativ’ aus mehreren Gründen nicht ideal zur Beschreibung des Phänomens ‘Kosenamen’ geeignet. 8 Im Lateinischen war der Vokativ dagegen noch einer der sechs Kasus mit eigener Flexionsendung. Mit der Herausbildung der romanischen Sprachen verschwand zwar die Kasusmarkierung, die Funktion blieb jedoch erhalten (Lázaro Carreter 1962, 411; Edeso Natalías 2005, 124). 9 Vielfach wurde zwar betont, dass die Funktion des Vokativs nicht in der reinen Appellation besteht, sondern sie auch eine soziale Komponente aufweist; insbesondere, wenn die Aufmerksamkeit des Gegenübers bereits erlangt sei, sei der Vokativ nur noch eine Art «freiwilliger Zusatz» und seine Funktion nahezu ausschließlich sozial (García Dini 1998, 59; Edeso Natalías 2005, 124–125; Brandimonte 2011, 250; Camacho Alfaro 2011, 3). Dass der Begriff ‘Vokativ’ allein durch seine Etymologie aber sehr viel stärker mit der appellativen Funktion assoziiert ist und die soziale Funktion dadurch etwas untergeht, stellt seine Eignung für die Beschreibung des Phänomens ‘Kosenamen’ dennoch in Frage. 10 Viele der bisherigen Arbeiten trennen allerdings nicht scharf zwischen ‘Anredeformen’ und ‘Diskurspartikeln’. Solche Arbeiten listen normalerweise typische Anredeformen für eine Region oder einen Beziehungstyp auf, lassen aber dabei den Äußerungskontext völlig unberücksichtigt. Ob allerdings bestimmte Formen wie dt. Alter oder Digger oder sp. hombre oder che tatsächlich als Anredeformen oder aber als Diskurspartikeln (oder Ausrufe) verwendet werden, zeigt sich erst in konkreten Äußerungen.

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Adäquater scheint der aus der Pragmatik stammende Begriff der ‘Anredeformen’, die laut NGLE (2009) «se eligen para dirigirse a alguien en función de la relación social que existe entre el emisor y el receptor» (1250). Das Konzept der ‘Anredeformen’ betont also die sprachliche Umsetzung der sozialen Beziehung zwischen SprecherIn und HörerIn. Anredeformen werden daher als typisches Mittel der Sozialdeixis angesehen, über welche die «social identities of participants or the social relationship between them» kodifiziert werden (Levinson 1989, 89; ebenso Montero Curiel 2011, 48; Camacho Alfaro 2011, 27).11 Wie alle Deiktika erhalten Anredeformen erst im situationalen Kontext ihre Bedeutung und sind ohne diesen nicht zu verstehen. Insofern als der Begriff der ‘Anredeformen’ also nicht nur die soziale Bedeutung, sondern auch die Relevanz des situationalen Kontextes betont, der auch für den Ansatz der vorliegenden Arbeit von entscheidender Bedeutung sein wird (cf. Kapitel 3.1), scheint er der am besten geeignete Terminus zu sein, um sich dem Phänomen ‘Kosenamen’ wissenschaftlich zu nähern. Zu unterscheiden sind bei den Anredeformen die pronominalen und die nominalen Anredeformen. Während sich die pronominale Anredeforschung mit der Anrede mittels Pronomina wie sp. tú, usted, vos etc. befasst, untersucht die nominale Anredeforschung die Nominalsyntagmen, die in Form von Vokativen zur Anrede genutzt werden. Für den Phänomenbereich ‘Kosenamen’ interessiert damit also vornehmlich die nominale Anredeforschung.12 Die systematische Untersuchung von (zunächst pronominalen) Anredeformen setzte mit dem wegweisenden Artikel The pronouns of power and solidarity (1960) von Roger Brown und Albert Gilman ein. Die Autoren postulieren in ihrer Theorie der Anrede zwei Dimensionen, power und solidarity. Wenn das Verhältnis zwischen den SprecherInnen durch power, also ein Machtgefälle, gekennzeichnet ist, erfolgt die Anrede nicht-reziprok: Nach unten wird sp. tú, frz. tu, dt. du etc. gebraucht, nach oben sp. usted, frz. vous, dt. Sie etc. Wenn kein Machtgefälle vorliegt – und dieser Fall ist in den westlich geprägten Kulturen der Gegenwart der Regelfall – wird eine reziproke Anrede, im Spanischen also jeweils tú oder jeweils usted, verwendet. Ob tú oder usted gebraucht wird,

11 Neben der Sozialdeixis gibt es die Personaldeixis, die temporale Deixis, die lokale Deixis und die Diskursdeixis (Levinson 1989, 68–77). 12 In der spanischsprachigen Forschungsliteratur findet sich leider keine konsequente terminologische Differenzierung zwischen pronominalen und nominalen Anredeformen. Oft findet man formas de tratamiento für die pronominalen Anredeformen gegenüber fórmulas de tratamiento für die nominalen Anredeformen, teilweise ist es aber auch umgekehrt. Ebenfalls häufig ist die – wiederum eindeutige – Unterscheidung in formas/fórmulas de tratamiento nominales vs. formas/fórmulas de tratamiento pronominales.

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

hängt von der Dimension der solidarity ab, unter die z. B. der Bekanntschaftsgrad und die Ähnlichkeit zwischen den GesprächspartnerInnen fallen: Herrscht zwischen den GesprächspartnerInnen solidarity, wird tú, bei fehlender solidarity dagegen usted gewählt. Obwohl die auf einer Dichotomie der Formen basierende Theorie von Brown/Gilman (1960) bereits dann an ihre Grenzen stößt, wenn eine Sprache über drei oder mehr Anredepronomen verfügt, wie es z. B. in vielen Varietäten des Spanischen der Fall ist (cf. auch Kluge 2020, 62), ist sie bis heute eine zentrale Grundlage für die Untersuchung von Anredeformen. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Modell von Brown/Gilman (1960) wurden die Dimensionen von power und solidarity allerdings verschiedentlich modifiziert und/oder erweitert. So finden sich etwa in der spanischsprachigen Anredeforschung neben den Dimensionen poder und solidaridad als zugrundeliegende Faktoren für die Wahl der Anredepronomen Begriffspaare wie formalidad, distancia oder respeto vs. informalidad, familiaridad, cercanía, confianza oder intimidad (cf. z. B. Fontanella de Weinberg 1999; Hummel 2010 – aber auch schon Weber de Kurlat 1941; Eguiluz 1962). Ab den 1980er-Jahren wurde die Anrede infolge des Aufkommens der Theorien sprachlicher Höflichkeit zunehmend als Höflichkeitsphänomen gefasst und analysiert. Im Anschluss an die wegweisenden Arbeiten zur sprachlichen Höflichkeit von Brown/Levinson (maßgeblich 1978 und 1987) wurden die Anredepronomen nun meist als typische Verfahren zur Abschwächung von face threatening acts sowie zur Verstärkung von face flattering acts interpretiert (Medina Morales 2010, 35). In (vornehmlich) hispanistischen Arbeiten wird ab den 2000er-Jahren zudem häufig auf die Kategorien autonomía vs. afiliación nach Bravo (vor allem 1999; 2004) rekurriert, die auf einer Revision der Theorie von Brown/Levinson (1978; 1987) basieren und nach Aussage der Autorin weniger ethnozentrististisch geprägt sind als die Brown/Levinson’schen Konzepte des negative face und positive face. Bei autonomía und afiliación handelt es sich Bravo (z. B. 2004, 29–30) zufolge um zwei antagonistische, dabei gleichermaßen grundlegende menschliche Bedürfnisse, deren Wahrung – sowohl für sich selbst als auch für das Gegenüber – im Mittelpunkt der (höflichen) Kommunikation steht. Mit afiliación ist das Bedürfnis gemeint, sich mit der Gruppe zu identifizieren und als Teil der Gruppe wahrgenommen zu werden – mit autonomía das Bedürfnis, sich von der Gruppe abzugrenzen und als anders als die Gruppe wahrgenommen zu werden. Sprachliche Verhaltensweisen – auch Anredeformen – lassen sich demzufolge danach beurteilen, ob sie eher das Bedürfnis nach autonomía oder das Bedürfnis nach afiliación artikulieren. Die Vielzahl unterschiedlicher Zugänge zu den Anredeformen hat inzwischen vor allem zu der Erkenntnis geführt, dass die Wahl der Anredeformen deutlich vielschichtiger ist als ursprünglich angenommen. Sie ergibt sich aus einem komplexen Zusammenspiel sozialer und situationaler Faktoren: Neben sozia-

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

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len Merkmalen wie ‘Alter’, ‘Schicht’ oder ‘Geschlecht’ von SprecherIn und AdressatIn sowie der (vorliegenden oder erzielten) Beziehung zwischen ihnen beeinflussen auch die (konstruierte) Individualität der SprecherInnen und ihre aktuellen kommunikativen Ziele das Anredeverhalten (Medina Morales 2010, 44; Moyna/Kluge/Simon 2020, 4). Bis auf sehr wenige Ausnahmen (z. B. Alba de Diego/Sánchez Lobato 1980) beziehen sich die soeben genannten theoretischen Ansätze ausschließlich auf die pronominale Anrede. Die für die vorliegende Arbeit interessanteren nominalen Anredeformen wurden dagegen bisher – nicht nur im Spanischen – sowohl in Theorie als auch in Empirie weit weniger untersucht (Lebsanft 1990, 153; Castellano Ascencio 2009, 164; Medina Morales 2010, 44; Moyna/Kluge/ Simon 2019, 10). Beinhauer (1932) spricht gar von der «Unmöglichkeit, sie in ein wissenschaftliches System einzufangen» (69). Die interne Struktur der nominalen Anredeformen stellt aufgrund der noch lückenhaften Theoriebildung daher bis heute eine der offenen Fragen der Anredeforschung dar (cf. auch Kluge 2019, 56). In den vorhandenen Publikationen zu nominalen Anredeformen werden meist schlicht die Ansätze zur pronominalen Anrede auf die nominale Anrede übertragen. Wie bei den pronominalen Anredeformen geht die Wahl einer bestimmten nominalen Anredeform demzufolge auf unterschiedlichste soziale und situationale Faktoren zurück (Medina Morales 2010, 44). Da hier jedoch deutlich mehr (im Grunde sogar unbegrenzt) Formen zur Verfügung stehen, können mittels nominaler Anredeformen auch weitaus mehr Bedeutungsnuancen kodiert werden als durch die pronominale Anrede: «The way we address another person may be brief, but it can say volumes about the relationship we have with that person» (Knapp/Vangelisti 2005, 188). Gerade dieses Potential der vielfältigen Nuancierungsmöglichkeiten macht nominale Anredeformen sicherlich auch für die Verwendung beim «zärtlichen Sprechen» so beliebt. Dabei bewegt sich der Phänomenbereich der ‘Kosenamen’ eindeutig am Extrempol der confianza, intimidad bzw. afiliación. Die vorhandenen Untersuchungen zu nominalen Anredeformen in den spanischsprachigen Regionen stellen meist typische Formen für eine bestimmte Region, eine bestimmte soziale Gruppe oder einen bestimmten Beziehungstyp zusammen. Da es sich bei den nominalen Anredeformen um eine offene Klasse handelt, werden sie zudem häufig hinsichtlich ihrer Lexik analysiert. Dabei orientiert man sich oft an dem von Fontanella de Weinberg (1999, 1419) aufgestellten Schema (cf. Tabelle 1). Folgt man für die Einordnung der «zärtlichen Anredeformen» bzw. Kosenamen ebenfalls diesem Schema, ist Folgendes festzustellen: «Zärtliche Anredeformen» werden üblicherweise sowohl aus Personennamen, und zwar in der Regel aus Vornamen, als auch aus Appellativa («términos de tratamiento») gebildet,

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Tabelle 1: Untertypen nominaler Anredeformen nach Fontanella de Weinberg (1999, 1419). Formas nominales términos de tratamiento de parentesco

papá – mamá pa – ma hijo – hija abuelo – abuela nono – nona tío – tía …

nombre personal

sociales generales ocupacionales amistad, cordialidad y afecto Sr. – Sra. don – doña caballero joven niña …

gobernador ministro intendente doctor licenciado profesor …

amigo compañero querido tesoro …

nombre de pila – honoríficos hipocorístico

apellido

Va. Excelencia Su Excelencia Va. Señoría Su Reverencia …

García Gutiérrez Borelli Petersen Rossi Varela …

Juan Gabriel Pablo María Silvia Laura _____ Juancho Gabi Marita Silvita …

und zwar hier vor allem aus Verwandtschaftsbezeichnungen und verschiedenen «términos de amistad, cordialidad y afecto» (cf. auch Alba de Diego/Sánchez Lobato 1980, 102; Molina 1993, 258; Fontanella de Weinberg 1999, 1418–1522; Enajas 2004, s. p.; Gonzálvez 2016, 225–229; Nübling 2017, 100). Insbesondere der Bereich der «términos de amistad, cordialidad y afecto» könnte im Hinblick auf «kosende Anredeformen» sicherlich noch weiter ausdifferenziert werden als von Fontanella de Weinberg (1999, 1419) vorgeschlagen. Als schwerwiegender für die Analyse erweist sich allerdings der Umstand, dass in ihrem Schema zwei Ebenen vermischt werden: Die Arten von Quelllexemen sind nicht klar von ihren Verwendungskontexten getrennt. Während das Modell z. B. grundsätzlich eine Unterscheidung nach den zugrundeliegenden Formen (z. B. Namen, Berufsbezeichnungen) vornimmt, verweisen auf der anderen Seite einige Kategorien auf Verwendungskontexte bzw. Funktionen (z. B. «sociales», «de amistad, cordialidad y afecto») (cf. auch Kluge 2019, 56). Angesichts dieser Vermischung ist das Schema lediglich eingeschränkt für die Kategorisierung nominaler Anredeformen geeignet. Noch dringender als ein Schema zur Kategorisierung auf der formalen Ebene wird dabei – wie bereits oben angedeutet – ein Modell zur Kategorisierung der nominalen Anredeformen nach ihren kommunikativen Funktionen bzw. Verwendungskontexten benötigt (cf. auch Kluge 2019, 56).

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

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Der Untergruppe der «zärtlichen» nominalen Anredeformen ist in der hispanistischen Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit zuteilgeworden. In der Regel erfolgt innerhalb der allgemeinen Studien zu nominalen Anredeformen in einer bestimmten Region lediglich eine Unterteilung dieser nach bestimmten Beziehungstypen. Auf diese Weise erhält man Informationen zur Anrede in Beziehungstypen, die mit dem «zärtlichen Sprechen» assoziiert werden können, so z. B. innerhalb der Familie oder der Paarbeziehung (cf. z. B. Toscano Mateus 1953 für Ecuador; Flórez 1954 für Kolumbien; Eguiluz 1962 für Chile; Rosa di Rosa 1992 für Argentinien; Taquechel 2002 für Kuba; Molina 2002 für Spanien; Rezzi 2003 für Puerto Rico; Camacho Alfaro 2011 für Costa Rica). Spezifisch auf bestimmte Beziehungstypen ausgerichtete Untersuchungen sind z. B. Callejas (1983) zur Anrede innerhalb der Familie in Kuba, Rigatuso (1993) zur Anrede unter Liebespaaren in Argentinien, Enajas (2004) zur Anrede unter Liebespaaren in Spanien sowie Castellano Ascencio (2009) zur Anrede unter Liebespaaren in Kolumbien. Untersuchungen, die dezidiert «fórmulas de tratamiento cariñosas» o. Ä. untersuchen, gibt es dagegen nicht. Die Angaben in den älteren Arbeiten basieren vor allem auf Introspektion oder literarischen Belegen, die neueren arbeiten meist mit Fragebögen. Den Befragten werden dabei in der Regel die verschiedenen Beziehungstypen (z. B. marido, hermana) vorgegeben und dies mit der Bitte verbunden, die Anredeformen zu nennen, die man gegenüber der entsprechenden Person benutzt. Aufgrund dieses Vorgehens sind die bisherigen Beschreibungen nur bedingt hilfreich für die Untersuchung «zärtlichen Sprechens» bzw. «zärtlicher Anredeformen», die in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird. So zeigt sich in den Untersuchungen bereits, dass es innerhalb der einzelnen Beziehungstypen nicht nur eine, sondern teils sehr viele unterschiedliche Anredeformen gibt, von denen einige sicherlich eher als «zärtlich», andere sicherlich als weniger «zärtlich» zu beurteilen sind. Solche kontextbedingten Differenzierungen werden allerdings nur in Ansätzen gemacht. So finden sich in den älteren Arbeiten bei einzelnen Formen zum Teil Angaben zu ihren Verwendungskontexten (z. B. «cariñoso», «enojo», «humorístico»). In den neueren Arbeiten sind zumindest in den Fragebögen von Enajas (2004) und Camacho Alfaro (2011) neben Angaben zum Beziehungstyp auch grobe Angaben zur Gesprächssituation vorhanden, so bei Enajas (2004) Informationen zu weiteren anwesenden Personen und bei Camacho Alfaro (2011) Informationen zum Thema des Gesprächs. In ihrer Herangehensweise an nominale Anredeformen unterscheiden sich die bestehenden Untersuchungen allerdings dennoch von der Perspektive der vorliegenden Arbeit: Während in den bisherigen Untersuchungen Anredeformen in bestimmten Beziehungstypen untersucht und diese ggf. weiter nach kommunikativen Wirkungen oder Verwendungssituationen differenziert werden, liegt

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der Fokus der vorliegenden Arbeit auf «zärtlichen Anredeformen», die vielmehr auf Basis des Kontextes und nicht (nur) auf Basis des Beziehungstyps definiert werden müssen (cf. Kapitel 3.1). So hängt die Wahl einer «zärtlichen Anredeform» nicht nur von der Art der Beziehung, sondern entscheidend auch von der jeweiligen Situation (z. B. weitere Anwesende, Ort, Thema, kommunikatives Ziel etc.) ab. Insofern sind die existierenden Beschreibungen zu Anredeformen in bestimmten Beziehungstypen nur bedingt für die vorliegende Untersuchung nutzbar, können allerdings durchaus als Vergleichsmaterial dienen.

2.2.2 Hypokoristika Unter dem Terminus ‘Hypokoristikon’ (von altgr. υποκοριστικών ‘Verkleinerungsform’) wird – in den meisten Fällen – eine geschlossene Klasse formaler Vornamensmodifikationen mit «kosender» Funktion verstanden, im Spanischen etwa Nando statt Fernando, Quique statt Enrique oder Meche statt Mercedes. Der Terminus ist in den meisten alt- und neusprachlichen Philologien verbreitet und es liegen bereits zu vielen Sprachen Untersuchungen vor.13 Besonders zahlreich sind Untersuchungen zum Arabischen, zum Japanischen, zu den slawischen Sprachen sowie zum Spanischen, da hypokoristische Bildungen von Vornamen hier offenbar besonders verbreitet und vielfältig sind. Der Begriff ‘Hypokoristikon’ lässt allerdings bisher eine einheitliche Definition vermissen. Zur Illustration dieses Befunds sind im Folgenden die Definitionen des Begriffs aus den zentralen Referenzwörterbüchern der (hispanistischen) Sprachwissenschaft, nämlich aus den linguistischen Wörterbüchern von Lázaro Carreter (1962), Conrad (1988) und Bußmann (1990), aus dem namenkundlichen Spezialwörterbuch von Witkowsi (1963) und aus dem Wörterbuch sowie der Grammatik der Real Academia Española (NGLE 2009 und DRAE 2019) aufgeführt:

13 So zum Beispiel zum Arabischen (z. B. Zawaydeh/Davis 1999; Prunet/Idrissi 2014), Baskischen (z. B. Salaberri Zaratiegi 2003), Bengalischen (z. B. Lowe 2004), Chamorro (z. B. Robertson 2004), Chinesischen (z. B. Wang 2004), Deutschen (z. B. Grüter 2003; Spillner 2012), Englischen (z. B. Simpson 2008), Französischen (z. B. Nelson 1998), Hausa (z. B. Newman/ Ahmad 1992), Hebräischen (z. B. Bat-El 2005), Japanischen (z. B. Imanishi 2013), Koreanischen (z. B. Shin 1997), Portugiesischen (z. B. Comrie 1989), Russischen (z. B. Soglasnova 2003), Spanischen (cf. Angaben im Kapitel), Tschechischen (z. B. Kaláb 2010), verschiedenen Kreolsprachen (z. B. Strandquist 2004) und weiteren.

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

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1. «Se llama así a los nombres propios de persona […] que se usan en la lengua familiar como designaciones afectivas. Muchos se crean por reducción silábica. El procedimiento de formación más frecuente es la apócope […], pero a veces se forman por aféresis […]. La apócope y la aféresis se combinan en algún caso […]. Otras veces, el hipocorístico sufre simplificaciones o alteraciones mayores» (NGLE 2009, 845). 2. «Dicho de un nombre: Que, en forma diminutiva, abreviada o infantil, se usa como designación cariñosa, familiar o eufemística; p. ej., Pepe, Charo» (DRAE 2019, s. p.). 3. «Expressive Namenformen mit kosender Bedeutung, hauptsächlich von Personennamen gebildet. […] Oft liegen den Kosenamen Kurzformen zugrunde. Die Kosenamen werden mittels Diminutivsuffixen gebildet, sind also deminutivische Namen» (Witkowski 1964, 42). 4. «Vocablo usado con intención afectuosa que a veces ha sido sometido a cierta deformación. Con este término se alude, especialmente, a las modificaciones que sufren los nombres propios en la lengua familiar: Merche por Mercedes, Concha por Concepción» (Lázaro Carreter 1962, 223). 5. «Ausdruck mit verkleinernder oder zärtlicher Bedeutungskomponente, dessen Bildung durch Suffixe (vgl. Schätzchen), Kurzformen (Berti für Berthold) oder Silbenverdoppelung (frz. fifille, chou-chou) u. a. erfolgen kann» (Bußmann 1990, 317). 6. «verkleinernder, liebkosender oder beschönigender Ausdruck» (Conrad 1988, 94).

Hinsichtlich der Funktion der Hypokoristika sind sich die Definitionen weitgehend einig: Sie wird mit «afectiva» (1), «cariñosa» (2), «afectuosa» (4), «kosend» (3), «liebkosend» (6) und «zärtlich» (5) beschrieben. In einigen Definitionen kommen zusätzliche mögliche Bedeutungen hinzu wie «familiar» (2), «eufemística» (2) bzw. «beschönigend» (6) und «verkleinernd» (5). Was die Form der Hypokoristika angeht, zeigen sich dagegen Unterschiede zwischen den Definitionen: Was die Wortart betrifft, können drei Definitionen (1, 2, 3) zufolge ausschließlich Anthroponyme die Ausgangsform für Hypokoristika bilden. In den übrigen drei Definitionen (4, 5, 6) findet sich dagegen grundsätzlich keine Beschränkung auf eine bestimmte Wortart. Auch hinsichtlich der formalen Modifikationen, welche die Ausgangsformen bei ihrem Übergang zu Hypokoristika erfahren, zeigen sich die Definitionen uneinheitlich: Während zwei Definitionen (4, 6) die Art der Modifikation überhaupt nicht weiter spezifizieren, finden sich in den anderen vier Definitionen als mögliche Bildungsprozesse vier Mal die Kürzung (1, 2, 3, 5), drei Mal die Diminuierung (2, 3, 5), einmal die Reduplikation (5) und einmal die kindliche Bildung14 (3). Auffallend ist weiterhin, dass nur in vier Definitionen (1, 2, 5, 6) überhaupt feste

14 Damit sind phonetische Modifikationen von Vornamen gemeint, die der Sprachentwicklung von Kleinkindern nachempfunden sind. So werden z. B. Laute, die ein Kind erst spät erlernt,

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Grenzen gezogen werden. Die anderen beiden bewegen sich dagegen mit Formulierungen wie «hauptsächlich» und «oft» (3) sowie «a veces» und «especialmente» (4) eher im Bereich des Vagen. Insgesamt zeigt sich also in den Definitionen zumindest hinsichtlich der Form eine recht heterogene Auffassung des Begriffs ‘Hypokoristikon’. Diese Uneinheitlichkeit setzt sich auch in wissenschaftlichen Untersuchungen zu Hypokoristika fort, was auch Kremer (1992, 458), Mori (1999, 863) und Hafner (2004, 29) bemängeln. So variiert auch hier insbesondere das Spektrum der einbezogenen Modifikationstypen: Einige Arbeiten beziehen nur kindliche Bildungen15 ein (z. B. Boyd-Bowman 1955; Morales Pettorino 1976), andere darüber hinaus durch Apokope, Aphärese oder Synkope entstandene Namenskürzungen (z. B. Wijk 1964; Costenla Umaña 1982; Urawa 1985; Ortega Ojeda 1994; Báez Pinal 2013), wieder andere zudem die durch verschiedenste Suffixe entstandenen Diminutivbildungen (z. B. Stratmann 1935; Buesa Oliver 1988; Homge 1989; Kremer 1992; Hafner 2004; Gutiérrez Santana 2009; cf. auch Kapitel 2.2.3). Wieder andere Untersuchungen verwenden ‘Hypokoristikon’ synonym zu ‘Kosename’ und behandeln darunter auch Anredeformen wie Hase, Großer etc. (z. B. Naumann 1996, 1757; Spillner 2011, 263; Nübling 2017, 99). Keine vollständige Klarheit herrscht zudem hinsichtlich der Frage, ob es sich bei Hypokoristika (auch) um spontane Bildungen oder um eine geschlossene Klasse traditioneller Formen handelt. Viele Studien vertreten explizit oder – häufiger – implizit letztere Auffassung, der zufolge Hypokoristika ein historisch gewachsenes, allgemein bekanntes und je nach Region etwas unterschiedliches Inventar an Formen darstellen. Zu schließen ist darauf meist anhand des Forschungsdesigns, wenn etwa über eine Befragung oder durch Introspektion alle in einer Region bekannten Hypokoristika erfasst und dann hinsichtlich ihrer Bildungsprozesse analysiert werden (z. B. Stratmann 1935 zu Spanien; BoydBowman 1955 und Báez Pinal 2013 zu Mexiko; Wijk 1964 zu Honduras; Costenla Umaña 1982 zu Costa Rica; Urawa 1985 zu Kolumbien; Gutiérrez Santana 2009 und 2016 zu Chile). Einige Studien sind – ebenfalls meist implizit – der Auffas-

weggelassen oder durch früher erlernte ersetzt (cf. hierzu z. B. Lenz 1920, 207; Boyd-Bowman 1955, 345, 348; Costenla Umaña 1982, 8–10; Buesa Oliver 1988, 1618; Johnson/Reimers 2010, 1–3 sowie Kapitel 4.3.1.1). Offenbar wird also bei der Bildung vieler Hypokoristika die Kleinkindersprache imitiert: «Estas deformaciones se deben en gran parte al rudimentario sistema fonemático de los niños que aprenden a hablar, y a los esfuerzos conscientes que hacen los adultos […] de imitar ese sistema» (Boyd-Bowman 1955, 337–338; cf. auch Costenla Umaña 1982, 9). Definition 1, die von «simplificaciones o alteraciones mayores» spricht, bezieht sich wohl hiermit ebenfalls auf kindliche Bildungen. 15 Cf. FN 14.

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sung, dass es sich bei Hypokoristika nicht um eine geschlossene Klasse handelt, was unter anderem dann deutlich wird, wenn sie die produktive Bildung von Hypokoristika durch verschiedenste Diminutivsuffixe anführen (z. B. Buesa Oliver 1988; Plénat 2003). Häufig zeigt sich aber auch in Untersuchungen, die von einem festen Inventar an Hypokoristika ausgehen, dass die Identifikation dieses Formeninventars keineswegs leicht und eindeutig zu leisten ist. Vielmehr scheinen die Grenzen zwischen den fixierten und spontanen Bildungen fließend zu sein. In der Befragung von Gutiérrez Santana (2009) zu den Hypokoristika in Chile fällt z. B. auf, dass zu allen der von ihr präsentierten Vornamen ein oder zwei Hypokoristika von der Mehrzahl der Befragten genannt werden, die offenbar die gängigsten Formen sind. Daneben finden sich aber (fast) immer noch mehrere weitere Varianten, die mit großem Abstand seltener, aber dennoch von mehreren Personen genannt werden. Gutiérrez Santana (2009) geht trotzdem von einer geschlossenen Klasse aus und hält die seltener genannten Formen für ein «resultado de confusión o error por parte de los informantes» (109). Tatsächlich scheinen ‘Traditionalität’ und ‘Spontaneität’ bei den Namenskurzformen statt zweier dichotomer Kategorien jedoch vielmehr die beiden Endpunkte eines Kontinuums darzustellen, das von sehr traditionellen Formen bis hin zu sehr kreativen Formen reicht. Dementsprechend schwer ist es denn auch, eine Grenze zwischen traditionellen Hypokoristika und spontanen Bildungen zu ziehen – sowohl für die SprecherInnen als auch für WissenschaftlerInnen. Anmerkungen zu funktionalen Gesichtspunkten der Hypokoristika, welche über ihre konkrete Verwendung informierten, belaufen sich in den bisherigen Untersuchungen lediglich auf eine sehr allgemeine Ebene. So findet sich in einigen Arbeiten eine Verortung der Hypokoristika in einem – nicht weiter definierten – ‘familiären’ oder ‘informellen Register’, z. B. bei Morales Pettorino (1976, 97), Costenla Umaña (1982, 15), Morera Pérez (1991, 106) und Gutiérrez Santana (2009, 31). Der Großteil der Arbeiten beschränkt sich aber darauf, die Funktion der Hypokoristika mittels eines Adjektivs wie «kosend» oder «zärtlich» bzw. «afectivo», «cariñoso», oder «afectuoso» zu umschreiben, dessen weiterer Erläuterung es offenbar nicht bedarf (cf. z. B. Stratmann 1935; BoydBowman 1955; Rabanales 1958; Wijk 1964; Urawa 1985; Buesa Oliver 1988; Homge 1989; Morera Pérez 1991; Ortega Ojeda 1994; Mori 1999; Hafner 2004; Gutiérrez Santana 2009; 2016; Antonyuk/Kárpina 2017). Hafner (2004) behauptet gar, Hypokoristika seien «im Grunde nur unter formalen Gesichtspunkten […] zu diskutieren. Ihre Funktion ist eher stereotyp: Sympathie- bzw. Zuneigungsbekundung» (29). Hierin offenbart sich ein grundlegendes Problem der bisherigen Behandlung von Hypokoristika: Es wird offenbar davon ausgegangen, dass sämtliche Hypokoristika (als anhand formaler Kriterien abgegrenzte Vornamensmodifikationen) eine gleiche, gemeinsame Funktion ausüben, näm-

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lich diejenige, «zärtlich», «cariñoso» o. Ä. zu wirken. Von einer solchen Eins-zuEins-Übereinstimmung von Form und Funktion kann jedoch nicht ausgegangen werden: Nicht alle Bildungen, die der Form nach Hypokoristika sind, müssen zwingend auch eine «kosende» bzw. «zärtliche» Funktion haben (welche zudem erst einmal abzugrenzen wäre, cf. Kapitel 3). Ob sie es tun, hängt von der Verwendungssituation ab. So kann ein und dasselbe Hypokoristikon in einer bestimmten Sprechsituation als «zärtlich», in einer anderen aber genauso als neutral, abschätzig, schwülstig, ironisch o. Ä. aufgefasst werden. Diese grundlegende Situationsabhängigkeit der Bedeutung wird jedoch von keiner der bisherigen Arbeiten zu Hypokoristika angesprochen. Ob und inwieweit Hypokoristika daher tatsächlich beim «zärtlichen Sprechen» genutzt werden, ist auf Basis der bisherigen Forschung nicht eindeutig zu sagen, da sie noch nicht unter der Perspektive des Gebrauchs betrachtet wurden. Erst mittels des in dieser Arbeit angestrebten Zugangs zum «zärtlichen Sprechen» als Modalität werden entsprechende Erkenntnisse möglich sein.

2.2.3 Diminutive – evaluative Suffixe Die Verbindung von Diminutiven zum «zärtlichen Sprechen» scheint – insbesondere im Spanischen – so zentral und augenfällig zu sein, dass auch LaiInnen meist zuallererst «los diminutivos» nennen, wenn das Thema «zärtliches Sprechen» zur Sprache kommt. In morphologischer Hinsicht sind Diminutivbildungen Wortbildungsprodukte, die durch Suffigierung entstehen, d. h. durch die Anfügung eines Diminutivsuffixes wie sp. -ito/a oder -ico/a an eine Derivationsbasis. Die Derivationsbasis bildet in der Regel ein Substantiv oder ein (Qualitäts-)Adjektiv. Insbesondere in Lateinamerika ist die Diminuierung aber auch bei Adverbien, Gerundialformen, Numeralia, Interjektionen sowie Indefinit-, Possessiv- und Demonstrativpronomina zu beobachten (Welte 1985, 175; Bußmann 1990, 183; NGLE 2009, 632–635). Zu den charakteristischen Zügen des Spanischen gehört einerseits die außerordentliche Häufigkeit, mit der Diminutive vielen Beschreibungen zufolge verwendet werden, sowie andererseits die enorme Vielzahl unterschiedlicher Suffixe (Alonso 1935, 171; Hasselrot 1957, 316–317; Wandruszka 1967, 167; Lang 1990, 91; Rainer 1993, 198; Bruyne 2002, 595–596; Reynoso Noverón 2005, 79).16 In regionaler Hinsicht ist die Gruppe der spanischen Diminutivsuffixe inhomogen. Das bekannteste – da

16 Eine ebenfalls sehr produktive Nutzung sowie einen großen Formenreichtum weisen z. B. die baltischen Sprachen, das Griechische, die keltischen Sprachen, das Niederländische, ei-

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in den meisten Regionen am häufigsten genutzte – Suffix ist -ito/a (Hasselrot 1957, 264; Gooch 1970, 26; Ettinger 1974, 260; 1980, 100; Lang 1990, 103; Rainer 1993, 198; Alvar Ezquerra 1995, 57–58; NGLE 2009, 630). Zusätzlich zur einfachen Suffigierung mittels eines Diminutivsuffixes sind auch Kombinationen verschiedener Suffixe sowie die Iteration ein und desselben Suffixes möglich. Beide Verfahren werden ikonisch als Intensivierung interpretiert (Lang 1990, 93; Rainer 1993, 202; Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 138; Bruyne 2002, 602; NGLE 2009, 628–629). Mit der Diminuierung geht kein Wortartenwechsel, sondern eine Modifikation der Bedeutung einher. Worin diese Bedeutungsmodifikation genau besteht, ist insbesondere für das Spanische viel diskutiert worden.17 Eine häufig vertretene Auffassung besteht darin, dass die Diminution auf der Ebene des Sprachsystems (lengua) eine Basisbedeutung der notionellen Verkleinerung bewirkt, die im konkreten Gebrauch (habla) um affektive Bedeutungen erweitert wird oder sogar ganz durch diese ersetzt werden kann. Diese Position wird z. B. von Hasselrot (1957), González Ollé (1962), Fernández Ramírez (1962), Coseriu (1965), Fleischer (1969), Zuluaga Ospina (1970), Ettinger (1974; 1980) und Alvar Ezquerra (1995) vertreten. Sie stellt die traditionelle Auffassung dar und wurde – wenngleich nicht in der Saussure’schen Terminologie von lenguaje, lengua und habla – bereits in der Antike formuliert.18 Bereits mit Amado Alonso (1930 und besonders 1935) hielt jedoch eine Gegenposition in die Forschung Einzug, die besonders nachhaltig auf die spanische Diminutionsforschung gewirkt hat: Alonsos Auffassung zufolge liegt die Basisbedeutung der Diminution nicht in der Verkleinerung, sondern in der affektiven Komponente, also im Ausdruck der subjektiven emotionalen Haltung der SprecherInnen zum suffigierten Objekt (nach Alonso z. B. Rabanales 1958; Fontanella de Weinberg 1962; Montes Giraldo 1972). Eine vermittelnde Sichtweise ist diejenige, dass sowohl die notionell verkleinernde als auch die affektive Bedeutung im Sprachsystem angelegt sind, wobei auf der Ebene der habla sowohl nur die affektive als auch nur die

nige indigene Sprachen Nordamerikas, das Italienische, das Portugiesische, die slawischen Sprachen, das Tigré und das Zulu auf. Dagegen stehen z. B. das Albanische, viele amerindische Sprachen, das Deutsche, das Englische, das Französische, die kaukasischen Sprachen, das Sardische sowie die skandinavischen Sprachen, die über keinen entsprechenden Formenreichtum verfügen und die Funktion eher analytisch durch Adjektive ausdrücken (cf. z. B. Hasselrot 1957, 317–318; Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 84–115). 17 Eine in quantitativer und qualitativer Hinsicht vergleichbare Diskussion liegt aber zum Beispiel auch zum Russischen vor, cf. z. B. die Zusammenfassung bei Schiller (2007, 16–66). 18 Cf. z. B. die spätantike grammatische Schrift Ars Laureshamensis: «Diminutiuum est, quod diminutionem primitiui sui absolute demonstrat […]. Solent autem […] diminutiua uel necessariae significationis causa proferri […] uel urbanitatis […] uel adulationis et maxime puerorum, ut Catulaster Antoniaster Patriciolus Sergiolus» (II, 373, 14, zitiert nach Löfstedt 1977, 14–15).

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notionelle, aber auch eine Mischung aus beiden Bedeutungen realisiert werden kann (z. B. Monge 1965; Lázaro Mora 1981; Rainer 1993; Náñez Fernández 1997). Hummel (1997) entwickelt ein allgemeineres Modell: Auf der Ebene des Sprachsystems sei für die Diminutive lediglich ein «realce de la palabra» (195) und damit eine reine Hinweis- bzw. Signalfunktion anzusetzen. Die AdressatInnen interpretierten diesen «realce» dann entsprechend den kontextuellen Bedingungen entweder quantitativ oder (häufiger) qualitativ. Weitere Ansätze zu einer stärker pragmalinguistischen Herangehensweise an Diminutive liefern Faitelson-Weiser (1981) und Volek (1987). Sie nehmen erstmals die grundlegende Relevanz der SprecherInnenintention für die Bedeutung der Diminutive im konkreten Diskurs als Ausgangspunkt. Ausgebaut wurde dieser Ansatz vor allem durch Dressler/Merlini Barbaresi (1994) im Rahmen der von ihnen postulierten und auf über 600 Seiten ausgearbeiteten Morphopragmatik. Verfolgt wurde der Ansatz nach ihnen für das Spanische unter anderem von Tirapu (2000), Cantero (2001; 2006), Briz (2001), Reynoso Noverón (2005) und González-Espresati García-Medall (2015). Gleich welchem theoretischen Modell man folgt, steht fest, dass die Diminuierung (im Spanischen, aber auch in weiteren Sprachen) als eines der wenigen morphologischen Verfahren dazu genutzt werden kann, eine subjektiv-affektive Bewertung zum Ausdruck zu bringen. Ob es sich dabei um eine meliorative oder pejorative (oder gar keine) Bewertung handelt, entscheidet jedoch erst der konkrete Äußerungskontext. Die Bewertung erstreckt sich in den meisten Fällen nicht auf ein einzelnes Wort im Satz, sondern auf die gesamte Äußerung: «Le suffixe ne diminue pas le mot auquel il est ajouté mais transpose plutôt toute la phrase dans le registre affectif» (Hasselrot 1957, 233; cf. auch Alonso 1935, 168–169; Gooch 1970, 16; Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 35, 87, 145–146; Hummel 1997, 206 sowie bereits Spitzer 1921, 201–202 mit seinem Begriff ‘Satzdiminutiv’ und der etwas poetischeren Formulierung «Die Suffixe wirken wie Vorzeichen in der Musik, sie bestimmen die Tonart der menschlichen Rede»). Zur Funktion und den Verwendungskontexten von Diminutiven liegt (nicht nur) für das Spanische bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungen vor. Insbesondere Dressler/Merlini Barbaresi (1994) haben versucht, diese Erkenntnisse zu einer allgemeinen Theorie der Diminutivnutzung zu synthetisieren und zu abstrahieren. Als zentrale Voraussetzungen für die Nutzung von Diminutiven identifizieren sie a) einen gewissen Bekanntschaftsgrad zwischen den GesprächspartnerInnen (Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 148; cf. auch Hummel 1997, 196) sowie b) eine «nicht-ernste» («non-serious») Gesprächssituation (Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 144). Diese Kontextbedingungen schränken den Gebrauch von Diminutiven auf solche Sprechsituationen ein, die diese Voraussetzungen erfüllen. Dementsprechend kommen Diminutive zum einen besonders

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häufig im ‘familiären’, ‘umgangssprachlichen’ bzw. ‘informellen’ Register vor (Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 213; cf. auch Zuluaga Ospina 1970, 47; Montes Giraldo 1972, 87; Hummel 1997, 196; Moreno Nilo 2012, 2 u. v. m.; zur Abgrenzung der Termini cf. Kapitel 3.2.1.2), zum anderen auch speziell in der Sprache gegenüber Kindern, Haustieren oder LiebespartnerInnen (Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 147–152; cf. auch Fernández Ramírez 1962, 188; Bruyne 2002, 606; NGLE 2009, 656 u. v. m.). Insofern als Diminutivbildungen offenbar auch beim «zärtlichen Sprechen» sehr häufig vorkommen, scheinen mit dem ‘gewissen Bekanntschaftsgrad’ und der ‘«nicht-ernsten» Situation’ bereits Parameter angesprochen zu sein, die auch für das «zärtliche Sprechen» wichtig sind. Unklar ist allerdings bislang, ob und inwieweit sich das «zärtliche Sprechen» mit dem ‘informellen Register’ oder dem Sprechen innerhalb bestimmter Beziehungstypen deckt oder inwieweit es sich von diesen abgrenzen lässt. Erst auf dieser Basis könnte ermittelt werden, ob Diminutivbildungen beim «zärtlichen Sprechen» z. B. häufiger oder seltener auftreten als beim ‘informellen Sprechen’ (cf. hierzu Kapitel 3.1 und 3.2). Zur Gruppe der Suffixe, die zum Ausdruck einer subjektiven Bewertung dienen, zählen neben den Diminutivsuffixen noch zwei weitere Suffixgruppen, nämlich die Pejorativ- und die Augmentativsuffixe. Den Pejorativa wird eine abwertende, den Augmentativa eine vergrößernde (und dadurch je nach Fall oft auch eine pejorative oder meliorative) Funktion zugeschrieben (z. B. Lázaro Carreter 1962, 67, 322; Lang 1990, 109). Einige AutorInnen nehmen darüber hinaus eine vierte Gruppe der hypokoristischen Suffixe an, die speziell der Bildung von Hypokoristika (cf. Kapitel 2.2.2) vorbehalten sind (z. B. Rainer 1993, 198–199; Náñez Fernández 1997, 180). Das Hyperonym für diese Suffixgruppen bildet der Begriff ‘evaluative Suffixe’ (oder auch ‘apreziative Suffixe’). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll nur noch dieser breitere Begriff ‘evaluative Suffixe’ Gebrauch finden und auf eine Unterscheidung in die traditionellen Untergruppen der Diminutive, Pejorative und Augmentative (sowie ggf. der hypokoristischen Suffixe) verzichtet werden. Damit unterscheidet sich die Begriffswahl der vorliegenden Arbeit vom Großteil der bisherigen Publikationen, welche sich bei der Beschäftigung mit der «zärtlichen» Wirkung von Suffixen in der Regel lediglich auf die Diminutivsuffixe beziehen. Die Entscheidung für eine Beschränkung auf den breiteren Terminus ‘evaluative Suffixe’ liegt vor allem darin begründet, dass die Grenzen zwischen Pejorativ-, Diminutiv- und Augmentativsuffixen fließend sind. Das liegt vor allem daran, dass die Suffixe polysem sind und erst kontextgebunden eine spezifische Bedeutungsnuance entfalten (Wandruszka 1967, 167; Lang 1990, 92–93; Rainer 1993, 198; Hummel 1997, 199; NGLE 2009, 627). So ist zu erwarten und wurde zum Teil bereits gezeigt, dass Suffixe aller traditionell abgegrenzten Gruppen in «zärtlicher» Funktion gebraucht werden können, so neben -ito/a z. B. auch -ucho/a, -uco/a, -ón/a

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

und weitere, die traditionell den Pejorativa und Augmentativa zugerechnet werden (cf. z. B. Bajo Pérez 1997, 38). Die Beschränkung auf eine Untergruppe und letztlich auch die Einteilung in Untergruppen selbst stoßen daher schnell an ihre Grenzen: «To attempt to pigeon-hole them in any rigid and exclusive fashion leads inevitably to over-simplification and to the danger of error. […] It is essential to bear in mind constantly that the context and particular circumstances of each case must be the final arbiter» (Gooch 1970, 5; ähnlich auch Alonso 1935, 120; Rabanales 1958, 245; Ettinger 1974, 103; Bruyne 2002, 596–597; Moreno Nilo 2012, 6). Der traditionellen Unterteilung der evaluativen Suffixe in Untergruppen liegt damit – ähnlich wie den Hypokoristika (cf. Kapitel 2.2.2) – eine unglückliche Form-Funktion-Gleichsetzung zugrunde, die in dieser Arbeit weiterhin vermieden werden soll.

2.2.4 Privatcode – idiosynkratische Kommunikation Der bereits in Kapitel 2.1 erwähnte Schweizer Linguist Ernst Leisi (1908–2001) hat sich in Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung schon früh, nämlich im Jahr 1978, mit einem Aspekt des «zärtlichen Sprechens» auseinandergesetzt: dem Sprachgebrauch von Liebespaaren. Leisi (1978) führt für die spezifische Kommunikation in Paarbeziehungen den Begriff ‘Privatcode’ ein. Dabei handelt es sich ihm zufolge um Wörter oder Sätze, die im Kontext der Paarbeziehung mit einer neuen Bedeutung versehen werden, welche nur den BeziehungsteilnehmerInnen bekannt ist. Es könne sich dabei sowohl um Bedeutungsveränderungen existierender Wörter als auch um Neologismen handeln (Leisi 1978, 8). Den wichtigsten und größten Teil des Privatcodes machen Leisi (1978, 19) zufolge «neue Namen» aus, die inhaltlich den in Kapitel 2.2.1 besprochenen Kosenamen bzw. «zärtlichen» Anredeformen entsprechen. Besonders häufig seien hierbei Bildungen über Metaphern und Diminuierungen. Das Geben neuer Namen ist laut Leisi (1978, 25) deshalb so wichtig, weil damit ein rite de passage nach Gennep (1909), ein Übergang in den Bereich der Paarwelt, markiert wird. Insgesamt beschränke sich der Großteil des Privatcodes auf die lexikalische Ebene, seltener könne er aber auch morphologische oder syntaktische Modifikationen betreffen (Leisi 1978, 7). Obwohl Leisis Werk im Jahr 2016 bereits in der fünften Auflage erschien und häufig auf ihn verwiesen wird, scheint der Begriff des ‘Privatcode’ in der gegenwärtigen Forschungsliteratur kaum etabliert zu sein. In der angloamerikanischen Forschungstradition sind für dasselbe Phänomen etwas später die Begriffe idiomatic communication (z. B. Bell/BuerkelRothfuss/Gore 1987; Bell/Healey 1992; Morelock 2005), personal idioms (z. B. Hop-

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

29

per/Knapp/Scott 1981; Knapp/Vangelisti 2005) und idiosyncratic communication (z. B. Bruess/Pearson 1993; Duck/Usera 2014) aufgekommen. Wie Leisi geht auch die angloamerikanische Forschungstradition grundsätzlich von zwei möglichen Bildungsverfahren aus. So würden zum einen bereits existierende Wörter einer Bedeutungsveränderung unterzogen, zum anderen Neologismen gebildet. Die häufigste Form idiosynkratischer Kommunikation sind auch der angloamerikanischen Forschung zufolge nicknames, mit denen die AdressatInnen versehen werden. Darüber hinaus kommen personal idioms vor allem in den Wortfeldern ‘Sexualität’ und ‘Emotionen’ sowie in den Sprechakten ‘Begrüßung’, ‘Verabschiedung’, ‘Aufforderung’ und ‘Neckerei’ vor. Ebenfalls häufig seien besondere Bezeichnungen für die eigene Beziehung sowie für Personen außerhalb der Beziehung. Keine Seltenheit seien aber auch vollkommen «nonsensical terms», also Ausdrücke, die nicht einmal für die BeziehungsteilnehmerInnen eine denotative Bedeutung haben, sondern letztlich im reinen gemeinsamen Spiel mit der Sprache bestehen (Hopper/Knapp/Scott 1981, 25–26; Morelock 2005, 3–4, 69–70; Duck/Usera 2014, 196; cf. auch Kapitel 3.1.1.3). Während Leisi (1978, 7) sich bei der Spannbreite potentieller Ausdrucksmöglichkeiten im Privatcode noch auf den verbalen Bereich beschränkt, d. h. auf lexikalische, morphologische und syntaktische Modifikationen, weiten seine angloamerikanischen NachfolgerInnen diese noch aus. So könne idiosynkratische Kommunikation neben der verbalen ebenso gut auch die para- sowie die nonverbale Ebene betreffen (Hopper/Knapp/Scott 1981, 28; Bell/Buerkel-Rothfuss/Gore 1987, 48; Morelock 2005, 2, 17, 70). Ein Privatcode bzw. eine idiosynkratische Kommunikation erlaubt es den BeziehungsteilnehmerInnen, auf eine Weise zu kommunizieren, die für Außenstehende nicht verständlich ist. Doch woraus erwächst das Bedürfnis nach einer solchen geheimen, nur den BeziehungsteilnehmerInnen bekannten Sprachform? Leisi (1978, 36) zufolge besteht die Funktion des Privatcodes vor allem darin, die Zugehörigkeit zur Gruppe zu betonen und Abgrenzung nach außen zu schaffen.19 Ähnlich argumentieren die AutorInnen, die das Phänomen als ‘idiosynkratische Kommunikation’ bezeichnen: Formen idiosynkratischer Kommunikation «may regulate the boundary between a couple and its external social world» (Bell/ Buerkel-Rothfuss/Gore 1987, 50; ähnlich auch Morelock 2005, 3). Sie schafft dabei jedoch nicht nur Abgrenzung nach außen, sondern bindet die KommunikationsteilnehmerInnen auch nach innen enger aneinander, denn in der Nutzung

19 Leisi (1978, 19) verzichtet daher in seinen Ausführungen auch auf den allgemeinsprachlich verbreiteteren Begriff ‘Kosenamen’ und spricht stattdessen von ‘neuen Namen’, da ihre Funktion über die des Kosens (was genau darunter zu verstehen ist, erläutert er nicht) weit hinausgehe.

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

ihrer «Geheimsprache» spüren die SprecherInnen eine connivence – eine stillschweigende Übereinkunft darüber, gemeinsam «unter einer Decke zu stecken» (cf. auch Kapitel 3.1.1.2 sowie Eggert 2020, der auch das Funktionieren von Wortspielen mit dem Vorliegen von connivence erklärt). Diese connivence trägt wiederum zur Festigung des Wir-Gefühls, des Gruppenzusammenhalts und der Gruppenidentität bei (cf. Hopper/Knapp/Scott 1981, 24; Bell/BuerkelRothfuss/Gore 1987, 50; Knapp/Vangelisti 2005, 302). Durch Routinisierung wird die idiosynkratische Kommunikation schließlich zu einer «symbolic action or performance of romance» (Duck/Usera 2014, 197; ähnlich auch Bell/ Buerkel-Rothfuss/Gore 1987, 48; Morelock 2005, 2). Interessanterweise ist mehrfach empirisch nachgewiesen worden, dass die Anzahl der (genannten) personal idioms positiv mit der Beziehungszufriedenheit und dem (berichteten) Engegrad der Beziehung korreliert (cf. z. B. Bell/ Buerkel-Rothfuss/Gore 1987; Bell/Healey 1992; Bruess/Pearson 1993; Morelock 2005; Dunleavy/Booth-Butterfield 2009; vermutet auch bereits von Leisi 1978, 115). Ein Privatcode bzw. eine idiosynkratische Kommunikation befördert aber nicht nur das Zusammengehörigkeits- und Wir-Gefühl, sondern auch den Eindruck von der Einzigartigkeit der Beziehung: Durch idiosynkratische Kommunikation zeigen die BeziehungsteilnehmerInnen, dass sie sich gegenseitig so gut wie niemanden sonst kennen und ihre Beziehung so besonders ist, dass sie sogar eine eigene Sprachform erforderlich macht (Bell/Buerkel-Rothfuss/Gore 1987, 50). Was die situationsspezifische Nutzung von Privatcode bzw. idiosynkratischer Kommunikation angeht, sieht Leisi (1978) keine Beschränkung auf bestimmte Situationen: Genutzt werde der Privatcode «im Bereich der erotischen Begegnung, aber auch im gesamten Alltag» (35). Naheliegend wäre allerdings, dass die Nutzung sich zumindest auf private Situationen beschränkt, da nur auf diese Weise die «privaten Bedeutungen» auch dauerhaft geheim gehalten werden können (cf. auch Leisi 1978, 43). Bell/Buerkel-Rothfuss/Gore (1987) beobachten allerdings das Gegenteil: Die Mehrzahl der Ausdrücke in ihrer Untersuchung wird von den BefragungsteilnehmerInnen auch in öffentlichen Situationen benutzt; ausgenommen sind lediglich die auf Sexualität bezogenen Ausdrücke. Bell/ Buerkel-Rothfuss/Gore (1987) führen dies auf die Notwendigkeit zurück, sich auch nach außen hin als Paar zu präsentieren: «They must enact public presentations that lead others to make attributions of intimacy» (63; cf. auch Leisi 1978, 17). Bisher wurde der Privatcode bzw. die idiosynkratische Kommunikation bis auf eine Ausnahme ausschließlich für die Paarbeziehung untersucht. Viele Studien halten aber ein Auftreten in weiteren Beziehungstypen, namentlich vor allem Freundschaftsbeziehungen, ebenfalls für möglich (z. B. Hopper/Knapp/ Scott 1981, 33; Bell/Buerkel-Rothfuss 1987, 65; Duck/Usera 2014, 196–197). Bell/

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

31

Healey (1992) nutzen diese Hypothese für ihre Studie und stellen fest, dass idiosynkratische Kommunikation tatsächlich auch für Freundschaften typisch ist. Im Unterschied zu Liebesbeziehungen werden die Ausdrücke allerdings meist nicht nur zwischen zwei FreundInnen gebraucht, sondern in einem größeren Freundeskreis. Zudem werden sie in der Regel vornehmlich in öffentlichen Situationen verwendet, während nur sehr seltene Ausnahmefälle auf private Situationen beschränkt sind. Die Autoren führen beide Beobachtungen auf die Nicht-Exklusivität von Freundschaften im Gegensatz zu romantischen Partnerschaften zurück. Die Untersuchung idiosynkratischer Kommunikation in weiteren Beziehungstypen (z. B. zwischen Geschwistern oder in der Eltern-KindBeziehung) ist bisher nicht erfolgt.20 Für eine Untersuchung zum «zärtlichen Sprechen» wie die vorliegende ist das schlüssig argumentierte und empirisch gut gestützte Konzept des ‘Privatcodes’ bzw. der ‘idiosynkratischen Kommunikation’ durchaus hilfreich. Vorzuziehen ist dabei der Terminus ‘idiosynkratische Kommunikation’, da der Begriff ‘Privatcode’ eine Beschränkung der Nutzung auf private Situationen suggeriert und daher angesichts der oben angeführten Gegenbeispiele etwas irreführend ist. Wenngleich der Zugang zum Phänomen ‘idiosynkratische Kommunikation’ wie bei den nominalen Anredeformen auch wieder über die Beziehungstypen und nicht über einen bestimmten Äußerungskontext erfolgt und damit «zärtliches Sprechen» und ‘idiosynkratische Kommunikation’ keinesfalls gleichzusetzen sind, ist durchaus davon auszugehen, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil des «zärtlichen Sprechens» durch idiosynkratische Kommunikation abgedeckt wird. Erwartbar ist aber, dass das «zärtliche Sprechen» darüber hinaus weitere Phänomene umfasst, die weder Neologismen sind noch Bedeutungsveränderungen aufweisen.

2.2.5 (Secondary) baby talk Beschäftigt man sich mit der bisherigen Forschung zu Formen «zärtlichen Sprechens», stößt man schnell auch auf den Begriff des baby talk. Dieser bezeichnet das eigene Register, das von Eltern (und in geringerem Maße auch von anderen nahestehenden Personen) gegenüber Kindern bis zu deren viertem oder fünften Lebensjahr gebraucht wird (Ferguson 1964, 103; 1977, 209; Garnica 1977, 67;

20 Eine Ausnahme im weiteren Sinne ist hier lediglich die sog. twin speech, die eigene Sprache, die Zwillinge im Kleinkindalter ausbilden (cf. z. B. Bishop/Bishop 1998).

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Ervin-Tripp 1977, 335; Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 174).21 Neben der Bezeichnung baby talk wurden für das Register auch die Begriffe child-directed speech, infant-directed speech, motherese, parentese oder Ammensprache geprägt. Baby talk gibt es in den meisten Sprachen;22 dennoch gibt es auch Kulturen wie etwa die Kaluli-Kultur in Papua-Neuguinea, die nicht über ein eigenes Register für das Sprechen gegenüber Kleinkindern verfügen (cf. Schieffelin 1990), sodass nicht von Universalität gesprochen werden kann. Die zahlreichen bisher identifizierten Merkmale des baby talk, die je nach Sprache und Kulturraum unterschiedlich stark ausgeprägt sind (Harkness 1976; Garnica 1977; Blount 1977; Bernstein Ratner/Pye 1984; Haynes/Cooper 1986; Fernald et al. 1989; Solomon 2011), sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in Tabelle 2 dargestellt. Dem baby talk werden zwei zentrale Funktionen zugeschrieben: einerseits eine didaktisch-akkomodative und andererseits eine soziale. Die didaktischakkomodative Funktion zielt auf den Spracherwerb des Kindes ab, insofern als einerseits besonders korrekt, redundant und deutlich gesprochen wird, um den Spracherwerb des Kindes zu fördern, und andererseits das eigene Sprachniveau im Sinne einer Akkomodation an die noch beschränkten sprachlichen Möglichkeiten des Kindes angepasst wird (Jakobson 1960b, 1205; Ferguson 1977, 209; Garnica 1977, 81; Ervin-Tripp 1977, 337–338; Snow 1986, 72; Zebrowitz/Bownlow/Olson 1992, 146; Solomon 2011, 123; Benders 2013, 847). In dieser Funktion rückt der baby talk auch in die Nähe des foreigner talk, der deutlich vereinfachten Sprechweise von MuttersprachlerInnen gegenüber AusländerInnen mit (vermeintlich) geringen Sprachkenntnissen (cf. auch Uther/Knoll/Burnham 2007, 2–7; Sinner 2014, 198–203). Die zweite, soziale Funktion des baby talk besteht

21 Die «Grenze» von vier bis fünf Jahren variiert kulturell und individuell (Harkness 1976; Fernald/Morikawa 1993; Dressler/Merlini Barbaresi 1994; Gleason et al. 1994). Das Ausmaß des baby talk nimmt aber auch schon vor Erreichen der «kritischen Grenze» mit steigendem Kindesalter sukzessive ab (Garnica 1977; Kaye 1980; Miall/Dissanayake 2003). 22 Nachgewiesen wurde baby talk z. B. im Arabischen (z. B. Ferguson 1964), in den baltischen Sprachen (z. B. Ruķe-Dravina 1977), im Bengalischen (z. B. Dil 1971), im Berberischen (z. B. Bynon 1968), im Chinesischen (z. B. Grieser/Kuhl 1988), im Cocopa (z. B. Crawford 1970), im Comanche (z. B. Ferguson 1964), im Deutschen (z. B. Fernald et al. 1989), im Englischen (z. B. Fernald et al. 1989), im Französischen (z. B. Fernald et al. 1989), im Friesischen (z. B. Hoekstra 2020), im Griechischen (z. B. Drachman 1973), im Hidatsa (z. B. Voegelin/Robinett 1954), im Italienischen (z. B. Savoia 1984), im Japanischen (z. B. Fernald/Morikawa 1993), im Marathi (z. B. Ferguson 1964), im Maya (z. B. Bernstein Ratner/Pye 1984), im Niederländischen (z. B. Benders 2013), im Niwchen (z. B. Ferguson 1964), im Nootka (z. B. Kess/Copeland Kess 1986), im Schwedischen (z. B. Sundberg 1998), im Spanischen (Ferguson 1964; Harkness 1976; Blount/Padgug 1977; Blount 1977), im Thai (z. B. Kitamura et al. 2002) und in zahlreichen weiteren Sprachen.

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

33

Tabelle 2: Merkmale des baby talk. Phänomen

Quellen Paraverbale Ebene

erhöhte durchschnittliche Grundfrequenz Ferguson (, ); Garnica (, ); Blount (, ); Ervin-Tripp (, ); Fernald et al. (, ); Zebrowitz/Brownlow/Olson (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Klann-Delius (, –); Sinner (, ) größere pitch range

Ferguson (, ); Garnica (, ); Blount (, ); Ervin-Tripp (, ); Fernald/ Simon (, –); Zebrowitz/Brownlow/ Olson (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Klann-Delius (, –); Sinner (, )

Hyperartikulation

Ferguson (, ); Bernstein Ratner/Pye (, ); Bombar/Littig Jr. (, )

häufiges Flüstern bzw. behauchte Stimmqualität

Garnica (, ); Blount (, ); Bombar/ Littig Jr. (, )

häufige Silbenlängung

Ferguson (, ); Garnica (, ); Blount (, ); Bombar/Littig Jr. (, )

langsamere Sprechgeschwindigkeit

Ferguson (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Sinner (, )

geringere Lautstärke vs. höhere Lautstärke

Blount (, ); Bombar/Littig Jr. (, ) Ferguson (, ); Blount (, ) Phonetische Ebene

Reduplikation (Grundmuster: CVCV)

Ferguson (, ; , , ); Sinner (, )

Reduktion von Lautgruppen

Ferguson (, –; , –); Klann-Delius (, –)

23 Interessanterweise handelt es sich bei den phonetischen Phänomenen sämtlich um Merkmale, die auch für die Sprachentwicklung von Kleinkindern und damit für die Kleinkindersprache selbst typisch sind (cf. z. B. auch Lenz 1920, 207; Boyd-Bowman 1955, 345–348; Costenla Umaña 1982, 8–10; Buesa Oliver 1988, 1618; Johnson/Reimers 2010, 1–3 sowie Kapitel 4.3.1.1). Offenbar wird also im baby talk zum Teil versucht, die Kleinkindersprache zu imitieren.

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Tabelle 2 (fortgesetzt) Phänomen

Quellen

Ausfall komplexer Laute oder Ersetzung durch einfachere Laute

Ferguson (, )

Morphologisch-syntaktische Ebene Diminutive

Ferguson (, ; , ); Ervin-Tripp (, ); Herrera Véliz/Carvallo (, –); Gleason et al. (, –); Dressler/Merlini Barbaresi (, , , ); Bombar/Littig Jr. (, ); Bruyne (, ); Marrero/Albalá/ Moreno (, ); Melzi/King (, –); NGLE (, ); Sinner (, )

einfache Syntax (z. B. geringe Präsenz von Nebensätzen und Konjunktionen)

Snow (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Miall/Dissanayake (, ); Klann-Delius (, –); Sinner (, )

reduzierte Satzlänge

Snow (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Miall/Dissanayake (, ); Klann-Delius (, –); Sinner (, )

Wegfall der Kopula

Ferguson (, ; , )

viele Fragen, häufig des Typs ¿Cómo está …?, ¿Quién es …?

Snow (, , ); Dressler/Merlini Barbaresi (, –); Bombar/Littig Jr. (, ); Klann-Delius (, –); Sinner (, )

häufige Wiederholungen

Ferguson (, ); Blount (, ); ErvinTripp (, ); Snow (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Klann-Delius (, –); Sinner (, )

grammatikalische Korrektheit

Snow (, ); Bombar/Littig Jr. (, ); Miall/Dissanayake (, )

Ersatz der . und . Pers. Sg. durch die . Person Pl. oder die . Pers. Sg.

Ferguson (, ; , ); Blount (, ); Ervin-Tripp (, )

24 Auch diese Beschreibung ergibt sich aus der Sprachentwicklung beim Kleinkind: «Komplexere» Laute sind diejenigen, die ein Kind erst spät erlernt, «einfache» Laute solche, die früh erlernt werden.

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

35

Tabelle 2 (fortgesetzt) Phänomen

Quellen Lexikalische Ebene

registerspezifische Lexeme

Ferguson (, –; , –); Blount (, ); Snow (, ); Bombar/ Littig Jr. (, , ); Sinner (, )

onomatopoetische Wörter

Bombar/Littig Jr. (, )

reduziertes Lexikon

Miall/Dissanayake (, ); Klann-Delius (, –)

Passepartoutwort ‘machen’

Ferguson (, ); Sinner (, )

«nonsensical forms»

Blount (, ); Bombar/Littig Jr. (, )

nursery rhymes

Ferguson (, ; , ); Savoia (, ); Dressler/Merlini Barbaresi (, )

in der Förderung der emotionalen Bindung der Elternteile zum Kind (Ervin-Tripp 1977, 335; Werker/McLeod 1989, 230–246; Zebrowitz/Brownlow/Olson 1992, 150; Bombar/Littig Jr. 1996, 138; Miall/Dissanayake 2003, 337; Solomon 2011, 123; Benders 2013, 847). Die meisten der in Tabelle 2 aufgelisteten Phänomene lassen sich eindeutig entweder der sozialen oder der didaktisch-akkomodativen Funktion zuordnen (Ferguson 1977, 213; Garnica 1977, 82; Ervin-Tripp 1977, 337). So gehören z. B. die reduzierte Syntax und Lexik, die Hyperartikulation, die häufigen Wiederholungen, die grammatikalische Korrektheit und die langsamere Sprechgeschwindigkeit zur didaktisch-akkomodativen Funktion. Eindeutig soziale Funktion haben dagegen z. B. die behauchte Stimmqualität, die Nutzung von Diminutiven bzw. evaluativen Suffixen (cf. auch Kapitel 2.2.3), die «nonsensical forms» (cf. auch Kapitel 2.2.4 zur idiosynkratischen Kommunikation) und auch das wohl augenfälligste Merkmal des baby talk, die erhöhte durchschnittliche Grundfrequenz25.

25 Lange wurde die erhöhte Grundfrequenz der didaktisch-akkomodativen Funktion zugeordnet, cf. z. B. Uther/Knoll/Burnham (2007). Aktuellere Studien wie Gauthier/Shi (2011) und Benders (2013) konnten jedoch das Gegenteil zeigen. Der Phonetiker John Ohala liefert dazu in seinem viel rezipierten Artikel An ethological perspective on common cross-language utilization of F0 of voice (1984) auch eine passende evolutionäre Erklärung: Kurze Stimmbänder, die hohe Töne erzeugen, werden typischerweise von kleineren, schwächeren, weniger bedrohlichen Lebewesen besessen. Entsprechend wird die Tonhöhe auch eingesetzt: Beim Angriff werden nor-

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

In vielen Beiträgen zum Thema wurde vermutet und später auch empirisch nachgewiesen, dass baby talk auch in anderen Beziehungstypen als in der ElternKleinkind-Beziehung Verwendung findet, so z. B. im Gespräch mit Haustieren, mit älteren und pflegebedürftigen Menschen, in romantischen Beziehungen, in engen Freundschaften und sogar gegenüber geliebten Objekten oder Zimmerpflanzen (z. B. Caporael 1981; Hirsh-Pasek/Treiman 1982; Caporael/Lukaszewski/Culbertson 1983; Caporael/Culbertson 1986; Krauss Whitbourne/Culgin/Cassidy 1995; Bombar/Littig Jr. 1996; Sachweh 1998; Mitchell 2001; Burnham/Kitamura/VollmerConna 2002). Diese Nutzung von baby talk außerhalb der Eltern-Kind-Beziehung wird üblicherweise als secondary baby talk bezeichnet. In den meisten Arbeiten zum secondary baby talk wird dessen Nutzung in erster Linie auf die Erhöhung der Verständlichkeit für in irgendeiner Weise in ihrer Kommunikation eingeschränkte Personen zurückgeführt, also auf die didaktisch-akkomodative Funktion, und wenn überhaupt, lediglich in zweiter Linie auf eine affektive Wirkung. Dies mag für die Personengruppen der Haustiere und der pflegebedürftigen Menschen noch argumentierbar sein, gerade für Liebes- und Freundschaftsbeziehungen lässt sich die Nutzung aber nicht auf diese Weise erklären. Vielmehr ist hier davon auszugehen, dass der Gebrauch vorrangig oder sogar ausschließlich soziale Funktion hat. Bei einigen AutorInnen klingt dies bereits an. So hält es z. B. Ferguson (1964) für möglich, dass SprecherInnen baby talk in weiteren engen Beziehungen nutzen, «to evoke some aspect of the nurturant-baby situation» (111; ähnlich auch Ruķe-Dravina 1977, 86–87; Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 147–148, 193). Erst Meredith L. Bombar und Lawrence Littig Jr. bringen in ihrem Artikel Babytalk as a communication of intimate attachment (1996) den secondary baby talk explizit mit dem psychologischen Konzept der ‘Bindung’ (cf. Kapitel 3.1.1.4) zusammen, da alle Beziehungstypen, in denen secondary baby talk vorkommt, auch bindungstypische Merkmale aufweisen: «Scholarly discussion has never clarified or emphasized that there seems to be a common denominator underlying most of them [scil. the relationships] – namely, caring, especially in the context of an effort to experience emotional connection. […] Babytalk has something to do with the process of intimate psychological connection, not only between mothers and infants but also in other relationships» (Bombar/Littig Jr. 1996, 138).

malerweise dunkle, tiefe Laute produziert, um einen Eindruck von der eigenen Stärke und Überlegenheit zu vermitteln. Unterwürfige und Unterlegene dagegen stoßen meist hohe Töne aus. Auch Menschen setzen eine höhere Tonlage besonders dann ein, wenn sie besonders ungefährlich, harmlos, freundlich und zugewandt wirken wollen, und besonders tiefe Töne, wenn sie einen gegenteiligen Eindruck vermitteln wollen (Ohala 1984, 4–5; cf. auch Montepare/Zebrowitz-McArthur 1987, 331–349; Montepare/Vega 1988, 103–113; Berry 1990, 141–153; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 175).

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

37

(Secondary) baby talk ist also ganz offenbar in erster Linie eine besondere Ausprägung des Bindungs- bzw. Fürsorgeverhaltens (cf. Kapitel 3.1.1.4) – und dieses ist eben nicht ausschließlich für die (frühe) Eltern-Kind-Beziehung, sondern ebenso für weitere Beziehungstypen prägend. Auf eine enge Verbindung zwischen (secondary) baby talk und Bindungs- bzw. Fürsorgeverhalten weisen auch die Angaben der StudienteilnehmerInnen von Bombar/Littig Jr. (1996) zu typischen Gebrauchssituationen hin. So nutzen diese den secondary baby talk in Liebesbeziehungen vor allem in Situationen, die durch «proximity- and contact-seeking, affection and emotional responsiveness, play, and emotional reactions to separations and reunions» (Bombar/Littig Jr. 1996, 151) gekennzeichnet sind – allesamt bindungstypische Situationen (cf. auch Kapitel 3.1.1.4). Ebenfalls in dieses Muster fügt sich die Feststellung, dass (secondary) baby talk in Liebesbeziehungen sehr viel häufiger in nicht-sexuellen Situationen vorkommt als in sexuellen (Bombar/Littig Jr. 1996, 152). Gebrauch und Funktionen des (secondary) baby talk fallen damit eindeutig in den Bereich «zärtlichen Sprechens» und auch die Bedeutung des Lexems zärtlich, die vom Duden (2020, s. p.) als «2. fürsorglich» angegeben wird, verweist bereits eindeutig auf die Verbindung zwischen «zärtlichem Sprechen» und Bindungs- bzw. Fürsorgeverhalten. So könnte die Bindung zwischen den GesprächspartnerInnen nicht nur für den (secondary) baby talk, sondern auch für das «zärtliche Sprechen» möglicherweise ein wichtiger Parameter zur Abgrenzung sein (cf. Kapitel 3.1.1.4).

2.2.6 Emotive Sprache Eng verbunden mit der Vorstellung von «Zärtlichkeit» bzw. eines «zärtlichen Verhaltens» sind bestimmte Emotionen wie Zuneigung oder Liebe, die zwischen den InteraktionspartnerInnen vorliegen – darauf verweist auch die lexikalische Bedeutung des Adjektivs zärtlich, die vom Duden (2020, s. p) als «1. starke Zuneigung ausdrückend, liebevoll» angegeben wird. So sind Menschen in der Regel «zärtlich» zu Personen, die sie mögen oder gar lieben. Das «zärtliche Sprechen» als verbale Ausprägungsform «zärtlichen» Verhaltens ist damit zu einem gewissen Grad durch Emotionen bzw. Emotionalität geprägt, sodass Emotionalität oder bestimmte Emotionen wichtige Parameter für die Abgrenzung des «zärtlichen Sprechens» sein dürften. Eine Untersuchung zum «zärtlichen Sprechen» kommt daher nicht umhin, sich auch dem Thema ‘Sprache und Emotion’ etwas ausführlicher zu widmen. Angesichts der Komplexität des Themenbereichs kann dies aber nur in Ansätzen geschehen. In der Sprachwissenschaft ist das Thema ‘Sprache und Emotion’ vor allem unter den Termini ‘affektive Sprache’, ‘expressive Sprache’ und ‘emotive Sprache’ behandelt worden,

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

wobei diese Begriffe in der Regel synonym gebraucht werden (cf. auch Ortner 2014, 60–65).26 Dass Sprache immer auch die Funktion hat, etwas über die SprecherInnen, d. h. ihr Befinden, ihre Gefühle und ihre Einstellungen auszusagen, hat bereits Bühler (1934) in Form der ‘Ausdrucksfunktion’ in seinem Organon-Modell der Sprache postuliert.27 Er selbst spricht vom «Ausdrücken psychischer Zustände der sprechenden Person» (1934, 28). Die Umbenennung dieser Sprachfunktion als ‘expressive’ oder ‘emotive Funktion’ erfolgte durch Jakobson (1960a), der das von Bühler entwickelte Modell der drei Sprachfunktionen um drei weitere Funktionen erweiterte.28 Wenngleich der Ausdruck von Emotionen also bereits früh als zentrales Merkmal menschlicher Sprache erkannt wurde, hat die Linguistik eine Beschäftigung mit dem Thema bis in die 1990er-Jahre zugunsten strukturalistischer und rationalisierender Sichtweisen vernachlässigt: «Bis vor wenigen Jahren war das Thema ‘Sprache und Emotion’ aus linguistischer Perspektive ein exotisches Sonderthema mit einem Hauch Esoterik» (Schwarz-Friesel 2007, 13; ähnlich auch Stankiewicz 1989, 74–75; Fiehler 1990, 14, 20–23; Fries 2000, 109; Bednarek 2008, 6; Ortner 2014, 46–49). Erst mit den wegweisenden Arbeiten von Ochs/Schieffelin (1989), Sbisà (1990), Caffi/Janney (1994) und schließlich Janney (1996), die den pragmatic turn in der Erforschung von Sprache und Emotion einleiteten, mehrten sich Arbeiten, die sich explizit mit der Frage auseinandersetzten, welche sprachlichen Repräsentationen genutzt werden, um auf die inneren Gefühlszustände von Menschen zu referieren. Untersuchungsgegenstand sind in der Sprachwissenschaft dabei nicht die Emotionen selbst, sondern die Konzeptualisierungen von Emotionen, wie sie in verbalen Manifestationen mehr oder weniger greifbar werden (Schwarz-Friesel 2007, 62; Ortner 2014, 46).29 Inzwi-

26 Eine Unterscheidung zwischen ‘Affektivität’ und ‘Expressivität’ nehmen indes Koch/Oesterreicher (z. B. 2011, 7) vor, deren theoretische Überlegungen zur ‘gesprochenen Sprache’ im Mittelpunkt von Kapitel 3.2.1.3 stehen werden. Die beiden Romanisten sehen sowohl ‘Affektivität’ als auch ‘Expressivität’ als Formen emotionaler Beteiligung – dabei richte sich ‘Affektivität’ auf das Gegenüber und ‘Expressivität’ auf den Kommunikationsgegenstand. 27 Neben der sprecherInnenzentrierten Ausdrucksfunktion hat Sprache Bühler (1934) zufolge noch zwei weitere Funktionen: die hörerInnenzentrierte Appellfunktion und die gegenstandszentrierte Darstellungsfunktion. In jeder Kommunikationssituation sind ihm zufolge alle drei Funktionen vorhanden, wobei jeweils eine Funktion dominant sein kann. 28 Neben der expressiven bzw. emotiven Funktion postuliert Jakobson (1960a) eine konative bzw. appellative, eine poetische, eine referentielle, eine metasprachliche und eine phatische Funktion. 29 Dass Emotionen und ihre sprachlichen Manifestationen nicht gleichzusetzen sind, sich nicht einmal entsprechen müssen, zeigt sich bereits daran, dass Menschen zwar einige ihrer

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

39

schen ist die Menge an Forschungsliteratur zum Thema ‘Sprache und Emotion’ kaum mehr überschaubar und in den verschiedensten Disziplinen angesiedelt (cf. auch Ortner 2014, 2). Vom gesteigerten Interesse am Thema zeugt z. B. das Cluster Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin (2007–2014) und der HSK-Band Language and Emotion, der 2022 erscheinen soll. SchwarzFriesel (2007, 8) beklagt dennoch die immer noch geringe Relevanz von Emotionen in der sprachwissenschaftlichen Theorie- und Modellbildung. Umfassende Überblicke und Entwürfe zu verschiedensten Aspekten von ‘Sprache und Emotion’, z. B. zum Zusammenhang von Emotion und Kognition, zum (emotionalen) Sprachproduktionsprozess oder zu mentalen Repräsentationen von Emotionen, findet man z. B. bei Fiehler (1990), Schwarz-Friesel (2007) und Ortner (2014). Mehr als eine allgemeine Theorie von Sprache und Emotion interessiert für diese Arbeit jedoch die Fragestellung, wie sich der Zusammenhang zwischen «zärtlichem Sprechen» und Emotionen beschreiben lässt (cf. Kapitel 3.1) und über welche emotiven sprachlichen Mittel «zärtliches Sprechen» verfügt. Was die grundsätzliche Relation von Sprache und Emotion betrifft, soll an dieser Stelle daher die einfache wie einleuchtende Korrelation von SchwarzFriesel (2007) dienen: «Mit der Sprache drücken wir unsere Gefühle und Empfindungen aus. Sprache fungiert also als Mittel, um subjektive emotionale Zustände intersubjektiv zu kodifizieren» (11). Zu den für diese Arbeit interessanten Fragestellungen liegen leider bisher keine Untersuchungen vor. So wird es auch Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, den Zusammenhang von «Zärtlichkeit» und Emotion besser zu beschreiben, um auf dieser Basis emotive Mittel des «zärtlichen Sprechens» als solche erkennen und verorten zu können (cf. Kapitel 3.1). Den Rahmen hierfür bilden einige grundlegende Unterscheidungen und Kategorisierungen aus der bisherigen Forschung zum Thema ‘Sprache und Emotion’. So sind im Bereich der emotional gefärbten Sprache zunächst zwei Ebenen zu unterscheiden, die Marty (1908, 364–365) mit den Termini ‘emotional’ gegenüber ‘emotiv’ belegt. Sprache kann ihm zufolge einerseits zur spontanen emotionalen Entladung dienen, die sich größtenteils unwillkürlich und ungesteuert vor allem in Interjektionen und prosodischen Merkmalen niederschlägt. Solche nicht-intentionalen, kathartischen Manifestationen von Emotion sollen in dieser Arbeit mit Marty (1908, 364–365) als ‘emotionale Sprache’ bezeichnet und – ebenfalls ihm folgend – nicht als Untersuchungsgegenstand der Linguistik im engeren Sinne betrachtet werden. Demgegenüber steht die

Emotionen sprachlich ausdrücken, es aber ebenso gut möglich ist, dass sie Emotionen haben, die sie nicht ausdrücken, oder dass sie Emotionen ausdrücken, die sie nicht haben (Fiehler 1990, 101; Caffi/Janney 1994, 326; Bednarek 2008, 6–7).

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

‘emotive Sprache’, bei der Emotionen gegenüber AdressatInnen mehr oder weniger bewusst sprachlich manifestiert werden, um soziale oder kommunikative Ziele zu erreichen: «Emotive language is related to self-presentation, and it is inherently strategic, persuasive, interactional, and other-directed by its very nature» (Caffi/Janney 1994, 328–329). Emotive Sprache ist also weniger ein psychologisches als vielmehr ein soziales Phänomen (cf. auch Stankiewicz 1989, 76; Fiehler 1990, 102–142; Janney 1996, 88; Schwarz-Friesel 2007, 27).30 Bei der Untersuchung der sprachlichen Manifestationen von Emotionen hat sich eine grundlegende Unterscheidung in a) Emotionsausdruck und b) Emotionsthematisierung etabliert (in dieser Terminologie z. B. Fiehler 1990; Ortner 2014).31 Bei der Emotionsthematisierung wird explizit über Emotionen gesprochen; Emotionen werden durch Sprache reflektiert und konstruiert, ihnen wird Sinn verliehen. Dies geschieht vornehmlich auf der lexikalischen Ebene. Beim Emotionsausdruck wird die sprachliche Gestalt der Äußerungen direkt von den bei den SprecherInnen vorherrschenden Emotionen beeinflusst. Diese Beeinflussung kann sich grundsätzlich auf allen sprachlichen Ebenen niederschlagen (Stankiewicz 1989, 75; Ochs/Schieffelin 1989, 12–21; Schwarz-Friesel 2007, 134–209; Bednarek 2008, 11; Wilce 2009, 3; Majid 2012, 441; Ortner 2014, 183). Ortner (2014, 189–196) stellt die sprachlichen Mittel, die in der Forschungsliteratur wiederholt als typisch sowohl für Emotionsausdruck als auch für Emotionsthematisierung genannt werden, sehr übersichtlich mit deutschsprachigen Beispielen zusammen. Ihre tabellarische Auflistung ist als Werkzeug zur Identifikation emotiver Mittel in einem Korpus von Äußerungen äußerst hilfreich und soll daher für die Zwecke dieser Arbeit in leicht gekürzter Form weiterverwendet werden (cf. Tabelle 3).32 Dabei ist zum einen zu beachten, dass die sprachlichen Mittel des Emotionsausdrucks grundsätzlich nicht erschöpfend aufzuzählen sind. Zum anderen soll die Liste nicht so verstanden werden, dass die Mittel systematisch Emotionen ausdrücken; ihre tatsächliche Funktion ist immer abhängig vom konkreten Äußerungskontext (Ortner 2014, 183–184).

30 Andere AutorInnen wählen zum Teil eine andere Terminologie zur Unterscheidung der zwei Ebenen. So unterscheidet beispielsweise Schiller (2007, 151–152) zwischen ‘primärer Expressivität’ und ‘sekundärer Expressivität’. 31 Auch hier weicht die Terminologie zum Teil je nach Publikation leicht ab. So spricht Schwarz-Friesel (2007) von ‘emotionsausdrückenden’ und ‘emotionsbezeichnenden Mitteln’, Kövecses (2000, 6) von ‘expressiven’ und ‘deskriptiven Formen’ und Bednarek (2008, 10–12) von ‘emotional talk’ gegenüber ‘emotion talk’. Für weitere Termini cf. Bednarek (2008, 10). 32 Eine speziell auf das Spanische bezogene und recht umfassende Darstellung der Merkmale emotiver Sprache findet sich z. B. bei Beinhauer (1973). Die dort verzeichneten Merkmale sind allerdings sämtlich auch in der Liste von Ortner (2014) enthalten.

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

Tabelle 3: Merkmale emotiver Sprache adaptiert nach Ortner (2014, 189–196). Sprachliches Mittel

Beispiel Phonetische und prosodische Ebene

Stimmqualität

behaucht

Intonation

steigend

Stimmhöhe

erhöhte Grundfrequenz

Betonung

exklamativ

Geschwindigkeit

schnellere Sprechgeschwindigkeit

Lautstärke

Brüllen

Quantität

Silbenlängung

Lautnachahmung (Onomatopoetika)

jammi

Phonemkonstellationen

Alliterationen Typographische Ebene

graphisch hervorgehobene Elemente

Großbuchstaben

auffällige Interpunktion

mehrfache Ausrufezeichen

graphische Elemente zur Imitation para- und nonverbaler Signale

Emoticons, Lautverschriftung (geeeieeel)

Morphosyntaktische Ebene Diminutiv

-lein, -chen, Ami

Augmentativ

Unsumme, Abertausende

emotive Affixe und Affixoide

super-, Mords-, scheiß-, -ler

Komparativ und Superlativ

besser, beste

Reduplikation

jaja, mannomann

Exklamativa

Wie wunderschön es hier ist!

Optativsätze

Käme er bloß!

abweichende Wortstellung

Ziemlich scharf dein Kleid!

intensivierende Proformen

solch ein Lexikalische Ebene

emotionsbezeichnende Lexeme

Freude, traurig, lieben

emotionsausdrückende Lexeme

scheußlich, Mistkerl, toll

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42

2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Tabelle 3 (fortgesetzt) Sprachliches Mittel

Beispiel

emotiv konnotierte Lexeme

Weib, Penner

expressive Komposita

Heidenkrach, Affenhitze, todmüde

wertende Modalwörter

bedauerlicherweise, gottlob

emotiv getönte Modalpartikeln

ja, mal, halt

Gradierung

echt schön, richtig schlecht

Expressive Neologismen

fremdschämen

Interjektionen

Oh!, Verdammt!, Au!

ad-hoc-Entlehnungen und Hybridbildungen

rumhaten

emotive Phraseologismen

etwas zieht jemandem die Schuhe aus

Sprichwörter

Angst verleiht Flügel Pragmatische Ebene

Anredeverhalten

Joschimoschi, Schätzchen, Hansi

Idiolekt, Dialekt, Soziolekt

leiwand (Wienerisch)

Code-Mixing, Code-Switching

Und ich dachte mir nur noch, oh great!

Illokutionsstrukturen

Häufung von Expressiva

bestimmte Sprechakte

Flüche, Befehle Stilistische Ebene

Metaphern

Mir geht gleich der Hut hoch!

Metonymien

mein täglich Brot

Vergleiche

stolz wie Oskar

Hyperbeln

Das ist das beste Geschenk der Welt!

Ellipsen

Das kann doch wohl nicht …

Litotes

nicht unschön

rhetorische Fragen

Wie lange noch, Kathrin?

Euphemismen

kräftig statt dick

Paronomasie (Wortspiel)

ole Maloche

2.2 Sprachliche Phänomene mit «zärtlicher Funktion»

43

Alle Verfahren des Emotionsausdrucks sind eher emotionenunspezifisch, d. h. sie signalisieren primär die Relevanz von Emotionen, nicht aber eine bestimmte Emotion. Dies bedeutet für das «zärtliche Sprechen» wohl, dass es trotz seiner offenbar vorhandenen besonderen Prägung durch ganz bestimmte soziale Emotionen auf der Ebene des Emotionsausdrucks keine spezifischen (im Sinne von nur ihm eigenen) Verfahren aufweisen dürfte. Gruppieren lassen sich die verschiedenen Verfahren aus Tabelle 3 statt nach den ausgedrückten Emotionen eher anhand ihrer kommunikativen Funktion, wobei Verfahren der Bewertung (z. B. emotionsausdrückende Lexeme), der Intensivierung (z. B. Gradierung) und der Veranschaulichung (z. B. Metaphern) unterschieden werden können (Drescher 2003, 96–102). Insofern als beim «zärtlichen Sprechen» offenbar besonders Emotionen wie Liebe und Zuneigung ausgedrückt werden, ist anzunehmen, dass dies vor allem mittels sprachlicher Verfahren der Bewertung, und zwar der Bewertung des Gegenübers, erfolgt. Hierfür sind aus der Liste insbesondere emotionsausdrückende und emotiv konnotierte Lexeme, wertende Modalwörter, Diminutive und Augmentative (cf. auch Kapitel 2.2.3), emotive Affixe und Affixoide, Komparativ und Superlativ sowie das Anredeverhalten (cf. auch Kapitel 2.2.1) geeignet. Spezifische Emotionen können dagegen nur mittels Emotionsthematisierung eindeutig ausgedrückt werden (Fries 1996, 44; 2000, 105–106; Drescher 2003, 89). Neben dem Emotionswortschatz einer Sprache im engeren Sinne (= die emotionsbezeichnenden Lexeme), der sich im Deutschen zwischen 500 und 1000 Wörtern bewegt (Fiehler 2010, 23), werden zur Emotionsthematisierung häufig Metaphern, Vergleiche und Phraseologismen verwendet – die Bandbreite möglicher Ausdrucksformen ist damit im Grunde unerschöpflich. Da beim «zärtlichen Sprechen» besonders die Emotionen ‘Zuneigung’ und ‘Liebe’ von Bedeutung zu sein scheinen, sind dementsprechend vor allem emotionsbezeichnende Lexeme, Metaphern, Vergleiche und Phraseologismen zu diesen Emotionen erwartbar. Als Emotionsthematisierung par excellence beim «zärtlichen Sprechen» kann die Liebeserklärung gelten (cf. auch Taraban/Hendrick/Hendrick 1998, 343). Auer (1988) liefert eine wertvolle Analyse zu Liebeserklärungen als sprachlicher Handlung im Deutschen. Wenn man bei Liebeserklärungen überhaupt noch von einem Emotionsausdruck sprechen kann, so geschieht dieser laut Auer (1988, 12, 14) zumindest alles andere als natürlich; vielmehr folgt die Liebeserklärung in hohem Maße vorgegebenen, kulturspezifischen Mustern (cf. auch Schwarz-Friesel 2007, 289) und rückt damit deutlich in den Bereich der Diskurstraditionen (cf. auch Kapitel 3.2.2).33 Eher als den affektiven Zustand der SprecherInnen drückt eine Liebes-

33 Dass Vorstellungen von ‘Liebe’ entscheidend von kulturell und literaturhistorisch geprägten Konzeptualisierungs- und Kommunikationsmustern bestimmt sind, ist unbestritten. Diese

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

erklärung zudem die Haltung gegenüber dem/der GesprächspartnerIn aus (cf. auch Taraban/Hendrick/Hendrick 1998, 332, 341). Sie dient vor allem dazu, die Beziehung zu bestätigen und zu festigen. Der Liebesdiskurs hält im Deutschen grundsätzlich eine schier endlose Palette von Ausdrucksvarianten bereit (Auer 1988, 12; Schwarz-Friesel 2007, 293), der Prototyp der Liebeserklärung lässt sich jedoch auf folgende Formel bringen: Ein zweistelliges Prädikat wie lieben, mögen, gernhaben oder liebhaben verbindet ein Subjekt (= TrägerIn der Emotion) und ein Objekt (= Gegenstand der Emotion) miteinander (Auer 1988, 12). Die Fügung Ich liebe dich hat dabei einen besonderen Status. Als formelhafte Floskel ist sie im Grunde unzerlegbar, quasi ein «Wortsatz» (Auer 1988, 12; cf. auch Schwarz-Friesel 2007, 293). Voraussetzung für Liebeserklärungen ist Privatheit, es sei denn es handelt sich um routinisierte Verwendungen wie etwa in abschließenden Grußsequenzen (Auer 1988, 17, 19). In der europäischen Tradition der Liebessemantik hat sich auch der Topos vom Scheitern der Sprache etabliert. Dieser kann dazu führen, dass statt einer Liebeserklärung in der oben genannten Form andere sprachliche und nicht-sprachliche Ausdrucksformen zum Einsatz kommen, die in einer unmittelbareren Beziehung zum ausgedrückten Gefühl stehen sollen (Auer 1988, 28; cf. auch Lenz 2009, 196–197). Was die Emotionsthematisierung mittels Metaphern betrifft, liegen den verschiedenen Emotionen oft bestimmte bildliche Konzeptionen zugrunde wie z. B. ANGER IS HEAT, die die Wahl der konkreten Metaphern begünstigen.34 Diese werden unter dem Terminus ‘konzeptuelle Metaphern’ in der kognitiven Semantik untersucht, die vor allem durch Kövecses (1986; 1988; 2000; 2015), Lakoff (1987) sowie Lakoff/Johnson mit ihrem bereits siebenfach aufgelegten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Werk Metaphors we live by (1980) begründet wurde. Grundsätzlich dominieren bei unangenehmen Emotionen Be-

Verhaltens- und Interpretationsregeln dürfen nicht mit der Emotion ‘Liebe’ (cf. Kapitel 3.1.1.5) gleichgesetzt werden. Während es sich bei der Emotion ‘Liebe’ um ein Universalphänomen handelt, sind die Konzeptualisierungen von ‘Liebe’ wiederum kulturspezifisch (cf. auch Fitness/Fletcher/Overall 2003, 264; Schwarz-Friesel 2007, 289–290). 34 Das liegt daran, dass unterschiedliche körperliche Erfahrungen des Menschen in der menschlichen Wahrnehmung unterschiedlich scharf konturiert sind. Im Gegensatz zur Raum- und Wahrnehmungserfahrung, die recht eindeutig strukturiert ist (z. B. oben/unten, vorne/hinten, hell/ dunkel, warm/kalt), gibt es für Emotionen keine klar umrissene konzeptuelle Struktur. Da aber zwischen Emotionen (z. B. Glücklichsein) und sensomotorischen Erfahrungen (z. B. der aufrechten Haltung) systematische Korrelate bestehen, bilden diese die Grundlage für metaphorische Konzepte (wie etwa GLÜCKLICH IST OBEN). Mit Hilfe solcher konzeptuellen Metaphern wird es möglich, Emotionen in schärfer abgegrenzten Begriffen zu fassen: Das Nichtphysische wird in Begriffen des Physischen konzeptualisiert, das weniger scharf Konturierte in Begriffen des schärfer Konturierten (Lakoff/Johnson 2004, 73, 102).

2.3 Schlussfolgerungen

45

schreibungen mittels konzeptueller Inhalte der Domänen ‘Sterben’ und ‘Dunkelheit’, bei angenehmen Emotionen dagegen der Domänen ‘Helligkeit’ und ‘Wärme’. Auch räumliche Konzeptualisierungsmuster spielen eine Rolle: Angenehme Emotionen werden bevorzugt in der Höhe, unangenehme eher in der Tiefe verankert (Schwarz-Friesel 2007, 191).35 Die Emotion ‘Liebe’, die für den Untersuchungsbereich der vorliegenden Arbeit augenscheinlich eine der wichtigsten Emotionen darstellt (cf. auch Kapitel 3.1.1.5), ist fast gänzlich über Metaphern strukturiert (Lakoff/Johnson 2004, 102). Wie auch bei vielen anderen Konzepten gibt es für ‘Liebe’ mehrere verschiedene konzeptuelle Metaphern, die jeweils benutzt werden, um über einen bestimmten Aspekt des Konzepts zu sprechen; die wichtigsten sind LIEBE IST FEUER/WÄRME, LIEBE IST LICHT/HELLIGKEIT, LIEBE IST EINE REISE, LIEBE IST PHYSIK, LIEBE IST EIN PATIENT, LIEBE IST VERRÜCKTHEIT, LIEBE IST MAGIE und LIEBE IST KRIEG (Kövecses 1988, 18–27; Lakoff/Johnson 2004, 59–65; Schwarz-Friesel 2007, 300–301). Eine Untersuchung des «zärtlichen Sprechens» könnte zu Tage fördern, welche und in welchem Maße verschiedene emotive Verfahren für diese Modalität typisch sind. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein theoretisches Konzept des «zärtlichen Sprechens», welches die Erhebung und Analyse «zärtlicher» Äußerungen erst ermöglicht.

2.3 Schlussfolgerungen Der Überblick zur bisherigen wissenschaftlichen Behandlung von Formen «zärtlichen Sprechens» hat gezeigt, dass in der Sprachwissenschaft zwar bereits verschiedene Phänomene identifiziert und beschrieben wurden, die (offenbar) im Zusammenhang mit der Modalität des «zärtlichen Sprechens» stehen: ‘Nominale Anredeformen’, ‘Hypokoristika’, ‘evaluative Suffixe’, ‘idiosynkratische Kommunikation’, (secondary) baby talk und ‘emotive Sprache’ (cf. Kapitel 2.2.1 bis 2.2.6). Diese teils umfassend untersuchten Phänomene werden von den verschiedenen AutorInnen meist ohne weitere Erläuterung einem «lenguaje cariñoso» (z. B. Sologuren 1954, 245), «lenguaje amoroso» (z. B. Fernández Ramírez 1962, 188; Beinhauer 1973, 43, 45; Enajas 2004, s. p.) o. Ä. zugeordnet. Abhandlungen zum Wesen und/oder zu typischen Merkmalen dieses «lenguaje amoroso» bzw. «lenguaje cariñoso» oder eben des «zärtlichen Sprechens» gibt es jedoch nicht.

35 Für das Spanische untersuchen sowohl Herrera Burstein (1997) als auch Geck (2003) Emotionsthematisierungen aus der Perspektive der kognitiven Semantik.

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2 Formen «zärtlichen Sprechens» in der bisherigen Forschung

Insofern kann nicht davon die Rede sein, dass bereits eine wissenschaftliche Behandlung des «zärtlichen Sprechens» als Modalität, geschweige denn mit einer eindeutigen und einheitlichen Terminologie, vorgenommen wurde. Die wenigen identifizierten Publikationen, die den Zugang über die Funktion oder den Kontext suchen (cf. Kapitel 2.1), überschneiden sich inhaltlich nur zum Teil mit dem «zärtlichen Sprechen» und stammen zudem fast ausnahmslos nicht aus der Linguistik. So behält die Feststellung Ernst Leisis zur Paarsprache im Jahr 1978 auch für das «zärtliche Sprechen» der Gegenwart Gültigkeit: «So finden wir denn von mehreren Seiten her Annäherungen; aber unser Thema wird nur eben von außen leicht berührt, die Mitte bleibt leer» (Leisi 1978, 8). In der Zusammenschau der in den Kapiteln 2.2.1 bis 2.2.6 behandelten Phänomene ergibt sich zudem kein kohärentes Bild. So ist zunächst die Terminologie zum Themenbereich – wenngleich die Kapitelüberschriften etwas anderes suggerieren könnten – bislang äußerst vielfältig und uneinheitlich. Dieser Umstand machte zum Teil recht umfangreiche terminologische Erörterungen nötig. Auch inhaltlich ergeben sich bei der Zusammenschau der behandelten Phänomene Unstimmigkeiten und Überschneidungen: Bei ‘nominalen Anredeformen’, ‘Hypokoristika’ und ‘evaluativen Suffixen’ (Kapitel 2.2.1, 2.2.2 und 2.2.3) handelt es sich um einzelne sprachliche Phänomene, die jeweils auf einer bestimmten sprachlichen Ebene angesiedelt sind und als typisch für «zärtliches Sprechen» angesehen werden; bei ‘idiosynkratischer Kommunikation’ handelt es sich dagegen um einen Aspekt der Kommunikation in engen persönlichen Beziehungen, der seinen Niederschlag auf verschiedenen sprachlichen Ebenen finden kann; der (secondary) baby talk wiederum ist ein sprachliches Register, also eine kontextbedingte Varietät mit verschiedenen sprachlichen Merkmalen, das mit dem Konzept der ‘Bindung’ in Verbindung steht; bei ‘emotiver Sprache’ wiederum geht es um ein Phänomen der menschlichen Wahrnehmung, das seine verbale Manifestation auf unterschiedlichste Weise in der Sprache finden kann. Die Zugänge zu den verschiedenen Phänomenen sind also jeweils etwas unterschiedlich. Dabei wählen die ersten drei Ansätze (‘nominale Anredeformen’, ‘Hypokoristika’, ‘evaluative Suffixe’) den Zugang eher über die Form, die letzten drei Ansätze den Zugang eher über die Funktion. Im Falle der ‘idiosynkratischen Kommunikation’ ist dies ein bestimmter Beziehungstyp, im Falle des (secondary) baby talk die Bindung zwischen den GesprächspartnerInnen und im Falle der ‘emotiven Sprache’ die Emotion. Problematisch an Zugängen über die Form ist der Umstand, dass sich nur auf Basis der Form grundsätzlich keine Rückschlüsse auf deren «zärtliche» Bedeutung bzw. Funktion ziehen lassen, da diese immer kontextabhängig ist. Dies wird nicht in allen Untersuchungen ausreichend berücksichtigt. Dass bei einigen Phänomenen, insbesondere bei den

2.3 Schlussfolgerungen

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Hypokoristika, dadurch eine unglückliche Form-Funktion-Gleichsetzung vorgenommen wird, ist in den entsprechenden Kapiteln problematisiert worden. Der Forschungsüberblick zu Formen «zärtlichen Sprechens» enthält bereits erste Hinweise auf kontextuelle Merkmale, anhand derer «zärtliches Sprechen» abgegrenzt werden könnte. So spielen offenbar die Beziehung zwischen den GesprächsteilnehmerInnen (z. B. Bekanntschaftsgrad, Bindung, Beziehungstyp) (cf. Kapitel 2.2.1 bis 2.2.5), die Kommunikationssituation (z. B. «nicht-ernst», privat) (cf. Kapitel 2.2.1, 2.2.3, 2.2.4) oder auch die Emotionen der SprecherInnen (z. B. Liebe, Zuneigung) (cf. Kapitel 2.2.1, 2.2.2, 2.2.6) eine Rolle. In welcher Verbindung diese übergeordneten Konzepte zueinander sowie ihrerseits zum «zärtlichen Sprechen» stehen, ist aber bisher unklar und nicht näher in Augenschein genommen worden. Wohl aus diesem Grund mutet es auch oft etwas beliebig an, wenn bei der Behandlung eines Konzeptes ein anderes wiederaufgegriffen wird (wenngleich dies insgesamt eher selten geschieht). Wenn etwa die ‘idiosynkratische Kommunikation’ als ein Merkmal des baby talk angesehen wird, ebenso aber auch der baby talk als typisch für die ‘idiosynkratische Kommunikation’, zeigt sich daran vor allem die Unklarheit hinsichtlich der übergeordneten Ebenen und ihrer Relation zueinander. Dass Zuordnungen offenbar vorschnell und ohne tiefere Reflexion vorgenommen werden, gilt z. B. auch, wenn ‘nominale Anredeformen’, ‘Hypokoristika’ und ‘evaluative Suffigierungen’ jeweils sowohl für den ‘Privatcode’ als auch für den baby talk als auch für ‘emotive Sprache’ als typische Merkmale angeführt werden. Sollte diese multiple Zuordnung tatsächlich so stimmen, müsste nach möglichen Gründen dafür gefragt werden. Offenbar stehen ja alle Konzepte in einem recht engen Zusammenhang zueinander – dieser scheint bisher aber eher diffus. In letzter Konsequenz ist dies darauf zurückzuführen, dass es bisher an einer Theoriebildung zum Thema des «zärtlichen Sprechens» fehlt. Die bisherigen Untersuchungen bewegen sich in weiten Teilen auf einer rein deskriptiven Ebene, sozusagen an der «sprachlichen Oberfläche». Ihnen fehlt ein theoretisches Fundament in Form einer systematischen Rückkopplung der sprachlichen Merkmale mit den zugrundeliegenden Kommunikationsbedingungen (z. B. hinsichtlich situationaler, sozialer und/oder psychologischer Merkmale). So wird z. B. auch nie erläutert, was unter «kosend», «zärtlich», «cariñoso» etc. überhaupt zu verstehen ist, geschweige denn, warum überhaupt wer wie in welchen Situationen «zärtlich» zu wem sein sollte und inwiefern sich dies letztlich in der Sprache niederschlägt. Insofern beleuchten die bisherigen Untersuchungen zum «zärtlichen Sprechen» lediglich punktuell verschiedene Ausschnitte der Modalität, führen aber nicht zu einem ganzheitliche(re)n Verständnis. «Zärtliches Sprechen» ist damit in der bisherigen Forschung insgesamt unzureichend bis gar nicht aufgearbeitet worden.

3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands «zärtliches Sprechen»: ‘Intimes Sprechen’ Given the centrality of romantic relationships, families, and friendships in the human social experience, it is no overstatement to say that affectionate communication is important to everyone. (Guerrero/Floyd 2006, 106)

Der Forschungsüberblick in Kapitel 2 hat gezeigt, dass bisher nicht klar ist, was unter «zärtlichem Sprechen» zu verstehen ist und welche sprachlichen Merkmale ggf. zu einer entsprechend abgegrenzten Modalität gehören. Dies liegt vor allem daran, dass die Linguistik «zärtliches Sprechen» bisher nicht mit Blick auf die Modalität als solche untersucht, ja gar konzipiert hat. Die vorliegende Arbeit möchte diese Forschungslücke schließen und somit zu einem ganzheitliche(re)n Verständnis des «zärtlichen Sprechens» beitragen. Dafür muss die Thematik auf ein theoretisches Fundament gestellt werden, welches erklärt, von wem, in welchen Situationen, aus welchen Gründen und mit welchen Funktionen «zärtlich gesprochen» wird – kurzum, was «zärtliches Sprechen» überhaupt ist. Erst auf dieser Basis können empirische Untersuchungen durchgeführt und schließlich Nachweise für typische Merkmale der Modalität erbracht werden. Im folgenden Kapitel soll daher eine theoretische (Neu-)Konzeption des Konzeptes «zärtliches Sprechen» erfolgen. Diese hat zum Ziel, die differentia specifica der Modalität zu ermitteln, um so die notwendige Grundlage für die wissenschaftliche Beschreibung und Untersuchung des «zärtlichen Sprechens» zu schaffen. Dabei wird nicht von bestimmten sprachlichen Formen ausgegangen, sondern vom Kontext. So werden die spezifischen Kontextfaktoren des «zärtlichen Sprechens» identifiziert und als Grundlage für dessen differentielle Definition genutzt (cf. Kapitel 3.1). In diesem Zusammenhang wird auch der Fachterminus ‘intimes Sprechen’ für die zu untersuchende Modalität eingeführt. Das ‘intime Sprechen’ wird daraufhin sprachtheoretisch verortet (cf. Kapitel 3.2). Aus der theoretischen Neukonzeption ergeben sich schließlich auch Konsequenzen für die empirische Untersuchung, die in Kapitel 3.3 dargestellt werden.

3.1 Von der Form zum Kontext: Definition des ‘intimen Sprechens’ auf Basis seiner spezifischen Kontextfaktoren Die vorliegende Arbeit soll die Grundlage dafür schaffen, «zärtliches Sprechen» als Modalität mit den ggf. dazugehörigen sprachlichen Merkmalen zu untersuchen. Dies bedeutet für die theoretische Konzeption, dass die Modalität des https://doi.org/10.1515/9783110772708-003

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

«zärtlichen Sprechens» gerade nicht anhand bestimmter sprachlicher Merkmale abgegrenzt werden kann – denn diese sollen ja erst das Ergebnis entsprechender Untersuchungen sein. Stattdessen muss ein Perspektivwechsel vollzogen werden: Statt von bestimmten «zärtlichen» Phänomenen in der Sprache auszugehen, muss ein spezifischer «zärtlicher Kontext» definiert werden, der das Auftreten einer bestimmten Gruppe von Phänomenen begünstigt. Ob eine Äußerung als «zärtlich» einzustufen ist, entscheidet demnach allein der Kontext. Erst anhand des «zärtlichen Kontextes» abgegrenzte Äußerungen können somit hinsichtlich ihrer ggf. besonderen sprachlichen Merkmale analysiert werden. Insofern als davon ausgegangen wird, dass der «zärtliche Kontext» dafür sorgt, dass SprecherInnen ihr sprachliches Verhalten bewusst anders als in anderen Kontexten gestalten, kann es sich bei diesem nicht um ein rein theoretisches Konstrukt handeln, das sich in der Wahrnehmung der SprecherInnen nicht wiederfindet. Stattdessen muss es bei der Abgrenzung des Kontextes «zärtlichen Sprechens» darum gehen, eine Konstellation aus Faktoren wissenschaftlich zu erfassen, die in der Erfahrungswelt der SprecherInnen sowieso bereits fest, wenn sicherlich auch deutlich diffuser, verankert ist. Mit dem Einnehmen einer kontextorientierten Perspektive auf das «zärtliche Sprechen» verlässt man zwangsläufig das angestammte Gebiet der Sprachwissenschaft: Das Phänomen «zärtliches Sprechen» soll ja gerade auf Basis einer Konstellation außersprachlicher Faktoren beschrieben werden, die das (sprachliche) Verhalten der SprecherInnen beeinflusst; Konzepte zur Beschreibung solcher Faktoren sind üblicherweise den Disziplinen der Psychologie und der Soziologie zugeordnet und weniger der Sprachwissenschaft selbst. Man kommt daher bei einer theoretischen (Neu-)Konzeption des «zärtlichen Sprechens» nicht umhin, einen Blick über den disziplinären Tellerrand zu werfen und sich mit Konzepten der Psychologie und Soziologie vertraut zu machen, mittels derer der «zärtliche Kontext» adäquat beschrieben werden kann. Dass die Verwendungskontexte einiger sprachlicher Phänomene, die dem «zärtlichen Sprechen» zugerechnet werden, teilweise bereits in Ansätzen beschrieben wurden (cf. Kapitel 2.2), bietet bereits eine erste Orientierung für die Abgrenzung der spezifischen Kontextmerkmale «zärtlichen Sprechens». So scheinen etwa die Beziehung zwischen den GesprächsteilnehmerInnen (z. B. Bekanntschaftsgrad, Bindung, Beziehungstyp), bestimmte Merkmale der Kommunikationssituation (z. B. «nicht-ernst», privat) sowie die Emotionen der SprecherInnen (z. B. Liebe, Zuneigung) offenbar an der Konfiguration des «zärtlichen Kontextes» beteiligt zu sein. Die Verknüpfung dieser bekannten Faktoren mit Konzepten aus der Psychologie und Soziologie lässt schließlich zwei zentrale Kontextbedingungen «zärtlichen Sprechens» identifizieren, die als dessen definitorische Merkmale dienen können: einerseits die ‘intime Beziehung’ zwischen den Gesprächspart-

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nerInnen, andererseits die ‘intime Situation’, in der sie kommunizieren. Was unter der ‘intimen Beziehung’ und der ‘intimen Situation’ zu verstehen ist, soll im Folgenden unter Rückgriff auf die soziologische und psychologische Forschungsliteratur ausgeführt werden.

3.1.1 Die ‘intime Beziehung’ Beziehungen sind ein wesentlicher Teil der menschlichen Natur: Menschen werden bereits in Beziehungen hineingeboren und sind fortan ihr gesamtes Leben lang eingeflochten in Beziehungsnetzwerke verschiedener Art, von Freundschaften über Familienbeziehungen, Paarbeziehungen bis hin zu Beziehungen in Arbeitskontext und Alltagsorganisation. Die Fähigkeit zur Ausbildung von Beziehungen ist angeboren, da aus evolutionärer Sicht das Knüpfen derselben dem Überleben der menschlichen Spezies dient (Argyle 1969, 49; Asendorpf/Banse 2000, 1; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 1). Menschliche Beziehungen lassen sich in ‘persönliche Beziehungen’ einerseits und in ‘Rollenbeziehungen’ andererseits unterscheiden. ‘Rollenbeziehungen’ sind funktionale und häufig temporäre Beziehungen, in denen die beteiligten Personen ersetzbar sind und sich die Interaktionsmuster aus den ausgefüllten sozialen Rollen, nicht aus den beteiligten Personen selbst ergeben (z. B. LehrerIn – SchülerIn oder VerkäuferIn – KundIn). Bei ‘persönlichen Beziehungen’ dagegen stehen die Personen als Individuen in ihrer Einzigartigkeit im Vordergrund. Hierdurch ist jede ‘persönliche Beziehung’ individuell und die beteiligten Personen grundsätzlich nicht ersetzbar, weshalb ‘persönliche Beziehungen’ auch eher auf Dauerhaftigkeit ausgelegt sind (Argyle 1969, 208; Oring 1984, 19; Asendorpf/Banse 2000, 7–10; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 6; Lenz 2009, 36–44). Einen besonderen Typ ‘persönlicher Beziehungen’ stellen wiederum ‘intime Beziehungen’ dar.36 Diese können zwischen LebenspartnerInnen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen weiteren Familienmitgliedern sowie zwischen einigen wenigen FreundInnen entstehen und stellen einen integralen und essentiellen Teil des menschlichen Erlebens dar. Für den/die EinzelneN sind sie ein Quell von Sicherheit, Wohlergehen und Freude – nicht zuletzt

36 Neben der Bezeichnung ‘intime Beziehungen’ bzw. intimate relationships (cf. z. B. Brehm et al. 2002; Fitness/Fletcher/Overall 2003) findet man häufig auch den Terminus close relationships (z. B. Guerrero/Floyd 2006; Simpson/Campbell 2013) in weitgehend synonymer Verwendung, der im Deutschen mit ‘enge (persönliche) Beziehungen’ wiedergegeben werden kann. Daub (1996) wählt im Anschluss an die Luhmann’sche Systemtheorie den Begriff ‘intime Systeme’.

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

deswegen verwenden Menschen üblicherweise viel Zeit und Energie auf die Pflege ‘intimer Beziehungen’ (Argyle/Henderson 1985, 54; Daub 1996, 126; Andersen/ Guerrero 1998, 310; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 10). ‘Intime Beziehungen’ heben sich damit in ihrer Funktion für den Menschen noch einmal deutlich von den übrigen ‘persönlichen Beziehungen’ ab. Diese zentrale Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten ‘persönlicher Beziehungen’ rechtfertigt auch die Annahme eines «zärtlichen Sprechens»: Analog zu den systematischen Unterschieden zwischen den zwei Arten ‘persönlicher Beziehungen’ finden sich diese Unterschiede vermutlich auch in der verbalen Kommunikation. So ist davon auszugehen, dass eine Person innerhalb einer ‘intimen Beziehung’ anders kommuniziert als innerhalb einer anderen ‘persönlichen Beziehung’. Diese Vermutung erscheint insofern besonders wahrscheinlich, als sie sich auf der nonverbalen Ebene der Kommunikation ebenfalls mit großer Deutlichkeit widerspiegelt (cf. Kapitel 3.1.1.6). Insofern als die ‘intime Beziehung’ damit als ein konstitutives Merkmal «zärtlichen Sprechens» identifziert wurde, gilt es, sich etwas intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, was ‘intime Beziehungen’ in Abhebung von anderen ‘persönlichen Beziehungen’ ausmacht. Tatsächlich weisen ‘intime Beziehungen’ über die grundlegenden Merkmale ‘persönlicher Beziehungen’ hinaus (z. B. Einzigartigkeit, Unersetzbarkeit, Dauerhaftigkeit) weitere Merkmale auf. So sind sie zusätzlich geprägt durch eine Beziehungskultur, Geheimwissen, spielerisches Verhalten, Bindung sowie bestimmte soziale Emotionen (Argyle 1969, 208; Asendorpf/Banse 2000, 20–29; Brehm et al. 2002, 4; Lenz 2009, 36–44).37 Auch diese Merkmale prägen damit grundlegend das «zärtliche Sprechen». Im Folgenden soll daher näher auf diese eingegangen werden (Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6). Abschließend soll in Kapitel 3.1.1.7 ein kurzer Überblick über die Beziehungstypen gegeben werden, in denen ‘intime Beziehungen’ üblicherweise entstehen. 3.1.1.1 Beziehungskultur Voraussetzung für die Entwicklung von ‘persönlichen’ und damit auch ‘intimen Beziehungen’ ist eine dauerhafte Verbindung mit wiederkehrenden Interaktionen. Daraus resultiert eine Sequenz von Interaktionsepisoden und in der Folge beziehungsspezifische Interaktions- und Verhaltensmuster, die sich mit zunehmender Beziehungsdauer immer weiter stabilisieren. ‘Persönliche’ und damit auch ‘intime Beziehungen’ sind daher im Gegensatz zu ‘Rollenbeziehungen’ 37 Die aufgeführten Merkmale variieren je nach Quelle leicht in ihren Bezeichnungen und/ oder Gruppierungen.

3.1 Von der Form zum Kontext

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durch eigene, beziehungsspezifische Interaktionsmuster geprägt. Diese Interaktionsmuster werden Teil einer für die Beziehung einzigartigen Beziehungskultur, einem «system of meanings created and maintained by its parties» (Baxter 1987, 262). Diese Beziehungskultur macht die Beziehung im Kern aus; sie konstituiert, bestätigt und verstärkt die Beziehung (Wood 1982, 76–84; Oring 1984, 19–28; Adamzik 1984, 138; Sluckin/Herbert/Sluckin 1986, 78; Baxter 1987, 261–265; Bendix 1987, 185; Bruess/Pearson 1997, 25–28; Asendorpf/Banse 2000, 3–7; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 6; Lenz 2009, 31; Duck/Usera 2014, 192). Zur Beziehungskultur gehören einerseits alltägliche Interaktionsroutinen und gemeinsame Rituale, d. h. vorgeschriebene, wiederkehrende Handlungsmuster. Diese durchziehen, teilweise subtil und unwillkürlich, teilweise bewusst und intentional, den gesamten Beziehungsalltag und können unterschiedlichster Art sein: Man kann z. B. jeden Mittwoch gemeinsam zum Yoga gehen, den Sommerurlaub jedes Jahr gemeinsam in Dänemark verbringen, regelmäßig eine bestimmte Fernsehsendung zusammen schauen, sich jedes Mal auf dieselbe Art begrüßen, immer zu einer bestimmten Uhrzeit anrufen, sich vor jedem Essen einen Kuss geben, eine wiederkehrende Aufgabenteilung beim Abspülen übernehmen, zum Essen eine bestimmte Sitzordnung einnehmen etc. Andererseits gehören zu einer Beziehungskultur auch Beziehungssymbole verschiedenster Art. Dies können Orte, historische Ereignisse, kulturelle Artefakte, Gesten oder Wörter (!) sein, die für die Beziehung eine besondere und eigene Bedeutung bekommen haben (cf. auch Kapitel 2.2.4). Klassischerweise verbindet man hiermit etwa ein gemeinsames Lieblingsrestaurant, ein vergangenes Urlaubsziel oder ein Musikstück («unser Lied»); ebenso gut können aber auch Kastanienbäume oder Wasabipaste von symbolischem Wert für die Beziehung sein, wenn sie in irgendeiner relevanten Verbindung zu deren Geschichte stehen. Häufig handelt es sich bei Beziehungssymbolen auch um Ereignisse und physische Objekte aus der Beziehungsgeschichte selbst (z. B. die Kennenlerngeschichte oder gemeinsame Fotos). Alle Aspekte der Beziehungskultur sind ein Produkt von Kommunikation: Die Beziehungskultur erwächst aus Kommunikation, wird mittels Kommunikation aufrechterhalten oder modifiziert und schließlich auch durch Kommunikation wieder aufgelöst. Das Kommunikationsverhalten, bestehend etwa aus bestimmten Blicken, Gebärden, Berührungen und verbalem Verhalten, kann sowohl Teil der gemeinsamen Interaktionsroutinen und Rituale sein als auch als Beziehungssymbol fungieren (Oring 1984, 20; Baxter 1987, 261, 266; Bruess/ Pearson 1997, 34–35; Lenz 2009, 56). Der größte Teil der Beziehungskultur ist auf private Situationen beschränkt (Oring 1984, 20; Bruess/Pearson 1997, 43; cf. auch Kapitel 3.1.2). Ihre konkrete Ausgestaltung ist zwar zum Teil angelehnt an gesellschaftliche Traditionen (z. B. Ringe als Beziehungssymbol oder das rituelle Feiern des Jahrestags mit

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

einer Flasche Champagner), insgesamt aber hochindividuell und daher nicht vorhersagbar (Oring 1984, 20, 22; Bell/Healey 1992, 307–308). Typischerweise unterliegt die Beziehungskultur zudem einer besonders hohen Dynamik. So ist einerseits zu beobachten, dass einige Routinen, Rituale und Symbole sich über lange Zeit halten und zum Teil ständig weiterentwickelt werden; andere wiederum sind eher ephemer, d. h. sie verschwinden genauso schnell wieder, wie sie entstanden sind. Im Vergleich zu kulturellen Praktiken größerer TrägerInnenschaften sind ephemere Praktiken deutlich zahlreicher, da bereits die Unterlassung durch zwei Personen zu ihrem Verschwinden führt, während dies bei kulturellen Praktiken mit größerer TrägerInnenschaft zunächst keinen Einfluss auf das Weiterbestehen hat (Wood 1982, 77; Oring 1984, 23). Die Beziehungskultur entsteht nicht nur automatisch, sondern hat auch eine Funktion für die Beziehung: Sie ist Ausdruck der Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit, indem sie den BeziehungsteilnehmerInnen ihre geteilten Werte, Einstellungen und Erfahrungen vor Augen führt. Damit fungiert sie wiederum als integraler Bestandteil der Gruppenidentität der Dyade (Wood 1982, 80; Oring 1984, 21; Baxter 1987, 263, 271–272; Bendix 1987, 183; Bruess/ Pearson 1997, 25–28). Diese ist – wie auch in anderen sozialen Gruppen – zentral für das Weiterbestehen und die Stabilisierung der Beziehung, denn eine Gruppe existiert nur solange, wie die beteiligten Personen sich als Mitglieder der übergeordneten Einheit identifizieren. Die beteiligten Personen müssen über die Vorstellung einer Kollektivität, über ein Wir-Gefühl verfügen. Neben geteilten Interessen und/oder Einstellungen spielen hierbei die Beziehungssymbole und die gemeinsamen Rituale und Verhaltensweisen eine besonders wichtige Rolle (Leisi 1978, 17; Reis/Shaver 1988, 384; Möhn 1998, 169; Hogg/Abrams 2003, 407; Worchel 2003, 485; Fisch 2004, 423; Knapp/Vangelisti 2005, 41; Lenz 2009, 31). Während die Beziehungskultur somit nach innen die Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit und Einzigartigkeit der Beziehung betont, schafft sie gleichzeitig auch Abgrenzung nach außen: «Das, was die ingroup bindet, trennt sie zugleich von der outgroup» (Kruse 1980, 172). Durch beziehungsspezifisches Verhalten werden die Individuen auch nach außen als abgegrenzte Einheit wahrgenommen, was nicht nur ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit verstärkt, sondern auch die Bereitschaft zu gemeinsamen Handlungen. Die Beziehungskultur wirkt damit im doppelten Sinne – einmal nach innen, einmal nach außen – stabilisierend auf die Beziehung (Kruse 1980, 172; Wood 1982, 80; Oring 1984, 21; Baxter 1987, 263, 271–272; Bendix 1987, 183; Reis/Shaver 1988, 384; Bruess/Pearson 1997, 25–28; Knapp/Vangelisti 2005, 41; Lenz 2009, 31). Dass ‘intime Beziehungen’ immer eine Beziehungskultur, also spezifische gemeinsame Verhaltensweisen und Symbole, aufweisen, erinnert an den aus der Soziologie stammenden, inzwischen aber auch weit über die Fachgrenzen

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hinaus rezipierten Begriff der community of practice. Das von Lave/Wenger (1991) geprägte Konzept bezeichnet eine besondere Form sozialer Kooperation, die fester Bestandteil im Alltag eines jeden Menschen ist, wobei jede Person zu mehreren communities of practice gehört (Wenger 1998, 7). Communities of practice lassen sich anhand bestimmter Merkmale von anderen sozialen Konstellationen abgrenzen (Wenger 1998, 72–85). Dies sind 1. eine regelmäßige Interaktion der Mitglieder («mutual engagement»), 2. eine geteilte Vorstellung über den Zweck der Verbindung («joint enterprise») und 3. eine Reihe kollektiver Merkmale zum Ausdruck der Gemeinsamkeit («shared repertoire»), die verschiedenster Art sein können: «The repertoire of a community of practice includes routines, words, tools, ways of doing things, stories, gestures, symbols, genres, actions, or concepts that the community has produced or adopted in the course of its existence» (Wenger 1998, 83). Typische Beispiele für communities of practice reichen von einem Familienverband über eine Kindergartengruppe, eine Rockband, eine FreundInnenclique, eine Projektarbeitsgruppe bis hin zu einem Tennisverein. Auch ‘intime Beziehungen’ weisen die drei konstitutiven Merkmale einer community of practice auf und können daher als solche gefasst und auch innerhalb des theoretischen Rahmens des Konzepts analysiert werden (cf. Kapitel 3.2 sowie z. B. Clancy 2016). 3.1.1.2 Geheimwissen ‘Intime Beziehungen’ zeichnen sich durch eine auf größtmöglicher Authentizität basierende, wechselseitige Öffnung zwischen zwei Individuen aus: Die beteiligten Personen vertrauen sich gegenseitig ihr Innerstes an – daher auch die Bezeichnung Intimität von lat. intimus ‘innerst, innen liegend’. Gängig ist in diesem Zusammenhang der Begriff der ‘Selbstenthüllung’ (engl. self-disclosure), ein Prozess, bei dem mit steigendem Vertrautheitsgrad immer privatere und persönlichere Informationen (mit-)geteilt werden, die Fremde nicht erfahren würden – es handelt sich damit um ein Geheimwissen, welches nur die beiden KommunikationsteilnehmerInnen teilen. Dieses kann in Fakten, Einstellungen, Verhaltensweisen oder Emotionen bestehen (Clark/Reis 1988, 628; Daub 1996, 122–126; Bombar/Littig Jr. 1996, 138; Asendorpf/Banse 2000, 24; Brehm et al. 2002, 138; Grossmann/Grossmann 2004, 586–587; Knapp/Vangelisti 2005, 252; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 91, 175; Duck/Usera 2014, 192–193). Anschaulich fassen lässt sich der Prozess der Selbstenthüllung im Rahmen der viel zitierten social penetration theory von Irwin Altman und Dalmas Taylor (Altman/Taylor 1973). Dieser zufolge verfügt jedes Individuum über mehrere levels of intimacy, die potentiell von anderen Personen durchdrungen werden können. Versinnbildlicht wird dies meist durch das Bild einer Zwiebel, bei der

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

die verschiedenen Zwiebelschichten für die – von außen nach innen – steigenden Intimitätsgrade stehen (cf. Abbildung 1).

Abbildung 1: Das Modell der social penetration nach Altman/Taylor (1973), Abbildung übernommen aus Guerrero/Andersen/Afifi (2007, 92).

Je weiter innen eine Schicht liegt, desto persönlicher und geheimer sind die mit ihr assoziierten Informationen. Zum äußeren Bereich gehören etwa biografische Informationen wie das Alter oder der Name, etwas weiter innen folgen dann Vorlieben hinsichtlich Kleidung, Essen oder Musik. Deutlich weiter innen liegen bereits persönliche Ziele und Überzeugungen. Sehr weit innen befinden sich wiederum persönliche Ängste und Fantasien, und ganz innen liegt schließlich der Kern der Persönlichkeit, das Konzept des eigenen Selbst. Die weiter außen liegenden Bereiche sind durch ein anderes Individuum leichter und schneller durchdringbar als die weiter innen liegenden. Je enger also die Beziehung wird, desto weiter dringt die andere Person nach innen in Richtung Kern, also in Richtung der geheimsten Informationen. Daher kann man bei einer intimer werdenden Beziehung auch vom «Abbau der interpersonalen Grenzen» (Kruse 1980, 96) sprechen. Gleichzeitig mit der Tiefe (depth) der enthüllten Informationen steigt auch die Breite (breadth) an, d.h. die Bandbreite der behandelten Themen pro Ebene wird größer. Allerdings wächst die Breite typischerweise schneller als die Tiefe.

3.1 Von der Form zum Kontext

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Mit Selbstenthüllungen können Menschen ihren sozialen Verkehr artikulieren und gestalten – bestimmen, wer als engster Freund, wer als lose Bekannte, wer als Fremde zu gelten hat. Die Zahl der Personen, die eine bestimmte Schicht durchdringen, nimmt nach innen sukzessive ab, da mit jeder Selbstenthüllung Verletzbarkeit gegeben ist: «Seele zieht sich zurück, um nicht gesehen und getroffen zu werden, und sehnt sich doch danach, gesehen und gewürdigt zu werden» (Schirrmeister 2004, 15; cf. auch Kruse 1980, 23, 174; Daub 1996, 124; Knapp/Vangelisti 2005, 253). Der Kern der Persönlichkeit und die direkt umliegenden Bereiche werden daher nur äußerst wenigen Personen offenbart – in diesen Fällen wird von ‘intimen Beziehungen’ gesprochen (cf. auch Kruse 1980, 33; Schirrmeister 2004, 23). Eine ‘persönliche Beziehung’ wird also erst dann zur ‘intimen’, wenn schützende Masken abgelegt werden und die BeziehungsteilnehmerInnen über besonders viel Geheimwissen übereinander verfügen.38 Die Verletzung des geteilten Geheimwissens kann sowohl für die Beziehung als auch für die beteiligten Individuen schwerwiegende, oder in den Worten Goffmans (1973, 129) «destruktive» Folgen haben. So kann es zum einen zum Verrat intimer Informationen durch eines der Beziehungsmitglieder kommen. Dieser Akt der Illoyalität hat fast zwangsläufig einen Vertrauensverlust zur Folge und führt nicht selten zur Aufgabe der ‘intimen Beziehung’ (Goffman 1973, 163–170; Schirrmeister 2004, 105–106). Ebenso kann es passieren, dass Dritte zu MitwisserInnen der geheimen Informationen oder Verhaltensweisen werden, indem sie – absichtlich oder unabsichtlich – in den geschützten Raum der ‘intimen Beziehung’ eindringen und die Anwesenden so quasi in flagranti erwischen (Goffman 1973, 190). Eine solche unfreiwillige Enthüllung von Geheimwissen gegenüber Außenstehenden ist für die «ertappten» BeziehungsteilnehmerInnen – und oft nicht weniger für die Eindringlinge – mit Gefühlen von Scham und Unsicherheit verbunden (Goffman 1973, 190–191). Es handelt sich schließlich bei den enthüllten Informationen und Verhaltensweisen um ein Wissen, das die Beteiligten gerade nicht als geeignet für ihre Selbstdarstellung

38 Selbst in ‘intimen Beziehungen’ kommt es allerdings nie zu einer vollkommenen Selbstenthüllung – einige Informationen werden auch hier für sich behalten, was sogar nachweislich die Beziehungszufriedenheit steigert (Brehm et al. 2002, 140; Schirrmeister 2004, 7, 53, 80; Knapp/Vangelisti 2005, 255; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 257). Georg Simmel (1908), der sich als einer der ersten SozialwissenschaftlerInnen mit ‘intimen Beziehungen’ beschäftigt hat, merkt dies bereits an: «So ist nun alles, was wir einem anderen mit Worten oder etwa auf sonstige Weise mitteilen, auch das Subjektivste, Impulsivste, Vertrauteste, eine Auswahl aus jenem seelisch-wirklichen Ganzen, dessen nach Inhalt und Reihenfolge absolut genaue Verlautbarung jeden Menschen – wenn ein paradoxer Ausdruck erlaubt ist – ins Irrenhaus bringen würde» (259).

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

nach außen halten und deswegen vor anderen verbergen (Goffman 1973, 129–154; cf. hierzu ausführlich auch Kapitel 3.1.2 und 3.3.1). Selbstenthüllung fördert nachgewiesenermaßen das Gefühl der Zuneigung (cf. Kapitel 3.1.1.5) sowie die Bindung (cf. Kapitel 3.1.1.4) zwischen den GesprächspartnerInnen, was sich wiederum auf den empfundenen Intimitätsgrad der Beziehung auswirkt (Reis/Shaver 1988, 372; Jamieson 1988, 8; Brehm et al. 2002, 138, 142–143; Schirrmeister 2004, 84). Dieser Effekt liegt unter anderem in der Natur des Geheimnisses begründet. Mit der Mitteilung eines Geheimnisses liefert man sich einer anderen Person aus – sie stellt sowohl eine Geste der Unterwerfung als auch ein Zeichen besonderer Wertschätzung dar (Schirrmeister 2004, 87). So verleiht das gemeinsame Geheimnis den BeziehungsteilnehmerInnen das Gefühl einer connivence, einer KomplizInnenschaft (Goffman 1973, 78; zum Terminus auch Hummel 1997; Eggert 2020). Ähnlich wie die MitwisserInnen in einem Kriminalfall nehmen sich die BeziehungsteilnehmerInnen als Verbündete wahr, die «gemeinsam unter einer Decke stecken». Dabei fühlen sie sich einander durch das Geheimwissen nicht nur besonders verbunden, sondern sehen sich gleichzeitig auch als deutlich abgetrennt von den Nichteingeweihten: Sie «zeugen von einer verschwörerischen Attitüde gegenüber den Nicht-Zugehörigen» (Schirrmeister 2004, 98). In Richtung der Außenstehenden vermittelt das Geheimnis diese Exklusivität unmissverständlich: «Das Geheimnis wird zu einem Besitz, von dem andere ausgeschlossen sind, und der dadurch Macht verleiht: So wird häufig das, was vor den Augen und Ohren anderer verborgen wird, von den anderen für etwas besonders Wertvolles gehalten» (Simmel 1908, 273; ähnlich auch Goffman 1973, 97, 130; Kruse 1980, 20; Schirrmeister 2004, 33–34, 42–45; Guerrero/Andersen/ Afifi 2007, 275). Das Geheimwissen dient also der sozialen Funktion der Konstitution und Stärkung der ‘intimen Beziehung’ sowohl nach innen als auch nach außen. In dieser Funktion steht es der Beziehungskultur (cf. Kapitel 3.1.1.1) nahe: Bei beiden Phänomenen geht es um eine Förderung des Zusammenhalts durch Gemeinsamkeit. Dass für die sukzessive Selbstenthüllung verbale Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt, liegt auf der Hand und wird von zahlreichen ForscherInnen betont (z. B. Brehm et al. 2002, 137; Schirrmeister 2004, 7; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 11, 175). 3.1.1.3 Spiel Spielerisches Verhalten ist angeboren, wie der weit verbreitete Begriff des ‘Spieltriebs’ verdeutlicht, und zentral für die kognitive, soziale und psychische Entwicklung von Menschen und Tieren. Angefangen vom Balgen und Herum-

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tollen über Imitations- und Rollenspiele bis hin zu Topfschlagen, Roulette oder Schach kann spielerisches Verhalten die verschiedensten Formen annehmen. Hilfreich für die Unterscheidung verschiedener Formen des Spiels ist das sog. ‘Spielekontinuum’ nach Caillois (2017) – der französischsprachige Originaltext stammt bereits von 1958. Diesem zufolge lassen sich spielerische Formen auf einer Skala zwischen den Polen paidia und ludus verorten, wobei paidia für sehr spontane und zwanglose Formen des Spiels steht, ludus dagegen für stärker formalisierte, regelbasierte Spiele (Caillois 2017, 52–69). Bei aller Vielfalt der Spiele teilen diese aber auch einige grundlegende Merkmale. So ist jedes Spiel «1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann [...]; 2. eine gesonderte Betätigung, die sich innerhalb [...] festgelegter Grenzen von Raum und Zeit vollzieht; 3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststehen [...]; 4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum [...] hervorbringt und die [...] in einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels; 5. eine geregelte Betätigung, die Vereinbarungen [...] unterworfen ist [...]; 6. eine fiktive Betätigung, die in Bezug auf das gewöhnliche Leben von dem spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit [...] begleitet wird» (Caillois 2017, 30–31; ähnlich auch Gray 2019, 84–87).

Die Wissenschaft hat sich bei der Erforschung spielerischen Verhaltens lange Zeit auf das Spiel unter Kindern und Tieren beschränkt und vor allem dessen Effekt auf die kognitive Entwicklung in den Vordergrund gerückt (Aune/Wong 2002, 279; Vleet/Feeney 2015, 630). Auch im Erwachsenenalter bleibt spielerisches Verhalten jedoch wichtig. Dabei sind es vor allem die außerordentlich vielfältigen und zum größten Teil bezeichnungslosen Formen der paidia, die im Erwachsenenalter fast ausschließlich in ‘intimen Beziehungen’ ausgelebt werden. Daher kann die Beobachtung nicht überraschen, dass «it is the spirit of play that strongly imprints the culture of the relationship» (Oring 1984, 27; ebenso Bendix 1987, 185; Baxter 1992, 337; Bruess/Pearson 1997, 35; Aune/ Wong 2002, 279), ebenso wenig die Feststellung von Leisi (1978): «Liebende verhalten sich in gewissem Sinne wie Kinder – Freud spricht einmal von der ‹kindischen Geste aller Verliebten›» (48; cf. auch Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 196; Vleet/Feeney 2015, 631). Von verschiedenen Formen des Neckens, Witzelns und Albernseins bis hin zu rollenspielerischen Aktivitäten (z. B. das Nachstellen von Tieren oder anderen Charakteren) kann das Spiel zwischen intim vertrauten Erwachsenen unterschiedlichste Formen annehmen (Baxter 1992, 337; Aune/Wong 2002, 279). Alle Formen umfassen sowohl verbale (!) als auch nonverbale Handlungen (Leisi 1978, 46–56; Dressler/Merlini Barbaresi

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1994, 196; Aune/Wong 2002, 280). Der begünstigende Effekt spielerischen Verhaltens auf die Beziehungsqualität konnte bereits in mehreren Studien empirisch nachgewiesen werden. So korreliert spielerisches Verhalten sowohl in Paar- als auch in Freundschaftsbeziehungen hoch mit der Beziehungszufriedenheit, mit der Zuneigung zur anderen Person sowie mit dem wahrgenommenen Intimitätsgrad der Beziehung (cf. z. B. Baxter 1992; Kopecky 1996; Aune/ Wong 2002; Vanderbleek 2005; Vanderbleek et al. 2011). Doch warum eignet sich gerade spielerisches Verhalten so gut zum Aufbau und zur Stärkung ‘intimer Beziehungen’? Hierzu konkurrieren mehrere Überlegungen. Einem verbreiteten Erklärungsansatz zufolge geht die Funktion spielerischen Verhaltens für ‘intime Beziehungen’ vor allem auf den simplen wie grundlegenden Umstand zurück, das Spielen Spaß macht: Spielerisches Verhalten ist für den Menschen eine Quelle angenehmer Emotionen wie Freude und Entspannung. Da solche Gefühlszustände zentral für die mentale und körperliche Gesundheit des Menschen sind, strebt dieser nach möglichst vielen Gelegenheiten, diese zu erleben (Martin 2007, 15, 124; Caillois 2017, 26). Von entscheidender Wichtigkeit für den Bereich der sozialen Beziehungen ist dabei vor allem die Tatsache, dass die Freude am Spiel in aller Regel von mehreren Personen geteilt wird: Gemeinsames Spiel bedeutet geteilte Freude – und die Momente geteilter Freude betonen die Gemeinsamkeit und stärken den Gruppenzusammenhalt. Damit hat das Spiel eine wichtige soziale Funktion für die Ausbildung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen (Martin 2007, 16–17, 114, 124). Dies gilt besonders auch für eine wichtige Unterform des Spiels, den Humor, und für das Lachen als dessen wichtigste physiologische Manifestation (Martin 2007, 15, 17). Andere Ansätze sehen die Funktion spielerischen Verhaltens für ‘intime Beziehungen’ konkreter: Spielerisches Verhalten sei vor allem deswegen so wichtig für ‘intime Beziehungen’, weil es den notwendigerweise entstehenden Spannungen zwischen den Beteiligten auf eine angenehme Weise entgegenwirke und diese so Konflikte umgehen können (Baxter 1987, 273; 1992, 337; Terr 1999; Aune/Wong 2002, 279; Knapp/Vangelisti 2005, 316; Martin 2007, 17, 115–116). Ebenso könne spielerisches Verhalten eine Möglichkeit bieten, Gedanken zu äußern, die man sonst für sich behalten würde: Es fungiere als «low-risk of safe communication strategy that allows parties to undertake a variety of actions that might otherwise prove embarrassing to the parties» (Baxter 1992, 337; ebenso Bendix 1987, 185; Aune/Wong 2002, 279; Knapp/Vangelisti 2005, 316; Martin 2007, 17). Das Spiel ist somit auch ein nützliches Verfahren zur Offenbarung persönlicher Informationen bei gleichzeitiger Gesichtswahrung. Einen weiteren Ansatz vertritt aus Sicht der Evolutionspsychologie Gray (2019). Er vermutet, dass spielerisches Verhalten die evolutionäre Voraussetzung für die Knüpfung sozialer Beziehungen zwischen Menschen überhaupt

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ist. Denn nur das Spiel vermag es, einen dominanz- und hierarchiefreien Raum zu schaffen, in dem die Beteiligten und ihre Handlungen ungefährlich, da «nicht ernst zu nehmen» sind. Nur auf diese Weise, so Gray (2019), wird überhaupt eine Annäherung zwischen Unbekannten möglich. In dieser Sicht wäre die Häufigkeit spielerischen Verhaltens in ‘intimen Beziehungen’ auch damit zu erklären, dass Menschen sich ihrem Gegenüber mittels spielerischen Verhaltens als harmlos, wohlgesonnen, freundlich und zugewandt präsentieren können. Damit einher geht aber auch Verletzlichkeit – was eine Erklärung dafür sein könnte, dass spielerisches Verhalten vor allem auf ‘intime Beziehungen’ beschränkt bleibt und in weiteren sozialen Beziehungen deutlich weniger stark ausgeprägt ist (cf. auch Kapitel 3.1.1.2). Schließlich wird zur Funktion spielerischen Verhaltens in ‘intimen Beziehungen’ auch vermutet, dass Menschen sich hierdurch vom sozialen Alltag entspannen können: «Play may alleviate daily stress by providing an escape from the hassles, conventionalities, and mundanities of everyday life» (Vleet/Feeney 2015, 634). So werden außerhalb ‘intimer Beziehungen’ insbesondere Formen der paidia üblicherweise als unseriös und kindisch aufgefasst (cf. auch die Benennung nach dem griechischen Wort παιδί ‘Kind’). In ‘intimen Beziehungen’ sind Menschen diesen Konventionen weniger unterworfen und können sich hier bedenkenloser auch von ihrer «spielerischen» Seite zeigen. In dieser Sicht steht das Spiel in enger Verbindung zu einer ‘intimen Kommunikationsumgebung’ (cf. Kapitel 3.1.2.1), da sich Personen nur hier auf eine Weise zeigen, die vor Dritten üblicherweise verborgen wird. Auch die Anmerkungen von Leisi (1978) – wenngleich er sich dabei auf romantische Paarbeziehungen beschränkt – weisen bereits in diese Richtung: «Das erfüllte Liebespaar ist ein Reservat, ein Stück unverzweckter Welt in einem Meer von Verzweckung» (50). Untersucht ist spielerisches Verhalten bisher nur in Paar- und Freundschaftsbeziehungen. Ob und in welcher Form es auch in weiteren ‘intimen Beziehungen’ auftritt (cf. zu den üblichen Beziehungstypen Kapitel 3.1.1.7) und wie es ggf. in Ausmaß, Form und Funktion zwischen den verschiedenen Beziehungstypen variiert, ist daher bisher unklar. 3.1.1.4 Bindung Der Begriff der ‘Bindung’ (engl. attachment39) bezeichnet das affektive Band zwischen zwei Personen zum Zwecke des Schutzes und der emotionalen Regu-

39 Im Englischen sind hier die eng verwandten Termini attachment und bond zu unterscheiden. Der Begriff bond hat eine größere semantische Extension als der Begriff attachment. So lässt sich bond im Grunde auf jedes engere persönliche Verhältnis zwischen zwei Menschen

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

lierung eines Individuums durch das andere. Zentral ist dabei das Verhältnis der Komplementarität: Während eine Person schutz- und nähebedürftig ist, spendet die andere Person den benötigten Schutz bzw. die benötigte Nähe. Das Bindungsbedürfnis ist ein universelles Primärmotiv des Menschen, d. h. für jeden Menschen besteht die biologische Notwendigkeit, mindestens eine Bindung aufzubauen, um Sicherheit zu erlangen und gegen seelischen Zusammenbruch geschützt zu sein. Bindungen haben damit Überlebenswert (Bowlby 1969, 223–264; Cassidy 1999, 14–15; Hazan/Zeifman 1999, 338, 343–348; Asendorpf/Banse 2000, 25; Brehm et al. 2002, 5; Grossmann/Grossmann 2004, 23, 69–73; Keller 2004, 110; Lohaus/Boll/ Lißmann 2004, 151; Ahnert 2004, 70; Taubner/Schröder/Nolte/Zimmermann 2017, 45–46; Kirchmann 2017, 80; Spangler/Reiner 2017, 25–26).40 Im Kindesalter hat ein Individuum normalerweise eine bis drei Bindungen. Die Bindung an die erste(n) Bindungsperson(en), üblicherweise die Eltern, entwickelt sich bereits im Verlauf des ersten Lebensjahres;41 dazu können Bindungen an Geschwister oder an weitere Betreuungspersonen kommen. Die Bindung an die Eltern und ggf. Geschwister besteht meist das ganze Leben über (Bowlby 1969, 265; Miall/Dissanayake 2003, 338; Grossmann/Grossmann 2004, 71). Ab der Adoleszenz verlieren die familiären Bindungen allerdings ihre zentrale Stellung und werden zunehmend durch enge freundschaftliche und später durch

anwenden, was auch in der deutschen Phrase eine (enge) Bindung zu jemandem haben/aufbauen zum Ausdruck kommt. Bei attachment dagegen geht es um das eng umschriebene Konzept der ‘(emotionalen) Bezugsperson’ und damit um ein Verhältnis, das ein Individuum lediglich zu sehr wenigen Personen (oft sogar nur zu einer einzigen) pflegt und das in der Psychologie eindeutig anhand bestimmter Parameter definiert ist. Attachment ist also eine spezifischere Form von bond und wird daher bisweilen auch als attachment bond bezeichnet. 40 Tatsächlich ist das Bindungsbedürfnis als solches primär und überlebenswichtig und nicht – wie lange angenommen – abgeleitet von anderen primären Bedürfnissen, etwa dem Nahrungs- oder Sexualbedürfnis (Bowlby 1969, 178–181, 214–216; Cassidy 1999, 3; Grossmann/ Grossmann 2004, 68, 78; Guerrero/Floyd 2006, 21; Bowlby 2009, 21; Spangler/Schieche 2009, 297; Spangler/Reiner 2017, 25). 41 In den Anfängen der Bindungstheorie galt die Ausbildung einer einzigen Bindung des Kindes, und zwar an seine Mutter, als zentrales Merkmal. Inzwischen wurde bestätigt, dass auch Väter die Rolle der Fürsorge- und Schutzperson vollumfänglich ausfüllen können. Empirisch vielfach und kulturübergreifend nachgewiesen ist aber, dass das Fürsorgesystem von Müttern insgesamt deutlich elaborierter ist als das von Vätern. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Mütter besonders anfangs in der Regel mehr Zeit mit dem Säugling verbringen als Väter. Nach wie vor ist die Bindung von Kindern an ihre Mütter daher auch oft stärker und über den Lebensverlauf stabiler als an ihre Väter, wenngleich sich in dieser Hinsicht seit den 1960erJahren eine kontinuierliche Annäherung abzeichnet (Sluckin/Herbert/Sluckin 1986, 90; Cassidy 1999, 14; Asendorpf/Banse 2000, 69–84; Grossmann/Grossmann 2004, 227, 348–349; Kindler/Grossmann 2004, 246–253; Lohaus/Boll/Lißmann 2004, 153).

3.1 Von der Form zum Kontext

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romantische Beziehungen ergänzt. Das Bindungsnetzwerk besteht in dieser Zeit üblicherweise aus bis zu fünf Personen. Nach der erfolgreichen Bewältigung der adoleszenten Entwicklungsaufgaben findet in der Regel ein Wechsel der primären Bindungsfigur statt: LebensgefährtInnen werden zur entscheidenden sicherheitsspendenden Bezugsperson. Im Erwachsenenalter ist ein Individuum an eine oder wenige Personen gebunden, meist nach einer klaren Folge der Präferenz (Hazan/Zeifman 1999, 338; Allen/Land 1999, 322–323; Taubner/Schröder/Bolte/Zimmermann 2017, 41–53). Spezielle genetisch prädisponierte Bindungs- und Fürsorgeverhaltensmuster sorgen dafür, die Bindungspersonen nah aneinanderzubringen und zu -halten, um so die Schutzfunktion zu gewährleisten.42 Das Bindungsverhaltenssystem wird vor allem im Falle subjektiv erlebter Bedrohungen oder Verunsicherungen aktiviert, z. B. bei Angst, Fremdheit, Enttäuschung, Trauer oder körperlichem Unwohlsein (z. B. Krankheit, Hunger, Müdigkeit, Schmerz), also bei Zuständen, die eine als unangenehm empfundene emotionale Erregung mit sich bringen. Zur Beendigung der emotionalen Erregung bedarf es des beruhigenden Fürsorgeverhaltens der Bindungsperson. Bei Babys und Kleinkindern ist das Bindungsverhalten am deutlichsten ausgeprägt. Unterscheiden lassen sich hier akustisches Verhalten (z. B. Weinen, Quengeln, Schreien, Rufen), nähesuchendes Verhalten (z. B. Arme-Entgegenstrecken, Nachfolgen, Suchen), Verhalten zur Herstellung von Nähe (z. B. Berühren, Anschmiegen) und Verhalten zur Aufrechterhaltung von Nähe (z. B. Festhalten, Anklammern, Festsaugen) (Bowlby 1969, 180, 244–257; Grossmann/Grossmann 2004, 72–81; Ahnert 2004, 68; Lohaus/Boll/Lißmann 2004, 151; Bowlby 2009, 22; Spangler/Reiner 2017, 26; Taubner/Schröder/Nolte/ Zimmermann 2017, 41). Mit zunehmendem Alter nehmen die Häufigkeit und die Intensität des unmittelbaren, «primitiven» Bindungsverhaltens kontinuierlich ab – trotzdem bleibt es als wichtiger Teil der Verhaltensausstattung des Menschen erhalten (Bowlby 1969, 261). Stattdessen wird das Bindungsverhalten – in Anpassung an kulturelle Normen – zunehmend indirekter und symbolischer: Statt durch Weinen wird es z. B. durch Seufzen oder Klagen gezeigt, statt des physischen Anklammerns erfolgen telefonisches und schriftliches Rufen oder

42 Ethologische Studien zeigen, dass das Bindungs- und Fürsorgeverhalten bei nahezu allen Säugetieren in ähnlicher Form auftritt und führen es daher auf evolutionsbiologische Adaptionsprozesse, letztendlich also auf die Verbesserung der Überlebenschancen durch Schutz in Gefahrensituationen, zurück (Bowlby 1969, 181–183; Sluckin/Herbert/Sluckin 1986, 77; Cassidy 1999, 4; Asendorpf/Banse 2000, 185; Argyle 2002, 29–49; Ahnert 2004, 63, 71; Keller 2004, 111; Guerrero/Floyd 2006, 21; Bowlby 2009, 21; Kindler 2009, 294; Spangler/Schieche 2009, 297; Taubner/Schröder/Nolte/Zimmermann 2017, 41; Spangler/Reiner 2017, 25).

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das Anführen sachlich-logischer Gründe (Grossmann/Grossmann 2004, 72, 75). Besonders die Möglichkeiten der Sprache erlauben eine solche Ausdifferenzierung der Bindungsverhaltensweisen. Bisher gibt es allerdings keine systematischen Versuche, das sprachliche Bindungsverhalten von Erwachsenen zu untersuchen (Asendorpf/Banse 2000, 199). Insofern als Bindung in der vorgeschlagenen Konzeption des «zärtlichen Sprechens» eines der zentralen Kontextmerkmale mitbegründet, können Untersuchungen der Modalität sicherlich auch einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke leisten. Das Bindungsverhalten aktiviert bei der Bindungsperson das ebenfalls phylogenetisch evolvierte Fürsorgeverhaltenssystem, welches sich in spezifischen Fürsorgeverhaltensweisen äußert. Dazu gehören die Herstellung von engem Körperkontakt, z. B. durch Aufnehmen, Auf-den-Arm-Nehmen, Halten oder Inden-Arm-Nehmen, beruhigende Berührungen wie Streicheln, Knuddeln oder Wiegen, eine freundliche und ruhige Mimik und Kopfbewegungen (z. B. langes Anblicken, Lächeln, sanftes Hin- und Herbewegen des Kopfes) sowie das sog. Schnutengesicht beim Wiegen (Stern 1974, 196–197; Sluckin/Herbert/Sluckin 1986, 33–34; Chong et al. 2003, 216; Grossmann/Grossmann 2004, 118, 123; Lohaus/Boll/Lißmann 2004, 148–155; Taubner/Schröder/Nolte/Zimmermann 2017, 41). Auch verschiedene Formen verbaler Kommunikation sind Teil des Fürsorgeverhaltenssystems. Wie beim verbalen Bindungsverhalten gilt allerdings auch hier, dass dieses kaum näher untersucht ist. In einigen Arbeiten wird zwar baby talk als typisches Merkmal des verbalen Fürsorgeverhaltens genannt (z. B. Sluckin/Herbert/Sluckin 1986, 33–34; Brehm et al. 2002, 132–133; Grossmann/ Grossmann 2004, 129; Lohaus/Boll/Lißmann 2004, 149; cf. auch Kapitel 2.2.5) – oft geschieht dies allerdings lediglich für die Sprache von Eltern gegenüber ihren (Klein-)Kindern, es werden nur die augenfälligsten Merkmale (und zwar meist in alltagssprachlicher und damit ungenauer Terminologie)43 benannt und dem baby talk wird lediglich eine akkomodativ-didaktische Funktion und keine Bindungsfunktion zugeschrieben, obwohl er doch gerade als Teil des Fürsorgeverhaltens und damit in direkter Verbindung zum Konzept der ‘Bindung’ behandelt wird. Weitere AutorInnen nennen als verbale Merkmale des Fürsorgeverhaltens zudem Ausdrucksformen von Trost, Ermutigung, Beruhigung, Unterstützung, Bestärkung etc. (Cassidy 1999, 10; Grossmann/Grossmann 2004, 69; Ahnert 2004,

43 So ist etwa in Sluckin/Herbert/Sluckin (1986, 33–34) von «zärtlichen Lauten» die Rede, bei Lohaus/Boll/Lißmann (2004, 149) von «übertriebener Intonation» und bei Grossmann/Grossmann (2004, 129–130) von einem «behutsam-liebevollen Redestil», der sich durch einen «liebevollen Stimmbereich» auszeichne.

3.1 Von der Form zum Kontext

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63; Taubner/Schröder/Nolte/Zimmermann 2017, 41). Diese Anmerkungen beziehen sich allerdings eher auf die inhaltliche als auf die formale Ebene verbaler Kommunikation. Das Fürsorgeverhaltenssystem wird nicht nur durch Bindungsverhalten aktiviert, sondern ist auch unabhängig davon wirksam. Besonders das ‘Kindchenschema’ wirkt – auch über das Kindesalter hinaus – als Schlüsselreiz für Fürsorgeverhalten. Darunter versteht man die bei Tieren und Menschen vorkommenden typischen kindlichen Proportionen wie z. B. ein großer und runder Kopf, große Augen, eine hohe Stirn, eine kleine Nase, dünne Augenbrauen, kurze und dicke Gliedmaßen, gerundete Körperformen und zappelnde Armbewegungen (Sluckin/Herbert/Sluckin 1986, 85; Zebrowitz/Brownlow/Olson 1992, 143; Cassidy 1999, 10–11; Guerrero/Floyd 2006, 21). Die Bindungstheorie wurde ab den 1950er-Jahren von dem Briten John Bowlby in die Psychologie eingeführt und in insgesamt drei grundlegenden Bänden (1969; 1973; 1980) dargestellt. Die empirische Fundierung erfolgte vor allem durch Bowlbys Kollegin Mary D. Ainsworth (z. B. Ainsworth/Boston 1952; Ainsworth/Bowlby 1954; Bowlby et al. 1956; Ainsworth/Ainsworth 1958); erst durch sie erreichte die Bindungstheorie ihren Durchbruch. Lange Zeit konzentrierte sich die Bindungsforschung ausschließlich auf die Untersuchung der frühen Mutter-Kind-, später der frühen Eltern-Kind-Bindung. Erst ab Ende der 1980er-Jahre wurde durch die Publikationen von Cindy Hazan und Phillip R. Shaver (vor allem Hazan/Shaver 1987; Shaver/Hazan/Bradshaw 1988; Shaver/ Hazan 1993) eine neue Forschungstradition inspiriert, die sich auf die partnerschaftliche Bindung konzentrierte. Ebenfalls ab den 1980er-Jahren untermauerten zudem zahlreiche biopsychologische Studien die Bindungstheorie, indem sie in Bindungssituationen eine enge Wechselwirkung physiologischer und psychologischer Parameter nachwiesen und so zeigen konnten, dass das Bindungsverhaltenssystem auch psychobiologisch im zentralen Nervensystem organisiert ist (cf. hierzu ausführlich Spangler/Schieche 2009 und Ditzen/Heinrichs 2017). Theoretisch weiterentwickelt und weitreichend empirisch fundiert hat die Bindungstheorie heute ihren festen Platz in der psychologischen Forschung und Diagnostik und ist weit über die Grenzen der Disziplin bekannt. 3.1.1.5 Emotionen Der Mensch lässt sich nicht allein aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten als besondere Spezies charakterisieren, sondern zeichnet sich durch eine reichhaltige, von den verschiedensten Emotionen bestimmte Gefühlswelt aus. Trotz der umfangreichen und teils weit zurückreichenden Beschäftigung mit Emotionen ist die Emotionsforschung angesichts der Komplexität des Untersuchungsge-

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genstandes noch immer weit entfernt von einer allgemein akzeptierten Definition und Konzeptualisierung im Rahmen einer umfassenden Theorie. Gegenwärtig beschäftigen sich unter anderem die Philosophie, die Psychologie, die Medizin, die (Neuro-)Biologie, die Anthropologie, die Soziologie, die Kommunikationswissenschaft und die Sprachwissenschaft mit Emotionen. Statt einer homogenen Forschungslage zeichnet sich dabei ein «geradezu chaotisches Bild bezüglich der Beschreibung bzw. Erklärung dieses Phänomenbereichs» (Schwarz-Friesel 2007, 55) ab. Einigkeit besteht insofern, als Emotionen Zustände hoher Erregung darstellen, die mit einer bestimmten Intensität, Qualität und Dauer einhergehen und in der Regel durch einen erkennbaren Stimulus ausgelöst werden. Die Erfahrung von Emotionen durch den Menschen hat eine kognitive, eine affektive, eine motivationale, eine physiologische und eine motorische Komponente. Die kognitive Komponente, die komplexe Appraisal-Prozesse (z. B. Relevanzbeurteilung, Attributionen) umfasst, ist die Voraussetzung für die folgenden Komponenten und wirkt maßgeblich auf diese ein. Die motorische Komponente, auch Ausdruckskomponente genannt, bezieht sich auf die verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen der Emotionen, welche für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse sind. Da es sich bei Emotionen um interne und damit rein subjektive Zustände des Menschen handelt, die zwar vom einzelnen Individuum körperlich und psychisch stark wahrgenommen werden, für andere jedoch nicht direkt sichtbar bzw. erkennbar sind, können sie nur über diese Ausdrucksmanifestationen beobachtet werden (Bowlby 1969, 104–105; Schwarz-Friesel 2007, 55–61; Knobloch/Metts 2013, 514; Ortner 2014, 14–15; Spangler/Reiner 2017, 26). Es kann sich auf der Ebene des wahrnehmbaren Ausdrucks von Emotionen sowohl um körperliche Zustände und damit um die physiologische Komponente (z. B. Schwitzen, Erröten, Erblassen, Pupillenerweiterung) als auch um kommunikative Verhaltensweisen nonverbaler, paraverbaler sowie verbaler Art handeln. Die paraverbale und nonverbale Ebene – man denke z. B. an drohende Gesten, einen gesenkten Kopf, Lächeln, Schreien, eine zitternde Stimme oder eine erhöhte Lautstärke – sind für die Vermittlung von Emotionen besonders geeignet und wirkungsvoll, wohl weil sie zum Großteil nur schwer kontrollierbar sind und dadurch ggf. auch «override efforts at impression management» (Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 172; cf. auch Barry 1981, 325–326; Fiehler 1990, 25; Locke 1993, 64; Bombar/Littig Jr. 1996, 139; Andersen/Guerrero 1998, 314; Argyle 2002, 105, 117; Brehm et al. 2002, 127; Schirrmeister 2004, 8–9; Schwarz-Friesel 2007, 57 sowie Kapitel 3.1.2.1). Eine besonders große Bedeutung kommt bei der Dekodierung von Emotionen der Mimik zu; sie wird von Menschen als Hauptinformationsquelle zu den Emotionen des Gegenübers genutzt (Brehm et al. 2002, 128–129; Argyle 2002, 109, 217; Guer-

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rero/Andersen/Afifi 2007, 172; Ditzen/Heinrichs 2017, 125).44 Dennoch werden Emotionen häufig auch – vor allem begleitend – über verbale Repräsentationsformen enkodiert; sie erhalten eine bestimmte sprachliche Repräsentation und werden somit zumindest zum Teil für andere explizit mitteilbar (cf. auch Kapitel 2.2.6). Zur Klassifikation der verschiedenen Emotionen existieren bereits zahlreiche unterschiedliche Ansätze, die je eigene Ordnungskriterien zugrunde legen. Häufig herangezogen werden Gesichtsausdrücke, peripher-physiologische Reaktionen, kognitive Prozesse, Handlungstendenzen und Gehirnprozesse, was jeweils sehr unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt (cf. auch Ortner 2014, 21). Insofern ist grundsätzlich keine Klassifikation von Emotionen «wahrer» als eine andere. Sehr verbreitet ist eine Kategorisierung mittels der Parameter ‘Intensität’, ‘Dauer’ und ‘Qualität’. Die Emotionen werden dabei nach ihrer Konfiguration der Merkmale ‘Qualität’ (angenehme oder unangenehme Emotionen), ‘Intensität’ (Skala zwischen intensiv und nicht intensiv) und ‘Dauer’ (permanent oder nicht permanent) beschrieben und gruppiert. Zum Teil wird darüber hinaus das Merkmal ‘Aktivierungsgrad’ miteinbezogen, also das Ausmaß, in dem die Emotion als erregend bzw. beruhigend empfunden wird. Eine funktionsorientierte Kategorisierung von Emotionen erfolgt dagegen typischerweise anhand der folgenden Klassen: 1. soziale Emotionen, d. h. Emotionen, mit denen Menschen ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen definieren (z. B. Liebe, Neid, Mitleid), 2. Emotionen, die Menschen auf sich selbst beziehen (z. B. Scham, Reue, Stolz), 3. Emotionen, die durch bestimmte situative Faktoren ausgelöst werden (z. B. Freude, Ärger, Sorge) sowie 4. Emotionen, die als Reaktion auf eine Bedrohung entstehen (z. B. Erschrecken, Furcht) (Schwarz-Friesel 2007, 62–71; Ortner 2014, 23–25). ‘Intime Beziehungen’ sind besonders stark durch Emotionen geprägt: «Close relationships are, without a doubt, the genesis of people’s most heart-rending experiences of emotion» (Knobloch/Metts 2013, 514; cf. auch Fitness/Fletcher/Overall 2003, 269–270; Guerrero/Floyd 2006, 107). Spezifisch sind dabei vor allem bestimmte soziale Emotionen. Diese können als angenehm (z. B. Liebe, Zuneigung, Freude, Dankbarkeit), aber auch als unangenehm empfunden werden (z. B. Eifersucht, Angst um die andere Person, Trauer um die andere Person, Sehnsucht nach der anderen Person) (Asendorpf/Banse 2000, 6; Guerrero/Floyd 2006, 109–110; Lenz 2009, 35, 209). Dass ausgerechnet diese Emotionen ‘intime Beziehungen’ be-

44 Die Herausbildung von Emoticons und Emojis in der schriftlichen Nähekommunikation (cf. auch Kapitel 3.2.1.3) verdeutlicht anschaulich diese große Bedeutung der nonverbalen und dabei insbesondere der mimischen Signale für die Vermittlung von Emotionen (Brehm et al. 2002, 127).

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

gleiten, hat einen Grund: Sie tragen entscheidend dazu bei, dass die beteiligten Personen ihre Beziehung aufrechterhalten wollen und sich aktiv dafür einsetzen. So wirken vor allem angenehme Emotionen (z. B. Freude, Glück), wenn die Personen beisammen sind, und führen dadurch dazu, dass die Personen beieinander bleiben wollen. Bei einer Trennung dagegen wirken vor allem unangenehme Gefühle wie Sehnsucht und Einsamkeit, da diese dazu führen, dass die Personen wieder Nähe zueinander herstellen wollen. Dieser Zusammenhang ist die Folge eines evolutionären Adaptionsprozesses: Die Aufrechterhaltung ‘intimer Beziehungen’ ist mit angenehmen Gefühlen verbunden, weil dies letztlich dem Überleben des/der Einzelnen dient(e) (Cassidy 1999, 6; Grossmann/Grossmann 2004, 67, 73; Schwarz-Friesel 2007, 53–54; Spangler/Reiner 2017, 26).45 Besonders grundlegend für ‘intime Beziehungen’ sind die genuin sozialen Emotionen ‘Liebe’ und ‘Zuneigung’: «Feelings such as love and liking are the foundation of close relationships» (Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 116; cf. auch Taraban/Hendrick/Hendrick 1998, 332). Beide Emotionen teilen die Merkmale der positiven Evaluation, der Freude an gemeinsamer Zeit, des Vertrauens, der Bewunderung und des Gefühls der Gemeinsamkeit. Die Emotion ‘Liebe’ hebt sich von ‘Zuneigung’ nicht allein durch den Intensitätsgrad ab, sondern ist darüber hinaus charakterisiert durch ihren Anspruch auf Exklusivität, einen hohen Grad der Abhängigkeit von der anderen Person sowie die Bereitschaft zur Aufopferung für die andere Person (Argyle/Henderson 1985, 96; Asendorpf/Banse 2000, 24; Fitness/Fletcher/Overall 2003, 264; Knapp/Vangelisti 2005, 221–224; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 116, 130). ‘Zuneigung’ und ‘Liebe’ scheiden sich damit letztlich am Merkmal der ‘Bindung’ (cf. Kapitel 3.1.1.4). ‘Liebe’ scheint also mehr das emotionale Korrelat von ‘Bindung’ zu sein als eine davon unabhängige Emotion.46

45 Der Zusammenhang zeigt sich auch anhand physiologischer Emotionsparameter: Beim Zusammensein bzw. Wiedersehen mit der intim vertrauten Person ist eine verminderte Aktivität der psychobiologischen Stresssysteme (z. B. Blutdruck, Herzrate, Körpertemperatur) sowie eine Oxytocin-Ausschüttung messbar (Ditzen/Heinrichs 2017, 127–128). Nach einer Trennung dagegen lassen sich die damit verbundenen unangenehmen Emotionen etwa durch Cortisolreaktionen, Herzfrequenzakzeleration und eine eingeschränkte Immunfunktion beobachten (Spangler/Schieche 2009, 301). 46 Bereits Bowlby (1969, 104–106, 209) hat die Emotion ‘Liebe’ in Verbindung mit dem Bindungsverhaltenssystem gebracht, und auch Asendorpf/Banse (2000, 22–23) und Grossmann/ Grossmann (2004, 71) betonen den Zusammenhang zwischen ‘Liebe’ und ‘Bindung’, wenn sie sagen, dass die Ausbildung einer Bindung als sich verlieben, die Aufrechterhaltung einer Bindung als jemanden lieben beschrieben wird. Für einen umfassenden Überblick über das Konzept ‘Liebe’ in der Sozialpsychologie cf. z. B. Brehm et al. (2002, 219–252) und Fehr (2013).

3.1 Von der Form zum Kontext

69

Angesichts der enormen Relevanz bestimmter sozialer Emotionen für ‘intime Beziehungen’ sind in ihnen besonders zahlreiche und vielfältige Emotionsmanifestationen sowohl nonverbaler Art (cf. auch Kapitel 3.1.1.6) als auch verbaler Art (cf. auch Kapitel 2.2.6) erwartbar. Diese Erwartung ergibt sich aber nicht nur aus der besonderen Qualität und Quantität der für ‘intime Beziehungen’ spezifischen Emotionen, sondern auch daraus, dass Emotionen einen besonders wichtigen Teil des Geheimwissens (cf. Kapitel 3.1.1.2) darstellen. ‘Intime Beziehungen’ sind ja gerade der Ort, an dem Emotionen offen ausgedrückt und thematisiert werden, während sie außerhalb dieser Beziehungen Manifestationsregeln (display rules) unterliegen und insgesamt eher emotionale Neutralität geboten ist (cf. auch Kapitel 3.1.2). Dies erklärt sicherlich auch die wiederholt nachgewiesene positive Korrelation zwischen dem Ausmaß gegenseitiger Emotionsvermittlung und dem empfundenen Intimitätsgrad der Beziehung (cf. z. B. Andersen/Guerrero 1998, 315; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 174). 3.1.1.6 Nonverbale Kommunikation Dass in ‘intimen Beziehungen’ nonverbale Kommunikation eine wichtige Rolle spielt, wird in der Forschung vielfach betont: «Nonverbal behaviors are extremely powerful in conveying intimacy» (Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 17; ebenso z. B. Salazar et al. 1980, 51; Fiehler 1990, 25; Taraban/Hendrick/Hendrick 1998, 342; Brehm et al. 2002, 127; Guerrero/Floyd 2006, 3, 85; Clancy 2016, 5). Dies liegt z. B. daran, dass die für ‘intime Beziehungen’ so wichtige ‘Bindung’ ganz entscheidend über die Herstellung von körperlicher Nähe erreicht wird (cf. Kapitel 3.1.1.4); ein weiterer Grund liegt in der hohen Relevanz von Emotionen in ‘intimen Beziehungen’, welche ebenfalls vorrangig über nonverbale Signale kommuniziert werden (cf. Kapitel 3.1.1.5). Besonders die Emotion ‘Liebe’ wird fast ausschließlich über nonverbale Signale und Handlungen (z. B. Berührungen, Blickkontakt, gemeinsame Zeit, Unterstützung etc.) vermittelt (Taraban/Hendrick/ Hendrick 1998, 343). Zu den konkreten Merkmalen der nonverbalen Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ liegen – anders als für die verbale Kommunikation – gleich zwei umfassende und recht aktuelle Analysen aus dem angloamerikanischen Raum vor, und zwar Close encounters. Communication in relationships (2007) von Laura K. Guerrero, Peter A. Andersen und Walid A. Afifi sowie Nonverbal communication in close relationships (2006), ebenfalls von Laura K. Guerrero in Zusammenarbeit mit Kory Floyd. Ergänzende Hinweise liefern vor allem Brehm et al. (2002) sowie das Grundlagenwerk zur nonverbalen Kommunikation von Argyle (2002). Den genannten Veröffentlichungen zufolge ist ein eigenes, spezifisches Repertoire nonverbaler Signale für die Interaktion in ‘intimen Beziehungen’ typisch.

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Anhand dieser besonderen nonverbalen Signale erkennen Außenstehende üblicherweise binnen kürzester Zeit, ob es sich bei zwei Personen um eng Vertraute handelt oder nicht (Brehm et al. 2002, 127). Guerrero/Andersen/Afifi (2007) bezeichnen dieses «special set of behaviors» (17) im Anschluss an Patterson (1973) als nonverbal immediacy cues. Hierbei handelt sich um eine Sammelbezeichnung, bei der auf eine Differenzierung der verschiedenen Signale nach Funktionen verzichtet wird, geschweige denn eine Zuordnung der einzelnen Merkmale zu den verschiedenen Spezifika ‘intimer Beziehungen’ (cf. Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6) vorgenommen wird. Stattdessen vermitteln die nonverbal immediacy cues laut den AutorInnen eine Vielzahl von Konzepten gleichzeitig, etwa Liebe, Zuneigung, Wärme, Intimität, Nähe, Schutz oder Fürsorge. So kann z. B. eine Umarmung, das Tätscheln des Arms, das Streichen über das Haar oder das Handhalten je nach Situation große Zuneigung, aber auch Fürsorge oder Beruhigung signalisieren (Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 178; cf. auch Argyle 2002, 66, 357). Guerrero/Floyd (2006) sprechen ihrerseits von affection behaviors, was terminologisch einen stärkeren Bezug zum Aspekt der Emotionen (cf. Kapitel 3.1.1.5) beinhaltet. Eine detaillierte Differenzierung der einzelnen nonverbalen Signale in ‘intimen Beziehungen’ nach den ihnen zugrundeliegenden Beziehungsmerkmalen scheint jedoch auch ihnen zufolge weder möglich noch sinnvoll zu sein. Allerdings sehen sie die affection behaviors explizit als «an extension of the nurturant behaviors people are first exposed to as children» (105), also als Verhaltensweisen, die auf das Fürsorgeverhalten (und Bindungsverhalten) in der frühen ElternKind-Beziehung zurückgehen (cf. Kapitel 3.1.1.4). Diese würden demnach nicht mehr nur als Bindungs- oder Fürsorgeverhaltensweisen genutzt, sondern im Sinne einer Bedeutungserweiterung für die gesamte ‘intime Beziehung’. Die wichtigsten Kanäle der nonverbalen Kommunikation sind a) Mimik und Blickverhalten, b) Gestik und Körperhaltung sowie c) Proxemik und Berührung. Die verschiedenen Kanäle entfalten ihre Wirkung vor allem durch die Kombination ihrer Ausprägungen und können daher im Grunde nur in ihrer Gesamtheit adäquat analyisert werden: «One cue at a time […] cannot provide us with much understanding of the richness of meaning which is communicated. Rather, what must be examined is the combination of cues across structural classification schemes which work together to provide consensually shared meaning» (Noels/Giles/Le Poire 2003, 233; ebenso Argyle 2002, 354). Was die nonverbale Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ besonders deutlich von derjenigen in anderen (persönlichen und nicht persönlichen) Beziehungen abhebt, ist der Bereich c) Proxemik und Berührung (Brehm et al. 2002, 132; Guerrero/Floyd 2006, 88). Grundsätzlich gilt hier: Je näher sich zwei Personen physisch zueinander positionieren, desto enger ist in der Regel ihre Beziehung (Little 1965, 237–247; Patterson 1973, 97–109; Argyle 2002, 120,

3.1 Von der Form zum Kontext

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285–290; Brehm et al. 2002, 132; Guerrero/Floyd 2006, 90–91, 112; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 17, 173). Bereits 1966 hat der Anthropologe Edward T. Hall in seinem grundlegenden Werk The hidden dimension vier verschiedene Distanzzonen identifiziert, die bei der Kommunikation zweier Individuen wirksam sind und auf den Intimitätsgrad ihrer Beziehung hinweisen: die Intimdistanz, die persönliche Distanz, die soziale Distanz und die öffentliche Distanz. Die Begrifflichkeiten zeigen bereits auf, dass eine Annäherung in die persönliche Distanzzone nur denjenigen vorbehalten ist, zu denen eine ‘persönliche Beziehung’ besteht und die Annäherung in die Intimdistanz nur solchen, zu denen eine ‘intime Beziehung’ besteht. Die absolute Ausdehnung der Intimdistanz variiert interkulturell und beginnt in Nord- und Mitteleuropa und Nordamerika ab ca. 50 cm, in Lateinamerika z. B. etwas später. Dass zwei Personen innerhalb der jeweiligen Intimzone miteinander interagieren, ist damit ein besonders spezifisches und wichtiges Merkmal nonverbaler Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ (Brehm et al. 2002, 132). Die Zone der Intimdistanz ist eng verbunden mit dem Bereich der Berührungen, insofern als Berührungen gewissermaßen als maximale Annäherung in die bzw. sogar als Überschreitung der Intimdistanzzone aufgefasst werden können (Guerrero/Floyd 2006, 88). So verwundert es nicht, dass ‘intime Beziehungen’ sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht nicht nur durch eine geringe Interaktionsdistanz, sondern auch durch ein hohes Maß an Berührungen gekennzeichnet sind (Argyle 2002, 268; Brehm et al. 2002, 131; Guerrero/Floyd 2006, 112; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 17, 173). Körperkontakt stellt gemeinsam mit der Intimdistanz sogar einen der entscheidenden kommunikativen Akte zur Definition einer ‘persönlichen Beziehung’ als ‘intim’ dar: «Touch is a signal in the communication process that, above all other communication channels, most directly and immediately escalates the balance of intimacy» (Guerrero/Floyd 2006, 88; cf. auch Kruse 1980, 163; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 173; Clancy 2016, 5). Die Berührungen in ‘intimen Beziehungen’ zeigen sich in verschiedensten Formen. Sie reichen vom Auflegen der Hände (etwa auf ein Bein oder um die Hüfte) und dem Tätscheln einzelner Körperteile über das Händehalten und Einhaken der Arme bis hin zum Streicheln, Kraulen, Umarmen, Küssen, Lecken, Beißen und zu sozialer Körperpflege (Kruse 1980, 163; Argyle 2002, 120, 267–268; Guerrero/Floyd 2006, 88–101). Durch Variationen hinsichtlich Dauer, Intensität und berührtem Körperteil sind hier vielfältige Nuancierungen möglich, die typischerweise auf verschiedene Typen ‘intimer Beziehungen’ (cf. Kapitel 3.1.1.7) hinweisen und/oder situationsbedingt gebraucht werden. Hierbei spielt das kulturelle Umfeld eine wichtige Rolle. So ist die genaue Bedeutung einer einzelnen Berührungsform stark kulturabhängig, und in einigen Kulturen sind grundsätzlich mehr Berührungen üblich als in anderen. Daher wird zwischen kontaktreichen Kulturen (z. B. arabi-

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

scher Raum, Lateinamerika, Südeuropa, einige Regionen Afrikas) und kontaktarmen Kulturen (z. B. Nordeuropa, Nordamerika, Asien) unterschieden (Argyle 2002, 279; Guerrero/Floyd 2006, 101). Die kulturelle Prägung gilt auch für die Verwendungssituationen von Berührungen: Je nach Kultur werden einige Berührungen in der Öffentlichkeit toleriert und dienen im Sinne von tie signs (Goffman 1971, 56) zur Signalisierung des engen Verhältnisses nach außen (z. B. Händehalten oder Einhaken der Arme), andere dagegen sind gänzlich auf den privaten Raum beschränkt (Goffman 1971, 56; Kruse 1980, 163; Argyle 2002, 268–271; Guerrero/Floyd 2006, 88–101; Duck/Usera 2014, 190; cf. auch Kapitel 3.1.2). Auf der Ebene a) Mimik und Blickverhalten gehören zum spezifischen Repertoire der nonverbal immediacy cues etwa gegenseitiges Anlächeln, Zwinkern sowie direkter und anhaltender Blickkontakt (Patterson 1973, 97–109; Kruse 1980, 152; Argyle 2002, 120, 220; Brehm et al. 2002, 130; Guerrero/Floyd 2006, 87, 112; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 17, 174). Verschiedene empirische Studien zeigen, dass die Quantität und Qualität des Lächelns sowie die Dauer und Ausrichtung des Blickkontakts neben dem proxemischen Verhalten besonders wichtige Signale zum Ausdruck einer ‘intimen Beziehung’ sind: «Gazing and smiling help define the relationship two people share once interaction begins» (Brehm et al. 2002, 130; cf. auch Guerrero/Floyd 2006, 88; Guerrero/Andersen/ Afifi 2007, 172). Je länger der Blickkontakt und je frontaler die gegenseitige Ausrichtung der Augen ist, desto enger ist also in der Regel die Beziehung. Weitere typische Merkmale sind der Schmollmund bzw. das Schnuteziehen (engl. pouting, sp. hacer pucheros, cf. auch Kapitel 3.1.1.4), das «Augenaufreißen», das sich als Imitationsversuch des Kindchenschemas (cf. Kapitel 3.1.1.4) interpretieren lässt, sowie weitere «child-like behaviors», die von Guerrero/Floyd (2006, 111) aber leider nicht näher spezifiziert werden. Auch ein «demure downward gaze» (Guerrero/Floyd 2006, 112), dem im Deutschen wohl der «Hundeblick» entspricht, ist für ‘intime Beziehungen’ typisch. Diese Art von Blickverhalten ist auch bei Tieren zur Signalisierung von Unterwürfigkeit zu beobachten und wird auch bei Menschen – ähnlich wie wohl die erhöhte Grundfrequenz (cf. FN 25) – dazu genutzt, dem Gegenüber die eigene Ungefährlichkeit, Harmlosigkeit und Zugewandtheit zu verdeutlichen (cf. Argyle 2002, 30). Dasselbe gilt wohl auch für das Lächeln, das durch das Zurückziehen der Lippen anatomisch zur Erhöhung der Stimmfrequenz führt. Bei Primaten dient das Lächeln bzw. Grinsen aus ebendiesem Grund als Signal der Unterwerfung und wird wohl im Anschluss daran auch von Menschen genutzt, um Freundlichkeit zu signalisieren: «Smile or lip corner retraction is used to express attitudes or emotions variously characterized as ‘submissive’, ‘contentment’, ‘desirous of the goodwill of the viewer’, etc.; originally, it served to modify the resonances of accompanying vo-

3.1 Von der Form zum Kontext

73

calizations; retracting the mouth corners in effect shortens the vocal tract and raises its resonances» (Ohala 1984, 6–7; cf. auch Argyle 2002, 40, 48). Auf der Ebene b) der Gestik und Körperhaltung schließlich sprechen für das Vorliegen einer ‘intimen Beziehung’ z. B. eine frontale Körperausrichtung zueinander, ein Nach-vorne-Lehnen sowie eine grundsätzlich offene und entspannte Körperhaltung (Patterson 1973, 97–109; Argyle 2002, 120, 259; Guerrero/Floyd 2006, 90–91, 112; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 17, 173–174). Hierbei ist die Ausrichtung der Körper, besonders in Kombination mit der Proxemik, besonders ausschlaggebend: Wenn zwei Personen in Intimdistanz frontal zueinander ausgerichtet sind, ist ihre Beziehung in der Regel ‘intim’ (Patterson 1973, 97–109; Brehm et al. 2002, 132; Argyle 2002, 120). Dazu kommen charakteristische Kopfbewegungen: ein häufiges Kopfnicken beim Miteinandersprechen sowie bisweilen eine leichte Neigung des Kopfs nach rechts oder links (Guerrero/Floyd 2006, 111). Der nonverbalen Ebene wird nicht nur für ‘intime’ Kommunikation, sondern auch für die menschliche Kommunikation im Allgemeinen eine deutlich größere Relevanz als der verbalen Kommunikation eingeräumt. Schätzungen zum Anteil der durch nonverbale Kommunikation übermittelten Bedeutung in einer Konversation bewegen sich zwischen 60% und über 90%. Zahlreiche Studien haben nachgewiesen, dass nonverbale Signale stärkere Wirkung als gleichbedeutende verbale Signale haben und dass Menschen bei inhaltlichen Widersprüchen zwischen nonverbalen und verbalen Signalen eher ersteren Glauben schenken (Argyle 2002, 33, 341; Guerrero/Floyd 2006, 2; Kanik 2016, 423). Das liegt einerseits daran, dass die überwiegende Zahl nonverbaler Verhaltensweisen nur schwer oder gar nicht kontrolliert werden kann (Taraban/ Hendrick/Hendrick 1998, 342; Argyle 2002, 342; Schirrmeister 2004, 8–9; Guerrero/Floyd 2006, 2, 85; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 172), andererseits auch daran, dass nonverbale Signale – mit wenigen Ausnahmen – in einem nicht-arbiträren Verhältnis zu ihrer Bedeutung stehen. Im Gegensatz zur Zeichenhaftigkeit der verbalen Mittel wirken sie als Ikone und erzielen damit eine stärkere Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit im Ausdruck (Argyle 2002, 19; Guerrero/ Floyd 2006, 6; Schwarz-Friesel 2007, 155; Wilce 2009, 43). Dieses enorme Potential nonverbaler Signale impliziert auch, dass sie in ‘intimen Beziehungen’ (und nicht nur dort) durchaus auch allein auftreten können und nicht zwingend von verbalen Signalen begleitet sein müssen. Wenn der verbale Kanal eingesetzt wird, dann eher in Ergänzung oder Begleitung zu nonverbalen Signalen, und zwar um die durch nonverbale Kanäle vermittelte Bedeutung noch zu unterstreichen oder aber zu maskieren. Dass nonverbale Kommunikation damit eindeutig «the predominant means of conveying meaning from person to person» (Guerrero/Floyd 2006, 2) ist – umso mehr in ‘intimen Beziehungen’ – , darf in einer Untersuchung wie

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

der vorliegenden, die sich in Theorie und Empirie auf die verbale Kommunikation und damit nur auf einen – und dabei sogar den weniger relevanten – Teil der Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ beschränkt, nicht unerwähnt bleiben. 3.1.1.7 Typen ‘intimer Beziehungen’ Beziehungen mit den in Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6 dargestellten Merkmalen kommen üblicherweise in bestimmten Beziehungstypen vor. Dies sind die Paarbeziehung, die Eltern-Kind-Beziehung und die Geschwisterbeziehung. Deutlich weniger häufig kommen ‘intime Beziehungen’ in Freundschaften sowie zwischen Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie (z. B. zwischen EnkelInnen und Großeltern) vor; theoretisch sind ‘intime Beziehungen’ aber sogar zu weiteren Personen möglich. Dies zeigt bereits, dass mit einem bestimmten Beziehungstyp im konkreten Fall nicht automatisch eine ‘intime Beziehung’ einhergehen muss. Vielmehr handelt sich bei den Bezeichnungen der Beziehungstypen um bloße Labels, ja um Modelle, mit denen bestimmte gesellschaftliche (und damit kulturell und historisch bedingte) Vorstellungen verbunden sind (cf. auch Linke/Schröter 2017, 12). Diese beruhen ursprünglich zwar ihrerseits auf der Verfestigung konkreter dyadischer Interaktionssysteme und sie geben Individuen auch Kriterien an die Hand, mittels derer diese ihre Beziehungen zu anderen Individuen qualitativ zu bestimmen versuchen; die Merkmale der Modelle müssen aber nicht auf jeden Einzelfall zutreffen, geschweige denn im selben Ausmaß – umso weniger in einem Zeitalter, das durch wachsenden Wertepluralismus und sinkende Normorientierung gekennzeichnet ist. So gibt es durchaus Eltern-Kind-Beziehungen, die fast ohne gegenseitiges Geheimwissen auskommen, und gerade im Erwachsenenalter können Eltern-Kind-Beziehungen sich so verändern, dass sie kaum oder gar nicht (mehr) als ‘intim’ eingestuft werden können. Ebenso werden durchaus Paarbeziehungen geführt, die keine Bindung oder Liebe (mehr) aufweisen – und Geschwisterbeziehungen insbesondere zwischen Erwachsenen sind sogar vergleichsweise häufig nicht (mehr) als ‘intime Beziehungen’ einzustufen (Daub 1996, 125, 134–135; Asendorpf/Banse 2000, 29; Brehm et al. 2002, 5; Knapp/Vangelisti 2005, 32–33; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 7; Clancy 2016, 3). Dennoch sind die eingangs genannten Beziehungstypen diejenigen, in denen es besonders häufig zu ‘intimen Beziehungen’ kommt und die daher trotz der Variabilität im Einzelfall in diesem Kapitel als ‘Typen intimer Beziehungen’ bezeichnet werden sollen. Dabei sollen nur Paarbeziehungen, Eltern-Kind-Beziehungen und Geschwisterbeziehungen als ‘Typen intimer Beziehungen (im engeren Sinne)’ bezeichnet werden, da in ihnen das Auftreten einer ‘intimen Beziehung’ den prototypischen Fall darstellt, während sie in den anderen genannten Bezie-

3.1 Von der Form zum Kontext

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hungstypen eher okkasionell auftritt. Ob in einem konkreten Einzelfall eine ‘intime Beziehung’ vorliegt, kann aber grundsätzlich nicht allein anhand des Beziehungstyps bestimmt werden, sondern nur, indem überprüft wird, ob die in Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6 vorgestellten Merkmale ‘intimer Beziehungen’ vorliegen. Wenngleich nun die Paarbeziehung, die Eltern-Kind-Beziehung und die Geschwisterbeziehung als ‘Typen intimer Beziehungen’ eingestuft wurden, weil sie typischerweise mehrere gemeinsame Merkmale aufweisen (nämlich die der Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6), so liegt doch auf der Hand, dass zwischen diesen Beziehungstypen in der Regel auch beträchtliche Unterschiede festzustellen sind. Da diese Unterschiede sogar oft als maßgeblicher wahrgenommen werden als die einenden Merkmale, widmen sich wissenschaftliche Untersuchungen oft lediglich einem einzelnen Beziehungstyp, wobei die Paarbeziehung mit Abstand am häufigsten untersucht wird (cf. Asendorpf/Banse 2000, 2; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 7 sowie auch Kapitel 2.2). Bei der Konzeption des «zärtlichen Sprechens» wird dies bewusst vermieden: «Zärtliches Sprechen» erstreckt sich auf das sprachliche Verhalten in allen ‘intimen Beziehungen’ im Sinne der Merkmale aus den Kapiteln 3.1.1.1 bis 3.1.1.6. Dabei ist es grundsätzlich nicht von Relevanz, mit welcher Bezeichnung der vorliegende Beziehungstyp belegt wird. Dennoch soll im Folgenden auch auf Unterschiede eingegangen werden, die zwischen den verschiedenen ‘Typen intimer Beziehungen’ üblicherweise vorliegen, da diese möglicherweise auch systematische Unterschiede im sprachlichen Verhalten zur Folge haben. Unterschiede zwischen den einzelnen ‘Typen intimer Beziehungen’ ergeben sich sowohl in der Qualität und Quantität der in Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6 besprochenen Merkmale als auch hinsichtlich weiterer Merkmale. Einige der unterscheidenden Merkmale werden in Tabelle 4 für die drei benannten ‘Typen intimer Beziehungen (im engeren Sinne)’ gegenübergestellt und nachfolgend mit einigen Erläuterungen versehen. Die Angaben basieren auf Argyle/ Henderson (1985), Hazan/Zeifman (1999), Cassidy (1999), Asendorpf/Banse (2000), Argyle (2002), Grossmann/Grossmann (2004), Knapp/Vangelisti (2005), Guerrero/Floyd (2006), Guerrero/Andersen/Afifi (2007), Lenz (2009) und Sydow (2017).

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Tabelle 4: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den ‘Typen intimer Beziehungen (im engeren Sinne)’. Paarbeziehung Eltern-Kind-Beziehung Geschwisterbeziehung Merkmale ‘intimer Beziehungen’ Beziehungskultur

+

+

+

Geheimwissen

+

+/-

+/-

Spiel

+

+/-?

+/-?

Bindung

+

+

+/-

Emotionen

+

+/-

+/-

nonverbale Kommunikation +

+/-

+/-

Weitere Merkmale Symmetrie

+



+/-

Altersähnlichkeit

+



+

Sexualität

+





Freiwilligkeit

+





Die Angaben «+», «-» und «+/-» in den einzelnen Tabellenfeldern stellen die Realität notwendigerweise stark vereinfacht dar, weshalb die einzelnen Zeilen etwas näher erläutert werden sollen: – Beziehungskultur: Wie in Kapitel 3.1.1.1 erläutert weisen alle ‘persönlichen Beziehungen’ zwingend eine Beziehungskultur auf, die sich aus der regelmäßigen Interaktion der beteiligten Individuen ergibt. Insofern wurden alle Felder mit «+» versehen. – Geheimwissen: Bei Eltern-Kind-Beziehungen und Geschwisterbeziehungen ist das Geheimwissen typischerweise weniger stark ausgeprägt als zwischen PartnerInnen, weswegen die Paarbeziehung mit «+» versehen wurde, die anderen beiden Beziehungstypen dagegen mit «+/-». Geschwisterbeziehungen sind meist allerdings noch durch etwas mehr Geheimwissen gekennzeichnet als Eltern-Kind-Beziehungen (Daub 1996, 132; Asendorpf/Banse 2000, 28). – Spiel: Wie in Kapitel 3.1.1.3 erwähnt ist spielerisches Verhalten bisher lediglich für Paar- und Freundschaftsbeziehungen untersucht worden, weshalb die Angaben für die Eltern-Kind-Beziehung und die Geschwisterbeziehung jeweils mit einem Fragezeichen versehen wurden und lediglich die Paarbeziehung eindeutig mit «+». Gerade in der Kindheit sind Eltern-Kind- und besonders Geschwisterbeziehungen für das Kind die Spielbeziehungen par

3.1 Von der Form zum Kontext







77

excellence – wie es im Erwachsenenalter aussieht, ist dagegen fraglich. Angesichts der engen Verbindung des spielerischen Verhaltens zum Geheimwissen (cf. Kapitel 3.1.1.2) liegt nahe, dass sich die Ausprägungen spielerischen Verhaltens in der (erwachsenen) Eltern-Kind- sowie Geschwisterbeziehung analog zu den Ausprägungen von Geheimwissen verhalten. Sie wären dann zwar vorhanden, jedoch in einem weniger starken Ausmaß als in der Paarbeziehung. Versuchsweise wurden daher beide Felder mit «+/-» belegt. Bindung: Bindung ist vor allem ein Merkmal der Eltern-Kind-Beziehung sowie der Paarbeziehung, weswegen diese Beziehungstypen mit «+» versehen wurden: «Full-blown attachments are observed almost exclusively in two kinds of social relationships – with parents and with romantic partners» (Hazan/Zeifman 1999, 340). In Geschwisterbeziehungen kommt Bindung zwar vor, bildet sich aber nicht immer aus, weshalb dieser Beziehungstyp mit «+/-» versehen wurde. Besonders ältere Geschwister übernehmen häufig eine fürsorgliche Rolle und werden so für ihre jüngeren Geschwister zu (zusätzlichen) Bindungspersonen (Cassidy 1999, 14). Emotionen: In Paarbeziehungen übersteigen die Emotionen üblicherweise auch die zu den eigenen Eltern oder Geschwistern, weshalb nur dieser Beziehungstyp mit «+» versehen wurde und die anderen beiden Beziehungstypen mit «+/-». Die Zuneigung zu Geschwistern ist dabei normalerweise noch etwas geringer als zu den Eltern (Argyle/Henderson 1985, 228; Knapp/Vangelisti 2005, 226). Ergänzend zu erwähnen ist die Besonderheit, dass die Liebe gegenüber den eigenen Kindern der Liebe gegenüber dem Partner/der Partnerin meist gleichkommt, nicht aber umgekehrt (Lenz 2009, 209). Aufgrund der fehlenden Differenzierung zwischen den Beziehungen von Kindern zu Eltern gegenüber den Beziehungen von Eltern zu Kindern in der Tabelle wurde das Feld der Eltern-Kind-Beziehung aber dennoch mit «+/-» belegt. Nonverbale Kommunikation: Nonverbale Kommunikation findet in der Paarbeziehung ihren stärksten und vielfältigsten Ausdruck und wurde hier daher mit «+» versehen. Besonders was Berührungen angeht, ergeben sich deutliche qualitative Unterschiede zu den anderen Beziehungstypen, die daher mit «+/-» belegt wurden. So ist es im Erwachsenenalter ausschließlich Paaren vorbehalten, sich intensiv und im Prinzip beschränkungsfrei zu berühren; Geschwister und Eltern-Kind-Dyaden berühren sich zwar stärker und häufiger als nicht intim Vertraute, die Klasse «erlaubter» Berührungen ist aber klar definiert und gegenüber der Paarbeziehung deutlich restringiert. Eine Besonderheit weist hier vor allem die frühe Eltern-Kind-Beziehung auf, in der intensiver Körperkontakt für Babys Überlebenswert hat und bis zur Pubertät üblich ist (Argyle 2002, 269).

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Symmetrie: Da Eltern für die Erziehung und Versorgung ihrer Kinder verantwortlich sind, ist für Eltern-Kind-Beziehungen ein hierarchisches Verhältnis prägend. Dieses dauert in der Regel auch über das Kindes- und Jugendalter hinaus an, weshalb das entsprechende Feld mit einem «-» belegt wurde.47 Bei der romantischen Paarbeziehung handelt es sich (idealerweise) um eine kooperative Beziehung des gegenseitigen Gebens und Nehmens, also um eine symmetrische Beziehung, die daher mit «+» gekennzeichnet wurde (Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 195; Hazan/Zeifman 1999, 337; Grossmann/Grossmann 2004, 586; Sydow 2017, 87). Geschwisterbeziehungen weisen sowohl symmetrische (hohe Vertrautheit, genaue Kenntnis) als auch asymmetrische Aspekte auf und wurden deshalb mit «+/-» belegt. Die asymmetrischen Aspekte sind besonders im Kindes- und Jugendalter wirksam und auf den (in der Regel) unterschiedlichen kognitiven Entwicklungsstand zurückzuführen. Im Erwachsenenalter ist die Entwicklung einer rein symmetrischen Beziehung zwischen Geschwistern möglich. Wie häufig und unter welchen Umständen dies der Fall ist, konnte bisher allerdings nicht gezeigt werden (Asendorpf/Banse 2000, 85–96). Altersähnlichkeit: In der Regel ist der Altersunterschied in Paarbeziehungen und Geschwisterbeziehungen deutlich kleiner als zwischen Eltern und Kindern (Asendorpf/Banse 2000, 52). Die Eltern-Kind-Beziehung wurde daher hinsichtlich des Merkmals der Altersähnlichkeit mit «-» versehen, die beiden anderen Beziehungstypen mit «+». Sexualität: Ein Alleinstellungsmerkmal der romantischen Paarbeziehung, das in keinem anderen Beziehungstyp auftritt, ist Sexualität (Guerrero/Floyd 2006, 112; Lenz 2009, 42).48 Aus diesem Grund wurde nur der Beziehungstyp der Paarbeziehung mit «+» versehen, die anderen beiden dagegen mit «-». Freiwilligkeit: Paare treten freiwillig in ihre Beziehung ein, während bei Eltern und Kindern sowie zwischen Geschwistern der Beziehungstyp durch die Verwandtschaftsverhältnisse vorgegeben ist (Argyle/Henderson 1985, 64; Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 7). Daher wurde nur die Paarbeziehung mit «+» belegt, die anderen Beziehungstypen dagegen mit «-».

47 Darüber, ob Eltern und ihre Kinder im weiteren Lebensverlauf in eine symmetrische Beziehung eintreten können, herrscht in der Forschung bisher Uneinigkeit. Beobachtbar ist zumindest eine Umkehr des Fürsorge- und Bindungsverhaltens bei Pflegebedürftigkeit der Eltern im höheren Lebensalter (Asendorpf/Banse 2000, 74, 154; Grossmann/Grossmann 2004, 70). 48 Sexualität ist nicht als Teil des Bindungssystems zu sehen, sondern als davon unabhängiges reproduktives Verhaltenssystem, das allerdings üblicherweise, aber nicht immer, von derselben Person bedient wird (Bowlby 1969, 230–238; Shaver/Hazan/Bradshaw 1988, 86–97; Hazan/Zeifman 1999, 348; Grossmann/Grossmann 2004, 586; Sydow 2017, 87).

3.1 Von der Form zum Kontext

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Die vorangegangenen Erläuterungen mögen aufgezeigt haben, dass sich die Realität der ‘intimen Beziehungen’ als deutlich komplexer darstellt, als Tabelle 4 suggerieren könnte. Sie ist sogar noch variabler, als bisher angedeutet wurde. So variieren Beziehungen eines Beziehungstyps nicht nur aufgrund der eingebrachten Persönlichkeiten von Dyade zu Dyade in hohem Maße, sondern es gibt auch noch zahlreiche weitere Faktoren, die systematisch Einfluss auf die Beziehungsmerkmale ausüben, die in diesem Kapitel aber bisher höchstens am Rande Erwähnung gefunden haben. So hängt die konkrete Ausgestaltung einer einzelnen Beziehung von Faktoren wie dem Geschlecht oder Gender, dem Alter, der Beziehungsdauer, dem Altersabstand, der Anzahl der Kinder, dem vorherrschenden Beziehungs- bzw. Familienmodell und zum Teil der sexuellen Orientierung ab. So braucht wohl kaum weiter ausgeführt zu werden, dass es einen Unterschied für die Art der Beziehung macht, ob in einer Eltern-KindBeziehung das Kind gerade geboren oder bereits erwachsen ist, ob ein Liebespaar im TeenagerInnen- oder im Rentenalter ist oder ob eine Geschwisterbeziehung aus zwei gleichaltrigen Mädchen oder zwei Jungen mit einem Altersabstand von 10 Jahren besteht. So soll schließlich deutlich geworden sein, dass es sich bei den Kategorisierungen einzelner Beziehungstypen notwendigerweise um Vereinfachungen handelt, die lediglich zentrale Tendenzen aufzeigen können. Trotz und dank der vereinfachenden Darstellung in Tabelle 4 lässt sich somit schließlich zweierlei anschaulich ablesen: einerseits, dass die aufgeführten Beziehungstypen in der Regel wichtige gemeinsame Merkmale haben, und zwar diejenigen, die sie als ‘Typen intimer Beziehungen’ charakterisieren – sie können damit grundsätzlich unter einem gemeinsamen Dach behandelt werden; andererseits, dass die drei Beziehungstypen bei aller Gemeinsamkeit doch deutlich unterschiedliche Merkmalskonfigurationen aufweisen und daher wiederum nicht in allen Aspekten gleichzusetzen sind. Eine Abstufung der Intimität nach Beziehungstyp deutet sich dabei an: Paarbeziehungen scheinen am intimsten zu sein, ihnen folgen Eltern-Kind-Beziehungen und dann Geschwisterbeziehungen (cf. auch Daub 1996, der zwischen der Paarbeziehung als ‘intimem System erster Ordnung’ und familiären Beziehungen als ‘intimen Systemen zweiter Ordnung’ unterscheidet). Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die vermutete Abstufung schlagen sich möglicherweise auch auf sprachlicher Ebene beim «zärtlichen Sprechen» nieder – für die nonverbale Ebene konnte dies bereits gezeigt werden (cf. z. B. Andersen/Guerrero 1998, 320; Guerrero/Floyd 2006, 103).

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

3.1.2 Die ‘intime Situation’ Bisher wurde «zärtliches Sprechen» auf Basis der sozialen, nämlich ‘intimen Beziehung’ zwischen den SprecherInnen definiert. Nicht jede Form von Sprache in ‘intimen Beziehungen’ ist allerdings auch «zärtliches Sprechen». Einen großen Teil der Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ machen Alltagsgespräche aus. Sie umfassen z. B. Small Talk, das Rekapitulieren der Tagesereignisse oder Tratsch (Taraban/Hendrick/Hendrick 1998, 344; Andersen/Guerrero 1998, 316; Duck/Usera 2014, 191). Solche Gespräche sind – obgleich häufig vernachlässigt – ungemein wichtig für eine Beziehung: «[They give] the relationship its form and its life and so provide the recognizable continuity to the experience of individuals as they continue to believe day to day that they are ‹in› a relationship» (Duck/Usera 2014, 191; ebenso Clancy 2016, 51). Alltagsgespräche sind jedoch nicht dezidiert «zärtlich», sondern lediglich ‘informell’ und ‘(konzeptionell) gesprochen’ (für eine Abgrenzung dieser Konzepte cf. Kapitel 3.2.1.2 und 3.2.1.3). Die Kontextbedingung der ‘intimen Beziehung’ ist für die erzielte differentielle Definition des «zärtlichen Sprechens» also noch nicht ausreichend. Das Merkmal, das das «zärtliche Sprechen» hinreichend von ähnlichen Modalitäten abgrenzen lässt, ist die ‘intime Situation’. So liegt «zärtliches Sprechen» erst dann zweifelsfrei vor, wenn nicht nur die soziale Beziehung, sondern auch die Kommunikationssituation eine ‘intime’ ist (cf. auch Hopper/Knapp/Scott 1981, 23). ‘Intim’ ist eine Situation dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Die Kommunikationsumgebung ist ‘intim’, d. h. in erster Linie privat. Bereits in den vorangegangenen Kapiteln hat sich die Relevanz dieser Kontextbedingung gezeigt, wenn davon die Rede war, dass Manifestationen der Merkmale ‘intimer Beziehungen’ oft und teilweise sogar qua natura auf private Orte beschränkt sind (cf. auch Knapp/Vangelisti 2005, 126). Was genau allerdings unter einer ‘intimen Kommunikationsumgebung’ zu verstehen ist, soll in Kapitel 3.1.2.1 erläutert werden. 2. Die Handlung ist ‘intim’, d.h. die GesprächspartnerInnen befinden sich gerade in oder unmittelbar vor der Ausübung einer Handlung, die auf ‘intime Kommunikationsumgebungen’ beschränkt ist. Um welche Art von Handlungen es dabei geht, soll in Kapitel 3.1.2.2 näher ausgeführt werden. Erst wenn also neben der ‘intimen Beziehung’ auch die beiden genannten Situationsmerkmale gegeben sind, wird die Intimität der Beziehung zum zentralen Merkmal der Kommunikation, d.h. es wird Intimität kommuniziert. Erst in diesen Fällen kann und soll von «zärtlichem Sprechen» gesprochen werden. Die Abgrenzung von «zärtlichem Sprechen» erfolgt damit also sowohl auf Basis der sozialen Beziehung zwischen den SprecherInnen als auch auf Basis der Kommunikationssituation.

3.1 Von der Form zum Kontext

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3.1.2.1 Die ‘intime Kommunikationsumgebung’ Menschen kommunizieren an den verschiedensten Orten – in Restaurants, in Hörsälen, in Schlafzimmern, im Supermarkt, in U-Bahnen, in Fahrstühlen, in Behörden oder auf der Straße. Jede Kommunikationsumgebung weist dabei eine bestimmte Merkmalskombination auf, die dazu führt, dass Menschen sie in einer bestimmten Weise wahrnehmen. Diese Merkmalskombination setzt sich jeweils aus vier zentralen Komponenten zusammen: 1. der natürlichen Umgebung, d. h. z. B. den Lichtverhältnissen, der Feuchtigkeit, der Temperatur oder dem Geräuschpegel; 2. den architektonischen und gestalterischen Merkmalen, d. h. z. B. der Raumgröße und -form, dem Baumaterial oder der Wandfarbe; 3. den beweglichen Objekten wie z. B. Möbeln oder Dekorationsartikeln sowie 4. der An- bzw. Abwesenheit weiterer Personen. Die Merkmalsgefüge, die sich aus den verschiedenen Ausprägungen dieser Komponenten ergeben, können sowohl hemmend als auch förderlich für bestimmte Formen der Kommunikation sein. So gibt es Umgebungen, die eher förderlich für «zärtliche» Kommunikation sind, und andere, die eher hinderlich sind. Die Wahrnehmung der verschiedenen Kommunikationsumgebungen erfolgt auf mehreren Dimensionen, von denen die wichtigsten ‘Formalität’, ‘Wärme’, ‘Privatheit’, ‘Bekanntheit’ und ‘Distanz’ sind (Knapp/Vangelisti 2005, 122–138). Für ‘intime Kommunikationsumgebungen’ ist, wie bereits mehrfach angeklungen, besonders die Dimension der ‘Privatheit’ ausschlaggebend. Eine private Kommunikationsumgebung zeichnet sich dadurch aus, dass sie abgeschirmt ist von der allgemeinen Gesellschaft und damit uneingeschränkten Schutz vor der Kenntnisnahme und Bewertung durch Dritte bietet. Typischerweise handelt es sich daher bei einer privaten Kommunikationsumgebung um einen physisch isolierten Ort, der nicht ohne Weiteres von Außenstehenden betreten werden kann und den intim Vertrauten so Kontrolle über die Grenze zwischen ihnen und den anderen verleiht (Westin 1970, 32; Kruse 1980, 19–27, 128; Knapp/Vangelisti 2005, 125; Guerrero/Floyd 2006, 104). Die Abgeschlossenheit des privaten Ortes nach außen wird von Menschen typischerweise durch physische oder symbolische Barrieren hergestellt und verdeutlicht (Guerrero/Andersen/Afifi 2007, 258; ebenso Daub 1996, 126). Dazu werden sowohl architektonische und gestalterische Elemente als auch bewegliche Objekte genutzt. Der private Raum par excellence ist der eigene Wohnraum – was sich nicht zuletzt anschaulich in der Tatsache zeigt, dass die Lexeme Heim und geheim etymologisch zusammengehören (Schirrmeister 2004, 31). Der Wohnraum wird durch Hecken, Mauern, Zäune, Türen etc. besonders stark und unmissverständlich vor Einblicken und unkontrolliertem Zugang durch Dritte geschützt (Goffman 1973, 104–107; Kruse 1980, 17; Schirrmeister 2004, 16; Knapp/Vangelisti 2005, 125;

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Hansson 2008, 16).49 Innerhalb der Wohnung gibt es wiederum Räume, die für Dritte eher zugänglich sind (etwa das Wohnzimmer), und solche, zu denen diese meist keinen Zugang haben (etwa das Schlafzimmer oder das Badezimmer). Nicht zufällig liegt daher das Wohnzimmer eher in der Nähe des Eingangs und wird eher aufgeräumt und dekoriert – Schlafzimmer und Badezimmer befinden sich dagegen in der Regel im hinteren Bereich der Wohnung und werden weniger für Außenstehende hergerichtet; zusätzlich zum privaten Badezimmer verfügen viele Wohnungen und Häuser sogar über ein zusätzliches kleines Bad extra für GästInnen (Goffman 1973, 113–114). Jedoch auch offenere, ja sogar öffentliche Orte können als privat empfunden werden – der entscheidende Faktor ist auch hier, dass die Kommunikationssituation nicht einfach von Dritten betreten oder belauscht werden kann. Wenn dies allerdings der Fall ist, wird die Kommunikation nicht mehr nur an den direkten GesprächspartnerInnen, sondern auch an den Außenstehenden ausgerichtet (audience design, cf. auch Kapitel 3.2.1.2) und verliert damit ihren ‘intimen’ Charakter (Bell 1984, 145–204; Knapp/Vangelisti 2005, 122–123). Neben der Dimension der ‘Privatheit’ spielt auch die der ‘Distanz’ eine wichtige Rolle für «zärtliche» Kommunikation. Wenn eine Kommunikationsumgebung so beschaffen ist, dass sie – etwa durch physische Barrieren oder die Anordnung der Möbel – eine größere räumliche Distanz zwischen den KommunikationspartnerInnen erfordert, wirkt dies eher hinderlich auf ‘intime’ Kommunikation. Umgebungen, die dagegen räumliche Nähe zwischen den GesprächspartnerInnen erlauben, sind als Setting für ‘intime’ Kommunikation besser geeignet, vor allem weil sie die für ‘intime Beziehungen’ so wichtigen Berührungen (cf. Kapitel 3.1.1.6) möglich machen (cf. auch Knapp/Vangelisti 2005, 127). Auch die weiteren genannten Wahrnehmungsdimensionen können förderlich oder hinderlich für «zärtliche» Kommunikation sein. So sind ‘informellere’, ‘wärmere’ und ‘bekannte’ Umgebungen geeigneter für «zärtliche» Kommunikation als ihre Gegenstücke, was erneut die besondere Eignung der eigenen Wohnung (und dort vor allem der gemütlicher eingerichteten, informelleren Räume wie Schlaf- oder Wohnzimmer) verdeutlicht. Ob «zärtliche» Kommunikation stattfindet, entscheidet sich jedoch nicht in erster Linie an diesen Umgebungsmerkmalen, sondern zentral am Merkmal der ‘Privatheit’. Doch warum beschränken Menschen ihre «zärtliche» Kommunikation überhaupt auf ‘intime Kommunikationssituationen’? In der allgemeinen Gesellschaft 49 Fenster wiederum schaffen zwar eine Verbindung zwischen privatem und öffentlichem Raum, allerdings geht «das teleologische Gefühl dem Fenster gegenüber fast ausschließlich von innen nach außen: Es ist für das Hinaussehen da, nicht für das Hineinsehen» (Simmel 1908, 34) und kann daher in der Regel auch mittels Gardinen oder Jalousien verdeckt werden.

3.1 Von der Form zum Kontext

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versucht jede Person, ihre Selbstdarstellung, d. h. den Eindruck und das Wissen, das andere von ihr haben, zu kontrollieren. Indem sie bewusst bestimmte Aspekte ihres Selbst zeigt und andere verbirgt, gewinnt sie Sicherheit für sich (Goffman 1973, 104; Schirrmeister 2004, 11, 65, 77–78). So wird sie in öffentlichen Situationen in der Regel versuchen, sich in einem für sie möglichst günstigen Licht darzustellen, indem sie sich sozialen Konventionen unterwirft. Handlungen, die der erzielten Selbstdarstellung zuwiderlaufen, werden dagegen vermieden. Dies betrifft sowohl verbale als auch verschiedenste nonverbale Handlungen wie Gestik, Kleidungsstil, Haltung, Statussymbole etc. Der kanadische Soziologe Erving Goffman (1922–1982) prägte für dieses menschliche Verhalten den Begriff des impression management und vergleicht dieses mit dem Theaterspielen, was bereits der Titel der deutschen Übersetzung seines Standardwerks Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1973) verdeutlicht. Menschen handeln ihm zufolge in der Öffentlichkeit wie DarstellerInnen, die eine Rolle spielen – teilweise auch im Ensemble (z. B. ein Liebespaar in der Öffentlichkeit); die weiteren InteraktionspartnerInnen sind ihr Publikum und die Umgebung ihre Bühne (1973, 18–19, 78–79). Goffman (1973, 104) unterscheidet die Bühne dabei in Vorder- und Hinterbühne: Die Vorderbühne entspricht dem öffentlichen, für alle sichtbaren Geschehen. Hier wissen Menschen, dass sie beobachtet werden (können) und spielen deshalb ihre Rolle. Die Hinterbühne dagegen ist nur für Eingeweihte zugänglich. Hier fühlen sich Menschen unbeoachtet und so «kann sich der Darsteller entspannen; er kann die Maske fallen lassen, vom Textbuch abweichen und aus der Rolle fallen» (Goffman 1973, 104–105; cf. auch Schirrmeister 2004, 71–73). ‘Intime Kommunikationsumgebungen’ sind das Beispiel schlechthin für eine solche Hinterbühne. Menschen machen sich hier weniger Gedanken, wie ihre Handlungen wirken und haben Gelegenheit zur Ausübung derjenigen Handlungen, die sie eben nicht für geeignet für ihre Selbstdarstellung nach außen (impression management) halten (cf. auch Kapitel 3.1.2.2).50 Daub (1996) spricht in diesem Zusammenhang von «enthemmter Kommunikation» (129). Pedersen (1997), der Menschen nach den Funktionen von ‘intimen Kommunikationsumgebungen’ für ihr Leben befragte, bekam ebenso Antworten wie «express my emotions freely», «loosen my inhibitions», «relax», «protect myself from what others say» oder «break social norms» (152). Man kann also in ‘intimen Kommunikationsumgebungen’ man selbst sein und Abstand finden von sozialer Stimulation. Das ortsabhängige Verhalten

50 Die zentrale Bedeutung des impression management für den Menschen zeigt sich z. B. an der Beliebtheit von Reality-Shows, Talk-Shows und Formaten mit versteckter Kamera, da die Personen hier typischerweise die Gelegenheit zum impression management versäumen und «aus der Rolle fallen». Die menschliche Neugier an authentischer Privatheit anderer Personen kann damit gestillt werden (Kruse 1980, 57; Schirrmeister 2004, 11–12, 91).

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zwischen Vorder- und Hinterbühne zeigt sich dabei nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für die ‘intime Dyade’, deren gemeinsames Verhalten nach außen Goffman (1973, 78–79) als ‘Ensemble’ beschreibt: «Die Vertrautheit kommt meist nur dann zum Ausdruck, wenn das Publikum nicht anwesend ist, denn sie übermittelt von den Personen einen Eindruck, der meistens nicht mit dem übereinstimmt, den man beim Publikum erwecken will» (Goffman 1973, 117). ‘Intime Kommunikationsumgebungen’ sind damit auch ein zentrales Kontextmerkmal des «zärtlichen Sprechens». Die vorangegangenen Ausführungen mögen zudem verdeutlicht haben, dass die Existenz ‘intimer Kommunikationsumgebungen’ von immenser Wichtigkeit für den Menschen ist, denn nur hier wird das Individuum in seiner Individualität sichtbar und respektiert (cf. auch Daub 1996, 129). So ist es nicht überraschend, dass das Bedürfnis nach ‘intimen Kommunikationsumgebungen’ ein universelles Grundbedürfnis des Menschen ist, das schon in der Kindheit besteht und dessen Fehlen bewusst als Mangel erlebt wird (Westin 1970, 13; Kruse 1980, 19, 57, 139, 145; Pedersen 1997, 147; Brehm et al. 2002, 122; Schirrmeister 2004, 16). 3.1.2.2 Die ‘intime Handlung’ Interessanterweise beschränkt sich die Diskussion über Privatheit bzw. ‘intime Situationen’ meist auf den Aspekt der Zugangskontrolle (cf. Kapitel 3.1.2.1). Nur selten wird jedoch darauf eingegangen, was eigentlich hinsichtlich des Zugangs kontrolliert werden soll – was also eigentlich die schützenswerten ‘intimen Handlungen’ sind. Ganz allgemein erlaubt eine ‘intime Kommunikationsumgebung’ die Kontrolle über Ressourcen, die einem Individuum oder einer Gruppe gehören. Es kann sich dabei um materielles Privateigentum, um Handlungen oder um Informationen handeln – sie alle sind ein Besitz, den man für sich behält oder freiwillig mit anderen teilt. Wie im vorangegangenen Kapitel bereits angedeutet ist der Rückzug in die private, ‘intime Kommunikationsumgebung’ vor allem verbunden mit bestimmten Verhaltensweisen, den ‘intimen Handlungen’, die nicht vor der allgemeinen Gesellschaft gezeigt werden: «Verhaltensweisen, die nicht für jedermanns Augen und Ohren bestimmt sind, weil ihre Entdeckung nicht nur den ‹Täter› beschämen müsste, sondern auch für den Beobachter oder Lauscher peinlich ist» (Kruse 1980, 22; ebenso Goffman 1973, 191–192). Die Ausführung solcher ‘intimen Handlungen’ geschieht daher nur allein oder mit ‘intim’ Vertrauten (Westin 1970, 7, 31–32; Kruse 1980, 155–173; Knapp/Vangelisti 2005, 125). Damit sind ‘intime Beziehungen’ die einzigen menschlichen Beziehungen, in denen hochgradig ‘intime’ Verhaltensweisen mit anderen Menschen geteilt

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werden – was auch ihre herausragende Bedeutung für den einzelnen Menschen erklärt (Kruse 1980, 31). Welche Verhaltensklassen ‘intime Handlungen’ darstellen, entscheidet sich an kultur- und zeitabhängigen Normen. Diese Normen geben vor, dass bestimmte Tätigkeiten nur dann ausgeführt werden, wenn die AkteurInnen allein oder in der ‘intimen Dyade’ sind. Sie werden zum Teil von frühester Kindheit an gelernt und sind mit vielen Tabus sowie den entsprechenden Gefühlen von Scham verknüpft. Einige Normen sind sogar institutionalisiert, häufig z. B. solche, die sexuelle Handlungen, Nacktheit oder Ausscheidungen betreffen. Bei den betreffenden Handlungen ist eine Beschränkung auf ‘intime Kommunikationsumgebungen’ nicht nur erwünscht, sondern sogar de iure vorgeschrieben. Das Wissen der SprecherInnen über die Angemessenheit bestimmter Handlungen bzw. Kommunikationsakte in bestimmten Situationen gehört zu ihrer sozialen und kommunikativen Kompetenz (Argyle 1968, 108; Adamzik 1984, 137–138; Argyle 2002, 67–76, 359; Schirrmeister 2004, 23, 76). Dabei wird angenommen, dass Menschen über Kenntnisse von Modellen typischer Kommunikationssituationen verfügen. Solche Modelle enthalten Informationen über Ablauf, Organisation, funktionale Bestimmung sowie inhaltliche Ausrichtung der Kommunikationssituation. Unterschieden wird hierbei in ‘Frames’ und ‘Skripte’. Frames sind globale Muster, die Alltagswissen über ein zentrales Konzept, z. B. ‘Geburtstagsfeier’ oder ‘Bibliothek’, umfassen. Sie geben an, was im Prinzip zusammengehört, aber nicht, in welcher Reihenfolge die Dinge getan werden. Skripte dagegen sind Muster geordneter zeitlicher Abfolgen von Ereignissen und Zuständen, z. B. ‘den Abwasch machen’ oder ‘zum Arzt gehen’. Sie werden abgerufen, um die Rollen und die erwarteten Handlungen der KommunikationsteilnehmerInnen zu bestimmen (Schäfers 1980, 21; Beaugrande/Dessler 1981, 95–96; Conrad 1988, 75; Taylor 1989, 87–95; Tophinke 2001, 461). Hinsichtlich der ‘intimen Handlungen’ verfügen SprecherInnen über Wissen beider Typen. So umfasst das Wissen über den Frame ‘Intimität’ sowohl typische ‘intime Handlungen’ als auch deren Auftretensbedingungen; Skripte sind im Zusammenhang mit ‘intimen Handlungen’ dagegen modellhafte Abläufe von Situationen, in denen solche Handlungen vorkommen, z. B ‘ein Fernsehabend mit der Partnerin’ oder ‘ein Frühstück bei den Eltern’. Es lassen sich zwei Gruppen ‘intimer Handlungen’ unterscheiden, je nachdem, ob das Individuum allein oder in der ‘intimen Dyade’ ist. Das Alleinsein etwa bietet Schutz und Raum für verschiedene Formen der Beschäftigung mit sich selbst, von Ausscheidungen und Körperpflege und -hygiene über den emotionalen leiblichen und verbalen Ausdruck bis hin zu abweichendem Verhalten, aber auch zur Verarbeitung vergangener Erfahrungen sowie zur Identitätsreflexion und -stabilisierung.

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Die ‘intime Dyade’ dagegen bietet Schutz und Raum für ‘intime Handlungen’, die die Beschäftigung miteinander in geschützter Kommunikation betreffen: «Having privacy enables us to share something special with others» (Knapp/ Vangelisti 2005, 125). ‘Intime Beziehungen’ und damit alle Handlungen, die mit ihnen zusammenhängen, sind per se ‘intime Handlungen’. Im engeren Sinne ‘intim’ sind jedoch solche Handlungen, in denen sich die Beziehung in ihrer Intimität manifestiert, z. B. hinsichtlich der Rollen der InteraktionspartnerInnen, hinsichtlich der Kommunikationsinhalte oder hinsichtlich der vollführten Kommunikationsakte. Zu letzteren zählt vor allem beziehungsspezifisches Verhalten im Sinne der Beziehungskultur (cf. Kapitel 3.1.1.1), spielerisches Verhalten (cf. Kapitel 3.1.1.3), Bindungs- und Fürsorgeverhalten (cf. Kapitel 3.1.1.4), der gegenseitige Ausdruck sozialer Emotionen (cf. Kapitel 3.1.1.5) sowie für ‘intime Beziehungen’ spezifisches nonverbales Verhalten (cf. Kapitel 3.1.1.6) (Goffman 1973, 117–118; Kruse 1980, 58, 120–123, 155–172; Bruess/Pearson 1997, 43).

3.1.3 Schlussfolgerungen und neue Terminologie «Zärtliches Sprechen» ist in diesem Kapitel anhand von zwei Kontextbedingungen von anderen sprachlichen Modalitäten abgegrenzt worden: einerseits anhand der ‘intimen Beziehung’ und andererseits anhand der ‘intimen Situation’. Diese Merkmale bilden die Grundlage für die differentielle Definition des «zärtlichen Sprechens»: Sprachliche Äußerungen sind dann «zärtlich», wenn eine ‘intime Beziehung’ zwischen den GesprächspartnerInnen vorliegt und (!) wenn sich ihre Kommunikation im Rahmen einer ‘intimen Situation’ ereignet. Als so abgegrenzte Modalität lässt sich «zärtliches Sprechen» nun auch erheben und hinsichtlich seiner sprachlichen Merkmale analysieren. Um im konkreten Fall möglichst genau überprüfen zu können, ob die Kontextbedingungen vorliegen, sind die Kriterien, die eine ‘intime Beziehung’ und eine ‘intime Situation’ ausmachen, in den entsprechenden Unterkapiteln ausführlich dargestellt worden. Da die zu untersuchende Modalität damit nun eindeutig definiert wurde, soll an dieser Stelle die bisher allgemeinsprachliche Umschreibung «zärtliches Sprechen» durch einen Fachterminus abgelöst werden, der auf ebendieser Abgrenzung aufsetzt: das ‘intime Sprechen’. Die Begriffswahl erscheint bereits insofern konsequent, als der Begriff terminologisch an die differentiellen Merkmale der Modalität, nämlich die ‘intime Beziehung’ und die ‘intime Situation’, anschließt. Geeignet erscheint das Adjektiv intim gegegenüber zärtlich aber noch aus weiteren Gründen. So zeichnet sich intim zum einen dadurch aus, dass es im Gegensatz zu zärtlich mit verschiedensten Substantiven sinnvoll verbunden werden kann: Beziehungen können intim sein, Dyaden können intim sein, Si-

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tuationen können intim sein, Handlungen können intim sein, Kommunikationsumgebungen können intim sein etc. Durch diese Polysemie ermöglicht intim im Gegensatz zu zärtlich den Verweis auf mehrere zentrale Aspekte der zu beschreibenden Modalität, und zwar kondensiert in einem Wort. Zum anderen handelt es sich bei intim, das zwar allgemeinsprachlich, jedoch auch als Fachterminus in der Psychologie etabliert ist, um ein eindeutig definiertes bzw. definierbares Konzept – und das in jeder der soeben genannten Verbindungen. Zärtlich dagegen ist rein allgemeinsprachlich und in seiner Bedeutung bereits dort recht uneindeutig und schwer abgrenzbar. Zuletzt scheint intim auch alle – zumindest alle bisher bekannten – sprachlichen Merkmale der Modalität begrifflich besser abdecken zu können als zärtlich. So finden sich zwar z. B. mit den ‘nominalen Anredeformen’ (cf. Kapitel 2.2.1) oder dem (secondary) baby talk (cf. Kapitel 2.2.5) Phänomene, die problemlos sowohl als zärtlich als auch als intim bezeichnet werden könnten. Für die ‘idiosynkratische Kommunikation’ (cf. Kapitel 2.2.4) zeigt sich aber z. B., dass dieses Merkmal zwar als intim, jedoch weniger als zärtlich beschrieben werden kann. Dies lässt sich auf die unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Merkmale zurückführen: Während ‘nominale Anredeformen’ und (secondary) baby talk in enger Verbindung zum Ausdruck von Emotionen sowie zum Konzept der ‘Bindung’ stehen – ebenso wie offenbar auch das Adjektiv zärtlich – handelt es sich bei der ‘idiosynkratischen Kommunikation’ eher um ein Geheimwissen bzw. ein Merkmal der Beziehungskultur, das der Stärkung nach innen und dem Abschluss nach außen dient. Für Merkmale mit dieser Funktion erweist sich das Adjektiv zärtlich als weniger geeignet, denn es hat – trotz seiner Vagheit – eine geringere Extension als intim, mit dem problemlos alle (bisher bekannten) Merkmale der Modalität beschrieben werden können. Der Begriff ‘intimes Sprechen’ scheint damit besser als Terminus für das Phänomen geeignet zu sein als «zärtliches Sprechen», und ebenso besser als weitere mögliche Umschreibungen wie etwa ‘Sprache in engen/intimen Beziehungen’, welche nur den Beziehungsaspekt enthalten würden. Es sollte anhand der vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden sein, dass ‘intimes Sprechen’ grundsätzlich nichts mit erotischer Sprache, sex talk oder Ähnlichem zu tun hat, wenngleich der Begriff dies auf den ersten Blick suggerieren könnte: ‘Intimität’ wird – so sollte in Kapitel 3.1.1 unmissverständlich klar geworden sein – als ein psychisches Konzept enger persönlicher Verbundenheit verstanden, von dem die Intimität im physischen, sexuellen Sinne klar zu trennen ist. (Physische) Sexualität und (psychische) Intimität sind nicht deckungsgleich: Sie stellen zwei unterschiedliche und voneinander unabhängige menschliche Bedürfnisse dar und erstrecken sich daher auch nicht auf die gleichen Beziehungstypen. So findet man Sexualität typischer-

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weise in Partnerschaften, sodass dort (oft) beide Bedürfnisse von derselben Person erfüllt werden, dagegen üblicherweise nicht in anderen ‘intimen Beziehungen’ – allerdings wiederum durchaus außerhalb der Partnerschaft, und zwar in Beziehungen, die überhaupt nicht durch Intimität (im psychischen Sinne) gekennzeichnet sind. Wollte man die Sprache von Paaren untersuchen, müsste man den Bereich von ‘Sprache und Sexualität’ sicherlich miteinbeziehen. Die theoretische Konzeption des ‘intimen Sprechens’ bezieht sich aber auf die sprachlichen Formen, die mit Intimität (im psychischen Sinne) in Zusammenhang stehen, und erstreckt sich daher auch auf Beziehungstypen außerhalb der Paarbeziehung, so vor allem auf Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen (cf. Kapitel 3.1.1.7). Da es hinsichtlich der verschiedenen Merkmale ‘intimer Beziehungen’ zwischen diesen Beziehungstypen durchaus systematische Unterschiede in den Ausprägungen gibt, ist dies wohl auch für die verbale Kommunikation anzunehmen. So dürften sich in den verschiedenen Beziehungstypen einerseits ähnliche, andererseits auch systematisch abweichende Muster zeigen. Die ausführliche Beschreibung der Merkmale von ‘intimen Beziehungen’ und ‘Situationen’ hat bereits verdeutlicht, dass Kommunikation – sowohl nonverbaler als auch verbaler Art – für ‘intime Beziehungen’ und die mit ihnen verbundenen Konzepte von zentraler Bedeutung ist. ‘Intime Beziehungen’ können schlicht nicht existieren, ohne dass zwei Menschen miteinander kommunizieren. Über Kommunikation werden ‘intime Beziehungen’ ausgebildet, über Kommunikation werden sie gefestigt und aufrechterhalten und über Kommunikation werden sie häufig auch wieder aufgelöst. Knapp/Vangelisti (2005) beschreiben Kommunikation angesichts ihres hohen Stellenwerts daher als «the lifeblood of relationships» (49), Guerrero/Andersen/Afifi (2007) ähnlich als «the substance of relationships» (14; ähnlich auch Leisi 1978, 7; Wood 1982, 75; Taraban/Hendrick/ Hendrick 1998, 347; Guerrero/Andersen 1998, 310; Brehm et al. 2002, 125; Noels/ Giles/Le Poire 2003, 232; Guerrero/Floyd 2006, 105). Eine Untersuchung wie die vorliegende, die ‘intimes Sprechen’ untersucht, beschäftigt sich also nicht nur mit einem hochgradig interessanten, sondern auch besonders grundlegenden Aspekt ‘intimer Beziehungen’. Die bisherigen Untersuchungen, die die hohe Relevanz von Kommunikation für ‘intime Beziehungen’ betont haben, haben ihre Ausführungen allerdings – wie in Kapitel 2.1 geschildert – auf die nonverbale Ebene und/oder auf die Inhalte und Stile der Kommunikation konzentriert, weniger auf die sprachlichen Formen selbst. Tatsächlich sind diese Aspekte von Kommunikation für ‘intime Beziehungen’ natürlich von zentraler Bedeutung. Man denke nur daran, wie entscheidend etwa Körperkontakt, gegenseitiges Zuhören und Aufeinandereingehen oder das gemeinsame Sprechen über die Beziehung für die Beziehungszufriedenheit sind. Ebenso ist es diese Ebene von Kommunika-

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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tion, auf der z. B. ein Narrativ der Beziehungshistorie ausgehandelt oder im Zuge der self-disclosure Geheimwissen vermittelt wird (cf. Kapitel 3.1.1.2). Allerdings haben die Ausführungen zu den verschiedenen Merkmalen ‘intimer Beziehungen’ auch gezeigt, dass eben nicht nur bestimmte nonverbale Verhaltensweisen und kommunikative Inhalte und Stile für die Konstitution und Aufrechterhaltung ‘intimer Beziehungen’ zentral sind, sondern auch spezifische sprachliche Merkmale. So können bestimmte sprachliche Formen Teil der Beziehungskultur sein (cf. Kapitel 3.1.1.1) und/oder ein Geheimwissen darstellen (cf. Kapitel 3.1.1.2), spielerisches Verhalten kann auch sprachspielerisches Verhalten sein (cf. Kapitel 3.1.1.3), das Bindungs- und Fürsorgeverhalten hat spezifische sprachliche Merkmale (cf. Kapitel 3.1.1.4) und auch soziale Emotionen werden mittels bestimmter sprachlicher Formen mitgeteilt (cf. Kapitel 3.1.1.5). Daran wird einerseits deutlich, dass die Funktion des ‘intimen Sprechens’ in erster Linie eine soziale ist: Es dient der Aufrechterhaltung und Festigung der ‘intimen Beziehung’ zwischen den SprecherInnen. Andererseits ist angesichts des engen Zusammenhangs zwischen einzelnen Merkmalen ‘intimer Beziehungen’ und der Sprache auch zu vermuten, dass sich ein Großteil der sprachlichen Muster, die sich in ‘intimsprachlichen’ Äußerungen feststellen lassen werden, direkt auf einzelne dieser Beziehungsmerkmale zurückführen lässt. Der ausführliche Überblick über das Wesen ‘intimer Beziehungen’ in diesem Kapitel kann daher auch die Grundlage dafür bilden, bestimmte sprachliche Merkmale später nicht schlicht als ‘intimsprachliche’ Merkmale zu klassifizieren, sondern sie im besten Fall auch direkt in Verbindung mit einzelnen Spezifika ‘intimer Beziehungen’ zu setzen (cf. Kapitel 3.1.1). Bisher ist ‘intimes Sprechen’ lediglich auf Basis seiner außersprachlichen Merkmale definiert und damit noch nicht im engeren Sinn sprachwissenschaftlich bestimmt worden. Wie das im dargelegten Sinne abgegrenzte ‘intime Sprechen’ sprachtheoretisch einzuordnen ist, soll daher Gegenstand des folgenden Kapitels sein.

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts: ‘Intimes Sprechen’ als Register Die Grundlage für den Großteil romanistischer Arbeiten – seien sie theoretischer oder empirischer Art – ist die Sprachtheorie von Eugenio Coseriu, die wiederum unter direkter Bezugnahme auf die Konzepte langue und parole von de Saussure (1967 [1916]) entwickelt wurde. Coseriu (1980b; 1988a) definiert Sprache als «eine universelle menschliche Tätigkeit, die zwar individuell verwirklicht wird, aber stets nach historisch bestimmten Techniken (‹Sprachen›)» (Coseriu 1988a, 250). Daraus ergeben sich drei Ebenen der Betrachtung des Sprachlichen: a) die univer-

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selle Ebene, auch ‘Sprechtätigkeit’ genannt, b) die historische Ebene, auch ‘Einzelsprache’ genannt und c) die individuelle Ebene, auch ‘Diskurs’ genannt. Gleichzeitig kann Sprache sowohl als Tätigkeit (= der Prozess) als auch als Wissen (= die Technik) als auch als Produkt (= das Ergebnis) betrachtet werden, und das jeweis auf allen drei Ebenen. Daraus ergibt sich eine Unterscheidung in «neun Abteilungen in der allgemeinen Struktur der Sprache» (Coseriu 1988a, 153; cf. Tabelle 5). Tabelle 5: Drei-Ebenen-Modell menschlicher Sprache nach Coseriu (1988a, 254). Ebenen

Gesichtspunkte Tätigkeit

Wissen

Produkt

universell

Sprechen im Allgemeinen

elokutionelles Wissen

Ganzheit des Gesprochenen

historisch

konkrete Einzelsprache

idiomatisches Wissen

(abstrahierte Einzelsprache)

individuell

Diskurs

expressives Wissen

Text

Alle der neun «Abteilungen» können Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft sein, wenngleich die größte Aufmerksamkeit bisher dem Produkt der historischen Ebene, der ‘abstrahierten Einzelsprache’, galt (Coseriu 1988a, 255). Zentral für die historische Ebene der Einzelsprache ist die Tatsache, dass diese immer interne Variation aufweist. So treten in einer Einzelsprache Coseriu (1988a, 282–283) zufolge grundsätzlich drei Typen interner Unterschiede auf: a) diatopische Unterschiede (d. h. solche im geographischen Raum), b) diastratische Unterschiede (d. h. solche zwischen sozialen Gruppen) und c) diaphasische Unterschiede (d. h. solche zwischen unterschiedlichen Situationen). Eine historische Sprache ist daher nie ein einziges Sprachsystem, sondern ein Diasystem – eine komplexe Gesamtheit von diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten. Eine Sprache ist also letztlich als Menge von Varietäten fassbar (Coseriu 1988a, 282–283). Wo in diesem Schema der sprachlichen Ebenen ist nun ‘intimes Sprechen’ zu verorten? Wie in Kapitel 3.1 ausführlich thematisiert, wurde ‘intimes Sprechen’ zweifach definiert: einmal auf Basis der sozialen Beziehung zwischen den SprecherInnen (‘intime Beziehung’) und einmal auf Basis bestimmter situationaler Faktoren (‘intime Situation’). Es handelt sich beim ‘intimen Sprechen’ also um eine Ausprägung der Sprache, die in Abhängigkeit von bestimmten außersprachlichen Faktoren (nämlich der ‘intimen Beziehung’ und der ‘intimen Situation’) auftritt. Diese Definition des ‘intimen Sprechens’ deckt sich mit dem von Coseriu (1988a, 282–283) formulierten Umstand, dass Sprachen je nach den determinierenden außersprachlichen Faktoren diatopische, diastratische und

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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diaphasische Unterschiede aufweisen. Eine Konzeptualisierung ‘intimen Sprechens’ als Varietät und damit eine Verortung auf der historischen Ebene der Sprache liegt daher nahe. Sie soll im Folgenden unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der Varietätenlinguistik, die sich die Coseriu’sche Prämisse der diasystematischen Variation zu eigen gemacht hat und systematisch die Variation innerhalb einer Sprache im Zusammenhang mit den determinierenden außersprachlichen Faktoren untersucht, ausführlicher thematisiert werden. Die Überlegungen folgen dabei maßgeblich der theoretischen und terminologischen Tradition der (deutschsprachigen) Romanistik bzw. Hispanistik, berücksichtigen jedoch, wo es geboten scheint, auch neuere Ansätze der (bisher vorwiegend angloamerikanisch geprägten) «Dritten Welle» der Soziolinguistik.

3.2.1 ‘Intimes Sprechen’ als Varietät Nachdem man sich in der Sprachwissenschaft bis Mitte der 1960er-Jahre kaum für die Variation in der Sprache interessiert und Einzelsprachen eher als homogene Strukturen betrachtet hatte, kam es beginnend mit dem US-amerikanischen Linguisten William Labov (v. a. 1966) zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und sozialen Merkmalen der SprecherInnen (insbesondere der Schichtzugehörigkeit), was schließlich zur Herausbildung der Soziolinguistik führte. Die Suche nach den Gründen für die Wahl bestimmter sprachlicher Formen beschränkte sich bald nicht mehr auf die Schichtzugehörigkeit, sondern bezog z. B. auch den Bildungsgrad, das Alter, die Äußerungssituation und die beteiligten Personen mit ein. Besonders in der Romanistik hat sich im Zuge dieser Erweiterung des Untersuchungsbereichs zu Beginn der 1980er-Jahre daher der allgemeinere Begriff ‘Varietätenlinguistik’ etabliert, während in der Anglistik auch heute noch meist von ‘Soziolinguistik’ die Rede ist (Durrell 2004, 200–205; Berruto 2004, 193; Sinner 2014, 11, 15). Eine sprachliche Varietät zeichnet sich der Varietätenlinguistik zufolge dadurch aus, dass bestimmte Realisierungsformen des Sprachsystems in vorhersehbarer Weise mit bestimmten außersprachlichen Merkmalen kookurrieren. Wenn also eine Menge von sprachlichen Merkmalen regelmäßig zusammen mit einer bestimmten Menge von SprecherInnen- oder Situationsmerkmalen auftritt, kann man von einer sprachlichen Varietät sprechen (Ammon 1986, 11; Berruto 2004, 189–195; Sinner 2014, 19).51 Dieser Gedanke prägt grundlegend die

51 Die Frage nach der erforderlichen Menge von Variablen zur Differenzierung von Varietäten wird in der Literatur immer wieder behandelt, ist aber nach wie vor ungelöst. Zum Teil wird

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

theoretische Ausrichtung dieser Arbeit. So wird davon ausgegangen, dass ‘intimes Sprechen’ darin besteht, dass bestimmte sprachliche Merkmale (welche noch zu analysieren sind, cf. exemplarisch Kapitel 4) regelhaft gemeinsam mit bestimmten außersprachlichen Merkmalen (nämlich der ‘intimen Beziehung’ und der ‘intimen Situation’, cf. Kapitel 3.1) auftreten. Eine Klassifizierung des ‘intimen Sprechens’ als ‘Varietät’ und eine Verortung der Arbeit in der Disziplin der Varietätenlinguistik ergibt sich damit ganz eindeutig. Unklar ist indes noch, um welche Art von Varietät es sich beim ‘intimen Sprechen’ handelt. Bereits ab den 1960er-Jahren versuchte man sich an einer Modellierung des Varietätengefüges, sodass inzwischen zahlreiche unterschiedliche Ansätze vorliegen (für einen Überblick cf. Sinner 2014, 39–90). Insgesamt herrscht im Anschluss an das Coseriu’sche Modell (cf. Kapitel 3.2) in der Romanistik weitgehende Einigkeit darüber, dass mindestens an geographische Gebiete gebundene (= diatopische), an soziale Gruppen gebundene (= diastratische) und an Situationen gebundene (= diaphasische) Varietäten unterscheidbar sind. Wenngleich diese Unterscheidung in drei diasystematische Dimensionen auf den ersten Blick klar und unmissverständlich erscheint, ist im konkreten Fall oft nicht zweifelsfrei zu bestimmen, zu welcher Dimension eine bestimmte Varietät oder Variante gehört. Dies kann mehrere Gründe haben. So ist es zum einen möglich und üblich, dass diatopische Varietäten auch als diastratische oder diaphasische Varietäten fungieren und diastratische Varietäten auch als diaphasische Varietäten (nicht aber umgekehrt) (Coseriu 1980b, 112), wofür der Begriff ‘Varietätenkette’ geprägt wurde (Albrecht 1986, 77; Koch/Oesterreicher 2011, 17; Selig 2011, 115). Zum anderen greifen die Ebenen auch in der Form ineinander, dass jeder Dialekt verschiedene diastratische und diaphasische Ausprägungen hat, jeder Soziolekt wiederum verschiedene diatopische und diaphasische Ausprägungen, und jedes Register ebenfalls wieder verschiedene diastratische und diatopische Ausprägungen (Coseriu 1980b, 144; 1981, 13; Berruto 2004, 193–194). Schließlich wird auch noch über die Abgrenzung weiterer Varietäten, insbesondere der diachronen (= zeitbezogenen), diamesischen (= konzeptionsbezogenen) und diagenerationalen (= altersbezogenen) Varietäten debattiert. Auch für das ‘intime Sprechen’ erweist sich eine Zuordnung zu einer der diasystematischen Dimensionen nicht sofort als eindeutig: Es gibt Argumente sowohl für die Zuordnung zur Diastratik als auch zur Diaphasik sowie ggf. zur Diamesik. Aus diesem Grund sollen im folgenden Kapitel ausführlichere Überlegungen zur Verortung des ‘intimen Sprechens’ im Varietätengefüge erfolgen.

auch vertreten, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, eine Anzahl erforderlicher Elemente festzulegen (Berruto 2004, 189; Sinner 2014, 24).

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3.2.1.1 ‘Intimes Sprechen’ als diastratische Varietät Diastratische Varietäten sind an soziale Gruppen gebundene sprachliche Varietäten und werden üblicherweise als Soziolekte bezeichnet. Grundbeschreibungskategorie der diastratischen Dimension ist damit die Gruppe. Ob ‘intimes Sprechen’ als diastratische Varietät und damit als Soziolekt einzuordnen ist, enscheidet sich damit maßgeblich an der Frage, ob die ‘intime Dyade’ als Gruppe anzusehen ist. Bei einer Gruppe handelt es sich um eine Menge von Individuen, die sich durch eines oder mehrere gemeinsame Merkmale von anderen unterscheiden (Sinner 2014, 147). Schäfers (1980, 20–21) und Möhn (1998, 169) nennen als konstitutive Merkmale einer Gruppe darüber hinaus spezifische Gruppenziele, ein entwickeltes Normensystem im Sinne gruppeneigener sozialer und kommunikativer Standards und ein daraus herrührendes Wir-Gefühl. Nach Alderfer (1977, 227–242) sind die Merkmale einer Gruppe: Die Personen haben untereinander dependente Beziehungen, d. h. die Mitglieder beeinflussen sich wechselseitig in ihrem Verhalten und Erleben; die Beziehungen bestehen über längere Zeit; die Personen betrachten sich selbst als Gruppe und zu ihr zugehörig; Mitglieder werden von Nicht-Mitgliedern unterschieden; die Gruppenidentität wird von Außenstehenden anerkannt; die Mitglieder haben gemeinsame Bedürfnisse, Ziele oder Aufgaben oder sind einfach gern beieinander. Sowohl was die Merkmale nach Schäfers (1980) bzw. Möhn (1998) als auch was diejenigen nach Alderfer (1977) betrifft, ist die ‘intime Dyade’ als Gruppe einzuordnen. So ist vor allem in Kapitel 3.1.1.1 deutlich geworden, dass die ‘intime Dyade’ über eine vergleichsweise lange Beziehungsdauer, über beziehungsspezifische Kommunikations- und Handlungsroutinen, über eine Gruppenidentität in Form eines Wir-Gefühls und eines Zugehörigkeitsgefühls zur Gruppe sowie über eine deutliche Trennungslinie zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern verfügt. In diesem Zusammenhang ist sogar bereits dargelegt worden, dass ‘intime Dyaden’ aufgrund ihrer Merkmale auch als communities of practice und damit als besondere Unterform einer sozialen Gruppe aufgefasst werden können. Einer Einordnung der ‘intimen Dyade’ als Gruppe und damit als potentieller Trägerin eines Soziolekts ist damit zunächst nichts entgegenzusetzen. So überrascht es auch nicht, dass verschiedene AutorInnen, die sich bereits mit einzelnen Formen «zärtlichen Sprechens» beschäftigt haben (cf. Kapitel 2.2), dieses auch als Soziolekt klassifizieren (z. B. Leisi 1978, 7, 36; Morelock 2005, 3; Castellano Ascencio 2009, 4). Etwas problematisch für die Beurteilung der ‘intimen Beziehung’ als Gruppe ist allerdings die Frage nach deren Mindestmitgliederzahl. Sinner (2014, 148), der sich aus varietätenlinguistischer Perspektive mit dem Thema ‘Gruppe’ auseinandersetzt, sieht diese Problematik ebenfalls und bezieht sich dabei explizit auf Sprache in Zweierbeziehungen. Er stellt fest, dass in der Linguistik bisher kaum

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

auf diese grundsätzliche Frage eingegangen wurde; leider positioniert er sich aber auch selbst nicht dazu, ob der Sprachgebrauch von zwei Personen bereits als kollektiver Sprachgebrauch und somit als Soziolekt anzusehen ist. In der soziologischen und psychologischen Literatur gilt meist eine Zahl von drei Personen als Gruppenuntergrenze, was zum Teil begründet, zum Teil vorausgesetzt wird (Schäfers 1980, 21). Schäfers (1980, 22) sieht die Dyade im Anschluss an Leopold von Wiese (1933, 447) dagegen ebenfalls als Gruppe an, grenzt diese aber wie sein berühmter Vorgänger als ‘Zweier-Gruppe’ deutlich ab von der ‘Kleingruppe’ (bis 25 Personen) und der ‘Großgruppe’ (ab 26 bis ca. 1000 Personen). Er begründet dies damit, dass in der Dyade neben «reinen» Gruppenprozessen noch vielfältige weitere Wechselwirkungen sozialer und psychologischer Art im Spiel seien und es sich daher um eine deutlich komplexere Gruppenform als die Kleinoder Großgruppe handele. Folgt man ihm, könnte man also sagen, dass ‘intime Beziehungen’ durchaus als Gruppen gelten können, allerdings als Gruppen mit besonderem Status. Die ihnen eigene Sprachform könnte demnach durchaus als Soziolekt bezeichnet werden. Man sollte jedoch angesichts des besonderen Gruppenstatus nicht davon ausgehen, dass dieser in Form und Funktion völlig gleichsetzbar ist mit Soziolekten von Klein- und Großgruppen. Tatsächlich scheint es z. B. hinsichtlich der Funktionen ‘intimen Sprechens’ so zu sein, dass diese über die Funktionen anderer Soziolekte hinausgehen. So werden in Gruppen ab drei Personen Soziolekte in erster Linie eingesetzt, um Gruppenzugehörigkeit zu manifestieren bzw. um Gruppen zu konstituieren; über Soziolekte werden die Gruppen denn auch gegeneinander abgegrenzt und die Gruppenmitglieder der einzelnen Gruppen jeweils fester zusammengeknüpft (Löffler 1985, 128; Sinner 2014, 147). Hiermit ist in jedem Fall eine der Funktionen ‘intimen Sprechens’ angesprochen. Diese ist besonders im Sinne der (sprachlichen) Beziehungskultur (cf. Kapitel 3.1.1.1) und des (sprachlichen) Geheimwissens (cf. Kapitel 3.1.1.2) in ‘intimen Beziehungen’ gegeben und wurde dort auch als solche angesprochen. Die Funktion ‘intimen Sprechens’ beschränkt sich allerdings nicht auf diese Abgrenzung der Gruppe nach außen und nach innen; stattdessen dient ‘intimes Sprechen’ darüber hinaus vor allem auch der Manifestation und Stärkung verschiedener interpersonaler Prozesse wie z. B. Bindung (cf. Kapitel 3.1.1.4) oder sozialer Emotionen (cf. Kapitel 3.1.1.5). In der Form, in der sich ‘Zweier-Gruppen’ von ‘Kleingruppen’ unterscheiden, tut dies also offenbar auch die Funktion der ihnen jeweils eigenen Sprachformen. Bei einer Einordnung des ‘intimen Sprechens’ als Soziolekt würden dessen zusätzliche Funktionen allerdings in den Hintergrund geraten. Dazu kommt, dass der Begriff ‘Soziolekt’ in der Regel für die sprachlichen Varietäten «gesellschaftlicher Gruppen» genutzt wird; hierbei handelt es sich nicht um intentionale Zusammenschlüsse von Personen im engeren Sinne, son-

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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dern um abstrakte (Groß-)Gruppen von Personen, die über ein als relevant eingestuftes soziales Merkmal wie z. B. ‘Beruf’, ‘Altersgruppe’, ‘Geschlecht’ oder – der klassische Fall – ‘Schichtzugehörigkeit’ verbunden werden (Leisi 1978, 7; Löffler 1985, 128–129; Conrad 1988, 215; Sinner 2017, 147). Das Merkmal, das die Mitglieder ‘intimer Beziehungen’ verbindet, müsste man dagegen als ‘Beziehung’ oder ‘Paar’ betiteln; dabei handelt es sich gerade nicht um ein soziales Merkmal im oben aufgeführten Sinne der gesellschaftlichen Kategorie. Wenn man also ‘intime Beziehungen’ als soziale Gruppen bezeichnen möchte, so doch klar auf einer anderen Ebene als z. B. ‘die BibliothekarInnen’, ‘die AkademikerInnen’, ‘die Frauen’ oder ‘die Jugendlichen’. Im Gegensatz zu solchen auf der gesellschaftlichen Makroebene angesiedelten, abstrahierten Kategorien handelt es sich bei ‘intimen Beziehungen’ um real existierende Zusammenschlüsse von Personen. Diese sind vielmehr auf der Mikroebene der Gesellschaft zu verorten und lassen sich mittels des explizit auf dieser Ebene angesiedelten Konzepts der communities of practice deutlich besser fassen als als gesellschaftliche (Groß-) Gruppe, die einen Soziolekt begründen würde (cf. auch Kapitel 3.2.3). Eine Einordnung des ‘intimen Sprechens’ unter dem Terminus ‘Soziolekt’ wäre damit zwar nicht zwingend falsch, aber im Hinblick auf die «klassischen» Soziolekte doch zumindest schief. Was die Einordnung des ‘intimen Sprechens’ als Soziolekt schließlich aber besonders fraglich erscheinen lässt, ist die insbesondere in Kapitel 3.1 betonte Tatsache, dass ‘intimes Sprechen’ gerade nicht allein durch die Gruppe definiert wird, sondern zusätzlich durch die Sprechsituation – woraus sich in jedem Fall eine Überschneidung zwischen diastratischer und diaphasischer Ebene ergibt. Dieser Umstand ist wiederum für Soziolekte alles andere als außergewöhnlich. So ist der Gebrauch vieler diastratischer Varietäten auf bestimmte Situationen, nämlich das Gespräch mit anderen Gruppenmitgliedern, beschränkt: AugenärztInnen etwa sprechen ihre Fachsprache in der Regel nur, wenn sie mit anderen AugenärztInnen zusammen sind, und Jugendliche verwenden Jugendsprache ebenfalls in erster Linie im Gespräch untereinander. Damit ist der Gebrauch vieler diastratischer Varietäten auch diaphasisch determiniert bzw., andersherum gesagt, ist die diastratische Zugehörigkeit Vorbedingung für die diaphasische Zuordnung (cf. auch Sinner 2014, 138). Besonders stark ausgeprägt ist dieser Effekt bei den Sondersprachen, einer Untergruppe der Soziolekte, die sich vor allem durch Sonderwortschätze auszeichnet, nur Eingeweihten verständlich ist und zu denen traditionell Berufs- und Fachsprachen, Geheimsprachen sowie die Sprachformen marginalisierter Gesellschaftsgruppen wie z. B. der Fahrenden und Reisenden, der GaunerInnen, der BettlerInnen, der Prostituierten oder der GefängnisinsassInnen gezählt werden (Bausinger 1972, 118; Löffler 1985, 131–141; Conrad 1988, 89, 215; Koch 1997, 52; Dittmar 1997, 218; Möhn 1998, 169; Kröll 2001, 408–409, 416;

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Berruto 2004, 194; Sinner 2014, 138, 186). Angesichts der Tatsache, dass auch für ‘intimes Sprechen’ die Beschränkung seines Gebrauchs auf das Gespräch mit anderen Gruppenmitgliedern gilt, könnte man es also am ehesten der Untergruppe der Sondersprachen zuordnen. Hier wiederum passt es am ehesten zu den Geheimsprachen, da es sich tatsächlich durch ein hohes Maß an Geheimhaltung auszeichnet (cf. insbesondere Kapitel 3.1.1.2) und es sich ganz offensichtlich weder um eine Berufs- oder Fachsprache noch um eine Sprache einer marginalisierten Gruppe handelt (cf. auch Leisi 1978, 34). Üblicherweise werden zu den Geheimsprachen allerdings Varietäten gerechnet, die auf dem Versetzen von Silben, dem Austausch von Vokalen oder der Einfügung von zusätzlichen Vokalen beruhen wie z. B. das Rotwelsche, das Pig Latin, der Verlan oder das Vesre (Löffler 1985, 140; Sinner 2014, 190). Auch im Bereich der Sonder- bzw. Geheimsprachen wäre das ‘intime Sprechen’ also eine besondere Vertreterin, die eben nicht so ganz in die Reihe der anderen passt. Auch würde die Klassifikation des ‘intimen Sprechens’ als ‘Geheimsprache’ das Merkmal der Geheimhaltung sicherlich etwas überbetonen. Insgesamt erscheint es – abgesehen von kleineren Divergenzen – zunächst durchaus legitim, ‘intimes Sprechen’, wenngleich als wenig prototypischen, so doch als Soziolekt einzuordnen. Allerdings darf die Verschränkung der diastratischen Ebene mit der diaphasischen Ebene im Falle des ‘intimen Sprechens’ nicht unberücksichtigt bleiben, vor allem weil die Relevanz der ‘intimen Situation’ zusätzlich zur ‘intimen Beziehung’ bisher so stark betont wurde. Insofern sollen sich im Folgenden Überlegungen zu der Frage anschließen, ob eine Einordnung des ‘intimen Sprechens’ als diaphasische Varietät nicht ebenfalls möglich oder ggf. sogar sinnvoller wäre. 3.2.1.2 ‘Intimes Sprechen’ als diaphasische Varietät Mit der Annahme der diaphasischen Dimension wird ein systematischer Zusammenhang zwischen sprachlichen Merkmalen und Situationen postuliert. Grundbeschreibungskategorie der diaphasischen Dimension ist daher die Äußerungssituation, die als Bündel mehrerer Situationsmerkmale aufgefasst wird. Diaphasische Varietäten werden üblicherweise als ‘Register’ bezeichnet.52 Für das 52 Neben ‘Register’ hat sich zur Bezeichnung diaphasischer Varietäten auch der Terminus ‘Stil’ etabliert. In dieser Arbeit wird dem Begriff ‘Register’ der Vorzug gegeben, da er sich, angestoßen durch Halliday/McIntosh/Strevens (1964), zur Bezeichnung diaphasischer Varietäten stärker verbreitet hat als ‘Stil’ (und dies auch in der spanischen Form registro). ‘Stil’ wird zwar häufig in der gleichen Bedeutung verwendet (cf. z. B. Labov 1972a, 97–120; Coseriu 1980a, 114), ist allerdings kein genuin varietätenlinguistischer Begriff, was wohl auch die deutlich breitere Variation, die in der Verwendung des Terminus zu beobachten ist, erklärt. So findet

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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(soziale) Leben des Menschen hat die diaphasische Variation zentrale Bedeutung: «The ability to use different registers ranks among the most important of all human practices since it renders the negotiation of social meaning possible» (Gadet 2004, 1361; ebenso Hymes 1984, 44; Briz 2001, 26; Coupland 2007, 13). Möchte man nun Überlegungen zur Einordnung des ‘intimen Sprechens’ als Register anstellen, muss man zunächst fragen, ob die konstitutiven Merkmale des ‘intimen Sprechens’ (cf. Kapitel 3.1) sämtlich als Merkmale einer ‘Äußerungssituation’ konzeptualisierbar sind. Eine ‘Äußerungssituation’ kann theoretisch «die ganze Welt relativ zu einem Äußerungsereignis» (Aschenberg 2001, 435) sein. Auf Basis dieser sehr breiten Definition ist eine Einordnung der das ‘intime Sprechen’ begründenden Merkmale als Situationsmerkmale bedenkenlos möglich: Die ‘intime Kommunikationsumgebung’ und die ‘intime Handlung’ sind schließlich bereits in Kapitel 3.1.2 explizit als Situationsmerkmale, nämlich der ‘intimen Situation’, bezeichnet worden. Auch das zweite konstitutive Merkmal, die ‘intime Beziehung’, kann als Situationsmerkmal angesehen werden, da es sich auf die GesprächsteilnehmerInnen und das Verhältnis zwischen ihnen bezieht und somit relativ zum eigentlichen Äußerungsereignis steht. Einer Einordnung des ‘intimen Sprechens’ als Register steht also zunächst einmal nichts entgegen. Dennoch lohnt sich für eine differenziertere Sicht ein Blick auf bisherige Erkenntnisse in der Erforschung von Registervariation. Dieser kann aufzeigen, welche Situationsmerkmale in der bisherigen Forschung als relevant identifiziert wurden, und so im besten Fall eine Verortung des ‘intimen Sprechens’ im Spannungsfeld zwischen «Prototyp und Sonderfall» eines Registers ermöglichen. Die Betrachtungen sollen sich dabei zunächst ausschließlich auf den «traditionellen» Registerbegriff z. B. nach Halliday/McIntosh/Strevens (1964), Biber/Finegan (1994) und Biber (1994) beziehen. Jüngst hat der Begriff ‘Register’ eine bemerkenswerte Bedeutungsveränderung erfahren, die mit der Fokussierung auf die konstruktivistischen und dynamischen Aspekte von Registern im Zuge der sog. «Dritten Welle» der Soziolinguistik zusammenhängt. Diese neueren Ansätze sollen erst bei der Frage nach dem Verhältnis von ‘intimem Sprechen’ und seinem Auftretenskontext (cf. Kapitel 3.2.3) ausführlicher behandelt werden.

sich ‘Stil’ recht häufig – und das nicht von ungefähr, sondern aus disziplinhistorischen Gründen – auch im Zusammenhang mit Fragen der Rhetorik und der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation (z. B. Stilzüge, Stilfiguren); daraus ergibt sich wohl auch, dass er in der Varietätenlinguistik besonders häufig für Untertypen diaphasischer Varietäten verwendet wird, die durch die Einstellung gegenüber den HörerInnen bzw. LeserInnen, das Thema oder die Kommunikationsabsicht bedingt sind (Spillner 2004, 206; Sinner 2014, 141–142).

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Zunächst ist festzustellen, dass der diaphasischen Dimension im Vergleich zu den anderen diasystematischen Dimensionen in der varietätenlinguistischen Forschung bisher die geringste Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist, während gleichzeitig ihre Existenz und Relevanz widerspruchslos anerkannt und häufig betont wird (Faust 1988, 502; Chambers 1995, 6; Coupland 2007, IX).53 Die zurückhaltende Beschäftigung mit der Registervariation liegt sicherlich vor allem in der bereits angesprochenen Komplexität und Unschärfe der ihr zugrundeliegenden Beschreibungsdimension, der ‘Äußerungssituation’, begründet (cf. auch Casas Gómez 1997, 182). Sie hat aber auch dazu geführt, dass die interne Struktur der diaphasischen Dimension bis heute nicht geklärt ist und ein «lack of a paradigmatic, or even dominant, methodological and theoretical framework for the analysis of registers» (Biber/Finegan 1994, 6) festzustellen ist. Rivas Zancarrón/ Gaviño Rodríguez (2009) fassen die Situation pointiert zusammen: «El problema está en que hasta el momento no parece haberse alcanzado un acuerdo acerca de cuáles son los distintos registros, cómo se denominan o dónde establecemos sus límites, situación que provoca que, al hablar de registros o variantes diafásicas muchos piensen en la existencia de un auténtico cajón de sastre en el que podemos incluir todas aquellas características no propias de la variación diatópica o diastrática» (14; ebenso Gaviño Rodríguez 2008, 18).

Weiterhin fällt auf, dass die Bezeichnung einzelner Register sich in der sprachwissenschaftlichen Forschungsliteratur (nicht nur der Romanistik, sondern auch der Germanistik oder Anglistik) insgesamt in auffallend unscharfen Begriffen vollzieht: Was deutschsprachige Publikationen betrifft, stößt man vor allem auf ‘formell’ vs. ‘informell’, ‘umgangssprachlich’, ‘familiär’ oder ‘gesprochen’. Diese Registerbezeichnungen werden allerdings kaum je gegeneinander abgegrenzt oder theoretisch beschrieben, geschweige denn anhand ihrer zugehörigen Situationsmerkmale.54 Im Spanischen wird für diaphasische Stufen oft 53 Dieselbe Vernachlässigung findet sich auch in Handbüchern und Einführungen zur Varietäten- bzw. Soziolinguistik wieder. So arbeitet etwa Carsten Sinner in seiner Varietätenlinguistik (2014) einerseits die Debatten zur Diatopik, Diastratik und Diamesik so umfassend wie kaum jemand vor ihm auf und exemplifiziert sie an zahlreichen Beispielen, behandelt aber andererseits die Diaphasik nicht tiefergehend und beschränkt sich hier lediglich auf ihre Überlappungen mit der Diastratik und (kurz) auf die Termini ‘Register’ vs. ‘Stil’. 54 Eine Ausnahme bildet einerseits der deutsche Terminus ‘umgangssprachlich’ bzw. ‘Umgangssprache’, der in der Germanistik seit Jahrzehnten diskutiert wird. Er wird in der Regel nicht (nur) zur Bezeichnung eines Registers gebraucht, sondern vielfach in der Trias ‘Hochsprache’ – ‘Umgangssprache ’ – ‘Dialekt’, worin sich eine Vermischung gleich mehrerer diasystematischer Ebenen offenbart, die in der entsprechenden Fachdiskussion nicht selten zu terminologischem Chaos führt (cf. für einen Überblick Holtus/Radtke 1984, 1–28 und Sinner 2014, 91–95). Eine weitere Ausnahme ist die aus der Romanistik stammende theoretische Kon-

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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pauschal formal vs. informal angesetzt, daneben finden sich weitere gegeneinander kaum abgegrenzte, meist auch schlicht synonym gebrauchte Bezeichnungen wie vulgar (was teilweise aber auch für die diastratische Ebene gebraucht wird), descuidado, familiar, coloquial oder hablado (Koch/Oesterreicher 2011, 251). Zur Verortung des ‘intimen Sprechens’ in diesem diffusen Begriffsraum kann also zunächst nichts ausgesagt werden – dies wäre erst auf Basis eines Vergleichs der Situationsmerkmale der verschiedenen Register möglich. Glücklicherweise sind in der Varietäten- bzw. Soziolinguistik aber doch zumindest einige theoretische Ansätze zur Klassifizierung und Beschreibung von Registern erarbeitet worden. In Arbeiten, die zeitlich noch vor der eigentlichen Herausbildung der Varietäten- bzw. Soziolinguistik (und auch des Terminus ‘Register’) liegen, wird zunächst die ‘Formalität’ als zentrales (und einziges) Kriterium für situationsgebundene Variation angesehen. So beobachtet bereits Fischer (1958) systematische Unterschiede im Sprachverhalten in Abhängigkeit dreier von ihm angesetzter Formalitätsgrade. Joos (1962) schlägt fünf Formalitätsstufen vor: frozen, formal, consultative, casual und intimate. ‘Formalität’ wird bei ihm als ‘Bedachtheit’ vs. ‘Nachlässigkeit’ («carefulness» vs. «casualness») der SprecherInnen operationalisiert, d. h. also über das Ausmaß, in dem die SprecherInnen beim Sprechen auf ihr Sprachverhalten achten. Der intimate style zeichnet sich ihm zufolge durch zwei grundlegende Merkmale aus: 1. extreme Ellipsen und 2. einen eigenen «jargon» (23). Mit dem eigenen «jargon» spricht Joos (1962) bereits die idiosynkratische Kommunikation an, die für ‘intimes Sprechen’ tatsächlich wichtig und spezifisch zu sein scheint (cf. Kapitel 2.2.4). Ellipsen dagegen sind eher als Merkmal ‘(konzeptionell) gesprochener Sprache’ und weniger als ‘intimsprachliches’ Merkmal anzusehen (cf. zur Abgrenzung vor allem Kapitel 3.2.1.3). In der Konzeption von Joos (1962) scheinen damit mehrere Ebenen diaphasischer Variation vermischt worden zu sein. Auch Labov (z. B. 1966; 1972b) beschreibt Registerunterschiede über den Formalitätsgrad. Wie bereits Joos (1962) ordnet er den verschiedenen Formalitätsstufen unterschiedliche degrees of attention to speech auf einer Skala von careful bis casual zu.55 Seine Erkenntnisse haben die Registerforschung der darauffolgenden Jahre entscheidend geprägt. Die Konzeptualisierungen von Fischer (1958), Joos (1962) und Labov (z. B. 1966; 1972b) beschreiben Registervariation zwar bereits anhand ihrer sprachlichen Unterschiede und versehen die verschiedenen Stufen mit unterschiedlichen zeption der ‘gesprochenen Sprache’ von Koch/Oesterreicher (z. B. 1985; 1994; 2011), die in Kapitel 3.2.1.3 noch ausführlich besprochen wird. 55 Die im Spanischen häufig anzutreffende Registerbezeichnung descuidado ist augenscheinlich direkt auf dieses theoretische Paradigma zurückzuführen.

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Labels; sie enthalten jedoch noch keine Angaben zu konkreten Situationsmerkmalen. Da es bei der diaphasischen Variation jedoch explizit um das Zusammenspiel von sprachlichen Merkmalen und Situationsmerkmalen geht, müsste geklärt werden, welche Situationsfaktoren einen bestimmten Formalitätsgrad bzw. einen bestimmten Grad der attention to speech begünstigen bzw. hervorrufen. Nur so wäre auch zu klären, ob bzw. inwieweit ‘intimes Sprechen’ auf dieser Skala zu verorten wäre. Catford (1965, 85) unterscheidet in seinem varietätenlinguistischen Modell neben ‘Idiolekt’ und ‘Dialekt’ drei Typen situationsabhängiger Varietäten: 1. das ‘Register’ als die mit der sozialen Rolle der SprecherInnen im weiteren Sinne zusammenhängende Varietät (z. B. scientific, religious),56 2. den ‘Stil’ als die mit der Anzahl und den Eigenschaften der AdressatInnen sowie der Beziehung zu ihnen zusammenhängende Varietät (z. B. formal, colloquial, intimate) sowie 3. den ‘Modus’ als die mit dem Medium zusammenhängende Varietät (written vs. spoken). Diese Konzeption ist bereits hilfreicher für die Verortung des ‘intimen Sprechens’ in der Diaphasik: Catford (1965) setzt interessanterweise intimate sogar als eigene Varietät an, zu spezifischen Merkmalen dieser Varietät äußert er sich aber leider nicht. Er verortet das Register – wie bereits Joos (1962) – auf einer Skala der Formalität (cf. Catford 1965, 90), und zwar neben z. B. colloquial und formal. Die Unterschiede zwischen den Stufen setzt er dabei erstmals mit einem Situationsmerkmal in Verbindung, und zwar mit den ‘TeilnehmerInnen’. Darunter fasst er gleich mehrere Aspekte: die Anzahl der TeilnehmerInnen, ihre Eigenschaften sowie die Beziehung zwischen SprecherIn und AdressatIn. Es ist dadurch nicht ganz klar, welcher dieser Aspekte in welchem Maße ausschlaggebend für die Variation auf der Formalitätsskala und damit auch konkret für den ‘intimen Stil’ ist. Immerhin wird aber der Zusammenhang zwischen ‘intimsprachlichem Register’ und dem Situationsmerkmal ‘TeilnehmerInnen’, der auch in dieser Arbeit hergestellt wurde (cf. Kapitel 3.1.1), bereits explizit benannt – wenngleich ‘intimes Sprechen’ in dieser Arbeit noch auf Basis darüber hinausgehender Situationsfaktoren definiert wurde (cf. Kapitel 3.1.2). Ein ähnlicher Vorschlag zur Modellierung der diaphasischen Variation stammt von Halliday (1978): Nachdem Halliday/McIntosh/Strevens (1964) den Begriff ‘Register’ zur Bezeichnung diaphasischer Varietäten in die Linguistik eingeführt hatten, spezifizierte Halliday (1978), dass diese Register in Abhängigkeit von drei Parametern variieren: field (≈ Gebrauchsfeld), tenor (≈ Beziehung zwischen den TeilnehmerInnen) und

56 Als Beispiel führt er an: «One man, for example, may function at different times as head of a family, motorist, cricketer, member of a religious group, professor of biochemistry and so on, and within his idiolect he has varieties appropriate to these rôles» (Catford 1965, 89).

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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mode (≈ Medium und kommunikative Gattung). Diese Parameter decken sich inhaltlich im Groben mit den bereits von Catford (1965) angesetzten. Gregory/Carroll (1978) bauen auf dem Halliday’schen Modell auf, unterscheiden aber vier situationsbedingte Varietäten: Neben dem field of discourse (= gebrauchsfeldabhängig) und dem mode of discourse (= mediumabhängig) setzen sie für den tenor of discourse (= adressatInnenabhängig) zwei Untertypen an, und zwar einerseits den personal tenor (= beziehungsabhängig) und andererseits den functional tenor (= absichtsabhängig). Den für die vorliegende Untersuchung interessantesten Typ, den personal tenor, verstehen Gregory/Carroll (1978, 8) allerdings wiederum ausschließlich als Formalitätsgrad – er entspricht damit ziemlich genau dem, was Catford (1965) als ‘Stil’ bezeichnet hatte. Allan Bell (1984) macht in seinem audience design-Modell das Situationsmerkmal ‘HörerInnenkreis’ (audience) zum einzigen Parameter für Registervariation. Er fasst hierunter die Eigenschaften der AdressatInnen, die Beziehung zu ihnen sowie – und das ist neu – ihren ‘HörerInnenstatus’ im Gespräch (audience type). So unterscheidet Bell (1984) im Anschluss an Goffman (1981, 131–133) zwischen ‘AdressatInnen’ (addressees), ‘HörerInnen’ (auditors= TeilnehmerInnen, aber nicht AdressatInnen der Äußerung), ‘MithörerInnen’ (overhearers= Personen in Hördistanz der Äußerung) und ‘AbhörerInnen’ (eavesdroppers= nicht unmittelbar wahrgenommene und damit potentielle MithörerInnen) (Bell 1984, 159).57 Diese Typen haben unterschiedlich großen Einfluss auf das Sprachverhalten der SprecherInnen: Diese richten die Form ihrer sprachlichen Äußerungen primär an den ‘AdressatInnen’ (d. h. ihren Eigenschaften und den Beziehungen zu ihnen) aus, passen sie aber gleichzeitig, wenn auch weniger stark, an die Personen an, die «mithören» – am stärksten an die ‘HörerInnen’, etwas weniger stark an die ‘MithörerInnen’ und am wenigsten stark an die ‘AbhörerInnen’. Das Modell von Bell (1984) prägte die Registerforschung der 1980er- und 1990erJahre. Auch bei Bell (1984) sind dabei wieder Situationsmerkmale aufgenommen, die auch für ‘intimes Sprechen’ zentral sind: Wo Bell (1984) auf die Beziehung zwischen den SprecherInnen als wichtigen Situationsfaktor hinweist, trifft sich dies mit der ‘intimen Beziehung’; wo er die verschiedenen HörerInnentypen und deren zentrale Rolle für das Sprachverhalten bespricht, ist der Aspekt der ‘intimen Kommunikationsumgebung’ berührt. Ingesamt wird im audience design-Modell erneut die zentrale Relevanz der ‘TeilnehmerInnen’ als Faktor für Registervariation

57 Die gewählten deutschen Begriffe stammen von der Autorin und sind lediglich als Hilfsübersetzungen zu sehen.

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deutlich – jedoch unterschlägt das Modell sämtliche weiteren Situationsmerkmale, die relevant für Registervariation sein könnten. Allen bisher genannten Modellen ist gemeinsam, dass sie den Zusammenhang zwischen Sprachform und Situation noch nicht als Zusammenhang zwischen einem Bündel von Situationsmerkmalen und einer Sprachform auffassen, sondern einzelnen Situationsmerkmalen einzelne Sprachformen zuweisen, wobei dem Merkmal ‘TeilnehmerInnen’ besonders viel Aufmerksamkeit zuteilwurde.58 Ab Ende der 1980er-Jahre setzte sich allerdings zunehmend die Auffassung durch, dass es vielmehr das Zusammenspiel verschiedener situationaler Faktoren ist, das eine bestimmte Art des Sprechens in der entsprechenden Situation angemessen erscheinen lässt. In diesem Wissen wurde stärker versucht, Kataloge möglichst aller potentiell relevanten Situationsmerkmale zu erfassen, um auf dieser Basis beobachtete Register auf ihre spezifischen Merkmale zurückführen und von anderen Registern abgrenzen zu können. Exemplarisch für die verschiedenen Ansätze soll hier die besonders umfassende und breit rezipierte Liste von Biber (1994) aufgenommen werden. Sie wurde als Analyseraster für Äußerungssituationen konzipiert und soll somit eine genaue und standardisierte Beschreibung der situationalen Parameter beobachteter Register ermöglichen. Auf diese Weise soll auch ein Vergleich zwischen verschiedenen Registern möglich werden (Biber 1994, 41). Enthalten sind im Analyseraster von (Biber 1994, 41–42) folgende Situationsmerkmale: 1. Communicative characteristics of participants a. Addressor(s): Single/plural/institutional b. Addressee(s): i. Self/other ii. Single/plural/unenumerated c. Audience: yes/no 2.

Relations between addressor and addressee a. Social role relations – relative status and power of addressor and addressee: Addressor has more power/equal status/addressee has more power

58 Die zentrale Relevanz der AdressatInnen wurde in dieser Zeit auch in weiteren Forschungsfeldern herausgestellt, die sich nicht primär mit Registervariation beschäftigen, wie z. B. in der Konversations- und Diskursanalyse, der Anredeforschung (cf. auch Kapitel 2.2.1), der Höflichkeitsforschung oder der Forschung zum baby talk (cf. auch Kapitel 2.2.5) und zum foreigner talk.

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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b. Extent of shared knowledge i. Specialist knowledge of topic: high/low ii. Specific personal knowledge: high/low c. Interactiveness: extensive/slight/none d. Personal relationship: like, respect, kin, friends, enemies, colleagues etc. 3.

Setting a. Characteristics of the place of communication: i. Private/public ii. Domain: Business and workplace Education and academic Government and legal Religious Art and entertainment Domestic and personal Other iii. Audio/visual mass media (television, radio, cinema) b. Extent to which place is shared by participants: Immediate/familiar/removed c. Extent to which time is shared by participants: Immediate/familiar/removed d. Specific place and time of communication

4. Channel a. Mode (primary channel): Written/spoken/signed/mixed/(other) b. Permanence: Recorded/transient c. Medium of transmission: If recorded: i. Taped/transcribed/typed/printed/hand-written/e-mail/other ii. Published/unpublished If transient: iii. Face-to-face/telephone/radio/TV/other d. Embedded in a larger text from a different register: yes/no 5.

Relation of participants to the text a. Addressor: production circumstances Revised or edited/scripted/planned/on-line

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b. Adressee: comprehension circumstances On-line/self-imposed time constraints c. Addressor’s and addressee’s personal evaluation of text: Important, valuable, required, beautiful, popular, etc. d. Addressor’s attitudinal stance toward the text: i. Emotionally involved/removed ii. Reverence/everyday iii. Excitement etc. e. Addressor’s epistemological stance toward the text: Belief, conviction, doubt, etc. 6. Purposes, intents, and goals a. Factuality: (Purported to be) based on fact/speculative/imaginative/mixed b. Purposes: i. Persuade or sell: high/medium/low ii. Transfer information: high/medium/low iii. Entertain/edify: high/medium/low iv. Reveal self (including expression of personal feelings, attitudes, or efforts enhancing interpersonal relations): high/medium/low 7.

Topic/subject a. Level of discussion: Specialized/general/popular b. Specific subject: finance, science, religion, politics, sports, law, people, daily activities, etc.

Der beträchtliche Umfang der Auflistung zeigt bereits, dass die Anzahl und das Zusammenspiel der Faktoren, denen Registervariation unterworfen sein kann, offenbar äußerst komplex sind. So sind im Analyseraster von Biber (1994) nicht weniger als 33 verschiedene Kriterien zur Abgrenzung von Registern auszumachen. Bei den Hauptkategorien, denen er die einzelnen Kriterien zuordnet (‘TeilnehmerInnen’, ‘Beziehung zwischen den TeilnehmerInnen’, ‘Situation’, ‘Medium’, ‘Verhältnis der TeilnehmerInnen zur Äußerung’, ‘Ziele’ und ‘Thema’), handelt es sich allesamt um Faktoren, die bereits in früheren Modellen als einflussreich für Registervariation benannt wurden – sie sind hier jedoch deutlich weiter ausdifferenziert und jeweils mit den möglichen Merkmalsausprägungen aufgeführt. Die Parameter, anhand derer ‘intimes Sprechen’ in Kapitel 3.1 abgegrenzt wurde (die ‘intime Beziehung’ und die ‘intime Situation’), finden sich im Schema von Biber (1994) an verschiedenen Stellen wieder und liegen vor allem in den Ka-

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tegorien ‘Beziehung zwischen den TeilnehmerInnen’ («relations between addressor and addressee»), ‘Situation’ («setting») und ‘Thema’ («topic/subject») verortet. Dieser Umstand spricht zunächst noch einmal deutlich dafür, ‘intimes Sprechen’ tatsächlich als ‘Register’ zu fassen, da eine Einordnung in etablierte Modelle der Registervariation problemlos möglich ist. Zum anderen zeigt sich, dass die in dieser Arbeit vorgeschlagene Abgrenzung des ‘intimen Sprechens’ (cf. Kapitel 3.1) deutlich simpler ist, als sie dem Schema von Biber (1994) folgend vorgenommen werden müsste. Insofern als sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch trotz ihrer Einfachheit hinreichend zur Beschreibung der Modalität zu sein scheint, wirkt die Liste von Biber (1994) insgesamt etwas überkomplex und wenig praxistauglich. Sie kann allerdings eine gute Orientierung zur ersten Eingrenzung potentieller Einflussfaktoren eines Registers bieten und dabei helfen, ggf. wichtige Einflussfaktoren nicht unberücksichtigt zu lassen. Schemata wie das von Biber (1994) sind zahlreich; sie unterscheiden sich zum Teil deutlich in den einbezogenen Merkmalen sowie in deren Gruppierung und/oder Bezeichnung (Überblicksdarstellungen finden sich z. B. bei Aschenberg 1999 und 2001 sowie bei Deppermann/Spranz-Fogasy 2001). Die Unterschiede liegen zum Teil in der unterschiedlichen disziplinarischen Verortung und den unterschiedlichen Zielsetzungen begründet, vor allem aber im Umstand, dass aufgrund der indefiniten Menge faktischer (und denkbarer) Situationen gar keine abschließende, geschweige denn allgemein akzeptierbare Liste erstellt werden kann: «There are long lists of contextual factors we ought to think of. The problem is that the world offers such an endless variety of situations: we must learn to concentrate on those features that are relevant to our purpose, and to ignore the rest» (Enkvist 1980, 90; ebenso Aschenberg 1999, 121). Aschenberg (1999) schlägt daher vor, die ‘Situation’ grundsätzlich offen zu fassen und erst «am Einzelfall hermeneutisch zu konkretisieren» (121; ebenso Aschenberg 2001) – für das ‘intime Sprechen’ ist dies in Kapitel 3.1 erfolgt. Mit dieser Definition von ‘Situation’ ist man letztlich wieder bei der eingangs angesprochenen Unkonkretheit und Offenheit des Situationsbegriffs angelangt: Weil sich letztlich alle Versuche, Untertypen diaphasischer Varietäten zu bestimmen und die ‘Situation’ anhand ihrer relevanten Merkmale zu konkretisieren, als unzureichend erweisen (müssen), kann letztlich eben doch «die ganze Welt relativ zu einem Äußerungsereignis» (Aschenberg 2001, 435) determinierend für diaphasische Variation sein – welche Faktoren dies für ein bestimmtes Register sind, kann nur für den Einzelfall bestimmt werden. Für das ‘intime Sprechen’ sind es die ‘intime Beziehung’, die ‘intime Kommunikationsumgebung’ und die ‘intime Handlung’. Dass ‘intimes Sprechen’ als Register bezeichnet werden kann, ist inzwischen deutlich geworden. Im Sinne der erzielten differentiellen Definition des

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‘intimen Sprechens’ muss aber auch danach gefragt werden, in welchem Verhältnis dieses Register zu anderen, offenbar ähnlichen Registern steht, wie sie im Spanischen z. B. mit coloquial, informal, familiar oder hablado beschrieben werden. Zwingende Basis für eine Verortung des ‘intimen Sprechens’ in diesem Begriffsraum ist das Vorliegen von Beschreibungen dieser Varietäten inklusive der für sie relevanten Situationsmerkmale. Solche Beschreibungen sind – wie weiter oben bereits angedeutet – leider rar gesät. Im bereits vielfach aufgelegten «Klassiker» El español coloquial (1973) von Werner Beinhauer finden sich lediglich sehr kurze Anmerkungen zum Wesen des titelgebenden Registers: «Entendemos por lenguaje coloquial el habla tal como brota, natural y espontáneamente en la conversación diaria, a diferencia de las manifestaciones lingüísticas conscientemente formuladas, y por tanto más cerebrales, de oradores, predicadores, abogados, conferenciantes, etc., o las artísticamente moldeadas y engalanadas de escritores, periodistas o poetas» (9). Diese Bemerkungen kann man zwar noch nicht als im engeren Sinne wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik auffassen, es werden in dem kurzen Abschnitt aber dennoch bereits zwei offenbar relevante Situationsmerkmale des español coloquial angesprochen, und zwar der ‘Planungsgrad’ («natural y espontáneamente») und die ‘Alltagsumgebung’ («conversación diaria»). In Lorenzo (1977) findet sich folgende Definition für das español coloquial: «El conjunto de usos lingüísticos registrables entre dos o más hispanohablantes en una situación normal de la vida cotidiana» (172). Die Beschreibung der Situation als ‘normal’ und ‘alltäglich’ hilft aufgrund ihrer mangelnden Konkretheit nicht besonders bei der Abgrenzung des Registers weiter. Ebenso geringe Aussagekraft hat auch die Definition von Vigara (1992): «El empleo común que hacen de un determinado sistema lingüístico los hablantes de una determinada sociedad (la española) en sus actos cotidianos de comunicación» (35). Intensivere Überlegungen zum español coloquial hat schließlich ab den 1990er-Jahren Antonio Briz Gómez angestellt (in monographischer Form z. B. Briz Gómez 1996 und 2001). Er nimmt zunächst eine gut begründete Abgrenzung der Bezeichnung coloquial von den Begriffen informal, familiar, hablado und vulgar vor, die für diese Arbeit übernommen werden soll: – Die Begriffe coloquial und informal sind Synonyme (Briz Gómez 2001, 26). – Grundsätzlich ebenfalls synonym zu coloquial verwendbar ist familiar; oft schwingt bei dieser Bezeichnung allerdings die Beschränkung auf Gespräche einander bekannter Personen (beim deutschen familiär ggf. sogar von Familienmitgliedern) mit. Da Bekanntheit (geschweige denn Familienmitgliedschaft) aber keine Voraussetzung für informalidad bzw. coloquialidad ist, sondern nur einen Parameter neben vielen anderen darstellt (cf. auch

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Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 214), soll der Terminus coloquial vorgezogen werden (Briz Gómez 2001, 36). Der Begriff hablado ist von coloquial zu unterscheiden, denn er bezieht sich ausschließlich auf das Medium. Zwar weist der Pol coloquial eine hohe Affinität zum phonischen Kode (hablado) auf und der Pol formal eine hohe Affinität zum graphischen Kode (escrito), aber es sind auch Kreuzkombinationen möglich und die Begriffe daher keinesfalls gleichzusetzen (Briz Gómez 1996, 30; 2001, 27; cf. ebenso Gaviño Rodríguez 2008, 21; Rivas Zancarrón/Gaviño Rodríguez 2009, 17 sowie Kapitel 3.2.1.3 zur diamesischen Variation). Nicht mit coloquial gleichzusetzen ist vulgar, das auf der diastratischen Ebene verortet ist und auch nur so benutzt werden sollte (Briz Gómez 1996, 25–26; 2001, 36–37).

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll als deutsche Übersetzung für coloquial aufgrund der angesprochenen Problematik nicht der Begriff ‘umgangssprachlich’ (cf. FN 54), sondern der Begriff ‘informell’, den Briz Gómez (2001, 26) mit coloquial gleichsetzt, verwendet werden. Briz Gómez (2001) setzt zur Beschreibung ‘Formalität’ als grundlegende diaphasische Dimension an und postuliert ein Kontinuum zwischen den Polen coloquial und formal. Bestimmt sei diese Skala der ‘Formalität’ durch die Situationsmerkmale ‘Vertrautheit der SprecherInnen’ («relación de proximidad entre los participantes», graduell), ‘gemeinsames Wissen’ («saber y experiencia compartidos», dichotom), ‘Alltäglichkeit des Themas’ («cotidianidad temática», dichotom), ‘Planungsgrad’ («grado de planificación», graduell) und ‘Zweck’ («finalidad de la comunicación», kategorial: «interpersonal», «transaccional» oder «estético-estilística»). Der Pol coloquial sei gekennzeichnet durch die Merkmale mayor relación de proximidad, saber compartido, cotidianidad, menor grado de planificación und finalidad interpersonal (Briz Gómez 2001, 26). Vergleicht man die Merkmale des ‘intimen Sprechens’ mit diesen Kriterien von Briz Gómez (2001), erhält man ein wenig zufriedenstellendes Ergebnis: Mit mayor relación de proximidad, saber compartido, cotidianidad, menor grado de planificación und finalidad interpersonal wären für ‘intimes Sprechen’ genau dieselben Situationsmerkmale kennzeichnend wie für das español coloquial. Zur Abgrenzung von ‘intimem Sprechen’ und ‘informeller Sprache’ nützt die Konzeption von Briz Gómez (2001) also wenig; sie macht aber deutlich, dass beide Register offenbar viele Gemeinsamkeiten aufweisen und sich daher vermutlich auch sprachlich in vielen Aspekten ähneln. Wie lässt sich nun aber eine Abgrenzung zwischen ‘intimem Sprechen’ und ‘informeller Sprache’ treffen? Der entscheidende Unterschied liegt in dem, was in Kapitel 3.1.2 als ‘intime Situation’ bezeichnet wurde. So ist ein Gespräch zwi-

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schen ‘intimen BeziehungspartnerInnen’ eben nicht automatisch ‘intim’ – erst wenn die Kommunikatonsumgebung geschützt ist (‘intime Kommunikationsumgebung’) und die Intimität selbst zum Gegenstand der Kommunikation wird (‘intime Handlung’), treten ‘intimsprachliche’ Spezifika auf, die über solche der «bloßen» ‘informellen Sprache’ hinausgehen. Wenn ein Gespräch zwischen ‘intim’ Vertrauten dagegen nicht in einer ‘intimen Kommunikationsumgebung’ geschieht (etwa im Beisein Bekannter) und/oder keine ‘intime Handlung’ vorliegt (z. B. wenn über das Wetter diskutiert wird), lässt sich die damit verbundene Sprache nicht von ‘informeller Sprache’ unterscheiden. Daran zeigt sich erneut, dass eine Definition des ‘intimen Sprechens’ nur auf Basis der Beziehung der GesprächsteilnehmerInnen nicht ausreicht. Stattdessen bilden sowohl die ‘intime Beziehung’ als auch die ‘intime Situation’ die differentia specifica des Registers. Die Merkmale der ‘intimen Situation’ finden sich im Modell von Briz Gómez (1996; 2001) nicht wieder – wenig überraschend, da er eben nicht ‘intimes Sprechen’, sondern ‘Formalität’ modelliert. Das bedeutet aber auch, dass ‘intimes Sprechen’ ganz offenbar nicht auf einer Skala mit coloquial und informal liegen kann (zumindest nicht im Modell von Briz Gómez), denn die Unterschiede zwischen den Registern sind dort graduell und kontinuierlich angelegt: In Richtung des Pols coloquial nimmt die Quantität bzw. Qualität bestimmter sprachlicher Merkmale schrittweise ab (bzw. zu), in Richtung des Pols formal dagegen nimmt sie immer weiter zu (bzw. ab), und zwar jeweils in dem Ausmaß, in dem auch die Situationsfaktoren sich verändern. ‘Intimes Sprechen’ scheint aber gerade nicht in erster Linie durch ein «Mehr» oder «Weniger» im Vergleich zu den benachbarten Registern gekennzeichnet zu sein. Vielmehr stellt es sich so dar, dass ‘intimes Sprechen’ einerseits die situativen Merkmale aufweist, die dem Extrempol der informalidad zugeschrieben werden (und damit wohl auch diejenigen sprachlicher Art), zusätzlich aber noch weitere Merkmale (die ‘intime Situation’), die für die Dimension ‘Formalität’ nicht relevant sind. Die Unterschiede zwischen den Registern sind also vielmehr kategorischer und nicht gradueller Art. So lässt sich auch erklären, dass ‘intimes Sprechen’ auch auf der sprachlichen Ebene eben nicht in erster Linie extreme(re) Ausprägungen der bereits im ‘informellen Register’ beobachtbaren Merkmale aufweist, sondern vor allem auch solche, die im ‘informellen Register’ überhaupt nicht vorkommen (z. B. ‘intimsprachliche’ Anredeformen, (secondary) baby talk). ‘Intimes Sprechen’ lässt sich also nicht auf der Skala von Briz Gómez (2001) verorten. Vielmehr handelt es sich um ein Register, dass dem ‘informellen Register’ zwar nahesteht, im Grunde sogar auf ihm aufsetzt, aber zusätzlich eigene Spezifika – sowohl was die Situationsfaktoren als entsprechend auch die sprachlichen Merkmale betrifft – aufweist.

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3.2.1.3 ‘Intimes Sprechen’ als diamesische Varietät Der Begriff der ‘Nähe’, der einen der Pole der von Koch/Oesterreicher (z. B. 1985; 1994; 2011) postulierten diamesischen Dimension darstellt, scheint sich auf den ersten Blick besonders gut mit der Vorstellung eines ‘intimen Sprechens’ zu vertragen. Ist also auch eine Verortung des ‘intimen Sprechens’ auf der diamesischen Dimension, und zwar am Extrempol der ‘Nähe’, denkbar und ggf. sogar zu bevorzugen? Ausgangspunkt für die von Koch/Oesterreicher (1985; 1994; 2011 u. a.) modellierte Dimension ist die Frage nach den Unterschieden zwischen ‘geschriebener’ und ‘gesprochener Sprache’ und ihrem Verhältnis zu den anderen Varietäten einer Einzelsprache. Die beiden Romanisten sind der Ansicht, dass die Unterscheidung ‘geschrieben’ vs. ‘gesprochen’ nicht der Diaphasik «einverleibt» werden kann (Koch/Oesterreicher 1985, 16, 28; 1994, 595–596; 2011, 16) und erweitern daher das bisher (in der Regel) dreigliedrige Varietätenmodell um die diamesische Dimension: die Dimension der ‘konzeptionellen Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’ bzw. der ‘Nähe-’ und ‘Distanzsprachlichkeit’. Wesentlich für das Modell von Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) ist zunächst die von Söll (1974, 23) übernommene Unterscheidung zweier Ebenen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, einerseits der des ‘Mediums’ (‘phonischer Kode’ vs. ‘graphischer Kode’) und andererseits der der ‘Konzeption’ (‘konzeptionell mündlich’ vs. ‘konzeptionell schriftlich’). Das Verhältnis zwischen ‘phonischem’ und ‘graphischem Kode’ ist dabei als dichotom, das zwischen ‘konzeptioneller Mündlichkeit’ und ‘konzeptioneller Schriftlichkeit’ als Kontinuum zu verstehen. Um den Abstufungen innerhalb des Kontinuums und gleichzeitig den beiden Realisierungsformen Rechnung zu tragen, entwerfen Koch/Oesterreicher (1985, 18) ein Schema, in das beispielhaft einzelne Äußerungsformen eingetragen sind (cf. Abbildung 2). An diesem Schema zeigt sich beispielsweise, dass ein vertrautes Gespräch (a) und ein Vortrag (i) zwar beide gleichermaßen ‘phonisch’ sind, sich die Äußerungsformen aber deutlich hinsichtlich ihrer Konzeption unterscheiden. So ist ein vertrautes Gespräch deutlich ‘mündlicher’ als ein Vortrag. Dasselbe gilt für verschiedene Äußerungsformen des ‘graphischen Kodes’, so z. B. die extrem ‘schriftliche’ Verwaltungsvorschrift (k) in Abgrenzung zum eher ‘mündlichen’ abgedruckten Interview (d). Innerhalb der Kommunikationsmöglichkeiten gibt es bevorzugte, wahrscheinlichere Kombinationen, nämlich zwischen ‘gesprochen’ und ‘phonisch’ (z. B. vertrautes Gespräch, Telefonat mit einem Freund) und ‘geschrieben’ und ‘graphisch’ (z. B. Verwaltungsvorschrift, FAZ-Artikel). Dass die Ebenen aber deswegen nicht gleichzusetzen, sondern prinzipiell unabhängig voneinander sind, zeigt sich daran, dass es eben auch Kombinationen wie ‘geschrieben’ und ‘phonisch’ (z. B. Vortrag, Predigt) und ‘gesprochen’ und

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Abbildung 2: Verschiedene Äußerungsformen und ihre Verortung zwischen Medium und Konzeption nach Koch/Oesterreicher (1985, 18).

‘graphisch’ (z. B. abgedrucktes Interview) gibt. Da grundsätzlich auch Transpositionen von einem Medium in das andere möglich sind, etwa mittels Transkription eines vertrauten Gesprächs (angedeutet durch a’), liefert der Vergleich des ‘phonischen’ und des ‘graphischen Kodes’ den Autoren zufolge letztlich keine Aufschlüsse über Varietätenunterschiede im Bereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit; stattdessen könne nur das konzeptionelle Kontinuum definitorisch für solche Varietätenunterschiede sein (Koch/Oesterreicher 1985, 19). Zur Vermeidung von Verwechslungen der medialen (‘graphisch’ vs. ‘phonisch’) und konzeptionellen Ebene (‘geschrieben’ vs. ‘gesprochen’) führen Koch/ Oesterreicher (1985, 19) statt der Begriffe ‘(konzeptionelle) Mündlichkeit’ und ‘(konzeptionelle) Schriftlichkeit’ die inzwischen zum festen Begriffsinventar der Romanistik gehörenden Termini ‘Nähe’ und ‘Distanz’ ein und entwerfen auf dieser Basis ihr sog. Nähe-Distanz-Modell (cf. Abbildung 3). Das Nähe-Distanz-Modell stellt im Grunde eine Erweiterung von Abbildung 2 dar: Zusätzlich zur Verortung verschiedener Äußerungsformen (a-k) im Spannungsfeld zwischen Medium und Konzeption sind hier zum einen die Kommunikationsbedingungen angegeben, die jeweils den Pol der ‘Nähe’ (bzw. der ‘konzeptionellen Mündlichkeit’) und den Pol der ‘Distanz’ (bzw. der ‘konzeptionellen Schriftlichkeit’) kennzeichnen, sowie zum anderen die Versprachlichungsstrategien, die mit diesen Kommunikationsbedingungen jeweils einhergehen.

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Abbildung 3: Nähe-Distanz-Modell nach Koch/Oesterreicher (1985, 23).

So ist das Kontinuum zwischen ‘Nähe’ und ‘Distanz’ den beiden Romanisten zufolge durch eine Reihe von Parametern bestimmt, die sie ‘Kommunikationsbedingungen’ nennen. Sie führen auf: den Grad der Dialogizität, den Grad der Vertrautheit der PartnerInnen, die physische Nähe der PartnerInnen, den Grad der Themenfixierung, den Grad der Öffentlichkeit, den Grad der Spontaneität, den Grad der emotionalen Beteiligung und den Grad der Situations- und Handlungseinbindung der Kommunikationsakte (Koch/Oesterreicher 1985, 19; 1994, 588). Das Zusammenwirken dieser Parameter in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ergibt verschiedene ‘Redekonstellationstypen’ (Koch/Oesterreicher 1985, 19). Der Redekonstellationstyp, der durch die maximalen Ausprägungen der Parameter charakterisiert ist, bildet den Pol der ‘Nähe’, der Redekonstellationstyp mit den minimalen Ausprägungen den Pol der ‘Distanz’. Andere Konfigurationen liegen je nach Kombination und Gewichtung dazwischen. ‘Nähe’ und ‘Distanz’ gehen jeweils mit bestimmten Versprachlichungsstrategien einher. Während ‘Distanzäußerungen’ zum Beispiel einen höheren Planungsgrad, eine größere Endgültigkeit, eine stärkere Integration und eine größere Elaboriertheit aufweisen, bringen ‘nähesprachliche’ Kommunikationsbedingungen tendenziell einen geringeren Planungsgrad, eine stärkere Prozesshaf-

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tigkeit, eine geringere Integration und eine geringere Elaboriertheit mit sich (z. B. Koch/Oesterreicher 1985, 21–23; 2011, 9–10). Die Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien sind laut den beiden Autoren universell und gehen mit bestimmten, ebenfalls universellen sprachlichen Merkmalen einher (Koch/Oesterreicher 1985, 27). In ihrer Aufzählung von Universalien der ‘Nähesprache’ (bzw. ‘konzeptionell gesprochenen Sprache’) finden sich z. B. auf der Ebene der Phonetik sogenannte Schnellsprech- oder Allegroformen, auf der Ebene der Syntax Sparsamkeitsphänomene wie Parataxen, Holophrasen, Kongruenzschwächen und Anakoluthe, auf der Ebene der Lexik Passepartoutwörter und geringe lexikalische Variation sowie auf der Ebene der Pragmatik Eigen- und Fremdkorrekturen, Verzögerungen, Überbrückungsphänomene, Pausen, Abtönungspartikel, turn-taking-Signale und Interjektionen (Koch/Oesterreicher 1985, 27; 1994, 590–591; 2011, 41–134).59 Doch beschränken sich Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) nicht darauf, ein universelles Schema kommunikativer Bedingungen und damit verbundener Versprachlichungsmerkmale zu präsentieren, sondern sie wenden das Modell darüber hinaus auch auf die interne Organisation der historischen Sprachen an. So gebe es auch einzelsprachliche Merkmale der ‘Nähe’ und ‘Distanz’. Koch/Oesterreicher (1985, 28) führen z. B. das französische passé simple auf, das im gesprochenen Französisch zugunsten des passé composé aufgegeben wurde und nur im geschriebenen Französisch verwendet wird. Diesen Umstand führen sie auch als Begründung dafür an, dass ‘Nähe’- und ‘Distanzsprache’ nicht auf die diaphasische Dimension reduziert werden könne, sondern von einer weiteren, nämlich der diamesischen Dimension ausgegangen werden müsse (Koch/Oesterreicher 1985, 28). Wie sieht es nun mit der Eignung der Nähe-Distanz-Skala für das ‘intime Sprechen’ aus? Lässt sich ‘intimes Sprechen’ auch als ‘(extreme) Nähesprache’ beschreiben? Dem scheint nicht so zu sein. Nach intensiver Beschäftigung mit dem Nähe-Distanz-Modell wird deutlich, dass der zentrale Begriff der ‘Nähe’ dort gar nicht in erster Linie als ‘psychische Nähe’ zwischen den GesprächsteilnehmerInnen zu verstehen ist, wie der Begriff auf den ersten Blick suggeriert. Stattdessen wird ‘Nähe’ als eine Konstellation mehrerer verschiedener Kommunikationsbedingungen konzeptualisiert, die sich sowohl auf die physische, raumzeitliche Dimension von ‘Nähe’ als auch auf ihre eher metaphorisch verstandene psychische Dimension beziehen. Die Dialogizität, die physische Nähe der Part-

59 Solche Phänomene werden heute vor allem in der Disziplin der Gesprächslinguistik untersucht, in die Mroczynski (2014) übersichtlich einführt. Ausführliche auf die Romania bezogene Analysen finden sich in Koch/Oesterreicher (2011).

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nerInnen, die Themenoffenheit, die Spontaneität und die starke Situations- und Handlungseinbindung der Kommunikationsakte beziehen sich eher auf die ‘physische Nähe’; die Vertrautheit der PartnerInnen, die Privatheit und die hohe emotionale Beteiligung dagegen eher auf die ‘psychische Nähe’. Die für das ‘intime Sprechen’ relevante ‘psychische Nähe’ bildet damit zwar einen der Parameter für ‘Nähesprache’ bzw. ‘konzeptionell gesprochene Sprache’, entscheidend ist aber im Nähe-Distanz-Modell das Zusammenwirken mit den Parametern der ‘physischen Nähe’ und eben nicht ‘psychische Nähe’ als Einflussfaktor für sprachliche Variation an sich. Wenngleich man daher zunächst dazu neigen mochte, ‘intimes Sprechen’ aufgrund des Begriffs der ‘Nähe’ als ‘(extreme) Nähesprache’ aufzufassen und damit auf der diamesischen Dimension zu verorten, so ist das, worauf Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) hinauswollen, doch etwas anderes: Es geht ihnen eben nicht primär um eine Skala ‘psychischer Nähe’ und ‘psychischer Distanz’ in der Sprache, sondern um eine Skala ‘konzeptioneller Mündlichkeit’ bzw. ‘Schriftlichkeit’, die ihnen zufolge durch eine Fülle unterschiedlicher Faktoren erzeugt wird, die auf beiden Dimensionen der ‘Nähe’ verortet sind. Das ‘intime Sprechen’ ist auf dieser Skala nicht anzusiedeln, sondern ein Register mit spezifischen Kontextbedingungen, die sich ausschließlich auf die metaphorische, beziehungsspezifische Dimension von ‘Nähe’ beziehen – die raumzeitliche Dimension der ‘Nähe’ dagegen ist für sie kaum bis gar nicht relevant. Es scheint auch grundsätzlich so zu sein, als müssten die beiden Ebenen der ‘Nähe’ im Modell von Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) voneinander getrennt werden. So haben die Bedingungen ‘physischer Nähe’ offenbar andere Auswirkungen auf das Sprachverhalten als die Bedingungen ‘psychischer Nähe’. Die ‘physische Nähe’ hängt vor allem mit den universellen Merkmalen und Versprachlichungsstrategien ‘gesprochener Sprache’ zusammen, während die ‘psychische Nähe’ etwa ‘intimsprachliche’ Merkmale zur Folge hat. Es handelt sich also um zwei grundlegend verschiedene Klassen sprachlicher Phänomene, die durch die verschiedenen Arten von ‘Nähe’ erzeugt werden. Wenn Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) die ‘konzeptionell gesprochene’ bzw. ‘konzeptionell geschriebene Sprache’ modellieren wollen, scheinen hierfür vor allem die Bedingungen ‘physischer Nähe’ von Belang zu sein. Das zeigt sich auch an den Versprachlichungsstrategien und Merkmalen, die sie als typisch für die ‘gesprochene Sprache’ bzw. ‘Nähesprache’ anführen (z. B. hesitation phenomena, Korrekturen, Allegroformen) – diese erwachsen primär aus der raumzeitlichen, physische Ebene der ‘Nähe’. Merkmale, die primär aus der ‘psychischen Nähe’ der SprecherInnen zueinander hervorgehen – also etwa auch ‘intimsprachliche’ Merkmale –, finden sich dagegen in ihrer Auflistung nicht. Für eine Konzeption von ‘Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’ reicht daher ganz offenbar der Einbezug der physischen Dimension der ‘Nähe’ aus (cf. in diesem Zusammenhang auch den

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Ansatz von Ágel/Hennig 2006, die ‘Nähe’ und ‘Distanz’ ausschließlich nichtmetaphorisch konzipieren). Der für die vorliegende Arbeit interessantere Bereich der ‘psychischen Nähe’ ist davon zu trennen und aus dem Spannungsfeld von ‘gesprochener’ und ‘geschriebener Sprache’ bzw. ‘Nähe-’ und ‘Distanzsprache’ auszugliedern. Für ihn fehlt es damit weiterhin an einem adäquaten Modell (cf. auch Linke/Schröter 2017, 12). Weiterhin weist das Kontinuum, das Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) mit ‘Nähe’ vs. ‘Distanz’ bezeichnen, auffallende Ähnlichkeiten mit dem Kontinuum auf, das Briz Gómez (z. B. 1996; 2001) mit ‘Formalität’ bezeichnet (cf. Kapitel 3.2.1.2). So sind viele der von Briz Gómez für ‘Formalität’ als relevant erachteten Situationsmerkmale deckungsgleich mit denen, die Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) – wenngleich insgesamt detailreicher – für ‘Nähe’ und ‘Distanz’ ansetzen.60 Bemerkenswert ist hier insbesondere die Tatsache, dass eines der Modelle, nämlich das des español coloquial, auf der diaphasischen Ebene angesiedelt ist, während ein offenbar ganz ähnliches Modell, nämlich das der ‘Nähe’ und ‘Distanz’, eine neue diasystematische Ebene, nämlich die diamesische, begründen soll. Dieser Umstand lässt Zweifel an der Berechtigung zur Annahme einer eigenen diamesischen Variationsebene aufkommen. Tatsächlich ist die Existenz einer solchen nach Ansicht der Autorin nicht begründbar: Das, was Koch/Oesterreicher (1985 u. a.) ‘Kommunikationsbedingungen’ nennen, lässt sich genauso gut als ‘Situationsmerkmale’ fassen und bezeichnen, und das, was sie ‘Redekonstellationstyp’ nennen, könnte genauso gut unter dem Begriff ‘Situation(styp)’ firmieren. Die Bestimmung von ‘Nähe’ und ‘Distanz’ ist damit nichts anderes als die Bestimmung einer Äußerungssituation (cf. auch Selig 2011, 121). Was Koch/ Oesterreicher (1985 u. a.) somit letztlich entwerfen, ist ein Modell verschiedener Situationskonstellationen, denen jeweils bestimmte Äußerungsformen zugeordnet werden können – damit bewegen sie sich eindeutig im Bereich der Diaphasik. Die Annahme einer von der Diaphasik getrennten, diamesischen Dimension könnte nur dann aufrechterhalten werden, «wenn deren Ordnung fundamental anderen Prinzipien folgt[e] als bei den diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten» (Selig 2011, 121) – dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall.

60 Die Ähnlichkeit der Modelle liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Antonio Briz Gómez selbstverständlich um das Modell von Peter Koch und Wulf Oesterreicher wusste und es eventuell auch als Vorlage für sein Modell des español coloquial nutzte. In einer kurzen Fußnote bezieht er sich sogar explizit auf das Verhältnis der beiden Modelle zueinander: «W. Oesterreicher estudia los rasgos de oralidad concepcional, marcada por el lenguaje de la inmediatez, lo que podría corresponderse con lo que hemos llamado realización coloquial» (Briz Gómez 2001, FN 9). Er setzt damit also ‘Nähesprache’ und ‘informelle Sprache’ sogar gleich.

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Tatsächlich wird die Erweiterung des Varietätenmodells um die diamesische Ebene in der Romanistik auch von weiteren AutorInnen immer wieder angezweifelt. Nachdem das Postulat einer diamesischen Ebene zunächst über Jahre hinweg weithin akzeptiert wurde (wenn auch nicht ganz ohne GegenrednerInnen), ist in der Romanistik inzwischen sogar eine «eher skeptische Distanzierung dem Modell gegenüber» Albrecht (1986, 76; 1990, 70) (Selig 2017, 115) festzustellen. So sehen z. B. Ammon (1986, 15), Albrecht (1986, 76; 1990, 70), Coseriu (1988a, 282), Aschenberg (1991, 268–270), Berruto (1993, 27), Schreiber (1999, 45–50), Kabatek (2000, 315–318; 2001, s. p.), Wilhelm (2003, 223), Dufter/Stark (2003, 90–101), Lebsanft (2004, 206–209), Selig (2011, 120–121) und Greußlich (2015, 43) die Frage nach ‘Nähe’ und ‘Distanz’ als Variation innerhalb der diaphasischen Variation an. Besonders pointiert ist hier die Argumentation von Kabatek (2001): «In Kabatek (2000)61 habe ich darauf hingewiesen, dass es mir nicht nötig erscheint, den traditionellen Begrifflichkeiten zur Beschreibung sprachlicher Varietäten weitere hinzuzufügen und dass es sogar dem wissenschaftlichen Grundprinzip widersprechen würde, das uns empfiehlt, die Beschreibungsebene niemals komplexer als die Objektebene zu gestalten. Alle sprachlichen Fakten, die entweder als Fakten einer ‹diamesischen› Varietät oder einer Varietät von Nähe und Distanz angesehen werden, sind entweder universell und damit nicht der ‹Grammatik› eine [sic] bestimmten Varietät zugehörig (etwa Anakolute [sic], Korrekturen, hesitation phenomena usw.) oder sie sind eben als Elemente der Diaphasik, d. h. stilistische Elemente, einzuordnen. Wenn wir nun in einer Sprache wie dem Französischen Frankreichs Elemente wie das passé simple finden, die praktisch nicht in der Mündlichkeit vorkommen, so heißt dies, dass sie einer diaphasischen Varietät angehören, die üblicherweise vor allem geschrieben wird» (2001, s. p.).

Die deutliche Trennung, die Kabatek (2001, s. p.) hier zwischen universellen und einzelsprachlichen Merkmalen vornimmt, ist nach Ansicht der Autorin zentral für die Bewertung des Nähe-Distanz-Modells. So liegt dessen Stärke darin, dass es universelle sprachliche Merkmale und bestimmte Kommunikationsbedingungen in einen sinnvollen Zusammenhang bringt und damit eine grundsätzlich fundierte Konzeption ‘gesprochener Sprache’ (im Sinne ihrer universellen Merkmale wie z. B. Korrekturen, Pausen, hesitation phenomena) vorlegt (cf. auch Selig 2017, 120–145). In diesem Sinne (nämlich der universellen Merkmale) soll der Terminus ‘gesprochene Sprache’ auch im weiteren Verlauf der Arbeit verwendet werden. Davon zu unterscheiden ist die einzelsprachliche Variation in Abhängigkeit von bestimmten Kommunikationsbedingungen. Diese ist, insofern als hier situationsbedingte Variation modelliert wird, dem Bereich der Diaphasik zuzuordnen und deckt sich dort im Groben mit der Variation in Abhängigkeit des

61 Es finden sich in Kabatek (2000) auf den Seiten 315–318 in etwas ausführlicherer (und französischsprachiger) Form dieselben Argumente wie im angeführten Zitat.

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‘Formalitätsgrades’. Einzelsprachliche Merkmale der ‘Nähesprache’ sind daher im Grunde die Merkmale des ‘informellen Registers’ dieser Einzelsprache. Man kann und sollte bei der Analyse «alltäglicher» Kommunikation daher (mindestens) zwei Gruppen von Phänomenen unterscheiden: einerseits die einzelsprachlichen Merkmale des ‘informellen Registers’ (z. B. bestimmte Lexeme und Redewendungen) und andererseits die ‘universellen Merkmale gesprochener Sprache’ (z. B. Schnellsprechphänomene, Korrekturen etc.). Beide sind wiederum nicht deckungsgleich mit dem Register des ‘intimen Sprechens’. Dieses weist – wie in Kapitel 3.1 und 3.2.1.2 dargelegt – spezifische Kontextmerkmale auf, die sich von den Kontextmerkmalen ‘informeller’ sowie auch ‘gesprochener Sprache’ kategorisch unterscheiden, was auch auf der sprachlichen Ebene bestimmte Spezifika zur Folge hat. Auf der anderen Seite weisen die Kontexte des ‘intimen Registers’ auch zahlreiche Ähnlichkeiten mit ‘informeller’ und ‘gesprochener’ Sprache auf. Daher ist davon auszugehen, dass beim ‘intimen Sprechen’ neben den spezifisch ‘intimsprachlichen’ Merkmalen auch viele Merkmale des ‘informellen Registers’ sowie der ‘gesprochenen Sprache’ auftreten – diese sind in der Analyse jedoch deutlich voneinander zu trennen.

3.2.2 ‘Intimes Sprechen’ zwischen Individualität, Traditionalität, Einzelsprachlichkeit und Universalität Im vorangegangenen Kapitel ist ‘intimes Sprechen’ als diaphasische Varietät und damit auch als auf der historischen Ebene (cf. Kapitel 3.2) liegend klassifiziert worden. Ausgerechnet für die Ebene der Diaphasik scheinen die Grenzen zwischen historischer und individueller Ebene allerdings oft zu verwischen. Dass beide Ebenen schon ihrem Wesen nach in sehr engem Zusammenhang zueinander stehen, mag ein Ausgangspunkt für diese Verwirrung sein. So ist es bezeichnend für die Ebene der Einzelsprache, dass sie niemals als Produkt auftritt, weshalb dieses nur durch Abstraktion aus dem individuellen Sprechen hergeleitet werden kann (Coseriu 1988a, 253, cf. auch Tabelle 5). Dasselbe gilt für Varietäten: «Mit dem Ausdruck Varietät beziehen wir uns auf die Ebene der langue; dies beinhaltet natürlich, dass Varietäten in der parole realisiert werden und nur darüber empirisch zugänglich sind» (Ammon/ArnuzzoLanszweert 2001, 793). Das Datenmaterial, das zur Analyse genutzt werden kann, ist daher immer der ‘Text’ als Produkt der individuellen Ebene, ganz gleich ob man sich für die Einzelsprache bzw. Varietät oder für das konkrete Sprechereignis interessiert. Dazu kommt (wieder einmal) die Unschärfe der diaphasischen Grundbeschreibungskategorie, der ‘Situation’ (cf. auch Kapitel 3.2.1.2). So kann situationsgebundenes Sprechen zwar durchaus abstrakt ge-

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fasst werden, steht aber konzeptuell stärker in Verbindung mit einem konkreten, eben situierten Kommunikationsakt. Sprechen in einem bestimmten Kontext suggeriert damit eher einen individuellen Sprechakt (= individuelle Ebene) und weniger strukturelle Eigenschaften von Sprache (= historische Ebene). Dies kann dazu führen, dass situationsgebundenes Sprechen, auch wenn es von der auf Abstraktion ausgelegten Diaphasik untersucht wird, vorschnell auf der Ebene des konkreten Sprechens verortet wird. So zeigen sich tatsächlich einige AutorInnen überzeugt davon, dass man Register im Gegensatz zu Soziolekten und Dialekten nicht auf der historischen, sondern auf der individuellen Ebene anzusetzen habe (z. B. Casas Gómez 1997, 186; Briz Gómez 1996, 29; 2001, 35; Rivas Zancarrón/Gaviño Rodrízguez 2009, 13). So meint etwa Casas Gómez (1997): «Die diaphasischen Unterschiede gehören eher zu einer Linguistik des Sprechens und in den Rahmen bestimmter pragmatischer Voraussetzungen» (186), und Briz Gómez (2001) warnt sogar energisch davor, alle diasystematischen Dimensionen auf der historischen Ebene anzusiedeln: «Constituye un grave error la no diferenciación entre nivel de habla y nivel de lengua, por tanto, de registro y sociolecto» (35; ebenso 1996, 29). Diese Auffassungen scheinen zunächst irrig, scheint doch bei Registern der Unterschied zwischen individueller und historischer Ebene nicht weniger eindeutig zu sein als bei Dialekten, Soziolekten oder der «gesamten» Einzelsprache. Auch ein Register stellt ja nur eine Abstraktion aus der Gesamtheit der situationsgebundenen Äußerungsakte verschiedener SprecherInnen dar. Dagegen zeichnet sich die individuelle Ebene etwa dadurch aus, dass einzelne SprecherInnen sich in ihrem ‘Diskurs’ eben gerade nicht aller Elemente eines Registers bedienen, andererseits aber, z. B. aus funktionalen oder ästhetischen Gründen, Elemente anderer Register (oder Varietäten) nutzen, in ein und demselben ‘Text’ mehrere Register kombinieren oder sogar solche Elemente verwenden, die gar nicht dem jeweiligen Sprachsystem angehören (cf. auch Coseriu 1980b, 53; Albrecht 1986, 74; Kabatek 2000, 309). Dass Register also sehr wohl auf der (abstrakten) Ebene der Einzelsprache anzusiedeln sind und nicht auf der individuellen Ebene, scheint daher weiterhin eindeutig. Setzt man sich jedoch mit der Komponente des ‘Wissens’ auseinander, ist die Unterscheidung zwischen individueller und historischer Ebene bei diaphasischen Varietäten gar nicht so leicht zu treffen. Wie bereits in Kapitel 3.2 dargestellt setzt Eugenio Coseriu drei Ebenen des sprachlichen Wissens an: das ‘elokutionelle Wissen’ (auf der universellen Ebene), das ‘idiomatische Wissen’ (auf der historischen Ebene) und das ‘expressive Wissen’ (auf der individuellen Ebene). Gehört nun das Wissen über Register und damit auch über das ‘intime Sprechen’ zum idiomatischen oder zum expressiven Wissen?

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Coseriu selbst äußert sich zu der inhaltlichen Abgrenzung der beiden Wissensbereiche nur sehr knapp. Er definiert das ‘idiomatische Wissen’ als die «Beherrschung einer bestimmten Sprache» (Coseriu 1980b, 56) und das ‘expressive Wissen’ als «das Wissen, wie bestimmte Texte oder Textsorten gestaltet werden» (Coseriu 1980b, 55).62 Zur Veranschaulichung des Unterschieds führt er die Begriffe ‘Korrektheit’ vs. ‘Angemessenheit’ ein: «Auf der Ebene, der das idiomatische Wissen entspricht, spricht man von sprachlicher Richtigkeit, von Korrektheit. Eine Äußerung ist korrekt, wenn sie den Regeln einer bestimmten Sprache entspricht. Auf der Ebene des Textes, der das expressive Wissen entspricht, spreche ich von Angemessenheit; etwas kann angemessen oder auch unangemessen sein, ganz unabhängig davon, ob es korrekt oder inkorrekt ist» (Coseriu 1980b, 57; ähnlich auch Greußlich 2015, 41; Schlieben-Lange 1983, 29). Für einzelne Varietäten lässt sich aus diesen kurzen Bemerkungen Coserius Folgendes ableiten: Die ‘idiomatische’ Ebene umfasst Wissen darüber, welche Elemente zu einer bestimmten Varietät gehören und welche (äußerungsunabhängige) Bedeutung sie haben. Zum ‘expressiven Wissen’ dagegen gehört (unter anderem) das Wissen darüber, in welchen Situationen bestimmte Varietäten zielführend zu verwenden sind. Nun scheint es allerdings bei diaphasischen Varietäten so zu sein, dass sich diese beiden Ebenen überschneiden: Das Wissen darüber, welche Elemente zu einem bestimmten Register gehören, ist bereits untrennbar verbunden mit dem Wissen über dessen Anwendungskontexte, da diese das Register erst definieren. Darüber hinaus eine Ebene des ‘expressiven Wissens’ für Register anzusetzen, die das Wissen zu geeigneten Verwendungskontexten umfasst, erscheint künstlich. Damit soll nicht die Unterscheidung der drei Wissensbereiche an sich angezweifelt werden; doch offenbar ist – im Gegensatz zu Dialekten, Soziolekten und der «gesamten» Einzelsprache – bei Registern eine klare Verortung erschwert, weil sich das Wissen über sie sowohl auf der ‘idiomatischen’ als auch auf der ‘expressiven’ Ebene bewegt bzw. beide Ebenen hier untrennbar miteinander verflochten sind. Auch was die Abgrenzung mittels ‘Korrektheit’ vs. ‘Angemessenheit’ betrifft, fügen sich die diaphasischen Varietäten nicht ins Bild: Obwohl man sie grundsätzlich auf der historischen Ebene verortet, müsste man sie hinsichtlich dieses Aspekts doch recht eindeutig auf der individuellen Ebene ansetzen. Register zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie für bestimmte Situationen angemessen oder eben nicht angemessen sind, und nicht selten

62 Entsprechend dem Coseriu’schen Begriff des ‘Textes’ sind hier freilich nicht nur schriftliche Texte gemeint, sondern auch Gespräche.

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geht dieses Merkmal sogar in die Definition von ‘Register’ ein, cf. z. B. «The register range of a language comprises the range of social situations recognized and controlled by its speakers – situations for which appropriate patterns are available» (Ure 1982, 5). Wenngleich es sich also schließlich bei einem Register und damit auch beim ‘intimen Sprechen’ um eine abstrahierte Sprachform mit spezifischen sprachlichen Merkmalen und damit um eine Erscheinung der historischen Ebene handelt, ist das Wissen um sie offenbar sowohl auf der historischen als auch auf der individuellen Ebene angesiedelt. Dass Coseriu (1980b, 53) im Zusammenhang mit dem ‘expressiven Wissen’ schließlich noch davon spricht, dass «Texte auch ganz besondere Traditionen, und zwar unabhängig von einer bestimmten Sprache» haben,63 hat zur Herausbildung des heute in der Romanistik fest etablierten und stark beforschten Konzeptes der ‘Diskurstraditionen’ geführt. In der romanistischen Forschung wird das ‘expressive Wissen’ heute sogar oft mit dem Konzept der ‘Diskurstraditionen’ gleichgesetzt, z. B.: «Die erwähnten Regeln und Normen des expressiven Wissens sind nichts anderes als die in letzter Zeit intensiv besprochenen Diskurstraditionen, die als historisch-veränderliche kulturelle Normen die Gestaltung der Diskurse anleiten» (Schrott/Völker 2005, 15; cf. auch Eggert 2010, 81). Die umfangreiche Auseinandersetzung mit ‘Diskurstraditionen’ hat dazu geführt, dass das bei Coseriu nur sehr knapp erläuterte Konzept des ‘expressiven Wissens’ besser greifbar geworden ist. Kann also eventuell mithilfe des Konzeptes der ‘Diskurstraditionen’ noch Genaueres zur sprachtheoretischen Verortung von Registern und damit auch des ‘intimen Sprechens’ gesagt werden? Das Kompositum ‘Diskurstraditionen’ setzt sich zunächst aus den Komponenten ‘Diskurs’ und ‘Tradition’ zusammen. ‘Diskurs’ bezieht sich dabei im Coseriu’schen Sinne auf die individuelle Ebene des Sprechens, und hier wiederum auf den Aspekt der Tätigkeit (cf. Tabelle 5).64 ‘Traditionen’ sind Lebensgewohnheiten, die in Wissen und Handlungsweisen der Vergangenheit wurzeln und als Muster für das aktuelle Handeln fungieren. Auf Sprache übertragen be-

63 Die Traditionen umfassen laut Coseriu (1980b, 53) einerseits die Existenz bzw. NichtExistenz bestimmter Formeln (z. B. Guten Morgen) und andererseits bestimmte Arten der Textgestaltung, die durch Gattungstraditionen vorgegeben sind. 64 Parallel dazu ist nach wie vor auch der Begriff ‘Texttraditionen’ verbreitet, der von Coseriu selbst (1980b, 53) und im Anschluss auch von Schlieben-Lange (1983) gewählt wurde. Erst mit Koch (1997) und Oesterreicher (1997) wurde der Begriff zu ‘Diskurstraditionen’ geändert. Da es sich beim diskurstraditionellen Wissen um etwas handelt, das primär zur Realisierung von Prozessen, nämlich Diskursen, benötigt wird, deren Ergebnis erst die Produkte, nämlich Texte sind, erscheint die Betonung der Tätigkeit und damit der Begriff ‘Diskurstraditionen’ angebrachter.

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deutet dies, dass SprecherInnen bei der Gestaltung ihrer Diskurse auf tradierte Muster, nämlich die Diskurstraditionen, rekurrieren (Oesterreicher 1997, 25; Lebsanft/Schrott 2015, 24). Wilhelm (2001, 468–470) führt drei Komplexitätsgrade von Diskurstraditionen ein: 1. Diskursuniversen (z. B. ‘Literatur’, ‘Alltag’, ‘Wissenschaft’), 2. Text- oder Diskursgattungen (z. B. ‘Sonett’, ‘Telefonat’, ‘Vorstellungsgespräch’) und 3. Formeln (z. B. Es war einmal … oder Sehr geehrte Frau …) (cf. ähnlich auch Schlieben-Lange 1983, 141). Es kann sich bei Diskurstraditionen um «fertige Textbausteine», um Aufbau- und Strukturprinzipien, aber auch um nonverbale Handlungen (z. B. Händeschütteln, Lächeln) handeln (cf. auch Wilhelm 2001, 470; Eggert 2010, 79, 94). Als Wissensbestand der SprecherInnen bieten die Diskurstraditionen Orientierungen für das kommunikative Handeln in verschiedenen Situationen.65 Sie können in unterschiedlichem Grade fixiert sein und bieten daher unterschiedlich große Spielräume für individuelle Gestaltungen (Schlieben-Lange 1983, 142; Lebsanft/Schrott 2015, 37). So sind etwa Diskurstraditionen in der Domäne des Rechts oder der Religion in der Regel weitaus stärker fixiert als im Diskursuniversum der Literatur oder des Alltags. Getragen und ausgeübt werden Diskurstraditionen durch lockere soziale oder kulturelle Konfigurationen, z. B. Berufsgruppen, AnhängerInnen literarischer Strömungen, politischer Bewegungen o. Ä. Sie decken sich nicht (oder nur ausnahmsweise) mit den Sprachgemeinschaften, die wiederum die Einzelsprachen tragen (Schlieben-Lange 1983, 28; Eggert 2010, 79; Lebsanft/Schrott 2015, 38) und stehen konzeptuell den communities of practice (cf. Kapitel 3.1.1.1 und 3.2.3) nahe. Insgesamt stellen Diskurstraditionen also einen Wissensbestand der SprecherInnen dar, der sie zur Gestaltung konkreter Diskurse anleitet. Gemeinsam mit der elokutionellen und einzelsprachlichen Kompetenz bilden sie die kommunikative Kompetenz einer Kulturgemeinschaft (Oesterreicher 1997, 24; Lebsanft/Schrott 2015, 36; Kabatek 2018, 171). Dass ‘Diskurstraditionen’ in enger Verbindung zu ‘Registern’ stehen, liegt auf der Hand: Sowohl bei ‘Diskurstraditionen’ als auch bei ‘Registern’ handelt

65 Ebenso ist aber auch ein bewusstes Abweichen der SprecherInnen von den Traditionen möglich, wenn es ihnen für die Verwirklichung ihres kommunikativen Ziels zielführender erscheint. Ausschlaggebend sind hier die pragmatischen Faktoren und die Individualität der SprecherInnen. Die SprecherInnen können sich z. B. an Sprechakten orientieren, die zu einer anderen Situation gehören, oder sich gar nicht an bekannten Sprechakten ausrichten und die Sprachäußerung so kreativ wie möglich gestalten; auch in diesem Fall müssen sie sich aber letztlich in irgendeiner Form an bekannten Sprechakten orientieren, um eine davon abweichende, originelle Sprachäußerung zu produzieren (Oesterreicher 1997, 30–31; Wilhelm 2001, 467; Aschenberg 2003, 1; Gleßgen 2005, 217; Eggert 2010, 89–90, 102, 109).

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es sich um historisch herausgebildete Strukturen situierten Sprechens (cf. auch Koch 1997, 51; Lebsanft 2005, 30; Gleßgen 2005, 209). Wenn sich also für eine bestimmte kommunikative Situation z. B. bestimmte Formeln wie etwa Guten Morgen etabliert haben, handelt es sich dann um ein Registermerkmal oder um eine Diskurstradition? Lassen sich die beiden Konzepte überhaupt adäquat unterscheiden? Und kann ‘intimes Sprechen’ nicht schließlich auch als ‘Diskurstradition’ statt als ‘Register’ aufgefasst werden? So fragt auch Koch (1997): «Wo hat man es noch mit Diskurstraditionen zu tun und wo bereits mit einzelsprachlichen Varietäten? Dabei erweist sich das Problem der Abgrenzung von Diskurstraditionen und diaphasischen Varietäten als besonders dornig» (51). Tatsächlich haben sich einige RomanistInnen bereits (wenngleich lediglich in Form kurzer Kommentare) zur Problematik der Abgrenzung zwischen ‘Diskurstraditionen’ und ‘Registern’ geäußert. Es lassen sich unterschiedliche Auffassungen zum Verhältnis der beiden Konzepte identifizieren: – Varietäten sind Bestandteile von Diskurstraditionen: «Historisch gesehen sind Register einzelsprachliche Mittel als Bestandteile von Texttraditionen, denn nach dem Prinzip der Stiltrennung gehören bestimmte Stilebenen essentiell zu jeweils entsprechenden Textstoffen und -gattungen» (Lebsanft 2005, 33). Es wird hier also behauptet, dass Register Teil des ‘expressiven’ bzw. diskurstraditionellen Wissens sind. Hier müsste man zunächst korrigieren, dass nicht Register selbst (als Produkte) Teil des ‘expressiven’ Wissens sein können, sondern nur das Wissen um sie. Das würde bedeuten, dass in dieser Auffassung – zumindest im Falle von Registern – das ‘idiomatische Wissen’ Teil des ‘expressiven Wissens’ ist. Damit wäre man wieder bei der obigen Feststellung angelangt, dass sich bei Registern die Ebene des ‘expressiven’ kaum von der Ebene des ‘idiomatischen Wissens’ trennen lässt. – (Bestimmte) Varietäten sind eigentlich Diskurstraditionen: «[Die Fachsprachen und die Jugendsprache] als diastratische Varietäten einzuordnen, scheitert daran, dass ihre Sprecher bekanntlich nicht immer nur als Fachleute oder als Jugendliche kommunizieren […]. Andererseits ist es unbefriedigend, sie als bloße diaphasische Varietäten anzusehen, denn die Gruppenzugehörigkeit spielt für diese Traditionen doch eine nicht unerhebliche Rolle. Vielleicht kann man dieser Aporie entgehen, indem man sich einmal die Frage stellt, ob das Problem nicht besser als der Varietätenlinguistik (und damit aus dem einzelsprachlichen Bereich) auszugliedern ist: Man könnte dann Fachsprachen und Jugendsprache einfach als Diskurstraditionen interpretieren. […]» (Koch 1997, 52). Dieser Vorschlag würde also auch die oben gestellte Frage, ob ‘intimes Sprechen’ nicht auch als ‘Diskurstradition’ aufgefasst werden könnte, bejahen. Allerdings werden hier

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wieder die Aspekte ‘Wissen’ und ‘Produkt’ vermischt. ‘Diskurstraditionen’ werden als Wissensbestände (nämlich des ‘expressiven Wissens’) aufgefasst: Jugendsprache, Fachsprachen und auch ‘intimes Sprechen’ sind aber reale, beobachtbare Größen und eben nicht die dahinter stehenden, abstrakten Wissensbestände – sie können also keine ‘Diskurstraditionen’ sein. Man kann lediglich sagen, dass sie in Traditionen stehen, von denen man identifizieren müsste, inwieweit diese ‘idiomatischer’ oder ‘expressiver’ Art sind. Dass sie hier sogar mit ‘Diskurstraditionen’ gleichgesetzt werden, lässt vermuten, dass es sich beim Wissen um die angesprochenen Varietäten vor allem (oder zumindest auch) um Wissen ‘expressiver’ Art handelt. Auch hier gelangt man schlussendlich also wieder zu der Frage, ob es sich beim Wissen über gewisse Varietäten um ‘idiomatisches’ oder ‘expressives Wissen’ (oder beides) handelt. Diskurstraditionen lassen bestimmte Varietäten selegieren: «Entscheidend ist die Tatsache, dass Diskurstraditionen keineswegs in den Regeln einer Einzelsprache enthalten sind, dass sie aber teilweise den Einsatz bestimmter Sprachvarietäten und Verbalisierungmuster selegieren» (Oesterreicher 1997, 20; cf. auch Schlieben-Lange 1983, 123; Wilhelm 2001, 470; Schrott/ Völker 2005, 14; Eggert 2010, 94; Greußlich 2015, 41). Hier wird also angenommen, dass das Diskurswissen darin besteht, in einer bestimmten Situation nicht nur geeignete Aufbauprinzipien und Formeln zur Verfügung zu haben, sondern auch situationsangemessen Varietäten auswählen zu können, cf. auch Schlieben-Lange (1983): «Es gehört gerade auch zu den Sprechtraditionen zu wissen, welche Gruppe über welches Thema in welcher Situation welche Sprache/Varietät spricht» (123). Diese Auffassung scheint zunächst gut nachvollziehbar, kollidiert aber letztlich wieder mit der Natur von ‘Registern’. So wird gesagt, dass das Diskurswissen (bzw. das ‘expressive Wissen’) unter anderem darin bestehe, eine für die Situation passende Varietät auszuwählen. Nun ist es bei diaphasischen Varietäten aber so, dass das (eigentlich als ‘idiomatisch’ bezeichnete) Wissen um sie bereits ihre situationale Verortung enthält. Auch hier trifft man also letztlich wieder auf die Problematik, dass bei Registern ‘expressives’ und ‘idiomatisches Wissen’ untrennbar miteinander verquickt sind. Grundsätzlich handelt es sich bei der These «Diskurstraditionen lassen bestimmte Varietäten selegieren» aber um die nachvollziehbarste und daher wohl auch am häufigsten vertretene Ansicht. Varietäten können als Diskurstraditionen fungieren: «Podríamos suponer que una variedad lingüística puede funcionar como TD» (Kabatek 2018, 170). An dieser Aussage stört zunächst einmal, dass wieder die Ebenen ‘Wissen’ (Diskurstraditionen) und ‘Produkt’ (Varietäten) vermischt werden,

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denn ein Produkt kann nicht als Wissen fungieren. Als Beispiel bringt Kabatek (2018, 167, 170–171) die Sprache der EnarchInnen, der AbsolventInnen der auf die Ausbildung der Elite ausgerichteten französischen École Nationale d’Administration. Diese nutzen zur Demonstration ihrer Gruppenzugehörigkeit ein bestimmtes Register des Französischen, das im gesprochenen Französisch inzwischen unüblich ist. Das Beispiel drückt also aus, dass die Tradition einer bestimmten Gruppe darin besteht, dass sie im Gespräch miteinander oder zur Demonstration der Zugehörigkeit nach außen konsequent eine bestimmte Varietät nutzt. Die Diskurstradition gibt also vor, welche Varietät zu verwenden ist. Dies entspricht letztlich der zuvor genannten Auffassung, dass bestimmte Diskurstraditionen bestimmte Register selegieren lassen – mit derselben Problematik –, ist aber durch die Vermischung der Ebenen etwas unglücklicher ausgedrückt. An den vorgestellten Auffassungen wird zunächst deutlich, dass bei der Diskussion um das Verhältnis von Diskurstraditionen und Varietäten überraschend oft die sprachtheoretischen Ebenen vermischt werden. So scheint es den AutorInnen vor allem um die Frage zu gehen, wie man ‘Register’ (bzw. Varietäten allgemein) überhaupt von ‘Diskurstraditionen’ unterscheiden kann. In dieser Form stellt sich die Frage allerdings gar nicht: Register liegen ja auf der Ebene des Produkts, Diskurstraditionen aber auf der Ebene des Wissens – und diese Zuordnung kann als unumstritten gelten. Es handelt sich somit bei Diskurstraditionen und Varietäten um zwei grundlegend unterschiedliche Perspektiven auf Sprache, denn «Sprachäußerungen sind gleichzeitig sowohl diasystematisch verortet als auch diskurstraditionell gebunden» (Gleßgen 2005, 213). Dementsprechend sind die Gegenstände der synchron-deskriptiven Varietätenlinguistik und der (vorwiegend in der Romanistik verorteten) Forschung zu Diskurstraditionen auch grundlegend verschieden: Bei der Forschung zu ‘Diskurstraditionen’ steht die Technik bzw. das Wissen im Vordergrund: Sie möchte über das Produkt, nämlich den ‘Text’ (ergon), zu den dahinterstehenden Wissensbeständen, nämlich den Traditionen der ‘Diskursgestaltung’ (dynamis), gelangen; dazu bedient sie sich historisch-vergleichender Methoden. Die synchron-deskriptive Varietätenlinguistik nimmt zwar ebenfalls den ‘Text’ als Produkt der individuellen Ebene als Ausgangspunkt; ihre Zielsetzung liegt aber in der Abstraktion von der individuellen auf die einzelsprachliche Ebene, die sie über die Analyse größerer Textkorpora bewerkstelligt. So kann auch ‘intimes Sprechen’ grundsätzlich aus beiden Perspektiven betrachtet werden: Die synchron-deskriptive Varietätenlinguistik würde fragen, welche Merkmale typisch für das ‘intime Sprechen’ einer bestimmten Region sind. Die Forschung zu ‘Diskurstraditionen’ würde dagegen nach den Tradi-

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tionen fragen, in denen ‘intimsprachliche’ Äußerungen stehen.66 Woran sich die Bestimmung des Verhältnisses von ‘Diskurstraditionen’ und ‘Registern’ also letztlich scheidet, ist die wiederholt gestellte Frage nach den Wissensbeständen: Handelt es sich beim Wissen über Register und damit auch über das ‘intime Sprechen’ um ‘idiomatisches Wissen’ oder (auch) um Diskurswissen, also ‘expressives Wissen’? Diese Frage kann auch mit den Erkenntnissen der Forschung zu ‘Diskurstraditionen’ nicht klar beantwortet werden. Die Feststellung, dass es sich beim Diskurswissen nicht im engeren Sinne um sprachliches Wissen, sondern um sprachbezogenes Handlungswissen handelt (Schrott/Völker 2005, 14–15; Lebsanft 2005, 32; Eggert 2010, 102; Schrott 2015, 68), endet für Register erneut in der Aporie, da bei ihnen eben beide Wissensbereiche zusammenfallen. So stellt schließlich auch Eggert (2010) fest: «Damit ist dieses Wissen [scil. die Diskurstraditionen] stark an die Sprache selbst gebunden, denn zu dem Wissen über ein Wort gehört neben der Form und Bedeutung auch der Anwendungsbereich» (79). So scheint man sich also damit zufrieden geben zu müssen, dass bei Registern und damit auch beim ‘intimen Sprechen’ ‘idiomatisches’ und ‘expressives Wissen’ nicht scharf zu trennen sind. Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, dass sich ‘Diskurse’, d. h. auch ‘intimsprachliche Diskurse’, immer im Spannungsfeld zwischen Individualität und Traditionalität bewegen. SprecherInnen entscheiden sich entweder dazu, für die Situation etablierte Diskursmuster zu befolgen oder aber bewusst von diesen abzuweichen, wenn es ihnen für die Verwirklichung ihres kommunikativen Ziels geeigneter erscheint.67 Ausschlaggebend hierfür sind die Individualität der SprecherInnen sowie der aktuelle pragmatische Kontext (Oesterreicher 1997, 30–31; Wilhelm 2001, 467; Aschenberg 2003, 1; Lebsanft 2005, 32; Gleßgen 2005, 217; Eggert 2010, 89–90, 102, 109). Auch ‘intimsprachliche Diskurse’ (bzw. ‘Texte’) weisen daher immer sowohl Individuell-Originäres als auch Traditionell-Musterhaftes auf (cf. auch Linke/Schröter 2017, 15). Dass Abweichungen besonders häufig im Kontext starker Expressivität auftreten, mag eine der Erklärungen für die häufig anzutreffende Feststellung sein, dass ‘intim-

66 Dass auch ‘intimsprachliche Diskurse’ Traditionen folgen, betont bereits Oesterreicher (1997): «Sogar dort, wo wir ganz fundamentale Muster der Interaktion und Kommunikation vorliegen haben – etwa bei der Kommunikation in der Mutter-Kind-Dyade – ist es unvermeidlich, dass sich um den ‹harten Kern› derartiger kommunikativer Konstellationen geschichtlichkulturelle Form- und Sinnvarianzen legen» (31). Auch Leisi (1978) behandelt in seinem Kapitel Lieben nach Texten (74–109) den Aspekt der Traditionalität in der Paarsprache, beschränkt sich dabei allerdings auf literarische Darstellungen und legt damit vor allem eine Analyse der Intertextualität im literarischen Liebesdiskurs vor. 67 Dasselbe gilt übrigens für die Regeln und Normen des ‘idiomatischen Wissens’.

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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sprachliche Diskurse’ sich durch besonders viele individuelle Bildungen auszeichnen (cf. z. B. Kapitel 2.2.4). Hier müsste man allerdings zwei Arten von ‘Individualität’ unterscheiden, da auf ‘intimsprachliche Diskurse’ (mindestens) zwei Arten von Diskurstraditionen einwirken: eine (hinsichtlich ihrer TrägerInnenschaft näher zu identifizierende) «Umgebungskultur» und die Beziehungskultur (cf. auch Kapitel 3.1.1.1). Wenn eine Frau ihren Partner etwa mit Schatz anredet, so wird sich voraussichtlich herausstellen, dass sie damit der Diskurstradition einer «Umgebungskultur» folgt, womit aber noch nicht geklärt ist, ob sie auch der Diskurstradition der Beziehung folgt oder ob diese Anredeform eine Abweichung von den üblicherweise genutzten Formen darstellt; wenn sie ihren Partner heute mit Holzi anredet und dies ihre übliche Anrede an ihn ist, folgt sie damit der beziehungseigenen Diskurstradition, ist aber im Hinblick auf die Diskurstradition der «Umgebungskultur» sicherlich kreativ; wenn sie ihren Partner in einer konkreten Situation wiederum Tomate nennt und dies noch nie zuvor getan hat, produziert sie eine Form, welche die Diskurstradition sowohl der «Umgebungskultur» als auch der Beziehungskultur bricht (cf. auch Schulz 2017, 340). Für ‘intimes Sprechen’ scheinen beide Arten der Abweichung typisch zu sein, also sowohl beziehungsspezifische, im Hinblick auf die «Umgebungskultur» innovative Bildungen als auch situationsbedingte, kreative ad-hoc-Bildungen, die weder der einen noch der anderen Diskurstradition folgen. Inwieweit SprecherInnen bei der Gestaltung der einzelnen sprachlichen Äußerungen Diskurstraditionen folgen oder kreativ tätig sind, lässt sich auf Basis eines einzelnen ‘Diskurses’ (bzw. ‘Textes’) nicht feststellen. Es erfordert die Einbeziehung einer diachronen Perspektive, und zwar im Hinblick auf beide Arten von (Diskurs-)Traditionen. Neben der Bedeutung von Individualität und Traditionalität für ‘intimes Sprechen’ ist schließlich auch eine mögliche Rolle universeller Prozesse zu bedenken. So sind ‘intime Beziehungen’, die meisten ihrer psychologischen und sozialen Merkmale (cf. Kapitel 3.1.1) sowie ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Situationen (cf. Kapitel 3.1.2) ein allgemein menschliches Phänomen und eben nicht nur typisch für einen bestimmten Kulturkreis – ein besonders eindeutiger Fall ist z. B. das Bindungsmotiv des Menschen. Wenn nun davon ausgegangen wird, dass diese sozialen und psychologischen Merkmale in direkter Verbindung zu den mit ihnen verbundenen kommunikativen Verhaltensweisen stehen (cf. auch Kapitel 3.1.3), müssten sich diese in allen Kulturen und Sprachen auf die gleiche Art zeigen. Für die nonverbale und paraverbale Ebene der Kommunikation sind entsprechende kulturübergreifende (und teilweise sogar speziesübergreifende) Muster bereits gut dokumentiert, z. B. was affiliatives Verhalten, Bindungs- und Fürsorgeverhalten oder den Ausdruck von Emotionen angeht (cf. z. B. Argyle 1969, 25–67; Bowlby 1969, 240; Asendorpf/Banse 2000, 261–280; Argyle 2002, 13–104; Brehm et al. 2002, 130; Lohaus/Boll/Lißmann 2004, 159;

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Keller 2004, 110–126; Knapp/Vangelisti 2005, 31–39; Guerrero/Floyd 2006, 85–101; Schwarz-Friesel 2007, 58–61). Warum sollte dies für das sprachliche Verhalten also nicht ebenso gelten? Gerade bei einem Gegenstandsbereich wie dem ‘intimen Sprechen’, der in so enger Verbindung zu grundlegenden sozialen Prozessen des Menschen steht, liegt dies durchaus nahe. So ist es z. B. auffällig, dass in der ‘intimsprachlichen’ Anrede offenbar kulturübergreifend häufig kleine und/oder niedliche Tiere genutzt werden, was in direkter Verbindung zu den universellen Aspekten ‘Kindchenschema’ und ‘Bindung’ stehen könnte (cf. auch Kapitel 3.1.1.4).68 Weitere Bereiche, in denen sich – was die bereits bekannten Merkmale betrifft – beim ‘intimen Sprechen’ auffällige Parallelbildungen in mehreren Sprachen zeigen, sind z. B. der Gebrauch von Diminutiven, der sprachliche Emotionsausdruck oder der baby talk (cf. z. B. die Beobachtungen von Hasselrot 1957, 317–318; Ferguson 1964, 103–114; Bowlby 1969, 240; Ferguson 1977, 210; Lakoff/Johnson 1980, 3–6; Busch 1986, 1; Lakoff 1987, 3–27; Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 91–115; Kövecses 2000, 139–163; 2005, 15–58; Ortner 2014, 189–196; Sinner 2014, 105 sowie Kapitel 2.2.3, 2.2.5 und 2.2.6). Solche möglicherweise universellen, überzeitlichen Tendenzen manifestieren sich – anders als die paraverbalen und nonverbalen Signale – allerdings notwendigerweise in historisch-einzelsprachlichen Formen, was ihre Identifikation ggf. etwas erschweren kann. Darüber hinaus sind biologisch-evolutionär begründete Tendenzen im menschlichen Verhalten immer auch durch kulturelle Strukturen, Kategorisierungen und Normen überformt. So zeigen sich auch im Bindungs- und Fürsorgeverhalten, im Ausdruck von Emotionen sowie allgemein in der nonverbalen Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ neben kulturübergreifenden Verhaltensweisen immer auch interkulturelle und sogar intrakulturelle Unterschiede (cf. z. B. Bowlby 1969, 25–49, 240; Asendorpf/Banse 2000, 261–280; Argyle 2002, 13–104; Brehm et al. 2002, 130; Keller 2004, 110–126; Lohaus/Boll/Lißmann 2004, 159; Knapp/Vangelisti 2005, 31–39; Guerrero/Floyd 2006, 27, 85–101; Schwarz-Friesel 2007, 58–61). Dasselbe gilt für die verbale Ebene. Auch dort ist die Zuordnung von sprachlichem Merkmal und Kommunikationsbedingung nicht mehr (ausschließlich) «natürlich vorgegeben», sondern – und das ist ja der sprachliche «Normalfall» –

68 Dieses Phänomen würde dann dem Typus der ‘konnektiven Universalien’ entsprechen, die Coseriu (1988b, 244) in Abgrenzung zu ‘semantischen Universalien’ und ‘materiellen Universalien’ ansetzt. Semantische Universalien betreffen ihm zufolge die Bedeutung (z. B. «Alle Sprachen drücken Possession aus»), materielle Universalien die Form (z. B. «Alle Sprachen verfügen über ein Phonem /a/») und konnektive Universalien die Beziehung zwischen Bedeutung und Form (z. B. «Alle Sprachen drücken ‘Verkleinerung’ mittels bestimmter Suffixe aus» oder eben ggf. auch «Alle Sprachen nutzen kleine Tiere, um intim Vertraute anzusprechen»).

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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grundsätzlich arbiträr und nur über die Konventionalisierung, d. h. durch eine habituelle Verbindung im SprecherInnenwissen, gegeben (cf. auch Coseriu 1988a, 227–228, 256–257; Selig 2011, 120; Kabatek 2018, 164). Letztlich ergibt sich also das konkrete soziale und damit auch kommunikative Verhalten immer aus dem Zusammenspiel biologisch-evolutionärer und kulturell-historischer Bedingungen und beide sollten ihre Berücksichtigung in entsprechenden Erklärungsansätzen finden. Um allerdings festzustellen, inwieweit bestimmte ‘intimsprachliche’ Phänomene universell motiviert sind oder nicht, sind vergleichende Untersuchungen ‘intimsprachlicher’ Äußerungen aus verschiedenen (bzw. theoretisch allen) Kulturkreisen und Sprachen sowie eine Zusammenarbeit mit Disziplinen wie der Anthropologie, Psychologie und Biologie vonnöten. Für die SprecherInnen selbst schließlich fallen beim konkreten ‘intimen Sprechen’ die Ebenen von Individualität, Traditionalität und Universalität zusammen. Sie sind allein in der linguistischen Analyse ‘intimsprachlicher’ Äußerungen unterscheidbar, wie auch Oesterreicher (1997) bemerkt, wenn er von einer «sprachtheoretischen Sicht, die an Sprachlichem drei analytisch zu trennende, im konkreten Sprachvollzug aber natürlich unlösbar verschmolzene Aspekte anzuerkennen vermag», spricht (19; ebenso Wilhelm 2003, 229; Schrott/ Völker 2005, 13; Eggert 2010, 89; Kabatek 2018, 164).

3.2.3 Zur Komplexität, Dialektik und Dynamik von Kontext und Varietät Zum Ende des sprachtheoretischen Kapitels seien noch einige Worte zur Komplexität, Dynamik und Dialektik von Kontext und Varietät ergänzt, denn die bisherigen Ausführungen zur Theorie des ‘intimen Sprechens’ mögen bisweilen ein recht starres und unidirektionales Veständnis vom Verhältnis der beiden Größen vermittelt haben. So impliziert die kontextbasierte Definition des ‘intimen Sprechens’ zunächst, dass ein bestimmter situativer Kontext automatisch mit einer bestimmten Art des Sprechens einhergeht. Sprachliche Äußerungen sind der Definition zufolge nämlich immer dann ‘intim’, wenn sie im Kontext einer ‘intimen Beziehung’ und einer ‘intimen Situation’ auftreten. Derartig zwingende UrsacheWirkung-Zusammenhänge kennt man vielleicht aus der Physik und anderen Naturwissenschaften. Das menschliche Verhalten ist zu seinem größten Teil jedoch weitaus weniger exakt vorhersagbar als viele Naturereignisse und kann daher nur sehr eingeschränkt in Gesetze und Formeln gegossen werden: «Man darf es ruhig ein wenig ironisch formulieren: Mathematiker und Physiker haben sich aus dem Kuchen der Wirklichkeit die raren Rosinen herausgepickt, die sich exakt messen und mit viel, oftmals überaus eleganter Mathematik beschreiben

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lassen» (Tetens 2013, 78; cf. auch 46–52, 82). Von einer strengen Assoziativität zwischen Kontext und sprachlicher Varietät, wie sie die Definition des ‘intimen Sprechens’ vorsieht, ist daher nicht auszugehen. Stattdessen scheinen die identifizierten Kontextfaktoren das ‘intime Sprechen’ viel eher zu begünstigen als zu erzwingen. In der Zusammenschau von Kontextmerkmalen und sprachlichem Verhalten zeigen sich daher auch keine naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten – wohl aber beobachtbare Regelmäßigkeiten. So sind Varietäten ja gerade dadurch definiert, dass eine bestimmte Menge sprachlicher Merkmale regelmäßig zusammen mit einer bestimmten Menge von SprecherInnen- oder Situationsmerkmalen auftritt (cf. Kapitel 3.2.1). Zum Zwecke der Ermittlung dieser Regelmäßigkeiten muss die (Varietäten-)Linguistik vom Einzelfall abstrahieren und eine ausreichend formalisierte Darstellung für das Verhältnis zwischen außersprachlichen Merkmalen und sprachlichem Verhalten finden. Auch bei der kontextbasierten Definition des ‘intimen Sprechens’ handelt es sich um eine solche epistemologisch notwendige Abstraktion und Formalisierung einer deutlich variableren Realität. Dass zum Zwecke des Erkenntnisgewinns Abstraktionen vorgenommen werden müssen, gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Kontext und Register, sondern auch für die Größen ‘Kontext’ und ‘Varietät’ selbst. Auch diese sind in der Realität keine eindeutig messbaren physikalischen Größen wie etwa ‘Gewicht’ oder ‘Luftdruck’. Stattdessen sind Äußerungen ebenso wie Kontexte immer hochvariabel und einzigartig (cf. Kapitel 3.2 und 3.2.1.2). Ob im Einzelfall daher eine ‘intime Äußerung’, eine ‘intime Situation’ oder eine ‘intime Beziehung’ vorliegt, kann mitnichten objektiv und exakt bestimmt werden, sondern ist immer das Ergebnis eines Interpretationsprozesses. Für die wissenschaftliche Untersuchung sind für diesen Interpretationsprozess möglichst eindeutige Kriterien zu bestimmen: Das ‘intime Sprechen’, die ‘intime Situation’ und die ‘intime Beziehung’ müssen mittels Operationalisierung messbar gemacht werden (cf. Kapitel 3). Dies gelingt zwangsläufig nur durch eine Reduktion der tatsächlich vorliegenden Komplexität. Das heißt: Die sprachliche und außersprachliche Realität des ‘intimen Sprechens’ sind – ebenso wie das Verhältnis zwischen ihnen – keinesfalls so eindeutig, wie es die Definitionen in dieser Arbeit auf den ersten Blick suggerieren könnten. Stattdessen handelt es sich bei den aufgestellten Definitionen und Parametern um abstrakte Modellierungen – und damit vor allem um den Versuch einer Heuristik, um die hochkomplexe Realität des ‘intimen Sprechens’ näherungsweise greif- und erklärbar zu machen (cf. auch Tetens 2013, 50–52). Dass das ‘intime Sprechen’ als Resultat einer bestimmten situativen Konstellation definiert wird, offenbart auch noch in anderer Hinsicht eine Vereinfachung der Wirklichkeit. So impliziert die kontextbasierte Definition des ‘intimen

3.2 Sprachtheoretische Einordnung des neuen Konzepts

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Sprechens’ eine Unidirektionalität des Verhältnisses zwischen Kontext und Varietät: Ein bestimmter Kontext, nämlich die Kombination aus ‘intimer Situation’ und ‘intimer Beziehung’, führt laut Definition zum Auftreten einer bestimmten sprachlichen Varietät, nämlich der des ‘intimen Sprechens’. Der Kontext wird also als Ursache konzipiert und die sprachliche Varietät als Folge. Dies impliziert wiederum die Vorannahme, dass die Kontextmerkmale ‘intime Situation’ und ‘intime Beziehung’ von sich aus existierende Größen in der Welt sind, deren Vorliegen wiederum bestimmte Effekte auf das sprachliche Verhalten hat. Tatsächlich sind jedoch sowohl die ‘intime Situation’ als auch die ‘intime Beziehung’ alles andere als (natur-)gegebene, unabhängige Variablen. Weder die ‘intime Beziehung’ noch die ‘intime Situation’ entstehen ja aus sich selbst, aus dem Nichts heraus, sondern sie werden durch die Beteiligten fortwährend mitkreiert, ausgehandelt und verändert – und zwar vor allem mittels ihrer Kommunikation (cf. in diesem Zusammenhang auch den auf Goffman 1974 zurückgehenden Begriff des ‘Framing’). Dabei eignen sich Merkmale des ‘intimen Sprechens’ in besonderer Weise als sog. contextualization cues (nach Gumperz 1982), d. h. als Marker, mittels derer SprecherInnen eine Situation als ‘intim’ definieren können: «Variation is not just a reflection of the social, but essential to its construction» (Eckert 2016, 70; ebenso 2012, 97–98; 2018, 112–122, 147). Vielmehr als als unidirektional ist das Verhältnis zwischen Kontext und Varietät beim ‘intimen Sprechen’ also als dialektisch anzusehen: Die Kontextmerkmale der ‘intimen Beziehung’ und der ‘intimen Situation’ führen zwar ihrerseits (typischerweise) zum Auftreten des ‘intimen Registers’; umgekehrt trägt aber auch die Verwendung des ‘intimen Registers’ dazu bei, dass eine Situation oder eine Beziehung zur ‘intimen’ werden bzw. genauer gesagt durch die Beteiligten als ‘intim’ interpretiert werden. Diese Dualität von Kontext und Register sollte beim ‘intimen Sprechen’ stets mitgedacht werden, wenngleich in der vorgelegten theoretischen Konzeption vor allem eine Seite des Verhältnisses – nämlich der Kontext als Ursache für Variation – in den Vordergrund gerückt wurde. Nicht nur was die Zwangsläufigkeit, sondern auch was die Richtung des Kontext-Varietät-Verhältnisses angeht, stellt sich die Realität des ‘intimen Sprechens’ also als komplexer dar, als es die in Kapitel 3 formulierte Definition andeutet. Schließlich ist für das ‘intime Register’ noch das Spannungsfeld zwischen ‘Statik’ und ‘Dynamik’ zu problematisieren. In den bisherigen Ausführungen wurde das ‘intime Register’ als relativ festes Inventar bestimmter sprachlicher Merkmale dargestellt, das mittels geeigneter Erhebungs- und Analysemethoden identifiziert werden kann. Diese recht statische Sicht auf Register entspricht dem Paradigma der «traditionellen» Registerforschung (cf. z. B. Halliday/McIntosh/Strevens 1964; Biber/Finegan 1994; Biber 1994), der zufolge ein Register «a static collocation of features associated with a specific setting» (Eckert

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2018, 146) ist. Tatsächlich unterliegen sprachliche Register jedoch einem stetigen Wandel und sind damit keineswegs statische, sondern im Gegenteil hochdynamische Größen. Detaillierte Erklärungsansätze hierfür liefern vor allem die Arbeiten der noch jungen «Dritten Welle» der Sozio- bzw. Varietätenlinguistik.69 Integraler Bestandteil ihres Ansatzes ist das in dieser Arbeit bereits angesprochene Konzept der communities of practice. So verfügt jede community of practice über ein für sie spezifisches Repertoire an Verhaltensweisen, anhand dessen sie sich von anderen communities of practice abgrenzt (cf. für ‘intime Beziehungen’ vor allem Kapitel 3.1.1.1). Die practices können ein bestimmter Kleidungs- oder Ernährungsstil sein, eine besondere Form der Körpersprache, bestimmte bevorzugte Aufenthaltsorte, die Ausübung bestimmter Hobbys oder eine bestimmte politische Einstellung – aber auch ein spezifisches verbales Verhalten. Sprachliche Variation hat damit immer auch soziale Bedeutung, da sie der Abgrenzung von communities innerhalb der Gesellschaft dient (Eckert 2012, 88; 2016, 68; 2018, 33–79). Für das Verständnis der Dynamik von Registern ist nun von zentraler Bedeutung, dass sprachliche Varianten – ebenso wie alle anderen practices – diese soziale Bedeutung nicht von sich aus tragen, sondern erst dadurch, dass Menschen sie als sozial bedeutungsvoll wahrnehmen und in dieser Bedeutung weiternutzen (Eckert 2016, 77; 2018, 146). Konkret läuft dieser Prozess wie folgt ab:

69 Es lassen sich drei «Wellen» der Sozio- bzw. Varietätenlinguistik unterscheiden. Die «Erste Welle» beginnt mit der Herausbildung der Soziolinguistik durch William Labov und seine ZeitgenossInnen ab den 1960er-Jahren und ist dadurch geprägt, dass sprachliche Variation als fest und weitgehend unveränderbar in den SprecherInnen angelegt aufgefasst wird. Die SprecherInnen weisen in dieser Sicht z. B. durch ihre Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe automatisch bestimmte sprachliche Merkmale auf, die sie nicht willentlich verändern können, vor allem weil sie sie nicht bewusst wahrnehmen (Eckert 2012, 88; 2016, 69). An diese Studien der «Ersten Welle» haben sich ab den 1990er-Jahren eine «Zweite» und «Dritte Welle» angeschlossen, die einen konstruktivistischeren Blick auf das Verhältnis zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Merkmalen einnehmen und den SprecherInnen damit eine aktive(re) Rolle zugestehen. So wurde in den Studien der «Zweiten Welle» erkannt, dass es sich bei Varietäten eher um soziale Praktiken mit gruppenkonstituierendem Effekt, z. B. zum Ausdruck lokaler Identität oder Klassenbewusstseins, handelt als um feste, unveränderliche Eigenschaften (Eckert 2012, 91; 2016, 69). Die «Dritte Welle», die zeitlich etwa ab den 2010er-Jahren angesetzt wird, baut diese aktive Rolle der SprecherInnen noch weiter aus, indem sie davon ausgeht, dass SprecherInnen in der Interaktion immer wieder neu aus einem großen Repertoire sprachlicher Varianten mit sozialer Bedeutung wählen, um ihre individuelle(n) Identität(en) zu konstruieren (Meyerhoff 2002, 533; Coupland 2007, 82–114; Eckert 2012, 93–98; 2016, 69).

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Ein Hörer bzw. eine Hörerin nimmt ein bestimmtes Merkmal im Sprachverhalten des Gegenübers als prägnant wahr, indem er bzw. sie darin eine Abweichung zum Sprachgebrauch anderer Personen erkennt. Er bzw. sie schafft eine Verknüpfung zwischen dem wahrgenommenen sprachlichen Merkmal und sozialen Eigenschaften des Gegenübers, z. B. dessen sozioökonomischem Status, dessen Bildungsgrad, einer bestimmten Charaktereigenschaft o.Ä. Das sprachliche Merkmal wird also beim Hörer bzw. der Hörerin gemeinsam mit einem oder mehreren Merkmalen des Sprechers bzw. der Sprecherin abgespeichert und bekommt damit eine soziale Bedeutung. Die Verknüpfung zwischen Sprachverhalten und sozialen Merkmalen geschieht dabei nicht im luftleeren Raum, sondern auch im Kontext der umgebenden sozialen Strukturen. So ist der betroffene Sprecher bzw. die betroffene Sprecherin immer auch Mitglied bestimmter communities of practice und handelt damit immer auch als Mitglied dieser communities. Eine sprachliche Variante wird daher nicht nur mit einer Einzelperson und ihren Eigenschaften verknüpft, sondern auch mit einer oder mehreren communities of practice und deren Eigenschaften. Die Verknüpfungen zwischen sprachlichen Varianten und sozialen Bedeutungen können nun wiederum aktiv von den HörerInnen genutzt werden, um sich selbst beim Sprechen im sozialen Gefüge zu verorten und die eigene Identität zu konstruieren – denn durch den Gebrauch bestimmter Varianten können sie die erlernten sozialen Bedeutungen gezielt aufgreifen und die mit ihnen verbundenen Eigenschaften auch für sich selbst reklamieren.

An diesem Punkt beginnt der skizzierte Prozess wieder von vorn: SprecherInnen nutzen ein sprachliches Merkmal mit sozialer Bedeutung und HörerInnen ziehen aus dieser neuen Verwendung einer konkreten Person in einer konkreten Situation wieder neue Verbindungen zwischen sprachlichen und sozialen Merkmalen – ein Prozess, der mit Silverstein (2003) als enregisterment bezeichnet wird. Indem SprecherInnen also die vorgeprägten sozialen Bedeutungen einer Variante aufgreifen, werden sie gleichzeitig wieder selbst in der Produktion und Weiterentwicklung dieser Bedeutung(en) aktiv. So unterliegen die sozialen Bedeutungen sprachlicher Varianten einer ständigen Veränderung und Weiterentwicklung durch die SprecherInnen und es ergibt sich ein anhaltender Kreislauf der «production and reproduction of social meaning in variation» (Eckert 2001, 124). Für das ‘intime Sprechen’ bedeutet dies: Die SprecherInnen greifen nicht nur auf ein bestimmtes, etabliertes Repertoire ‘intimsprachlicher’ Merkmale zurück, sondern sie erschaffen dieses Repertoire mittels ihres sprachlichen Handelns auch immer wieder neu. Die ‘intimsprachliche’ Bedeutung bestimmter Merkmale ist also keineswegs «unverrückbar», sondern sie wird aktiv

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durch die SprecherInnen – und zwar in jeder Verwendung immer wieder neu – konstruiert. Die sozialen Bedeutungen sprachlicher Varianten sind also immer fluid und dynamisch (cf. hierzu weiterführend Eckert 2012, 2016 und 2018 sowie Silverstein 2003 und Agha 2003). Für jede synchrone Untersuchung von Registern – und damit auch des ‘intimen Sprechens’ – bedeutet dies, dass maximal Momentaufnahmen, niemals aber abgeschlossene Beschreibungen möglich sind, da die Register fortwährender Veränderung durch die SprecherInnen unterworfen sind.

3.2.4 Schlussfolgerungen Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass sich ‘intimes Sprechen’ sprachtheoretisch als Varietät fassen und analysieren lässt. Es handelt sich damit um eine abstrakte, im SprecherInnenwissen verankerte Sprachform innerhalb einer Einzelsprache (bzw. eines Dialekts einer Einzelsprache),70 die mittels Abstraktion aus einer Reihe konkreter ‘intimsprachlicher’ Äußerungen erschlossen werden kann. Ausführliche Überlegungen zur Verortung der ‘intimsprachlichen’ Varietät im Varietätengefüge, konkret im Spannungsfeld zwischen Diastratik, Diaphasik und Diamesik, ließen die Schlussfolgerung zu, dass ‘intimem Sprechen’ hierbei am ehesten der Status eines ‘Registers’, also einer situationsabhängigen Varietät, zukommt (cf. Kapitel 3.2.1.1 bis 3.2.1.3). Zunächst mochte diese Zuordnung unbefriedigend erscheinen, da die Gruppenzugehörigkeit (die ‘intime Beziehung’) für ‘intimes Sprechen’ eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Der Verortung auf der diastratischen Dimension ist sie jedoch insofern vorzuziehen, als sie das für ‘intimes Sprechen’ konstitutive Merkmal der ‘intimen Situation’ miteinzubeziehen vermag und auch das Merkmal ‘intime Beziehung’ letztlich besser als Merkmal einer Äußerungssituation gefasst werden kann als als Merkmal einer sozialen Gruppe (cf. Kapitel 3.2.1.1. und 3.2.1.2). Die Einordnung ‘intimen Sprechens’ als ‘(extrem) nähesprachlicher’ Varietät, die aufgrund des Begriffs der ‘Nähe’ zunächst ebenfalls nahe lag, ist ebenfalls zu verwerfen, da es sich beim Nähe-Distanz-Kontinuum letztlich doch vor allem um eine Theorie ‘konzeptioneller Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’ mit ihren jeweils universellen 70 Dialekte haben im Gegensatz zu Registern und Soziolekten den Status vollständiger, selbstgenügsamer Systeme, die ihrerseits in Varietäten diaphasischer oder diastratischer Art untergliedert werden können. Die diastratischen und diaphasischen Varietäten können den diatopischen Varietäten insofern untergeordnet werden, als sie stets lediglich «Ausschnitte» der diatopischen Varietäten sind (Sinner 2014, 24).

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Merkmalen und weniger um ein Konzept nähegradabhängigen Sprechens im Sinne der psychischen Nähe zwischen den GesprächsteilnehmerInnen handelt (cf. Kapitel 3.2.1.3). Als Konsequenz aus diesen Überlegungen soll an dieser Stelle der bisher für das ‘intime Sprechen’ verwendete, allgemeine Begriff der ‘Modalität’ durch den spezifischeren Terminus ‘Register’ abgelöst werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird also im Zusammenhang mit dem ‘intimen Sprechen’ nur noch von einem ‘Register’ die Rede sein. Im Zusammenhang mit der Einordnung des ‘intimen Sprechens’ als ‘Register’ ist umfassend dargelegt worden, dass die Wissensbestände, die beim ‘intimen Sprechen’ zusammenkommen, sowohl expressiv-diskurstraditioneller Art (= die situationelle Eignung) als auch einzelsprachlich-idiomatischer Art (= die dazugehörigen einzelsprachlichen Formen) sind. Dies mochte auf den ersten Blick irritieren, weil damit die von Eugenio Coseriu so sorgfältig getrennten Ebenen des Sprachlichen beim ‘intimen Sprechen’ zusammenfallen. Tatsächlich zeigt sich aber für den besonderen Fall von ‘Registern’ und damit auch für das ‘intime Sprechen’, dass das Wissen um deren sprachliche Formen untrennbar mit der Eignung dieser Formen für bestimmte Situationen verbunden ist (cf. Kapitel 3.2.2). Das ‘intimsprachliche Register’ unterscheidet sich in seinen spezifischen Situationsmerkmalen sowohl von der ‘gesprochenen Sprache’ als auch von anderen, ähnlichen Registern wie der ‘informellen Sprache’. Inbesondere anhand des Kontextmerkmals der ‘intimen Situation’ kann ‘intimes Sprechen’ kategorisch von ähnlichen Registern abgegrenzt werden. Analog zur Ebene des Kontextes sind daher auch auf der sprachlichen Ebene spezifisch ‘intimsprachliche’ Merkmale zu erwarten, die sich etwa im ‘informellen Register’ nicht finden lassen (cf. Kapitel 3.2.1.2). Es lässt sich allerdings durchaus sagen, dass ‘intimes Sprechen’ das ‘informelle Register’ und die ‘gesprochene Sprache’ als Basis bzw. als Rahmen geteilter Merkmale nutzt und darauf mit seinen spezifischen Charakteristika aufsetzt. Neben den spezifisch ‘intimsprachlichen’ Merkmalen werden sich in ‘intimsprachlichen’ Äußerungen daher voraussichtlich auch universelle Merkmale ‘gesprochener Sprache’ sowie Merkmale des ‘informellen Registers’ der jeweiligen Einzelsprache finden lassen. Die drei Ebenen sind bei der Analyse ‘intimsprachlichen’ Datenmaterials jedoch deutlich voneinander zu trennen (cf. Kapitel 3.2.1.2 und 3.2.1.3). Bei der Analyse ‘intimsprachlichen’ Datenmaterials ist weiterhin zu beachten, dass ‘intimsprachliche’ Äußerungen immer Individuelles, Traditionelles, Einzelsprachliches und Universelles aufweisen (cf. Kapitel 3.2.2). So schreiben sich ‘intimsprachliche’ Äußerungen zum Teil in kulturelle oder in beziehungsspezifische Diskurstraditionen ein oder sie weichen bewusst von diesen ab und sind auf diese Weise individuell. Andere Phänomene des ‘intimen Sprechens’

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sind dagegen eventuell sogar auf universelle Prinzipien menschlicher Kommunikation in ‘intimen Beziehungen’ zurückführbar. Entsprechende Prozesse könnten in zukünftigen Arbeiten zum ‘intimen Sprechen’ in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt werden. Mit der Klassifizierung ‘intimen Sprechens’ als ‘Register’ und damit als diaphasischer Varietät ist schließlich eine Verortung des Untersuchungsgegenstandes in der Disziplin der Varietätenlinguistik erfolgt. Damit können die Fragestellungen der Varietätenlinguistik auf das ‘intime Sprechen’ angewendet werden. Sie bestehen laut Sinner (2014, 16–17) in 1. der Beschreibung von Varietäten, 2. der Untersuchung der Herkunft bestimmter Varietäten unter Berücksichtigung ihrer Herausbildung, Tradierung und Umgestaltung sowie 3. der Frage nach der Bewertung und dem Status von Varietäten. Es lassen sich also eine synchron-deskriptive Perspektive (1), eine diachrone Perspektive (2) und eine einstellungs- und statusbezogene Perspektive (3) auf Varietäten unterscheiden. Insofern als alle drei Perspektiven auch auf ‘intimes Sprechen’ anwendbar sind, kann das ‘intime Sprechen’ also hinsichtlich seiner typischen Merkmale in verschiedenen Sprachen und Dialekten erfasst, in seiner historischen Genese und Veränderung nachverfolgt (hier kämen etwa die Diskurstraditionen und die neuere Registerforschung ins Spiel) sowie hinsichtlich seines Prestiges in verschiedenen SprecherInnengruppen untersucht werden. Notwendige Grundlage für solche empirischen Studien sind Korpora authentischer ‘intimsprachlicher Äußerungen’ – erst auf ihrer Basis werden entsprechende Analysen möglich. Welche methodischen Konsequenzen sich aus der theoretischen Neukonzeption für die Erhebung ‘intimsprachlicher Daten’ ergeben, soll daher im folgenden Kapitel thematisiert werden.

3.3 Konsequenzen der Neukonzeption für die empirische Untersuchung ‘intimen Sprechens’ Ein Korpus sprachlicher Äußerungen wird dann zur geeigneten Datengrundlage, wenn es einen verlässlichen Ausschnitt der Sprache oder Varietät abbildet, über die man eine Aussage machen will (Biber/Conrad/Reppen 1998, 246; Bednarek 2011, 538). Will man also eine Aussage über ‘intimes Sprechen’ in einer bestimmten Sprache oder Varietät treffen, wird als Korpus eine repräsentative Menge sprachlicher Daten benötigt, in denen ‘intimes Sprechen’ in dieser Sprache oder Varietät erfasst ist. Mit dieser Formulierung sind die zwei grundlegenden Anforderungen an ‘intimsprachliche’ Korpora berührt: Eine Anforderung betrifft die Authentizität der Daten, also die Frage, inwieweit die Daten tatsächlich das Register wider-

3.3 Konsequenzen der Neukonzeption für die empirische Untersuchung

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spiegeln, über das eine Aussage gemacht werden soll; die zweite Anforderung betrifft die Repräsentativität des Korpus in Bezug auf seine Größe und Zusammensetzung. Wie gut die beiden Anforderungen bei der Korpuserstellung erfüllt werden können, bestimmt entscheidend darüber, welche Schlüsse aus den Daten gezogen werden können (cf. auch Biber/Conrad/Reppen 1998, 246). Das Kriterium der Repräsentativität betrifft – wie bereits erwähnt – die Größe sowie die Zusammensetzung des Korpus. So muss das Korpus einerseits eine angemessene Größe haben, weil ein zu kleines Korpus nicht mehr repräsentativ für die Grundgesamtheit der untersuchten SprecherInnengemeinschaft ist. Dazu muss die Grundgesamtheit zunächst definiert und quantifiziert werden (cf. auch Tognini-Bonelli 2001, 59). Noch wichtiger als die Größe der Stichprobe ist allerdings deren Qualität: «Das Geheimnis des Erfolgs der Stichprobenwahl liegt nicht darin, dass man einen möglichst großen, sondern einen möglichst gut ausgewählten Teil der Grundgesamtheit untersucht» (Albert/Marx 2010, 64). Ein optimal ausgewählter Teil der Grundgesamtheit wäre entweder eine Zufallsstichprobe, bei der jede Person der Grundgesamtheit die gleiche Chance hat, in die Stichprobe zu kommen, oder eine Quotenstichprobe, die das Verhältnis der Grundgesamtheit in den für die Untersuchung relevanten Merkmalen nachbildet (cf. auch Baker 2010, 6, 110; McEnery/Hardie 2012, 8). Als relevante Merkmale werden bei sprachwissenschaftlichen Untersuchungen üblicherweise das Geschlecht, das Alter, der sozioökonomische Status und die Region aufgefasst; je nach Untersuchung können weitere hinzukommen.71 Zudem sollten alle TeilnehmerInnen ähnlich große Textmengen zum Korpus beisteuern (Baker 2010, 6). Nur wenn ein Korpus in diesem Sinne repräsentativ ist, können die gewonnenen Erkenntnisse unter genauer Angabe der Irrtumswahrscheinlichkeit auf die Grundgesamtheit generalisiert werden (Tognini-Bonelli 2001, 57). Andernfalls können streng genommen nur Aussagen über das Korpus selbst und nicht über die Grundgesamtheit gemacht werden. Interessanterweise schreibt sich in der Linguistik bisher vor allem die Korpuslinguistik das Kriterium der (statistischen) Repräsentativität auf die Fahnen, was sie auch zur Anwendung inferenzstatistischer Verfahren auf ihre Korpora berechtigt. In den meisten anderen Subdisziplinen der Linguistik, die ihrerseits ebenfalls mit Korpora arbeiten, ist die Frage nach der Repräsentativität der genutzten Datengrundlagen dagegen überraschenderweise bisher kaum von Interesse: «It is perhaps sobering how little data, either invented sentences or real texts, is actually analysed in the most influential litera71 Da die Auswahl der relevanten Merkmale bereits inhaltliche Hypothesen impliziert, ist der Einbezug oder Ausschluss eines Merkmals in die Zusammensetzung der Stichprobe nie völlig objektiv (cf. auch Biber/Conrad/Reppen 1998, 246). Zudem kann man nie sicher sein, dass man tatsächlich alle variationsrelevanten Merkmale in der Stichprobe berücksichtigt hat.

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ture in twentieth century linguistics» (Tognini-Bonelli 2001, 56; ebenso Schlobinski 1996, 27). Eine stärkere Auseinandersetzung damit, inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich auf die gesamte Sprachgemeinschaft übertragbar sind, wäre daher für die Sprachwissenschaft insgesamt wünschenswert. Zwar ist es Fakt, dass in der Arbeit mit Menschen tatsächlich repräsentative Stichproben so gut wie nie erreicht werden (cf. auch McEnery/Hardie 2012, 10) – eine größere Berücksichtigung des Problems der Generalisierbarkeit in der Sprachwissenschaft würde aber, wenn auch nicht zu perfekten, so zumindest zu den bestmöglichen Korpora führen und auch vor vorschnellen Verallgemeinerungen der Ergebnisse bewahren (cf. auch Schlobinski 1996, 27; Baker 2014, 110). Hinsichtlich des zweiten Kriteriums, der Authentizität der Daten, gilt es zu beachten, dass nur solche Äußerungen in das Korpus aufgenommen werden, die auch tatsächlich ‘intimsprachlich’ sind. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass ausschließlich die registerdefinierenden außersprachlichen Merkmale als Kriterien zur Aufnahme dienen und nicht etwa bestimmte sprachliche Merkmale (z. B. besondere Anredeformen). Es ist beim ‘intimen Sprechen’ also nicht nur in der theoretischen Konzeption, sondern auch in der Korpuserstellung eine scharfe Trennung von außersprachlichen und sprachlichen Kriterien nötig. Die Wichtigkeit dieser Trennung betont auch Tognini-Bonelli (2001): «[I]f they are confused then there is a serious risk of vicious circles arising; the fact that, for example, passive constructions are frequent in scientific English would lose its meaning if it turned out that the occurence of the verb forms had informed the original selection of texts. Only if there is a strict separation between situational and linguistic criteria can the results of investigations have any meaning […]. [I]n corpus-building the only safe first step is to base the initial selection of texts on situational parameters. These can be identified in advance, whereas the linguistic types cannot» (60–61).

Das Zitat hebt im Grunde noch einmal die zentrale Prämisse dieser Arbeit hervor: Wenn die Identifikation der sprachlichen Merkmale eines Registers das Ziel einer (Korpus-)Studie ist, dann muss unbedingt vermieden werden, Äußerungen oder Texte aufgrund bestimmter sprachlicher Merkmale in das Korpus aufzunehmen – andernfalls unterliegt man Zirkelschlüssen bzw., wie TogniniBonelli (2001) es formuliert, «vicious circles» (60). Die detaillierte Beschreibung der Kontextmerkmale ‘intimen Sprechens’ in Kapitel 3.1 bildet also die zentrale Voraussetzung für die Korpuserstellung. Damit ist sie nicht nur die Basis für die theoretische Konzeption von, sondern auch für den methodischen Zugang zu ‘intimem Sprechen’. Äußerungen, die in das Korpus einfließen, müssen damit in Kontexten geäußert worden sein, die zwei Bedingungen erfüllen: 1. Die GesprächspartnerInnen müssen in einer ‘intimen Beziehung’ zueinander stehen. 2. Die GesprächspartnerInnen befinden sich in einer ‘intimen Situation’.

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Beide Bedingungen wurden in den jeweiligen Unterkapiteln von Kapitel 3.1.1 und 3.1.2 soweit inhaltlich konkretisiert, dass genügend Kriterien zur Identifikation von Beziehungen und Situationen als ‘intim’ vorliegen. So kann die ‘Intimität’ einer Beziehung ermittelt werden, indem überprüft wird, ob die in Kapitel 3.1.1.1 bis 3.1.1.6 vorgestellten Merkmale ‘intimer Beziehungen’ vorliegen. Die Situation wiederum kann dann als ‘intim’ gelten, wenn sie vor der Kenntnisnahme Dritter geschützt ist und die SprecherInnen sich unmittelbar vor oder bei der Ausübung einer ‘intimen Handlung’ befinden. Diese speziellen Anforderungen an den Äußerungskontext haben zur Folge, dass bereits veröffentlichte Sprachkorpora in der Regel nicht für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ genutzt werden können, da die erforderlichen Kontextmerkmale dort nicht gegeben (oder nicht angegeben) sind (cf. auch Tognini-Bonelli 2001, 8; Baker 2010, 12). Stattdessen ist man auf die Erstellung eines eigenen Korpus angewiesen. Auch hier bringen die erforderlichen Kontextmerkmale allerdings nicht unerhebliche Probleme mit sich. Diese betreffen insbesondere das Kriterium der ‘intimen Situation’ und sollen in Kapitel 3.3.1 ausführlich besprochen werden. Daran anschließen werden sich in Kapitel 3.3.2 Überlegungen zur Eignung verschiedener Erhebungsmethoden für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’.

3.3.1 Grundsätzliche methodische Probleme bei der Erhebung ‘intimen Sprechens’ «Intime Beziehungen entziehen sich grundsätzlich ihrer Erforschung, sie sind intrinsisch forschungsaversiv», stellt (nicht nur) Nübling (2017, 99) in ihrer Untersuchung eines augenscheinlich typisch ‘intimsprachlichen’ Merkmals, nämlich der Verwendung von Kosenamen im Deutschen, fest. Die in dieser Arbeit vorgelegte Neukonzeption des ‘intimen Sprechens’ kann dabei helfen, diese «Forschungsaversion» konkreter zu verorten und zu begründen: Ganz offenbar liegt sie vor allem in dem für ‘intimes Sprechen’ konstitutiven Kontextmerkmal der ‘intimen Situation’ begründet. So ist in Kapitel 3.1.1.2 ausführlich dargestellt worden, dass ‘intimes Sprechen’ neben Praktiken der Sexualität, der Körperhygiene und weiteren zu denjenigen Praktiken gehört, die Menschen aufgrund ihrer internalisierten Privatheitsnormen in aller Regel nicht vor den Augen Dritter ausüben; in Goffmans (1973) Terminologie sind sie Praktiken der ‘Hinterbühne’ und gehören damit auch zu solchen Praktiken, die Menschen nicht für geeignet für ihre Selbstdarstellung nach außen (impression management) halten. Das Auftreten ‘intimen Sprechens’ ist daher auf ‘intime Kommunikationsumgebungen’ beschränkt, also vor allem auf private Räume, die abgeschirmt von der Außenwelt und geschützt vor der Kenntisnahme Dritter sind. Menschen

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legen zum Zwecke der Aufrechterhaltung ihres impression management enormen Wert auf die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre und schützen sich daher auch mittels gestalterischer oder symbolischer Barrieren vor unerwünschter Kenntnisnahme (cf. auch Kapitel 3.1.2.1). Der hohe Stellenwert von Privatheit für den Menschen zeigt sich schließlich auch in Form weitreichender gesetzlicher Bestimmungen z. B. zum Persönlichkeits- und Datenschutz (cf. auch Kruse 1980, 40–47; Schirrmeister 2004, 27–30). Hat man nun bei der Erstellung eines ‘intimsprachlichen’ Korpus strikt von den Kontextmerkmalen des zu untersuchenden Registers auszugehen (cf. Kapitel 3.1), wird dieser Umstand virulent: Während man die Aufnahme von Personen in ‘intimen Beziehungen’ grundsätzlich problemlos bewerkstelligen kann, erweist sich eine Aufnahme dieser Personen in einer ‘intimen Situation’ de facto als unmöglich, denn es wird dabei ein Zugang der Forschenden zu Kontexten benötigt, die gerade durch ihre Nicht-Zugänglichkeit definiert sind. Sobald sich Forschende im Rahmen einer Erhebung Zugang zu einer ‘intimen Situation’ verschaffen, werden sie als Außenstehende Teil der Situation. Da die Situation damit automatisch nicht mehr ‘intim’ ist, werden die SprecherInnen ihre Äußerungen (bewusst oder unbewusst) an diese neue Situation anpassen und per definitionem keine ‘intimsprachlichen’ Äußerungen mehr produzieren (cf. auch Bendix 1987, 174; Brehm et al. 2002, 53, 56–57). Dieses Dilemma lässt sich letztlich auf die Problematik zurückführen, die Labov (1972a) als ‘BeobachterInnenparadoxon’ bezeichnet: «To obtain the data most important for linguistic theory, we have to observe how people speak when they are not being observed» (113). Sobald SprecherInnen dagegen wissen, dass sie beobachtet werden, verhalten sie sich anders als in der natürlichen Situation, über die man Aufschluss gewinnen will. Solche als ‘BeobachterInneneffekte’ bezeichneten Einflüsse sind – abgesehen von verdeckten Beobachtungen – bei jeder Erhebung gesprochener Sprache wirksam und können nie völlig beseitigt werden: «No matter how much we may strive to mitigate the effects of the research situation, we can never eliminate observer effects» (Schilling 2013a, 128; ebenso Hummel 2002, 181). Für den Untersuchungsgegenstand des ‘intimen Sprechens’ stellt sich das Labov’sche BeobachterInnenparadoxon im Grunde in verschärfter Form, da bei einem derart sensiblen Phänomen mit besonders starken BeobachterInneneffekten zu rechnen ist, die hochgradige Verzerrungen des tatsächlichen Gebrauchs zur Folge haben können. Auch am audience design-Modell (Bell 1984, cf. Kapitel 3.2.1.2) lässt sich die Problematik der Untersuchung ‘intimen Sprechens’ deutlich herausstellen: Dem Modell zufolge richten Personen ihr sprachliches Verhalten zwar primär an den ‘AdressatInnen’ aus, passen sie aber gleichzeitig, wenn auch weniger stark, an die Personen an, die ebenfalls in Hörweite sind – am stärksten an die

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‘HörerInnen’, etwas weniger stark an die ‘MithörerInnen’ und am wenigsten stark an die ‘AbhörerInnen’. Dies gilt für alltägliche Situationen genauso wie für den Forschungskontext. ForscherInnen können daher ihren Einfluss zwar insoweit minimieren, als sie sich auf die «unterste» Einflussstufe der ‘AbhörerInnen’ stellen (z. B. durch unauffällige Aufnahmegeräte und keine persönliche Anwesenheit) – dadurch können die BeobachterInneneffekte aber lediglich graduell, nicht prinzipiell korrigiert werden. Weiterhin ist das Eindringen in die Intimsphäre für Menschen immer auch mit Scham, Angst oder Unwohlsein verbunden und kann – neben der Vermeidung oder Modifikation des Verhaltens – Reaktionen wie Rückzug, Aggression oder hilfesuchendes Verhalten zur Folge haben (Goffman 1973, 190–191; Guerrero/Andersen/Aififi 2007, 265–270; Hansson 2008, 34). So stellen auch die AutorInnen, die verschiedene im Zusammenhang mit ‘intimem Sprechen’ stehende Phänomene wie (secondary) baby talk oder ‘idiosynkratische Kommunikation’ untersuchen, Scham und Unwohlsein ihrer InformantInnen bei der Frage nach den von ihnen gebrauchten Formen fest: – «[K]ein Informant [kann] dazu gebracht werden, spontan expressiv oder insbesondere zärtlich zu sprechen» (Schiller 2007, 12). – «Use of personal idioms often causes embarrassment for both partners» (Morelock 2005, 3). – «We quickly discovered that most people think of their babytalking as very private; they also question its social acceptability, and discussing its details openly – not to mention allowing its behavioral observation – would make them feel uncomfortable. […] Many people react to pointed questions concerning their own babytalk in much the same way they might if asked about the details of their sexual lives» (Bombar/Littig Jr. 1996, 141). – «Nur wenige Menschen wollen so Persönliches wie ihre Privatsprache anderen mitteilen» (Leisi 1978, 9–10). – «In our society one feels a good bit of embarrassment in citing examples of baby talk» (Ferguson 1964, 112). In der Fachterminologie der Fragebogenerstellung werden Fragen zur Intimsphäre daher auch als ‘heikle Fragen’ bezeichnet: «Eine Frage wird dann heikel, wenn sie Angst erzeugt, und sie tut es dann, wenn der Befragungsperson aufgrund verinnerlichter sozialer Normen bewusst wird, dass die Frage nicht geeignet für eine ‹normale› kommunikative Situation ist oder eine bestimmte Antwort eine Verletzung bestehender sozialer Normen darstellt» (Porst 2009, 125). Trifft man TeilnehmerInnen also unerwartet mit einer ‘heiklen Frage’, können – analog zu Rückzug, Aggression oder hilfesuchendem Verhalten – Antwortverweigerung oder gar Abbruch die Folge sein (Atteslander 2000, 152;

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Raithel 2006, 81; Porst 2009, 125). Insofern als man bei einer Erhebung von ‘intimem Sprechen’ die TeilnehmerInnen durch das Eindringen in ihre Intimsphäre in eine für sie unangenehme Situation bringt, ist die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ auch ethisch nicht unbedenklich. Besonders fragwürdig sind solche Techniken, bei denen die TeilnehmerInnen der Kontrolle über ihr impression management beschnitten oder beraubt werden, was insbesondere bei verdeckten Aufnahmen der Fall ist, aber auch, wenn sie etwa in einem Interview durch ‘heikle Fragen’ überrumpelt werden und sich gedrängt fühlen, bestimmte persönliche Informationen zu enthüllen, die sie lieber für sich behalten hätten (Kruse 1980, 48–61; Schiller 2007, 13). Eine Erhebungsmethode zu finden, in der die TeilnehmerInnen so viel Kontrolle wie möglich über ihr impression management behalten, ist aber nicht nur aus ethischen Erwägungen anzustreben; vor allem ist auch davon auszugehen, dass TeilnehmerInnen ihren Sprachgebrauch umso stärker modifizieren, je unwohler und bedrohter sie sich in der Erhebungssituation fühlen – ein möglichst (wenn auch niemals absolut) authentischer Sprachgebrauch ist also am ehesten dann zu erwarten, wenn sich die TeilnehmerInnen nicht bzw. möglichst wenig in ihrem impression management bedroht fühlen. Sehen sie sich dagegen in der Gefahr der Bloßstellung, werden sie zur Aufrechterhaltung ihres impression management Modifikationen ihres Verhaltens vornehmen (cf. auch Brehm et al. 2002, 53). Anhand der vorangegangenen Ausführungen ist deutlich geworden, dass es sich beim ‘intimen Sprechen’ tatsächlich um einen «schwierigen» Untersuchungsgegenstand handelt, und zwar in dem Sinne «schwierig», dass bei der Erhebung mit besonders starken Verfälschungen des tatsächlichen Sprachgebrauchs zu rechnen ist. Die Erhebung von ‘intimem Sprechen’ stellt – egal, mit welcher Erhebungsmethode – ein Eindringen in die Intimsphäre von Menschen dar, die mit entsprechenden Reaktionen und Anpassungen einhergeht. Dies sollte allerdings nicht von der Zielsetzung abhalten, ‘intimes Sprechen’ zumindest näherungsweise zu untersuchen. So meint auch Clancy (2016): «Backstage language has, invariably and traditionally, proven difficult for corpus linguists to access. However, this should not, indeed cannot, provide us with an excuse not to adequately attempt a detailed description» (2). Die geschilderte Problematik macht jedoch umfangreiche Überlegungen zu geeigneten Erhebungsmethoden nötig, die im folgenden Kapitel erfolgen sollen. Die Eignung der verschiedenen Erhebungsmethoden entscheidet sich dabei – so sollen die vorangegangenen Ausführungen verdeutlicht haben – vor allem an der Frage, in welchem Maße sie das Kontextmerkmal der ‘intimen Situation’ berücksichtigen können. Zu beantworten ist bei der Bewertung verschiedener Erhebungsmethoden jedoch auch die Frage, ob und inwieweit sie das Erreichen eines hinsichtlich Größe und Zusammensetzung repräsentativen Korpus (cf. Kapitel 3.3) ermöglichen.

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3.3.2 Eignung verschiedener Erhebungsmethoden für das ‘intime Sprechen’ In diesem Kapitel sollen vier Methoden zur Korpuserstellung hinsichtlich ihrer Eignung für die Erhebung ‘intimen Sprechens’ evaluiert werden: 1. die offene Beobachtung, 2. Rollenspiele, 3. Spielfilme und Serien sowie 4. Discourse Completion Tasks. Die Kriterien für die Eignung sind einerseits die (erwartete) Authentizität der Äußerungen sowie andererseits die (erwartete) Repräsentativität des mit der entsprechenden Methode erstellten Korpus (cf. Kapitel 3.3). Neben den vier ausgewählten Methoden sind in der Linguistik verschiedene weitere Erhebungsmethoden verbreitet. Da diese sich jedoch bereits grundsätzlich nicht für die Erhebung ‘intimen Sprechens’ eignen, sollen sie nicht ausführlicher betrachtet werden. So kommen etwa Interviewaufnahmen nicht in Frage, weil diese keine Gespräche zwischen intim Vertrauten, sondern nur zwischen ForscherIn und InformantIn enthalten. Auch Fragebögen sind ungeeignet, da sie nicht die Sprachdaten selbst, sondern lediglich Informationen über das Sprachverhalten erheben und aus diesem Grund nicht die Basis für ein authentisches Sprachdatenkorpus ‘intimen Sprechens’ sein können. Eine verdeckte Beobachtung schließlich erscheint zwar zur Gewinnung authentischen ‘intimen Sprechens’ durchaus vielversprechend, ist jedoch aus juristischen und ethischen Gründen auszuschließen. 3.3.2.1 Offene Beobachtung Bei der offenen Beobachtung werden SprecherInnen in einer tatsächlichen Kommunikationssituation wissentlich beobachtet bzw. aufgenommen. Das heißt, dass den Beobachteten keinerlei Vorgaben zu Themen, Handlungen o. Ä. gemacht werden, sondern sie für eine gewisse Zeit in ihrem Alltag aufgezeichnet werden. Die Erhebung basiert also grundsätzlich auf einer realen, nicht simulierten Kommunikation zwischen zwei realen Personen, was grundsätzlich den entscheidenden Vorteil der offenen Beobachtung darstellt (cf. auch Schilling 2013b, 107–112). Nach genauerer Revision muss dieser Vorteil allerdings mindestens relativiert, wenn nicht gar revidiert werden, denn auch bei offenen Beobachtungen handelt es sich letztlich um eine «conversation staged for the purpose of data collection» (O’Keeffe/Clancy/Adolphs 2011, 26; ebenso Kasper 1999, 75). So werden den TeilnehmerInnen zwar keine Gesprächsaufgaben gestellt, aber durch die Aufnahmesituation dennoch eine Kommunikationsumgebung geschaffen, die nicht natürlich, sondern künstlich und nicht ‘intim’, sondern von Dritten mitkonstituiert ist. Damit wird auch das BeobachterInnenparadoxon wirksam, das gerade im sensiblen Bereich des ‘intimen Sprechens’ eine starke Modifikation des

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Sprachverhaltens seitens der TeilnehmerInnen erwarten lässt (cf. Kapitel 3.3.2). Letztendlich können also durch die offene Beobachtung keine tatsächlich authentischen ‘intimsprachlichen’ Äußerungen erhoben werden (cf. auch Kasper 1999, 72). Das Streben nach Aufrechterhaltung des impression management und das Bewusstsein darüber, dass bestimmte Arten des Sprachverhaltens sich eigentlich nicht für die gegebene Situation, nämlich die Anwesenheit (oder zumindest die Kenntnisnahme) Dritter, eignen, werden wahrscheinlich sogar dazu führen, dass das gewünschte Register von den TeilnehmerInnen überhaupt nicht genutzt wird (cf. auch Dressler/Merlini Barbaresi 1994, 194).72 Dieser Umstand wirkt sich auch auf die Repräsentativität des Korpus aus: Da es aufgrund der unkontrollierten Kommunikationsbedingungen keine Garantie gibt, dass die für das Korpus erforderlichen Situationen überhaupt auftreten, ist damit zu rechnen, dass ein nicht unerheblicher Teil der aufgezeichneten Gespräche sich als kaum oder gar nicht ergiebig für das erforschte Register erweist und daher eine Vielzahl zusätzlicher offener Beobachtungen durchgeführt werden müsste, um überhaupt an geeignetes Sprachmaterial zu kommen (cf. auch Kasper 1999, 75; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 50; O’Keeffe/Clancy/ Adolphs 2011, 26; Bataller 2013, 113). Das Erreichen einer repräsentativen Menge an Daten ist auf diese Weise nicht möglich, sodass sich Daten aus offenen Beobachtungen in erster Linie für qualitative Fragestellungen eignen (cf. auch Deppermann/Spranz-Fogasy 2001, 1156). Dass es bereits grundsätzlich schwierig ist, Personen zu finden, die sich beobachten lassen (Albert/ Marx 2010, 47), hat in dieser Hinsicht umso fatalere Auswirkungen. Letztlich ist daher sehr fraglich, ob die Methode der offenen Beobachtung für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ nützlich wäre. 3.3.2.2 Rollenspiele In Rollenspielen werden Personen gebeten, ein Gespräch auf Basis einer vorgegebenen Situation und vorgegebenen Gesprächsrollen nachzuspielen. Es handelt sich also um eine Simulation einer kommunikativen Begegnung (Kasper 1999, 76; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 51).

72 Dies wird z. B. auch deutlich am Habla-Culta-Korpus aus Chile (Rabanales/Contreras 1990; cf. Kapitel 4.1.2). Das Korpus besteht aus 23 transkribierten Paar- bzw. Gruppengesprächen, bei denen einE ForschendeR mit im Raum anwesend ist und das Thema völlig freigestellt wird. In der Folge greifen selbst Ehepaare, Verwandte und FreundInnen in weiten Teilen auf Themen wie Bildung, Politik u. Ä. zurück und führen eine betont sachliche Diskussion. Nur ein einziges Ehepaar wählt ein persönlicheres Thema und spricht über die anstehende Reise des Ehemanns.

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Da es sich um eine simulierte Kommunikation handelt, scheinen Rollenspieldaten auf den ersten Blick ungleich weniger authentisch zu sein als Daten aus offenen Beobachtungen. So werden die Situation und die Rollenzuschreibungen im Rollenspiel künstlich erzeugt und tatsächliche Intentionen oder Konsequenzen für die Beteiligten bleiben aus, was wiederum Verzerrungen im Sprachverhalten zur Folge haben kann. Rollenspiele können also «never be the same as authentic conversation» (Kasper 1999, 72; ebenso Schlobinski 1996, 34; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 52–53; Bataller 2013, 114). Für die Erhebung ‘intimen Sprechens’ kann sich gerade dieser Umstand allerdings wiederum als vorteilhaft erweisen: Da die TeilnehmerInnen lediglich eine Rolle spielen und dadurch nicht in ihrer personenhaften Individualität betroffen sind, ist zu erwarten, dass sie ungehemmter in Bezug auf ihr ‘(intim-)sprachliches’ Verhalten sind. Sie können ihr impression management aufrechterhalten, weil nicht ihr persönliches, privates Verhalten von Dritten beobachtet wird, sondern dasjenige der Rolle, die sie spielen. Dadurch ist mit weniger schambedingten Modifikationen des Sprachverhaltens zu rechnen, wenngleich BeobachterInneneffekte nie gänzlich vermeidbar sind (cf. Kapitel 3.3.1). Möglich wird diese Steigerung der Authentizität in der einen Hinsicht allerdings nur auf Kosten der Senkung der Authentizität in anderer Hinsicht, da eben nun nicht mehr das Sprachverhalten realer Personen beobachtet wird. Es scheint sich also gegenseitig zu bedingen, inwieweit die TeilnehmerInnen sich persönlich betroffen fühlen und inwieweit sie ihren Sprachgebrach modifizieren: Je stärker eine beobachtete Person als sie selbst im Vordergrund steht, desto stärker wird sie auch ihren als privat empfundenen Sprachgebrauch modifizieren, um ihr impression management aufrechtzuerhalten; möchte man dagegen einen möglichst wenig modifizierten Sprachgebrauch erreichen, muss man eine Distanzierung von der individuellen Person erreichen, wodurch allerdings keine authentischen Personen mit echten kommunikativen Zielen mehr beobachtet werden können. Was Rollenspiele allerdings gegenüber offenen Beobachtungen auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie an eine spezifische Sprechsituation gebunden sind und in dieser Hinsicht kontrollierte Kontextbedingungen erlauben (Kasper 1999, 78; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 50). Der für ein intimsprachliches Korpus erforderliche situationale Kontext kann damit jeweils eindeutig und in derselben Form vorgegeben werden, sodass auch eine bessere Vergleichbarkeit der produzierten Äußerungen gewährleistet werden kann. Dies führt auch dazu, dass im Vergleich zur Beobachtung beim Rollenspiel in einem erheblich kürzeren Zeitraum deutlich mehr Manifestationen des ‘intimsprachlichen Registers’ erhoben werden können. Die Erreichung eines tatsächlich repräsentativen Korpus scheint indes dennoch kaum zu bewerkstelligen zu sein, was auch der

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Grund dafür sein mag, dass Rollenspiele bisher vor allem mit dem Ziel qualitativer Analysen eingesetzt wurden (Kasper 1999, 72; Albert/Marx 2010, 99). Grundsätzlich wären Rollenspiele als Erhebungsmethode – vorbehaltlich der erwähnten Defizite – für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ jedoch denkbar. 3.3.2.3 Filmische Dialoge Seit einigen Jahren werden in linguistischen Untersuchungen neben den eher traditionellen Erhebungsmethoden vermehrt auch Daten aus Film und Fernsehen zur Untersuchung sprachlicher Phänomene herangezogen. Der Vorteil von Dialogen aus Spielfimen und Serien liegt darin, dass es sich bei ihnen um nicht elizitierte Daten handelt. Das heißt, das Datenmaterial wurde nicht erst im Rahmen eines Forschungskontextes produziert, sondern liegt bereits in audiovisueller Form vor. Damit ist es von BeobachterInneneffekten frei, die aus der Forschungssituation erwachsen (cf. auch Hummel 2002, 180). Ein filmisches Korpus bietet zudem den Vorteil, dass dort auch solche Kommunikationssituationen auftreten, zu denen man mit anderen Erhebungsmethoden keinen Zugang bekommt (cf. auch Lebsanft 1990, 165; Hummel 2010, 119). Das betrifft unter anderem auch ‘intimes Sprechen’ mit seinen spezifischen Kontextmerkmalen. Es sind ja gerade Literatur und Film – und nur sie! –, die einen direkten Einblick in das Privatleben fremder Menschen ermöglichen. Sowohl in vielen Kinofilmen als auch in Fernsehserien – wegen ihres betonten Alltagsbezugs vor allem Daily Soaps und Telenovelas – dürften ‘intimsprachliche’ Situationen also häufig vorkommen. Wenn es nun scheinen mag, als seien Dialoge aus Spielfilmen und Serien die ideale Methode, um authentisches ‘intimsprachliches’ Datenmaterial zu erhalten, so müssen in dieser Hinsicht doch einige Einschränkungen gemacht werden. Was der geforderten Authentizität der Daten geradezu diametral entgegensteht, ist die naturgegebene Fiktivität filmischer Dialoge (cf. auch Hummel 2002, 180; 2010, 138). So sind auch umgangssprachliche Dialoge in Filmen kein Abbild einer realen Konversation echter Personen, sondern einer Kommunikation zwischen von DrehbuchautorInnen geschaffenen Figuren. Ihre Sprache richtet sich nach der psychologischen und sozialen Charakterisierung, die die DrehbuchautorInnen für sie vorgesehen haben (z. B. mittels Sprachkontaktphänomenen, dialektalen oder soziolektalen Merkmalen) und ist damit nicht authentisch (cf. auch Cristobalina Moreno 2010, 84). Zudem sind Filmdialoge aufgrund ihrer dramaturgischen Funktion meist sehr viel kompakter und verdichteter, als es reale Dialoge in der Regel sind. Schließlich weist die Sprache der Figuren in filmischen Dialogen auch nur zum Teil die universellen Merk-

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male ‘gesprochener Sprache’ auf (cf. Kapitel 3.2.1.3). So werden z. B. Inkonsistenzen, Abbrüche, Selbstkorrekturen oder Überbrückungsphänomene in der Regel kaum oder gar nicht gebraucht. Es handelt sich damit höchstens um eine pseudospontane, da auf Drehbüchern basierende Imitation gesprochener Sprache, die in der Sprachwissenschaft mit dem Terminus ‘fingierte Mündlichkeit’ beschrieben wird: «Los diálogos no dejan de ser muestras de una oralidad prefabricada, fingida, que se acerca en mayor o menor medida a la lengua espontánea» (Matamala 2008, 81; zur ‘fingierten Mündlichkeit’ cf. z. B. auch Goetsch 1985; Blank 1991; Briz Gómez 2001; Brumme 2008). Der Umstand der Fiktivität filmischer Dialoge scheint also qua natura im deutlichen Widerspruch zum Ziel der Untersuchung authentischen Datenmaterials zu stehen. Andererseits kann ein filmischer Dialog zumindest ein Abbild eines sozial etablierten Modells sprachlicher Muster aufzeigen (Cristobalina Moreno 2010, 85; Hummel 2010, 138). Er versucht schließlich, Kommunikationsmuster zu nutzen, die für bestimmte Personengruppen in bestimmten Situationen typisch sind. Die ZuschauerInnen können dann anhand dieser Muster z. B. auf die kommunikative Umgebung oder auf die Beziehung zwischen den SprecherInnen schließen. Dies gelingt allerdings nur, wenn die entsprechenden Muster und ihre Verbindung mit bestimmten Situationen und/oder sozialen Beziehungen Teil der kommunikativen Kompetenz der ZuschauerInnen sind und demnach auch in der SprecherInnengruppe verbreitet sind (cf. auch Cristobalina Moreno 2010, 85). Insofern ist es durchaus möglich, filmische Dialoge als Datenquelle für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ zu nutzen. Als problematisch erweist sich indes die Erreichung eines hinsichtlich Größe und Zusammensetzung repräsentativen Korpus. So ist es zwar grundsätzlich denkbar, ‘intimsprachliche’ Äußerungen von (idealerweise) mehreren hundert Filmfiguren in einem hinsichtlich Alter und Geschlecht möglichst ausgeglichenen Verhältnis zu beschaffen – der Zeitaufwand für die Sichtung des Materials auf die gewünschte situative Konstellation hin ist jedoch als extrem hoch anzusetzen (cf. auch Bednarek 2011, 547). 3.3.2.4 Discourse Completion Tasks (DCTs) Bei Discourse Completion Tasks (DCTs) wird den StudienteilnehmerInnen mittels textueller Beschreibung eine Sprechsituation präsentiert. Anschließend werden die TeilnehmerInnen gebeten, niederzuschreiben, was sie in der gegebenen Situation sagen würden. Alternative Methoden der Situationspräsentation sind die Darbietung visueller Stimuli (z. B. Fotos) und die Vorgabe eines oder mehrerer Redebeiträge des (hypothetischen) Gegenübers (Kasper 1999, 80; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 53; Bednarek 2011, 542; O’Keeffe/Clancy/Adolphs 2011,

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3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

21; Bataller 2013, 112; Lappalainen 2019, 103). Insgesamt scheint die Darbietung visueller Stimuli dabei die am besten geeignete Methode zu sein, weil diese motivierender und authentischer sind und in verdichteter Form deutlich mehr Informationen vermitteln können als Texte (cf. z. B. Lappalainen 2019, 166). Als vorteilhaft erweist sich bei DCTs zunächst, dass sie die Kontrolle der Kontextbedingungen in hohem Maße ermöglichen. So könnte durch die Vorgabe der spezifischen Situationsmerkmale ‘intimen Sprechens’ gezielt das ‘intimsprachliche Register’ untersucht werden und hinsichtlich der Kontextmerkmale vergleichbare Äußerungen produziert werden (Hummel 2010, 107; Albert/ Marx 2010, 59; Bishop/Michnowicz 2010, 417; Bednarek 2011, 543; MartínezFlor/Usó-Juan 2011, 50; O’Keeffe/Clancy/Adolphs 2011, 22). Ein weiterer Vorteil von DCTs gegenüber anderen Erhebungsmethoden liegt in der Tatsache, dass die SprecherInnen in ihrem (Sprach-)Verhalten vollständig anonym bleiben können. So treffen ForscherIn und TeilnehmerInnen etwa bei internetbasierten DCTs weder bei noch vor noch nach der Erhebung persönlich aufeinander, und im Gegensatz zu offenen Beobachtungen und Rollenspielen werden die Forschenden nicht Teil der Gesprächssituation. Die TeilnehmerInnen werden zu keinem Zeitpunkt persönlich identifiziert und müssen daher nicht fürchten, infolge ihres (sprachlichen) Verhaltens als Personen bewertet, kritisiert oder sanktioniert zu werden. Sie behalten also die Kontrolle über ihr impression management, selbst wenn sie sich nicht norm- und rollengerecht verhalten (cf. auch Westin 1970, 32; Kruse 1980, 185; Porst 2009, 125). Die Scham und das Unbehagen, die den TeilnehmerInnen in der direkten Konfrontation mit den Forschenden entstehen würden, können also bei anonymen, etwa internetbasierten DCTs in weiten Teilen eingedämmt werden (cf. auch Porst 2009, 127–128; Albert/Marx 2010, 59; O’Keeffe/Clancy/Adolphs 2011, 23). Dies ist nicht nur aus ethischen Erwägungen wünschenswert, sondern kann vor allem auch die BeobachterInneneffekte gering halten, anders als dies etwa bei offenen Beobachtungen oder Rollenspielen möglich ist.73 Daher raten auch Brehm et al. (2002, 53) und Porst (2009, 127) dazu, bei heiklen Themen zu anonymen Erhebungsmethoden wie DCTs zu greifen, um entsprechenden Verzerrungen möglichst gut entgegenzuwirken. O’Keeffe/Clancy/Adolphs (2011, 23) sehen DCTs sogar als zwingende Methode bei der Erhebung sensibler, schambesetzter Phänomene an. Schließlich bieten DCTs auch im Hinblick auf das Kriterium der Repräsentativität einen Vorteil gegenüber den anderen Methoden, da sie die Untersuchung einer großen SprecherInnenzahl in vergleichsweise kurzer Zeit ermöglichen (cf. auch

73 Nach Westin (1970, 32–33) ist Anonymität neben Alleinsein, Intimität und Reserviertheit sogar eine eigene Form von Privatheit, was ihre konzeptuelle und funktionale Nähe zu Intimität und der ‘intimen Kommunikationsumgebung’ unterstreicht.

3.3 Konsequenzen der Neukonzeption für die empirische Untersuchung

147

Hummel 2010, 107; Bednarek 2011, 543; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 53; Bataller 2013, 112; Lappalainen 2019, 100, 103). Für qualitative Analysen, etwa zu kommunikativen Strategien, eignen sich DCTs dagegen kaum, denn hierfür wären (mindestens) Reaktionen des Gegenübers und eine Interaktion der GesprächspartnerInnen über längere Sequenzen nötig (Kasper 1999, 72; Atteslander 2000, 129; Hummel 2010, 136; Bataller 2013, 113; Kanik 2016, 426). Der entscheidende Nachteil von DCTs für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ liegt darin, dass mündlicher Sprachgebrauch in schriftlicher Form erhoben wird (cf. auch Kasper 1999, 72; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 52; O’Keeffe/ Clancy/Adolphs 2011, 26; Kanik 2016, 424). Zwar gilt grundsätzlich, dass ‘Kode’ und ‘Konzeption’ voneinander unabhängige Dimensionen sind, d.h. für jede ‘konzeptionell mündliche’ Äußerung und Äußerungsform ist grundsätzlich auch die Transposition vom ‘phonischen’ in den ‘graphischen Kode’ möglich, ohne dass sich die Konzeption ändert (cf. Kapitel 3.2.1.3). Mit einigen nicht unerheblichen Einschränkungen der Daten aufgrund der Schriftform ist aber dennoch zu rechnen (cf. auch Kasper 1999, 72, 80; Martínez-Flor/Usó-Juan 2011, 52; O’Keeffe/Clancy/Adolphs 2011, 26; Bataller 2013, 112). So sind bei der Produktion schriftlicher Äußerungen seitens der SprecherInnen deutlich komplexere kognitive Prozesse involviert als bei der spontanen mündlichen Kommunikation. Vor allem erfordern schriftliche Äußerungen einen sehr viel höheren Grad an Planung, was dazu führt, dass die produzierten Äußerungen deutlich weniger spontan und authentisch sind, als sie es in der tatsächlichen ‘intimen Situation’ wären. Erschwerend kommt hinzu, dass die Fähigkeit zur Planung wiederum voraussetzt, dass die SprecherInnen sich daran erinnern können, welches Sprachverhalten sie in bestimmten Situationen gezeigt haben (cf. auch Albert/Marx 2010, 59). Gerade beim ‘intimen Sprechen’ ist – wohl vor allem aufgrund des hohen Stellenwerts von Emotionen (cf. Kapitel 3.1.1.5) – allerdings davon auszugehen, dass es in weiten Teilen unbewusst oder zumindest unreflektiert geäußert wird und daher im Gedächtnis lediglich in unscharfen Konturen verankert ist. Die SprecherInnen kennen also ihr eigenes ‘intimes’ Sprachverhalten oft gar nicht gut genug, um es in DCTs adäquat zu reproduzieren. Erinnern und reproduzieren werden die SprecherInnen stattdessen vor allem konventionelle, traditionelle Formen, da diese Teil ihres kulturellen Wissens sind: «They may capture knowledge rather than usage» (Bednarek 2011, 542). Solche verbreiteten Formen stellen allenfalls einen kleinen Ausschnitt aus dem tatsächlichen, variablen und situationsgebundenen Gebrauch dar. Schwerwiegend auf die Datenqualität von DCTs wirkt sich weiterhin die Tatsache aus, dass bestimmte sprachliche Ebenen im graphischen Kode nicht oder kaum abbildbar sind. So können insbesondere phonetische und prosodische Besonderheiten in der Schriftform nur durch Abweichungen von den ortho-

148

3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

graphischen Konventionen der jeweiligen Einzelsprache repräsentiert werden. Die Möglichkeiten, die die einzelsprachlichen Schriftsysteme hierfür bieten, sind begrenzt. So lassen sich insbesondere feinere phonetische Lautmodifikationen mit den Mitteln eines einzelsprachlichen Alphabets kaum darstellen – nicht ohne Grund gibt es mit dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA) ein umfassendes, eigens für lautliche Realisierungen entwickeltes Alphabet. Gleiches gilt für viele prosodische Merkmale: Während sich für einzelne Phänomene wie Lachen, Silbenlängung oder erhöhte Lautstärke bereits graphische Verfahren etabliert haben (cf. für das Spanische z. B. Montero Curiel 2011, 62; Sinner 2014, 229), ist dies bei anderen prosodischen Parametern wie etwa der Tonhöhe oder der Intonation nicht der Fall und es ist daher kaum möglich, entsprechende Besonderheiten zu verschriftlichen. Eine Verschriftlichung phonetischer und prosodischer Besonderheiten durch abweichende Graphien setzt zudem erneut einen hohen Grad an Bewusstheit der SprecherInnen voraus, der gerade bei diesen Ebenen jedoch häufig nicht gegeben ist. Schließlich ist auch nicht mit Sicherheit davon auszugehen, dass die SprecherInnen von den bestehenden Möglichkeiten auch Gebrauch machen. So suggeriert die Schriftform der DCTs eher eine Normorientierung und dementsprechend könnten die TeilnehmerInnen befürchten, dass eine Abweichung von orthographischen Regeln mit mangelnder Bildung o. Ä. assoziiert werden könnte. Dies gilt auch für Phänomene anderer sprachlicher Ebenen wie Syntax oder Lexik. Auch hier könnten bestimmte Phänomene, die stark mit dem ‘informellen Register’ assoziiert werden, aufgrund der durch die Schriftform suggerierten Distanzsprachlichkeit bewusst unterdrückt werden. All diese Beschränkungen wirken sich nachteilig auf die Authentizität der zu erhebenden Daten aus. Dabei ist weder antizipier- noch beeinflussbar, in welchem Ausmaß und in welcher Form die TeilnehmerInnen von den Möglichkeiten zur schriftlichen Realisierung phonetischer und prosodischer Merkmale sowie generell von stark ‘informell’ markierten Phänomenen Gebrauch machen werden. Das Ausmaß der schriftformbedingten Verzerrung in den Daten ist damit in jedem Fall erheblich und darüber hinaus nicht quantifizierbar. Zur Erhebung ‘intimen Sprechens’ eignen sich DCTs daher lediglich in eingeschränktem Maße und können allenfalls eine erste Annäherung an das Phänomen ermöglichen. 3.3.2.5 Schlussfolgerungen Aus den vorangegangenen Ausführungen ist hervorgegangen, dass keine der vorgestellten Methoden sich ideal für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ eignet. Für jede Methode ergeben sich Einschränkungen hinsichtlich der Authentizität und/oder der Repräsentativität der Daten.

3.3 Konsequenzen der Neukonzeption für die empirische Untersuchung

149

Hinsichtlich des Kriteriums der Authentizität ist festzustellen, dass bei jeder Methode mit nicht unerheblichen Einschränkungen gerechnet werden muss: – Bei offenen Beobachtungen wird der ‘intime’ Sprachgebrauch zur Aufrechterhaltung des impression management entweder sehr stark durch BeobachterInneneffekte verzerrt oder tritt überhaupt nicht auf. – Bei Rollenspielen wird der ‘intime’ Sprachgebrauch zu etwas geringerem Grade durch BeobachterInneneffekte verzerrt, wird aber wiederum dadurch weniger authentisch, dass die TeilnehmerInnen nicht als reale Personen, sondern in ihnen zugewiesenen Rollen agieren und auf diese Weise ihr impression management bewahren. – Bei filmischen Dialogen sind keine BeobachterInneneffekte wirksam, allerdings hat die Fiktivtät der Dialoge grundsätzlich Einschränkungen der Authentizität zur Folge. Andererseits können filmische Dialoge aber durchaus das Konventionelle, Musterhafte aufzeigen. – Bei (anonymen) DCTs sind die BeobachterInneneffekte auf ein Minimum reduziert, da die TeilnehmerInnen durch die Anonymität ihr impression management bewahren können, auch wenn sie sich nicht normkonform verhalten. Allerdings hat die Schriftform von DCTs erhebliche Einschränkungen der Authentizität zur Folge und führt dazu, dass die Ebenen der Phonetik und Prosodie allenfalls ersatz- und näherungsweise abgebildet werden können. Was das Kriterium der Repräsentativität angeht, ist dies nur bei DCTs relativ verlässlich erfüllbar. Alle anderen Erhebungsmethoden erlauben in der Theorie zwar ebenfalls repräsentative Korpora, das tatsächliche Erreichen ist außerhalb größer angelegter Forschungsprojekte aber nicht als realistisch einzuschätzen. Unter den vorgestellten Methoden erlauben schließlich zwei die Kontrolle der Kontextbedingungen (‘Rollenspiele’ und ‘DCTs’), die zwei anderen (‘offene Beobachtung’ und ‘filmische Dialoge’) nicht. Die Frage, ob die Kontrolle der Kontextbedingungen möglich ist, hat sowohl Auswirkungen auf die Authentizität als auch auf die Repräsentativität des Korpus. So ist hinsichtlich der Authentizität in Kapitel 3.3 dargestellt worden, dass bei der Korpuserstellung für Registerstudien streng von den registerspezifischen Kontextmerkmalen ausgegangen werden muss, um echte und auch vergleichbare Manifestationen des Registers zu erhalten. Was die Repräsentativität angeht, ist durch die Kontrolle der Kontextbedingungen mit deutlich geringerem Aufwand ein angemessen großes Korpus erreichbar. In Tabelle 6 sind die angesprochenen Vor- und Nachteile noch einmal gegenübergestellt:

150

3 Neukonzeption des Untersuchungsgegenstands

Tabelle 6: Gegenüberstellung der Erhebungsmethoden hinsichtlich ihrer Eignung für die Erhebung ‘intimen Sprechens’. Erhebungsmethode

Authentizität

Repräsentativität

Verzerrungen Kontrolle der Kontextbedingungen

Menge und Zusammensetzung der Daten

offene Beobachtung

--

-

--

Rollenspiele

-

+

-

Spielfilme und Serien -

-

-

DCTs

+

+

-

Die Gegenüberstellung in Tabelle 6 zeigt noch einmal anschaulich, dass ‘intimes Sprechen’ aufgrund seiner besonderen Kontextbedingungen letztendlich mit keiner Methode völlig authentisch und verlässlich zu erheben ist. Allerdings haben zumindest die Methoden ‘Rollenspiel’, ‘Spielfilme und Serien’ und ‘DCTs’ jeweils spezifische Vorzüge für die Untersuchung ‘intimen Sprechens’ und ermöglichen daher jede für sich Annäherungen an das ‘intimsprachliche Register’. Die jeweils gewonnenen Ergebnisse sollten jedoch möglichst trianguliert werden. So können die mit einer Methode gewonnenen Erkenntnisse durch eine andere entweder bestätigt und damit in ihrer Validität erhöht werden oder aber es ergeben sich Widersprüche und damit neue (Forschungs-) Fragen. Nur durch eine solche «methodische Kontrolle» in Form von evaluierenden und vergleichenden Analysen kann schrittweise eine immer weitere Annäherung an das Phänomen ‘intimes Sprechen’ erreicht werden. Das (neu-) konzipierte ‘intime Sprechen’ eröffnet das Feld somit nicht nur für varietätenlinguistische Untersuchungen unterschiedlichster Fragestellungen, sondern auch für vielfältige methodologische Studien und Reflexionen.

4 Empirische Untersuchung des Konzepts ‘intimes Sprechen’ an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch Es un fenómeno común a muchas lenguas, tal vez a todas ellas, el relacionar la intimidad con la pequeñez. (Boyd-Bowman 1955, 346)

In Kapitel 3 wurde mit der (Neu-)Konzeption von Formen «zärtlichen Sprechens» als ‘intimes Sprechen’ eine Theorie vorgelegt, die eine Inversion der bisherigen Forschungsansätze darstellt: Statt von einzelnen sprachlichen Phänomenen auszugehen, wurde ‘intimes Sprechen’ anhand seiner spezifischen Kontextmerkmale bestimmt. Als differentia specifica erwiesen sich die ‘intime Beziehung’ zwischen den GesprächsteilnehmerInnen sowie die ‘intime Situation’ der Kommunikation. Damit liegt die angestrebte differentielle Definition des «zärtlichen Sprechens» vor. Das anhand seiner Kontextmerkmale abgegrenzte ‘intime Sprechen’ wurde daraufhin sprachtheoretisch als Register verortet und schließlich die Konsequenzen der Neukonzeption für die empirische Untersuchung aufgezeigt. Damit liegt eine solide Grundlage für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit ‘intimem Sprechen’ vor. In Kapitel 3.2.1 ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass ein ‘Register’ erst dadurch definiert ist, dass bestimmte sprachliche Merkmale in vorhersehbarer Weise mit bestimmten außersprachlichen Merkmalen kookurrieren. Bisher ist das ‘intimsprachliche Register’ jedoch lediglich von einer Seite her, nämlich auf Basis seiner außersprachlichen Merkmale bestimmt worden. Von einem Register kann freilich aber erst dann gesprochen werden, wenn für die beschriebene situative Konstellation tatsächlich auch wiederkehrende sprachliche Muster beobachtet werden können. Die vorliegende Arbeit soll sich daher nicht auf die Ausarbeitung der Theorie ‘intimen Sprechens’ beschränken. Stattdessen soll ihre Gültigkeit bereits einer ersten empirischen Überprüfung unterzogen werden. Dazu soll das ‘intime Sprechen’ im Sinne der vorangegangenen theoretischen und methodischen Überlegungen exemplarisch in einer diatopischen Varietät des Spanischen, nämlich dem Spanischen Chiles, erhoben und analysiert werden. Chile ist dabei nicht grundsätzlich geeigneter für die empirische Untersuchung des ‘intimen Sprechens’ als andere Sprachräume: Für den Nachweis der Existenz des ‘intimen Sprechens’ wird lediglich ein konkreter Bezugsraum benötigt, der grundsätzlich auch ein anderer sein könnte. Da es sich bei Chile im Gegensatz zu den meisten anderen hispanophonen Staaten aber um einen relativ abgeschlossenen Dialekt- und Kulturraum handelt (cf. Kapitel 4.1.1), bietet es sich in besonderer Weise für die Untersuchung an. Anhand der https://doi.org/10.1515/9783110772708-004

152

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

empirischen Untersuchung im Spanischen Chiles soll nachgewiesen werden, dass es sich bei dem im Sinne von Kapitel 3 abgegrenzten Register des ‘intimen Sprechens’ nicht bloß um ein theoretisches Konstrukt handelt, sondern um ein real beobachtbares Phänomen mit spezifischen sprachlichen Merkmalen. Das ‘intime Sprechen’ wäre damit nachgewiesenermaßen eine sinnvolle Erweiterung für die sprachwissenschaftliche Forschung.

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie Die titelgebende Entscheidung, das gesamte chilenische Staatsgebiet zur Untersuchungsregion des empirischen Teils dieser Arbeit zu erklären, impliziert die Vorannahme, dass es sich beim Spanischen in Chile um einen sprachlich (ausreichend) homogenen und abgeschlossenen Dialekt handelt. Gerade im Hinblick auf die Feststellung Canfields (1962, 96) und Lipskis (1994, 4), dass Staatsgrenzen für die diatopische Gliederung des amerikanischen Spanisch grundsätzlich keine Bedeutung haben und sich daher eine länderorientierte Einteilung für varietätenlinguistische Beschreibungen nicht eignet, ist diese Entscheidung zu begründen; dies soll in Kapitel 4.1.1 erfolgen. Anschließend soll in Kapitel 4.1.2 ein Überblick über die bisherige Forschung zum chilenischen Spanisch gegeben werden, der auch mögliche Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit deutlich werden lässt. In Kapitel 4.1.3 werden schließlich die markanten Merkmale des chilenischen Dialekts vorgestellt, um in Abhebung von diesen schließlich ‘intimsprachliche’ Merkmale identifizieren zu können.

4.1.1 Chile als Dialektraum Chile kommt in der hispanoamerikanischen Dialektlandschaft ein «special status» (Lipski 1994, 198) zu. So ist vielen Beschreibungen zu entnehmen, dass Chile sich trotz seiner enormen geographischen Ausdehnung hinsichtlich der dialektalen Variation auffällig homogen zeigt (Oroz 1964, 93; Cotton/Sharp 1988, 221; Lipski 1994, 5, 17, 196; Barrientos et al. 1995, 99; Moreno Fernández 2009, 370; Kluge 2013, 769; Burunat 2014, 195). Hierfür werden vor allem historische Gründe angeführt. So sehen Barrientos et al. (1995, 99) die Ausstrahlungskraft der Hauptstadt Santiago während der Kolonialzeit als Hauptfaktor für die Homogenisierung des chilenischen Spanisch. Gleichzeitig hebt sich das chilenische Spanisch vielen Beschreibungen zufolge deutlich von den Dialekten der angrenzenden Staaten Bolivien, Peru und Argentinien ab (Lipski 1994, 198; Barrientos et al. 1995, 99; Wagner 1998, 121; Burunat 2014, 195). Dieser Umstand

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

153

wird vor allem auf die isolierte geographische Lage Chiles – im Norden bedingt durch die Atacama-Wüste, im Osten durch die Andenkordillere und im Westen und Süden durch den Pazifischen Ozean – zurückgeführt (Cotton/Sharp 1988, 221; Barrientos et al. 1995, 99). Auch die geographische Distanz Chiles vom Vizekönigshof in Lima während der Kolonialzeit wird als möglicher Grund angenommen (Burunat 2014, 195). Dementsprechend wird Chile im Kontext Hispanoamerikas häufig als eigene, abgeschlossene Dialektzone klassifiziert, und auch Arbeiten zum Spanischen in Chile differenzieren meist nicht weiter, sondern beziehen sich in ihren Titeln – wie auch die vorliegende Arbeit – auf das «chilenische Spanisch» bzw. das «español de Chile» (z. B. Rabanales 1953; 1958; 1974; 1992; 2000; Eguiluz 1962; Oroz 1964; Sáez Godoy 1999; 2002; 2004; 2005; Roldán 2000; Correa Mujica 2001; Torrejón 2010b). Nicht in allen Ansätzen zur dialektalen Gliederung Hispanoamerikas findet sich diese Behandlung Chiles als einheitlichen Dialektraums allerdings wieder: Je nach Gliederungsansatz erfährt Chile eine Einteilung in eine einzige bis hin zu vier verschiedenen Dialektzonen. Die verschiedenen Gliederungsansätze sollen im Folgenden kurz vorgestellt und diskutiert werden. Die erste systematische diatopische Gliederung Hispanoamerikas stammt von Pedro Henríquez Ureña (1921), der insgesamt fünf große Dialektzonen annimmt. Chile gehört in dieser Klassifikation zu zwei Zonen: Der nördliche Teil (Regionen I bis III)74 wird aufgrund seines (angenommenen) stärkeren QuechuaEinflusses gemeinsam mit Bolivien, Peru, Ecuador und dem größten Teil von Venezuela und Kolumbien zur Zone 3 gezählt, allerdings mit der Einschränkung «tal vez» (357); der südliche Teil Chiles (Region IV bis XII) repräsentiert allein die Zone 4. Henríquez Ureña (1921, 358) räumt bereits ein, dass seine Einteilung lediglich für den Bereich der Lexik passt, nicht aber etwa für die phonetische Variation. Gestützt wird die Einteilung auf historische Entwicklungen sowie auf die Verbreitung der indigenen Substratsprachen. Ein Bezug auf konkrete sprachliche Merkmale fehlt dagegen, weshalb die Einteilung in der Folge vielfach methodisch kritisiert und durch empirische Studien auch inhaltlich widerlegt wurde (z. B. Malmberg 1948; Criado de Val 1957; Lope Blanch 1968; Zamora Munné/Guitart 1982; Fontanella de Weinberg 1992; Lipski 1994). Mit der Kritik an Henríquez Ureñas (1921) Einteilung soll dabei keinesfalls der Einfluss historischer Entwicklungen auf die Ausbildung von Varietäten verleugnet werden. So haben historische Faktoren wie der Zeitpunkt der Eroberung, der zeitliche Abstand zwischen Eroberung und Beginn der territorialen Eigenentwicklung, die Bevölkerungszusammensetzung der SiedlerInnen, die Veränderungen in der administrativen Gliederung,

74 Für diese und alle folgenden Angaben zu den heutigen Verwaltungsregionen cf. Abbildung 4.

154

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

die Stärke des Einflusses des jeweiligen Vizekönigshofs, die Existenz von Substraten und Adstraten sowie spätere Migrationsbewegungen innerhalb und nach Lateinamerika entscheidend auf die sprachliche Differenzierung Lateinamerikas eingewirkt (Montes Giraldo 1982, 32–33; Lipski 1994, 21–25; Noll 2009, 103, 106–107). Die verschiedenen historischen Einflussfaktoren sind jedoch so vielschichtig und überlagert, dass keine direkten Übertragungen auf sprachliche Gegebenheiten (mehr) möglich sind. Ohne entsprechenden Nachweis kann damit nicht von einem Einfluss ausgegangen werden (Moreno de Alba 1988, 113; Diego Quesada 2001, 42). So wurde z. B. vielfach festgestellt, dass die (ursprünglichen) Verbreitungsgebiete der indigenen Sprachen nicht, wie Henríquez Ureña (1921) vermutet, mit den Verbreitungsgebieten sprachlicher Varianten übereinstimmen und die sprachlichen Einflüsse auf die regionalen Varietäten des Spanischen nur gering sind. Gerade dem Kriterium der Substratsprachen sollte daher keine allzu große Bedeutung zugesprochen werden und daher auch die Gliederung Henríquez Ureñas kritisch betrachtet werden (cf. auch Canfield 1962, 96; Fontanella de Weinberg 1992, 124; Lipski 1994, 7; Noll 2009, 41). Zu den KritikerInnen Henríquez Ureñas gehört auch José Pedro Rona, der eine eigene Gliederung vorschlägt (Rona 1993 [1964]). Diese basiert im Gegensatz zur Einteilung von Henríquez Ureña (1921) erstmals auf konkreten sprachlichen Merkmalen: Als Kriterien werden 1. die Präsenz des yeísmo, 2. die Präsenz des ʒeísmo, 3. die Präsenz des voseo (pronominal oder verbal) sowie 4. die jeweils vorherrschende Morphologie des voseo (vier Typen A, B, C, und D) herangezogen. Auf Basis dieser Merkmale gelangt Rona zu einer Einteilung Hispanoamerikas in 16 Dialektzonen, die er um sieben weitere Zonen mit starkem englischen, portugiesischen oder Quechua-Einfluss erweitert. Chile findet sich in insgesamt drei der 23 Zonen wieder: Der Norden gehört gemeinsam mit Nordwestargentinien und Südwestbolivien zu Zone 10 (Merkmale -, -, +, B); Zentralchile stellt allein die Zone 13 dar (Merkmale +, -, +, B); der Süden Chiles gehört gemeinsam mit einem Teil des argentinischen Patagoniens zu Zone 14 (Merkmale -, -, +, B). Deutlich erkennbar ist, dass Nord- und Südchile bei Rona (1993 [1964]) dieselben sprachlichen Merkmale aufweisen, aber aufgrund ihrer geographischen Distanz dennoch als zwei verschiedene Zonen klassifiziert werden. Zentralchile unterscheidet sich in den betrachteten Merkmalen nur im Merkmal yeísmo von den beiden anderen Zonen. Kritisiert wurde Rona (1993 [1964]) zum einen wegen der Auswahl seiner Kriterien. So sei z. B. der schwache Konsonantismus (etwa die Realisierung von silbenfinalem /s/) zu wenig berücksichtigt worden, die Relevanz des ʒeísmo als partikulären Phänomens der La Plata-Region dagegen überschätzt worden (Zamora Munné/Guitart 1982, 181; Moreno Fernández 1993, 29; Lipski 1994, 16; Noll 2009, 48). Zum anderen wird ihm Inkonsequenz bei der Zonenbildung vorgeworfen, insofern als einige

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

155

Gebiete mit gleichen Merkmalen aufgrund ihrer geographischen Lage getrennt wurden (wie etwa Chile), andere dagegen nicht (Zamora Munné/Guitart 1982, 180; Kubarth 1987, 51; Moreno de Alba 1988, 116; Moreno Fernández 1993, 28–29; Noll 2009, 48). Weiterhin überschätze Rona (1993 [1964]) den Einfluss des Englischen, des Portugiesischen und des Quechua, wenn er – ohne die Heranziehung konkreter sprachlicher Merkmale – sieben weitere Zonen ansetzt (Zamora Munné/ Guitart 1982, 180). Schließlich sei seine Datengrundlage zu klein und unsicher für eine aussagekräftige Klassifikation – viele Aussagen hinsichtlich der Verbreitung der einzelnen Varianten wurden tatsächlich später korrigiert. Nichtsdestotrotz hat Rona (1993 [1964]) die lateinamerikanische Dialektologie stark vorangebracht, indem er seine Gliederung erstmals streng auf Isoglossen sowie auf Merkmale unterschiedlicher sprachlicher Ebenen stützte (cf. auch Zamora Munné/Guitart 1982, 179). Canfield (1962) entwirft keine eigene Gliederung, präsentiert aber Sprachkarten Hispanoamerikas zu acht verschiedenen lautlichen Phänomenen, die Hinweise auf eine dialektale Gliederung geben. Die Karten enthalten die Phänomene 1. «conservación consonántica» ([b]/[d]/[g] nach /s/, /r/, /l/ sowie Erhalt von [ð] in -ado), 2. Realisierung von /s/ (apikodental vs. dorsoalveolar vs. apikoalveolar), 3. Realisierung von /x/ (velar vs. palatal vs. pharyngeal), 4. Realisierung von silbenfinalem -/s/ (Aspiration vs. Elision vs. Erhalt), 5. Realisierung von /ʎ/ und /j/ (sechs unterschiedliche Varianten), 6. Neutralisation von /l/ und /ɾ/, 7. Assibilierung von Vibranten sowie 8. fünf weitere lokale Phänomene (palatale Realisierung von /x/ vor /i/, Realisierung von /tʃ/͡ als [ts], Realisierung von /tʃ/͡ als [tj], Realisierung von /r/ als [ɻ], Existenz von [v]). Seine Daten für Chile bezieht Canfield (1962) laut eigener Aussage aus Lenz (1940), Silva Fuenzalida (1952–1953) und Rabanales (1953) sowie aus eigenen Feldforschungen aus dem Jahr 1958. Die Karten zu den verschiedenen Merkmalen ergeben kein kohärentes Bild hinsichtlich einer möglichen Einteilung in Dialektzonen, zeigen aber anschaulich, dass die Verteilung der Merkmale sich weder mit den politischen Grenzen noch mit der Verbreitung der indigenen Sprachen deckt. Chile stimmt hinsichtlich vieler Merkmale mit benachbarten (aber jeweils unterschiedlichen) Regionen überein (Karten 1, 2, 3, 4, 5, 7), weist aber auch partikuläre Merkmale auf, die sich nur in weit entfernten Regionen oder sogar nur in Chile selbst wiederfinden (z. B. die palatale Realisierung von /x/ vor /i/ und die Realisierung von /tʃ/͡ als [ts]). Hinsichtlich zehn der insgesamt zwölf Merkmale zeigt sich Chile bei Canfield (1962) als homogener Dialektraum; lediglich bei den Merkmalen des yeísmo (Karte 5) und der Neutralisation von /ɾ/ und /l/ (Karte 6) unterscheidet sich Zentralchile vom restlichen chilenischen Staatsgebiet, wie es für den yeísmo ja auch Rona (1993 [1964]) feststellt.

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4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Sowohl bei Rona (1993 [1964]) als auch bei Canfield (1962) handelt es sich bei Chile also – anders als in der vorliegenden Arbeit angenommen – um keine einheitliche Dialektzone. Stattdessen wird Zentralchile auf Basis der Kriterien des yeísmo und der Neutralisation von /l/ und /ɾ/ von Nord- und Südchile abgegrenzt. Inzwischen konnte allerdings für beide Merkmale gezeigt werden, dass diese sich in Chile nicht (mehr) entsprechend den Angaben bei Rona (1993 [1964]) und Canfield (1962) verteilen. So hat sich der yeísmo mit sehr wenigen Ausnahmen inzwischen in ganz Chile durchgesetzt (Oroz 1964, 98; 1966, 119; Paufler 1977, 26–33; Rabanales 1981, 448; Kubarth 1987, 166; Rabanales 1992, 566; Lipski 1994, 200; Wagner 1996, 226; Wagner/Rosas 2003, 194; Moreno de Alba 2007, 153; Moreno Fernández 2009, 376; Burunat 2014, 95). Bereits Oroz (1964, 98; 1966, 116–120) stellt fest, dass nur noch vereinzelte Gebiete in Südchile am lleísmo festhalten: «Puede decirse que casi todo Chile es hoy día zona del yeísmo […]. Hay, según parece, algunos islotes de lleísmo en el sur únicamente, sobre todo en regiones cordilleranas algo apartadas» (Oroz 1966, 119–120; ebenso 1964, 98). Die Inseln sind Oroz (1964, 98; 1966, 119) zufolge in einzelnen ländlichen Gemeinden in den Regionen VII, VIII, IX, X und XI verortet. Claudio Wagner schließlich (Wagner 1996, 226; Wagner/Rosas 2003, 194) kann auf Basis der für den Atlas lingüístico y etnográfico de Chile (cf. auch Kapitel 4.1.2) erhobenen Daten die lleísmo-Gebiete genauer eingrenzen: Von 2136 Realisierungen der Graphie in Chile entsprechen 99,3% dem yeísmo. Die 0,7% Fälle des lleísmo stammen aus den (allesamt sehr kleinen) Ortschaften Toconce, Peine, Mañío, Huala, Las Hortensias, Rucaco, Contra und Lumaco-Ñancul und liegen damit in den Regionen II (2 Orte), XIV (2 Orte) und VIII (4 Orte). Es handelt sich also beim lleísmo in Chile nicht (mehr) um ein großflächiges Phänomen, das für eine dialektale Gliederung Chiles herangezogen werden kann, sondern um ein lediglich vereinzelt in einigen Gemeinden vorkommendes Merkmal. Hinsichtlich des zweiten Kriteriums zur dialektalen Differenzierung Chiles, der Neutralisation von -/l/ und -/ɾ/, zeigen empirische Untersuchungen, dass es sich bei diesem Phänomen um einen soziolektalen und nicht um einen dialektalen Marker handelt. So ist das Phänomen in ganz Chile verbreitet, findet sich aber vor allem in den «lowest social classes» (Lipski 1994, 200; ebenso Oroz 1966, 110–113; Rabanales 1981, 455; 1992, 575–576; 2000, 138; Moreno Fernández 2009, 379; Burunat 2014, 195). Eine dialektale Unterteilung Chiles auf Basis der Kriterien des yeísmo und der Neutralisation von -/l/ und -/ɾ/ ist damit nicht (mehr) korrekt. Damit muss auch generell die Abgrenzung von Zentralchile auf der einen Seite und Nord- und Südchile auf der anderen Seite in Frage gestellt werden. Letztlich sind damit alle bisher vorgestellten Gliederungsansätze, also Henríquez Ureña (1921), Rona (1993 [1964]) und Canfield (1962), zu verwerfen. Der etwa 20 Jahre später veröffentlichte Ansatz von Zamora Munné/Guitart (1982) wie-

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

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derum beschränkt sich für seine Gliederung auf drei Kriterien, und zwar 1. die Realisierung von finalem -/s/, 2. die Realisierung von /x/ sowie 3. die Präsenz des voseo. Chile stellt in dieser Gliederung in seiner Gesamtheit eine eigene Zone (Nummer 8) mit den Merkmalen [- + +/-] dar, wobei die Angabe «+/-» beim voseo dafür steht, dass in Chile sowohl tuteo als auch voseo gebraucht werden. Fontanella de Weinberg (1992, 127) und Noll (2009, 51) zufolge handelt es sich bei dem Ansatz von Zamora Munné/Guitart (1982) um die bisher überzeugendste Gliederung, da auf Basis einer geringen Zahl von Variablen verschiedener sprachlicher Ebenen eine überschaubare und dennoch repräsentative Anzahl von Dialektzonen gebildet wird. Cahuzac (1980) schließlich nähert sich der Problematik der dialektalen Gliederung Lateinamerikas aus der Perspektive der Lexik und wählt hierfür das Wortfeld ‘Landwirtschaft’. Er schlägt eine Einteilung auf Basis der verschiedenen Bezeichnungen für landwirtschaftliche Berufe, Geräte, Tätigkeiten, Wohnstätten, Nutzflächen sowie für verschiedene Niederschlagsphänomene vor. Daraus ergeben sich insgesamt vier Dialektzonen, unter denen Chile zweien zugerechnet wird: Der Norden Chiles gehört gemeinsam mit den Andengebieten Venezuelas, Kolumbiens, Ecuadors, Perus, Boliviens und Nordwestargentiniens zu Zone 2, der Rest Chiles allein zu Zone 3 (Cahuzac 1980, 459). Cahuzac (1980) bezieht seine Daten sämtlich aus Dialektwörterbüchern – diese können allerdings kaum Aufschluss darüber geben, welche Lexeme jeweils die üblichen Realisierungen darstellen und inwiefern einzelne Lexeme überhaupt noch verbreitet sind (cf. auch die Kritik in Moreno Fernández 1993, 35; Lipski 1994, 20–21; Noll 2009, 51). Eine Einteilung auf Basis der Bezeichnungen lediglich eines Wortfelds vorzunehmen, scheint zudem auch grundsätzlich gewagt und wenig belastbar. So zeigen etwa die Erkenntnisse der Sprachgeographie, dass dieses Vorgehen kaum aussagekräftig ist und zumindest Isoglossenbündel nötig sind, noch besser aber zusätzlich Phänomene weiterer Ebenen miteinbezogen werden müssten (Moreno de Alba 1988, 119; Moreno Fernández 1993, 36). In Anbetracht ihrer hohen und wenig systematischen Variation sowie ihres Umfangs eignet sich die Lexik zudem auch grundsätzlich nur eingeschränkt für die Entwicklung von Gliederungsansätzen, während etwa die Phonetik über längere Zeiträume stabil bleibt und daher besser geeignet ist (Moreno de Alba 1988, 115; Sáez Godoy 2000, 19; Noll 2009, 45). Was die Ansätze zur dialektalen Großgliederung Hispanoamerikas angeht, scheint schließlich am ehesten dem Ansatz von Zamora Munné/Guitart (1982) zu folgen zu sein, dem zufolge Chile eine geschlossene Dialektzone darstellt. Eine Behandlung Chiles als einheitlicher Dialektzone, wie sie in der vorliegenden Arbeit vollzogen wird, scheint daher gerechtfertigt. Durch die Vorstellung weiterer Gliederungsansätze soll aber auch deutlich geworden sein, dass prinzipiell keine

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4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

definitive Klassifikation der hispanoamerikanischen Dialektzonen möglich ist: Je nach Anzahl und Art der einbezogenen Kriterien kommt man zu abweichenden Gliederungen. So ergibt sich ein «Flickenteppich» unterschiedlicher Gliederungen, die von sehr komplexen bis hin zu sehr groben Darstellungen reichen, wobei (fast) jede Gültigkeit für sich beanspruchen kann (cf. auch Moreno de Alba 1988, 120; Noll 2009, 45, 53). Zudem sollte klar sein, dass es strikte Dialektgrenzen gemäß dem sprachlichen Kontinuum nicht gibt (cf. auch Noll 2009, 45; Wagner 2017, 214–215). Ein gesamthispanoamerikanischer Sprachatlas könnte mehr Aufschluss über die dialektale Gliederung geben, scheint aber angesichts der ungeheuren Ausmaße des Kontinents ein fast unmögliches Unterfangen darzustellen – zumal sich schon für nationale und regionale Sprachatlantenprojekte immer wieder zeigt, dass diese (meist aus finanziellen Gründen) kaum je zum Abschluss gebracht werden (Kubarth 1987, 49; Moreno Fernández 1993, 26–27; cf. auch Kapitel 4.1.2).

Abbildung 4: Verwaltungsregionen Chiles und ihre EinwohnerInnenzahlen gemäß Instituto Nacional de Estadística (2018).

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Neben den präsentierten Vorschlägen für eine dialektale Großgliederung Hispanoamerikas liegen für Chile auch Ansätze für eine interne dialektale Gliederung vor, die im Folgenden ebenfalls kurz vorgestellt werden sollen. Hier ist zunächst einmal zu erwähnen, dass eine phonetische Differenzierung des chilenischen Sprachgebiets in tierras altas (geprägt durch schwachen Vokalismus) und tierras bajas (geprägt durch schwachen Konsonantismus) – im Gegensatz zu anderen Ländern Hispanoamerikas – in der Forschungsliteratur nicht angeführt wird. Stattdessen wird Chile sämtlich den tierras bajas zugeordnet (cf. z. B. Kubarth 1987, 163 sowie die Karten in Canfield 1962) und ein möglicher Unterschied zwischen Hochland- und Küstengebieten nicht angesprochen. Möglicherweise ist dies aber auch der schlechten Datenlage für die chilenischen Hochlandgebiete geschuldet, zumal diese im Vergleich zu denen Perus, Boliviens oder Kolumbiens flächenmäßig kleiner und sehr viel dünner besiedelt sind. Somit ist eher fraglich als sicher, ob in der Aussprache tatsächlich keine Unterschiede zwischen den Tief- und Hochlandgebieten Chiles ausgeprägt sind. Der erste Ansatz zur internen dialektalen Gliederung Chiles stammt von Lenz (1904–1910) und basiert – ähnlich wie der bereits vorgestellte Vorschlag von Henríquez Ureña (1921) – in erster Linie auf den jeweils zugrundeliegenden Substratsprachen, die Lenz (1904–1910) in der Lexik bestätigt sieht. Der Ansatz deckt dabei lediglich etwa die Hälfte des aktuellen chilenischen Staatsgebiets ab, da sowohl der äußerste Norden (heutige Regionen I, II, III und XV) als auch der äußerste Süden (heutige Regionen XI und XII) unberücksichtigt bleiben – beide Regionen waren erst kurz vor Rudolf Lenz’ Wirken zum chilenischen Staatsgebiet hinzugekommen.75 Das verbleibende Gebiet ist Lenz (1904–1910) zufolge in vier Dialektzonen einzuteilen: 1. die stärker durch das Quechua geprägte Nordzone (26°-32° südlicher Breite, entspricht heute der Region IV), 2. die früh durch die SpanierInnen kolonisierte Zentralzone (32°-37° südlicher Breite, entspricht den Regionen V bis VIII inkl. der Hauptstadtregion), 3. die lange den Mapuche vorbehaltene und später durch (vornehmlich) europäische EinwanderInnen besiedelte Südzone (37°-42° südlicher Breite, entspricht heute den Regionen IX, X und XIV) und schließlich 4. die südlich davon gelegene Insel Chiloé mit einer von den anderen Gebieten unabhängigen Entwicklung (42°-43° südlicher Breite, heute zugehörig

75 Die unberücksichtigte Landfläche macht zwar rund die Hälfte des chilenischen Territoriums aus, beheimatet allerdings aktuell nur ca. 10% der insgesamt gut 17 Millionen EinwohnerInnen Chiles (cf. Abbildung 4 und auch Kluge 2013, 766). Obwohl also große Teile des Landes in Rudolf Lenz’ Gliederung nicht berücksichtigt werden, ist sein Ansatz nach wie vor durchaus eine nähere Betrachtung wert – ohne die knapp zwei Millionen ChilenInnen im äußersten Norden und Süden damit ausschließen zu wollen.

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4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

zur Region X). Die Zentralzone (2) unterteilt Lenz (1904–1910) in zwei Subzonen, deren Grenze am historischen Grenzfluss zwischen Inka- und Mapucheterritorium, dem Maule (35° südlicher Breite), quer durch die heutige Region VII verläuft. Das Gebiet nördlich dieses Flusses sei früh und dann kontinuierlich spanisches Territorium gewesen und sprachlich dadurch deutlich weniger durch das Mapuche geprägt; das Gebiet im Süden sei nach zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Mapuche erst etwas später stabil erobert worden, sodass dort noch ein etwas stärkerer Einfluss des Mapuche erkennbar sei. Auch die Gliederung von Rudolf Lenz’ Zeitgenossen Alejandro Cañas Pinochet (1907) deckt hinsichtlich der geographischen Ausdehnung nur die Regionen IV bis X des heutigen chilenischen Staatsgebiets ab. Auch von ihm wird eine Einteilung in vier Zonen vorgenommen, wobei sich die Benennung und die Grenzen zum Teil von Lenz (1904–1910) unterscheiden. So setzt Cañas Pinochet (1907) das coquimbano entsprechend der Nordzone von Lenz (1904–1910) in der heutigen Region IV an, kommt aber in den südlich gelegeneren Gebieten zu einer anderen Einteilung: Das colchagüino, begrifflich entsprechend der Lenz’schen Zentralzone, erstreckt sich von der Region V bis zum Fluss Maule (Mitte der Region VII) und damit sowohl über die Lenz’sche Zentralzone als auch über dessen nördliche Sub-Südzone. Daran schließt sich bei Cañas Pinochet (1907) das pencón an, das im Süden nicht wie Lenz’ Südzone bis zur Region XIV, sondern lediglich bis zur Region IX reicht. Die Grenzen des pencón werden von Cañas Pinochet (1907) entsprechend dem Verbreitungsgebiet der Mapuche zu dieser Zeit gewählt, während dies in Lenz’ (1904–1910) Gliederung keine Grundlage für die Abgrenzung bildete. Das chilote schließlich umfasst nicht wie bei Lenz (1904–1910) lediglich die Insel Chiloé selbst, sondern auch die heutigen Regionen X und XIV. Abgesehen von Unterschieden in der genauen Ausdehnung der einzelnen Zonen sind die Ansätze von Lenz (1904–1910) und Cañas Pinochet (1907) durch die gleiche Herangehensweise geprägt: Beide postulieren vier Zonen (wobei der äußerste Norden und Süden unberücksichtigt bleiben) und stützen sich dafür nicht auf sprachliche, sondern nur auf historische Merkmale – weder die eine noch die andere Einteilung konnte bisher empirisch bestätigt werden und beide sind daher grundsätzlich kritisch zu betrachten (cf. auch Wagner 1983, 9; Barrientos et al. 1995, 101; Wagner 1996, 222; Kluge 2013, 768). Auch Rodolfo Oroz (1964, 93; 1966, 46–47) nimmt eine Einteilung Chiles in vier Dialektzonen vor, bezieht aber als Autor der Mitte des 20. Jahrhunderts nun auch die Territorien im äußersten Norden und Süden mit ein. Er geht von einer Nordzone (Regionen I bis IV inkl. Region XV sowie Region V bis zum Fluss Aconcagua), einer Zentralzone (Hauptstadtregion, Region V ab dem Fluss Aconcagua, Region VI sowie Region VII bis zum Fluss Maule), einer Südzone (Region VII ab dem Fluss Maule sowie Regionen VIII, IX, X, XII, XIV und XVI)

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

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und einer vierten Zone, welche die Region XI sowie die Insel Chiloé umfasst, aus. Er stützt sich dabei nach eigener Aussage auf 1958 erhobene Feldforschungsdaten (Oroz 1966, 46), liefert aber keine konkreten Belege, sondern argumentiert bei der Erläuterung der einzelnen Zonen historisch, demographisch und geographisch. Rabanales (2000, 136) übernimmt die Gliederung von Oroz (1966); auch Kubarth (1987) hält die Einteilung für die adäquateste: «Die Grenzen, die Oroz zieht, repräsentieren die derzeit am besten dokumentierte Zoneneinteilung, da für Gesamtchile kein Sprachatlas vorliegt» (162). Dennoch muss auch für die Einteilung von Oroz (1966) gesagt werden, dass sie sich nicht auf konkrete sprachliche Daten stützt (bzw. zumindest keine Angaben dazu macht). So handelt es sich auch bei seinem Ansatz lediglich um eine Hypothese, die bisher nicht empirisch überprüft werden konnte (cf. auch Wagner 1983, 9; Barrientos et al. 1995, 101; Kluge 2013, 768). Angesichts der fehlenden Aktualität seiner Publikation(en) ist die vorgeschlagene Abgrenzung ohnehin grundsätzlich mit Vorsicht zu betrachten. Ab den 1960er-Jahren wurde vermehrt versucht, sich der Frage nach der dialektalen Gliederung Chiles mit der Methode der Sprachgeographie zu nähern. An den verschiedenen chilenischen Universitäten wurden Projekte für Sprachatlanten initiiert, die Aufschluss über mögliche Isoglossen(-bündel) geben sollten. Zu nennen sind an der Universidad Austral (Valdivia) der Atlas lingüístico-etnográfico del sur de Chile (ALESUCH, 1960er-Jahre), an der Universidad de Chile (Valparaíso) der Atlas lingüístico y etnográfico de Chile (ALECh, 1960erJahre, wiederaufgenommen in den 1990er-Jahren), an der Universidad Católica del Norte (Antofagasta) der Atlas lingüístico-etnográfico del norte de Chile (ALENOCH, 1970er-Jahre), an der Universidad de Tarapacá der Atlas lingüístico de Parinacota (ALPA, 1990er-Jahre) und an der Universidad de Playa Ancha (Valparaíso) der Atlas lingüístico y etnográfico del centro de Chile (ALECECH, 1990er-Jahre). Leider konnte kaum eines der Projekte abgeschlossen werden: In gedruckter Form liegen bisher lediglich der erste Band des ALESUCH (1973, betreffend die Lexik der Regionen IX, X und XIV, geplant waren vier bis fünf Bände) sowie ein Band des ALENOCH (1982, zur Lexik des Salpeterabbaus) vor. Vergleichende Betrachtungen und Schlussfolgerungen hinsichtlich der dialektalen Gliederung sind auf dieser Basis kaum möglich. Die Arbeiten am ALECh, dem Sprachatlas zu Gesamtchile, konnten nach ihrer Wiederaufnahme in den 1990er-Jahren im Jahr 2012 abgeschlossen werden. Seit 2016 wird der Atlas, dessen Daten aus dem Jahr 1997 stammen, in digitaler Form unter www.atlaslinguistico.cl käuflich zum Download angeboten; eine gedruckte Version fehlt bislang. Leider ist auch die digitale Version bisher über keine Bibliothek zugänglich – sie könnte sicherlich weiteren Aufschluss über eine mögliche dialektale Gliederung Chiles geben.

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So muss zunächst weitgehend unklar bleiben, inwieweit es (noch) sprachliche Anhaltspunkte für eine dialektale Differenzierung innerhalb Chiles gibt. Fraglich ist insbesondere, inwieweit eine Abgrenzung zwischen Zentralchile und Nord- und Südchile (noch) vorgenommen werden kann und ob der Süden ggf. noch weiter unterteilt werden kann. Hierfür fehlt es leider weitgehend an verlässlichen sprachlichen Anhaltspunkten. Auch ist bisher nicht klar herausgestellt worden, wie stark die sprachlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen ggf. sind. Laut Oroz (1964, 94; 1966, 46–52, 190) und Rabanales (2000, 136) betreffen sie in erster Linie die Lexik und die Prosodie; Lipski (1994) sieht dagegen Unterschiede in Phonetik und Prosodie, sagt aber gleichzeitig, dass «these differences are relatively minimal against the backdrop of a considerable uniformity of pronunciation» (199). Ob eine mögliche Gliederung also auf ein Mikrolevel beschränkt bleibt oder wirklich bis ins Große übertragen werden kann bzw. muss, ist daher nicht zu sagen. Recht klar scheint der Fall einzig für die Insel Chiloé zu sein: «De todas ellas [scil. las hablas chilenas], tal vez sea el chilote la de mayor personalidad» (Moreno Fernández 2009, 385). Dabei konkurrieren allerdings verschiedene Auffassungen zur Ausdehnung einer entsprechenden Dialektzone: Lenz (1904–1910) plädiert für ein Dialektgebiet, das allein die Insel selbst umfasst; laut Cañas Pinochet (1907) dagegen umfasst das chilote zusätzlich die heutigen Regionen X und XIV; Oroz (1966, 46–47) wiederum bezieht neben Chiloé selbst noch die Region XI ein; Kubarth (1987, 162) schlägt eine Erweiterung um die Stadt Punta Arenas (gelegen in der Region XII) vor, da diese zu 90% von ZuwanderInnen aus Chiloé bewohnt werde; und schließlich grenzt auch Wagner (1996, 229) Chiloé als eigenes Dialektgebiet ab und rechnet dazu neben der Insel selbst (inkl. Nachbarinseln) auch den südlichen Teil der Region X. Es scheint also nicht ganz klar zu sein, wie weit sich das chilote auf das Festland erstreckt – dass die Insel (und ggf. eine näher zu bestimmende umliegende Region) einen besonderen dialektalen Status hat, scheint aber als gesichert gelten zu können. Der sehr aktive chilenische Dialektologe Claudio Wagner – er war sowohl Mitherausgeber des ersten Bandes des ALESUCH (1973) als auch des (digitalen) ALECh (2016) – wertet in Wagner (1996) die bis zum Zeitpunkt seiner Publikation erschienenen sprachgeographischen Studien zum chilenischen Spanisch aus und präsentiert auf dieser Grundlage einen neuen Gliederungsvorschlag, der zwecks Veranschaulichung in Abbildung 5 zu sehen ist. Wagner (1996) zufolge handelt es sich bei Chile grundsätzlich um eine einheitliche Dialektzone, innerhalb derer lediglich drei kleinere Regionen mit deutlich abweichender dialektaler Prägung abzugrenzen sind, die in Abbildung 5 schraffiert sind: 1. die Provinz Parinacota im äußersten Norden an der Grenze zu Peru und Bolivien (Region XV, ca. 4500 EinwohnerInnen), 2. Chiloé inkl. der

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Abbildung 5: Dialektale Gliederung Chiles nach Wagner (1996, 224).

Nachbarinseln und des südlichen Teils der Region X (ca. 300.000 EinwohnerInnen) und 3. die ländlichen Gegenden der Provinz Cautín (Region IX, ca. 380.000 EinwohnerInnen). Die besondere Prägung der drei Gebiete, die zusammen knapp 4% der gut 17 Millionen EinwohnerInnen Chiles ausmachen, zeigt sich nicht nur anhand sprachlicher Merkmale (die Wagner 1996 auf den Seiten 225–231 ausführt), sondern lässt sich auch historisch-kulturell begründen. So handelt es sich

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4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

bei den EinwohnerInnen der Provinz Parinacota überwiegend um Aymara, deren kultureller Austausch mit den Altiplano-BewohnerInnen der Nachbarländer deutlich ausgeprägter ist als zu Chile. Die Region Chiloé wiederum wurde früh erobert, aber nur langsam hispanisiert. Zudem war sie lange geographisch und wirtschaftlich isoliert, was eine unabhängige sprachliche Entwicklung förderte. So lässt sich erklären, dass das Spanische in Chiloé und Umgebung im Vergleich zum restlichen Chile durch besonders viele Archaismen, Innovationen und Indigenismen geprägt ist (cf. auch Lenz 1904–1910, 53; Oroz 1966, 51; Kubarth 1987, 159; Lipski 1994, 196; Moreno Fernández 2009, 385). In der Provinz Cautín schließlich, gelegen in der Region IX, lebt bis heute der Großteil der chilenischen Mapuche, was zu zahlreichen sprachkontaktbedingten Phänomenen in dieser Region führt. Die sprachgeographischen Daten, die Wagner (1996) für seine Gliederung zur Verfügung stehen, sind nicht allzu zahlreich; mitnichten decken sie das gesamte chilenische Staatsgebiet ab. So stellt man fest, dass die Quellen, die Wagner (1996) für seine Einteilung nutzt, sich ausgerechnet auf diejenigen Regionen erstrecken, die er schließlich auch als besonders identifiziert. Auch was den Zeitpunkt der Erhebungen angeht, zeigen sich die von Wagner (1996) verwendeten Daten sehr heterogen: Die von ihm genannten Quellen enthalten Daten der 1960er- bis 1990er-Jahre. Nichtsdestotrotz ist die Einteilung Wagners (1996) den Ansätzen seiner VorgängerInnen vorzuziehen, da sie dennoch die aktuellste ist und sich dabei streng auf eine empirische Datenbasis stützt. Als vollständig geklärt kann die dialektale Gliederung Chiles jedoch bis heute nicht gelten, da für viele Regionen nach wie vor keine entsprechenden Daten vorliegen. Zudem ist gerade in Staaten, die – wie Chile – stark durch Zentralismus und interne Migration geprägt sind, mit der Zeit eine fortschreitende Nivellierung der historisch bedingten Unterschiede typisch, in der die lokalen Merkmale zunehmend zugunsten der Merkmale der auch medial verbreiteten Prestigenorm aufgegeben werden (cf. auch Wagner/Rodríguez/Rodríguez 1979, 112; Morales Pettorino 2003, 42; Wagner 2017, 214 und generell zum Phänomen der Dialektnivellierung auch Trudgill 1986). Für die Region Chiloé deutet dies bereits Oroz (1966) an: «Hoy ha desaparecido el aislamiento que aun existía 50 años atrás. Los medios de comunicación que ha creado la técnica moderna, principalmente la radiodifusión, pero también la influencia de los libros, diarios y revistas, el turismo cada vez más intenso y sobre todo la eficiente labor de la escuela, son, en gran parte, la causa del desaparecimiento paulatino del carácter arcaico del lenguaje chilote» (51). Ob die Unterschiede zwischen den von Wagner (1996) postulierten Regionen fast 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung (in der die einbezogenen Daten zum Teil sogar noch deutlich älter sind) tatsächlich noch so ausgprägt sind,

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kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. In einem Artikel aus dem Jahr 2017, in dem Wagner sich auf die Daten des inzwischen fertiggestellten ALECh bezieht, führt er anhand verschiedener Beispiele anschaulich vor Augen, dass eine Ziehung klarer Dialektgrenzen angesichts der komplexen und vielfältigen historischen Überlagerungsprozesse auf Basis aktueller Daten in Chile kaum mehr möglich ist. Damit kann letztlich auch nicht abschließend geklärt werden, ob bzw. inwieweit eine Behandlung Chiles als einheitlicher Dialektzone legitim ist. Die vorhandenen Forschungsergebnisse legen aber nahe, dass dies grundsätzlich gerechtfertigt ist, man allerdings Daten aus Parinacota, aus dem Süden der Region X, aus Chiloé sowie aus der Provinz Cautín gesondert betrachten und intensiver auf mögliche dialektale Markierungen hin untersuchen sollte.

4.1.2 Forschungsstand zum chilenischen Spanisch Der einleitende Satz in Oyandel/Samaniego Aldazábal (1998–1999), «El español actual de Chile ha sido, en su globalidad, objeto de escasas descripciones» (899), vermittelt den Eindruck, als sei das chilenische Spanisch bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung gewesen. Dies ist erfreulicherweise nicht zutreffend, auch wenn eingeräumt werden muss, dass Chile gerade im Vergleich zu sehr intensiv beforschten hispanophonen Regionen wie etwa Spanien, Kolumbien oder Argentinien insgesamt deutlich weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. So lässt sich die Forschung zum chilenischen Spanisch – trotz einer beträchtlichen Fülle an Einzelstudien – auf relativ wenige zentrale Projekte und Personen(-kreise) zurückführen. Die ersten umfassenden Aufzeichnungen zu der in Chile gesprochenen Varietät des Spanischen stammen vom Gründer und Rektor der Universidad de Chile, Andrés Bello, und damit bereits aus dem Jahr 1834; es handelt sich bei seinen Advertencias sobre el uso de la lengua castellana (dirigidas a los padres de familia, profesores de los colegios y maestros de escuela) – wie der Titel bereits vermuten lässt – allerdings noch nicht um eine wissenschaftliche Beschreibung des chilenischen Spanisch, sondern um ein Werk mit dezidiert normativer Zielsetzung, «empeñado en el propósito de corregir los vulgarismos y expresiones viciosas del lenguaje chileno» (Bello 1940 [1834], 49). Die im engeren Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit dem chilenischen Spanisch begann im Zuge der allmählichen Herausbildung eines Bewusstseins für die amerikanischen Varietäten des Spanischen, die in ganz Lateinamerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der nationalen Unabhängigkeits-

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bewegungen stattfand. Mit seinen Apuntaciones críticas sobre el lenguaje bogotano hatte Rufino José Cuervo 1867 die deskriptiven linguistischen Studien zum amerikanischen Spanisch begründet (Noll 2009, 12) – für Chile begannen sie ab 1890 mit den Studien von Rudolf (bzw. Rodolfo) Lenz. Der deutsche Philologe war 1890 infolge eines Rufs der Universidad de Chile in Santiago auf den Lehrstuhl für moderne Fremdsprachen nach Chile ausgewandert und beschrieb sowohl das Mapuche als auch das chilenische Spanisch umfassend. Als sein maßgebliches Referenzwerk zum chilenischen Spanisch wird meist Lenz (1940) angeführt, bei dem es sich um eine spanischsprachige Zusammenstellung von vier früheren, ursprünglich auf Deutsch erschienenen Studien handelt (Lenz 1891; 1892; 1893a; 1893b). Bis heute gehört die Aufsatzsammlung zu den wichtigsten Beschreibungen des chilenischen Spanisch, auch wenn die Beobachtungen inzwischen etwa 130 Jahre zurückliegen. Wissenschaftsgeschichtlich von besonderer Bedeutung ist zudem die von Lenz aufgestellte indigenismo-These (Lenz 1892; 1893a; 1893b), der zufolge das chilenische Spanisch vor allem «Spanisch mit araukanischen Lauten» (1893a, 208) sei. Die These gilt zwar heute als vollständig widerlegt (vor allem durch Alonso 1939), da sämtliche Lautphänomene innerhalb des iberoamerikanischen Sprachgefüges erklärt werden können, hat aber als maßgebliche Triebfeder für das wissenschaftliche Interesse an den regionalen Varietäten des amerikanischen Spanisch gewirkt (Kubarth 1987, 159; Moreno de Alba 1988, 59; Kluge 2013, 776). Rudolf Lenz’ Nachfolge bei der Erforschung des chilenischen Spanisch bestritt ab den 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem der Deutsch-Chilene Rodolfo Oroz, der 1922 nach Chile kam, ab 1923 an der Universidad de Chile in Santiago arbeitete, dort 1943 das Instituto de Filología gründete und dieses schließlich bis 1968 leitete. Bis in die 1960er-Jahre fand die Forschung zum chilenischen Spanisch fast ausschließlich an diesem Institut statt (für einen Überblick über die zahlreichen Studien von 1940 bis 1964 cf. Rabanales 1964). Auch die wichtigste philologische Zeitschrift Chiles, der bis heute bestehende, halbjährlich erscheinende Boletín de filología, wird dort seit 1934 herausgegeben. Von Rodolfo Oroz stammt zudem die sehr detaillierte Monographie La lengua castellana en Chile (1966), die – in Ermangelung einer aktuelleren monographischen Gesamtdarstellung – bis heute als Standardwerk zum chilenischen Spanisch gilt. Das Werk basiert auf Feldforschungsdaten der 1940er-Jahre (Wagner 1983, 13), kann also nur bedingt als Quelle für aktuelle Merkmale der chilenischen Varietät dienen. Neben La lengua castellana en Chile stammen von Rodolfo Oroz zahlreiche, überwiegend lexikalische Einzelstudien zum chilenischen Spanisch (z. B. Oroz 1932; 1937; 1949; 1952–1953; 1964; 1969). Ab den 1960er-Jahren ebbten die Forschungsaktivitäten an der Universidad de Chile erkennbar ab, wohl weil es nach Rodolfo Oroz’ Abtritt im Jahr 1968 an

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einer «personalidad científica respetada por todos y capaz de aunar voluntades, que pudiera haberle sucedido» (Cartagena 1980, 55) fehlte. Dafür etablierte sich das chilenische Spanisch als Forschungsthema an anderen chilenischen Universitäten, vor allem in Valparaíso, Concepción und Valdivia (für einen Überblick zu den Studien der Jahre 1964 bis 1974 cf. Cartagena 1980). Mit Beginn der Militärdiktatur im Jahr 1973 nahmen die Forschungsaktivitäten aufgrund von Umstrukturierungen, Mittelkürzungen und politischer Verfolgung von WissenschaftlerInnen besonders in den geisteswissenschaftlichen Fächern deutlich ab. So formuliert Nelson Cartagena im Jahr 1980: «No podemos ni deseamos pronosticar la extinción de los estudios lingüísticos en el país […]. No obstante, el análisis objetivo de la actual situación universitaria chilena así hace temerlo» (Cartagena 1980, 69). Dieser Einbruch bedeutete nicht zuletzt auch das Ende oder die Unterbrechung der vielen Sprachatlantenprojekte, die ab den 1960erJahren noch zahlreich und ambitioniert an den verschiedenen Universitäten initiiert und vorangebracht worden waren (cf. Kapitel 4.1.1). Erst nach dem Regimewechsel im Jahr 1990 stieg die Zahl sprachwissenschaftlicher Publikationen wieder an und auch einige Sprachatlantenprojekte wurden in den 1990er-Jahren wieder- bzw. neuaufgenommen. Was Gesamtdarstellungen zum chilenischen Spanisch betrifft, sind für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Analysen von Ambrosio Rabanales hervorzuheben. Dieser hatte bereits 1953 mit der Introducción al estudio del español de Chile bei Rodolfo Oroz promoviert und legte unter anderem drei kurze, aber informative Bestandsaufnahmen zu den verschiedenen Merkmalen des chilenischen Spanisch am Beginn dreier aufeinanderfolgender Jahrzehnte vor (Rabanales 1981; 1992; 2000). Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Artikel zu einzelnen sprachlichen Merkmalen der Varietät (z. B. Rabanales 1958; 1960; 1974; 1983; 1984; 1987). Für das chilenische Spanisch des beginnenden 21. Jahrhunderts liefert neben Rabanales (2000) vor allem Leopoldo Sáez Godoy (z. B. Sàez Godoy 1999; 2000) wertvolle Informationen. In den beiden kurzen Monographien gibt Sáez Godoy Überblicke über die wichtigsten phonetischen, morphosyntaktischen und lexikalischen Merkmale der chilenischen Varietät. Neben diesen Gesamtbeschreibungen des chilenischen Spanisch verfasste Sáez Godoy vor allem lexikologische Arbeiten (z. B. Sáez Godoy 1995; 2002; 2004; 2005; 2011). Neben den aufgeführten Überblickdarstellungen liegen zahlreiche empirische Einzelstudien zu verschiedenen Themenbereichen vor. Detaillierte Überblicke über die verschiedenen Forschungsarbeiten geben die Bibliographien von Rabanales (2004–2005; kommentierte Bibliographie der lexikalischen Studien), Ortiz Lira/Saavedra Valenzuela (2003; kommentierte Bibliographie der phonetischen und prosodischen Studien) sowie Valencia Espinoza (1995; the-

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matisch geordnete, leider inzwischen bereits über 25 Jahre alte Gesamtbibliographie). Hinsichtlich der behandelten sprachlichen Ebenen dominieren phonetische und lexikalische Untersuchungen; auch der Sprachkontakt mit den indigenen Sprachen (v. a. Mapuche) wird häufig behandelt. Einen guten Überblick über die phonetischen Merkmale des chilenischen Spanisch gibt Morales Pettorino (2003). Für Phänomene der Morphosyntax sind z. B. Poblete Vallejos/Pons Galea/Samaniego Aldazábal (2000) und Oyandel/Samaniego Aldazábal (1998–1999) (allerdings beide mit Beschränkung auf Santiago) zu empfehlen; auch Charles Kanys sehr detailliertes Standardwerk zur Sintaxis hispanoamericana (1969, englischsprachige Erstauflage von 1945) enthält zahlreiche chilenische Phänomene. Wichtige Wörterbücher zum chilenischen Spanisch sind das Diccionario ejemplificado de chilenismos (DECh, Morales Pettorino/Quiroz Mejías 1984–1998, 5 Bände), das Nuevo diccionario de chilenismos (NDECh, Morales Pettorino 2006 und 2010, 3 bzw. 2 Bände) sowie das Diccionario de uso del español de Chile (DUECh, Academia Chilena de la Lengua 2010). Für den Bereich der Pragmatik finden sich vor allem Arbeiten zu Diskursmarkern (z. B. Rabanales/Contreras 1987; Cepeda/Poblete 1992; 1996; 1997; Pons Galea/Samaniego Aldazábal 1998; Soto/ Roldán 2002; San Martín Núñez 2004–2005; Rojas 2012; San Martín Núñez/ Guerrero González 2016), zur Realisierung verschiedener Sprechakte (z. B. Cordella 1990; Puga Larraín 1997; 2013; Roldán 2000; González/Guerrero González 2017) sowie zum voseo (z. B. Torrejón 1986; 2010a; 2010b; Hummel 2002; Kluge 2005b; Bishop/Michnowicz 2010; Branza 2012; Helincks 2015a; 2016; Fernández-Mallat 2018; 2020). Insofern als das (neu-)konzipierte ‘intime Sprechen’ in dieser Arbeit in der Subdisziplin der Varietätenlinguistik verortet wurde, bietet sich über diesen allgemeinen Blick hinaus eine Betrachtung der varietätenlinguistischen Studien zum chilenischen Spanisch an. Dabei ist zunächst festzustellen, dass sich diese bisher fast ausschließlich auf die diastratische Variation beziehen. Von Beginn an wurde (und wird bis heute) in der Forschung zum chilenischen Spanisch betont, dass die soziolektale – genauer schichtenspezifische – Variation in Chile deutlich ausgeprägter sei als etwa die dialektale Variation (z. B. Kluge 2013, 769; Rojas 2015, 90). Bereits vor der empirischen Überprüfung dieser Annahme ab den späten 1970er-Jahren galt dieser Umstand als selbstverständlich und diente daher schon frühen Arbeiten zum chilenischen Spanisch als Gliederungsund Klassifikationsmuster. Statt einer allgemeinen Beschreibung des chilenischen Spanisch erfolgt in diesen zunächst eine grundlegende Unterscheidung von zwei Modalitäten, und zwar der habla culta und der habla inculta bzw. popular, z. B.: «En el español de Chile hay que distinguir […] dos formas fundamentales: el habla culta y el habla popular o inculta» (Oroz 1966, 46; ebenso Lenz

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1940; Oroz 1964; Rabanales 1960; 1971; 1981; 1992; 2000).76 Während das Merkmal ‘Schichtzugehörigkeit’ also besonders starke Berücksichtigung findet, werden potentielle weitere diasystematische Faktoren weitgehend ausgeblendet. Anders als Rabanales (z. B. 1971; 1981; 1992; 2000) unterscheidet Oroz (1966, 47) bei der habla inculta oder popular zumindest noch zwei Untertypen: einerseits rústico (‘ländlich’) und andererseits vulgar (‘städtisch’). Er nimmt innerhalb der schichtenspezifischen Variation also noch eine Unterscheidung in ‘Stadt’ und ‘Land’ vor. Die Zuweisung bestimmter Merkmale geschieht in seinen Werken (1964; 1966) allerdings in der großen Mehrzahl der Fälle mittels der allgemeineren Bezeichnung popular, was die unteren Schichten sowohl der Stadt- als auch der Landbevölkerung einschließt; deutlich seltener werden bestimmte Varianten spezifischer als rústico oder vulgar verortet. Bei Rabanales (1971; 1981; 1992; 2000 und weitere) werden die Sprachformen der städtischen Unterschicht und der ländlichen Bevölkerung dann überhaupt nicht mehr unterschieden, sondern komplett gleichgesetzt. Die Unterscheidung zwischen habla culta und habla inculta bzw. popular ist aus mehreren Gründen zu kritisieren: 1. Sie spiegelt eine stark vereinfachende Sichtweise auf diasystematische Variation wider: Potentielle weitere Einflussfaktoren auf sprachliche Variation neben der Schichtzugehörigkeit werden ausgeblendet. 2. Soziolektale Variation wird auschließlich auf den Mangel an Bildung zurückgeführt; eine solche Auffassung erinnert an die zu Recht stark kritisierte Defizithypothese Basil Bernsteins mit seinem restricted code aus der Frühzeit der Soziolinguistik (cf. z. B. Bernstein 1958). 3. Zwei grundsätzlich unabhängige Merkmale, nämlich ‘Schichtzugehörigkeit’ und ‘Bildungsgrad’, werden gleichgesetzt (implizit bereits durch die Benennungen, sehr explizit z. B. auch in Oroz 1964, 94; 1966, 46–47); so werden Angehörige der unteren Einkommensschichten oder wenig angesehener Berufe pauschal als incultos mit entsprechender Sprachform klassifiziert, während besser situierte Personen als cultos gelten, die die norma culta beherrschen. Entsprechende Kritik findet sich zum Teil auch bei Wagner/Rodríguez/Rodríguez (1979, 112) und Diego Quesada (2001, 43). Ambrosio Rabanales führt neben der ‘Schichtzugehörigkeit’ bzw. dem ‘Bildungsgrad’ in seinen Arbeiten allerdings noch den ‘Formalitätsgrad’ und damit einen diaphasischen Faktor für Variation im chilenischen Spanisch ein. Er postuliert in seinen Arbeiten in der Konsequenz vier Subvarietäten (in seiner Terminologie normas): die norma culta formal, die norma culta informal, die norma inculta formal und die norma inculta informal (erstmals 1961, danach z. B. in Ra76 Alle drei Autoren nehmen für Chile interessanterweise zwar drei Gesellschaftsschichten (alta, media, baja), aber nur zwei Sprachformen (culto und inculto bzw. popular) an. Die Mittelschicht weise dabei Merkmale sowohl der habla culta als auch der habla inculta auf (cf. z. B. Lenz 1940, 93; Oroz 1964, 94).

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banales 1971; 1982; 1992; 2000). Auch diese Annahme von vier Subvarietäten des chilenischen Spanisch bleibt allerdings noch stark pauschalisierend und blendet potentielle weitere Einflussfaktoren aus (cf. auch Diego Quesada 2001, 44). Wenngleich Rabanales (1981) einleitend sogar selbst anmerkt, dass es sich bei seiner Gliederung um eine «esquematización aproximada de una realidad muy compleja y por lo mismo mucho más matizada» (447; in gleichem Wortlaut Rabanales 1992, 565; ähnlich Oroz 1964, 94; Rabanales 1971, 122; 2000, 137) handelt, so findet sich diese Relativierung im weiteren Verlauf seiner Texte und in der Zuweisung der einzelnen Merkmale nicht mehr wieder. Die ersten empirischen Studien zum chilenischen Spanisch ab den 1970erJahren übernahmen zunächst Rabanales’ Gliederung in vier Subvarietäten – genauer untersucht wurde jedoch zunächst ausschließlich die habla culta, die man als die Sprache von Personen mit universitärer Bildung operationalisierte. Differenzierungen nach anderen sozialen oder situationalen Merkmalen erfolgten nicht – es handelte sich also noch nicht um varietätenlinguistische Studien im eigentlichen Sinne. Vielmehr wollte man das chilenische Spanisch als Regionalstandard erfassen und sah diesen in der gesprochenen Sprache der clase culta repräsentiert (cf. z. B. die Studien von Carrasco 1974; Valdivieso 1978; Tassara/Duque 1986 und auch noch Cid Uribe et al. 2000; Poblete Vallejos/Pons Galea/Samaniego Aldazábal 2000; Borland Delorme 2004). Häufig ist festzustellen, dass die norma culta – so lässt bereits die häufige Bezeichnung als ‘Norm’ erahnen – nicht als neutral, sondern als erstrebenswertes Ideal gesehen und damit stark normativ konzipiert wird (cf. z. B. Rabanales 1971, 123; Morales Pettorino 1981, 93; Rabanales/Contreras 1987, 53, aber auch noch Sáez Godoy 2000, 13). Hervorzuheben ist für die Untersuchung der habla culta das großangelegte Habla-Culta-Korpus-Projekt der frühen 1970er-Jahre, das zahlreiche Einzelstudien zur Folge hatte. Das international ausgerichtete Gesamtprojekt mit dem vollständigen Titel Proyecto de estudio coordinado de la norma lingüística culta en las principales ciudades de Iberoamérica y de la Península Ibérica unter der Gesamtkoordination von Juan Manuel Lope Blanch beinhaltete auch ein Teilprojekt zu Chile, welches von Ambrosio Rabanales und Lidia Contreras geleitet wurde. Das chilenische Korpus umfasste ca. 100 Stunden Aufnahmen ‘gesprochener Sprache’ von hablantes cultos (was auch hier Personen mit universitärer Bildung bedeutete) aus Santiago, die mit der Methode der offenen Beobachtung in den Jahren 1970 bis 1972 erhoben wurden.77 In Rabanales (1995)

77 40 Stunden Sprachmaterial von insgesamt 89 Personen wurden in transkribierter Form in Rabanales/Contreras (1979/1990) veröffentlicht. Weitere Daten, die mittels eines lexikalischen Fragebogens erhoben wurden, sind in Rabanales/Contreras (1987) publiziert.

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

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findet sich eine Übersicht aller 26 Studien, die bis 1993 zum Korpus durchgeführt wurden. Es handelt sich vor allem um lexikalische (z. B. Valencia Espinoza 1976; 1977; Contreras 1983; Rabanales 1983; 1987) und morphosyntaktische Arbeiten (z. B. Contreras 1972; 1974; Rabanales 1974; Contreras 1978; Vidal 1981; Rojas 1981; Cifuentes 1981; Olguín 1981). Im engeren Sinne varietätenlinguistische Studien finden sich in Chile ab den späten 1970er-Jahren. Diese widmen sich vor allem der Variation der Aussprache, später auch anderer sprachlicher Ebenen, in Abhängigkeit von verschiedenen sozialen Merkmalen (z. B. Bernales 1978; Díaz/Wigdorsky 1987; Valdivieso/Magaña 1988; 1991; Valencia Espinoza 1993–1994; Oyandel/Samaniego Aldazábal 1998–1999; Valdivieso 1998–1999; Soto/Roldán 2002; San Martín Núñez 2004–2005; Stevenson 2007; Bishop/Michnowicz 2010; Branza 2012; Peñailillo Fuentes 2012). Die einbezogenen Variablen sind üblicherweise die Gesellschaftsschicht (als clase oder estrato bezeichnet, meist dreistufig erhoben), das Alter (meist in drei Altersgruppen) und das Geschlecht (dichotom).78 Das Merkmal ‘Gesellschaftsschicht’ wird dabei oft ausschließlich aus dem ‘Bildungsgrad’ (in Form des höchsten Bildungsabschlusses) abgeleitet (z. B. Bernales 1978; Oyandel/Samaniego Aldazábal 1998–1999; Valdivieso 1998–1999), sodass man in diesen Fällen streng genommen von bildungsgradabhängiger Variation und nicht von schichtenabhängiger Variation sprechen müsste. In neueren Arbeiten wird dagegen eher von niveles socioeconómicos gesprochen und dieser Indikator auf Basis mehrerer Variablen (etwa ‘Bildungsgrad’, ‘Beruf’, ‘Wohnort/-viertel’, ‘Einkommen’) gebildet (z. B. Cepeda 1991; Valencia Espinoza 1993–1994; San Martín Núñez 2004–2005; Bishop Michnowicz 2010). Eine weitere Gruppe von Untersuchungen beschränkt sich nach wie vor ausschließlich auf die habla culta (also die Sprache von Personen mit Universitätsabschluss) und nimmt innerhalb dieser Sprachform Differenzierungen nach den Merkmalen ‘Alter’ und/oder ‘Geschlecht’ vor (z. B. Díaz/Wigdorsky 1987; Valdivieso/Magaña 1988; 1991; Branza 2012). Eine Reihe weiterer Untersuchungen schließlich bezieht 78 Vereinzelt werden weitere Merkmale erhoben und ausgewertet, so z. B. bei Valdivieso/Magaña (1988) die Studienrichtung (humanista vs. científico), bei Bishop/Michnowicz (2010) und Branza (2012) die Beziehung zum Gesprächspartner bzw. zur Gesprächspartnerin und bei Soto/Roldán (2002) der Unterschied zwischen ‘Stadt’ und ‘Land’. Besonders die stärkere Berücksichtung der Variable ‘Stadt’ vs. ‘Land’ stellt ein Desiderat für die Forschung zum chilenischen Spanisch dar; bisher werden die Daten meist lediglich in den großen Städten erhoben (mit wenigen Ausnahmen wie z. B. Tassara 1982 und Kluge 2005) und die Sprache der städtischen Unterschicht und der ländlichen Bevölkerung – wie schon bei Rabanales (1971; 1981; 1992; 2000 etc.) – gleichgesetzt, wofür jedoch Belege anzubringen wären (cf. auch Kluge 2013, 769). Zum Teil wird sogar pauschal die Stadtsprache mit culto und die ländliche Sprache mit inculto gleichgesetzt (z. B. bei Moreno Fernández 2009, 373–374).

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sich speziell auf die chilenische Jugendsprache (z. B. Valencia Espinoza 1993–1994; Cabrera Pommiez 2003; Danbolt-Drange 2009; Hernes 2011; Jörgensen 2011). Zwei größere soziolinguistisch ausgerichtete Korpusprojekte zum chilenischen Spanisch sind schließlich noch gesondert hervorzuheben. So hat zum einen in den 1990er-Jahren das Korpus zum Spanischen in Valdivia zahlreiche soziolinguistische Untersuchungen nach sich gezogen. Es besteht aus 268 etwa 30-minütigen soziolinguistischen Interviews unter Einbezug der Variablen ‘Geschlecht’ (dichotom), ‘Alter’ (dreistufig) und ‘sozioökonomischer Status’ (gebildet auf Basis von sieben Merkmalen). Alle Studien, die zum Korpus erschienen sind, differenzieren in ihren Analysen konsequent nach allen erhobenen Parametern. Allen voran ist hier die Monographie Las consonantes de Valdivia (1991) von Gladys Cepeda zu nennen, die soziolinguistische Auswertungen zur Allophondistribution aller Konsonantenphoneme des chilenischen Spanisch in Valdivia enthält. Erschienen sind zum Korpus darüber hinaus vor allem phonetische (z. B. Cepeda 1991; 1994; Cepeda/Poblete 1992; Poblete 1995a; 1995b; Cepeda/Barrientos/Poblete 1995), prosodische (z. B. Cepeda/Roldán 1995; Roldán 1998; Cepeda 1998a; 1998b) und pragmatische Einzelstudien (z. B. Cepeda/Poblete 1996; 1997; Poblete 1997; 1998 jeweils zu Diskursmarkern). Zum anderen wird seit 2007 mit dem Proyecto para el estudio sociolingüístico del español de España y de América (PRESEEA) ein großangelegtes internationales Projekt vorangetrieben, das in seiner Reichweite vergleichbar mit dem Habla-Culta-Projekt der 1970erJahre ist. Es erfasst die sozialen Merkmale ‘Geschlecht’ (dichotom), ‘Alter’ (dreistufig) und ‘Bildungsgrad’ (dreistufig). In Chile beinhaltet das Projekt zwei Teilprojekte in Santiago und in Valparaíso – letzteres befindet sich allerdings laut Angaben auf der Webseite nach wie vor in der Vorbereitungsphase. Das Teilkorpus aus Santiago besteht aus 108 soziolinguistischen Interviews aus dem Jahre 2009 und kann auf der Webseite eingesehen, durchsucht und nach sozialen Merkmalen gefiltert werden. Bisher sind zum Korpus 14 Publikationen erschienen, die in ihren Analysen konsequent nach den einbezogenen Faktoren differenzieren (die Liste ist auf der Projektwebseite einsehbar). Es handelt sich vor allem um pragmatische Studien, z. B. zu Diskursmarkern (z. B. San Martín Núñez/Rojas Inostroza/Guerrero González 2016; San Martín Núñez/Guerrero González 2016) oder zur Intensivierung (González/Guerrero González 2016; Guerrero González/Arriagada 2016). Alle aufgeführten soziolinguistischen Studien zum chilenischen Spanisch sind schließlich – wenngleich oft jüngeren Datums – der «Ersten Welle» der Varietäten- bzw. Soziolinguistik zuzuordnen (cf. Kapitel 3.2.3); die sprachliche Variation wird also als fest und weitgehend unveränderbar in den SprecherInnen angelegt aufgefasst. Die Erkenntnisse der «Zweiten» und «Dritten Welle» der Soziolinguistik spiegeln sich in der Forschung zum chilenischen Spanisch dagegen bisher kaum wider. Zwei Ausnahmen bilden die Studien von

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Helincks (2016) und Fernández-Mallat (2020), die den dynamischen Wechsel zwischen verschiedenen pronominalen Anredeformen in ein und derselben Interaktion mit der Konstruktion und Kommunikation unterschiedlicher SprecherInnenidentitäten in Verbindung bringen und damit in der Tradition der «Dritten Welle» stehen. Was die diaphasische Variation, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, angeht, beschränken sich die Arbeiten zum chilenischen Spanisch mit sehr wenigen Ausnahmen und wohl im Anschluss an Ambrosio Rabanales’ Vier-Felder-Matrix auf die Dichotomie formal vs. informal, wobei als Synonyme zu informal auch familiar, corriente und coloquial häufig sind (cf. auch Kapitel 3.2.1.2). Eine theoretische Konzeptualisierung von ‘Formalität’ erfolgt allerdings nicht. Rabanales (1971) beschränkt sich bei der Einführung seiner norma informal und formal auf die Nennung von Beispielen. ‘Formell’ seien z. B. «una conversación protocolar, una conferencia, una clase, un discurso, una alocución, una disertación, un sermón», ‘informell’ dagegen «hablar entre amigos o entre familiares» (122). Im Habla-Culta-Projekt werden dann vier verschiedene Aufnahmesituationen einbezogen: 1. Aufnahmen von freien Dialogen einander bekannter InformantInnen im Rahmen verdeckter Beobachtung (10%), 2. Aufnahmen von freien Dialogen einander bekannter InformantInnen im Rahmen offener Beobachtung (40%), 3. Aufnahmen von Interviews zwischen InformantInnen und InterviewerInnen (40%), 4. Aufnahmen ‘formeller’ Äußerungen (z. B. Unterricht, Vorträge, Reden) (10%) (Rabanales 1971, 125; Rabanales/Contreras 1990, XII). Die verschiedenen Aufnahmeszenarien, die gut als Basis für vergleichende diaphasische Betrachtungen hätten dienen können, wurden allerdings nur zum Zwecke der Abbildung einer möglichst großen Bandbreite von Gesprächssituationen berücksichtigt und nicht zum Zwecke der Untersuchung diaphasischer Variation. Insofern werden in den Studien zum Habla-Culta-Korpus entsprechende Differenzierungen nicht vorgenommen. In den späteren empirischen Studien ab Ende der 1980er-Jahre werden unter ‘informell’ wiederum üblicherweise Interviewsituationen zwischen Forschenden und InformantInnen, Aufnahmen von Gesprächen einander bekannter Personen oder auch Aufnahmen aus dem Fernsehen gefasst. Solchen Realisierungen wird als ‘formelle Sprache’ das Vorlesen von Wörtern oder Texten gegenübergestellt – diese Konzeption entspricht der Labovs in seinen frühen Studien (z. B. Labov 1972b). Meist wird dabei keine vergleichende Analyse von ‘informellen’ Äußerungen gegenüber ‘formellen’ Äußerungen durchgeführt, sondern die SprecherInnen lesen entweder vor oder sie sprechen spontan und anschließend werden Differenzierungen nach sozialen Merkmalen vorgenommen (so z. B. Bernales 1978; Valencia Espinoza 1993–1994; Oyandel/Samaniego Aldazábal 1998–1999; Valdivieso 1998–1999; Soto/Roldán 2002; Cabrera Pommiez 2003; Torrejón 2010b; Branza 2012). Ein Vergleich zwischen ‘informeller Sprache’ und ‘formeller Sprache’ findet sich selten,

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z. B. bei Valdivieso/Magaña (1988), welche die Realisierung des implosiven /s/ in Concepción untersuchen. Sie vergleichen die Realisierungen der SprecherInnen beim Vorlesen eines Vortragstextes (‘formell’) und im Interview (‘informell’). Studien, die weitere diaphasische Faktoren einbeziehen, finden sich kaum. Ausnahmen bilden zum einen Branza (2012), die ihre Befragung zur Nutzung des voseo verbal in Chile auch hinsichtlich der zugrundeliegenden Emotion (enojo vs. alegría vs. neutralidad) auswertet, sowie zum anderen die jüngsten Studien aus dem Feld der Interaktionalen Soziolinguistik (z. B. Helincks 2016; Fernández-Mallat 2020), die den dynamischen Wechsel zwischen Anredeformen in der Interaktion mit den multiplen SprecherInnenrollen und -identitäten in Verbindung bringen. Insgesamt zeigt sich, dass sich die varietätenlinguistische Forschung zum chilenischen Spanisch bisher sehr viel stärker auf die diastratische als auf die diaphasische Variation fokussiert hat. So ist es auch wenig überraschend, dass für das chilenische Spanisch keine Untersuchungen zu spezifischen diaphasischen Konstellationen wie etwa auch einem ‘intimsprachlichen Register’ vorliegen. Dennoch gibt es einige Studien zum chilenischen Spanisch, welche die Thematik ‘intimes Sprechen’ am Rande berühren und daher zumindest in Teilen für die vorliegende Arbeit nutzbar sind. Die entsprechenden Publikationen lassen sich den in Kapitel 2.2 vorgestellten Themenfeldern ‘nominale Anredeformen’ (cf. Kapitel 2.2.1), ‘Hypokoristika’ (cf. Kapitel 2.2.2), ‘evaluative Suffixe’ (cf. Kapitel 2.2.3) und ‘emotive Sprache’ (cf. Kapitel 2.2.6) zuordnen und sollen dieser Gliederung folgend kurz vorgestellt werden. Ein recht ausführlicher Beitrag zu den chilenischen nominalen Anredeformen findet sich im Aufsatz Fórmulas de tratamiento en el español de Chile (1962) von Luisa Eguiluz. Die Autorin ordnet ihre Ausführungen nach den verschiedenen Beziehungstypen und behandelt dabei auch einige der für diese Arbeit relevanten Dyaden. So finden sich typische chilenische Anredeformen z. B. für die Anrede zwischen EhepartnerInnen («de marido a mujer y viceversa», 184–186), zwischen Eltern und Kindern («entre padres e hijos», 186–189) und zwischen Verliebten («entre enamorados», 200–201). Diese werden jeweils mit kurzen Anmerkungen zu üblichen Verwendungssituationen, Funktionen oder zur Häufigkeit versehen. Eguiluz (1962) stützt ihre Angaben – wie üblich für die Zeit – auf literarische Belege sowie eigene (unsystematische) Beobachtungen. Angaben ähnlicher Art finden sich in Oroz (1966, 289–290) für die Anrede von Kindern gegenüber ihren Eltern, in Rabanales (1958, 287–292) für die Anrede zwischen EhepartnerInnen sowie an die Eltern sowie bei Kany (1962, 76–79) für die Anrede an Kinder. Auch Gonzálvez (2016) beschäftigt sich mit der Anrede gegenüber Familienmitgliedern, allerdings aus der Perspektive der Familiensoziologie. Dennoch finden sich in ihrem Artikel einige Beispiele für Anredeformen gegenüber

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verschiedenen Familienmitgliedern, die auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht interessant sein können. Salamanca/Cofré/Gutiérrez (2011) schließlich untersuchen auf Basis eines Korpus aus Facebook den «uso no literal» einiger Verwandtschaftsbezeichnungen (madre/mamá, padre/papá, hermano/a, hijo/ a, tío/a, abuelo/a), d. h. also Fälle, in denen die entsprechenden Anredeformen gegenüber oder zur Bezeichnung von Personen verwendet werden, zu denen eigentlich eine andere Beziehung besteht. Die genannten Untersuchungen zu nominalen Anredeformen im chilenischen Spanisch sind insofern für die vorliegende Studie nutzbar, als mögliche Vorkommen von Anredeformen im ‘intimsprachlichen’ Korpus mit den Erkenntnissen aus diesen Studien in Beziehung gesetzt werden können. Was den Themenbereich ‘Hypokoristika’ betrifft, finden sich Listen der chilenischen Hypokoristika bei Lenz (1920), Rabanales (1958; 1981; 1992), Oroz (1966), Morales Pettorino (1976) und Gutiérrez Santana (2009; 2016). Eine empirische Grundlage ist dabei nur in Gutiérrez Santana (2009; 2016) vorhanden, welche die Formen mittels einer InformantInnenbefragung erhebt. Bei Rabanales (1953, 44–46; 1981, 454–456; 1992, 574–576), Oroz (1966, 178–179, 280–283), Morales Pettorino (1976, 95–116) und Gutiérrez Santana (2009; 2016) finden sich zudem Angaben zu den zugrundeliegenden phonetischen und morphologischen Prozessen bei der Bildung der Hypokoristika. Die Listen der chilenischen Hypokoristika können Hinweise darauf geben, inwieweit es sich bei ggf. vorkommenden Formen im ‘intimsprachlichen’ Korpus um spontane oder um traditionelle Bildungen handelt. Zur Verbreitung und Funktion verschiedener ‘evaluativer Suffixe’ in Chile finden sich Angaben zur Häufigkeit, zur geographischen Verbreitung und/oder zur Funktion bei Lenz (1920, 188–195), Rabanales (1958, 240–244; 1992, 580), Kany (1962, 87–99) und Oroz (1966, 260–281). Moreno Nilo (2012) untersucht anhand von Beispielen aus einer chilenischen Tageszeitung konkret die verschiedenen Funktionen («valeurs affectives») des Suffixes -ito/a im chilenischen Spanisch; Carrillo Herrera (1967) widmet sich dem Suffix -oco/a in Chile. Wenngleich alle der genannten Arbeiten fälschlicherweise äußerungsunabhängige Bedeutungen evaluativer Suffixe annehmen (cf. Kapitel 2.2.3), können zumindest die Angaben zu den Nutzungshäufigkeiten in Chile hilfreich für die Einordnung vorkommender Formen im ‘intimsprachlichen’ Korpus sein. Unter den Arbeiten zur ‘emotiven Sprache’ im chilenischen Spanisch ist allen voran der sehr ausführliche Artikel Recursos lingüísticos, en el español de Chile, de expresión de la afectividad (1958) von Ambrosio Rabanales zu nennen. Auf knapp 100 Seiten stellt Rabanales (1958) verschiedenste sprachliche Mittel zum Ausdruck von Emotionen im chilenischen Spanisch zusammen, wobei er

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den Beitrag in phonetische, morphologische, syntaktische und lexikalische Verfahren gliedert. Häufig bringt er bei den einzelnen Verfahren Erläuterungen zu konkreten ausgedrückten Emotionen, zu soziolektalen Markierungen und/oder zu typischen Gebrauchssituationen an. Leider wird im Artikel keine Unterscheidung zwischen genuin chilenischen und kulturübergreifenden Mitteln zum Emotionsausdruck (z. B. Intonation, Interjektionen, Silbenlängung, Reduplikation, cf. auch Kapitel 2.2.6) getroffen. Zumindest ist dies Rabanales (1958) selbst bewusst: «Los recursos lingüísticos de expresión de la afectividad […] son poco más o menos los mismos que se descubren en el análisis del español oficial o dialectal de España o del de cualquier país hispanoamericano» (206). Rabanales (1958) stützt seine Angaben auf literarische Quellen sowie eigene (unsystematische) Beobachtungen. In Rabanales (1981, 462; 1992, 584) sind die Verfahren aus dem Beitrag von 1958 noch einmal mitaufgeführt. Rodolfo Oroz hatte bereits vor Ambrosio Rabanales einen kürzeren Artikel mit dem Titel El elemento afectivo en el lenguaje chileno (1937) verfasst, in dem er sich – ebenfalls unter Bezugnahme auf literarische Quellen – auf die Beschreibung von Interjektionen, Hyperbeln und Euphemismen beschränkt. Auch er stellt hinsichtlich der verschiedenen Verfahren zum Emotionsausdruck bereits fest, dass «muchos de ellos son comunes a la mayor parte de América hispánica» (36). Was den Bereich der emotiven Sprache angeht, haben für das chilenische Spanisch unter den drei Verfahren der ‘Bewertung’, ‘Intensivierung’ und ‘Veranschaulichung’ (cf. Kapitel 2.2.6) insbesondere zwei intensivere Betrachtung erfahren: einerseits die Verfahren der Intensivierung, denen sich z. B. García (1980–1981), Montecino (2004), Peñailillo Fuentes (2012), González/Guerrero González (2016) und Guerrero González/Arriagada (2016) widmen – sie untersuchen z. B. Superlative, Metaphern, Exklamativsätze, Hyperbeln, Silbenlängungen, Reduplikationen oder Interjektionen; andererseits ein einzelnes Verfahren der Veranschaulichung, und zwar die expressiven Metaphern wie z. B. gallo statt hombre oder pescar statt entender, die etwa von Oroz (1932; 1949; 1966, 412–432), Kany (1962, 40–46), Rabanales (1981, 461; 1992, 584) und Valencia Espinoza (2010) untersucht werden. Bei beiden behandelten Gruppen handelt es sich allerdings ausgerechnet um diejenigen, die für das ‘intime Sprechen’ augenscheinlich am wenigsten relevant sind, ist doch hier vor allem mit Verfahren der Bewertung (des Gegenübers) und weniger – zumindest nicht als Spezifikum des ‘intimen Sprechens’ – mit Verfahren der Intensivierung oder Veranschaulichung zu rechnen (cf. Kapitel 2.2.6). Mit dem Glosario del amor chileno schließlich hat Radomiro Spotorno 2008 bereits in der dritten Auflage ein Wörterbuch zum Wortfeld ‘Liebe’ herausgegeben. Es handelt sich jedoch in erster Linie um verschiedene Bezeichnungen für den Geschlechtsakt, Geschlechtsorgane etc., sodass das Wörterbuch nur am Rande die Thematik der vorliegenden Arbeit, nämlich die Intimität im psychi-

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schen Sinne, berührt. Grundsätzlich sind die Arbeiten zur ‘emotiven Sprache’ im chilenischen Spanisch aber durchaus nützlich, um entsprechende Phänomene im ‘intimsprachlichen’ Korpus ggf. adäquater einordnen zu können. Bei fast allen aufgeführten Studien, die das Themenfeld ‘intimes Sprechen’ berühren, ist ihre mangelnde Aktualität zu bedenken. Besonders die ausführlicheren Beiträge stammen aus den 1930er- bis 1960er-Jahren und sind damit nicht nur hinsichtlich der aufgeführten Merkmale, sondern auch hinsichtlich der angewandten Methode(n) größtenteils veraltet. Insgesamt muss daher konstatiert werden, dass es zum ‘intimen Sprechen’ im Spanischen Chiles bisher fast völlig an Vorarbeiten fehlt. Die vorliegende Untersuchung betritt daher nicht nur im Hinblick auf eine Konzeption des ‘intimen Sprechens’ wissenschaftliches Neuland, sondern kann auch einen substantiellen und innovativen Beitrag zur Erforschung des chilenischen Spanisch leisten.

4.1.3 Merkmale des chilenischen Spanisch Abschließend soll in diesem Kapitel ein Überblick über die typischen Merkmale des chilenischen Spanisch gegeben werden. Dies geschieht nicht in erster Linie, um das Panorama zum chilenischen Spanisch zu vervollständigen, sondern vor allem, weil die Kenntnis der sprachlichen Merkmale des untersuchten Dialekts unabdingbare Grundlage für die Identifikation abweichender bzw. darüber hinausgehender, nämlich ‘intimsprachlicher’ Phänomene ist. So können in einem Korpus sprachlicher Äußerungen genuin ‘intimsprachliche’ Merkmale erst in Abhebung zu dialektalen Merkmalen des chilenischen Spanisch als solche identifiziert werden: «[W]e need a baseline for comparison to know whether the use of a linguistic feature in a register is rare or common» (Biber/Conrad/ Reppen 1998, 137). Ein beobachtetes Merkmal kann erst dann als genuin ‘intimsprachlich’ gelten, wenn es nicht anderweitig, d. h. entweder als dialektales Merkmal des chilenischen Spanisch oder auch als universelles Merkmal ‘gesprochener Sprache’ (z. B. Diskurspartikel oder Passepartoutwörter, cf. auch Kapitel 3.2.1.3) erklärt werden kann. Um entsprechende Unterscheidungen treffen zu können, muss allerdings klar sein, welche Merkmale das chilenische Spanisch generell auszeichnen und wie diese Merkmale ggf. diasystematisch weiter verortet sind. Andernfalls läuft eine Untersuchung wie die vorliegende Gefahr, beobachtete Phänomene z. B. aufgrund ihres häufigen Vorkommens im Korpus als ‘intimsprachlich’ zu klassifizieren, obwohl es sich evtl. um Merkmale handelt, die schlicht für das ‘informelle Register’ des chilenischen Spanisch typisch und nicht spezifisch ‘intimsprachlich’ sind. Insofern hat die Vorstellung

178

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

der typischen Merkmale des chilenischen Spanisch auch eine hohe praktische Relevanz für die vorliegende Arbeit. In Tabelle 7 findet sich eine Übersicht der Merkmale, die in Überblicksdarstellungen zum chilenischen Spanisch immer wieder als typische Merkmale des chilenischen Dialekts genannt werden.79 Dabei wurden allerdings lediglich diejenigen Merkmale einbezogen, die in den entsprechenden Publikationen dem ‘informellen Register’ zugeordnet werden, da dieses Register die Basis für das ‘intimsprachliche Register’ bildet (cf. Kapitel 3.2.1.2 und 3.2.4). Wenn ein Phänomen zudem eine bestimmte diastratische oder eine über ‘Informalität’ hinausgehende diaphasische Markierung aufweist, ist dies entsprechend angegeben. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann auf die Zusammenstellung in Tabelle 7 nicht erhoben werden (für die umfassendsten Beschreibungen sei nach wie vor vor allem auf Oroz 1966 und Lenz 1940 verwiesen); es wurde aber versucht, die Ergebnisse aller Überblicksdarstellungen zum chilenischen Spanisch (soweit sie sich nicht auf eine einzelne Region beziehen) sowie allgemeine Beschreibungen des lateinamerikanischen Spanisch (soweit sie Angaben zum chilenischen Spanisch enthalten) in die Zusammenstellung einzubeziehen. Die Liste kann und soll also – neben den Zusammenstellungen der universellen Merkmale ‘gesprochener Sprache’ (cf. Kapitel 3.2.1.3) – als Folie für die Identifikation spezifisch ‘intimsprachlicher’ Merkmale dienen. Tabelle 7 sagt dabei nichts darüber aus, ob die aufgeführten Merkmale ausschließlich in Chile verbreitet sind oder auch in weiteren lateinamerikanischen Regionen, sondern lediglich, dass sie im chilenischen Spanisch vorkommen – diese Information reicht für die vorliegende Fragestellung aus. Es finden sich also sowohl Phänomene, die als typisch für weite Teile Lateinamerikas gelten (z. B. der seseo oder der Gebrauch von Adjektiven in adverbialer Funktion), als auch die (deutlich selteneren) Fälle, bei denen sich ein Phänomen tatsächlich (wohl) nur in Chile finden lässt (z. B. die palatale Realisierung von /g/, /k/ und /x/ vor /e/ und /i/). Ebenso wenig sagt Tabelle 7 darüber aus, zu welchem Grad die einzelnen Phänomene ‘informell’ markiert sind; so sind sowohl Phänomene enthalten, deren Gebrauch ausschließlich auf ‘informelle Situationen’ beschränkt ist

79 Die Merkmale sind dabei lediglich insofern «besonders», als sie Abweichungen von der kastilischen Norm darstellen, da diese Norm in Beschreibungen von Varietäten des amerikanischen Spanisch üblicherweise als Bezugspunkt gewählt wird – ob oder inwieweit eine solche Betrachtung der amerikanischen Varietäten angemessen ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden (cf. hierzu auch die Plurizentrismus- und unidad-Debatte, z. B. Bierbach 2000; Oesterreicher 2001; Lebsanft 2004; Lebsanft/Mihatsch/Polzin-Haumann 2012). Bei aller «Besonderheit» des Dialekts Chiles sollte auch nicht vergessen werden, dass große Teile der Varietät mit denen in anderen hispanophonen Regionen identisch sind (cf. auch Kluge 2013, 775).

Lenz , ; Oroz , ; , , –; Paufler , ; Rabanales , ; Kubarth , ; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , ; Noll , –; Kluge , 

Canfield , Karte ; Oroz , ; , ; Rabanales , ; , ; Morales Pettorino , 

seseo

prädorsoalveolare Realisierung von /s/

(fortgesetzt)

«sobre todo en la lengua popular» (Oroz , )

Lenz , ; Oroz , , ; , , –, ; Kubarth , ; Morales Pettorino , 

Tendenz zur Längung von Vokalen

Phonetisch-phonologische Ebene

«sobre todo en el habla rural» (Oroz , ; , )

Oroz , ; ,  (mit Ausnahme von Chiloé); Morales Pettorino ,  (mit Ausnahme von Chiloé)

langsame Sprechgeschwindigkeit (im Vergleich zu anderen hispanophonen Regionen)

Prosodische Ebene

Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung

Quelle

Merkmal

Tabelle 7: Merkmale des informellen chilenischen Spanisch.

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

179

Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung Elision: «vulgar», «popular» (Oroz , ; , , ), «aumentando cada vez más en frecuencia desde la norma culta formal hasta la norma inculta informal» (Rabanales , ; , ), «lower urban classes and rural dwellers» (Lipski , ), «popular» (Morales Pettorino , ), «más intenso en el español inculto que en el culto» (Moreno Fernández , ), «insbesondere von der Stadtbevölkerung mit einem Mangel an Bildung» (Noll , ) «vulgar» (Lenz , ), «popular» (Oroz , ; , , ), «inculto» (Rabanales , ; , –; , ), «lowest social classes» (Lipski , ), «popular» (Morales Pettorino , , ), «clases populares» (Moreno Fernández , )

Quelle

Lenz , , ; Canfield , Karte ; Oroz , ; , , , –; Paufler , –; Rabanales , ; Zamora Munné/Guitart , ; Rabanales , ; Lipski , ; Wagner , ; Kubarth , ; Rabanales , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , , ; Moreno de Alba , ; Moreno Fernández , –; Noll , ; Kluge , , ; Burunat , 

Lenz , –; Canfield , Karte  (mit Beschränkung auf Zentralchile); Oroz , ; , , –, – (mit Ausnahme von Nordchile); Paufler , –; Rabanales , ; , –; Lipski , ; Rabanales , ; Morales Pettorino , , – (mit Beschränkung auf Zentralchile); Moreno Fernández , ; Burunat , 

Merkmal

Aspiration oder Elision von silbenfinalem -/s/

Neutralisation von /l/ und /ɾ/

Tabelle 7 (fortgesetzt)

180 4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Lenz , ; Canfield , Karte ; Oroz ,  (mit Beschränkung von [ts] auf Santiago und von [ʃ] auf Nordchile); Paufler ,  (mit Beschränkung von [ʃ] auf Valparaíso); Rabanales , ; Kubarth , – (mit Beschränkung von [ʃ] auf Nordchile); Rabanales , ; Lipski , ; Rabanales , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , ; Moreno de Alba ,  (mit Ausnahme des äußersten Nordens und Südens bei [ts]); Noll ,  (mit Beschränkung von [ʃ] auf Nordchile und von [ts] auf Südchile); Moreno Fernández , , ; Kluge , ; Burunat ,  Realisierung als [ʃ]: «sobre todo entre personas menores de  años» (Rabanales , ; , ), «de origen popular» (Sáez Godoy , ), «popular y juvenil» (Morales Pettorino , ), «popular» (Moreno Fernández , ) Realisierung als [ts]: «mujeres urbanas jóvenes» (Moreno Fernández , )

Schwankungen zwischen /e/ und /i/ Lenz , ; Oroz , –, ; Kubarth sowie zwischen /o/ und /u/ (z. B. , ; Rabanales , ; Morales Pettorino militar [meli´taɾ], lejos [´lexus]) , 

«popular» (Oroz , –, )

(fortgesetzt)

palatale Realisierung von /k/, /x/, /g/ Lenz , –, ; Canfield , Karte ; Oroz «lower class speech» (Lipski , ), «más vor /e/ und /i/ (z. B. género [´çeneɾo]) , ; , , ; Paufler , –; intensa cuanto más baja es la extracción social del Rabanales , ; Kubarth , ; Rabanales hablante» (Moreno Fernández , ) , ; Lipski , ; Wagner , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , ; Moreno de Alba , ; Moreno Fernández , , ; Noll , ; Burunat , 

Realisierung von /tʃ/͡ als [ʃ] oder [ts]͡

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

181

Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung Elision: «clase baja», «popular», «vulgar» (Oroz , , ; , –, ), «vulgär» (Kubarth , ), «sobre todo entre el vulgo» (Morales Pettorino , ), «más intenso en el español inculto que en el culto» (Moreno Fernández , )

bei /r/: «mayor frecuencia en la norma inculta» (Rabanales , ), «popular» (Morales Pettorino , ) bei /dɾ/: «popular» (Oroz , ), «inculto» (Rabanales , ; , ) bei /tɾ/: «mayor frecuencia en la norma inculta» (Rabanales , ; , )

Quelle

Lenz , , , ; Canfield , Karte ; Oroz , , ; , , , –,  (mit Beschränkung der Elision auf Nord- und Zentralchile); Rabanales , , ; Kubarth , ; Rabanales , –; , ; Sáez Godoy , ; Moreno de Alba , ; Morales Pettorino , , , ; Noll , ; Moreno Fernández , , ; Kluge , ; Burunat , 

Lenz , ; Canfield , Karte ; Oroz , ; , –, – (mit Beschränkung auf die Regionen IV bis XIV bei /dɾ/); Rabanales , –; Kubarth , ,  (mit Beschränkung auf Zentralchile); Rabanales , –; Lipski ,  (mit Ausnahme des äußersten Südens); Wagner ,  (mit Ausnahme einiger «zonas rurales aisladas» in den Regionen I und X); Rabanales , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , –; Moreno de Alba , ; Moreno Fernández , , ; Noll , 

Merkmal

Reduktion oder Elision von intervokalischem /b/, /d/, /g/ und auslautendem /d/

Assibilierung der Liquide bei /r/, /dɾ/ und /tɾ/

Tabelle 7 (fortgesetzt)

182 4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

«popular» (Oroz , ), «inculto» (Rabanales , ; , )

Oroz , ; ,  (mit Beschränkung auf Zentral- und Südchile); Rabanales , ; , ; Kubarth ,  (mit Beschränkung auf Zentral- und Südchile); Morales Pettorino ,  (mit Beschränkung auf Zentral- und Südchile)

Paragoge von -[e] nach silbenfinalem -/ɾ/ (z. B. sur [´suɾe], comer [kom´eɾe])

(fortgesetzt)

Elision: «popular» (Oroz , , ; , ), «inculto» (Rabanales , ; , ), «working-class speech» (Lipski , ), «vulgar» (Morales Pettorino , ), «clase obrera urbana» (Moreno Fernández , ) Assibilierung: «particularly among the lower social classes» (Lipski , ), «clases bajas» (Moreno Fernández , )

Lenz , ; Oroz , , ; , ; Rabanales , –; , ; Lipski , ; Morales Pettorino , ; Moreno Fernández , , ; Noll , 

Elision oder Assibilierung von finalem -/ɾ/

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

183

Quelle

Lenz , ; Canfield , Karte  (mit Beschränkung auf Zentralchile); Oroz ,  (mit Ausnahme von «algunos islotes de lleísmo en el sur» in den Regionen VIII, IX und XI); , –,  (mit Ausnahme von «ciertos islotes en el sur»); Paufler , – (mit der Einschränkung «große Teile»); Rabanales ,  (mit Beschränkung auf «una que otra región»); Kubarth ,  (mit Ausnahme von lleísmo-Inseln in den Regionen VII bis X); Rabanales ,  (mit Beschränkung auf «una que otra región»); Rona  [] (mit Beschränkung auf Zentralchile); Lipski ,  (mit Ausnahme von «some isolated rural areas of southern Chile»); Wagner ,  (mit Ausnahme von einzelnen lleísmo-Inseln in den nördlichen Regionen II, XIV und VIII); Sáez Godoy , ; Rabanales , ; Morales Pettorino ,  (mit der Einschränkung «en casi todas las regiones»); Moreno de Alba ,  (mit Ausnahme von «algunas pequeñas zonas del centro»); Noll , ; Kluge , ; Burunat ,  (mit der Einschränkung «casi generalizado»)

Merkmal

yeísmo

Tabelle 7 (fortgesetzt) Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung

184 4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Lenz , ; Oroz , ; , , , ; Rabanales , ; , ; , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , 

Fehlen des Personalpronomens vosotros/as, stattdessen Gebrauch von ustedes

Lenz , ; Oroz , ; Kany , ; Paufler , –; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy ,  (fortgesetzt)

«popular» (Lenz , ), «popular», «vulgar» (Oroz , ; , ), «inculto» (Rabanales , ; , ; , ), «popular rústico» (Morales Pettorino , , ), «más intenso en el español inculto que en el culto» (Moreno Fernández , )

Lenz , ; Oroz , , ; , –, ; Rabanales , ; Kubarth , ; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , , –, –; Moreno Fernández , 

Vokalisierung von /b/, /d/, /g/, /p/, /k/ vor Konsonanten (z. B. padre [´paiɾe], cable [´kaule])

Morphosyntaktische Ebene

«popular» (Oroz , , ; , ), «inculto» (Rabanales , ; , ), «ungebildet», «populär» (Kubarth , ), «popular» (Morales Pettorino , ) nur Realisierung als [x]: «vulgar» (Oroz , , , ), «vulgar» (Morales Pettorino , , )

Lenz , , ; Oroz , –; , , , ,  (mit Ausnahme der Regionen I, VI und VIII); Rabanales , ; Kubarth , , ; Rabanales , ; Sáez Godoy , ; Morales Pettorino , , , ; Moreno de Alba , 

«popular» (Oroz , ), «vulgär» (Kubarth , ), «popular» (Morales Pettorino , –)

«popular» (Oroz , , , )

Realisierung von /f/ als [ɸ] oder [x]

Reduktion oder Konsonantisierung Lenz , –; Oroz , ; , –; von Diphthongen (z. B. hierve [´iɾße], Kubarth ,  (mit Beschränkung auf Zentraljaula [´xaßla]) und Südchile); Morales Pettorino , –

Ausfall von wortinitalem /b/ und /g/ Lenz , ; Oroz , ; , ; vor /w/ (z. B. bueno [´weno]) Rabanales , ; , 

prothetisches /g/ vor anlautendem Semikonsonanten [w] (z. B. huaso [´gwaso])

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

185

«desvalorativo» (Oroz , ; , ); «despectivo» (Rabanales , ) «desvalorativo» (Oroz , ), «despectivo» (Rabanales , )

Oroz , ; Kany , –; Kluge , 

Oroz , ; , ; Kany , –; Paufler , –; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , ; Kluge , 

Lenz , ; Oroz , ; Morales Pettorino , 

Lenz , ; Oroz , ; , ; Rabanales , ; , ; Moreno Fernández , ; Kluge , 

Oroz , ; , ; Rabanales , 

Oroz , ; Rabanales , 

Tendenz zum indefinido gegenüber dem perfecto compuesto

imperfecto de subjuntivo auf -ra

. Ps. Sg. indefinido auf -stes

-ito/a als bevorzugtes evaluatives Suffix

-ucho/a als evaluatives Suffix

-ujo/a als evaluatives Suffix

«popular» (Lenz , ), «popular» (Morales Pettorino , ), «norma inculta formal» (Rabanales , )

Oroz , ; Paufler , –; Rabanales , ; Kubarth , –; Rabanales , ; Wagner , ; Sáez Godoy , ; Kluge , 

Tendenz zum periphrastischen Futur

Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung

Quelle

Merkmal

Tabelle 7 (fortgesetzt)

186 4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Lenz , ; Oroz , ; , 

Oroz , ; , ; Rabanales , ; , 

-ón/a als evaluatives Suffix

intensivierende Präfixe super-, archi-, ultra-, hiper-, re-, requete-, recontra-, requetecontra-

Kany , ; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , 

Oroz , ; Kany , –; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , 

Oroz , ; Kany , –; Moreno Fernández , , 

Reduktion des dreistufigen Pronominalsystems auf este/a und ese/a

Gebrauch von que statt der Relativpronomen cuyo, quien, cual

Gebrauch von se me le (z. B. casi se me le sale un garabato)

queísmo und dequeísmo (z. B. no Rabanales , ; , ; , ; Sáez hay duda que, él creía de que estaba Godoy , ; Moreno Fernández , ; bien) Kluge , 

Gebrauch von le statt les (z. B. Oroz , ; Rabanales , ; , ; Dígale a esos señores que se retiren) Sáez Godoy , 

Lenz , ; Oroz , ; Rabanales , ; , 

-azo/a als evaluatives Suffix

(fortgesetzt)

«más de ambientes populares» (Oroz , ), «popular» (Kany , ), «urbano» (Moreno Fernández , , )

«jerga de los lolos (adolescentes entre  y  años)» (Rabanales , ; , ) re-, requete-, recontra-, requetecontra-: «popular» (Oroz , ), «mayor frecuencia en la norma inculta» (Rabanales , ; , )

«en particular, de la gente del bajo pueblo» (Oroz , ), «más frecuente en la norma inculta informal» (Rabanales , ; , )

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

187

Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , 

Oroz , ; Kany , ; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , 

Vermeidung einsilbiger Imperativformen (stattdessen z. B. sale, pone, hace)

Verwendung des bestimmten Artikels bei Personennamen

Indigenismen (v. a. aus dem Mapuche und Quechua)

Oroz , ; Kany , –; Rabanales , ; , ; Sáez Godoy , ; Kluge , 

Nutzung von Adjektivformen in adverbialer Funktion (z. B. Trabaja duro, Respire hondo)

für Wortlisten und Wörterbücher siehe Lenz – je nach Lexem – –; Oroz , –; Valencia Espinoza grundsätzlich «más frecuentes en la norma inculta , –; , –; Rabanales , informal» (Rabanales , ; , ) , ; , –; Contreras , –; Rabanales , , ; Brennan/ Taboada ; Sáez Godoy , –; Rabanales , ; Correa Mujica , –; Moreno Fernández , 

Lexikalische Ebene

«inculto» (Rabanales , )

Oroz , ; , –; Paufler , ; Rabanales , ; Kubarth , ; Rabanales , ; Sáez Godoy , ; Kluge , 

Konkordanzen wie hacen años, hubieron peleas, se venden diarios

bei Männernamen nur in der «norma inculta» (Rabanales , ; , )

Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung

Quelle

Merkmal

Tabelle 7 (fortgesetzt)

188 4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

tuteo

Oroz , –; Kany , , ; Paufler , ; Rabanales , ; Zamora Munné/ Guitart , ; Kubarth , ; Rabanales , ; Lipski , ; Wagner , ; Sáez Godoy , –; Rabanales , ; Moreno Fernández , ; Noll , ; Burunat , 

Pragmatische Ebene

für Listen und Wörterbücher siehe Oroz , – je nach Lexem – –; , –; Rabanales ; Kany ; Oroz , ; , –, –, –; , –; Rabanales , –, –; , –; Rabanales/Contreras ; Morales Pettorino/Quiroz Mejías –; Cotton/Sharp , –; Rabanales , –; Lipski , ; Brennan/Taboada ; Sáez Godoy , –, –, –; Rabanales , –; Morales Pettorino ; Spotorno ; Moreno Fernández , , –; Morales Pettorino ; Academia Chilena de la Lengua ; Valencia Espinoza , –

Weitere Chilenismen

– je nach Lexem –

für Wortlisten siehe Kany , –; Oroz , –; Rabanales , –; , –; Contreras , –; , –; Rabanales , ; , –; Seco –, –; Sáez Godoy , –; , –; , –; Danbolt-Drange 

Anglizismen und weitere Xenismen

(fortgesetzt)

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

189

Ggf. diastratische oder weitere diaphasische Markierung «el vulgo», «clases populares», «tanto la gente iletrada de las ciudades y suburbios como los campesinos y medios bajos rurales lo practican corrientemente», «clases populares urbanas y campesinos y mineros», «incluso los alumnos de los liceos y estudiantes universitarios» (Oroz , ; , –), «habla vulgar y rústica» (Kany , ), «inculto» (Rabanales , ; , ), «vulgär» (Kubarth , ), «lowest socioeconomic classes» (Lipski , ), «popular» (Wagner , ), «vulgar» (Rabanales , ), «popular, vulgar» (Sáez Godoy , ), «popular», «hablantes de escasa cultura» (Moreno Fernández , –), «volkssprachlich» (Noll , ); «en los estados de enojo o de amenaza» (Oroz , ), «su uso está contraindicado con personas desconocidas» (Wagner , ), «para marcar descortesía» (Moreno Fernández , )

Quelle

Oroz , ; , – (mit Ausnahme des äußersten Nordens und Chiloé); Kany , , –; Rabanales , ; Kubarth , ; Rabanales , ; Lipski ,  (mit Beschränkung auf Santiago); Wagner , ; Sáez Godoy , –; Rabanales , ; Moreno Fernández , , ; Noll , ; Kluge , 

Merkmal

voseo pronominal nach dem Muster vos amái(s), vos temí(s), vos partí(s)

Tabelle 7 (fortgesetzt)

190 4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

«en conversación amistosa» (Lenz , ), «positive familiarity», «solidarity» (Lipski , ), «popular» (Lenz , ); «entre el vulgo» (Oroz , ), «ciertas gentes iletradas» (Kany , ), «gente urbana» (Moreno Fernández , ), «Mittel- und Oberschicht» (Noll , ) – je nach Anredeform –

Oroz , , ; Kany , ; Morales Pettorino ; Paufler , ; Zamora Munné/ Guitart , ; Kubarth , ; Rabanales , ; Lipski , , ; Wagner , ; Sáez Godoy , –; Rabanales , ; Noll , ; Moreno Fernández , , –; Kluge , ; Burunat , 

für Listen siehe Rabanales , –; Eguiluz , –; Kany , –; Oroz , –; Rabanales , –; , ; Salamanca/Cofré/Gutiérrez , –; Gonzálvez , –

für Beispiele siehe Rabanales , ; Rabanales/ – je nach Diskursmarker – Contreras , –; Pons Galea/Samaniego Aldazábal , –; Soto/Roldán , ; San Martín Núñez –, –; Rojas , –; Kluge , ; San Martín Núñez/ Guerrero González , –; San Martín Núñez/Rojas Inostroza/Guerrero González , –

voseo verbal nach dem Muster tú amái(s), tú temí(s), tú partí(s)

besondere nominale Anredeformen

besondere Diskursmarker

4.1 Das (informelle) chilenische Spanisch als Vergleichsfolie

191

192

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

(z. B. voseo verbal, bestimmte Diskursmarker), als auch solche, die sowohl im ‘informellen’ als auch im ‘formellen Register’ gebraucht werden, also dem Regionalstandard angehören (z B. seseo, ustedes statt vosotros). Auch diese Unterscheidung ist für die Identifikation ‘intimsprachlicher’ Merkmale nicht von Relevanz. Weiterhin ist zu anzumerken, dass die chilenischen Spezifika in den Bereichen der Lexik, der nominalen Anredeformen und der Diskursmarker in Tabelle 7 nur in zusammenfassender Form (d. h. z. B. mittels der Beschreibung «besondere nominale Anredeformen») aufgeführt sind – eine Auflistung sämtlicher Einzelformen ist hier weder leistbar noch zielführend. Wenn entsprechende Formen in ‘intimsprachlichen’ Äußerungen vorkommen, soll auf Basis der angegebenen Quellen im Einzelfall ermittelt und erläutert werden, wie diese diasystematisch verortet sind. Schließlich fällt auf, dass sich zu vielen der gelisteten Phänomene in der Literatur widersprüchliche Angaben hinsichtlich ihrer Verortung im chilenischen Varietätenraum finden. Man betrachte als Beispiel etwa die Assibilierung der Liquide bei /r/, /dɾ/ und /tɾ/: Einige AutorInnen halten dieses Phänomen für ein generelles Merkmal des ‘informellen’ chilenischen Spanisch, das nicht auf bestimmte Regionen und/oder soziale Gruppen begrenzt ist (z. B. Lenz 1940, 103; Canfield 1962, Karte 7; Sáez Godoy 2000, 24; Moreno de Alba 2007, 153; Moreno Fernández 2009, 377, 380; Noll 2009, 33). Anderen AutorInnen zufolge ist es kein generelles, sondern ein dialektales Phänomen, das sich nur in bestimmten Regionen findet (z. B. Kubarth 1987, 160, 165; Lipski 1994, 200; Wagner 1996, 227). Wieder anderen AutorInnen zufolge handelt es sich nicht um ein dialektales, sondern um ein soziolektales Phänomen, das zwar in allen Regionen, aber in erster Linie bei Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status zu beobachten ist (z. B. Oroz 1964, 97; Rabanales 1981, 455; 1992, 575; Morales Pettorino 2003, 58). Derlei Widersprüchlichkeiten finden sich bei vielen der aufgeführten Phänomene und können unterschiedliche Gründe haben: Zum einen können gemäß der ‘Varietätenkette’ diatopische Varietäten auch als diastratische oder diaphasische Varietäten und diastratische Varietäten auch als diaphasische Varietäten fungieren (cf. auch Kapitel 3.2.1) – eine eindeutige Zuordnung einer einzelnen beobachteten Variante zu einer diasystematischen Ebene ist daher oft nicht zweifelsfrei möglich. Zum anderen weisen die Datengrundlagen, auf die sich die verschiedenen AutorInnen berufen, sowohl hinsichtlich ihrer Quantität und ihrer geographischen Abdeckung als auch hinsichtlich ihrer Qualität (z. B. Erhebungsmethode) Unterschiede auf, was zu unterschiedlichen Interpretationen führen kann. Für einige Phänomene spielt schließlich auch das unterschiedliche Alter der Quellen (und damit auch der zugrundeliegenden Daten) eine Rolle, nämlich dann, wenn es sich um Phänomene handelt,

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

193

bei denen relativ rezente Veränderungen hinsichtlich ihrer diatopischen, diastratischen oder diaphasischen Markierung vonstattengegangen sind. Ein anschauliches Beispiel hierfür stellt in Chile der voseo verbal dar: Während sein Gebrauch einigen frühen Publikationen zufolge auf die unteren Gesellschaftsschichten beschränkt ist (cf. z. B. Lenz 1940, 262; Oroz 1966, 306; Kany 1969, 96), findet er sich im 21. Jahrhundert offenbar vor allem in der städtischen Mittel- und Oberschicht (Noll 2009, 37; Moreno Fernández 2009, 382). Das heißt allerdings nicht, dass aktuelleren Publikationen grundsätzlich mehr Glauben geschenkt werden kann als älteren – die zugrundeliegenden Daten sind nicht zwangsläufig aussagekräftiger oder aktueller. Im konkreten (Zweifels-)Fall sollte daher angesichts der Tatsache, dass in Tabelle 7 lediglich Überblicksdarstellungen zum chilenischen Spanisch einbezogen wurden, immer zusätzlich auf aktuelle und valide Einzelstudien zum betroffenen Phänomen rekurriert werden – so diese vorliegen. Andernfalls ist die Verortung eines bestimmten beobachteten Phänomens im diasystematischen Gefüge des chilenischen Spanisch nicht zweifelsfrei möglich.

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung Die vorangegangenen Ausführungen zum chilenischen Spanisch bilden sowohl den Ausgangspunkt als auch den Rahmen für das Forschungsdesign, mittels dessen das ‘intime Sprechen’ in dieser Varietät des Spanischen untersucht werden soll. Die Untersuchungsplanung für die empirische Studie umfasst zum einen die Konkretisierung des methodischen Ansatzes und zum anderen die Konzeption eines geeigneten Erhebungsinstrumentes. Beide Schritte sollen im Folgenden ausführlich dargestellt werden (cf. Kapitel 4.2.1 und 4.2.2). An diese Überlegungen schließen sich einige Erläuterungen zur Durchführung der Untersuchung sowie zur Weiterverarbeitung und Analyse der gewonnenen Korpusdaten an (cf. Kapitel 4.2.3, 4.2.4 und 4.2.5).

4.2.1 Methodischer Ansatz In Kapitel 3.3.2.5 wurde bereits dargestellt, dass sich in der Varietätenlinguistik im Anschluss an Sinner (2014, 16–17) eine synchron-deskriptive Perspektive (1), eine diachrone Perspektive (2) und eine einstellungs- und statusbezogene Perspektive (3) auf Varietäten unterscheiden lassen. Da ‘intimes Sprechen’ bisher nicht als Varietät analysiert worden ist, soll im empirischen Teil dieser Arbeit zunächst eine synchron-deskriptive Perspektive (1) eingenommen werden, indem eine strukturelle Beschreibung des ‘intimsprachlichen Registers’ in Chile

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4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

erfolgt. Dies bedeutet, dass Fragestellungen der Perspektiven 2 und 3 zunächst einmal nicht bearbeitet werden: Weder sollen die hinter dem ‘intimen Sprechen’ stehenden Traditionen aufgedeckt oder die Registermerkmale auf möglicherweise universelle Prinzipien zurückgeführt werden noch sollen die Haltungen der ChilenInnen zum ‘intimsprachlichen Register’ erfasst werden. Stattdessen soll zunächst der Nachweis erbracht werden, dass das ‘intimsprachliche Register’ im Sinne der in Kapitel 3 präsentierten Konzeption existiert – zu diesem Zwecke sollen die charakteristischen Merkmale des ‘intimen Sprechens’ in Chile zusammengestellt werden. Eine solche Zusammenstellung kann wiederum die Grundlage für weiterführende Untersuchungen mit Fragestellungen der Perspektiven 2 und 3 bilden. Die charakteristischen Merkmale des ‘intimen Sprechens’ in Chile können nur identifiziert werden, indem eine größere Anzahl ‘intimsprachlicher’ Äußerungen verschiedener SprecherInnen gemeinsam betrachtet wird und auftretende Merkmale hinsichtlich ihrer Vorkommenshäufigkeit verglichen werden – eine Analyse des sprachlichen Verhaltens einzelner Personen reicht dagegen nicht aus, da man es hier zwangsläufig auch mit Individuellem zu tun hat. Nur wenn bestimmte Merkmale gehäuft über unterschiedliche SprecherInnen hinweg auftreten, kann ausgeschlossen werden, dass es sich um idiolektale Phänomene handelt. Nur über die Operation mit Häufigkeiten kann also letztlich der Abstraktionsschritt vom Individuellen hin zum Strukturellen vollzogen werden (cf. auch Biber/ Conrad/Reppen 1998, 3, 136; Tognini-Bonelli 2001, 56–62; Baker 2014, 109; Clancy 2016, 3–4, 15–16). Notwendige Grundlage für die synchron-deskriptive Beschreibung des ‘intimsprachlichen Registers’ im Spanischen Chiles ist daher ein repräsentatives Korpus authentischer ‘intimsprachlicher’ Äußerungen, das angesichts der besonderen Anforderungen an die Kontextbedingungen ‘intimen Sprechens’ (cf. Kapitel 3.1 und Kapitel 3.3) selbst erstellt werden musste.80

80 In der Sprachwissenschaft gibt es zwei konkurrierende ‘Korpus’-Begriffe: Zum einen versteht man unter ‘Korpus’ im weiteren Sinne eine systematische Sammlung von sprachlichen Primärdaten geschriebener oder gesprochener Art, die als empirische Grundlage für die sprachwissenschaftliche Analyse dienen. Korpora in diesem Sinne nutzt die Sprachwissenschaft bereits seit ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts (Klöden 2001, 8). Zum anderen hat sich ab den 1990er-Jahren das enger gefasste Forschungsfeld der ‘Korpuslinguistik’ etabliert, in welchem ‘Korpus’ als eine repräsentative Zusammenstellung großer, nicht mehr manuell analysierbarer Mengen sprachlicher Daten verstanden wird, die mittels spezieller Software oft (halb-)automatisch annotiert und über die Anwendung quantitativer, meist inferenzstatistischer Verfahren analysiert werden (cf. z. B. Biber/Conrad/Reppen 1998, 4; TogniniBonelli 2001, 2, 55; Baker 2010, 5, 8; 2014, 108; McEnery/Hardie 2012, 1–2; Biber/Reppen 2015, 1). Da die vorliegende Arbeit zwar mit einem digitalen Sprachdatenkorpus arbeitet, jedoch die

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

195

Für die Korpuserstellung wurde sich streng an den in Kapitel 3.3 vorgestellten Kriterien der Repräsentativität und der Authentizität sowie an den angeschlossenen Überlegungen zu geeigneten Erhebungsmethoden orientiert. Hinsichtlich des Kriteriums der Repräsentativität musste zunächst die Grundgesamtheit definiert und quantifiziert werden. Die erwachsene chilenische Bevölkerung, definiert als Personen mit chilenischer Staatsbürgerschaft ab 15 Jahren, bezifferte sich dem Zensus zufolge im Jahr 2017 auf 14.050.253 Personen (Instituto Nacional de Estadística 2018, s. p.). Um die Ergebnisse einer Studie auf die Grundgesamtheit, also die gesamte erwachsene chilenische Bevölkerung, generalisieren zu können, muss in der Studie eine bestimmte Mindestanzahl von Personen aus der Grundgesamtheit untersucht werden. Die benötigte Größe der Stichprobe ist dabei nicht allein von der Größe der Grundgesamtheit, sondern auch von der gewünschten Genauigkeit des Ergebnisses (maximaler akzeptabler Stichprobenfehler) und der gewünschten Sicherheit des Ergebnisses (Signifikanzniveau bzw. Konfidenzintervall) abhängig. Bei einem Stichprobenfehler von maximal 5% und einem Konfidenzintervall von 95% – beides ist in den Sozialwissenschaften üblich – läge die benötigte Stichprobengröße für die Erhebung des ‘intimen Sprechens’ in Chile bei (mindestens) 385 Personen.81

Analyse der Äußerungen manuell, nicht nach einem standardisierten Tagset und nicht als Mark-up im Text (z. B. mit TEI) erfolgt (und daher streng genommen nicht als ‘Annotation’ zu bezeichnen ist), folgt sie nicht im engeren Sinne korpuslinguistischen Methoden. 81 Die Berechnung des erforderlichen Stichprobenumfangs folgt den Grundsätzen der schließenden Statistik, wie sie in zahlreichen quantitativ orientieren Disziplinen wie z. B. der Marktoder der Meinungsforschung angewandt werden. Grundsätzlich gilt: Um absolut genaue und sichere Ergebnisse zu erhalten, müsste man de facto alle Personen der Grundgesamtheit untersuchen. Dies ist in den meisten Fällen – so auch in diesem – nicht möglich. Man untersucht daher lediglich einen Ausschnitt, genauer gesagt eine Stichprobe aus der Grundgesamtheit. Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass nun nicht mehr mit völliger Sicherheit gesagt werden kann, dass das Untersuchungsergebnis sich tatsächlich genau so in der Grundgesamtheit wiederfindet. Diese zwangsläufigen «Messfehler» können mittels statistischer Verfahren eindeutig quantifiziert werden (vorausgesetzt, es liegt eine Zufallsstichprobe vor). Ebenso kann man unter Einbezug der Größe der Grundgesamtheit berechnen, welche Stichprobengröße mindestens nötig ist, um Aussagen mit einer bestimmten Genauigkeit und Sicherheit machen zu können. Für die erwachsene chilenische Bevölkerung gilt: Bei einem Stichprobenfehler von maximal 5% und einem Konfidenzintervall von 95% läge die benötigte Stichprobengröße zur Übertragbarkeit auf die gesamte erwachsene chilenische Bevölkerung bei 385 Personen. Das bedeutet: Befragt man 385 per Zufallsprinzip ausgewählte ChilenInnen, liegt das Ergebnis der Befragung mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit (= Konfidenzintervall) maximal +/- 5% um den tatsächlichen Wert (= Stichprobenfehler). Befragt man dagegen weniger Personen, sind die Aussagen automatisch weniger genau und/oder weniger sicher. Würde man z. B. nur 30 ChilenInnen befragen, läge die Genauigkeit des Ergebnisses bei gleichbleibender Sicherheit von 95% nur noch bei +/- 18%. Zur zugrundeliegenden Formel und Herleitung siehe z. B. Qua-

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4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Hinsichtlich des zweiten Kriteriums, der Authentizität der Daten, galt es zu beachten, dass nur solche Äußerungen in das Korpus aufgenommen werden, die von ChilenInnen stammen und die im Sinne der vorgeschlagenen (Neu-) Konzeption ‘intimsprachlich’ sind. Als Kriterium für die Beschränkung auf Äußerungen von ChilenInnen bot sich die Staatsangehörigkeit an. Für die ‘Intimsprachlichkeit’ der Äußerungen galten – wie bereits mehrfach ausgeführt – die Kriterien der ‘intimen Beziehung’ und der ‘intimen Situation’ als maßgeblich (cf. Kapitel 3.1). Da die empirische Untersuchung des ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles vor allem darauf ausgelegt war, die kontextbasierte theoretische Konzeption des ‘intimen Sprechens’ empirisch zu stützen, fiel die Gewährleistung dieser Kontextfaktoren besonders ins Gewicht. Es wurde daher eine Erhebungsmethode benötigt, die die Kontrolle der Kontextbedingungen erlaubt. Angesichts dieser Anforderungen an das ‘intimsprachliche’ Korpus hinsichtlich Repräsentativität und Authentizität wurden für die exemplarische Untersuchung ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles internetbasierte DCTs als Erhebungsmethode gewählt, da diese im Gegensatz zu anderen Erhebungsmethoden sowohl die Kontrolle der Kontextbedingungen als auch das Zusammenkommen einer repräsentativen Zahl von 385 Fällen ermöglichen. Internetbasierte DCTs bieten im Vergleich zu analogen DCTs dabei den Vorteil, dass sie die so wichtige Anonymität in vollem Maße gewährleisten können und damit voraussichtlich nur geringe erhebungsbedingte Verzerrungen zur Folge haben (cf. Kapitel 3.3). Außerdem ermöglichen sie die orts- und zeitunabhängige Teilnahme: Da keinE InterviewerIn oder BeobachterIn benötigt wird, sind die TeilnehmerInnen frei in der Wahl des Zeitpunkts, zu dem sie die Aufgaben bearbeiten wollen, und müssen hierzu keinen bestimmten Ort aufsuchen. Da es sich um eine Untersuchung handelt, die sich geographisch auf das gesamte chilenische Staatsgebiet bezieht, erleichtert dies das Vorgehen sowohl für die TeilnehmerInnen als auch für die Autorin. Dennoch muss bei DCTs mit nicht unerheblichen methodenspezifischen Einschränkungen der Authentizität gerechnet werden, die vor allem aus der Schriftform resultieren (cf. Kapitel 3.3.2.4). Diese müssen bei der Auswertung

tember (2008, 131–132). Ein empfehlenswertes, auf dieser Formel basierendes Webtool findet man z. B. unter www.guldner.com/stichprobenrechner.html (letzter Zugriff: 27.06.2021). Inwieweit die in den Sozial- und Naturwissenschaften etablierten statistischen Verfahren auch auf sprachwissenschaftliche Studien zu übertragen sind, ist in der Linguistik überraschenderweise bisher kaum diskutiert worden. In jedem Fall gibt die errechnete Mindestpersonenanzahl von 385 für die erwachsene chilenische Bevölkerung aber eine begründete Orientierung für die anzustrebende TeilnehmerInnenzahl der empirischen Untersuchung zum ‘intimen Sprechen’ in Chile.

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

197

des Materials stets im Auge behalten werden (cf. auch Atteslander 2000, 152; Bataller 2013, 123). Letztlich können die mit DCTs erhobenen Daten also nur eine erste Annäherung an das ‘intime Sprechen’ im Spanischen Chiles liefern – ähnlich wie dies aber auch mit anderen Erhebungsmethoden der Fall wäre (cf. Kapitel 3.3.2.5). Perspektivisch gilt es daher, die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung anzureichern, zu konkretisieren und zu relativieren, indem Studien zum ‘intimen Sprechen’ in Chile mit weiteren Erhebungsmethoden durchgeführt werden. Für den Nachweis der Existenz eines ‘intimen Registers’ in der Sprache, der mittels der vorliegenden Untersuchung erbracht werden soll, eignen sich die mit DCTs erhobenen Daten aber durchaus. Wie die DCTs konkret gestaltet wurden, um ‘intimsprachliche’ Äußerungen zu elizitieren, wird im folgenden Kapitel beschrieben.

4.2.2 Konzeption des Erhebungsinstruments Für die Implementierung der internetbasierten DCTs wurde die kostenlose Software SoSci Survey genutzt, die praktische Funktionalitäten wie z. B. den direkten Datendownload im .csv-Format und automatisierte Filterführungen bietet. Da einer der Hauptgründe für die Nicht-Teilnahme oder den Abbruch bei Studien ein zu großer Zeitaufwand ist, wurde die Dauer der Aufgabenbearbeitung so kurz wie möglich angesetzt (veranschlagt waren maximal 15 Minuten). So sollte eine möglichst geringe Abbruchquote erzielt sowie eine Minderung der Datenqualität durch Ermüdungseffekte vermieden werden. Das Layout wurde im Rahmen der technischen Möglichkeiten so übersichtlich und ansprechend wie möglich gestaltet. Die Aufgaben und Situationsbeschreibungen wurden jeweils so kurz, spezifisch, neutral und verständlich wie möglich formuliert. Es wurden durchgängig Begriffe gewählt, die den TeilnehmerInnen bekannt sein sollten und Fachbegriffe vermieden. So wurde z. B. entgegen der Terminologie dieser Arbeit nicht von ‘intimem Sprechen’ gesprochen, sondern von «zärtlichem Sprechen» («lenguaje cariñoso») (cf. auch die Empfehlungen von Schlobinski 1996; Atteslander 2000; Fühles-Ubach 2013a; 2013b). Das Deckblatt wurde so ansprechend, knapp und informativ wie möglich gestaltet und enthielt neben einem kurzen Willkommenstext ein thematisch passendes Bild, den Namen der Autorin und deren Institution inkl. Kontaktdaten und Logo (cf. auch die Empfehlungen von Schlobinski 1996; Porst 2009). Im Willkommenstext wurden die TeilnehmerInnen direkt angesprochen und es erfolgte eine kurze inhaltliche Einführung (cf. auch die Empfehlung von Schlobinski 1996). Um unmittelbare und unverfälschte Antworten zu ermöglichen, wurde das Untersuchungsziel der Befragung nicht explizit genannt (cf. auch

198

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

die Empfehlung von Atteslander 2000). Es wurde lediglich mitgeteilt, dass die Studie sich mit einigen Merkmalen des chilenischen Spanisch beschäftige. Dass es dabei um die Untersuchung der Sprachvarietät Chiles und nicht etwa des (peninsularen) Standardspanischen ginge, wurde mehrmals explizit hervorgehoben, damit dialektale Merkmale nicht absichtlich unterdrückt würden. Weiterhin wurde auf die Gewährleistung der Anonymität und des Datenschutzes sowie die Freiwilligkeit der Teilnahme hingewiesen (cf. auch die Empfehlungen von Schlobinski 1996; Atteslander 2000). Zum Zwecke der Transparenz und Motivation wurde zudem ein Hinweis auf die ungefähre Bearbeitungszeit von maximal 15 Minuten gegeben und den TeilnehmerInnen bereits im Voraus für ihre Mitarbeit gedankt (cf. auch die Empfehlung von Schlobinski 1996). Die Aufgaben wurden hinsichtlich der Reihenfolge und Seitenaufteilung in inhaltlich zusammenhängende Blöcke aufgeteilt (cf. auch die Empfehlung von Raithel 2006), und zwar: 1. Familiensituation, 2. DCTs, 3. Merkmale ‘intimen Sprechens’ und 4. soziodemographische Fragen. Zwischen den einzelnen Blöcken wurden Überleitungsformulierungen eingebaut, um die TeilnehmerInnen motiviert zu halten und den roten Faden transparent zu machen (cf. auch die Empfehlung von Raithel 2006). Zudem vermittelte ein Prozentbalken einen ungefähren Eindruck davon, wie viele Aufgaben noch zu erledigen waren. Block 1 (Familiensituation) enthielt Faktfragen nach der Existenz der verschiedenen Typen ‘intimer Beziehungen’ bei den Befragten, und zwar zu Kindern, Geschwistern (unterschieden in jüngere und ältere Geschwister) und PartnerInnen (cf. Kapitel 3.1.1.7). Bei Vorliegen des entsprechenden Beziehungstyps wurden weiterführende Fragen gestellt. So wurde bei allen Beziehungstypen nach der Qualität der Beziehung gefragt, bei Kindern zudem nach dem Alter der Kinder und bei Paarbeziehungen zusätzlich nach der sexuellen Orientierung. Die Fragen nach der Beziehungsqualität wurden anders als die anderen Fragen mittels fünfstufiger Likert-Skalen erhoben. Es wurden dabei ungerade Skalen gewählt, weil diese die Möglichkeit zur Wahl der neutralen Mittelkategorie geben, statt eine – evtl. artifizielle – Positionierung zu erzwingen. Die Extrema der Skalen wurden durch «no cercana en absoluto» und «extraordinariamente cercana» verbalisiert (cf. auch die Empfehlungen von Raithel 2006; Porst 2009). Schließlich wurde noch nach dem Geschlecht der TeilnehmerInnen gefragt. Die Fragen nach den vorhandenen Beziehungstypen, die Unterscheidung von jüngeren und älteren Geschwistern, die Frage nach dem Geschlecht sowie die Frage nach der sexuellen Orientierung sollten dazu dienen, den Befragten im Anschluss nur solche DCTs zu präsentieren, die sie und ihre Familiensituation betrafen. Sie fungierten also als Filterfragen und waren deshalb verpflichtend zu beantworten. Mithilfe der Fragen nach der Beziehungsqualität zu den verschiedenen Personen sollte ermittelt werden, ob es sich bei der

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

199

betreffenden Beziehung tatsächlich um eine ‘intime Beziehung’ handelte. Da Äußerungen, die in nicht ‘intimen Beziehungen’ getätigt werden, im Sinne der konstitutiven Merkmale nicht ‘intimsprachlich’ sind, sollten diese auf Basis der entsprechenden Angaben später aus dem Korpus getilgt werden (und zwar, wenn die Beziehungsqualität mit schlechter als «3» bewertet wurde). Das Kindesalter wurde erhoben, um ggf. didaktisch-akkomodative Merkmale des Sprechens gegenüber Kleinkindern als solche identifzieren zu können (cf. Kapitel 2.2.5). Neben den inhaltlichen bzw. filternden Funktionen kam den Fragen des ersten Blocks zudem die Funktion von eröffnenden Eisbrecherfragen zu, die allgemein, leicht und von allen Befragten zu beantworten sein sollten (cf. auch die Empfehlungen von Atteslander 2000; Raithel 2006; Porst 2009; Albert/Marx 2010; FühlesUbach 2013a). In Block 2 (DCTs) wurden die korpusrelevanten DCTs präsentiert. Um die Anschaulichkeit und Motivation zu erhöhen sowie ähnliche Vorstellungen von der jeweiligen Situation bei allen TeilnehmerInnen zu erzeugen, wurden als Stimuli Fotos gewählt (cf. auch Lappalainen 2019 und Kapitel 3.3.2.4). Unter den Fotos wurde zusätzlich eine sehr kurze textuelle Beschreibung der jeweiligen Situation ergänzt, um die Vorstellung bei den TeilnehmerInnen noch eindeutiger und vergleichbarer zu machen. Es handelte sich bei den auf den Fotos abgebildeten Situationen entsprechend den konstitutiven Kontextbedingungen ‘intimen Sprechens’ durchgängig um Situationen, die diesen Kontextmerkmalen entsprachen: Es waren jeweils Personen abgebildet, die in einer ‘intimen Beziehung’ zueinander standen, die in einer ‘intimen Kommunikationsumgebung’ kommunizierten und die sich bei der Ausübung einer ‘intimen Handlung’ befanden, wobei Letzteres vor allem durch eindeutige nonverbale Merkmale (cf. Kapitel 3.1.1.6) unmissverständlich vermittelt wurde. Auf einer einleitenden Seite wurde den TeilnehmerInnen zunächst erläutert, dass auf den folgenden Seiten Fotos verschiedener Situationen erscheinen würden, bei denen sie jeweils angeben sollten, was sie in der betreffenden Situation sagen würden. In der Folge erschienen den TeilnehmerInnen dann mindestens drei und maximal 18 Fotos, je nachdem, was sie zuvor zu ihren vorhandenen Beziehungen angegeben hatten. Je nachdem, über wie viele Beziehungen die Befragten verfügten, verlängerte oder verkürzte sich die Erhebungsdauer also entsprechend. Pro Beziehungstyp wurden jeweils mehrere Fotos präsentiert. Die präsentierten Fotos waren dabei nach den Angaben zum Geschlecht und im Falle der Paarbeziehung zur sexuellen Orientierung differenziert, um eine bessere Identifikation der TeilnehmerInnen mit den Fotos zu erreichen. So wurden z. B. einer homosexuellen Frau mit Partnerin ohne Kinder, die ältere Brüder, aber keine jüngeren Geschwister hat, nur Bilder präsentiert, auf denen Frauen mit ihren Partnerinnen und mit ihren älteren Brüdern abgebildet sind, nicht aber Bilder, auf denen Männer die

200

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

sprechenden Personen darstellen oder auf denen Frauen zu männlichen Partnern, zu Kindern, zu jüngeren Brüdern oder zu weiblichen Geschwistern sprechen. Um alle Kombinationen abzudecken, belief sich die Gesamtzahl der Bilder auf 50 Stück. Diese sind in Anhang A2 einzusehen. Exemplarisch ist in Anhang A1 zudem das gesamte Erhebungsinstrument für eine Frau mit Partner, Kind, jüngerem Bruder, älterer Schwester und Eltern aufgeführt. Block 3 (Merkmale ‘intimen Sprechens’) umfasste zwei offene Fragen mit Freitextfeldern zu Merkmalen ‘intimen Sprechens’: 1. die Frage nach sprachlichen Merkmalen «zärtlicher Sprache» und 2. die Frage nach nonverbalen Merkmalen in ‘intimen Beziehungen’. Durch ihre Offenheit sollten die Fragen einerseits potentielle weitere, ggf. nicht im Korpus vorkommende ‘intimsprachliche’ Merkmale zu Tage fördern. Andererseits sollten sie auch zeigen, welche Merkmale den SprecherInnen besonders salient für das ‘intimsprachliche Register’ in Chile erscheinen. Block 4 enthielt vor allem soziodemographische Fragen. Er stand am Ende, weil diese Fragen die TeilnehmerInnen meist wenig interessieren und deshalb am Anfang eher abschrecken (cf. die Empfehlungen von Raithel 2006; Porst 2009). So wurden hier die Fragen nach dem Geburtsort (Freitextfeld), dem aktuellen Wohnort (Freitextfeld), dem Alter (Freitextfeld), dem höchsten Bildungsabschluss (Einfachauswahl aus 12 Optionen, übernommen aus dem chilenischen Zensusfragebogen von 2012), dem Beruf (Freitextfeld) und dem monatlichen Nettoeinkommen (Einfachauswahl aus 12 Stufen, übernommen aus Durán Sanhueza/Kremerman Strajilevich 2015) gestellt. Diese Angaben sollten einerseits dazu dienen, die Repräsentativität des Korpus ermitteln zu können (cf. Kapitel 3.3); andererseits können sie auch der Ausgangspunkt für vergleichende Analysen sein, etwa zu den Unterschieden im Gebrauch von ‘intimem Sprechen’ zwischen Männern und Frauen. Auf der vorletzten Seite der Befragung wurde den Empfehlungen von Schlobinski (1996, 41) folgend Raum für Anmerkungen zur Befragung gelassen und den TeilnehmerInnen auf der letzten Seite schließlich erneut für ihre Mitarbeit gedankt.

4.2.3 Durchführung der Erhebung Die DCTs wurden insgesamt 3 Monate und 10 Tage lang, vom 14.01.2016 bis zum 24.04.2016, auf der Online-Plattform soscisurvey.de zugänglich gemacht. Zuvor war ein Pretest mit Kommentierungsmöglichkeit durchgeführt worden, um Verbesserungs- und Kürzungspotential zu identifizieren, an dem 14 Personen teilgenommen hatten (cf. die Empfehlungen von Schlobinski 1996, 27; Raithel 2006, 62).

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

201

Zusätzlich waren frühere Versionen zum Zwecke der Überprüfung der sprachlichen und fachlichen Angemessenheit muttersprachlichen und fachlichen ExpertInnen zur Durchsicht vorgelegt worden (cf. die Empfehlungen von Atteslander 2000, 175; Raithel 2006, 62). Der Link zur finalen Fassung wurde jeweils mehrfach (bis zu sechs Mal über die gesamte Laufzeit) in 255 unterschiedlichen Facebookgruppen verbreitet, die einen Bezug zu Chile und mindestens 500 Mitglieder hatten (für eine Liste der Gruppen siehe Anhang A3). So sollten die Personen mit den stichprobenrelevanten Merkmalen, d. h. alle erwachsenen ChilenInnen, möglichst gut erreicht werden und durch die breite Ansprache gleichzeitig ein Auswahlbias vermieden werden. Die erhobenen Daten wurden am 24.04.2016 als .csv-Datensatz aus der Online-Software Sosci Survey heruntergeladen. Dabei wurden nur diejenigen Datensätze einbezogen, bei denen mindestens eine DCT ausgefüllt worden war. Wenn dagegen z. B. nur der Block ‘Familiensituation’ beantwortet worden war, wurde der entsprechende Datensatz ausgeschlossen.

4.2.4 Rücklauf und Repräsentativität Es wurden für die Korpuserstellung alle Datensätze verwendet, bei denen die TeilnehmerInnen zur Grundgesamtheit gehörten und in denen mindestens eine DCT ausgefüllt wurde, die also mindestens eine ‘intimsprachliche’ Äußerung enthielten.82 Auf diese Weise sind Äußerungen von insgesamt 617 Personen in das Korpus eingeflossen.83 Diese Anzahl an TeilnehmerInnen überschreitet die in Kapitel 4.2.1 errechnete minimale Stichprobengröße von 385 Fällen deutlich.

82 Getilgt wurden dabei einerseits alle Angaben, die keine direkte Rede darstellten (z. B. «La conforto», «Le diría que la amo» etc.) sowie andererseits Äußerungen, die gegenüber AdressatInnen gebraucht wurden, zu denen die Beziehungsqualität auf der fünfstufigen LikertSkala mit schlechter als «3» bewertet worden war (323 Fälle), da in diesen Fällen das für ‘intime Sprechen’ konstitutive Kontextmerkmal der ‘intimen Beziehung’ nicht gegeben war. 83 Insgesamt haben 815 Personen die Bearbeitung begonnen. 198 Personen füllten allerdings nur Block 1 zur ‘Familiensituation’ aus, sodass nur 617 Personen tatsächlich Äußerungen beisteuerten und alle anderen Fälle aus dem Datensatz getilgt wurden. Die 617 verbleibenden Personen gehörten allesamt zur Grundgesamtheit (mindestens 15 Jahre alt, ChilenIn), sodass keine weiteren Fälle entfernt werden mussten. Vollständig abgeschlossen wurde die Bearbeitung lediglich von 203 Personen. Ein möglicher Grund für diese recht hohe Abbruchquote mag der Umstand sein, dass das Erhebungsinstrument vor allem offene Fragen und Aufgaben enthielt, die grundsätzlich schwieriger zu beantworten sind und deshalb auch seltener beantwortet werden (Porst 2009, 63).

202

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Damit wären die Ergebnisse mit einem Stichprobenfehler von 5% und einem Konfidenzintervall von 95% zumindest hinsichtlich ihrer Größe repräsentativ für die Grundgesamtheit. Hinsichtlich der strukturellen Repräsentativität wurden die Merkmale ‘Geschlecht’, ‘Alter’, ‘monatliches Nettoeinkommen’ und ‘formale Bildung’ betrachtet. Was das Geschlecht betrifft, setzt sich nach dem Zensus von 2017 (cf. Instituto Nacional de Estadística 2018) die Grundgesamtheit zu 48,9% aus Männern und zu 51,1% aus Frauen zusammen. Von den 617 TeilnehmerInnen, die Äußerungen zum Korpus beisteuerten, sind dagegen 441 Frauen und 178 Männer, was einer Verteilung von 71,5% gegenüber 29,5% entspricht. Die Geschlechterverteilung im Korpus weicht also deutlich von der Verteilung in der Grundgesamtheit ab. Hinsichtlich der Altersverteilung ergibt sich für 2017 im Vergleich Folgendes: Tabelle 8: Altersverteilung in der Grundgesamtheit und in der Studie. Altersgruppe

Anteil an der Grundgesamtheit (laut Instituto Nacional de Estadística )

Anteil der StudienteilnehmerInnen

– Jahre

,%

,%

– Jahre

,%

,%

– Jahre

,%

,%

– Jahre

,%

,%

– Jahre

,%

,%

– Jahre

,%

,%

– Jahre

,%

%

 Jahre und älter

,%

%

In Tabelle 8 wird deutlich, dass die jüngeren ChilenInnen, d. h. Personen von 15 bis 44 Jahren, in der Studie deutlich zahlreicher vertreten sind als in der Grundgesamtheit. Personen ab 45 Jahren dagegen sind in der Studie im Vergleich zur chilenischen Bevölkerung unterrepräsentiert. Damit ist der Sprachgebrauch jüngerer Personen im Korpus stärker repräsentiert als in der Grundgesamtheit. Verzerrungen der Daten zugunsten des Sprachgebrauchs der jüngeren Generation sind die Folge. Hinsichtlich des sozioökonomischen Status stehen geeignete Vergleichsdaten zur Grundgesamtheit für die Kategorien ‘Einkommen’ und ‘formale Bildung’ zur Verfügung.

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

203

In der Gegenüberstellung der Einkommensverteilung in der Grundgesamtheit und im Korpus zeigt sich Folgendes: Tabelle 9: Einkommensverteilung in der Grundgesamtheit und in der Studie. Monatliches Nettoeinkommen

Anteil an der Grundgesamtheit (laut Durán Sanhueza/Kremerman Sajilevich )

Anteil der StudienteilnehmerInnen

,%

,%

$.–$.

,%

,%

$.–$.

,%

,%

$.–$.

,%

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bis zu $.

Es fällt in Tabelle 9 auf, dass im Korpus Personen der mittleren und höheren Einkommensgruppen, d. h. Personen ab einem monatlichen Nettoeinkommen von $550.000 (umgerechnet ca. 640 Euro), deutlich stärker repräsentiert sind als in der Grundgesamtheit. Personen mit niedrigeren Einkommen machen dagegen im Korpus einen deutlich geringeren Anteil aus als in der Grundgesamtheit. Tabelle 10 verdeutlicht, dass Personen mit höheren Bildungsgraden (d. h. ab técnico de nivel superior) in der Studie deutlich häufiger vorkommen als in der Grundgesamtheit, während weniger gebildete Personen unterrepräsentiert sind. Der Unterschied fällt hier deutlich stärker aus als in der Kategorie ‘Einkommen’. Ein Vergleich hinsichtlich der Kategorien ‘Geburtsort’ und ‘Wohnort’, also der geographischen Herkunft der TeilnehmerInnen, wurde nicht vorgenommen, da die Ausführungen in Kapitel 4.1.1 zu dem Schluss geführt haben, dass (wohl) mit Ausnahme von drei kleineren Gebieten (Parinacota, Chiloé und der

204

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Tabelle 10: Verteilung der formalen Bildung in der Grundgesamtheit und in der Studie. Formale Bildung

Anteil an der Grundgesamtheit (laut Instituto Nacional de Estadística )

Anteil der StudienteilnehmerInnen

nunca asistió

,%

%

jardín infantil/sala cuna

,%

%

diferencial

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%

básica, primaria o preparatoria

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,%

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técnico de nivel superior

,%

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profesional

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magíster

,%

,%

doctorado

,%

,%

Süden der Region X sowie Cautín) in Chile nicht mit einer (starken) dialektalen Variation zu rechnen ist. Da die geographische Herkunft der TeilnehmerInnen damit nicht als einflussreich für die Variation im Korpus angenommen wird, ist sie auch für die Bestimmung der strukturellen Repräsentativität kein relevantes Merkmal. Entsprechend den Schlussfolgerungen in Kapitel 4.1.1 sollen einzig Äußerungen von TeilnehmerInnen aus Parinacota (0 Fälle), Chiloé (3 Fälle) und Cautín (3 Fälle) aufgrund ihres besonderen dialektalen Status zwar in das Korpus aufgenommen, jedoch im Hinblick auf eventuell dialektal bedingte Merkmale genauer betrachtet werden. Insgesamt ist hinsichtlich der Repräsentativität des Korpus also festzustellen, dass die TeilnehmerInnen der Studie «weiblicher», jünger, einkommensstärker und gebildeter sind, als dies in der Grundgesamtheit aller erwachsenen ChilenInnen der Fall ist, über die man eigentlich eine Aussage treffen möchte. Der Sprachgebrauch von älteren, einkommensschwächeren, weniger gebildeten und männlichen Personen ist damit im Korpus unterrepräsentiert. Die Überrepräsentanz von Frauen ist bei Untersuchungen zur Thematik sozialer Beziehungen nicht unüblich; so stellen Asendorpf/Banse (2000, zu Bindung) und Enajas (2004, zu nominalen Anredeformen in Liebesbeziehungen) in ihren Studien ähnliche Verhältnisse bei der Geschlechterverteilung fest.

4.2 Forschungsdesign und Durchführung der Untersuchung

205

Die Überrepräsentanz jüngerer Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status ist dagegen sicherlich vor allem durch den Verbreitungsweg des Links zur Teilnahme bedingt. Mit der Verbreitung über Facebookgruppen sollten zwar alle ChilenInnen möglichst gut erreicht werden und damit dieselbe Chance bekommen, Äußerungen zum Korpus beizusteuern. Allerdings wurden mit dieser Methode bereits alle Personen der Grundgesamtheit ausgeschlossen, die keine InternetnutzerInnen sind und die keinen Facebook-Account haben. Dies ist in Chile vor allem bei älteren und sozioökonomisch schwächeren Personen der Fall. Zudem erfolgte durch den offenen Aufruf zur Teilnahme eine passive Selektion der Stichprobe. So bearbeiteten verstärkt solche Personen die Aufgaben, die ein – irgendwie geartetes – besonderes Interesse an der Fragestellung hatten und sich so in bestimmten Merkmalen von der Grundgesamtheit unterscheiden (cf. auch Albert/Marx 2010, 61). Schließlich ist in Hinsicht auf die Repräsentativität des Korpus auch zu beachten, dass nicht alle TeilnehmerInnen gleich (oder zumindest ähnlich) viel Text zum Korpus beigesteuert haben. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass die einzelnen Äußerungen hinsichtlich ihrer Länge variieren; viel ausschlaggebender ist der Umstand, dass die einzelnen TeilnehmerInnen unterschiedliche Anzahlen an Äußerungen zum Korpus beigesteuert haben: Diese können von nur einer Äußerung pro Person (wenn die Erhebung nach der ersten präsentierten DCT abgebrochen wurde) bis hin zu maximal 18 Äußerungen pro Person (wenn alle untersuchten Beziehungstypen bei der Person vorlagen und sie alle DCTs bearbeitet hat) reichen. Die Abhängigkeit der Anzahl und Art der präsentierten DCTs von der Familiensituation der SprecherInnen hat zudem zur Folge, dass bestimmte Beziehungstypen im Korpus stärker durch Äußerungen repräsentiert sind als andere. So beträgt der Anteil der Eltern-Kind-Beziehung an den Äußerungen 40% (unterschieden in 27% in Richtung der Eltern und 13% in Richtung der Kinder), der Anteil der Paarbeziehung 33% und der Anteil der Geschwisterbeziehung 27% (unterschieden in 11% in Richtung der älteren und 26% in Richtung der jüngeren Geschwister). Schließlich zeigen die genannten Aspekte, dass das erhobene Korpus – wie es für sprachwissenschaftliche Untersuchungen nicht unüblich ist – nicht als repräsentativ für die Grundgesamtheit, d. h. alle erwachsenen ChilenInnen, gelten kann, sondern dass systematische Verzerrungen der Daten anzunehmen sind. Eine Generalisierung der Ergebnisse auf die Grundgesamtheit, insbesondere was Häufigkeitsverhältnisse betrifft, ist aus diesem Grund nur sehr eingeschränkt möglich. Dementsprechend sind Maße der deskriptiven Statistik (z. B. Häufigkeiten, relative Häufigkeiten, Mittelwerte, Varianz) grundsätzlich auf die Daten anwendbar, während inferenzstatistische Berechnungen wegen der mangelnden Repräsentativität ausgeschlossen sind. So eignen sich die erhobe-

206

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

nen Daten schließlich in erster Linie für die Identifikation zentraler Tendenzen des ‘intimen Sprechens’ in Chile – für den angestrebten Nachweis der Existenz eines ‘intimen Registers’ im Sinne der vorgeschlagenen (Neu-)Konzeption sind sie indes auf jeden Fall geeignet.

4.2.5 Datenanalyse Das finale Korpus besteht aus 237.181 Zeichen, 51.533 Wörtern und 6.298 Sätzen. Es wurde manuell durch die Autorin hinsichtlich intimsprachlicher Merkmale analysiert und ist in Anhang B einsehbar. Da ‘intimsprachliche’ Merkmale grundsätzlich auf allen sprachlichen Ebenen denkbar sind – welche dies sind, soll durch die Untersuchung ja gerade ermittelt werden –, wurden bei der Analyse des ‘intimsprachlichen’ Korpus alle sprachlichen Ebenen (Prosodie, Phonetik, Morphologie, Syntax, Lexik und Pragmatik) sowie die nonverbale Ebene in den Blick genommen. Verzeichnet wurden gemäß den Kapiteln 4.1.3 und 3.2.1.3 dabei ausschließlich solche Phänomene, die nicht anderweitig (d. h. als Merkmale des ‘informellen’ chilenischen Spanisch oder als universelle Merkmale ‘gesprochener Sprache’) erklärt werden konnten. Die Beobachtung, dass Merkmale des ‘informellen’ chilenischen Spanisch und universelle Merkmale ‘gesprochener Sprache’ aber durchaus zahlreich im Korpus auftreten, spricht für die Authentizität der erhobenen Daten trotz der Schriftform (cf. Kapitel 3.3.2.4) und verdeutlicht auch die Nachbarschaft des ‘intimsprachlichen’ zum ‘informellen Register’ (cf. Kapitel 3.2.1.2). Die Äußerungen von Personen aus Chiloé (3 Fälle) und Cautín (3 Fälle) wiesen trotz ihres augenscheinlich besonderen dialektalen Status (cf. Kapitel 4.1.1) keine Auffälligkeiten auf und wurden daher in der Analyse mit den weiteren Äußerungen gemeinsam betrachtet. Die insgesamt 305 Antworten auf die offenen Fragen nach typischen verbalen und nonverbalen Merkmalen ‘intimen Sprechens’, die in Block 3 des Erhebungsinstrumentes gestellt wurden (cf. Kapitel 4.2.2), wurden gesondert ausgewertet, indem sie vereinheitlicht und geclustert wurden. Für jedes beobachtete Phänomen im Korpus wurde ein eigener Kode etabliert, der für alle Vorkommen des Phänomens wiederverwendet wurde. Der Kodierung kamen mehrere Funktionen zu: «Coding means naming segments of data with a label that simultaneously categorizes, summarizes, and accounts for each piece of data» (Charmaz 2014, 111). Mit der Vergabe eines Kodes wird ein bestimmtes Phänomen also nicht nur standardisiert verzeichnet und damit auszählbar gemacht, sondern der Verzeichnung geht immer die Belegung einer bestimmten Zeichenkette mit einer bestimmten Kategorie voraus. Die Entscheidung, welche Kategorien dafür verwendet werden und welcher Kategorie ein

4.3 Ermittelte Merkmale ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles

207

bestimmtes Phänomen zugeordnet wird, stellt dabei immer eine Interpretation seitens der analysierenden Person dar und ist damit zwangsläufig zu gewissem Grade subjektiv:84 «[A]n analysis typically represents one choice among a variety of plausible analyses. To some extent the choice between the two options […] can be seen as arbitrary – that is, choosing either interpretation is fine, as long as this choice is made consistently» (McEnery/Hardie 2012, 32; ebenso Perkuhn/Keibel/Kupietz 2012, 61). Entscheidend für die Qualität der Ergebnisse ist also vor allem, dass das Analysevorgehen konsistent ist, was mittels der Etablierung und Wiederverwendung von Kodes für ein und dasselbe Phänomen erreicht werden sollte.

4.3 Ermittelte Merkmale ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles Es sind im Korpus ‘intimsprachliche’ Phänomene auf allen sprachlichen Ebenen, also Phonetik, Morphosyntax, Lexik, Pragmatik sowie auch auf der paraverbalen und nonverbalen Ebene, feststellbar. In den folgenden Kapiteln werden alle Ebenen in der genannten Reihenfolge mit den jeweils dazugehörigen Merkmalen behandelt. Zu beachten ist dabei, dass in der Regel die entsprechenden Phänomene nicht isoliert auftreten, sondern kombiniert. Da ‘intimes Sprechen’ auf Basis der ‘intimen Beziehung’ und der ‘intimen Situation’ definiert wurde und das Forschungsdesign entsprechend gestaltet wurde, sind auch viele Äußerungen im Korpus enthalten, die auf der formalen Ebene keine sprachlichen Auffälligkeiten aufweisen. Dies kann einerseits darin begründet liegen, dass die sprachlichen Besonderheiten in den Daten aufgrund der Schriftform nicht repräsentiert sind, was insbesondere für phonetische und prosodische Merkmale anzunehmen ist. Ebenso gut möglich ist, dass der mittels der visuellen Stimuli gegebene nonverbale Kontext bereits genügte, um die Kommunikation ‘intim’ zu machen, sodass auf der verbalen Ebene keine weiteren besonderen Merkmale mehr produziert wurden.

84 Somit geht auch der erzielten quantitativen Auswertung zwangsläufig immer eine Analyse voran, die als qualitativ, da interpretativ, zu charakterisieren ist.

208

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

4.3.1 Phonetische Ebene Wie in Kapitel 3.3.2.4 bereits ausgeführt wurde, ist die phonetische Ebene aufgrund der Schriftform der Erhebungsmethode nur sehr eingeschränkt in den erhobenen Daten abgebildet – denn zur Wiedergabe phonetischer Besonderheiten in schriftlicher Form müssen die SprecherInnen in einem ersten Schritt wissen, dass sie ihre Aussprache modifizieren; in einem zweiten Schritt müssen sie einen Weg finden, diese Modifikation mit Mitteln des ihnen zur Verfügung stehenden Alphabets umzusetzen; und schließlich müssen sie bereit sein, in einer wissenschaftlichen Untersuchung eine nicht normkonforme Graphie zu produzieren. All dies hat zur Folge, dass bewusste Abweichungen von der Orthographie im vorliegenden Korpus nur in sehr eingeschränktem Maße repräsentiert sind. Dies betrifft z. B. die Graphien statt für den Laut [t ʃ]͡ und statt für den Laut [k]. Diese Abweichungen von der Orthographie repräsentieren allerdings keine Abweichungen von der Standardaussprache. Die Aussprache bleibt (soweit man dies beurteilen kann) unverändert, lediglich die Graphie wird in beiden Fällen von zwei Buchstaben auf einen Buchstaben verkürzt. Bei beiden Realisierungsformen handelt es sich um Traditionen, die sich für das Spanische im Rahmen der Verbreitung digitaler Kommunikationsformen (z. B. SMS, Chat) herausgebildet haben und dort häufig anzutreffen sind. Die entsprechenden Fälle bieten also keine Anhaltspunkte für ‘intimsprachliche’ Phänomene auf der Ebene der Phonetik. In einer Reihe weiterer Fälle sind im Korpus allerdings orthographische Abweichungen zu finden, die sich offenbar tatsächlich auf Aussprachemodifikationen beziehen. Unter diesen Fällen finden sich einige, die Merkmale des ‘informellen’ chilenischen Spanisch darstellen (z. B. die Elision von intervokalischem /d/ in Mi pelaito [< peladito] lindo, 2634_1, oder die Elision von silbenfinalem /s/ in Yaaa mami tranquilita noma [< no más85] que aca vamo [< vamos] a estar con usted, 1083_9). Eine kleinere Gruppe von Fällen lässt sich dagegen nicht auf diese Weise erklären und scheint damit spezifisch ‘intimsprachlich’ zu sein. Das Datenmaterial bietet damit trotz der begrenzten Zahl an Fällen einige Anhaltspunkte zur phonetischen Ebene ‘intimen Sprechens’ in Chile, für die im tatsächlichen Sprachgebrauch von einer stark erhöhten Auftretenshäufigkeit auszugehen ist. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden. Aufgrund der geringen Aussagekraft der Fallzahlen erfolgt dabei anders als bei den Phänomenen der weiteren sprachlichen Ebenen (cf. Kapitel 4.3.2 bis 4.3.4) keine

85 Chilenismus für ‘nur, einfach’ (Oroz 1966, 353; Kany 1969, 367; Rabanales 1981, 451; 1992, 571; Kluge 2005a, 432; DRAE 2019, s. p.).

4.3 Ermittelte Merkmale ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles

209

Angabe der Auftretensfrequenzen, sondern stattdessen eine vollständige Auflistung aller verzeichneten Fälle. Diese lassen sich zwei Phänomengruppen zuordnen: 1. der Imitation kindlicher Aussprache (cf. Kapitel 4.3.1.1) und 2. der Palatalisierung (cf. Kapitel 4.3.1.2). 4.3.1.1 Imitation kindlicher Aussprache Bei der ersten Gruppe von Fällen lassen sich verschiedene Muster beobachten, die für die Sprachentwicklung von Kleinkindern typisch sind. Tabelle 11: Reduplikation im Korpus. Reduplikation Beispiele aus dem Korpus

Guiguigui ñami ñami ñami aprrrrr guaguito mío chuik chuik (_) mimita [< Mimita < Miriam]!!!!!! (_) Pucha Mimi [< Miriam], como estai? (_)

Beispiele aus den Antworten auf Añuñui (_) die offenen Fragen ñuñuñuñ (_)

Die in Tabelle 11 verzeichnete Reduplikation bildet, insbesondere in der Form CVCV, die erste Phase des kindlichen Spracherwerbs und stellt den Übergang vom reinen Gebrabbel eines Babys hin zu den ersten sprachlichen Lauten (Lallwörter, z. B. dt. Mama und Papa) dar (Johnson/Reimers 2010, 2). In den Fällen 6139_27, 1850_36 und 978_21 scheint eine Imitation des kindlichen Gebrabbels in Form von Reduplikationsformen vorzuliegen, da sich den entsprechenden Bildungen keine sprachliche Bedeutung zuweisen lässt.86 Bei Mimi handelt es sich um eine nominale Anredeform, die mittels Reduplikation wahrscheinlich vom Vornamen Miriam abgeleitet wurde. In den Listen der chilenischen Hypokoristika bei Lenz (1920), Rabanales (1958; 1981; 1992), Oroz (1966) und Gutiérrez Santana (2009) ist die Form nicht aufgeführt; die Bildung scheint in Chile also nicht fixiert zu sein. Besonders in der Frühphase des Spracherwerbs fallen bei Kindern oft ganze Silben aus, wobei es sich sowohl um Aphärese als auch um Apokope handeln kann (Johnson/Reimers 2010, 8). Die ermittelten ‘intimsprachlichen’ Beispiele im

86 Einzig chuik chuik in der Äußerung 6139_27 ist keine Lautnachahmung eines Babys, sondern eine in Chile verbreitete Onomatopoesie für ‘Kuss’ (Campusano 2003, s. p.).

210

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

Tabelle 12: Silbenausfall im Korpus. Silbenausfall Beispiele aus dem Korpus

Que rico el yayuno [< desayuno] (_) hooola manita [< hermanita] ninda [< linda]!! [beso] (_) Muchas gracias mano [< hermano]! (_) Nana [< enana] cómo estas mi negrita? (_) manita [< hermanita] como te sientes, tu quieres volver? (_) Felicidades manitoo [< hermanito] arrepientete, naa broma, exitoo nomas jajaja (_)

Beispiele aus den Antworten auf die offenen Fragen

Que ta chendo [< haciendo]?? (_)

chilenischen Korpus, in denen dieses kindersprachliche Muster imitiert wird, weisen allerdings ausschließlich den Ausfall der ersten Silbe, also Aphärese, auf (cf. Tabelle 12). Tabelle 13: Prothese im Korpus. Prothese

Beispiele aus den Antworten auf die offenen Fragen

apoque? [< ¿por qué?] (_)

Ebenfalls typisch für die Frühphase des Spracherwerbs ist die Prothese von Lauten. Es kann sich bei den vorangestellten Lauten grundsätzlich um verschiedene Laute handeln; besonders häufig ist aber [ɑ]-, da dieser Laut besonders früh erlernt wird (Johnson/Reimers 2010, 11). Im ‘intimsprachlichen’ Korpus findet sich als Imitation dieses Verfahrens nur ein Beispiel, und zwar apoque? [< ¿por qué?] (5348_38) (cf. Tabelle 13). Wenn ein Kleinkind mit einer Struktur konfrontiert wird, die es noch nicht realisieren kann, gibt es neben der Reduplikation, dem Ausfall und der Prothese noch ein weiteres Verfahren, mit dem es dieser Herausforderung begegnet. So ersetzt es häufig diejenigen Laute in der Zielform, die es noch nicht beherrscht, durch bereits erlernte (Johnson/Reimers 2010, 13; cf. Tabelle 14). Was die Vokale

87 Cf. FN 85.

4.3 Ermittelte Merkmale ‘intimen Sprechens’ im Spanischen Chiles

211

Tabelle 14: Ersetzung von später erlernten Lauten durch früher erlernte im Korpus. Ersetzung von später erlernten Lauten durch früher erlernte

Beispiele aus dem Korpus

esta llico [< rico]? (_) Venga para acá mi cositoo llico [< rico] (_) Awww mi goldis [< gordis] rica q cosa más linda, muchas gracias, eres lo mas lindo del mundo!! (_) Pellito [< perrito] mío, sana sana potito de rana (_) Mi pellita [< perrita], vengase, acurruquese en mi alma (_) hooola manita [< hermanita] ninda [< linda]!! [beso] (_) Gracias Lushis [< Luchis], me gustó mucho como quedo el jardin pero ten cuidado cuando hagas cosas, no fuerzes tanto tu espalda (_) Te amuuuu [< amo] (_)

Beispiele aus den Antworten auf die offenen Fragen

mamo [< vamos] a dolmil [< dormir] calentitoo los dos (_) mumir [< dormir] (_) yo qello [< quiero] estar contigo (_)

betrifft, lernt ein Kind in der Regel zuerst [ɑ], danach [i] und dann [u] (BoydBowman 1955, 345–348; Jakobson 1969, 105–111; Costenla Umaña 1982, 12). Die ‘intimsprachlichen’ Bildungen Te amuuuu [< amo] (4190_1) und mumir [< dormir] (1083_20) scheinen diese Phase nachzubilden. So wird jeweils [o], das in den Zielwörtern auftritt, als [u] realisiert. Bei den Konsonanten lernt ein Kind in der Regel zuerst Nasale und stimmlose Okklusive, und zwar üblicherweise in der Reihenfolge, die der Verschiebung des Artikulationsortes nach hinten entspricht. So beherrscht es zuerst die bilabialen Laute [m] und [p], dann die dentalen Laute [n] und [t] und erst später die velaren Laute [ŋ] und [k]. Die stimmhaften Entsprechungen der Okklusive erscheinen jeweils etwas zeitversetzt. Den Nasalen und Okklusiven folgen im Spracherwerbsprozess die Frikative, dann die Affrikaten, dann die Laterale und Halbvokale und schließlich die Vibranten. Auch hierbei werden die weiter vorne gebildeten Laute in der Regel vor den weiter hinten ge-

212

4 Empirische Untersuchung an einem Korpus aus dem chilenischen Spanisch

bildeten Lauten beherrscht (Boyd-Bowman 1955, 345–348; Jakobson 1969, 105–111; Costenla Umaña 1982, 12; Johnson/Reimers 2010, 10–12). Auch was die Konsonanten betrifft, entsprechen die Aussprachemodifikationen im ‘intimsprachlichen’ Korpus aus Chile diesen einzelnen Spracherwerbsphasen des Kleinkindes. So findet sich mehrfach die Ersetzung des spät erlernten [ɾ] durch früher erlernte Laute wie [j] oder [l] (z. B. llico, goldis, pellito, dolmil, quello).88 Auch die Ersetzung des alveolaren Laterals [l] durch den dentalen Nasal [n] in ninda sowie die der Affrikate [tʃ]͡ durch den Frikativ [ʃ] in Lushis entsprechen der Realisierung eines früher erlernten an Stelle eines später erlernten Lautes. Analoge Lautersetzungen stellen Bombar/Littig Jr. (1996, 146) im Gespräch unter Liebespaaren auch für das Englische fest, so z. B. die Bildungen I wuv you [< I love you] oder pweeze [< please]. Tabelle 15: Reduktion von Vokal- und Konsonantengruppen im Korpus. Reduktion von Vokal- und Konsonantengruppen

Beispiele aus dem Korpus

Pobechito [< pobrecito], ya se va a poner bien. [beso] (_) Abachooo [< abrazo] (_) Gracias godito [