Parlamentsarchitektur: Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses [1 ed.] 9783428483808, 9783428083800

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Parlamentsarchitektur: Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses [1 ed.]
 9783428483808, 9783428083800

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 31

Parlamentsarchitektur Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses Von

Heinrich Wefing

Duncker & Humblot · Berlin

Heinrich Wefing • Parlamentsarchitektur

Beiträge zum Parlaments recht Herausgegeben von Werner Kaltefleiter, U1rich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joacllim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen

Band 31

Parlamentsarchitektur Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses

Von

Heinrich Wefing

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Wefing, Heinrich: Parlaments architektur : zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken ; eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses / von Heinrich Wefing. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 31) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08380-6 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-08380-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Aus welchen Ursprüngen der Bau eines Parlamentes gestaltet werden soll, ist primär eine politische und erst sekundär eine architektonische Frage. AdolfArndt

Vorwort Lange vor dem ersten Gedanken an die nun vorliegende Arbeit stand der Wunsch, Architekt zu werden. Er blieb aus mancherlei Gründen unerfüllt. Ich entschied mich stattdessen nach einern kurzen Ausflug in die Kunstgeschichte für ein rechtswissenschaftliches Studium in Bonn und Freiburg. Gerade während der Bonner Zeit aber, in unmittelbarer Nähe der Bauvorhaben von Parlament und Regierung, wuchs die Neugierde auf die Beziehungen zwischen Architektur und Politik in einer parlamentarischen Demokratie, und es entstand die Idee, dieser Fragestellung in einer Dissertation nachzugehen. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Professor Dr. Dietrich Murswiek schon dafür verpflichtet, daß er das unorthodoxe Projekt zur Betreuung angenommen hat. Ihm schulde ich auch Dank für die Freiheit, die er mir bei der Bearbeitung ließ, sowie für Unterstützung und Zuspruch, die jeweils zum richtigen Zeitpunkt Klippen umschiffen halfen. Herrn Professor Dr. Thomas Würtenberger danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens, Herrn Professor Dr. Ulrich Karpen für die Aufnahme meiner Arbeit in die von ihm geschäftsführend herausgegebene Schriftenreihe. Diese Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen gefördert. Bedanken möchte ich mich bei allen Mitarbeitern des Instituts, namentlich bei Herrn Professor Detlef Hoffmann, dem Leiter der Arbeitsgruppe "Ästhetische Inszenierung der Demokratie", in deren Rahmen ich Teile meiner Dissertation zur Diskussion stellen konnte. Mein Dank gilt des weiteren Herrn Professor Dr. Helmut Quaritsch von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, von dem ich wichtige Anregungen erhielt und der mir umfangreiches eigenes Material zum Thema "Selbstdarstellung" überließ. Zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin folgenden Personen und Institutionen: Herrn Prof. Dr. Christoph Stölzl vorn Deutschen Historischen Museum Berlin; Frau Carola Franke-Höltzerrnann und Herrn Christian Kandzia aus dem Archi-

8

Vorwort

tektenbüro Behnisch und Partner in Stuttgart; dem Bonner Bundeskanzleramt, dort speziell Herrn Pitzen; der Bundesbaudirektion in Berlin und Bonn; der Bibliothek des Deutschen Bundestages; Herrn Albrecht Gärtner von der Verwaltung des Sächsischen Landtags in Dresden, der mich durch den schönen Neubau des Sächsischen Landtages führte, sowie nicht zuletzt Herrn Professor Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot. Schließlich danke ich allen Freiburger, Hamburger, Bonner und Berliner Freunden, die auf die eine oder andere Weise zur Entstehung und zum Abschluß dieser Arbeit beigetragen haben, vor allem Hubertus von Poser und Martin Weber, sowie ganz besonders Wiebke Tens für Ratschläge, Rücksicht und ihre nie nachlassende Geduld mit "Pathos und Pavillons". Wichtig war all diese Unterstützung. Kein Wort aber wäre letztlich möglich gewesen ohne meine Eltern. Ihnen widme ich daher diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit. Berlin, im Januar 1995 Heinrich Wefing

Inhaltsverzeichnis

Einleitung... ................... ..... ................... ..... ....... ..... ....... ..... ....... ..... ....... ..... ....... .......

17

Erster Teil Selbstdarstellung des Staates

A.

Begriff Selbstdarstellung ...................................................................................

20

I. Wortsinn .................................................................................................

21

11. Selbstdarstellung des Staates - Begriffsbestimmungen in der staatstheoretischen Literatur .. ... ......... ..... ....... ..... ..............................

22

1. Begriffsbestimmung bei Herbert Krüger '" ... ....................................

22

2. Begriffsbestimmung bei Helmut Quaritsch ......................................

24

III. Der Begriff der Selbstdarstellung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts...............................................................

25

1. BVerfGE 12, 205 - "Deutschland-Fernsehen-GmbH" ......................

26

2. BVerfGE 81, 278; 81, 298 - Verunglimpfung von Staatssymbolen ... ........................ ....... ... ..... .... ........ ....................................

29

3. BVerfGE 44,125 - Unzulässige Wahlwerbung................................

32

IV. Exkurs: Der Begriff der "Staatspflege" bei Herbert Krüger ....................

33

1. Wesen des Staates bei Krüger...........................................................

33

2. "Staatspflege" ....... ............................................. ...............................

34

3. Kritik und Abgrenzung.....................................................................

37

V. Exkurs: SeHlStdarstellungstheorien in Sozialpsychologie und Soziologie........................................................................................................

39

10

B.

Inhaltsverzeichnis 1. Selbstdarstellung als Analogie zum Bühnenschauspiel: Erving Goffman. ....... ........................ ..... ....... ..... ....... ........................

40

2. Selbstdarstellung von Gruppen.........................................................

42

3. Selbstdarstellung als "Impression-Management" ..............................

43

VI. Zwischenergebnis .... ..... ... .... ... ............................... .................................

44

Beispiele staatlicher Selbstdarstellung ............ ............ ..... ..... ....... ................. .....

45

I. Assoziative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel der Staatssymbole ... ..... ..... ..... .... ..... ....... ..... .......... ....... ..... ....... ....... ....... .......

46

11. Informative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel amtlicher Öffentlichkeitsarbeit .....................................................................

52

Selbstdarstellung des Staates - "Beteiligte" ........................................................

56

I. Gleichzeitigkeit von Subjekt- und Objektqualität? Der Staat als Darsteller und Gegenstand der Darstellung .......................... ........................

56

1. Der Staat als "Darsteller" ... ............................................................ ...

56

2. Staat als Gegenstand der Selbstdarstellung.......................................

59

11. Adressaten staatlicher Selbstdarstellung .................................................

61

D. Staatliche Selbstdarstellung und Integration........................................................

64

E.

68

C.

Zusammenfassung: Selbstdarstellung des Staates..............................................

Zweiter Teil Architektur als Mittel der SelbstdarsteUung des Staates

A.

Zum Verhältnis von Politik und Architektur ......................................................

70

B.

Architektur als Integrationsfaktor ...... ..... ..... ............ ............ ..... .. .......................

73

Inhaltsverzeichnis

11

Dritter Teil Das Beispiel Bundeshaus Bonn Elemente einer architektonischen Selbstdarstellung der Demokratie in der Bundesrepublik

A.

B.

C.

Voraussetzungen................................................................................................

76

I. Parlamentsbauten in Deutschland......... ........................ ....... ..... ....... ... ....

77

11. Zur Bedeutung der Architektur im Nationalsozialismus für die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik ..........................

82

111. Ausgewählte Bauwerke für Verfassungsorgane und andere der Selbstdarstellung der Bundesrepublik dienende Gebäude .......................

89

1. Weltausstellungspavillons Brüssel....................................................

91

2. Kanzlerbungalow Bonn .............. .......... ................. ....... .....................

94

3. Bundesverfassungsgerichtsgebäude Karlsruhe ...... ........ .............. .....

97

4. Olympiagelände München................................................................

99

5. Die Zeit von 1972 bis 1992..............................................................

101

Das Bonner Bundeshaus ....................................................................................

103

I. Baugeschichte 1930-1992.......................................................................

105

11. Baubeschreibung ....................................................................................

110

Versuche einer Übersetzung von Strukturmerkmalen der Demokratie in Architektur - Das Parlament im Glashaus: Transparenz und Öffentlichkeit...... 114 I. Das Öffentlichkeitsprinzip des Art. 42 I 1 GG ........................................ 117

11. Wörtliches Verständnis der Glasarchitektur............................................ 118 111. Transparenz als Metapher .......................................................................

120

1. Arkanum versus Transparenz: Der Öffentlichkeitsmythos ........ ....... 121

2. Der gläserne Traum - Glas als Architektur-Metapher ....................... 123

12

Inhaltsverzeichnis

IV. Kritik an der architektonischen Selbstdarstellung als Variante der Parlamentarismuskritik ............ ...............................................................

125

V. Konzepte einer Theorie der Parlamentsdebatte ....................................... 126 1. Kreationstheorie ...............................................................................

127

2. Legitimationstheorie.........................................................................

128

VI. Auswirkungen auf die Interpretation der architektonischen Selbstdarstellung des Parlamentes - Reden zum Fenster hinaus ............................ 128 VII. Exkurs: Probleme einer Fortführung der Transparenz-Metaphorik beim geplanten Umbau des Berliner Reichstages ................................... 131 D.

Versuche einer Übersetzung von Strukturmerkmalen der Demokratie in Architektur - Die Sitzordnung als Element einer architektonischen Selbstdarstellung des Parlamentes...............................................................................

135

I. Typen von Sitzordnungen .......................................................................

136

1. Der "französische" Typus .................................................................

136

2. Das britische Unterhaus........ ............ ........ ................ ............ ............

138

3. Kreisrunde Sitzordnungen ................................................................

142

11. Exkurs: Sitzordnung und Verfassung......................................................

145

III. Auswirkungen der Sitzordnung auf Procedere und Atmosphäre der parlamentarischen Verhandlung. Zwei Beispiele.................................... 147 1. Das Beispiel des britischen Unterhauses .......................................... 148

2. Die Sitzordnung in Legislativkörperschaften des deutschen Vormärz als Instrument landesherrlicher Macht ..................................... 149

E.

IV. Die Sitzordnung als Symbol...................................................................

152

1. Der Deutsche Reichstag Berlin.........................................................

153

2. Das britische Unterhaus...... .......................... ....................................

159

V. Zwischenergebnis ...................................................................................

161

Die Debatten um die Sitzordnung im Deutschen Bundestag zwischen 1948 und 1992 .........................................................................................................

162

InhaltsvelZeichnis

I. Die Auseinandersetzung zwischen Adenauer und Schwippert um eine kreisförmige Sitzordnung 1948/49..........................................................

13

163

11. Umgestaltung nach britischem Vorbild 1961? ........................................ 168 III. Die Debatte um den Kreis 1972-1992..................................................... 173 F.

Die kreisrunde Sitzordnung - "Ein Stück gebaute Verfassung" ......................... 184 I. Ausgangspunkte: Reichstag und Unterhaus als Idealtypen .. ......... ... ....... 186

11. Zum Symbolgehalt des Kreises...............................................................

189

III. Das Problem der visuellen Integration des Bundesrates.......................... 191 IV. Die kreisrunde Sitzordnung als Symbol kooperativer Staatsleitung........ 193

Vierter Teil Zusammenfassung und AusbUck: Pathos statt PaviUons?

196

Die architektonische Selbstdarstellung der BundesrepubUk vor einem Umbruch

Literaturverzeichnis ......... ....... ................. ....... ..... ....... ..... ....... ..... ....... ..... ....... ........

205

Abbildungsveneicbnis 1

2

Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. Foto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin. .... ........................ ... ......... ... .....

78

Albert Speer, Neue Reichskanzlei Berlin, 1939: Ein häufig zitiertes Beispiel zur Gleichsetzung von neoklassizistischer Architektur und totalitärer Herrschaft. Foto: Landesbildstelle Berlin. .........................................

85

Mies van der Rohe, Deutscher Pavillon auf der Ausstellung in Barcelona 1928/29. Foto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin. ..................................

90

Egon Eiermann und Sep Ruf, Deutsche Pavillongruppe auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel. Foto: Bundesbildstelle Bonn. .....................................

93

5

Sep Ruf, Kanzlerbungalow Bonn. Foto: Bundesbildstelle Bonn. .......................

95

6

Paul Baumgarten, Gebäude für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 1969. Foto: Landesbildstelle Baden. ..................................................................

97

Günter Behnisch, Querschnitt durch das Olympiagelände München, 1972. Abbildung: Büro Behnisch. ...............................................................................

100

3

4

7

8

Lageplan Bundeshaus Bonn. Abbildung: Büro Behnisch. ................................. 104

9

Bundeshaus Bonn: Grundriß Plenarsaalebene, Maßstab 1:1000. Abbildung: Büro Behnisch. ...............................................................................

110

10

Eingangsbauwerk an der GÖrresstraße. Foto: Kandzia. ..................................... 111

11

Blick in den Plenarsaal. toto: Kandzia. .. ..... ............ ..........................................

12

Querschnitt durch den Plenarsaal. Abbildung: Büro Behnisch. ......................... 114

113

AbbildungsvelZeichnis 13

15

Blick aus einem der Umgänge in den Plenarsaal und durch diesen hindurch. Rechts eine gläserne Außenwand. Foto: Kandzia. ............................................. 117

14

Draußen vor der Glaswand: Zuschauer der konstituierenden Sitzung des

1. Deutschen Bundestages auf einer provisorischen Tribüne außerhalb des Plenarsaals. Foto: Bundesbildstelle. ....... ..................................................... 15

119

Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes nach der Umgestaltung durch Paul Baumgarten 1969. Foto: Landesbildstelle Berlin. ...................................... 132

16

Sir Norman Foster, Wettbewerbsentwurfzum Umbau des Reichstages, 1993. Foto: Landesbildstelle Berlin. ............................................ ................................

17

134

Palais Bourbon: Die französische Nationalversammlung während einer Debatte. Foto: Assemblee Nationale, Paris. ....................................................... 138

18

Das britische Unterhaus während einer Debatte: Die politischen Lager in direkter Konfrontation. Foto: Außenministerium London, London Pictures Service. .......................... ....................................................................................

19

Peter Kulka, Neuer Plenarsaal des Sächsischen Landtages in Dresden. Foto: Schöner. ...................................................................................................

20

139

144

Paul Wallot, Grundriß Deutscher Reichstag Berlin. Im Zentrum der Plenarsaal mit der fächerfärmigen Sitzordnung. Abbildung: Landesbildstelle Berlin. ........ 153

21

Paul Wallot, Reichstagsgebäude Berlin, 1894. Abbildung: Landesbildstelle Berlin.................................................................................................................

22

Hans Schwippert, Ideenskizze für die Innenraumgestaltung des Plenarsaals mit kreisrunder Sitzordnung, 1948. Abbildung: Architekturmuseum der TU München ....................... :........................................................................

23

164

Behnisch & Partner, Bundesbauten in Bonn, Wettbewerbsentwurf 1974. Abbildung: Büro Behnisch. .................. .............................................................

24

156

176

Günter Behnisch, Grundriß des Plenarsaals des Deutschen Bundestages in Bonn. Abbildung: Büro Behnisch ............................................ ".......................

185

16 2..')

26

AbbildungsvelZeichnis

Plenarsaal Bonn: Unter dem Adler das Kreissegment des Bundestagspräsidiums, links davon die Plätze der Bundesregierung, rechts der Bundesrat. Foto: Kandzia. ................................................................................................... Günter Behnisch, Ski2Zierter Blick über den Neubau des Plenarbereichs in der parkartigen Umgebung des Bonner Regierungsviertels. Abbildung: Büro Behnisch. ...........................................................................................................

27

28

29

194

19]

Karl Friedrich Schinkel, Neue Wache Berlin. Einweihung als Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland, 14. November 1993. Foto: Landesbildstel1e Berlin. ... ......... ... ..................................................... ........

199

Fassadenfolie des Berliner Stadtschlosses, 1993. Foto: Landesbildste\le Berlin.................................................................................................................

201

Reichstagsgebäude Berlin, Zustand 1993. Foto: Landesbildste\le Berlin ........... 203

Einleitung Der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat kann die Voraussetzungen seiner Existenz nicht garantieren) Er lebt nach einer Fonnulierung Max Webers vielmehr allein von der Chance, für seine Anordnungen Befolgung zu finden2, und ist daher darauf verwiesen, den erforderlichen Grundkonsens seiner Bürger wenigstens anzuregen und zu fördern. Dazu muß der Staat ebenso wie jede andere soziale Organisation sein Dasein, seine Ziele und Zielverwirklichungen "dauernd vorweisen, um sich gegenüber Mitgliedern und Umwelt als sinnvoll, vertrauenswürdig und erfolgreich zu präsentieren"3. Ein Teil dieser Selbstdarstellung des Staates ist die ästhetische Inszenierung seiner sinnlich wahrnehmbaren "Schauseite", die von Elementen wie den flaggen und Wappen, den politischen Zeremonien und nicht zuletzt auch den öffentlichen Bauwerken geprägt wird. Die "sachliche Integration" Rudolf Smends 4 eröffnet insofern ein Verständnis der staatlichen Architektur als Integrationsfaktor und damit als Instrument staatlicher Selbstdarstellung: Architektur als Teil eines Kommunikationsprozesses, der Sinn konstituiert. Diese Überlegung fonnulierte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes durch den bulgarisch-amerikanischen Künstler Christo dahingehend, "daß die staatliche Gemeinschaft nicht nur durch ein System perfektionierter Rechtsnonnen oder ... Sozialleistungen zusammengehalten wird; sondern daß diese Gemeinschaft vor allem auch durch Institutionen, ... zusammengehalten wird .... Und dies hat auch mit den Bauwerken zu tun, die diese Institutionen beherbergen: Ihr Bild prägt sich den Menschen ein, und so verkörpern sie diese Institutionen, repräsentieren sie nach außen."s

1 Vgl. dazu Böckenförde, Säkularisation, 2 Weber, Wirtschaft, S. 28.

S. 92.

3 Quaritsch, Probleme, S. 10. 4 Vgl. Smend, Verfassungsrecht, S. 160 ff. S

Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.1994.

2 Wefing

18

Einleitung

Noch weitergehende Erwartungen hegte die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, als sie am 30. Oktober 1992 den neuen Plenarbereich des Deutschen Bundestages mit den Worten eröffnete: "Dieses Parlamentsgebäude beansprucht mehr als die architektonische Umsetzung parlamentarischer Funktionen. Es will selbst ein bestimmtes Demokratieverständnis zum Ausdruck bringen."6 Tatsächlich wurde der von den Architekten Günter Behnisch und Partner entworfene Neubau in den publizierten Reaktionen der Öffentlichkeit sofort als Symbol für die Verfassung der Republik gelesen) Der Kritiker der 'Zeit' etwa schrieb, in dem Bonner Bau werde "Architektur zum politischen Ereignis .... Hier endlich [ist] die symbolische Form gefunden, die zwanglos auf den Inhalt schließen [läßt]: die Vollendung der Bonner Demokratie."8 Und der SPD-Abgeordnete Peter Conradi, der an den jahrelangen Planungen entscheidend beteiligt war, meinte: "Über die Grenzen Deutschlands hinaus wird dieser Bau ein gutes Bild unserer Demokratie vermitteln."9 Das Parlamentsgebäude also als entscheidendes Element architektonischer Selbstdarstellung des Staates. Unter der Überschrift "Demokratie als Bauherr"!O führen Politiker, Kunsthistoriker und Architekturtheoretiker seit Jahren eine Diskussion über die Frage nach der angemessenen architektonischen Form der baulichen Unterbringung des Deutschen Bundestages und anderer Verfassungs organe in Bund und Ländern.!! Politikwissenschaftler nehmen an dieser Debatte allenfalls vereinzelt teil, und die Staatstheorie schweigt dazu beinahe völlig, ebenso wie zu der all-

12. BTag, StenProt., S. 9844. Vgl. Schulz, in: Tagesspiegel, 30.10.1992: "Das Gebäude lädt zur Identifikation, aber es ist ein modernes Westdeutschland, das im neuen Hauptstadt-Bonn seine Identität findet. Die Leichtigkeit, Weltoffenheit, die Zivilität, die Behnischs Plenargebäude verkörpert, sie müssen ihre Dauerhaftigkeit in den Spannungen der deutschen Vereinigung erst noch erweisen"; Cross, in: FAZ-magazin, 6.11.1992: "En Monument der Ideale der sechziger, der siebziger Jahre, der alten Bundesrepublik"; Mönninger, in: FAZ, 21.10.1992: "Was diesem Bundestag fehlt, ist jeder Anflug von Geschichtlichkeit. Er stellt immer noch das rein Transitorische der alten Bundesrepublik dar"; Sayah, in: Baumeister 12/1992, S. 43: "... hier ist dem Staat ... ein Haus entstanden, von dem man innig wünscht, es möge tatsächlich den Zustand der deutschen Demokratie widerspiegeln". 8 Hartung, in: Die Zeit, 26.2.1993. 9 Conradi, in: Stuttgarter Zeitung, 31.10.1992. 10 So der Titel eines Vortrages von Adolf Arndt aus dem Jahre 1960, der noch heute die Diskussion über Architektur und Politik maßgeblich beeinflußt, vgl. Arndt, Bauherr. 11 Vgl. zuletzt den Sammelband zur Einweihung des Plenarsaalneubaus Flagge/Stock, Architektur. 6

7

Einleitung

19

gemeineren Frage nach der Selbstdarstellung des Staates12, obwohl diese unmittelbar "in die Tiefenschichten des Verfassungsstaates"13 hineinführt. Die vorliegende Arbeit wird sich vor dem Hintergrund dieses Deflzites zunächst der Frage nach Begriff, Funktionen und Beispielen der Selbstdarstellung des Staates in der Demokratie zuwenden, um daran anschließend zu versuchen, Fragen der Staatstheorie mit solchen der Architekturtheorie zusammenzuführen. Dazu sollen im wesentlichen diejenigen heiden prägenden architektonischen Elemente des Bonner Plenarsaal-Neubaus auf ihren mitteilbaren Inhalt hin untersucht werden, die vor allem für die Selbstdarstellung der Bundesrepublik und ihres Parlamentes in Anspruch genommen werden: Die neue kreisförmige Sitzordnung, die als Visualisierung der Überwindung des Gegenübers von Parlament und Regierung interpretiert wird, sowie die gläserne Transparenz als Übersetzungsversuch des Prinzips der Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten.

12 VgJ. aber Quaritsch, Probleme; und ders., Selbstdarstellung. VgJ. auch Ganger/ Stagl, Staatsrepräsentation. 13 Häberle, in: DÖV 1990, S. 989. 2*

Erster Teil

Selbstdarstellung des Staates "Es läßt sich bis heute nichts finden, was einer 'Theorie der staatlichen Selbstdarstellung' auch nur ähnelte, es fehlt schon eine Schilderung ihrer Erscheinungsformen", stellte Helmut Quaritsch 1977 fest.! Daran hat sich auch mehr als fünfzehn Jahre später nichts geändert, wie der Blick auf die wenigen Versuche einer Begriffsbestimmung deutlich macht.2 Eine Untersuchung der architektonischen Selbstdarstellung des Staates in der Bundesrepublik kann an diesem Befund nicht vorbeigehen. Sie muß bemüht sein, trotz des konstatierten Defizites wenigstens ein grobes theoretisches Instrumentarium für ihre Arbeit in die Hand zu bekommen. Daher sollen im folgenden ersten Abschnitt einige allgemeine Überlegungen zum Begriff der Selbstdarstellung des Staates, zu ihren Erscheinungsformen, zu Wirkungsweise, Adressatenkreis und Funktionen angestellt werden. Die Arbeit erhebt dabei keinesfalls den Anspruch, die von Helmut Quaritsch bemängelte theoretische Lücke füllen zu können. Wegen ihres begrenzten Untersuchungs gegenstandes will sie allenfalls einige Bausteine zu einem noch zu errichtenden, umfassenden Theoriegebäude liefern.

A. Begriff Selbstdarstellung Selbstdarstellung ist "notwendiges Element einer jeden Staatlichkeit", schreibt Klaus Stern.3 Bei der Durchsicht der staatstheoretischen Literatur stößt man immer wieder auf solche Äußerungen über die "staatliche Selbstdarstellung"4. Diese häufige Verwendung scheint darauf hinzudeuten, daß Klarheit 1 Quaritsch, Probleme, S. 3. 2 Vgl. dazu näher unten 1. Teil A. 11.: Selbstdarstellung des Staates - Begriffsbestimmungen in der staatstheoretischen Literatur. 3 Stern, Staatsrecht I, S. 282. 4 Häufig im Zusammenhang der Staatssymbolik, so etwa bei Klein, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht I., S. 733 ff.; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 56 ff.; Bothe, Art. 22, in: AI( GG 2; Spies, in: JA 1991, S. 195 ff.; aber auch an anderer Stelle, vgl.

A Begriff Selbstdarstellung

21

darüber besteht, was darunter inhaltlich zu verstehen sei. Befragt man die einschlägige Literatur jedoch hartnäckiger, so erweist sich diese Annahme als vorschnell, wenn nicht gar als Irrtum: Allenfalls Ansätze zu einer Begriffsbestimmung finden sich, in der Regel sucht man aber selbst diese vergeblich. Es ist zu konstatieren: Von der Selbstdarstellung des Staates wird zwar in vielfältigen Zusammenhängen geschrieben, Aussagen über den Inhalt des Begriffs fehlen jedoch weitgehend. Hier soll daher eine Annäherung an den Begriff der "Selbstdarstellung" zunächst vom Wortsinn her versucht werden. Auf Ausführungen zum Begriff "Staat" wird dabei mit Rücksicht auf die übergeordnete Themenstellung der Arbeit vorerst verzichtet; im weiteren Verlauf wird sich ergeben, daß der Begriff "Staat" bei der Untersuchung "staatlicher" Selbstdarstellung nur in Abhängigkeit von den jeweiligen Funktionen und dem Adressatenkreis dieser Selbstdarstellung bestimmbar ist.s

I. Wortsinn

Der Begriff "Selbstdarstellung", das Kompositum aus "Darstellung" und "Selbst", substantivierte Form des zugrundeliegenden reflexiven Verbs "sich selbst darstellen", umfaßt sowohl die "Darstellung des (eigenen) Selbst" - im Sinne des personalen Verständnisses von "Selbst" als der Eigenart eines Individuums in der Gesamtheit seiner Empfindungen, Tätigkeiten und Zielsetzungen6 - als auch die Darstellung "durch sich selbst" im Gegensatz zu einer Darstellung durch Dritte. "Darstellung" meint die Wiedergabe, die Beschreibung, das öffentliche Zeigen von Sachverhalten, Inhalten, Erkenntnissen, Erlebtem durch Wort, Bild, Schrift, Zeichnung und/oder Formel, auch durch künstlerische Gestaltung. Sonderbedeutungen des Begriffes "Darstellung" kennen die Informatik, die Mathematik, die Psychologie, die Quantentheorie und das Urheberrecht.7 Führt man diese Elemente zusammen, so ergibt sich als Rohform einer Begriffsbestimmung: "Selbstdarstellung" ist die (öffentliche, beschreibende) Wieetwa Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 51: "Die geistige Selbstdarstellung und ihr Ende". 5 Vgl. unten 1. Teil c.: Selbstdarstellung des Staates - "Beteiligte". 6 Vgl. Mummendey, Selbstdarstellung, S. 77 ff. 7 § 2 Abs. 1 Nr. 7 UrhG zählt beispielhaft "Zeichnungen, Pläne, Karten, Skizzen, Tabellen" auf. Vgl. FrommlNordemann, Urheberrecht, § 2, RN 23; HubmannlRehbinder, Urheberrecht, S. 94 ff.; Wenzel, Urheberrecht.

22

1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

dergabe von Sachverhalten, Inhalten, Erkenntnissen, Erlebnissen aus dem Bereich des beschriebenen Subjektes mittels Wort, Schrift, Bild und anderer Medien durch das Subjekt. 8 Oder knapper: Selbstdarstellung ist jede Aussage des Subjektes über das Subjekt. Übertragen auf den Bereich des Staates wäre danach staatliche Selbstdarstellung die Wiedergabe von Sachverhalten, Inhalten und Erkenntnissen über den Staat mittels Wort, Schrift, Bild und anderer Medien durch den Staat; oder, in der Kurzform, jede Aussage des Staates über den Staat.

11. Selbstdarstellung des Staates Begriffsbestimmungen in der staatstheoretischen Uteratur

Ausgehend vom Wortsinn des Begriffes "Selbstdarstellung des Staates" soll im folgenden Abschnitt ein Überblick gegeben werden über die Positionen derjenigen Autoren, die in der staatstheoretischen Literatur wenigstens Annäherungen an eine Begriffsbestimmung versucht haben. Selbstverständlich kann im begrenzten Rahmen der vorliegenden Arbeit - und angesichts der Komplexität der Materie - wenig mehr als ein Problemaufriß erfolgen, in den dann die in Frage stehende architektonische Selbstdarstellung des Staates eingeordnet werden soll.

1. Begriffsbestimmung bei Herbert Krüger "Selbstdarstellung meint ... Sichtbarmachung geistiger Gebilde in der Welt der Sinne. Gerade der Staat als das hervorragendste solcher Gebilde bedarf vor allem der Selbstdarstellung."9 Mit diesen Worten beschreibt Herbert Krüger die Selbstdarstellung des Staates. Die Selbstdarstellung sei eine "verwandte Erscheinung"lO der sog. "Staatspflege", die Krüger in seiner Allgemeinen Staatslehre entwickelt hat. 8 Bereits hier deutet sich die für die Selbstdarstellung bedeutsame Doppelrolle von Subjekt und Objekt an. Vgl. dazu näher unten 1. Teil C.I.: Gleichzeitigkeit von Subjektund Objektqualität? Der Staat als "Darsteller" und Gegenstand der Darstellung. Für die Literaturform der Autobiographie versucht Kronsbein, Erzählen, S. 184, folgende Zusammenfassung der Doppelrolle: "Es ist dies die Darstellung eines Autors, der sich ... sowohl als der Verfasser als auch der mit diesem identischen Erzähler der im Text als Identitätsträger angebotenen erzählten Person zu erkennen gibt". 9 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 24. 10 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 23.

A Begriff Selbstdarstellung

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Von dieser Staatspflege soll sich die staatliche Selbstdarstellung insofern unterscheiden, als es bei der Selbstdarstellung um die Festigung der Existenz des bereits vorhandenen Staates mit irrationalen Mitteln gehe ll, die "über die Anschauung hin wirken"12, während die Staatspflege rational an den Intellekt appelliere 13 : "Selbstdarstellung des Staates setzt die Existenz des Staates voraus, während es der Staatspflege um deren Hervorbringung geht."14 Krüger räumt zwar ein, daß eine scharfe Trennung zwischen Hervorbringung und Festigung kaum möglich sei, zumal "jede Festigung auch Mitwirkung an der Hervorbringung"15 sei, will jedoch an dem Unterschied festhalten, "selbst wenn er etwas gewollt wirkt"16. Die mangelnde Trennschärfe stellt jedoch nicht den einzigen Ansatzpunkt für Kritik an Krügers Verständnis der Selbstdarstellung als "Sichtbarmachung geistiger Gebilde in der Welt der Sinne"17 dar. Problematisch ist Krügers Begriffsbestimmung bereits insofern, als sie wesentlich zwangloser als Definition von "Darstellung" insgesamt verwendet werden könnte. Diese unterscheidet sich jedoch von der Selbst-Darstellung, deren spezifische Eigenart gerade darin besteht, daß diese Darstellung vom Dargestellten selbst ausgeht und daraus ihr besonderes Gepräge erhält. Zweifelhaft erscheint aber auch, ob tatsächlich nur "geistige Gebilde" sichtbar gemacht werden können. Letztlich dürfte Krügers Beschränkung der Selbstdarstellung auf "geistige Gebilde" in dem Staatsverständnis seiner Allgemeinen Staatslehre wurzeln, das den Staat ausschließlich als geistiges Gebilde sieht: "Der Staat existiert, weil er gedacht wird."18 Diese Sichtweise des Staates legt für eine Abgrenzung von Staatspflege und Selbstdarstellung des Staates eine gewisse Beschränkung des Begriffsverständnisses von Selbstdarstellung nahe. Selbstdarstellung muß dann jedoch auch ausschließlich in seiner Beschränkung auf staatliche Selbstdar-

11

Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 25.

12 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 25. 13 Insofern widersprüchlich zu der Annahme, Staatssymbole zählten zur Staats-

pflege, vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 47 f. und ders., Staatslehre, S. 226, da eine rationale Wirkung der Staatssymbole wohl bezweifelt werden muß; vgl. aber auch Hoog, Raggenrecht, S. 13. 14 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 25. 15 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 25. 16 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 25. Hoog, Raggenrecht, S. 13, meint weitergehend, "daß es einen tatsächlichen Unterschied zwischen Staatspflege und Selbstdarstellung des Staates nicht gibt". 17 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 24. 18 Krüger, Staatslehre, S. 152.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

stellung eines Staates im Krüger'schen Sinne gesehen werden und besitzt insofern nur begrenzten Erklärungswert.1 9

2. Begriffsbestimmung bei Helmut Quaritsch Von einem anderen Ausgangspunkt aus, demjenigen der Sozialpsychologie und Organisationssoziologie~, unternimmt Helmut Quaritsch den Versuch einer Begriffsbestimmung. In allgemeiner Formulierung, doch erkennbar in einer personal-individuellen Sichtweise, definiert Quaritsch Selbstdarstellung zunächst als "die Gesamtheit der Mittel und Verhaltensweisen, die das eigene Erscheinungsbild bestimmen sollen"21, um ein Publikum zu beeindrucken und dadurch zu beeinflussen. Dies sei gerade für soziale Organisationen erforderlich, da diese - so Quaritsch' These - "ihr Dasein, ihre Ziele und Zielverwirklichungen"22 dauernd vorweisen müßten, um sich gegenüber der Umwelt und den Mitgliedern als sinnvoll zu präsentieren und sich von anderen Organisationen zu unterscheiden.~ Gedanken von Rudolf Smends Integrationslehre aufnehmend, spezifiziert Quaritsch seine allgemeine These in Hinblick auf den Staat: "Die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organisation beruht auf Loyalität, die ... in einem stets sich erneuernden Prozeß der 'Integration' ... hergestellt werden muß. Kann sich der Staat unter dieser Voraussetzung als 'Wirkungsund Entscheidungseinheit' ... darstellen, so bewirkt wiederum dieser Erfolg Loyalität"24. Staatliche Selbstdarstellung wäre danach die Gesamtheit der Mittel, die den Staat "als sinnvoll, vertrauenswürdig und erfolgreich anschaulich machen"25, um so Loyalität zu erzeugen und zu festigen. Dabei will Quaritsch zur Selbstdarstellung des Staates jedoch nur solche Mittel rechnen, die bewußt zur Erreichung des gesChilderten Zweckes eingesetzt werden, da sich der Staat zwangsläufig und ständig auf irgendeine Art und 19 Zur Kritik an Krügers Allgemeiner Staatslehre vgl. unten Teil 1 A. IV.: Exkurs: Der Begriff der "Staatspflege" bei Herbert Krüger. ~ Ouaritsch' Ansatz ist geprägt von Goffman, Selbstdarstellung, auf dessen englischen Originaltitel "Tbe Presentation of Self in Everyday Life" Ouaritsch die Wortbildung "Selbstdarstellung" zurückführt, vgl. Quaritsch, Probleme, S. 7. Zu Goffman vgl. unten 1. Teil V.: Exkurs: Selbstdarstellungstheorien in Sozialpsychologie und Soziologie. 21 Quaritsch, Probleme, S. 8. 22 Quaritsch, Probleme, S. 10. ~ Quaritsch, Probleme, S. 21. 24 Quaritsch, Probleme, S. 11. 25 Quaritsch, Probleme, S. 13.

A Begriff Selbstdarstell ung

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Weise selbst darstelle26 ; sogar noch der bewußte Verzicht auf Selbstdarstellung sei wiederum eine (negative) Art der Selbstdarstellung. Quaritsch' Verständnis der Selbstdarstellung des Staates unterscheidet sich von dem Krüger'schen Ansatz insofern, als es gezielter auf die Eigenart der staatlichen Selbstdarstellung eingeht und hier bestimmte Gesichtspunkte wie die Finalität, die Integrationsabsicht und die Beschränkung auf die bewußte Präsentation herausarbeitet. Dem steht nur scheinbar entgegen, daß Quaritsch die Unterscheidung zwischen Staatspflege und Selbstdarstellung von Krüger übernimmt 27, da auch er ausdrücklich die fehlende Trennschärfe betont und beide Begriffe, sofern er überhaupt von Staatsptlege spricht, weithin synonym benutzt.

111. Der Begriff der Selbstdarstellung in der Rechtsprechung des BundesverfassuOWigerichts

Das Bundesverfassungsgericht verwandte den Begriff der "Selbstdarstellung des Staates" - soweit ersichtlich - in seiner Rechtsprechung bislang lediglich in zwei Entscheidungen28, und zwar in beiden Fällen eher beiläufig. Eine Definition des Begriffes erfolgte in keiner der beiden Entscheidungen: In der ersten Entscheidung29, die sich mit der sog. "Deutschland-Fernsehen-GmbH" beschäftigte, wurde staatliche Selbstdarstellung zwar erwähnt, jedoch im wesentlichen vorausgesetzt; in der zweiten Entscheidung3O, in der es um die Verfassungsmäßigkeit einer Verurteilung wegen der Verunglimpfung von Staatssymbolen31 ging, deutete das Gericht zwar zumindest Wirkungsweise und systematische Verortung der staatlichen Selbstdarstellung im Grundgesetz an, blieb eine präzise Begriffsbestimmung aber wiederum schuldig. In einer dritten Entscheidung32, die sich ausführlich mit der amtlichen Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung auseinandersetzte, fiel das Wort von der "Darstellung des 26 Vgl. Quaritsch, Selbstdarstel1ung, S.14. Anderer Ansicht insoweit K/ages, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 74, der davon ausgeht, daß die nicht-intendierte Selbstdarstellung bedeutender auf das Staatsbild einwirke als die gezielte und bewußte, wobei allerdings die Übergänge fließend seien. 27 Quaritsch, Probleme, S. 13. 28 BVerfGE 12, 205; 81, 278. 29 BVerfGE 12, 205. 30 BVerfGE 81, 278. 31 § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB. 32 BVerfGE 44, 125.

1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

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Staates in der Öffentlichkeit" gar erst nach siebzig Seiten im Sondervotum des Bundesverfassungsrichters Dr. Rottmann,33

1. BVerfGE 12,205 - "Deutschland-Fernsehen-GmbH"

In seinem Urteil vom 28. Februar 196134 hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts über die Frage zu entscheiden, "ob die Bundesregierung durch die Gründung der Deutschland-Fernsehen-GmbH ... gegen Artikel 5 und gegen Artikel 30 in Verbindung mit Artikel 87 Absatz 3 GG sowie gegen die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verstoßen hat."35 Am 25. Juli 1960 hatten Bundesminister Schäffer und die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundeskanzler Adenauer, eine DeutschlandFernsehen-GmbH mit Sitz in Köln gegründet. Aufgabe der Gesellschaft sollte sein "die Veranstaltung von Fernseh-Rundfunksendungen, die den Rundfunkteilnehmern in ganz Deutschland und im Ausland ein umfassendes Bild Deutschlands vermitteln sollen."36 Bezweckt war die bundesweite Ausstrahlung eines Femseh-Vollprogramrns. Durch dieses Vorhaben fühlten sich verschiedene Bundesländer37 in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt. Ausgehend von dem Verfassungsgrundsatz der Länderkompetenz bei Gesetzgebung und Verwaltung prüfte das Bundesverfassungsgericht ausführlich das Vorliegen einer Bundeskompetenz zur Errichtung der Deutschland-Fernsehen-GmbH. In diesem Zusammenhang erwog das Gericht auch eine von der Bundesregierung ins Feld geführte38 Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis aUs der Natur der Sache zur Veranstaltung von Rundfunksendungen, "die der überregionalen Aufgabe nationaler Repräsentation nach innen, d.h. der Selbstdarstellung der Nation vor der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, zu dienen bestimmt sind. "39 Eine solche Kompetenz behauptete die Bundesregierung im Anschluß an Köttgen40 , der es für unstreitig gehalten hatte, daß eine 33 BVerfGE 44, 125, 194. 34

2 BvG 1,2/60. Vgl. dazu die Dokumentation von Zehner, Fernsehstreit.

35 BVerfGE 12, 205, 207. 36 § 2 der Satzung, zitiert nach BVerfGE 12, 205, 216. 37 Freie und Hansestadt Hamburg sowie Hessen als Antragsteller, denen Nieder-

sachsen und die Freie Hansestadt Bremen im Bund-Länder-Streit beitraten. 38 Vgl. Schriftsatz des BM des Innem vom 31.10.1960, abgedruckt bei Zehner, Femsehstreit I, S. 108. 39 BVerfGE 12, 205, 242. 40 Köttgen, Kulturpflege, S. 191 f.

A Begriff Selbstdarstellung

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natürliche Zuständigkeit des Bundes zur Errichtung kultureller EinriChtungen bestehe, sofern diese "in Verbindung mit Fragen nationaler Repäsentation"41 stünden. Köttgen führte als Beispiele die Bundeszuständigkeit im Bereich nationaler Symbole und Gedenktage an, konkretisierte den Begriff der "nationalen Repräsentation" jedoch nicht weiter. 42 Im Ergebnis verneinte das Bundesverfassungsgericht eine Bundeszuständigkeit aus der Natur der Sache.43 Hier taucht der Begriff der Selbstdarstellung in einem der Fragestellung dieser Arbeit verwandten Felde auf, wenn auch von der "Selbstdarstellung der Nation" die Rede ist und nicht von staatlicher Selbstdarstellung.44 Allerdings soll diese Selbstdarstellung "vor" der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, womit angedeutet zu werden scheint, daß Nation und Bevökerung zwei nicht deckungsgleiche Gegenstände der Betrachtung darstellen. Diese Gegenüberstellung von Volk und Nation widerspricht dem gängigen Verständnis der Nation als des in Geschichte, Kultur und gemeinsamer Willensbekundung geeinten Volkes. 45 Es drängt sich daher der Eindruck auf, daß das BVerfG bei der Formulierung des zitierten Textabschnittes mit "Nation" etwas anderes habe bezeichnen wollen als das als Nation geeiIIte Volk. Aus der Gegenüberstellung von Volk und Nation könnte auf ein Verständnis der Nation als "Staatsnation" geschlossen werden46, womit ein Hinweis gegeben wäre auf einen Begriffsgebrauch, der demjenigen der staatlichen Selbstdarstellung nahe käme. 47 Ebenfalls in Betracht kommt ein Verständnis von Nation als Bindeglied zwischen den beiden Teilen Deutschlands; Nation verstanden also im Sinne von "KulturNation" . Gegen eine solche Interpretation spricht jedoch der Zusammenhang 41

Köttgen, Kulturpflege, S. 191 f.

42 Einen Anhaltspunkt für das Begriffsverständnis von Köttgen mag sein Verweis

auf die "sachliche Integration" der Smend'schen Integrationslehre sein, vgl. Köttgen, Kulturpflege, S. 192, FN 24. 43 Vgl. zu dieser Frage nach einer Bundeskompetenz auch Köstlein, Kulturhoheit, S. 48. Kritisch aber Bullinger, in: AöR 1971, S. 274. 44 Die Auswertung der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG anband der Dokumentation von Zehner ergibt jedoch, daß die Begriffe "Selbstdarstellung der Nation" und "nationale Repräsentation" in vielfältiger Kombination, auch mit anderen Begriffselementen, gebraucht wurden, vgl. Sachregister bei Zehner, Fernsehstreit 11, S. 108. Zum Begriff der Staatspflege bei Krüger vgi. auch unten 1. Teil A. IV.: Exkurs: Der Begriff der "Staatspflege" bei Herbert Krüger. Aufschlußreich auch der Ausdruck "Selbstdarstellung der Nation vor sich selbst ... " von BVerfG-Richter Prof. Friesenhahn, zit. nach Zehner, Fernsehstreit 11, S. 172, sowie die Ausführungen von Prof. Scheuner (als Beistand der Bundesregierung) bei Zehner, Fernsehstreit 11, S. 278 f. 45 Vgl. nur Leibholz, in: EvStL, Sp. 2193; Bußmann, Staatslexikon III, Sp. 1265 ff. 46 Zu dieser Begriffsbildung vgl. nur Leibholz, in: EvStL, Sp. 2198. 47 Dafür spricht auch, daß diese Selbstdarstellung durch einen auf Betreiben staatlicher Stellen gegründeten Fernsehsender erfolgen sollte.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

der TeststeIle, in der von der Selbstdarstellung der Nation allein vor der Bevölkerung der Bundesrepublik48 die Rede ist. Im historischen Kontext wäre wohl eher ein Aufrechterhalten des Gedankens der einen Kulturnation unter Einschluß der damaligen DDR zu erwarten gewesen. 49 Aus alledem ergibt sich die Interpretationsbedürftigkeit und Offenheit des zitierten Textabschnittes. Die Wendung von der "nationalen Repräsentation nach innen", die, verknüpft durch ein "das heißt", erklärend beschrieben wird als die "Selbstdarstellung der Nation vor der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland", bleibt letztlich konturlos. Diesen Eindruck bestätigt auch das Gericht selbst ausdrücklich im weiteren Fortgang seiner Ausführungen, wenn es formuliert: "Aus der Notwendigkeit nationaler Repräsentation, d.h. der Selbstdarstellung der Nation vor der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, kann eine natürliche Bundeskompetenz zur Veranstaltung von Rundfunksendungen ebensowenig abgeleitet werden wie aus dem Gebot, die 'kontinuitätsbewahrende Tradition' zu pflegen. Sicherlich ist es notwendig, diese Dinge von Staats wegen zu fördern. Es ist aber unverkennbar, daß mit ihnen Aufgaben bezeichnet sind, die sich einer näheren Bestimmung entziehen .. "50 Das Gericht betont also explizit die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit "dieser Dinge", also der 'nationalen Repräsentation' und der 'kontinuitätsbewahrenden Tradition'.51 Im Gegensatz dazu steht, daß in den vier Sätzen in kurzem Abstand hintereinander zweimal die Notwendigkeit nationaler Repräsentation und ihrer staatlichen Förderung hervorgehoben wird.52 Drei weitere Eigenheiten des Textabschnittes fallen auf: Erstens scheint das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von nationaler Repräsentation diese in der Nähe von Veranstaltungen kultureller Art anzusiedeln. 53 Zweitens hält das Gericht nur eine staatliche "Förderung" nationaler Repräsentation für not48 Und vor der Bevölkerung des Auslandes; es dürfte aber nach dem damals üblichen Sprachgebrauch ausgeschlossen sein, daß mit "Ausland" auch die DDR gemeint sein könnte. 49 In diesem Sinne auch Peters, Rechtslage, S.21. Vgl. dazu auch den Schriftsatz des BM des Innem, zitiert bei Zehner, Femsehstreit I, S. 108 ff. 50 BVerfGE 12, 205, 252. 51 Den Begriff der "kontinuitätsbewahrenden Tradition", auf den sich die Bundesregierung berief, hatte ebenfalls Köttgen, Kulturpflege, S. 192, eingeführt. 52 Es stellt sich die Frage, weshalb es notwendig sein soll, daß eine unbestimmte und sogar unbestimmbare Aufgabe der 'nationalen Repräsentation' staatlich gefördert werden muß. 53 Auch dies dürfte auf die Arbeit von Köttgen, Kulturpflege, zurückzuführen sein.

A Begriff Selbstdarstellung

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wendig, sieht darin also keine staatliche Aufgabe, sondern nimmt offenbar an, daß Träger der Selbstdarstellung der Nation andere Institutionen seien, die lediglich staatlicher Unterstützung bedürften. Und schließlich spricht das Gericht stets von der nationalen Repräsentation "nach innen", was die Annahme nahelegen dürfte, daß es auch eine solche nach außen geben müsse. 54 Aus alledem ergibt sich der Eindruck, daß das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung zwar ein bestimmtes, wenn auch nicht allzu differenziertes Verständnis von staatlicher bzw. nationaler Selbstdarstellung zugrundegelegt hat. Daß es nicht näher entfaltet wurde, dürfte darin begründet sein, daß das Gericht darin kein entscheidungserhebliches Kriterium erblickte, wie sich aus der relativen Knappheit seiner entsprechenden Ausführungen ergibt. Für die Fragestellung dieser Arbeit bleibt jedoch festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung im 25. Band erstmals ausdrücklich die Notwendigkeit staatlicher bzw. nationaler Selbstdarstellung erwähnt, ohne allerdings eine Inhaltsbestimmung dieses Begriffes anzubieten.

2. BVerfGE 81, 278; 81, 298 - Verunglimpfung von Staatssymbolen

In zwei Beschlüssen55 vom 7. März 1990 entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts über drei Verfassungsbeschwerden, mit denen sich die Beschwerdeführer gegen ihre Verurteilung nach § 90a Absatz 1 Nr. 2 StGB wegen Verunglimpfung der Bundesflagge bzw. der Hymne der Bundesrepublik Deutschland wandten. Die Beschwerdeführer rügten dabei im wesentlichen einen Verstoß gegen Art. 5 Absatz 3 GG, den das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis bejahte. Die Beschwerdeführer hatten die Bundesflagge bzw. die Hymne der Bundesrepublik in den Zusammenhang einer satirischen Collage bzw. einer verfremdenden Nachdichtung einbezogen, worin die Vorinstanzen ein Vergehen nach § 90a Absatz 1 Nr. 2 StGB erblickt hatten. Bei der Überprüfung dieser Urteile bescheinigte das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführern zunächst die Kunst-Qualität ihrer Werke und besChäftigte sich daran anschließend mit der Frage nach einer Kollision zwischen der Wahrnehmung des Rechtes aus Art. 5 Absatz 3 Satz 1 GG und anderen verfassungs rechtlich geschützten Gü54 Ebenso Peters, Rechtslage, S. 23. 55 _ 1 BvR 266/8fj und 913/87 -; - 1

1990, S. 640.

BvR 1215/87 -. Besprochen von Gusy, in: JZ

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

tern, hier der Bundesflagge (bzw. der Hymne) als Staatssymbol. In diesem Zusammenhang führte das Gericht aus: n§ 90a Absatz 1 Nr. 2 StGB .. schützt die Flagge der Bundesrepublik Deutschland als staatliches Symbol. Dieser Schutz ist in der Verfassung begründet. Das läßt sich allerdings weder unmittelbar noch ausschließlich aus Art. 22 GG folgern. Dessen normative Aussage beschränkt sich auf die Festlegung der Bundesfarben. Eine darüber hinausgehende Bedeutung kommt dieser Grundgesetzbestimmung jedoch insoweit zu, als sie das Recht des Staates voraussetzt, sich zu seiner Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen. Zweck dieser Sinnbilder ist es, an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren (Würtenberger, JR 1979, S. 311 unter Berufung auf H. Krüger, Allg. Staatslehre, S. 226). Das Grundgesetz nimmt diese, auch von der Flagge ausgehende Wirkung nicht lediglich in Kauf. Als freiheitlicher Staat ist die Bundesrepublik vielmehr auf die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten angewiesen. Die in diesem Sinne geschützten Werte geben die in Art. 22 GG vorgeschriebenen Staatsfarben wider. Sie stehen für die freiheitlich demokratische Grundordnung. Aus dieser Bedeutung der Bundesflagge ergibt sich das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut der Strafnorm. Dient die Flagge durch die von ihr verkörperten Staatsleitziele als wichtiges Integrationsmittel, so kann ihre Verunglimpfung die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen. Daraus folgt zugleich, daß staatliche Symbole nur insoweit verfassungsrechtlichen Schutz genießen, als sie versinnbildlichen, was die Bundesrepublik Deutschland grundlegend prägt.n56 Das Gericht entnimmt also aus dem beschränkten Wortlaut des Art. 22 GG ohne nähere Begründung57 - ein Recht des Staates, sich zu seiner Selbstdarstellung bestimmter Symbole zu bedienen. Dieses Recht setze der Art. 22 GG voraus. Diese Überlegung vermag auch ohne ausführliche Begründung zu überzeugen: Die Festlegung bestimmter Symbole in der Verfassung erschiene sinnlos, wenn es dem Staat versagt bliebe, diese Symbole auch zu zeigen bzw. zuführen. Unausgesprochen setzt das Bundesverfassungsgericht in dem zitierten Abschnitt des Beschlusses jedoch noch weiteres voraus. Aus Art. 22 GG soll sich nämlich nach dem Wortlaut der Entscheidung auch ein Recht zur 'staatlichen Selbstdarstellung' ergeben: Das Recht zur Führung etwa der Bundesflagge dient danach nicht irgendeinem Zweck, sondern eben gerade dem der staatlichen 56

BVerfGE 81,278,293 f.

57 Das kritisiert Gusy, in: JZ 1990, S. 640.

A Begriff Selbstdarstellung

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Selbstdarstellung. Dieser Begriff der Selbstdarstellung wird vom Gericht ohne nähere Erläuterung verwandt. Allerdings ergibt sich aus dem Zusammenhang der folgenden Ausführungen und insbesondere aus dem (indirekten) Verweis auf Herbert Krügers Allgemeine Staatslehres8 ein bestimmtes Verständnis von 'Selbstdarstellung', das der Entscheidung zugrundeliegt.s9 Danach dient die Selbstdarstellung nicht (allein) der Sichtbarmachung des Staates, sondern vielmehr dem Appell an das Staatsgefühl der Bürger, ihrer Identifikation mit bestimmten Grundwerten und damit letztlich der Integration. Die Bundesflagge sowie die anderen Staatssymbole werden in dieser Interpretation zu Mitteln der Selbstdarstellung des Staates, die selbst nicht in der Verfassung erwähnt oder angedeutet wird. Es erscheint jedoch folgerichtig, wenn das Bundesverfassungsgericht aus der verfassungsrechtlichen Normierung eines bestimmten Mittels mindestens auch auf die Zulässigkeit des mit der Verwendung des Mittels angestrebten Zweckes schließt. Der Art. 22 GG eröffnet insofern einen Einstieg in ein hinter ihm stehendes System von Werten, auf die der Staat, weil er sich ihnen verpflichtet fühlt, mit seiner Selbstdarstellung verweist. 60 Damit wird die Selbstdarstellung des Staates zu einer staatlichen Betätigung, die über die bloße Sichtbarmachung von Ungegenständlichem weit hinausgeht. Es bleibt zunächst festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht, wie schon in der Entscheidung über die 'Deutschiand-Fernsehen-GmbH', dem Staat ein Recht auf Selbstdarstellung zugesteht und damit auch den Tätigkeitskomplex der Selbstdarstellung anerkennt, allerdings wiederum ohne den Begriff der Selbstdarstellung näher zu bestimmen. Der Beschluß über die Verunglimpfung von Staatssymbolen geht aber insofern erheblich über BVerfGE 12, 205 hinaus, als sich aus dem Textzusammenhang Ansätze einer materialen Bestimmung des Inhaltes von 'staatlicher Selbstdarstellung' und eine Verortung im Verfassungs gefüge entnehmen lassen.

58 Direkt wird auf Würtenberger, in: JR 1979, S. 311, verwiesen, der sich seinerseits auf Krüger, Staatslehre, beruft. Die zitierte TextsteIle in Krügers Werk steht im Kapitel über die sog. "Staatspflege". Vgl. dazu unten 1. Teil A. IV.: Exkurs: Der Begriff der "Staatspflege" bei Herbert Krüger. 59 Vgl. BVerfGE 81,278,293 f. 60 Vgl. dazu auch Gusy, in: JZ 1990, S. 640.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

3. BVerfGE 44, 125 - Unzulässige Wahlwerbung Am 2. März 1977 erging das Urteil 61 des zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichtes, in dem eine Grenzziehung versucht wurde zwischen der (zulässigen) amtlichen Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und der (unzulässigen) politischen Wahlwerbung.62 Gegenstand des von der Opposition angestrengten Verfahrens war die Frage, ob die Bundesregierung "durch von ihr als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnete Maßnahmen in den Bundestagswahlkampf 1976 eingegriffen und dadurch die Antragstellerin in den ihr durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet hat. ''63 In dem Urteil, das - einschließlich zweier Sondervoten - 72 Druckseiten der amtlichen Sammlung umfaßt, ist von staatlicher Selbstdarstellung an keiner Stelle die Rede. Stattdessen konzentriert sich das Gericht allein auf den Terminus 'ÖfIentlichkei tsarbeit' . Erst in der Erläuterung seiner abweichenden Meinung spricht der Richter Rottmann davon, daß die "Informationsarbeit der Bundesregierung .. ein Stück Darstellung des Staates in der Öffentlichkeit" sei. 64 Daraus ist zu entnehmen, daß zumindest dieser Richter am Bundesverfassungsgericht in der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit einen Teilbereich der umfassender verstandenen staatlichen Selbstdarstellung sieht. Rottmann hält die Öffentlichkeitsarbeit für einen "Ausfluß der allgemeinen Handlungspflicht der Bundesregierung"65, die "den Staat nach außen sichtbar macht, für ihn wirbt, den Bürger informiert und damit integriert"66. Hier bleibt zunächst lediglich die Erwähnung der staatlichen (Selbst-) Darstellung festzuhalten, der als Bestandteil die Öffentlichkeitsarbeit zugerechnet wird. Eine nähere Begriffsbestimmung unternimmt jedoch auch der Bundesverfassungsrichter Rottmann nicht. Auch in der Anschlußentscheidung 67 vom 23. Februar 1987, die sich wiederum mit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vor Bundestagswahlen befaßt, taucht der Begriff 'Selbstdarstellung des Staates' nicht auf.

_ 2 BvE 1{76 VgI. dazu Presse- und Infonnationsamt der Bundesregierung, Dokumentation. BVerfGE 44, 125, 127. BVerfGE 44, 125, Sondervotum, S. 194. 65 BVerfGE 44, 125, Sondervotum, S. 187. 66 BVerfGE 44, 125, Sondervotum, S. 189. 67 - 2 BvR 1765/82 -; BVerfGE 63, 230. 61 62 63 64

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IV. Exkurs: Der Begrift' der "Staatspftege" bei Herben Krüger

Im Verlauf des bisherigen Versuches einer Begriffsbestimmung fiel bereits wiederholt der vornehmlich von Herbert Krüger68 in die Diskussion eingeführte Begriff der "Staatspflege", der offensichtlich in unmittelbarer Nähe zu der hier in Frage stehenden Selbstdarstellung des Staates angesiedelt ist. Darauf weist auch die Tatsache hin, daß ein Referat von Krüger mit dem Titel "Von der Staatspflege überhaupt" die 44. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer zum Thema "Die Selbstdarstellung des Staates" eröffnete. Wie oben69 bereits festgestellt, ist die von Krüger selbst vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Staatspflege und Selbstdarstellung des Staates wenig tragfähig. Einerseits um dieses Urteil weiter zu erhärten, andererseits um für den weiteren Fortgang der Untersuchung Klarheit über das Verhältnis von Staatspflege und Selbstdarstellung des Staates zu schaffen, soll im folgenden Abschnitt der Begriff der Staatspflege bei Herbert Krüger näher betrachtet werden. Dazu muß wenigstens in groben Zügen Krügers Allgemeine Staatenlehre und der Standort der Staatspflege darin dargestellt werden.

1. Wesen des Staates bei Krüger

Zurückgreifend auf die Naturrechtslehren70 macht Krüger das Chaos des Naturzustandes, welches die Existenz des Individuums bedrohe, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Der zum Überleben entschlossene Mensch antworte auf die Bedrohung, indem er sich staatlich vergesellschafte: Durch eine gemeinschaftliche Anstrengung der Einzelnen werde das Überleben mit einem Mittel gesichert, das tauglich sei, alle denkbaren Bedrohungen abzuwenden. Dieses existenzsichernde Mittel sei der Staat71 ; die Entscheidung für das Überleben werde so zur Entscheidung für den Staat. Die Hervorbringung des Staates geschehe in dem "Bewußtsein der Notwendigkeit, in festester Verbundenheit zusammenstehen zu müssen, um jeder BeVgl. Krüger, Staatslehre, S. 214 ff.; ders., in: QuariJsch, Selbstdarstellung, S. 21. Vgl. Teil 1 A. 11. 1.: Begriffsbestimmung bei Herbert Krüger. Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 191 und S.828. Krüger spricht explizit von einer "neuen Art der alten Lehre vom Staatsvertrag", vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 27. 71 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 980. 68 69 70

3 Wefing

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

drohung der elementaren Existenz gewachsen zu sein"72. Das Sein des Staates wird dabei in das Denken der Einzelnen verlegt: "Der Staat existiert, weil er gedacht wird"73, "denn nur als geistiges Sein wird der Staat taugliches Mittel des Überlebens, weil er nur so von den Zufällen der Wirklichkeit unabhängig wird"74. Den Prozeß der Hervorbringung des Staats aus der Gesellschaft75 nennt Krüger "Repräsentation"76, der als Produkt den in Ämtern und Gesetzen repräsentierenden Staat hervorbringt.77 Der Staat wird also nicht verstanden als etwas Gegebenes, sondern als etwas Aufgegebenes, als ein Ziel, das im permanenten78 geistigen Prozeß des Über-sich-Hinauswachsens der Einzelnen geschaffen wird.

2. "Staatspflege"

Das Gelingen dieser Staatsbildung hängt nach Krüger entscheidend vom Staatsbewußtsein der Bürger ab. Dieses Staatsbewußtsein sei unzuverlässig, da es sich nicht von selbst einstelle79, sondern sich in ständiger Auseinandersetzung mit der egoistisch-triebhaften Natürlichkeit des Menschen befinde, dem stets aufs Neue bewußt werden müsse, daß Staatslosigkeit gleichbedeutend mit Untergang sei. Daher "bleibt gar nichts anderes übrig, als ... [das Staatsbewußtsein] durch besondere Veranstaltungen unablässig und mit den verschiedensten

Krüger, Staatslehre, S. 193. Krüger, Staatslehre, S. 152. 74 Badura, in: JZ 1966, S. 127. 75 Nach von der Gablentz, in: PVS 1966, S. 140, hat Krüger seinen Gesellschaftsbegriff von Hegel und Lorenz von Stein übernommen; Gesellschaft ist danach die Fülle von Tätigkeiten und Gebilden, die einer zusammenfassenden Ordnung entbehren und diese erst durch den übergeordneten Staat erhalten. 76 In einem von dem üblichen Gebrauch dieses Begriffes deutlich unterschiedenen, weil wesentlich umfassenderen Verständnis; vgl. nur Leibholz, EvStL, Sp. 2194. 77 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. V. 78 Krüger betont ausdrücklich, daß der Staat nur wirklich werde, "sofern er stets von neuem aktualisiert, oder vielmehr neu hervorgebracht wird", Krüger, Staatslehre, S. 151, und daß es nicht ausreiche, wenn sich die Bürger nur gelegentlich darauf besännen, daß sie einen Staat bilden. Die Permanenz der Entscheidung wird auch in Krügers Gegenüberstellung von Smend und Carl Schmitt deutlich: "Was für Schmitt eine einmalige Entscheidung ... ist, ... hat sich in der Integrationslehre zu einer täglichen Entscheidung aktualisiert, in der sich die Existenz des Staates als ständiger Prozeß bildet und bestimmt", Krüger, Staatslehre, S. 150 f. 79 VgJ. Krüger, Staatslehre, S. 214; vgJ. auch ders., in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S.22: "Anders als Natur oder Normen ist eine Geistesverfassung nicht einfach 'da', sie muß vielmehr gebildet werden ... " 72 73

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Mitteln anzuregen, zu ermuntern, zu orientieren"BO. Diesen komplexen Vorgang, durch Aktivierung und Selbstverantwortung der Bürger den Staat "immer wieder in Erinnerung zu bringen" und auf die Staatlichkeit der bürgerschaftlichen "Motivation und ihres Verhaltens einzuwirken"81, bezeichnet Krüger als "Staatspflege"82. Diese Begriffsbildung geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Damals wurde unter Staatspflege weithin die ohne obrigkeitliche Mittel stattfindende Wohlfahrtsförderung verstanden83; der Begriff .verschwand aber am Ende des 19. Jahrhunderts wieder aus der Diskussion. 84 Das Wiederaufgreifen durch Herbert Krüger vermag sich also kaum auf eine stabile Traditionslinie zu stützen. Dies um so weniger, als Krüger den Bedeutungsinhalt des Begriffes der Staatspflege offensichtlich umgeprägt hat.85 Eine wiederum anders gelagerte Begriffsbestimmung findet sich bei Albert Haenel.86 Haenel versteht unter Staatspflege umfassend alle Tätigkeiten des Staates, die sich "auf die Beschaffung und Fortbildung der Bedingungen seines Daseins als eines korporativen Verbandes"87 beziehen. Die Staatspflege "entfaltet sich für die Selbstbehauptung im Innern als Organisations-, als Finanz-, als Straf- und Zwangs-, als Militärgewalt"88. Staatspflege ist nach Haenels Verständnis eine zwar notwendige, jedoch nur "sekundäre"89 Tätigkeit im Dienste der primären staatlichen Verwaltungsaufgaben Wohlfahrts- und 80 Krüger, Staatslehre, S. 214; Krüger vergleicht "die Notwendigkeit, dem Volk die Staatlichkeit nahezubringen und sie immer wieder zu wecken", mit der heute entscheidenden Bedeutung der "Werbung für den Absatz industrieller Erzeugnisse und damit die Existenz eines gewerblichen Unternehmens", Krüger, Staatslehre, S. 214. 81 Krüger, Staatslehre, S. 216. 82 Krüger, Staatslehre, S. 214 ff.; vgl. auch tiers., in: Quaritsch, Selbstdarstellung. Deutlich sind die Bezüge zu Smends "Integration", die auch Krüger selbst ausdrücklich betont, vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 22. 83 Vgl. dazu Badura, Verwaltungsrecht, S. 10. 84 Vgl. zu den Gründen des VerschwindensBadura, Verwaltungsrecht, S. 10. 85 Dessen ungeachtet hält es Krüger, Staatslehre, S.215, für "sicherlich sehr aufschlußreich, wenn man der Frage nachgehen wollte, warum die erste Theorie der Staatspflege nicht früher als im 19. Jahrhundert auftritt. Vielleicht liegt hierin ein neues Indiz dafür, daß die Herrschaft der Herrscher aufhört, für die Allgemeinheit eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß jede Herrschaft vielmehr nicht nur der Rechtfertigung, sondern vor allem erst einmal der Erschaffung bedürftig zu werden beginnt." Krüger projiziert hier sein Verständnis von Staatspflege auf den Begriff des 19. Jahrhunderts zurück. 86 Haenel, Staatsrecht I, S. 330 ff. 87 Haenel, Staatsrecht I, S. 330. 88 Haenel, Staatsrecht I, S. 331. 89 Haenel, Staatsrecht I, S. 332.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

Rechtspflege: "Nur um dieser willen ist sie vorhanden und sie empfängt notwendig Richtung, Inhalt und Begrenzung von dieser."90 Auch Haenels Begriffsverständnis deckt sich also nur sehr begrenzt mit demjenigen Krügers, der sogar als Beispiel für eine Staatsauffassung, die einer Staatspflege entraten könne, diejenige Haenels nennt. 91 Deutlicher läßt sich kaum zeigen, daß beide Autoren den Begriff der Staatspflege in unterschiedlicher Weise verwenden. Berührungspunkte ergeben sich allenfalls insofern, als beide Autoren die Zweckgebundenheit der Staatspflege betonen, die nicht um ihrer selbst willen betrieben wird, sondern zur Hervorringcng der Existenz des Staates als Voraussetzung seines weiteren Wirkens. Während es Haenel um die tatsächliche Existenz des Staates in organisatorisch-technischer Hinsicht geht, die sich zu ihrer Durchsetzung deshalb auch der staatlichen Zwangsmittel bedienen kann, hebt Krüger entsprechend seiner Staatsauffassung auf die Existenz des Staates als geistiges Sein ab und schließt daher die Anwendung von hoheitlichen Mitteln zur Staatspflege aus.92 Dennoch ist die Staatspflege nach Krügers Verständnis eine Existenzfrage für den freiheitlichen Staat, der ohne sie auf Dauer zugrunde ginge. 93 Krüger unterteilt die Staatspflege in eine sog. beiläufige und eine hauptsächliche. Die beiläufige Staatspflege wird verstanden als Nebenprodukt einer jeden Staatstätigkeit, im wesentlichen als der Eindruck, der beim Bürger durch seine Begegnungen mit den Behörden hervorgerufen wird. 94 Bei der hauptsächlichen Staatspflege handelt es sich um "die vom Staat als Institution bewußt und gezielt ausgesandten Anstöße, die die Staatsbildung in den Bürgern und durch dieselben anregen und anleiten sollen."95 Diese Art von staatlicher Staatspflege "unterscheidet sich theoretisch von jeder anderen Art Staatstätigkeit dadurch, daß dort der Staat sich selbst hervorbringen, hier als existenter durch sein Tun Ergebnisse bewirken soll."96 Eine solche Staatspflege "kann selbstverständlich nicht mit hoheitlichen Mitteln, sondern allein mit 'persuasion' und dergleichen

90 Haenel, Staatsrecht I, S. 332.

Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 22. Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 365; ders., in: Quaritsch, Selbstdarstellung. 93 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 216. 94 Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 42. 95 Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 42. 96 Krüger, Staatslehre, S. 220. Widersprüchlich dazu jedoch ders., Staatslehre, S.623: "Staatspflege setzt naturgemäß einen zu einem Mindestmaß bereits hervorgebrachten Staat voraus. Zwar mag die Staatspflege von hier aus die Staatsbildung wirkungsvoll zu unterstützen, sie vermag jedoch nicht die 'Initialzündung' zu ersetzen". 91

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betrieben werden"97; trotzdem stehen ihr zahlreiche Instrumente und Möglichkeiten zur Verfügung. Als erstes und wichtigstes Intrument der Staatspflege nennt Krüger die Verfassung 98, die zum einen als ganze staatspflegend wirken soll, daneben aber auch besondere staatspflegerische Elemente besitze, wie die Präambel99 sowie die Institutionen Staatsoberhaupt100 und Parlament101 . Weiterhin erwähnt Krüger die Selbstverwaltung102, insbesondere der Gemeinden. Entscheidend ist für Krüger auch die Öffentlichkeitsarbeit des Staates 103, worunter er "das organisierte Mühen darum, daß der Staat die Meinung für sich hat"104, versteht. Da die Existenz des Staates letztlich auf der Meinung der Bürger beruhe, sei Staatspflege praktisch vor allem Meinungspflege. In engem Zusammenhang damit steht für Krüger die Erziehung und Bildung in den staatlichen Schulen.10s Aber Krüger geht sogar darüber noch hinaus. Er nimmt an, daß die Ausgestaltung allgemeiner Leistungspflichten "dem Bürger seinen staatsbürgerlichen Status sehr viel deutlicher"l06 mache und schreibt damit u.a. der allgemeinen Wehrpflicht staats pflegerischen Charakter zu.1 07

3. Kritik und Abgrenzung

Krügers Allgemeine Staatslehre hat neben freundlicher Aufnahme 108 auch scharfe Ablehnung erfahren.109 Kritisiert wurde vor allem die äußere Schrankenlosigkeit der Staatsgewalt, die sich jeden Mittels bedienen dürfe, um die

Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung S. 32. Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung S. 42 ff. Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung S. 43. 100 Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung S. 44. 101 Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung S. 44 ff. 102 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 223. 103 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 220 f. und 230. 104 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 220. 105 Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 229 f. 106 Krüger, Staatslehre, S. 228. 107 Krüger, Staatslehre, S. 228. 108 Vgl. etwa Forsthoff, in: DÖV 1964, S.645; Heinze, in: MDR 1967, S.789; Koellreuter, in: DVBI. 1964, S. 776; zurückhaltender Ermacora, in: ÖZfÖR 1968, S. 85; Scheuner, in: Der Staat 1974, S. 527. 109 Vgl. Schefold, in: ZfSchwR 1965, 1. Hbd, S.265; von der Gablentz, in: PVS 1966, S. 138; streckenweise polemisch: Badura, in: JZ 1966, S. 123; Kempen, Öffentlichkeitsarbeit, S. 108. 97 98 99

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

Existenz des Staates zu sichernllO und damit im Kern "totalitäre"l11 Züge trage. 112 Im bewußten Verzicht auf eine Verfassungslehre, verstanden als Verfassungstechnik, und der Hinwendung zum individuellen Denken und der zu fordernden Gesinnung erweist sich Krügers Ansatz als Entwurf einer "idealistischen Ethik"113, die ein ideales Modell des Staates theoretisch entwickelt und zugleich an den Einzelnen appelliert, um ihn von der Notwendigkeit der Existenz des Staates zu überzeugen und der "Unterkühlung des Staatsbewußtseins" entgegen zu wirken. 114 Dabei entsteht ein "Bruch im Gedankengang"115 Krügers daraus, daß alles, was über die Richtigkeit staatlichen Handelns gesagt wird, auf den idealen Staat bezogen ist, während die Anforderungen an Gesinnung und Handeln den Einzelnen gegenÜber dem bestehenden Staat treffen, der den Kriterien des Staatsideals nicht entsprechen muß.1 16 Was vermag die theoretische Beschreibung einer Staatspflege, die in das System einer solchen idealistischen Ethik eingebettet ist, unter diesen Umständen an Erkenntnis zu bieten? Innerhalb des Systems Krüger'schen Denkens kommt der Staatspflege die Aufgabe zu, die aufgezeigte Bruchstelle zu glätten und zu überdecken, indem die idealistischen Anforderungen und die realen Gegebenheiten einander angenähert werden. 117 Obwohl dies von Krüger ausdrücklich bestritten wird 118, gelangt die Staatspflege, die sich, wegen des "Prinzips der Nichtidentifikation"119, allein auf die Pflege der Staatsexistenz 110 Vgl. Schefold, in: ZfSchwR 1965, 1. Hbel, S.283: "Krügers Staat existiert .. schlechthin, um alle 'Lagen' zu meistem, auch als Leviathan - oder er ist kein Staat mehr"; ebenso Badura, in: JZ 1966, S. 127: "Allein die Existenz des Staates limitiert die Aufgaben, die der Staat sich setzen, und die Mittel, die er .. verwenden darf. Da aber die 'Lagen', denen zu begegnen sein könnte, unvorhersehbar sind, kann es irgendwelche von vornherein ausgeschlossenen Aufgaben und Befugnisse nicht geben." 111 Vgl. von der Gablentz, in: PVS 1966, S. 152: "Im Kern ist .. [Krügers] Staatsauffasung .. totalitär. Der Mythos vom Staat wird zur säkularen Religion." 112 Vgl. auch Schefold, in: ZfSchwR 1965, 1. Hbd, S.289. Krüger, Staatslehre, S. 985, selbst spricht davon, man könne "sich des Endrucks nicht erwehren, daß der Gehorsam aus Einsicht darauf hinauslaufen wird, daß die Ensichtigen den Uneinsichtigen deren Gehorsam aus Einsicht auferlegen werden." 113 So ausdrücklich Badura, in: JZ 1966, S. 129; vgl. auch Schefold, in: ZtschwR 1965, 1. Hbel, S. 288. 114 Vgl. Ermacora, in: ÖZfÖR 1968, S. 86. 115 Badura, in: JZ 1966, S. 124. 116 Vgl. Badura, in: JZ 1966, S. 124. 117 Kempen, Öffentlichkeitsarbeit, S. 109, spricht schärfer von einer "generalklauselartigen Erziehungsermächtigung zur Untertanschaft" . 118 Vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 2l. 119 Vgl. dazu Krüger, Staatslehre, S. 178 ff.

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und nicht auf die Pflege von materiellen Werten bezieht, damit in die Nähe der Propaganda totalitärer Staaten. Löst man jedoch den Begriff aus Krügers System heraus, so erweist sich die "Staatspflege" als spezifisch geprägter Terminus für die in der pluralistischen Demokratie eminent wichtige Aufgabe der Konsenserzeugung und Konsensbewahrung hinsichtlich derjenigen Grundwerte und Strukturprinzipien, die das Gemeinwesen konstituieren.l 2O Im Rahmen der Untersuchung der Funktionen der staatlichen Selbstdarstellung wird zu zeigen sein, daß es letztes Ziel aller staatlichen Selbstdarstellung ist, einen Grundkonsens erzeugen und erhalten zu helfen. Insofern besteht kein Unterschied zu Krügers "Staatspflege". Da Krügers Begriff der "Staatspflege" jedoch in seiner Allgemeinen Staatslehre wurzelt und von dorther seine Begründung erfahrt, soll dieser spezifisch geprägte Begriff hier keine weitere Verwendung finden.

V. Exkurs: SelbstdarsteUungstheorien in Sozialpsychologie und Soziologie

Nach diesem Überblick, der gezeigt hat, daß der Begriff "Selbstdarstellung des Staates" häufig als feststehender benutzt wird, ohne definiert zu sein, soll in einem Zwischenschritt kurz eine Beschäftigung mit jenen Wissenschaftsbereichen erfolgen, in denen allein Theorien der Selbstdarstellung oder wenigstens Grundzüge solcher Theorien bislang diskutiert werden: mit der Sozialpsychologie und der Soziologie. Angesichts des Fehlens einer Theorie der Selbstdarstellung des Staates in der Allgmeinen Staatslehre erscheint ein solcher Seitenblick auf Nachbarwissenschaften angebracht, um - ausgehend von den Fragestellungen und Resultaten der sozialpsychologischen und soziologischen Überlegungen zur Selbstdarstellung - die hier angestrebte staatstheoretische Untersuchung der Selbstdarstellung strukturieren zu können. Dabei wird mit Rücksicht auf die zentrale Fragestellung dieser Arbeit die psychologische und die soziologische Perspektive auf das Problem "Selbstdarstellung" nicht durchgehend scharf trennbar sein. Dies erscheint aber insofern vertretbar, als "die bei Soziologen und Sozialpsychologen konzeptuell unterschiedliche Auffassung von Öffentlichkeit, also jener Instanz, der gegenüber man sich präsentiert, wenn 120 Da diese überwiegend in der Verfassung niedergelegt sind, vermag es durchaus zu überzeugen, wenn Klein, in: VVDStRL 37, S. 104, auch von "Verfassungspflege" spricht.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

man Selbstdarstellung nach außen betreibt, ... sich ... im wesentlichen auf den Umfang, auf die Reichweite von Öffentlichkeit [beschränkt]. Sie betrifft nicht das Verhalten des Individuums als Kommunikator, als Sender oder Absender. Der sich selbst Darstellende bleibt ein Individuum."121 Hinsichtlich der beiden Pole von Selbstdarstellung, dem Selbstdarsteller einerseits und dem Selbstdarstellungsadressaten andererseits, variieren Soziologie und Psychologie also lediglich in der Größe der Adressatengruppe: Solange sich das Selbstdarstellungsverhalten an ein oder mehrere Individuen richtet, die soziologisch relevante Aggregatzustände (wie Gruppen, Schichten, Organisationen) nicht repräsentieren, ist es in der Regel Gegenstand sozialpsychologischer Analyse, andernfalls erschließt es sich eher der soziologischen Interpretation.1 22

1. Selbstdarstellung als Analogie zum Bühnenschauspiel: Erving Goffman

Der amerikanische Soziologe Erving Goffman hat in seiner 1959 erstmals erschienene Arbeit "The presentation of self in everyday life"l23 die Selbstdarstellung von Individuen im Alltagsleben in Analogie zum Bühnenschauspiel beschriebenl24 : "Eine 'Darstellung' (perfomance) kann als die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden, die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Wenn wir einen bestimmten Teilnehmer und seine Darstellung als Ausgangspunkt nehmen, können wir diejenigen, die die anderen Darstellungen beisteuern, als Publikum, Zuschauer oder Partner bezeichnen. Das vorherbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet ... , können wir 'Rolle' (part) nennen."l25 Goffmans Ausgangsthese besagt, daß beim AufeinandertrefIen von Individuen sich diese stets darum bemühen, Informationen über das jeweilige Gegenüber zu erlangen, und zwar auf verschiedenen Wegen; Informationsquellen können sowohl das Auftreten und die äußere Erscheinung als auch sprachliche

Mummendey, Selbstdarstellung, S. 75 f. VgI. Mummendey, Selbstdarstellung, S. 59 und S. 76. 123 Deutsch: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 7. Auflage. München 1991. 124 Wobei Goffman jedoch selbst ausdrücklich betont, daß die begriffliche Analogie "zum Teil ein rhetorisches Manöver" darstellt, Goffman, Selbstdarstellung, S. 232. 125 Goffman, Selbstdarstellung, S. 18. 121 122

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Informationen sein. Aufgrund dieser beiden Kommunikationsströme l26 bilden sich die Individuen ihre Urteile über das Gegenüber. Daher wird es im Interesse des Individuums liegen, sich selbst so darzustellen, daß bei seinem Gegenüber ein Eindruck hervorgerufen wird, der diesen veranlaßt, freiwillig und von sich aus in Übereinstimmung mit den Absichten des Darstellers zu handeln.l27 Ein Individuum hat es also nach Goffman in der Hand, eine gewisse Kontrolle über die Reaktionen auszuüben, die sein Verhalten beim Interaktionspartner auslöst. Goffmans Untersuchung befaßt sich im wesentlichen mit den Techniken, die angewandt werden, um Eindrücke hervorzurufen und mit den Folgeerscheinungen, die mit der Anwendung derartiger Techniken verbunden sind. Der Beschreibung der Selbstdarstellung im alltäglichen Leben, den Fallbeispielen, die Goffman ausbreitet, kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Es sollen lediglich einige grundsätzliche Ergebnisse Goffmans zusammengefaßt werden. Danach ist die Selbstdarstellung, das Eindruckrnachen auf andere Personen, etwas völlig Selbstverständliches, das von dem alltäglichen Interaktionsverhalten kaum zu trennen iSt. I28 Dabei drängt sich der Eindruck auf, daß bei nahezu allen Selbstdarstellungen eine Tendenz zur Beschönigung und Idealisierung geradezu zwangsläufig und daher "normal" ist. 129 Goffmans Analogie zur BühnendarsteIlung darf jedoch nicht dahingehend (miß-)verstanden werden, als wolle der Darsteller anderen Personen stets bewußt etwas vormachen. Es trägt im Gegenteil zum Reiz der Arbeit Goffmans bei, daß er die Frage danach, ob bewußte Selbstdarstellung vorliege, pragmatisch umgeht, indem er auf den Eindruck beim Beobachter abstellt, den der Darsteller tatsächlich übermittelt hat. Da der Beobachter aufgrund dieses Eindruckes handelt, steht fest, daß überhaupt ein Eindruck vermittelt wurde, und es Die beiden KommunikationsstrÖlne unterliegen in unterschiedlich starkem Maße Möglichkeit einer (bewußten oder unbewußten) Manipulation: Mittels sprachlicher Außerungen können Informationen gezielter übermittelt werden als durch sonstige Handlungen, und obwohl beide Kommunikationstypen offen für die Vermittlung von Fehlinformationen sind - einmal durch Täuschung, das andere Mal durch Verstellung -, lassen sich verbale Informationen doch leichter manipulieren. Da dies den Beobachtern laut Goffman aber bekannt ist, neigen sie dazu, mehr Gewicht auf non-verbale Informationen zu legen, soweit diese in Widerspruch zu den verbalen stehen, um daraus Schlüsse zu ziehen. Dies begründet nach Goffman "eine fundamentale Asymmetrie des Kommunikationsprozesses", vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 10. 127 Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 7 f. 128 Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 233. 129 Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 35 ff.; ebenso Luhmann, Organisation, S. 113 f. 126

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

tritt di6 Frage in den Hintergrund, ob dies bewußt oder unbewußt, gezielt oder

absichtslos geschah.1 3O Goffman unterscheidet vielmehr danach, ob eine Selbstdarstellung "aufrichtig" ist oder "zyniSCh". Aufrichtig nennt er die Darstellung dann, wenn der sich Darstellende von dem überzeugt ist, was er darstellt, als zynisch bezeichnet er sie, wenn der Darsteller selbst nicht von dem Dargestellten überzeugt ist. Damit ist ein Grundproblem angesprochen: das des Verhältnisses von dargestelltem Selbst und Verhalten, von Ausdruck und Handeln.l 31 Goffman belegt hier anhand einer Reihe von Untersuchungen das häufige Auftreten einer Diskrepanz zwischen Darstellung und zugrundeliegender Realität.

2. Selbstdarstellung von Gruppen

Im Zusammenhang der Frage nach der staatlichen Selbstdarstellung erscheint auch Goffmans Analyse der Selbstdarstellung von "teams", also von kleineren oder größeren Gruppen von Individuen von Interesse. Goffman weist darauf hin, daß die alltägliche Selbstdarstellung eines Menschen häufig "integraler Bestandteil einer Darstellung ist, die durch enge Zusammenarbeit mehi-erer Teilnehmer geschaffen und gestützt wird."132 Zusammen bilden diese Personen ein Darstellungs-Team - Goffman spricht auch von "Ensembles"133 - das gemeinsam an einer Darstellung arbeitet. Solche Ensemble-Darstellungen unterscheiden sich laut Goffman strukturell von individuellen Einzeldarstellungenl34, da die Gemeinsamkeit der Darstellung die Beziehungen zwischen den EnsembleMitgliedern beeinflußt. Als Grundelemente dieser Beziehung führt Goffman zum einen die gegenseitige Abhängigkeit an135, die daraus resultiert, daß jedes Ensemble-Mitglied die gemeinsame Darstellung stören kann. Zum anderen benennt Goffman ein gewisses "Eingeweihtsein"l36 der zusammenarbeitenden Ensemble-Mitglieder, die voreinander schwerlich denselben Eindruck aufrechterhalten können wie vor ihrem gemeinsamen Publikum. "Ensemble-Mitglieder sind daher meisten proportional zur Häufigkeit ihres gemeinsamen Auftretens als Ensemble und zur Größe des Bereichs, in dem ein bestimmter 130 131

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Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 10. Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 54 ff. Goffman, Selbstdarstellung, S. 73. Goffman, Selbstdarstellung, S. 75. Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 75. Vgl. Goffman, Selbstdarstellung, S. 77. Goffman, Selbstdarstellung, S. 78.

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Eindruck gewahrt werden muß, durch ein besonders enges Verhältnis, das man 'Vertraulichkeit' nennen könnte, miteinander verknüpft." Es handelt sich bei dieser Vertraulichkeit "um eine formalisierte Beziehung ... , die automatisch angeboten und angenommen wird, sobald der Einzelne in das Ensemble eintritt"137 und die die Darstellung im Team entscheidend prägt.138

3. Selbstdarstellung als "Impression-Management"

Ähnlich wie Goffman geht die etwa zu Anfang der siebziger Jahre in der Sozialpsychologie entstandene, sog. "Impression-Management-Theorie" davon aus, "daß Menschen aktiv handeln und sich mit ihrer Umwelt interaktiv auseinandersetzen. Menschen reagieren nicht nur passiv auf interne und externe Reize; sie beeinflussen in gezielter Weise ihre Umwelt, ... ihre Mitmenschen."139 Ziel ist die Kontrolle des eigenen Eindrucks beim Interaktionspartner, d.h. es wird der Versuch einer Beeinflussung jenes Bildes unternommen, das sich andere Personen von dem "Darsteller" machen: "Die Person ist also in der sozialen Interaktion damit beschäftigt, den Eindruck, den die andere Person von ihr erhält, zu steuern."l40 Die Mittel und Techniken, die bei diesem ständig ablaufenden Prozeß eingesetzt werden, versucht die Impression-Management-Theorie zu analysieren und zu systematisieren. Die amerikanischen Psychologen Tedeschi, Lindskold und Rosenfeld haben dazu ein Schema entwicke1t1 41 : Sie unterscheiden zunächst zwischen den Ordnungsgesichtspunkten 'Strategie' und 'Taktik', um zu verdeutlichen, daß Selbstdarstellungs-Techniken eher kurzfristig und situationsspezifisch angelegt sein können oder auch langfristig und situationsübergreifend. Weiter unterscheiden sie zwischen sog. 'assertiven' (d.h. auf Durchsetzung zielenden) und 'defensiven' (also verteidiGoffman, Selbstdarstellung, S. 78. Anders als Goffman legt Niklas Luhmann in seiner Organisationssoziologie das Hauptaugenmerk bei der Untersuchung der Besonderheiten der Selbstdarstellung von sozialen Gruppen bzw. Organisationen weniger auf die inneren Strukturen dieser Gruppen als vielmehr auf die Wechselwirkung zwischen den Erwartungen der Umwelt an die Gruppe und deren Versuch, sich diesen Erwartungen entsprechend darzustellen. Am Beispiel öffentlicher Verwaltungen versucht Luhmann zu zeigen, daß eine Erreichung des jeweiligen Organisationszweckes - und damit die Sicherung des Fortbestandes der Organisation - entscheidend vom Vertrauen der Umwelt in die Richtigkeit, Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit der Entscheidungen der Organisation abhängt; vgl. Luhmann, Organisation, S. 108 ff. 139 Mummendey/Bolten, Impression-Management, S. 57. 140 Mummendey, Selbstdarstellung, S. 128. 141 Tedeschi, Introduction. 137 138

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

genden) Techniken. Nach dieser Systematik wäre bei einer assertiven Selbstdarstellungs-Strategie die Person darum bemüht, sich eine langfristig gültige, gute Reputation zu erwerben, die über verschiedene Situationen hinweg Wirksamkeit entfaltet. 142 Selbstdarstellung umfaßt nach der hier vorgestellten Ansicht die Präsentation der eigenen Person, verbunden mit der Kontrolle von Urteilen anderer Individuen über die eigene Person.1 43 Selbstdarstellung spielt sich danach zwischen zwei von einander abhängigen Polen ab, dem sich selbst darstellenden Individuum einerseits und dem Darstellungsadressaten - einer mehr oder weniger zahlreichen Öffentlichkeit - andererseits.1 44

VI. Zwischenergebnis

Die bisherige Untersuchung dürfte im wesentlichen die Erkenntnis gefördert haben, daß der Begriff der "Selbstdarstellung des Staates" weder in der staatstheoretischen Literatur noch in der Rechtsprechung eine geschlossene Defintion gefunden hat. Zwar sprechen sowohl die Judikatur als auch die Literatur geläufig von staatlicher Selbstdarstellung, sie erläutern diesen Begriff inhaltlich jedoch nicht näher, sondern setzen ihn im wesentlichen voraus. Indessen finden sich in den knapp vorgestellten psychologischen und soziologischen Forschungen zur Selbstdarstellung von Individuen und sozialen Gruppen eine Reihe nützlicher Differenzierungen und weiterführender Fragen, für die im folgenden im Bereich der Allgemeinen Staatslehre Antworten gesucht werden sollen: Wer stellt sich wem gegenüber dar? Mit welchen Mitteln und Techniken geschieht dies? Und welchem Zweck dient die staatliche Selbstdarstellung? Vgl. ausführlich Mummendey, Selbstdarstellung, S. 139 ff. Vgl. Mummendey, Selbstdarstellung, S. 15 f. Dabei liegt ein gewisses Übergewicht auf dem zweiten genannten Element, also auf der Beeinflussung der Personenwahrnehmung durch den Interaktionspartner. 144 Dabei setzt diese Grundkonstellation voraus, daß beide Pole tatsächlich existieren, eine Annahme, die bei näherem Hinsehen problematischer ist, als sie zunächst erscheint. Insbesondere die in der beschriebenen Präsentation des Selbst implizierte Voraussetzung, daß ein "Selbst" - verstanden als dasjenige, was eine Person eindeutig identifizierbar macht - überhaupt existiert, wirft erhebliche Probleme auf. Die Psychologie antwortet darauf mit der "Konstruktion" sog. "Selbstkonzepte", die sie definiert als "Gesamtheit der auf die eigene Person bezogenen Beurteilungen"; vgl. Mummendey, Selbstdarstellung, S. 79. Die Impression-Management-Theorie versucht die Problematik dadurch handhabbar zu machen, daß sie nicht nach dem "wahren" Selbstkonzept sucht, sondern die Selbstdarstellung analysiert, also das nach außen präsentierte Konzept. 142 143

B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung

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B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung Bevor die Frage nach den Selbstdarstellungsadressaten und den Funktionen staatlicher Selbstdarstellung beantwortet werden kann, gilt es zunächst einige ihrer Erscheinungsfonnen in der Praxis aufzuzeigen. Allein der Blick auf Beispiele verspricht einen Eindruck von der Vielfältigkeit staatlicher Selbstdarstellung, von ihren unterschiedlichen Techniken und Wirkungsweisen, und ermöglicht so weitergehende Aussagen über diesen informalen Bereich staatlichen Handeins. Zwei Beispiele sollen daher im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt werden, deren Einordnung in den Bereich staatlicher Selbstdarstellung trotz des konstatierten Mangels einer geschlossenen Begriffsbildung weithin anerkannt ist. Zum einen aus dem assoziativ geprägten Bereich staatlicher Selbstdarstellung die Staatssymbole, zum anderen die staatliche Öffentlichkeitsarbeit als Beispiel für infonnative Fonnen staatlicher Selbstdarstellung. Im übrigen können nur Hinweise auf weitere Felder und Mischfonnen staatlicher Selbstdarstellung gegeben werden, etwa auf die Frage nach der Hauptstadt eines Staates145, die für seine Selbstdarstellung eine entscheidende Rolle spielt. Dies hat die nach der Vereinigung Deutschlands ebenso heftig wie lang anhaltend geführte Diskussion über den Umzug der Verfassungsorgane von Bonn nach Berlin eindrucksvoll vor Augen geführt 146; "Zur nationalen Integration gehört ein Minimum an visuell nachvollziehbarer Urbanität des öffentlichen politischen Raumes."147 Innerhalb dieses Raumes entfaltet sich das traditionelle Staatszeremoniell 148, das ebenfalls der staatlichen Selbstdarstellung zuzurechnen ist. Ein weiteres Feld ist die auswärtige Kulturpolitik 149, und damit verwandt, wenn auch auf anderer Ebene, die Bemühungen der Landesvertretungen beim Bund um eine Darstellung der Bundesländer.150 Häufig wird auch auf den Sport als Element staatlicher Selbstdarstellung hingewiesen.151 Herbert Krüger subsumiert unter 145 Zur Hauptstadt vgl. FS Meinecke; Wendehorst/Schneider, Hauptstädte; Schieder/Brunn, Hauptstädte; Baumuck/Brunn, Hauptstadt. 146 Vgl. zu dieser Diskussion aus der Fülle der Äußerungen nur von Beyme, Hauptstadtsuche; Häberle, in: DÖV 1990, S. 989; Heinlzen, in: Zeitschrift für Politik 1990, S.134; Wieland, in: Der Staat 1991, S. 231. Das stenographische Protokoll der Debatte im Deutschen Bundestag am 20. Juni 1991 findet sich kommentiert bei Herles, Hauptstadt-Debatte. 147 Von Beyme, Hauptstadtsuche, S. 122. 148 Vgl. Hartmann, Staatszeremoniell. 149 Vgl.Altmann, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 93. 150 Vgl. Klemmert, Bundesländer. 151 Vgl. WinJcler, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 109.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

seinem der Selbstdarstellung des Staates nahestehenden Begriff der "Staatspflege"152 auch solche Erscheinungen wie Staatsfeste und sogar die allgemeine Wehrpflicht.

I. Assoziative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel der Staatssymbole

Zur Selbstdarstellung des Staates gehören traditionell seine Symbole. 153 Die wichtigsten l54 sind die Flagge l55, die Nationalhymne 156 und das Staatswappen, in einem weiteren Sinne 157 auch Nationalfeiertage 158, Hauptstadt, Staats siegel, Orden und Ehrenzeichen159. Gelegentlich zählt man zu den Staats symbolen auch die Verfassung selbst l60 · oder, insbesondere in Monarchien, das Staatsoberhaupt 161. Die Staatssymbole im engeren Sinne entstanden im Zusammenhang der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten.162 Anknüpfend an die französische Revolutionssymbolik, zum Teil auch in Umformung mittelalterlicher Herrschaftszeichenl63, wurde "als Kennzeichen des Nationalstaates .. die dreifarbige Flagge, später auch die Nationalhymne, von den meisten neu entstehen152 Vgl. dazu oben 1. Teil A. IV.: Exkurs: Der Begriff der "Staatspflege" bei Herbert Krü~er.

1 3 Vgl. Friedei, Staatssymbole; HaltenJumer, Nationalsymbole; Klein, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht I, S. 733; Rabbow, Symbole; Stern, Staatsrecht I, S. 1:76: "Staat1ichkeit findet seit jeher Ausdruck in Symbolen". 154 Farben, Flagge, Wappen und Hymne der Bundesrepublik stellt § 90a StGB ausdrücklich unter Schutz. 155 Vgl. dazu Hecker/Hoog, Flaggen; Hoog, Flaggenrecht; Guben, Fahne. 156 Vgl. K1wpp/KlJhn, Hymne; Lermen, in: FS von Hassei, S. 13; Spendel, in: JZ 1988, S. 744; Tümmler, Nationalhymne. 157 Exotisch aber sicherlich der US-Bundesstaat South Carolina, der nicht nur eine Staatsflagge gesetzlich festgelegt hat, sondern auch einen "Staatsbaum", einen "Staatsvogel", eine "Staatsblume" und sogar einen "Staatsfisch"; Hinweis bei Noll, in: ZSchwR 1981, 1. Hbd., S. 360. 158 Vgl. Häberle, Feiertagsgarantien; Schellack, Nationalfeiertage. 159 Geeb/Kirchner, Orden; Ottinger, Orden; Schmitt, in: BayVBI 1976, S. 324. 160 So für die Verfassung der Vereinigten Staaten Loewenstein, in: FS Laun, S. 559577; für den Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung AnschiJtz/Thoma, Handbuch I, S. 200 ff; Smend, Verfassungsrecht, S. 163. 161 So ausdrücklich Art. 1 der Japanischen Verfassung von 1946: "Der Kaiser ist das Symbol des Staates und der Einheit des Volkes"; zitiert nach Brorsen, Verfassungen. 162 Vgl. zu diesem Zusammenhang Fehrenbach, in: Historische Zeitschrift 1971, S. 296; zur historischen Entwicklung der Nationalsymbole in Deutschland vgl. Hattenhauer, Nationalsymbole. 163 Vgl. dazu Schramm, Herrschaftszeichen.

B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung

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den Nationen des 19. und 20. Jahrhunderts übernommen."I64 Dieser Tradition entspricht die Festlegung der Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold in Artikel 22 GG. Diese Norm trifft die einzige, wenn auch lediglich "bruchstückhafte"165 Regelung der Verfassung zur Staatssymbolik und zur staatlichen Selbstdarstellung insgesamt.166 Symbole sind "sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit" 167, in denen Geistiges und Materielles zusammentreffen. Das Symbo1 168 basiert auf sinnlich, meist visuell wahrnehmbaren Phänomenen aus dem Bereich der physischen Realität, die als Medien für die Übermittlung von Inhalten aus anderen, nichtwahrnehmbaren Bereichen dienen, indern sie auf dieses Nichtwahrnehmbare verweisen: "Ein Wort oder ein Bild ist symbolisch, wenn es mehr enthält, als man auf den ersten Blick erkennen kann."169 Dabei wendet sich das Symbol an den ganzen Menschen, und nicht nur an seinen Verstand.17 o Das Symbol teilt seinen Inhalt assoziativ als bildhafte Einheit mit, statt ihn analytisch in seine Bestandteile zu zerlegen: "Symbole haben keinen ... eindeutig angebbaren Sinngehalt. Sie stellen vielmehr ein eher vages Deutungsangebot bereit, das seine Adressaten in Freiheit annehmen oder auch ignorieren können."171 Diese fehlende Eindeutigkeit symbolischer Kommunikation hält Interpretationsspielräume offen und fördert den sozialen Austausch über den Inhalt des Symbols, bei dem im Dialog ein Konsens gesucht oder im Protest gegen das Symbol die Forderung nach sprachlich klar und rational formulierten Aussagen provoziert werden kann. Staatssymbole sind politisch-soziale Symbole, die komplexe soziokulturelle Vorstellungsgehalte übermitteln.1 72 Sie wirken nach innen wie nach außen. Nach außen, in der zwischenstaatlichen Praxis, dienen die Staatssymbole in er164 Fehrenbach, in: Historische Zeitschrift 1971, S. 315. 165 Maunz, Art. 22 GG, RN 1, in: Mlmnz!Dürig, Kommentar zum Grundgesetz. 166 Vgl. dazu BVerfGE 81, 278 und oben 1. Teil A. III.: Der Begriff der Selbstdarstellung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. auch Klein, Art. 22 GG, RN 1, in: Bonner Kommentar: Art. 22 GG ist "die einzige Vorschrift ... , in der etwas von der Präsentation, der Selbstdarstellung dieses Staates sichtbar wird". 167 Lurker, Symbolik, S. 719. 168 Vgl. Helle, in: Staatslexikon, Bd. 5, Sp.406: "Symbol (von griech. symbAllein = zusammenwerfen, vereinigen) enthält in der Ursprungsbedeutung des Wortes den Hinweis auf die Synthese zweier, ehemals getrennter Bestandteile. Es signalisiert das Ergebnis eines Prozesses, in dessen Verlauf eine Beziehung hergestellt wird". 169 Jung, Symbole, S. 57. 170 Vgl. Lurker, Symbolik, S. 719. 171 Helle, in: Staatslexikon. Bd. 5, Sp. 406. 172 Von den Staatssymbolen zu unterscheiden sind die sog. Rechtssymbole. Zu diesen vgl. nur Kocher, Symbole.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

ster Linie der Identifikation173, indem sie die Existenz eines Staates anzeigen. Zugleich signalisieren sie die Zugehörigkeit von Gebieten, Gebäuden oder auch Fahneugen zu einem Staat und fördern so durch Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit deren rechtliche und tatsächliche Zuordnung. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Handelsflagge, mit der die Nationalität von Handelsschiffen gekennzeichnet wird. 174 Nach innen dienen die Staatssymbole in erster Linie der Integration 175, also der Schaffung und Sicherung von Gemeinschaft und Solidarität innerhalb der auseinanderstrebenden, pluralistischen Gesellschaft. Die Staatssymbole sind ebenso wie andere soziale Symbole, beispielsweise feststehende Sprachformeln oder religiöse Riten, einem größeren Personenkreis oft von Kind an vertraut, in einem langen Sozialisationsprozeß erlernt und daher unmittelbar verständlich,176 Werden sie angenommen und anerkannt, können sie das zwischenmenschliche Handeln erleichtern und koordinieren, dem Einzelnen das Erlebnis der Zusammengehörigkeit in einem politiSChen Gemeinwesen vermitteln und dadurch die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft bestärken177: "Das Symbol gibt Teilhabe und fordert Teilnahme."178 Wie dieser durch Staatssymbole angeregte Integrationsprozeß individual- und sozialpsychologisch im Kern abläuft, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher untersucht werden179, seine Wirksamkeit läßt sich jedoch historisch vielfach belegen,180

17~ Vgl. zur völkerrechtlichen Bedeutung des Art. 22 GG MtJIDIZ, Art. 22 GG, RN 2, in: MtJIDIZ/Dürig, Grundgesetz-Kommentar. 174 An die Staatszugehörigkeit der Schiffe knüpfen sich wichtige Folgen im Hinblick auf Jurisdiktion, Haftung und Ausübung des diplomatischen Schutzes, vgl. Klein, Art. 22 GG, RN 11 ff., in: Bonner Kommentar; zu den Einzelheiten vgl. Hoog, Raggenhoheit. 175 Vgl. dazu Smend, Verfassungsrecht, S. 163 ff.; und unten 1. Teil D.: Staatliche Selbstdarstellung und Integration. 176 Zur anthropologischen Funktion der Symbole für die Gruppenbildung vgl. besonders Konrad Lorenz, zitiert nach Noll, in: ZSchwR 1981, 1. Hbd., S. 348: "Gruppen, die größer sind als jene, die durch persönliche Bekanntschaft und Freundschaft zusammengehalten werden, verdanken ihre Kohärenz immer und ausschließlich Symbolen, die durch kulturelle Ritualisation hervorgebracht wurden und von allen Gruppenmitgliedern als etwas Wertvolles empfunden werden." 177 Vgl. Helle, in: Staatslexikon, Bd. 5, Sp. 406. 178 Heinz-Mohr, Symbole, S. 9. 179 Friedei, Staatssymbole, S. 13, nimmt sogar an, daß "die durch den Symbolisierungsvorgang ausgelösten integrierenden, differenzierenden oder desintegrierenden Impulse im einzelnen nicht zu ermitteln" sind. 180 Vgl. Loewenstein, in: FS Laun, S.559; Fehrenbach, in: Historische Zeitschrift 1971, S. 296; HaJtenhauer, Nationalsymbole.

B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung

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Die eminente politische Bedeutung der Staatssymbole zeigt sich besonders in Zeiten des Umbruchs: "Revolutionäre Bewegungen, die alte Symbole stürzen, schaffen neue. Mit der russischen Oktoberrevolution wurden die Ikonen verbannt, dafür blühte der Kult mit den Bildern der Parteiführer auf."181 Auch in Deutschland prägten die politischen Umwälzungen dieses Jahrhunderts die Staatssymbole. Immer wieder wurden die Symbole dazu benutzt, fundamentale staatliche oder gesellschaftliche Brüche zu legitimieren oder zu stilisieren. Schon am Tag der Abdankung Kaiser Wilhelms 11., dem 9. November 1918, wurde öffentlich der Wechsel der Reichsfarben vom Schwarz-Weiß-Rot des Deutschen Reiches von 1871 zum Schwarz-Rot-Gold der Revolution von 1848 vorgeschlagen182, um so die Abkehr vom politischen System Bismarckscher Prägung zu unterstreichen.1 83 Nach harten Auseinandersetzungen mit jenen politischen Kräften, die durch das Festhalten an den alten Farben SchwarzWeiß-Rot bewußt die Erinnerung an die Schaffung der Reichseinheit aufrecht erhalten wollten, konnte nur ein Kompromiß Eingang in die Weimarer Verfassung finden.1 84 Artikel 3 WRV lautete: "Die Reichsfarben sind schwarz-rotgold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke." Dieser nur halbherzig vollzogene Flaggenwechsel prägte auch die Verordnung vom 11. April 1921 über die deutschen Flaggen185, mit der das Flaggenwesen des Reiches neu geordnet wurde. Danach waren zehn amtlich festgelegte Flaggen zu unterscheiden, von denen fünf auf der schwarz-weiß-roten Trikolore aufbauten und die Reichsfarben lediglich in der oberen linken Ecke aufweisen. Damit wurde "das Symbol der Kaiserzeit .. offIziell gleichrangig neben das der Republik gestellt. Das eigentliche Staatssymbol, die Reichsfarben, und die von ihnen vertretenen Werte verloren gerade durch diese Gegenüberstellung mit einem zweiten, nunmehr völlig anders auszudeutenden Staatssymbol ihre Verbindlichkeit."l86 Neben die Frage der Ausgestaltung der Flagge trat erschwerend das Problem, wie der anhaltende Widerstand von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, insbesondere Gemeinden, und von Privaten gegen die Reichs-

181 LUTker, Symbolik, S. 387. Ähnlich Stern, Staatsrecht I, S. 282. Vgl. zur politischen Symbolik in der ehemaligen Sowjetunion Arvidsson/Blomquist, Symbols; zur Situation in der ehemaligen DDR vgl. Azaryahu, Thälmannplatz. 182 Vgl. Friedei, Staatssymbole, S. 33. 183 Vgl. Smend, Verfassungsrecht, S. 26l. 184 Vgl.Anschütz, Verfassung, S. 49; Klein, Art. 22, RN 23, in: Bonner Kommentar. 185 RGBI. 1921, S. 483. 186 Friedei, Staatssymbole, S. 20. 4 Wefing

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

farben und die Nationalflagge zu überwinden seien,187 In diesem Weimarer Flaggenstreit, der 1921 sogar zum Rücktritt der Regierung Luther führte, kommt besonders plastisch "der die Geschichte der Weimarer Verfassung insgesamt prägende Kampf um ihre Legitimität zum Ausdruck."I88 Die politische Zäsur von 1933 brachte einen erneuten Flaggenwechsel: Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die sChwarz-rot-goldene Flagge durch die Hakenkreuzflagge auf rotem Grund abgelöst, neben die zunächst gleichberechtigt das Schwarz-Weiß-Rot des Kaiserreiches trat l89, bis in dem Reichsflaggengesetz von 1935 die Hakenkreuzflagge zur ausschließlichen Reichs-, National- und Handelsflagge bestimmt wurde,190 Diese Vorschriften wurden ihrerseits kurz nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutsches Reiches durch das Alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 1 vorn 20. September 1945 ersatzlos gestrichen,191 Das Grundgesetz entschied sich in Artikel 22 in bewußter Anknüpfung an die demokratische deutsche Tradition sowohl der Paulskirche als auch der Weimarer Republik und in entschiedener Wendung gegen die eben überwundene Zeit des Nationalsozialismus wieder für die Farben Schwarz-Rot-Gold I92, die "1848/49 und 1918/19 für die Verbindung von Nation und Demokratie gestanden [hatten] und seit 1933 von Hitler unterdriickt worden" waren.1 93 Dennoch läßt sich eine gewisse Distanz gegenüber der Flagge und den übrigen Staatssymbolen in der Bundesrepublik nicht übersehen,194 Alois Friedei spricht in diesem Zusammenhang gar von einer deutschen "Syrnbolneurose"195: 187 Vgl. dazu Talarin-Tarnheyden, in: ÄÖR 1927, S. 313, sowie aus der Rechtsprechung PrOVG E 82, 82; dazu Ule, in: DVBI. 1981, S. 717 .. 188 Klein, Art. 22, RN 14, in: Bonner Kommentar. 189 Vgl. Erlaß des Reichspräsidenten vom 12. März 1933, RGBI. I S. 103. 190 Vgl. Reichsflaggengesetz vom 15. September 1935, RGBI. I S. 1145. 191 Vgl. Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 1, S. 3. 192 Vgl. Maunz, Art. 22 GG, RN 9, in: Maunz!Dürig, Grundgesetz-Kommentar; Klein, Art. 22 GG, RN 33, in: Bonner Kommentar. 193 Klein, Art. 22 GG, RN 33, in: Bonner Kommentar; dort auch ausführlich zu Symbolgehalt und normativer Aussage der Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold. 194 Vgl. die Polemik bei Stürmer, Stil, S. 18, über das Verhältnis zum Bundesadler: "Der Umgang mit dem traditionellen Wappentier des deutschen Staates ist aufschlußreich .... Minuziös ist die Dienstflagge der Bundeswehr geregelt, desgleichen auch der Adler des BGS oder der auf dem Briefpapier der ... Abgeordneten des Deutschen Bundestages - jeder Adler allerdings wiederum anders, als handele es sich beim deutschen Staat um den Dachverband der Ornithologen .... Kein Großunternehmen der deutschen Wirtschaft würde mit seinem Logo so umgehen, wie es der deutsche Staat mit seinem Zeichen tut." 195 Friedei, Staatssymbole, S. 21.

B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung

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Wegen ihres assoziativen, stärker an die Emotion denn an das rationale Denken appellierenden Charakters werden Staats symbole häufig kritisiert, mitunter sogar gänzlich abgelehnt.1 96 Diese Skepsis ist vor dem Hintergrund des Mißbrauchs nahezu aller Symbole in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu sehen197 und erscheint daher durchaus verständlich.1 98 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob nicht die Zeit der Staatssymbole generell vorbei ist und ob eine relativ stabile Demokratie wie die Bundesrepublik überhaupt der Symbole bedarf.199 Ohne diese Fragen hier erschöpfend diskutieren oder gar beantworten zu können, sei auf einige Beobachtungen hingewiesen, die für eine nach wie vor auch in Deutschland vorhandene Bedeutung staatlicher Symbole sprechen dürften. So zeigten 1989 die Demonstranten während des politischen Umbruchs in der damaligen DDR ganz bewußt Flagge: Ein Meer sChwarz-rot-goldener Fahnen, aus denen das Emblem der DDR herausgeschnitten worden war, wogte durch die Straßen Ostdeutschlands.200 Umgekehrt belegen auch die politisChen Proteste und Angriffe gegen Symbole deren nach wie vor gültige Rolle: Wenn Demonstranten das amerikanische Sternenbanner verbrennen oder sowjetische Denkmäler vom Sockel stürzen, so sind diese antisymbolischen Handlungen ih196 Vgl. Whilehead, Symbolism, der Symbolismus mit 'direct knowledge' konfrontiert und vor ersterem wegen des hohen intuitiven und emotionalen Gehaltes warnt; kritisch dazu vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Symbolik totalitärer Systeme Loewenstein, in: FS Laun, S. 573 f.: "Der Verfassungsstaat, sich auf die Normenmäßigkeit seiner politischen Gestaltung verlassend, verachtete die politische Symbolik. Was von ihr traditionell erhalten wurde, wie flaggen, Staatssymbole, Nationalgesänge, verfiel der Stereotypizität, wurde farblos, emotional entleert und volksfremd. Von allen Regierungsformen ist der liberal-demokratische Staat derjenige, der des politischen Symbolismus am ehesten entraten zu können glaubte. Er hatte es schwer zu büßen." 197 Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 276. Zur ästhetischen Dimension der nationalsozialistischen Herrschaft vgl. Brenner, Kunstpolitik; Hinz, Dekoration; Reichei, Schein. 198 Wenn die These von Fehrenbach, in: Historische Zeitschrift 1971, S.356, zutreffend ist, die traditionelle Staatssymbolik sei in engem Zusammenhang mit der spezifischen historischen Konstellation der Herausbildung der bürgerlichen Nationalstaaten entstanden, dann mag ein weiterer Grund für die in der Bundesrepublik zu beobachtende Skepsis gegenüber der nationalen Symbolik darin liegen, daß eine Distanz zum Nationalstaatsgedanken insgesamt weit verbreitet ist. 199 Diese Frage stellt beispielsweise Friedei, Staatssymbole, S. 18. 200 Ebenso Hartmann, Staatszeremoniell, S. 19: "Die Bilder von den Ereignissen während des Umbruchs in den Staaten des Ostblocks sind hinreichender Beweis für die Feststellung, daß Staatssymbolen nach wie vor ein hoher Integrationswert zu eigen ist." Möglicherweise haben ähnlich wie in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas auch in Deutschland Nationalbewußtsein und entsprechende Symbole - samt nationalistischer Übersteigerung - lediglich unter dem Espanzer des Kalten Krieges überwintert und erheben sich sogleich in dem Moment wieder, in dem politisches Tauwetter einsetzt. Für entsprechende Vorgänge in Ungarn vgl. GartonAsh, Jahrhundert, S. 373.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

rerseits ebenfalls überaus symbolträchtig. 21l1 Sie machen die fortdauernde Wirkmächtigkeit der Symbole deutlich, gegen die sie gerichtet sind, und sei es nur in dem Widerspruch, den sie auslösen. Schließlich dürften der strafrechtliche Schutz der Staatssymbole202 und das Verbot der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen21l3 ebenfalls dafür sprechen, daß auch in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere den Staatssymbolen zumindest noch eine gewisse Bedeutung und Wirksamkeit zugeschrieben wird.

11. Informative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel amtlicher Öffentlichkeitsarbeit

Wegen der vor allem historisch bedingten Ressentiments gegen die staatlichen Symbole steht in der Bundesrepublik ein anderer Bereich im Vordergrund der Selbstdarstellung des Staates: Die in erster Linie auf die Information des Bürgers abzielende Öffentlichkeitsarbeit.204 Diese "Abfolge von amtlichen Aktionen auf dem Sektor der Kommunikation zwischen staatlichen Stellen und Bürgern"205 besitzt eine ähnlich lange Tradition als Instrument der Selbstdarstellung wie die Staatssymbolik.206 Anders als diese richtet sich die staatliche Öffentlichkeitsarbeit jedoch vornehmlich an den Intellekt des Adressaten: Wo ein Staatssymbol komplexe Inhalte auf ein einziges, häufig emotional besetzes Bild reduziert, liefert die staatliche Öffentlichkeitsarbeit in Gestalt meist

Ebenso Noll, in: ZSchwR 1981, 1. Hbd., S. 350 f. Vgl. § 90a Abs. 1 Ziffer 2, Abs. 2 StGB und dazu BVerfGE 81,278. VgJ. auch oben 1. Teil A. IU.: Der Begriff der Selbstdarstellung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 2113 Vgl. § 86a Abs. 1 und insbesondere Abs. 2 StGB. Vgl. auch die Anordnung zur Unterbindung des öffentlichen Zeigens der sog. Reichskriegsflagge, die von 1867 bis 1871 die Flagge der Marine des Norddeutschen Bundes und bis 1918 die der kaiserlichen Marine war, wegen rechtsextremistischen Mißbrauchs. Vgl. dazu z.B. Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Inneres des Landes Berlin vom 7.9.1993: Anweisung an die Polizei, "das Zeigen oder Verwenden der Reichskriegsflagge in der Öffentlichkeit als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne § 17 Abs. 1 ASOG BIn. zu bewerten und sicherzustellen, daß dies unterbunden wird." 204 Vgl. Böckelmann/Nahr, Öffentlichkeitsarbeit; Jarass, in: NJW 1981, S. 193; Kempen, Öffentlichkeitsarbeit; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit; Leisner, Öffentlichkeitsarbeit; Gröschner, in: DVBI. 1990, S. 619. 2115 Kempen, Öffentlichkeitsarbeit, S. 19. 206 Schon für Aristoteles hing die Größe eines Gemeinwesens von der Reichweite der Stimme seines Heroldes ab; vgl. Aristoteles, Politik, Siebentes Buch, 4. Kapitel, nach 1326 b. 2111 202

B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung

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sprachlicher Aussagen eine Vielzahl kleiner Mosaiksteine, die der Adressat selbst bewerten und kombinieren kann. Aufgrund dieser Wirkungsweise gilt die staatliche Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland trotz der Tätigkeit des nationalsozialistischen "Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda" im Vergleich zur Staatssymbolik als weniger problematisch3l7 ; das Bundesverfassungsgericht jedenfalls nimmt sogar ausdriicklich eine Notwendigkeit staatlicher Öffentlichkeitsarbeit an. 208 Dementsprechend betreiben in der Bundesrepublik alle drei Gewalten Öffentlichkeitsarbeit in erheblichem Umfang. 209 Besonders intensiv ist die Informationspolitik der Exekutive210 : Eigene Etats für die Öffentlichkeitsarbeit und spezialisierte Pressestellen bestehen bei allen Bundesministerien, bei den Landesregierungen sowie bei den meisten Landkreisen und kreisfreien Städten.2l1 Diese Stellen machen Vorgänge, Entscheidungen und Pläne aus ihrem Bereich bekannt, liefern also vor allem Tatsacheninformationen212, die eine Wissenserweiterung bei den Adressaten bezwecken.213 Dazu bedienen sie sich einer Vielzahl unterschiedlichster Kommunikationsmittel 214 : Neben den traditionellen gedruckten Publikationen215 gewinnen mehr und mehr die elektronischen Medien an Gewicht, insbesondere die Fernseh- und HÖrfunk-Spots. Hinzu tritt der weite Bereich der Pressearbeit, die sich an die Massenmedien als Multiplikatoren der öffentlichen Meinung wendet216: Zu erwähnen sind hier insbesondere die Pressekonferenzen, die durch Interviews oder Hintergrundgespräche im 317 Dazu und zu Versuchen einer Abgrenzung der "Öffentlichkeitsarbeit" von dem negativ besetzten Bereich der "Propaganda" vgl. Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, s. 67 ff. 208 Vgl. BVerfGE 44, 125, 147 f. 209 Zur Öffentlichkeitsarbeit der Justiz vgl. Wassermann, Öffentlichkeitsarbeit. Zur architektonischen Selbstdarstellung der Justiz vgl. Klemmer/Wassermann/Wessel, Gerichtsgebäude. 210 Vgl. dazu Hämmerlein, in: DÖV 1969, S.193;Jerschke, Öffentlichkeitspflicht. 211 Vgl. dazu Müller, Bürgerinformation; Häufter, in: VerwArch 1991, S. 1:77. 212 Darauf deutet auch die Bezeichnung "Presse- und Informationsamt der Bundesregierung" hin. 213 Vgl. hierzu BVerfGE 44, 125, 148: "Viele Gesetze sind heute infolge ihrer hohen Technizität ohne sachkundige Anleitung kaum noch hinreichend verständlich. Der Bürger wird durch Informationen, die ihm in allgemein verständlicher Weise den Inhalt von Gesetzen und deren Änderungen nahebringen, über seine Rechte und Pflichten aufgeklärt und instand gesetzt, von den ihm durch die Rechtsordnung eröffneten Möglichkeiten im persönlichen Bereich in angemessener Weise Gebrauch zu machen." 214 Vgl. die Zusammenstellung bei Schiirmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 103 ff. 215 Also insbesondere Broschüren, Ratgeber, Dokumentationen von Reden, Verträgen oder Gesetzestexten. 216 Zur Bedeutung der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit für die Informationsleistung der Medien vgl. nur Baerns, in: Fischer, Regierungssprecher, S. 55 ff.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

kleinen Kreis ergänzt werden217 , sowie die regelmäßigen Pressebulletins und andere Informationsdienste. Gerade die Einordnung dieser mittelbaren Öffentlichkeitsarbeit in den Bereich der staatlichen Selbstdarstellung bereitet jedoch Probleme 218 : Bei der Öffentlichkeitsarbeit staatlicher Stellen wird häufig gar nicht auf den Staat insgesamt verwiesen, sondern vielmehr die medienwirksame Präsentation einer bestimmten Politik und ihrer (vermeintlichen) Erfolge bezweckt. 219 Diese "Sprachrohr"-Funktionl l l beispielsweise des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung macht ein Organisationserlaß des Bundeskanzlers deutlich, der die Aufgaben und die Stellung des Amtes mit folgenden Worten beschreibt: "Als HauptsteIle der Bundesregierung für den Verkehr mit Nachrichtenträgern und den Organen der öffentlichen Meinungsbildung hat es folgende Aufgaben: .. Unterrichtung der Bürger und der Medien über die Politik der Bundesregierung durch Darlegung und Erläuterung der Tätigkeit, der Vorhaben und Ziele der Bundesregierung."221 Die Offenlegung und Darstellung der Tätigkeit etwa der Bundesregierung beinhaltet jedoch stets zugleich auch ein Stück Selbstdarstellung des Staates 222 : Die Herausgabe von Informationsmaterial beispielsweise über die Wirtschaftsoder Außenpolitik der Bundesregierung fördert jenseits der parteipolitischen Einfarbung durch die Amtsinhaber allgemein auch die Einsicht in Aufgaben und Leistungen des Staates. So bleiben die Übergänge zwischen der parteigrei217 Vgl. Manenson, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S.261; vgJ. zu diesem Themenkreis auch Fischer, Regierungssprecher. 218 Noch problematischer erscheint die Einordnung amtlicher Öffentlichkeitsarbeit in den Bereich der Selbstdarstellung des Staates, wenn die Öffentlichkeitsarbeit versucht, mittels multimedialer Kampagnen, in denen Empfehlungen, Appelle und Warnungen mit Tatsacheninformationen und ihrer Bewertung zusammengefaßt werden, Einfluß auf das Verhalten der Bürger zu nehmen und auf diese Weise gesellschaftliche Tatbestände längerfristig zu beeinflussen. Beispiel hierfür ist die sog. "Aids"-Aufklärung; vgl. dazu Gramm, in: NJW 1989, S. 2917. Grundlegend zum sog. Social Marketing Kotler/Zaltmann, in: Journal of Marketing 3/1971, p.3. Vgl. auch Hill, in: FS Eichenberger sowie als Fallstudie von Roehl, Volkszählung. Derartige Kommunikationsstrategien staatlicher Stellen verlassen aber nach Ansicht von Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 105, "die Ebene des Publizitätswirkens und der Konsensbildung. Es handelt sich vielmehr um Mittel der Staatsleitung oder solche zur Erfüllung konkreter Verwaltungsaufgaben." 219 Vgl. dazu nur Häberle, in: JZ 1977, S. 361. 220 Begriff von Sänger, Pressestellen, S. 28. 221 Organisationserlaß vom 18. Januar 1977, BGBI. I, S. 128. 222 In Anlehnung an Goffman könnte die These formuliert werden, daß man sich nicht nicht selbst darstellen kann; bedeutet doch sogar noch der Verzicht auf eine selbstdarstellerische Inszenierung eine Selbstdarstellung. Vgl. dazu oben 1. Teil A. V. 1.: Selbstdarstellung als Analogie zum Bühnenschauspiel: Erving Goffman.

B. Beispiele staatlicher Selbstdarstellung

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fenden (Wahl-)Werbung mit öffentlichen Mitteln und der auf den Staat insgesamt verweisenden amtlichen Öffentlichkeitsarbeit fließend. 223 Eine letztlich trennscharfe Grenzlinie vermochte auch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zur Zulässigkeit amtlicher Öffentlichkeitsarbeit nicht zu ziehen. Z24 Die amtliche Öffentlichkeitsarbeit läßt sich nur dort sicher im Bereich der Selbstdarstellung des Staates verorten, wo sie in Nachbarschaft zur politischen Bildung Aufgaben, Funktionsweise und Zusammenwirken der staatlichen Institutionen vermittelt: Mit Hilfe etwa von Handbüchern, Übersichtstafeln oder Seminarveranstaltungen legt sie die Grundlage für die Teilnahme der Bürger am Verfassungsleben: "Je mehr der Einzelne .. zur eigenen Beurteilung aufgerufen und in ihm das Bewußtsein wachgehalten wird, als selbstverantwortliches Glied der Rechtsgemeinschaft die Gestaltung, Ausformung und Konkretisierung der .. Rechtsordnung zu beeinflussen und an den grundlegenden politischen Entscheidungen beteiligt zu sein, um so leichter wird es ihm, den vom Grundgesetz verfaßten Staat .. als seinen Staat anzunehmen. "225 Indem die staatliche Öffentlichkeitsarbeit so eine "Urteils- und Abrechnungsgrundlage"226 für den Bürger zu schaffen hilft, wirkt sie gegen politische Apathie oder Indifferenz und trägt zur Pflege und Förderung des notwendigen gesellschaftlichen Grundkonsenses nicht unerheblich bei. 2Z7

223 Sänger, Pressestellen, S. 58 ff., wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob (parteipolitisch eingefärbte) amtliche Öffentlichkeitsarbeit nicht insofern verfassungsrechtliche Prinzipien verletze, als jede gezielte Lenkung des politischen Bewußtseins der Wählerschaft durch staatliche Stellen im Kern eine Umkehrung des verfassungsmäßigen Verhältnisses von Volk und Staatsgewalt enthalte: Demokratie beruhe darauf, "daß die freie Meinung die Regierungsbildung bestimmt und nicht die Regierun~ die Meinungsbildung". Vgl. dazu auch Kempen, Offentlichkeitsarbeit, S. 15 ff. 4 Vgl. insb. BVerfGE 12, 205; 20, 56; 37, 84; 44, 125; 63, 230; BVerfG NJW 1989, 3269. Vgl. auch oben 1. Teil A. III.: Der Begriff der Selbstdarstellung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Übersicht bei ScIWrmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 33. Vgl. auch Murswiek, in: DÖV 1982, S. 529. 225 BVerfGE 44, 125, 147 f. 226 Zippelius, Staatslehre, S. 257. m Vg~. BVerfGE 44,125, 147. Vgl. auch ScIWrmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 405; Kempen, Offentlichkeitsarbeit, S. 11.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

C. SelbstdarsteUung des Staates - "Beteiligte" Erving Goffman skizziert die individuelle Selbstdarstellung in Analogie zum Bühnenschauspiel: Er spricht von Darstellern, ihren Rollen und bezeichnet die Adressaten, an die sich die Darstellung richtet, als Zuschauer oder als Publikum. 228 Dieser Gedanke legt für den Bereich der Selbstdarstellung des Staates die Frage nahe: Wer betreibt staatliche Selbstdarstellung, und an wen richtet sie sich?

I. Gleichzeitigkeit von Subjekt- und Objektqualität? Der Staat als DarsteUer und Gegenstand der Darstellung

Selbstdarstellung ist vielfach von einer eigentümlichen Subjekt-Objekt-Konstellation geprägt: Gegenstand der Darstellung und Darsteller sind regelmäßig identisch. Z29 Deshalb soll im folgenden zunächst der Staat als "Darsteller" in Blick genommen werden. Danach ist der Staat als Objekt dieser Darstellung zu berücksichtigen, um schließlich die Auswirkungen der Subjekt-Objekt-Doppelrolle zu untersuchen.

1. Der Staat als "Darsteller"

Staatliche Selbstdarstellung ist eine Tätigkeit des Staates: Unabhängig davon, ob sie bewußt oder unbewußt erfolgt, erfordert sie doch stets ein aktives Tun. Handeln kann der Staat als juristische Person nur durch seine Organe13O, so daß sich zunächst die simple Folgerung ergibt, daß die Selbstdarstellung des Staates durch seine Organe erfolgt. Das mag nicht viel mehr als eine Selbstverständlichkeit sein. Bei näherer Betrachtung komplizieren sich jedoch die Dinge. "Im Staat wie in jeder anderen menschlichen Organisation ist der letztlich entscheidende Baustein der Mensch"231: Die den staatlichen Organen zugewiesenen Aufgaben und Regelungsbefugnisse müssen wahrgenommen werden, 228 Vgl. oben 1. Teil A. V. 1.: Selbstdarstellung als Analogie zum Bühnenschauspiel : Erving Goffman. Z29 Vgl. oben 1. Teil A. V.: Exkurs: Selbstdarstellungstheorien in Sozialpsychologie und Soziologie. 130 Vgl. dazu Ermacora, Staatslehre I, S. 875; Herzog, Staatslehre, S. 92; Zippelius, Staatslehre, S. 92. 231 Herzog, Staatslehre, S. 95.

c. Selbstdarstellung des Staates - "Beteiligte"

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und zwar von Menschen aus Fleisch und Blut, den Organwaltem.232 Letztlich wird der Staat also erst durch die Zuordnung bestimmter Funktionsbereiche zu bestimmten Menschen, durch die Übertragung öffentlicher Ämter handlungsfahig. Der Organwalter oder Amtsträger, also der individuelle Inhaber eines Amtes, das unabhängig von dem Wechsel der Amtswalter fortbesteht, ist in soziologischer Terminologie eine Person, die eine Rolle spielt.233 Mit Dahrendorf234 kann der soziologische Begriff der Rolle als ein Komplex von Verhaltenserwartungen definiert werden, die mit einem unterschiedlichen Grad der Verbindlichkeit und entsprechend verschiedenartigen Sanktionsandrohungen an den Einzelnen herangetragen werden. 235 Einen Teilausschnitt dieser Verbaltenserwartungen stellen die Erwartungen hinsichtlich des Selbstdarstellungsverhaltens dar. Sie sind streckenweise normativ formuliert 236, finden sich jedoch weitgehend in weicheren Ausprägungen.237 Probleme für die Selbstdarstellung des Staates durch seine Organwalter ergeben sich nun aus der soziologischen Erkenntnis, daß ein Individuum stets eine Vielzahl von Rollen spielt, und zwar sowohl solche, die ihm zugeschrieben werden, denen es sich also nicht entziehen kann, als auch solche, die es erwirbt, die es also zumindest dank seiner eigenen Bemühungen innehat.238 Diese Rollen, die der Amtswalter neben der Rolle, die das ihm zugewiesene Amt bedeutet, auszufüllen hat, besitzen ihre eigenen spezifischen Selbstdarstellungsanforderungen, die der Amtswalter nicht zu ignorieren vermag.Z39

232 Vgl. nur Zippelius, Staatslehre, S. 93 ff. 233 Vgl. dazu nur Dahrendorf, Homo Sociologicus. Z34

Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 33 ff., insb. S. 35.

235 Übereinstimmend deuten sowohl das juristisch geprägte Begriffspaar "Organ und

Organwalter" (bzw. "Amt" und "Amtsträger") als auch die in der Soziologie gebräuchliche Gegenüberstellung von "Rolle" und "Person" auf einen elementaren Dualismus von Individuum einerseits und einem Komplex erwarteter Verhaltensmuster (" Rechte und Pflichten") andererseits hin. Insofern werden diese Begriffspaare im folgenden als im wesentlichen parallel gelagert angesehen und benutzt. 236 Beispielsweise im Beamtenrecht, worauf Quaritsch, Probleme, S. 15, hinweist. 237 Vgl. etwa Albrecht/Reidegeld, in: VerwArch 1977, S. 246. 238 Vgl. Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 54 ff. 239 Insofern ist die Auffassung von Quaritsch, Probleme, S. 15, der Amtsträger stelle sich bei der Ausführung seiner dienstlichen Rolle ausschließlich in seiner Berufsrolle dar, von einer spezifisch verkürzten juristischen Blickrichtung geprägt, die nur auf die fixierten, z.T. normierten Verhaltensanforderungen abstellt, dabei aber übersieht, daß die dienstliche Rolle lediglich eine unter vielen ist, die das Individuum Amtsträger auszufüllen hat. Noch ausgeprägter in dieser Sichtweise Krüger, Staatslehre, S. 253 ff., insb. etwa S. 270: "... Verwandlung des Menschen in einen Amtsträger ... "

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

In der Sicht der Sozialpsychologie240 würde diese Erkenntnis dahingehend zu formulieren sein, daß der Organwalter als Individuum stets und selbstverständlich auch individuelle Selbstdarstellung betreibt, die kaum von seinem alltäglichen Interaktionsverhalten zu trennen iSt. 241 Folglich ist zu unterscheiden zwischen der individuellen Selbstdarstellung des Amtswalters und seiner auf staatliche Selbstdarstellung gerichteten Tätigkeit.242 Erstere könnte Gegenstand sozialpsychologischer Forschung sein243 ; die vorliegende Arbeit wird sich ausschließlich mit letzterer befassen. Eine weitere Komplikation der zunächst selbstverständlich erscheinenden Feststellung, die Selbstdarstellung des Staates erfolge durch seine Organe, ergibt sich daraus, daß es kein für die Selbstdarstellung des Staates ausschließlich und umfassend zuständiges Organ gibt. 244 An staatlicher Selbstdarstellung wirken eine Vielzahl von Staatsorganen mit, letztlich sogar jedes Staatsorgan und seine Untergliederungen. 245 Diese Erkenntnis zwingt angesichts der Ergebnisse 240 Dahrendor[, Homo Sociologicus, S. 57, verortet die "Kategorie der Rolle auf der Grenzlinie von Soziologie und Psychologie". 241 Vgl. dazu oben 1. Teil A. V.: Exkurs: Selbstdarstellungstheorien in Sozialpsychologie und Soziologie; Quaritsch, Probleme, S. 15 f. Dies führt beispielsweise für das Amt des Bundespräsidenten zu der Erkenntnis von Schlaich, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht 11, S. 542, daß dieses Amt "der Persönlichkeit des Amtsinhabers weiten Raum" läßt. 242 Eine andere Frage ist diejenige nach dem Verhältnis zwischen den fixierten Normen der Rollenerwartung und dem tatsächlichen Verhalten der individuellen Person, die eine Rolle ausfüllt. Die Erforderlichkeit einer solchen theoretischen Unterscheidung postuliert Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 50. Er räumt jedoch zugleich ein, daß sie sich in der empirischen Untersuchung sehr schnell verflüchtigen dürfte. Dies mag zum einen daran liegen, daß jeder Mensch mehr oder weniger regelmäßig "gegen die Erwartungen verstößt, die sich an seine'sozialen Positionen knüpfen", Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 102. Zum anderen sind die Anforderungen an das Selbstdarstellungsverhalten nur in Ausnahmefallen zwingend notwendig bzw. rechtlich sanktioniert, so daß der Konformitäts-Druck nicht übermäßig hoch und damit ein Abweichen nicht ausgeschlossen ist. Insofern dürften empirische Untersuchungen wohl auch belegen, daß sich 'individuelle' Selbstdarstellung (i.S. aller Selbstdarstellung des Amtswalters außer der Amtsträger-spezifischen Selbstdarstellung) und Amtsträger-rollenspezifische Selbstdarstellung aufgrund der in beiden Bereichen eher weichen Anforderungen und des dadurch möglichen 'Verstoßens' tatsächlich so sehr überschneiden und ergänzen, daß sie kaum noch zu trennen sind. 243 Vgl. etwa Abele, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989, S. 38. 244 Auch das Bundespresseamt besitzt nicht annähernd eine solche Stellung, vgl. dazu oben, 1. Teil B. 11.: Informative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel am tlicher Öffentli chkei tsarbei t. 245 Zu den - wenig erfolgreichen - Bemühungen des Presse- und Informationsarntes der Bundesregierung um eine Koordinierung und Harmonisierung wenigstens der Öffentlichkeitsarbeit der einzelnen Bundesministerien vgl. Walker, Presseamt, S. 167 und S. 226; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 103.

c. Selbstdarstellung des Staates - "Beteiligte"

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soziologischer Forschungen über die Selbstdarstellung formalisierter Organisationen246 zu der Annahme, daß die an der staatlichen Selbstdarstellung beteiligten Staatsorgane (zumindest auch) eine eigene Selbstdarstellung als Staatsorgan betreiben. Daneben verweisen die Staatsorgane in ihrer Selbstdarstellung jedoch auch auf die staatliche Einheit als Ganzes. 247 Dies wird bei dem Staatsorgan Bundespräsident als repräsentativer Institution des Geamtstaates 248 besonders augenfällig und gilt in wohl noch stärkerem Maße für die staatliche Selbstdarstellung durch Sachmittel wie etwa Staatssymbole.249 Beide Bereiche sind zu unterscheiden: Selbstdarstellung als Betätigung eines Staatsorgans entweder zur eigenen Darstellung oder zur Darstellung des Gesamtstaates. Als Differenzierungskriterium ist der Gegenstand der Selbstdarstellung heranzuziehen; insofern ergibt sich, vor allem aufbauend auf die Erkenntnis, daß die Selbstdarstellung des Staates durch die staatlichen Organe und damit letztlich durch die individuellen Organwalter erfolgt, eine theoretische Dreiteilung der möglichen Darstellungsobjekte: Zunächst die individuelle Selbstdarstellung des Organwalters, zweitens die Darstellung des staatlichen Organs als abgegrenzter Organisationseinheit im Gesamtgebilde Staat und schließlich dieser Staat insgesamt als Gegenstand der Selbstdarstellung.

2. Staat als Gegenstand der Selbstdarstelwng

Diese Grenzziehung zwischen den möglichen Gegenständen staatlicher Selbstdarstellung dürfte angesichts der ineinanderfließenden Tätigkeitsbereiche in der empirischen UntersUChung auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Dennoch wird diese Dreiteilung von theoretischem Nutzen sein, da sie eine BegrenVgl. oben 1. Teil A. V. 2.: Selbstdarstellung von Gruppen. Vgl. Quaritsch, Probleme, S. 16; ebenso Gramm, in: Der Staat 1991, S.64: "Insofern ist es zulässig, die Selbstdarstellung staatlicher Stellen auf den Staat als Ganzes durchschlagen zu lassen." 248 Vgl. nur Schlaich, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht 11, S. 563: "... stellt der Bundespräsident als nicht-kollegiales und erstes Verfassungorgan die Einheit des politischen Gemeinwesens dar .... In seinen Reden und Auftritten erscheint er als Personifizierung des Gemeinwesens." Ebenso Hesse, Grundzüge, RN 656: Der Bundespräsident verkörpere die Funktion der "Sichtbarmachung und Erhaltung staatlicher Einheit". 249 Vgl. dazu oben 1. Teil B. I.: Assoziative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel der Staatssymbole. Ausdrücklich auch in BVerfGE 81, 278, 294: "Die in diesem Sinne geschützten Werte geben die in Art. 22 GG vorgeschriebenen Staatsfarben wieder. Sie stehen für die freiheitliche demokratische Grundordnung." 246 247

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

zung des zu untersuchenden Stoffes erlaubt. So soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit die individuelle Selbstdarstellung des Organwalters ausgeklammert bleiben und das Schwergewicht auf den Darstellungen des Gesamtkomplexes Staat liegen. Was darunter verstanden werden kann, soll im folgenden näher bestimmt werden, wiederum mit der Einschränkung, daß eine solche Bestimmung allein auf die Bedürfnisse dieser Arbeit beschränkt bleibt. Wie weit oder eng der Begriff Staat in diesem Zusammenhang zu fassen ist, hängt entscheidend von den Funktionen und dem Adressatenkreis der staatlichen Selbstdarstellung ab. Es ist ein Unterschied, ob die Bürger über bestimmte Vorgänge im staatlichen Bereich informiert oder zur Integration im Staat angeregt werden sollen, oder ob sich der Staat Bundesrepublik Deutschland gegenüber anderen Staaten präsentiert. Die Differenzierung der Funktionen und Adressaten erfordert eine differenzierte Begrifflichkeit: Bei den informativen Formen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit250 dürfte ein engerer Staatsbegriff zu bevorzugen sein; Staat verstanden als die Gesamtheit der in der Verfassung konstituierten Staatsgewalt als das Gegenüber der Grundrechtsträger. 251 Bei der AußendarsteIlung von anderen Staaten wird ein Staatsbegriff angemessener sein, bei dem der Staat als das umfassende Gemeinwesen verstanden wird, in dem Staatliches im engeren Sinne und Nichtstaatliches zusammenfallen. Bei der Integrationsfunktion der Selbstdarstellung252 dürfte ein Staatsbegriff im Vordergrund stehen, der in demokratischer Sichtweise die Einheit von Staatsvolk und Staatsgewalt betont.253 Die Beispiele zeigen, daß die von der jeweiligen Form und Funktion staatlicher Selbstdarstellung geprägte Sichtweise den Begriff Staat als Gegenstand der Selbstdarstellung mitbestimmt, daß dieser Begriff also nicht einheitlich und statisch festgelegt werden kann. Gemeinsam ist den aufgeführten Beispielen bei aller Unterschiedlichkeit jedoch, daß sie sich unmittelbar auf den Gesamtkomplex Staat beziehen.

250 Vgl. dazu oben 1. Teil B. H.: Informative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel der Öffentlichkeitsarbeit. 251 Vgl./sensee, in: /sensee/Kirchhof, Staatsrecht I, S. 652. 252 Vgl. dazu unten 1. Teil D.: Staatliche Selbstdarstellung und Integration. 253 Vgl./sensee, in: /sensee/Kirchhoj, Staatsrecht I, S. 655.

C. Selbstdarstellung des Staates· "Beteiligte"

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Nur unmittelbar wird hingegen auf den Gesamtstaat verwiesen, wenn zum Gegenstand der staatlichen Selbstdarstellung diejenigen "Strukturprinzipien und Handlungsmaximen für die Staatsapparatur"254 werden, die den Staat entscheidend prägen. Quaritsch unterscheidet insofern zwischen "1- Strukturprinzipien und Handlungsmaximen, wie sie für den modemen Staat typisch sind; 2. Strukturprinzipien und Handlungsmaximen, die der Verwirklichung oder doch Vergegenwärtigung der Grundentscheidungen der Verfassung dienen."255 Danach werden also das Beziehungsgefüge und der Funktionszusammenhang des modemen Verfassungsstates, die den Entscheidungsfindungsprozeß des Staates und die Umsetzung staatlicher Entscheidungen in staatliche Handlungen ausmachen, zum Gegenstand der Selbstdarstellung des Staates, da diese Umsetzung von prägenden Grundentscheidungen der Verfassung wiederum auf den Staat als einheitliches Ganzes verweisen. Zusammenfassend soll also angenommen werden, daß Gegenstand der Selbstdarstellung auch der Gesamtkomplex Staat - in wechselnder Umgrenzung, abhängig jeweils von den Bezugspunkten des SelbstdarstellungszweCkes und des Selbstdarstellungsadressaten - sein kann und daß demnach die Handlungen und sachlichen Mittel der zwecks staatlicher Selbstdarstellung tätigen Organwalter entweder auch oder sogar ausschließlich der Selbstdarstellung des Staates insgesamt dienen können und nicht auf die Selbstdarstellung des Staatsorgans beschränkt sein müssen. Damit muß jedoch die anfangs zugrundegelegte Annahme einer Gleichzeitigkeit bzw. einer Identität von Darsteller und Gegenstand der Darstellung im Bereich staatlicher Selbstdarstellung aufgegeben werden: Zu vielschichtig zeigt sich der Darsteller bei näherer Betrachtung, und zu unterschiedlich sind auch die Gegenstände der Selbstdarstellung des Staates. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn als dritte Variable der Adressat staatlicher Selbstdarstellung in die Betrachtung einbezogen wird.

11. Adressaten staatlicher Selbstdarstellung

Jede Selbstdarstellung bedarf eines Publikums. Auch die staatliche Selbstdarstellung richtet sich an einen Adressatenkreis, der sich letztlich konstituiert 254 Quarilsch, Probleme, S. 15. 255 Quaritsch, Probleme, S. 15.

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

aus einer Vielzahl von Individuen, die sowohl individuell als auch in einer bestimmten Verbundenheit angesprochen werden können. Dieser Adressatenkreis ist als grundsätzlich offen anzusehen, beschränkt "durch kein anderes Kriterium als das individuelle Interesse" an der Selbstdarstellung des Staates.256 Je nach der im Mittelpunkt stehenden Funktion der staatlichen Selbstdarstellung verändert sich jedoch auch der Blickwinkel auf das Publikum und die Strukturen der Verbindung der Individuen untereinander. So können die Adressaten des komplexen Kommunikationsvorganges, dessen Teil die Selbstdarstellung ist, als "Gesprächspartner"257 gesehen oder zu bloßen "Konsumenten"258 degradiert werden. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur amtlichen Öffentlichkeitsarbeit259 etwa wird eine Sichtweise deutlich, die den Bürger nicht als Objekt staatlicher Selbstdarstellung konzipiert, sondern die verantwortliche Teilhabe des freien und gleichen Bürgers - vor allem als Wähler - an der Vorformung und Bildung des politischen Willens des Volkes betont260, die in die Staatswillensbildung einmündet. 261 Adressat staatlicher Öffentlichkeitsarbeit als Teil der Selbstdarstellung des Staates ist hier also die "Aktivbürgerschaft"262. Eine gewisse Akzentverschiebung ergibt sich dann, wenn die Individuen als Glieder des Volkes angesprochen werden, von dem in seiner Gesamtheit alle Staatsgewalt ausgeht. 263 Diese Blickrichtung auf den Adressatenkreis staatlicher Selbstdarstellung dürfte bei der Integrationsfunktion264 im Vordergrund stehen. Vornehmlich als Verbraucher werden die Individuen hingegen bei staatlichen Informationstätigkeiten angesprochen, die etwa vor Umweltrisiken warnen oder bestimmte Verhaltensweisen empfehlen sollen. 265 Auch in solcher 256 Gramm, in: Der Staat 1991, 53 f. 257 Vgl. dazu KirchJJOf, Einwirken, S. 314 ff.

Vgl. Zippelius, Staatslehre, S. 260. Vgl. dazu oben, 1. Teil B. 11.: Informative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel der Öffentlichkeitsarbeit. 260 Vgl. dazu auch Häberle, in: JZ 1977, S.361, der den Gedanken der "Bü~~erdemokratie" vertritt. 26 Zur Unterscheidung von "Staatswillen" und "Volkswillen" vgl. nur K/oepfer, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht 11, S. 182. 262 BVerfGE 44, 125, 145. 263 Vgl. dazu nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht I, S. 654 ff. 264 Vgl. dazu unten 1. Teil D.: Staatliche Selbstdarstellung und Integration. 265 Vgl. dazu Ossenbühl, Umweltpflege; Dolde, Warnungen; Lübbe-Wolf!, in: NJW 1987, S. 2705. 258 259

C. Selbstdarstellung des Staates - "Beteiligte"

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praktizierter Publikumsinformation liegt stets ein Stück Selbstdarstellung des Staates.266 Ein gänzlich anderer Adressatenkreis, der mit den bereits erörterten keine unmittelbare Überschneidung aufweist267 , rückt ins Blickfeld, wenn staatliche Selbstdarstellung gegenüber dem Ausland zum Thema wird. 268 Hier werden sowohl die Individuen als Bürger oder auch als potentielle Besucher wie auch die Organe fremder Staaten oder völkerrechtlicher Organisationen angesprochen. Besondere Probleme ergeben sich weiterhin aus der Tatsache, daß jene Kommunikationsprozesse, welche die informativen Formen staatlicher Selbstdarstellung ausmachen, in aller Regel durch Massenkommunikationsmittel vermittelt werden. Damit einher geht zwangsläufig eine Kanalisierung, Filterung und Beeinflussung der Gegenstände der Kommunikation269; die als geradlinig gerichtet erscheinende staatliche Selbstdarstellung kompliziert sich durch den zwischen Darsteller und Publikum geschalteten Vermittler. So werden gerade auch die Träger dieser Massenkommunikation, also vor allem Presse und Rundfunk, zu Adressaten staatlicher Selbstdarstellung.Z70 Zweifelhafter ist die Rolle der Massenkommunikationsmittel hingegen bei den assoziativen Formen der Selbstdarstellung. Z71 Darunter fallen diejenigen Beispiele staatlicher Selbstdarstellung, die einer starren, rationalen Formulierung entbehren und unmittelbar über die Anschauung des Individuums wirken. 272 Dieses individuelle und eben deshalb auch individuell unterschiedliche "Erlebnis "273 etwa eines Staatssymbols ist weniger geeignet für die kanalisierte und gefilterte Vermittlung durch Massenkommunikationsmittel, welche die Unmittelbarkeit und damit die spezifische Erlebnisqualität der assoziativen Formen staatlicher Selbstdarstellung ausschalten würde. 274 In diesem Bereich 266

Gramm, in: Der Staat 1991, S. 53.

267 Eine gewisse Rückkoppelung dürfte sich aber wohl doch aus der Beobachtung

und Resonanz der auswärtigen Tätigkeiten im Inland ergeben. 268 Vgl. dazu etwa Sänger, Pressestellen, S. 33 ff.; Altmann, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 93 ff.; Remmele, Selbstdarstellung. 269 Vgl. dazu nur Kloepfer, in: IsenseejJ(jrchhoj, Staatsrecht 11, S. 35 ff. 270 Vgl. dazuKlages, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S. 74. 271 Vgl. dazu oben 1. Teil B. I.: Assoziative Formen staatlicher Selbstdarstellung: Das Beispiel der Staatssymbole. 272 Vgl. dazu nurSmend, Verfassungsrecht, S. 163. 273 Smend, Verfassungsrecht, S. 163. 274 Selbstverständlich ist die bloße Wiedergabe assoziativer Formen durch Massenkommunikationsmittel möglich; hier wird lediglich bezweifelt, daß diese die Möglichkeit einer "Artikulation", d.h. Gliederung besitzen, solange der assoziative Charakter

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

der Selbstdarstellung des Staates steht als Adressat also das Individuum im Vordergrund. So ergibt sich sowohl bei der Untersuchung des Darstellers wie bei der Betrachtung des Gegenstandes staatlicher Selbstdarstellung als auch ihrer Adressaten ein mehrdimensional verknüpftes Netz von Bezugspunkten, das um die wechselnden Funktionen und Formen der Selbstdarstellung des Staates herum strukturiert ist. In Abhängigkeit von der Funktion verschieben sich parallel zueinander Gegenstand und Adressatenkreis der Selbstdarstellung. Diese Pole lassen sich daher nicht in eine statische Begrifflichkeit fassen, sondern jeweils nur ausschnittweise unter dem Gesichtspunkt von Form und Funktion beschreiben.

D. Staatliche SelbstdarsteUung und Integration Die Frage nach der Funktion der staatlichen Selbstdarstellung beantwortet das Bundesverfassungericht in seiner Entscheidung zur Verunglimpfung von Staatssymbolen275 , indem es dem Artikel 22 des Grundgesetzes, über die bloße Farbenbestimmung weit hinausgehend, ein Recht des Staates entnimmt, "sich zu seiner Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen", um "an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren". Und das Gericht führt weiter aus: "Das Grundgesetz nimmt diese, auch von der Flagge ausgehende Wirkung nicht lediglich in Kauf. Als freiheitlicher Staat ist die Bundesrepublik vielmehr auf die Identifikation ihrer Bürger .. angewiesen.''276 Angesprochen ist damit die vorstaatliche, immer wieder neu - zugespitzt: täglichm - zu betätigende konstitutive Funktion des Volkes: Die emanzipierten Einzelnen selbst müssen aus sich heraus zu Gemeinsamkeit und Homogenität zusammenfinden, da der freiheitliche, säkularisierte Staat die Voraussetzungen seiner Existenz um der Freiheit willen nicht garantieren kann.278

unangetastet bleiben soll. Dieser kommunikationstheoretischen Frage kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. 275 BVerfGE 81, 278, 293 f. 276 BVerfGE 81, 278, 293 f. 277 Smend, Verfassungsrecht, S. 136, spricht in diesem Zusammenhang unter Berufung auf Renan, Nation, von "einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt." 'X78 Vgl. dazu Böckenforde, Säkularisiation, S.92. Fine Momentaufnahme des Staatsbewußtseins der Deutschen bietet Noelle-Neumann, in: FAZ, 11.01.1995.

D. Staatliche Selbstdarstellung und Integration

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Ohne dies explizit zu erwähnen279, geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts damit auf Rudolf Smends 1928 erschienene Integrationslehre280 zurück, die auf dem Höhepunkt des Methoden- und Richtungsstreites 281 der Weimarer Staatsrechts lehre eine Reaktion auf den auch von Smend persönlich erfahrenen Mangel eines Grundkonsenses während der Weimarer Zeit darstellte 282 : Der Staat lebt für Smend aus der beständig sich wiederholenden Vereinheitlichung der Einzelwillen zum Gesamtwillen. 283 Nach einer vielzitierten These Smends ist der Staat "nicht ein ruhendes Ganzes, das einzelne Lebensäußerungen, Gesetze, diplomatische Akte, Urteile, Verwaltungshandlungen von sich ausgehen läßt. Sondern er ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind. "284 Entscheidend ist dabei, daß die Integration also der Zustand, in dem die Zentripetalkräfte die Zentrifugalkräfte überwiegen und ein allgemeines Gefühl der Zusammengehörigkeit besteht285 - zu keinem Zeitpunkt statisch gegeben, sondern beständig im Flusse ist. Damit stellt Smend "einen für alle Verfassungen wesentlichen Vorgang in den Mittelpunkt"286: Die Lebenskraft eines Staates erwächst aus der Zustimmung seiner Bürger, die in einem gesellschaftlichen Bewußtseinsprozeß fortlaufend zu erneuern ist. An dieser Konsensbildung muß der Staat "nicht nur ein existenzielles Interesse haben, er muß auch etwas dafür tun ... "287 Er muß

279 Direkt wird in der Entscheidung auf Würtenberger, in: JR 1979, S. 311, veIWiesen, der sich seinerseits auf Krüger, Staatslehre, beruft. Dieser wiederum entwickelte seine Überlegungen zur "Staatspflege" in enger Anlehnung an Smend; vgl. dazu auch oben 1. Teil A. IV.: Exkurs: Der Begriff der "Staatspflege" bei Herbert Krüger. 280 Smend, Verfassungsrecht, S. 119. 281 Vgl. dazu Friedrich, in: AöR 1977, S: 165, ders., in: AöR 1987, S. 1; Scheuner, in: AöR 1972, S: 349; Badura, in: Der Staat 1977, S. 305; Rennert, Richtung; Bauer, Wertrelativismus; Hill, Gleichheit; Graner, Staatsrechtslehre, S. 156; SOlliheimer, Denken, S. 79. 282 Vgl. Smend, Integrationslehre, S. 479: "Die Integrationslehre hat in der zunehmend kritischen Lage der Weimarer Verfassung den eigentlichen Sinn zu bestimmen gesucht .. und stellte .. die Forderung integrierenden, einheitsstiftenden Verständnisses der Verfassung und entsprechender Haltung aller verantwortlichen Faktoren" auf. Vgl. zu Zweifeln an dieser klaren geschichtlichen Gebundenheit der Integrationslehre aber Korioth, Integration, S. 102. 283 Ehmke, Verfassungsänderung, S.61, nennt die Integrationslehre eine "Theorie des immer wieder neuen Sichvertragens. " 284 Smend, Verfassungsrecht, S. 136. 285 So Herzog, Staatslehre, S. 80. 286 SonJheimer, Denken, S. 100. 287 Klein, Art. 22, RN 67, in: Bonner Kommentar.

5 Wefing

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

"Staat machen"288 und sich darum bemühen, den als erforderlich erkannten Grundkonsens in Erinnerung zu rufen, entsprechende Motivationen und Verhaltensweisen anzuregen und zu fördern. Dazu dienen nach Smends Integrationslehre "besondere Techniken, ... die sich beständig elastisch dem Verstehensbedürfnis des Einzelnen anpassen und ihm ... damit die Möglichkeit aktiven Miterlebens geben"289, indem sie die Extensität des staatlichen Lebens und seiner Werte in einer bestimmten Gestalt verdichten und so individuell nachvollziehbar machen. Smend unterscheidet vor allem drei Faktoren, die zur Integration zusammenwirken: Die "persönliche", die "funktionelle" und die "sachliche Integration".290 Die staatliche Selbstdarstellung erwähnt Smend dabei nicht, sie kann aber zwanglos in alle drei von ihm angeführten Integrationsfaktoren hineingelesen werden: Unter persönlicher Integration291 versteht Smend die Herstellung der staatlichen Einheit durch die integrierende Wirkung von herausragenden Personen der Staatsleitung, insbesondere des Monarchen. Als funktionelle Integration292 wirken verschiedene kollektivierende Lebensformen wie Demonstration und Kundgebungen, denen das Ziel der sozialen Synthese gemeinsam ist. Bei der dritten Gruppe der von Smend aufgeführten integrierenden Erscheinungen, den "sachlichen Integrationsfaktoren"293, stehen die politischen Symbole in Gestalt "der Fahnen, Wappen, ... der politischen Zeremonien und nationalen Feste"294 im Vordergrund: Sie verleihen dem Staat eine erfahrbare Gestalt und schaffen damit eine entscheidende Voraussetzung für jenen Identifikationsund Integrationsprozeß, durch den der Konsens der im Staat organisierten Gemeinschaft wieder und wieder erzeugt wird.295 288 Ähnlich Klein, in VVDStRL 37, S. 104: "Die Verfassung muß Staat machen, wenn sie von Dauer sein soll." 289 Smend, Verfassungsrecht, S.133. 290 Diese Trennung der Integrationsfaktoren ist jedoch nur eine begriffliche, real ist das Integrationssystem unteilbar, vgl. Smend, Verfassungsrecht, S. 142: "Die unter den einzelnen Typen aufgeführten Erscheinungen erschöpfen den dahin gehörenden Stoff nicht, sondern sind nur als Beispiele gemeint. Von diesen Beispielen ist endlich keines rein in dem Sinne, daß es lediglich unter den Typus gehörte, unter dem es aufgeführt ist. " 291 Vgl. dazu Smend, Verfassungsrecht, S. 142 ff. 292 Vgl. dazu Smend, Verfassungsrecht, S. 148 ff. 293 Vgl. dazu Smend, Verfassungsrecht, S. 160 ff. 294 Smend, Verfassungsrecht, S. 163. 295 In einer systemtheoretischen Interpretation deutet Luhmann, Grundrechte, S. 46 f., die Integrationslehre als "Generalisierung von Kommunikationen". Für Luhmann ist Integration "nichts anderes als ein informatives Geschehen, ist Konstitution

D. Staatliche Selbstdarstellung und Integration

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Identifikation ist nur dann möglich, wenn der Bürger den Staat überhaupt wahrnehmen kann. Wo ihm nur ein anonymer, hochdifferenzierter technischer Apparat gegenübertritt, vermag er diesen kaum von anderen Erscheinungsformen gesellschaftlicher Macht zu unterscheiden und als spezifisch staatlichen zu erkennen: Das Übermaß staatlicher Funktionen, Organisationsweisen und Handlungsformen geht auf Kosten sinnlich-synthetischer Wahrnehmbarkeit, der Staat wird für den Einzelnen immer weniger überschaubar.296 Entscheidende Aufgabe der staatlichen Selbstdarstellung ist daher die einprägsame "Vergegenständlichung von Existenz und Einheit des Staates"297: Die Selbstdarstellung sucht dem Staat ein Gesicht zu verleihen, ihn mit einer Außenhaut zu versehen, die seine zahllosen Organe und Organteile überzieht und deren Handlungen ein einheitliches Gepräge gibt. Nur eine solche "Schauseite "298, eine gelegentlich auch werbende Inszenierung299, kann dem Bürger nahebringen, in den ihn betreffenden, mitunter womöglich zusammenhanglos erscheinenden amtlichen Tätigkeiten stets auch den Staat als Ganzes zu sehen.300 Die Selbstdarstellung soll so verdeutlichen helfen, daß es der Staat aller Bürger ist, den es zu hegen gilt. Er muß in seinem Wert und seinem Sinn dem von Systemen durch Kommunikation von Sinn in sozialen Kontakten." Diese These gründet in der Annahme, daß der Mitteilungssinn von Kommunikationsprozessen "direkt oder indirekt auf Handlungssysteme verweist, daß im sprachlichen und im nichtsprachlichen Ausdrucksverhalten die Existenz bestimmter Handlungssysteme impliziert .. wird, so daß im Austausch der Kommunikation .. zugleich eine Verständigung über das Vorausgesetzte, eine Konstitution des Systems erfolgt." Die Kommunikation im staatlich-politischen Bereich führt demnach dazu, daß jede Art der Teilnahme am Kommunikationsprozeß - ".. selbst vollständige Passivität, zur Schau getragene Indifferenz" - "eine Art Selbstverpflichtung auf das System zum Ausdruck bringt", also letztlich das Handlungssystem "Staat" konstituiert. Vgl. dazu auch Kempen, Öffentlichkeitsarbeit, S. 115 ff., der nachzuweisen versucht, daß Luhmanns Interpretation der Int~rationslehre in Smends eigenen Werken eine Stütze findet. Vgl. Smend, Verfassungsrecht, S.162, wonach die Fülle der Sinngehalte des staatlichen Lebens die Auffassungsmöglichkeiten der Staatsbürger übersteigt. 197 Klein, Art. 22 GG, RN 66 f., in: Bonner Kommentar. 198 Luhmann, Organisation, S. 112. 299 Die staatliche Selbstdarstellung ist dabei mit dem prinzipiellen Dilemma konfrontiert, das sich aus den durchaus verschiedenen Anforderungen an die technische Erfüllung staatlicher Aufgaben einerseits und an die erfolgversprechende Darstellung dieser Aufgabenerfüllung andererseits ergibt; vgl. dazu Luhmann, Organisation, S. 112: Ps wird "keineswegs das ganze System faktischen Verhaltens sichtbar gemacht, vielmehr nur eine begrenzte, idealisierte, zusammenstimmende Auswahl." 300 Dies gilt auch für die Selbstdarstellung des Staates nach außen, etwa in Gestalt von Staatsbesuchen, auswärtiger Kulturpolitik usw.: Nach Hartmann, Staatszeremoniell, S. 30, erflihrt der Bürger "gerade in der Gegenüberstellung mit anderen Staateen .. Existenz und Einheit des eigenen Staates." S*

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1. Teil: Selbstdarstellung des Staates

Bürger nahe gebracht, in seinen Institutionen bewußt und lebendig gemacht werden"30l, damit der Bürger "in das Staatsleben einbezogen werden"302 kann. Ob die Bürger von diesem Identiflkations- und Integrationsangebot Gebrauch machen - sei es aus Einsicht, sei es emotional bedingt - das bleibt allerdings allein ihrer freien Entscheidung überlassen303 : Den Grundkonsens, den zu erzwingen der freiheitlich-demokratische Staat sich um seiner Freiheitlichkeit willen versagen muß, vermag auch die Selbstdarstellung nicht zu garantieren.304

E. Zusammenfassung: SelbstdarsteUung des Staates Der Begriff der Selbstdarstellung des Staates kann terminologisch nicht exakt fixiert, sondern lediglich inhaltsoffen umschrieben werden. Selbstdarstellung meint allgemein die Präsentation eines Bildes des eigenen Selbst gegenüber anderen mit dem Ziel, die Wahrnehmung dieses Bildes durch die Adressaten im Sinne des Darstellers zu steuern und zu kontrollieren. Als Selbstdarstellung des Staates ist die Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen anzusehen, die eine Einflußnahme auf den Prozeß der gesellschaftlichen Kommunikation bezwecken. Als Teilbereich des informalen Staatshandeins dient die staatliche Selbstdarstellung als langfristig wirkende Kommunikationsstrategie der Bewußtseinserzeugung und Konsensbildung durch Information, Identifikation und Integration. Die integrative Funktion des vielschich301 Stern, Staatsrecht I, S. 284. Für den Bereich der amtlichen Öffentlichkeitsarbeit spricht Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 404, sogar von einer Obliegenheit der Regierung, "zur Sicherung der Staatszielbestimmungen der Verfassung .. 'Motivationsbzw. Akzeptanzmanagement' zur Moderation der demokratischen Legitimation zu betreiben." Ähnlich Kempen, Öffentlichkeitsarbeit, S. 11: "Da die Willensbildungskapazität der Parlamente den wachsenden Legitimationsbedarf des Staates nicht länger deckt, nimmt die Verwaltung das Motivationsmanagement mehr und mehr in eigene Regie, indem sie die Bevölkerung durch werbende Öffentlichkeitsarbeit planvoll loyalisiert, mobilisiert oder abwiegelt." Vgl. zu diesem Themenkreis auch Domizlaff, Propagandamittel. 302 Stern, Staatsrecht I, S. 283. 303 Tatsächlich hat beispielsweise kaum einer der von Smend genannten Integrationsfaktoren, die er zur Stärkung der Einheit der Republik eingesetzt sehen wollte, in der Weimarer Zeit wirklich einheitsstiftend gewirkt, weder die Verfassung als ganze, noch die Farben des Reiches, die Reichskanzler nicht, und auch nicht die Grundrechte in ihrer Gesamtheit. Der Ästhetik der NS-Symbolik und der Theatralik faschistischer Rituale hatte die Republik letztlich zu wenig entgegenzusetzen; ein Umstand, den sie nach einem Wort von Loewenstein, in: PS Laun, S. 574, "schwer zu büßen" hatte. 304 Ebenso Hartmann, Staatszeremoniell, S. 23.

E. Zusammenfassung: Selbstdarstellung des Staates

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tigen Komrnunikationsprozesses staatlicher Selbstdarstellung beruht dabei letztlich darauf, daß jede Selbstdarstellung auf den Staat und seine Werte verweist, so daß eine Teilnahme am Komrnunikationsprozeß zugleich eine Verständigung über das Vorausgesetzte, den Staat und seine Werte bedeutet.

Zweiter Teil

Architektur als Mittel der Selbstdarstellung des Staates Architektur muß jenseits aller Überhöhungen stets in erster Linie bestimmten Zwecken genügen: Üblicherweise entstehen Bauwerke aus pragmatischen Anlässen; sie schaffen Raum für Unterkunft, Arbeit und Leben von Menschen oder Institutionen. Regelmäßig leistet Architektur aber mehr als diese rein funktionale Zweckerfüllung. Sie spricht Empfindungen an, weckt Emotionen und steht für Bedeutungen. Architektur ist als ein Produkt individueller menschlicher Tätigkeit vielfältigen technischen, ökonomischen, historischen, kulturellen und philosophischen Einflüssen ausgesetzt.! Das Bauen stützt sich "auf die eigene, disziplinimmanente Geschichte" und verarbeitet zugleich "als schöpferischer Akt ... unterschiedliche architekturexteme Impulse des ... historischen Augenblicks."2

A. Zum Verhältnis von Politik und Architektur Innerhalb dieses komplexen Systems von Wechselwirkungen ist die Architektur auf unterschiedlichste Weise auch mit der Politik verknüpft3: Das Bauen Vgl. Lampugnani, Architektur, S. 16. Lampugnani, Architektur, S. 25. 3 Politik verstanden im weitesten Sinne als jedes auf das Gemeinwesen bezogene Handeln. Das Wort "Politik" wurzelt in dem griechischen "polis", also Stadt oder Stadtstaat. Da in der Antike Stadt und Staat zumeist identisch waren, bedeuteten Stadtneugründungen häufig eine Doppelaufgabe: Die Errichtung eines Komplexes von Bauten und die Regelung des Zusammenlebens der Bewohner. Aus dieser Konstellation erklärt sich ursprünglich auch die Vorstellung, die sichtbare Architektur einer Stadt verkörpere die unsichtbare Ordnung des Zusammenlebens. Zu Ende gedacht wurde diese Vorstellung bei dem Versuch der Umsetzung einer Sozial utopie in den Bau einer Stadt: Zahllose Idealstadtentwürfe und Staatsutopien aller Zeiten entwickelten Modell-Städte als formalen Ausdruck eines politischen Systems oder eines neuen Staatsentwurfes im Lande Utopia. Vgl. zu diesem Themenkreis Rosenau, City; Kruft, Utopia; Braun/eis, Stadtbaukunst, S. 130 ff. 1 2

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A Zum Verhältnis von Politik und Architektur

wird schon dadurch zum politischen Vorgang im weitesten Sinne, daß jede Bauaufgabe das Zusammenwirken von Menschen erfordert, also eine soziale Handlung darstellt.4 Vor allem aber bedeutet jeder Bau einen erheblichen materiellen Aufwand; Bauinvestitionen sind daher von weitreichender wirtschaftspolitischer Bedeutung. 5 Von politischer Relevanz ist die Architektur stets auch dann, wenn sie das Gemeinwesen oder den Machthaber vor Bedrohungen oder Angriffen sichern soll: Wo die Architektur nicht mehr nur vor Naturgewalten, sondern in Gestalt von Wehrkirchen, Zwingburgen, Stadtmauern, Wachtürmen oder Bunkern auch und vor allem vor äußeren oder inneren Feinden Schutz verspricht, wird sie zu einem Teil der Politik. Neben diesen und weiteren Primärbezügen zwischen Architektur und Politik stehen die sekundären, zeichenhaften Verknüpfungen. Diese Beziehungen sind ebenso vielfältig wie kompliziert6, zusammenfassende politikwissenschaftliche7 oder staatstheoretische"8 Untersuchungen aber fehlen weitgehend; auch hier müssen einige wenige Andeutungen genügen, wenn im nun folgenden Abschnitt eine Einordnung der Architektur in den Gesamtzusammenhang der Selbstdarstellung des Staates vorgenommen werden soll. Untersuchungen aber 4 Möglicherweise könnte die Organisation der menschlichen Zusammenarbeit bei Bauentwurf und -ausführung auch Rückschlüsse auf andere Entscheidungs- und Handlungsprozesse im Gemeinwesen erlauben. 5 Gerade wegen dieser wirtschaftlichen Bedeutung kam dem Bauwesen zu allen Zeiten erhebliches politisches Gewicht zu. Vgl. nur Warnke, Architektur, S. 12: "So häufig etwa Fürsten vorgehalten wurde, sie vergeudeten durch ihre Bauwut private oder öffentliche Gelder, so klar war doch auch bewußt, daß durch eine rege Bauaktivität den Untertanen Verdienstmöglichkeiten geschaffen wurden." 6 Auf die inneren Zusammenhänge zwischen Architektur und Politik, die schon von der Sprache in zah1\osen Metaphern - wie der Anrede des Parlamentes als "Hohes Haus", dem Bild vom "gemeinsamen Haus Europa" oder dem Wort von der ff., zusam"Parteibasis" - nahegelegt werden, verweist Demandt, Metaphern, S. menfassend S. 287: "Die neuzeitliche Bau-Metaphorik der historisch-politischen Sprache schließt sich eng an die antiken und biblischen Traditionen an. Gegenstand des Vergleichs sind vornehmlich der Staat und seine Institutionen, deren Aufbau, Stabilität und Zusammenbruch in der Bildlichkeit der Architektur vorgeführt werden." 7 Vgl. aber MillonlNochJin, Architecture. Eine "architektursoziologische" Analyse versucht Gottschall, Architektur. 8 Der - soweit ersichtlich - einzige Autor, der sich in diesem Jahrhundert in Deutschland aus Sicht der Lehre vom Staat mit der Ro1\e staatlicher Architektur beschäftigt hat, ist Herbert Krüger, vgl. Krüger, Staatslehre, S. 225 f.; ders., in: Quaritsch, Selbstdarste1\ung, S.24. Für Krüger machen Staatsbauwerk und Staatsdenkmal das "geistige Gebilde" Staat in der Welt der Sinne sichtbar. Diese "Vergegenständlichung von Existenz und Einheit des Staates" so1\ zugleich dessen Wert veranschaulichen. Die Architektur wird so zum Gegenstand praktischer "Staatspflege" im Krüger'schen Sinne. Vgl. dazu auch oben 1. Teil A. IV.: Exkurs - Der Begriff der Staatspflege bei Herbert Krüger. Einen aktuellen Problemaufriß aus Berliner Sicht bietet jetzt auch Battis, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 2/1994, S. 255.

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2. Teil: Architektur als Mittel der Selbstdarstellung des Staates

fehlen weitgehend; auch hier müssen einige wenige Andeutungen genügen, wenn im nun folgenden Abschnitt eine Einordnung der Architektur in den Gesamtzusammenhang der Selbstdarstellung des Staates vorgenommen werden soll.9 Politische Aussagen lassen sich mit Gebäuden am leichtesten durch deren plastische und bildliche Ausschmückung verknüpfen. Der programmatische Inhalt der Statuen, Wappen, Flaggen, Reliefs oder Fresken gibt Auskunft über Status und Selbstverständnis des Bauherren und seine politisch-gesellschaftlichen Intentionen. Aber auch das Bauwerk selbst kann "Bedeutungsträger"10 sein. Die einfachste, eingängigste und deshalb zu allen Zeiten geläufigste Art, Architektur zum Mittel einer politischen Demonstration zu machen, besteht in dem Verweis auf soziale, ökonomische oder politische Potenz durch die schlichte Größe eines Gebäudes. Ein Bauwerk, das alle Nachbarbauten oder gar die gesamte Stadtsilhouette überragt, signalisiert auch die Bedeutung des öffentlichen oder privaten Auftraggebers: "Daß die Demonstration durch Quantität auch in demokratischen Staaten eine Rolle spielt, kann man nicht nur an kleineren Konkurrenzsituationen in Wohngebieten beobachten, sondern vor allem an dem Wettlauf um das größte Hochhaus ... in der Frankfurter City ... "11 Architektur und Politik sind also weithin durch die Assoziation von Form und Bedeutung miteinander verknüpft: Innerhalb eines historisch-kulturellen Kontextes lösen bestimmte Architekturelemente assoziativ inhaltliche Belegungen aus. So steht etwa die Kuppel als höchste Stufe in der traditionellen Hierarchie der architektonischen Würdeformen als jahrhundertealtes Zeichen für Hoheit und Macht12, und der stadtbeherrschende Rathausturm signalisiert als überlieferte Ausdrucksform bürgerlich-republikanisches Selbstbewußtsein.13

9 Einen kunsthistorischen Überblick bietet Nerdinger, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 10. 10 Begriff in Anlehnung an Bandmann, Bedeutungsträger. 11 Warnke, Architektur, S. 14. 12 Vgl. Smith, Dome. 13 Vgl. Damus, Rathaus; Mai/Paul, Rathaus; Wefing, in: Deutsche Bauzeitung 4/1993, S. 60.

B. Architektur als Integratioosfaklor

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B. Architektur als Integrationsfaktor Dieses Verständnis der Architektur als Bedeutungsträger, die Betonung ihres Verweisungscharakters 14, rückt die Architektur in die Nähe des Symbols. Daher erscheint es naheliegend, die Selbstdarstellung des Staates in seinen Bauwerken in Anlehnung an die Staats symbole und deren Bedeuturtg als Integrationsfaktoren zu betrachten.15 Rudolf Smend spricht zwar im Zusammenhang seiner Ausführungen zur "sachlichen Integration"16 an keiner Stelle von der Architektur, und auch in der Fülle der Äußerungen zur Integrationslehre findet sich kein Hinweis auf die integrierende Funktion staatlicher Bauwerke. Eine Subsumtion der Architektur unter die gestaltgebenden Faktoren der sachlichen Integration erscheint jedoch trotzdem methodisch zulässig. Smend selbst betonte den vorläufigen Charakter seiner Arbeit "Verfassung und Verfassungsrecht"17 und auch später erfolgte kein Ausbau und keine Fortführung der Integrationslehre.18 Diese Offenheit des Ausgangstextes wird ergänzt dadurch, daß Smend ausdrücklich die Beispielhaftigkeit der von ihm unter den einzelnen Integrationstypen erwähnten Erscheinungen hervorhebt. Somit ist es gerechtfertigt, auch andere, von Smend selbst nicht erwähnte Sachverhalte auf ihre Integrationskraft hin zu untersuchen.1 9 Die Architektur enthält Bezüge zu allen drei Integrationstypen, die Smend isoliert vorstellt: Gebäude gestalten den Raum, in dem die führenden Persön14 Grundlegend zum Verhältnis von Funktion und Zeichen, zur Semiotik der Architektur Eco, Semiotik, S. 293. IS Ebenso Krüger, Staatslehre, S. 226. Krüger stellt Architektur und Staatssymbole als Mittel der "Staatspflege" nebeneinander und unterscheidet zwischen bei den nur insofern, als das Staatsbauwerk eine "inzidente Staatsdarstellung" sei, während das Staatssymbol unmittelbar, ohne mit einem Hilfswert zu arbeiten, Existenz und Einheit des Staates vergegenständliche. In dem späteren Aufsatz "Von der Staatspflege überhaupt" will Krüger dann jedoch die staatlichen Bauten nicht mehr zur Staatspflege rechnen, sondern sie dem Bereich der Selbstdarstellung des Staates zuordnen, vgl. Krüger, in: Quaritsch, Selbstdarstellung, S.25. Der Unterschied soll darin bestehen, daß die Staatspflege "rational an den Intellekt appeliert, während die Selbstdarstellung über die Anschauung hin wirken will." Wesentliche neue Erkenntnisse zieht Krüger jedoch aus dieser Unterscheidung nicht, dient doch auch die Selbstdarstellung in seiner Definition der "Sichtbarmachung geistiger Gebilde in der Welt der Sinne." Zu Krügers wenig tragfähiger Unterscheidung zwischen 'Staatspflege' und 'Selbstdarstellung des Staates' vgl. oben, 1. Teil A. 11. 1.: Begriffsbestimmung bei Herbert Krüger. 16 Vgl. oben 1. Teil D.: Staatliche Selbstdarstellung und Integration. 17 Vgl. Smend, Verfassungsrecht, S. 120: "Das Ganze kann zunächst in vieler Hinsicht mehr nur eine Ski:zze, ein Arbeitsprogramm sein." 18 Vgl. Friedrich, in: AÖR 1987, S. 18; ebenso Badura, in: Der Staat 1'177, S. 306. 19 Das tut etwa Hartmann, Staatszeremoniell, S. 17 ff., für das Staatszeremoniell.

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2. Teil: Architektur als Mittel der Selbstdarstellung des Staates

lichkeiten des Staates auftreten, sie stellen den Rahmen oder den Zielpunkt demonstrativer Aufzüge dar und vor dem Hintergrund der Bauwerke treten die staatlichen Symbole in Erscheinung, die die Bauten schmücken oder als staatliche kennzeichnen.2o Die Architektur leistet jedoch noch mehr, als diese nur sehr allgemeinen Hinweise zunächst nahelegen: Sowohl die Geschichte als auch das Staatsgebiet zählt Smend zu den entscheidenden integrierenden Sachgehalten.21 In beiden Fällen liegt der Bezug zur Architektur nahe: Geschichtlich bedeutsame Ereignisse haben einen geographischen Rahmen, einen bestimmten Ort, mit dem sie sich dauerhaft verknüpfen, dadurch, daß ein Lebensstrom zu ihm hingeführt hat und in ihm als vergangen, aber nicht untergegangen enthalten ist. 22 Solche Orte, denen eine historische Bedeutung zukommt, sind häufig bestimmte Bauwerke: Die Wartburg, die Paulskirche, der Spiegelsaal von Versailles, die WannseeVilla mögen als nur einige wenige Beispiele aufgeführt werden. Oftmals werden umgekehrt solche Orte des Staatsgebietes, an denen sich bedeutende historische Vorgänge ereignet haben, durch Bauwerke aller Art Denk- und Mahnmäler, Museen oder Gedächtnisstätten, auch Kirchen - besonders betont. Beispiele wären hier etwa das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig oder die Gedenkstätten auf dem Gelände der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Staatliche Bauwerke nähern sich so den Symbolen im Smend'schen Sinne an: Rathaus oder Parlamentsgebäude verleihen dem abstrakten, unsichtbaren Staat ebenso wie Wappen oder Flagge eine anschauliche, sinnlich wahrnehmbare Gestalt und schaffen damit einen "Erlebniszusammenhang für die ihm Angehörigen. "23 Bauwerke vermitteln zudem ähnlich wie Symbole weniger rational zugängliche Informationen, sondern werden eher irrational-assoziativ erlebt. 24 20 Diesen letzten Aspekt betont auch Maunz, Artikel 22 GG, RN 5, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. 21 Vgl. Smend, Verfassun~recht, S. 167 ff. 22 Smend, Verfassun~recht, S. 167. 23 Smend, Verfassungsrecht, S.162. Ernst Benda, in: Rheinischer Merkur, 3.9.1982, zitiert nach Stern, Staatsrecht I, S. 284, formuliert als Ziel auch der Selbstdarstellung des Staates, daß der Bürger sich in den staatlichen Einrichtungen zu Hause fühlen kann. Dazu müssen auch die Häuser des Staates beitragen. 24 Vgl. Smend, Verfassungsrecht, S. 163 f.: "... die gesteigerte Integrationskraft eines symbolisierten Sachverhalts beruht ... darin, daß er als irrationale und individuelle Fülle mit besonderer Intensität erlebt wird." Zudem bietet das Symbol, die "Elastizität" seiner Gestalt, ein breites Assoziationsspektrum, das individueller Interpretation offensteht und so auch die individuelle Motivation ausl~t: "Einen symbolisierten Wertgehalt

B. Architektur als Integrationsfaktor

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Nach alledem ist die staatliche Baukunst als Integrationsfaktor zu bezeichnen. In Paraphrase der Beschreibung der Symbole durch Smend als "festgewordenen Anregungen im fortdauernden Flusse geistigen Lebens"25 kann daher von der Architektur als einer steinernen Anregung des Integrationsprozesses gesprochen werden. Oder kommunikationstheoretisch formuliert: Staatliches Bauen ist Teil des vielschichtigen Kommunikationsprozesses staatlicher Selbstdarstellung, der Sinn konstituiert. Dieses Verständnis der staatlichen Selbstdarstellung in Bauwerken setzt eine gewisse Lesbarkeit architektonischer Elemente voraus. Wie die Staatssymbolik vermag auch Architektur nur dann integrative Wirkung zu entfalten, wenn sie diejenigen Werte und Grundentscheidungen darstellt und vermittelt, die den Staat besonders prägen und legitimieren. 26 Es liegt dabei im Wesen der von Architektur und Symbol ausgelösten Assoziationen, in ihrem Bedeutungsgehalt mehrdeutig zu sein. Zwar sind insbesondere Symbole in ihrem Ursprung gewöhnlich aus der Lebenserfahrung entnommen und auf einen fremden Gegenstand übertragen worden. Ihre Bedeutung ist aber nicht mehr notwendig evident; vielfach ist ihr Bildsinn verloren gegangen und muß erläutert werden. Dies gilt um so mehr für die Architektur und ihre spröde "Sprache", die Arbeit mit "Stahlträgern, Glasscheiben, Leichtmetallprofilen, ... also mit von sich aus eigensinnigen und störrischen Elementen. "27 Im folgenden Abschnitt soll daher der Versuch unternommen werden, zwei prägende Elemente der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland auf ihren Bedeutungsgehalt hin zu untersuchen. 28

kann jeder so erleben, 'wie ich ihn verstehe', ohne Spannung und Widerspruch, wie ihn Formulierung und Satzung unvermeidlich hervorrufen." 25 Smend, Verfassungsrecht, S. 145. 26 Vgl. Klein, Artikel 22 GG, in: Bonner Kommentar. 27 Behnisch, Vortrag, S. l. 28 Allerdings unter dem von Lurker, Symbolik, S. 720, formulierten Vorbehalt, daß "bei der Erklärung des Symbolischen, bei der Übertragung in die Sprache der Begriffe, ... immer ein unübersetzbarer Rest" bleibt.

Dritter Teil

Das Be~piel Bundeshaus Bonn Elemente einer architektonischen Selbstdarstellung der Demokratie in der Bundesrepublik Nach den theoretischen Überlegungen zur Selbstdarstellung des Staates im ersten Abschnitt dieser Arbeit sollen im nun folgenden Kapitel anhand des Beispiels des Bundeshauses in Bonn konkrete Elemente der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik untersucht werden. Die Konkretisierung erfolgt dabei in zwei einander bedingenden Richtungen: Gegenstand ist nicht mehr die architektonische Selbstdarstellung des Staates insgesamt, sondern diejenige eines einzigen Staatsorgans, des Parlamentes, das allerdings als institutioneller Mittelpunkt der Verfassungsordnung des Grundgesetzes überragende Bedeutung besitzt und dessen Selbstdarstellung auch auf den Staat als Ganzes verweist. Notwendig mit dieser Fokussierung der Untersuchung auf das Parlament geht die Beschäftigung mit einem bestimmten Gebäude einher, dem 1992 eingeweihten und 1993 für eine Übergangszeit bis zum Regierungsumzug nach Berlin in Betrieb genommenen Neubau des Plenarbereichs des Deutschen Bundestages in Bann.

A. Voraussetzungen Wie jede Architektur unterliegt auch der Bau von Parlamentsgebäuden vielfältigen Einflüssen unterschiedlichster Art. Im folgenden Abschnitt soll knapp untersucht werden, welche architekturhistorischen und architekturtheoretischen Faktoren den Bau von Parlamenten insbesondere in Deutschland beeinflussen. Natürlich kann hier keine Geschichte der Parlamentsarchitektur geschrieben werden1, ebensowenig können die sich wandelnden Architekturtendenzen im 1 Vgl. dazu mit Schwergewicht auf Bauten des 19. Jahrhunderts Wagner/Wallot, Parlamentshäuser sowiePevsner, Buildung Types, pp. 35. Als neuere Darstellungen vgl. Götze, Parlamentsgebäude; Hitchcock, Democracy; Münzig, Parlamentsgebäude.

A. Voraussetzungen

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einzelnen analysiert werden. Zunächst soll lediglich danach gefragt werden, auf welche Vorbilder und Traditionslinien sich die Architektur von Parlamentsgebäuden in der Bundesrepublik stützen kann.

I. Parlamentsbauten in Deutschland

Der Bau von Parlamentsgebäuden besitzt weder in Deutschland noch anderswo auf der Welt eine lange Tradition.2 Wählt man einen strengen Maßstab, so beginnt der Bau von Gebäuden, die speziell für die dauerhafte Unterbringung demokratischer Parlamente errichtet wurden, in Deutschland sogar erst nach 1945: Die volle Demokratisierung und Parlamentarisierung, gekennzeichnet unter anderem durch das allgemeine Wahlrecht sowie durch Gesetzgebungshoheit, Budgethoheit und die Regierungsbestimmung durch die Legislativkörperschaft, wurde in Deutschland erst 1918 erreicht. In der Weimarer Zeit entstand aber kein Parlamentsneubau, so daß der Bau des Landtages von Baden-Württemberg in Stuttgart3 im Jahre 1961 als der erste deutsche Parlamentsbau im engen Sinne bezeichnet werden könnte.4 Dieser Blickwinkel verstellt jedoch den Blick auf wesentliche Entwicklungstendenzen des Parlamentsbaus. Zudem verknüpft sich die deutsche (Parlaments-) Geschichte in besonderem Maße mit zwei Gebäuden, der Frankfurter Paulskirche und dem Berliner Reichstagsgebäude, die wie die meisten Parlamentsbauten im 19. Jahrhundert entstanden, als das Repräsentativsystem weder demokratisiert noch voll parlamentarisiert war. Klaus von Beyme nennt die Geschichte des Parlamentsbaus daher zugespitzt "eine Geschichte der Adaption demokratischer Parlamente an eine vordemokratische Bausubstanz."s Die Paulskirche und der Reichstag stehen beispielhaft für diesen Vorgang. Vordemokratische repräsentative Landstände nutzten ebenso wie revolutionäre Versammlungen und demokratische Gremien aller Zeiten immer wieder

2 Vgl.Arndt, Parlamentsgebäude, S. 240; Wagner/Wallot, Parlamentshäuser, S. 407; von Beyme, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 32; Cullen, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S. 1846. 3 Vgl. dazu Jaeger, in: Flagge/Stock, S. 76. 4 Der Landtag von Baden-Württemberg war zugleich europaweit der erste Parlamentsneubau seit dem finnischen Reichstagsgebäude, errichtet in Helsinki 1924-1931. S von Beyme, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 34.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

1 Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848.

Räumlichkeiten, die zu anderen Zwecken für fremde Bauherren errichtet worden waren: Das Ballhaus in Versailles, das Theater zu Weimar und die Aula der Pädagogischen Akademie in Bonn seien als prominente Beispiele genannt. Dieser Umstand erklärt sich vornehmlich aus der Tatsache, daß in allererster Linie Versammlungsräume benötigt wurden, die ausreichend Platz für alle Abgeordneten boten. Es genügte, irgendeine Halle zufinden, um sich darin zu versammeln. 6 Hingegen bestand zunächst noch kein Bedarf nach festen Arbeitsplätzen 6 Der mittelalterliche Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der jedoch zu keinem Zeitpunkt ein Parlament im modemen Sinne war, wird in diesem Zusammenhang häufig als Beispiel für die an wechselnden Orten tagenden Vorläufer heutiger Parlamente genannt, die keinen festen und dauerhaften Bau benötigten. Während im 19. Jahrhundert die Seßhaftwerdung der Ständeversammlungen meist mit einem Machtzuwachs einherging und mittelbar Auswirkungen auf die räumliche Unterbringung der Versammlungen bis hin zu Parlamentsum- oder -neubauten hatte, machte der frühneuzeitliche Reichstag eine entgegengesetzte Entwicklung durch: Er wurde 1663 zu einem Zeitpunkt "immerwährend", d.h. tragte ohne Unterbrechnung und nahm bis 1806 seinen Sitz beständig zu Regensburg in dem 1660 erbauten neueren Teil des Rathauses, als die Fürstenhöfe mit ihren sich ausweitenden Behörden den Reichstag endgültig als Entscheidungszentrum überholten. Vgl. Moraw, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S.40.

A Voraussetzungen

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für die Abgeordneten am Versammlungsort 7; ähnliches gilt für die verschiedenen Gruppierungen und "Fraktionen", die sich beispielsweise im Umkreis der Frankfurter Paulskirche vornehmlich in Lokalen trafen, deren Namen auch zu ihrer Kennzeichnung benutzt wurden. Im Frankfurt des Jahres 1848 war die protestantische Hauptkirche der einzige für die Abhaltung der Sitzungen der Nationalversammlung geeignete Raum der Stadt, welcher der Vielzahl von Abgeordneten und Zuschauern ausreichend Platz bot. So bezog am 18. Mai 1848 das erste freie gesamtdeutsche Parlament die 1786 bis 1833 nach Entwürfen von Georg Hess und seinem Sohn Johann Friedrich Hess errichtete klassizistische Paulskirche8, einen elliptischen, flach überkuppelten Raum, der durch Helligkeit, ausgewogene Proportionen, schlichtes Dekor sowie einen Kranz von zwanzig ionischen Säulen samt umlaufender Empore gekennzeichnet war. Die Kirche wurde für die Zwecke der Nationalversammlung rasch umgestaltet: Ein Kolossalbild der Germania verdeckte die Orgel, vor dem Altar und der Kanzel wurde eine geschmückte Tribüne für das Präsidium aufgestellt, davor fand das Rednerpult Platz. Die Abgeordneten saßen im mäßig geschwungenen Halbkreis der unveränderten Kirchenbänke. Trotz ihres politischen Scheiterns und der recht kurzen Dauer der Unterbringung des Parlamentes - am 24. Oktober 1852 kehrte die Gemeinde in ihre Kirche zurück - wurde die Paulskirche weithin zum Symbol der demokratischen Kräfte in Deutschland: "Es geht nicht um Frankfurt, sondern es geht um Deutschland, unser aller Vaterland. Die Frankfurter Paulskirche ist sein Haus und Sinnbild. Die Paulskirche ist das Haus der deutschen Demokratie." Mit diesen Worten charakterisierte 1947 der damalige hessische Ministerpräsident Christian Stock während der Grundsteinlegung zum Wiederaufbau die Bedeutung der Paulskirche.9 7 Dafür gab es eine ganze Reihe von Gründen: ArndI, Parlamentsgebäude, S. 240, betont, daß der Abgeordnete am Parlamentsort gar nicht heimisch werden, "sondern in seinem Wahlkreis ansässig bleiben und wurzeln [sollte]. Darauf deutet seine Bezeichnung hin, daß er ein aus seinem Bezirk Ab-Geordneter ist"; und von Beyme, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 37, weist für den Berliner Reichstag darauf hin, daß sich die Parlamentarier noch nicht als Berufspolitiker verstanden, was auch daran lag, daß sie bis 1906 keine Diäten bezogen. 8 VgI. zur Paulskirche Bartetzko, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 108. 9 Zitiert bei Bartetzko, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 118. Dort auch Näheres zum Wiederaufbau durch Rudolf Schwarz und dessen paradigmatische Funktion für die Nachkriegsarchitektur, insbesondere für den von Gerhard Weber entworfenen Rundbau des Hessischen Rundfunks in Frankfurt, der ursprünglich als Plenarsaal eines vorübergehend in Frankfurt tagenden Bundestages geplant war.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Der erste Bau der Welt, der von vornherein für die Zwecke eines Parlamentes entworfen und ausgeführt wurde, ist das KapitOl in Washington. Schon 1793 erfolgte die Grundsteinlegung, doch es dauerte bis 1867, ehe der Parlamentsbau vollendet war.!o Als Deutschlands erstes Parlamentsgebäude gilt das badische Ständehaus, errichtet 1820-22 in Karlsruhe nach Plänen von Friedrich Arnold unter Mitwirkung von Friedrich Weinbrenner, das nach Kriegsbeschädigung 1961 (zugunsten eines Parkplatzes) abgerissen wurde.!l Die überwiegende Mehrzahl der deutschen landständischen Vertretungen und Legislativkörperschaften tagte jedoch in bestehenden, lediglich für die Bedürfnisse der Versammlungen umgebauten Häusern. 12 Auch der Reichstag des Deutschen Reiches tagte lange in fremden Häusern: Zunächst als Reichstag des Norddeutschen Bundes seit 1867 im Gebäude des Preußischen Herrenhauses, 1871 für kurze Zeit im Preußischen Abgeordnetenhaus und dann ab Oktober 1871 für 23 Jahre "provisorisch" im Gebäude der Königlichen Porzellanmanufaktur. Erst 1894 wurde der von Paul Wallot entworfene Reichstagsneubau bezogen)3 Die Parlamente der deutschen Länder tagten nach 1918 weiterhin in ihren bisherigen Häusern und auch nach 1945 richteten sich die neuen Landtage in bestehenden und eilig hergerichteten Sälen ein. Sie blieben dort bis heute, mit nur vier Ausnahmen: 1961 wurde der Neubau des Landtages von Baden-Württemberg in Stuttgart fertiggestellt, seit 1966 tagt die Bremer Bürgerschaft in ihrem neuen Haus, 1990 bezog der Landtag von Nordrhein-Westfalen einen Neubau in Düsseldorf14 und zuletzt wurde 1994 in Dresden das Gebäude für den Sächsischen Landtag übergeben.15 Es mag eine Reihe von Gründen dafür geben, daß in Deutschland nur so wenige Parlamentsneubauten entstanden16; wesentlich dürften zwei davon sein: 10 Vgl. zur Baugeschichte des Kapitols United States Capitol Historica1 Society (ed.), We, the People; Hitchcock, Democracy; Norton, Capitol. 11 Vgl. L. Müller, Landtagsgeschichte n, S. 99; Theobald, Ständehaus. 12 Überblicke bei WagnerfWallot, Parlamentshäuser, S. 446 ff. und bei Cullen, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S. 1849. 13 Vgl. zu der provisorischen Unterbringung des Reichstages insbesondere Cullen, Reichstag, S.47-72. Vgl. auch Reiche, Reichstag; Schmaedeke, Reichstag. Zum Reichstag auch unten 3. Teil D. IV. 1.: Der Deutsche Reichstag Berlin. 14 Vgl. Jaeger, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 76. 15 Vgl. Wejing, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.10.1993; Sächsisches Staatsministerium der Finanzen, Landtag. 16 Arndt, Parlamentsgebäude, S. 329 f. nennt zwei: Zum einen die Tatsache, daß es für ein Parlament im Grunde nicht mehr bedürfe als eine Versammlungshalle. Zum anderen meint Arndt, "daß die Lokalisierung dem Wesen und der Idee des Parlamentes widerspricht. Das Parlamentshaus kann nicht ein städtebauliches Ereignis nur der Metropole sein, also ein zu Paris oder zu Berlin gehöriges Haus, sondern sollte zum

A Voraussetzungen

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Im 19. Jahrhundert sah man die parlamentarischen Versammlungen weithin als nachrangige Staatsorgane an, denen die Regierungen bis 1918 nicht verantwortlich waren, denen sogar das freie Selbstversarnrnlungsrecht verweigert wurde und deren materielle Binnenautonomie insgesamt stark eingeschränkt warP Daß diese Kammern keine finanziell aufwendigen und potentiell prestigeträchtigen Neubauten erhielten, kann angesichts ihrer eingeschränkten politischen Bedeutung nicht überraschen.1 8 Der Neubau des Berliner Reichstages stellt insofern eine gewissen Ausnahme dar.1 9 Nachdem 1918 die volle Parlamentarisierung erreicht worden war und die Parlamente zur zentralen Verfassungs-Institution aufrückten, die die Aufgabe der demokratischen Gesamtleitung, Willensbildung und Kontrolle wahrnahmen, trat ein anderer Grund für die fehlende Parlamentsneubautätigkeit in den Vordergrund. Nun spielte vor allem die Finanzierungsfrage eine Rolle und verhinderte angesichts leerer Staatskassen nach 1918 wie nach 1945 die Realisierung mancher Projekte. Die Abgeordneten richteten sich in den bestehenden Gebäuden ein. In Zeiten des Wohlstandes fürchteten die parlamentarischen Bauherren hingegen häufig, mit teuren Bauvorhaben den Unmut der Bevölkerung zu erregen.20 Auch die Komplexität der Bauherrschaft und die Vielzahl der am Planungs- und Bauprozeß beteiligten Gremien und Institutionen trägt wohl zur Langwierigkeit von Parlamentsbauvorhaben bei.

Ausdruck bringen, daß es für die Gesamtheit des Landes da ist. Aus dieser &wägung haben die Amerikaner als Ersterbauer eines Parlamentshauses eine eigene Stadt in einem selbständigen Distrikt um das Capitol herum entstehen lassen." 17 Vgl. nur Kühne, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S. 83. 18 So war auch für den Reichstag des Deutschen Reiches zunächst nur ein einfaches Gebäude auf dem Grundstück des Kanzleramtes im Gespräch, vgl. Cul/en, Reichstag, S. 55 ff. 19 Hier kann nicht der Ort sein, näher auf die Ursachen dieser eher ungewöhnlichen Entwicklung einzugehen. Es soll jedoch erwähnt werden, daß sowohl der Reichstag als Institution als auch damit zusammenhängend das Reichstagsgebäude gegen parikulare Interessen und für die Reichsidee standen, was den Bau etwa in den Augen Bismarcks interessant gemacht haben mag, vgl. die Hinweise bei Cul/en, Reichstag, S. 88 und S. 106. Vgl. auch Reiche, Reichstag, S. 372: "Realisiert wurde das Projekt seiner national-integratorischen Bedeutung wegen." Vgl. auch unten 3. Teil D. IV. 1.: Der Deutsche Reichstag Berlin. 20 Vgl. dazu Arndt, Bauherr, S. 226 f.: "Immer ist es ein Alarmzeichen für die Demokratie, sobald aus einer Gesellschaft, die Vergeudung keineswegs scheut, der Fanatismus einer angeblichen Sparsamkeit laut wird, daß die Gesellschaft es ja gar nicht wert sei, sich selber in Bauten Organe zu geben, die dem Gemeinsamen gewidmet sind . ... Eine Demokratie ist nur soviel wert, wie sich ihre Menschen wert sind, daß ihnen ihr öffentliches Bauen wert ist." 6 Wefing

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Die relativ wenigen weltweit ausgeführten Parlamentsbauten zeigen abgesehen von der Lösung der meist strukturell ähnlich gestellten funktionalen Anforderungen kaum Gemeinsamkeiten. Die wichtigste Übereinstimmung liegt bei den im 19. Jahrhundert errichteten Bauten in der Übernahme von Bauformen, die historisch oder formal auf Macht und Würde verweisen21 , wie etwa das Kuppelmotiv, oder auf Geschichtsepochen, an die angeknüpft werden soll: Das Kapitol in Washington "trägt nach Namen und Gewand ein antikisierendes Aussehen, um vermeintlich die klassische Idee einer aus dem Altertum entlehnten Demokratie zum Ausdruck zu bringen. Das ... Parlament Frankreichs ... ziert sich mit der Fassade eines römischen Tempels."22 Das 20. Jahrhundert brachte so unterschiedliche Parlamentsneubauten wie diejenigen in Helsinki, Brasilia, Chandigarh und Canberra hervor. Auch die nach 1945 in Deutschland entstandenen Neubauten für Parlamente weisen vornehmlich Unterschiede auf; allein für die Bauten in Bonn, Düsseldorf und Dresden können auch formale Gemeinsamkeiten konstatiert werden, was jedoch seinen Grund eher in der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung finden dürfte als in der Schaffung einer verbindlichen Formensprache für die Bauaufgabe Parlament. Es gibt insofern keine formale Tradition, die den Bau von Parlamentshäusern bestimmen könnte. Dennoch findet der Bau von Parlamenten in Deutschland nicht ohne Bezüge zur Baugeschichte statt. Es existiert eine andere Traditionslinie, die sich nicht auf beispielgebende, realisierte Parlamentsgebäude bezieht, sondern auf Einflüsse, die in den nächsten heiden Abschnitten knapp dargestellt werden sollen. Dabei soll in einem theoretischen Überblick zunächst versucht werden, die Wurzeln dieser Traditionslinie freizulegen, um dann anhand einiger ausgewählter Bauwerke deren architektonische Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland vorzuführen.

11. Zur Bedeutung der Architektur im Nationalsozialismus für die architektonische SelbstdarsteUung der Bundesrepublik

Zum Verständnis der Architektur in der Bundesrepublik im allgemeinen und der Bauwerke für Verfassungsorgane wie den Deutschen Bundestag im besonderen bedarf es der Kenntnis ihrer Beziehung zur Architektur in der Zeit des 21 Vgl. Buddensieg, Labyrinth, S. 77.

22 Arndt, Parlamentsgebäude, S. 239 f.

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Nationalsozialismus.23 Dabei stellt sich diese Beziehung, die hier äußerst knapp umrissen werden soll, weitaus komplizierter dar, als dies üblicherweise gesehen wurde. Besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber auch bis weit in die siebziger Jahre hinein, wurde die These vertreten, nach 1945 habe in einer "Stunde Null" ein radikaler Bruch mit der nationalsozialistischen Architektur stattgefunden und es sei die 1933 in die Emigration vertriebene Modeme triumphal nach Deutschland zuruckgekehrt.24 Diese Auffassung wird etwa seit Mitte der achtziger Jahre kritisiert25, denn sie läßt sich aus mindestens zwei Gründen nicht halten. Erstens: In der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat es eine genuin "nationalsozialistische Architektur" nicht gegeben. Zwar bevorzugten die nationalsozialistischen Machthaber, vor allem auch Hitler persönlich26, für die repräsentativen Gebäude von Staat und Partei tatsächlich eine bestimmte Architektur, nämlich den Neoklassizismus Speer'scher Prägung.27 Doch läßt sich aus dieser Tatsache keine stilistische Definition von "nationalsozialistischer Architektur" herleiten. 28 Dagegen spricht zunächst, daß im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland durchaus auch andere Architekturauffassungen vertreten und realisiert wurden. 29 Insbesondere Fehl kritisiert30 die etwa von Teut vertretene31 These, die wenigen ausgeführten Beispiele des Neuen Bauens während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft seien angesichts der geringen Zahl ver23 Zur Architektur im Nationalsozialismus vgi. aus der umfangreichen Literatur: Brenner, Kunstpolitik; Teut, Architektur; Taylor, Word; Scholz, Architektur; Petsch, Baukunst; Düllfer/Thies/Henke, Baupolitik; Larsson, Neugestaltung; Hinz/Schäcke/ Schönberger, Dekoration; Frank, Architekturen; Miller Lane, Architektur; Durth, Architekten. 24 Vgl. nur Vogt, Architektur, S.49: "Da die nationalsozialistische Architektur zusammen mit der Partei untergegangen war .. "; Hoffmann, Architektur, S. VIII: "Zweifellos griffen die deutschen Architekten nach 1945 viele der Ideen auf, die sich andere Nationen während der Zeit unserer geistigen Isolierung erarbeitet haben .. "; ähnlich auch noch Teut, Architektur; differenzierter jetzt Schreiber, Architektur, S. 14. 25 Besonders prononciert in dieser Kritik Lampugnani, Architektur. Vgl. auch Frank, Architekturen. 26 V gl. dazu Backes, Kunstpolitik. Z1 Vgl. Speer, Architektur; Schönberger, Reichskanzlei. 28 Vgl. Lampugnani, Architektur, S. 229. 29 So wurde der Wohnungs- und Siedlungsbau weitgehend von regionalistisch-traditionalistischen Tendenzen im Stile der sogenannten Stuttgarter Schule dominiert, vgl. Voigt, in: Frank, Architekturen, S.234. Im Industriebau war der Funktionalismus des Neuen Bauens durchaus erfolgreich, vgl. dazu Nerdinger, Bauhaus-Modeme; Frank, in: Germer/Preiß, Terragni, S. 57; Fehl, in: Frank, Architekturen, S. 88. Zum Stilpluralismus allgemeiner Lampugnani, Architektur, S. 236. 30 Vgl. Fehl, in: Frank, Architekturen, S. 88. 31 Vgl. Teut, Architektur, S. 12.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

wirklichter Projekte zu vernachlässigen oder als Ausdruck von oppositioneller Haltung der Auftraggeber anzusehen. Fehl nimmt vielmehr an, daß der relative Pluralismus der Architekturstile Ausdruck eines "programmatischen Eklektizismus" gewesen sei, der in einer Hierarchie von Bauaufgaben bestimmten Aufgabenfeldern bestimmte Baustile zuordnete; dabei sei auf der oberten Stufe dem Neoklassizismus der Bau repräsentativer staatlicher Gebäude, auf einer deutlich niedrigeren Ebene einem traditionalistischen "Heimatstil" der Wohnungsbau und schließlich dem sachlichen Funktionalismus der Industriebau zugewiesen worden.32 Zudem zeigt der Blick über die Grenzen, daß der Neoklassizismus in den zwanziger und dreißiger Jahren weltweit für staatliche Repräsentationsarchitektur favorisiert wurde 33 : Auch die Demokratien in Skandinavien, Frankreich und den Vereinigten Staaten bauten in dieser Formensprache; eine Tatsache, die eine Gleichsetzung von neoklassizistischer Architektur und nationalsozialistischer oder totalitärer Ideologie verbietet.34 Das Scheitern aller Definitionsversuche35 einer "nationalsozialistischen Architektur" beruht letztlich darauf, daß die Beziehung zwischen Architektur und Politik weder linear noch historisch dauerhaft ist. 36 Die Baugeschichte beweist vielmehr eine Autonomie der architektonischen Form, die es möglich Ähnlich Borsi, Ordnung, S. 27, unter Hinweis auf Platz, Baukunst. Vgl. dazu Borsi, Ordnung; Larsson, in: Speer, Architektur, S. 151; Miller Lane, Architektur, S. 205. 34 Gegen eine solche Parallelisierung spricht auch der Blick ins faschistische Italien, wo die Architekten des italienischen "razionalismo", einer Spielart der sachlichen Moderne, bedeutende Bauwerke für die faschistischen Machthaber errichten konnten, etwa 1932-1936 in Corno die sog. Casa dei Fascio (Architekt Giuseppe Terragni) oder 1933 in Florenz den Hauptbahnhof Santa Maria Novella (Architekt Giovanni Michelucci); vgl. dazu PJammatter, Razionalismo; DeMichelis, in: Frank, Architekturen, S. 22; Ghirardo, in: GermerlPreiß, Terragni, S. 39. 35 Auch die Versuche einer Definition von "faschistischer" oder "nationalsozialistischer Architektur" über bestimmte Personen ist wenig tragfähig: Avantgardistische Architekten wie Mies van der Rohe, Gropius oder Le Corbusier bewarben sich ebenso um Aufträge der totalitären Regime wie konservative Architekten und dienten sich dabei teils verbal, teils auch formal den Machthabern an. Andererseits standen traditionalistische Architekten teilweise durchaus in Opposition zum Regime. In diesen unterschiedlichen persönlichen Verhaltensweisen will Lampugnani, Architektur, S. 251, kein politisches Bekenntnis sehen, sondern "politische Uneinsichtigkeit, ideologische Kurzatmigkeit, vielleicht Opportunismus, vor allem aber: nahezu grenzenlose Besessenheit von der eigenen Arbeit." Schließlich schafften diejenigen, die unter dem Nationalsozialmus mit neoklassizistischen Entwürfen erfolgreich waren, in aller Regel nach 1945 den nahtlosen Anschluß an die Moderne, vgl. dazu Durth, Architekten. 36 Aus entsprechenden Gründen gibt es ebensowenig eine genuin "demokratische" wie eine spezifisch "kommunistische Architektur". 32 33

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macht, daß sich gleichartige Regierungsfonnen architektonisch auf unterschiedliche Weise darstellen können, wie umgekehrt auch politisch unterschiedliche Systeme ähnliche Architekturfonnen instrumentalisieren mögen.

2 Albert Speer, Neue Reichskanzlei Berlin, 1939: Ein häufig zitiertes Beispiel zur Gleichsetzung von neoklassizistischer Architektur und totalitärer Herrschaft.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Derart verstanden zeigt sich, daß die Belegung von formalen Elementen mit bestimmten Bedeutungen eine soziale Konvention ist, die sich im historischen semantischen Prozeß durchaus verändern kann. 37 Zweitens: Die These von dem radikalen Bruch nach 1945, von der "Stunde Null", ist in der Architektur - ebenso wie in anderen Bereichen - eine "Legende"38: Bis auf sehr wenige Ausnahmen konnten die Architekten, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgreich waren, nach 1945 ihre Arbeit fortsetzen.39 In großem Umfang erfolgten die Wiederaufbauplanungen für die zerstörten deutschen Städte sogar auf der Grundlage von Vorüberlegungen, die von sog. Aufbaustäben schon während des Krieges angestellt wurden. 4O Die Situation der Zeit nach 1945 war also im Ganzen eher von Kontinuitäten gekennzeichnet als von Brüchen.41 Diese Feststellung muß jedoch eingeschränkt werden für den Bereich der Architektur staatlicher Gebäude, speziell der Bauwerke für Verfassungs organe: Hier setzte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik durchaus ein Wandel ein42, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, die aus dem Umstand herrührte, daß es nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 keinen Bedarf und keine handlungsfähigen Auftraggeber für repräsentative staatliche Bauwerke gab. Mit den Vorbereitungen der Gründung der Bundesrepublik aber wurde dieser Aufgabenbereich ab 1948/1949 wieder aktuell. Nun schien es aber unmöglich, ihn im Stil des Neoklassizismus zu bearbeiten; stattdessen

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Vgl. Lampgnani, Architektur, S. 220; ebenso Kücker, Unschuld, S. 55.

38 Vgl. etwa den Titel der Bauwelt 75 (1984), Nr. 48: "Die Legende von der 'Stunde

Null'. Planungen 1940-1950". 39 Vgl. ausführlich Durth, Architekten; ebenso von Beyme, Wiederaufbau, S.47; einer der wenigen Architekten, die nach 1945 wegen ihrer Beziehungen zum Nationalsozialismus mit Schwierigkeiten konfrontiert wurden, war Paul Schmitthenner, dem die Rückkehr auf seinen Stuttgarter Lehrstuhl versagt blieb, vgl. Voigt, in: Frank, Architekturen; Albert Speer konnte nach 1945 nicht weiterarbeiten, weil er im Nürnberger Prozeß zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. 40 Vgl. Durth, Architekten, S. 233 ff. 41 Vgl. Hoffmann-Axtleben, in: Arch+ 1981, S. 13; Nerdinger, Aufbauzeit; Fehl, in: Frank, Architekturen, S.89; Lampugnani, Architektur, S. 252 ff.; einseitig die Kontinuitäten betonendPetsch, Heimat. Bei allem Interesse für die Kontinuitäten dürfen aber auch nicht diejenigen Tatsachen aus dem Auge verloren werden, die den realen Hintergrund für die Thesen von der "Stunde Null" und einem "Neubeginn" bildeten: 1945 waren in ganz Europa etwa 1000 Städte und 24 Millionen Wohnhäuser zerstört, lebten schätzungsweise 150 Millionen Menschen ohne Obdach. Insofern standen die Architekten und Städteplaner tatsächlich vor einer nie dagewesenen Herausforderung, die durchaus auch Chancen beinhaltete. 42 Vgl. Fehl, in: Frank, Architekturen, S. 89; Frank, in: Schulz, Grauzonen, S. 64 ff.

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fanden vorwiegend Formen einer gemäßigten Modeme Verwendung43: "Man wollte sich von der dunklen Zeit des Nationalsozialismus vehement distanzieren, und man wollte dies durch Architektur ... zeigen."44 Die Umorientierung beruhte im wesentlichen auf der noch stark von der nationalsozialistischen Propaganda beeinflußten45 Wahrnehmung der Rolle der Architektur im Nationalsozialismus. Ist nach dem oben Gesagten die Annahme einer spezifisch "nationalsozialistischen Architektur" zwar ahistorisch und deshalb unhaltbar und erweist sich der "Bruch" mit der Zeit des Nationalsozialismus bei näherer Betrachtung lediglich als rhetorische Übung, so muß doch festgestellt werden, daß sich diese Auffassung erst seit Mitte der achtziger Jahre durchgesetzt hat: Lange Zeit - und zum Teil noch heute - galt der Neoklassizismus als politisch besetzt 46 und daher indiskutabel 47 , sah man in starrer geometrischer Ordnung den Ausdruck totalitärer MachtanspTÜche. Nur in der bewußten und deutlichen Abkehr von dieser Formensprache schien die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland daher Akzeptanz finden zu können. In engem Zusammenhang damit standen zwei weitere Entwicklungen, die sich gegenseitig bedingend und verstärkend - das "Neue Bauen" schließlich zum "Symbol von Freiheit und Individualismus"48 und damit zur bevorzugten 43 Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel: In den fünfziger Jahren wurden beispielsweise das Gebäude des Auswärtigen Amtes in Bonn oder jenes des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden in einer Formensprache errichtet, die Lampugnani, in: Benz, Bundesrepublik III, S. 143, wohl zu recht als "trockenen, schweren Monumentalstil " bezeichnet. 44 Lampugnani, in: Benz, Bundesrepublik I1I, S. 140. 45 Vgl. Frank, in: Germer/Preiß, Terragni, S. 59 f. Nach Miller Lane, Architektur, S.205, ist es gerade die ideologische Aufladung und intensive politische Propaganda, die von den Nationalsozialisten mit der Architektur betrieben wurde, welche die architektonische Entwicklung in Deutschland von der allgemeinen europäischen Architekturgeschichte trennte. 46 Eine Bestätigung der Annahme einer spezifischen Instrumentalisierung des Neoklassizismus liefert Fehls These vom "programmatischen FkIektizismus", vgl. Fehl, in: Frank, Architekturen: Danach war der Neoklasizismus für die repräsentativen Bauaufgaben des Nationalsozialismus reserviert, was diesen Baustil für die Bauherren in der Bundesrepublik tatsächlich mindestens suspekt machen mußte. 47 Das belegen die heftigen Debatten, die auch heute noch um jedes monumental erscheinende Bauwerk geführt werden. Die (zu undifferenzierte) These von einer bleibenden Besetzung des Klasizismus vertritt beispielsweise Spieker, Architektur. . 48 Lampugnani, in: Benz, Bundesrepublik I1I, S. 143. Ähnlich Bartetzko, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 108: "Die schmucklos schlichte ... Architektur der frühen Jahre galt ... als notwendiger Beweis der Abkehr vom diktatorischen Pomp der NSArchitektur, als ... Rückkehr zur Architektur der Moderne, die als offiziell geförderte Baukunst der Weimarer Republik rückblickend die Aura einer dezidiert demokratischen Architektur ausstrahlte .... Die sichtliche Wiederaufnahme der Bausprache von Bauhaus und 'Neuem Bauen' waren den Verantwortlichen Synonyme kollektiver Buße, Einsicht

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Form für Bauten der Verfassungsorgane werden ließ: Eine nicht unerhebliche Rolle bei der Neudefinition der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik spielte das Baugeschehen in der DDR, von dem sich die bundesrepublikanische Architektur durch die betonte Weltoffenheit des "Internationalen Stils" abzugrenzen suchte: In der DDR hatte das 1950 verabschiedete "Aufbaugesetz" nach sowjetischem Vorbild eine traditionalistische, an der Pflege der lokalen und nationalen Bauformen orientierte Architektur und Stadtplanung festgeschrieben und bekämpfte die asketisch-internationalistischen Leitbilder des "Neuen Bauens"49. So schlugen die weltpolitischen Spannungen "bis in die Architekturprogramme durch, obgleich der Wiederaufbau gerade erst beginnt. "50 Gerade der Aspekt der internationalen Verbreitung des "Neuen Bauens" bot aber der Bundesrepublik die willkommene Gelegenheit, die politisch angestrebte Zugehörigkeit zum "freien Westen" auch architektonisch zu demonstrieren. Der Versuch des (Wieder-)Anschlußfindens an den Stand der Architekturentwicklung etwa in den Vereinigten Staaten oder auch in Skandinavien wurde zudem durch die westlichen Siegermächte intensiv mit Vortragsveranstaltungen und Ausstellungen gefördert.51 Einen gewissen Abschluß und Höhepunkt stellte insofern die Bauausstellung "Interbau" im Jahre 1957 im Berliner Hansaviertel dar, die nahezu allen bekannten Architekten der Moderne aus dem In- und Ausland die Gelegenheit bot, ein Gebäude zu realisieren, um so eine Summe des in der jungen Bundesrepublik Erreichten zu ziehen und zugleich die Überlegenheit des westlichen Fortschritts gegenüber der DDR zu demonstrieren.52 und demokratischen Neubeginns. " So betrachtet kann die Umorientierung der architektonischen Selbstdarstellung auch als Teil kollektiver Verdrängungsmechanismen der belasteten jüngsten Vergangenheit interpretiert werden. 49 Vgl. dazu Goralczyk, Architektur; Schälzke, Stalinalleej Hoscislawsld, Bauen. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Tendenzen einer "nationalen Architektur" mit "traditionsbezogenem Kolorit" stellt die Planung und Errichtung der Langen Straße in Rostock ab 1952 dar, vgl. dazu Lasch/Möller, in: Bauwelt 1991, S. 1442. 50 Durth, in: Joedicke, Architektur, S. 63. 51 Vgl. FranJc, in: Schulz, Grauzonen, S. 66 ff. 52 Vgl. Hackelsberger, Modeme, S. 96. Vgl. dazu auch Interbau Berlin, Amtlicher Katalog. Vgl. auch Durth, in: Joedicke, Architektur, S. 63: "Als Gegenbild zum strengen Fnsemble der Stalinallee entstehen im Westen auf den Trümmern zerstörter Mietskasernen in lockerer Kompositon die individuell gestalteten Gebäude der Internationalen Bauausstellung. Auf dem zur grünen Landschaft verwandelten Ruinenfeld sind in aufgelockerter Mischung Wohnhochhäuser, Reihen- und Einfamilienhäuser zu sehen, die in der Vielfalt und Internationalität der Entwürfe zugleich eine Pluralität moderner Lebensformen repräsentieren sollen, - nicht zuletzt auch als politische Antwort auf die im Ostteil der Stadt in strenger Front entstandenen Bauten, die in der Kritik vom Westen her als verkappte Verlängerung der NS-Pläne für Berlin verhöhnt werden. "

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Damit war eine neue, wenn auch deutlich schwächer als zur Zeit des Nationalsozialismus ausgeprägte Politisierung der Architektur erreicht. Das "Neue Bauen" des Internationalen Stils schien Gewähr dafür zu bieten, drei wesentliche Elemente des Selbstverständnisses der jungen Bundesrepublik baulich darstellen zu können: Den trotz aller tatsächlich vorhandenen Kontinuitäten behaupteten Bruch mit der Zeit vor 1945, die Westorientierung sowie die scharfe Ablehnung des Systems im anderen Teil Deutschlands. Die Auswirkungen dieser Auffassung zeigt deutlich der Blick auf die ausgeführten Bauten für die Verfassungsorgane des Bundes und andere Gebäude, die mehr oder weniger ausdrücklich der Selbstdarstellung der Republik dienten.

III. Ausgewählte Bauwerke für Verf~ungsorgane und andere der Selbstdarstellung der Bundesrepublik dienende Gebäude

Der im Herbst 1992 übergebene Neubau des Plenarbereichs des Deutschen Bundestages in Bonn krönt eine Traditionslinie der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik, die von einer deutlich herausgestellten funktionalistisch-asketischen Internationalität ebenso gekennzeichnet ist wie von einer Ablehnung alles PathetiSCh-Repräsentativen, das an den als historisch belastet angesehenen Neoklassizismus Speer'scher Prägung erinnern könnte. Immer wieder tauchen in diesem Zusammenhang Begriffe wie "Transparenz" und "Leichtigkeit", aber auch "Bescheidenheit", "Klarheit", "Ehrlichkeit", ja sogar "Wahrheit" auf. Anknüpfungspunkt dieser Haltung ist Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon aus dem Jahre 1929, das gebaute Aushängeschild der Weimarer Republik. 53 Darauf und auf das gesamte "Neue Bauen" im Umkreis des "Bauhauses" bezog sich zuerst Hans Schwippert bei seinen Umbauplanungen für den Bundestag in Bonn 1948/4954, und später auch andere für die Selbstdarstellung der Bundesrepublik wichtige Bauwerke, von denen hier vier ein wenig näher betrachtet werden sollen. Die Auswahl gerade dieser vier steht zwar unter dem Vorbehalt der Unvollständigkeit, aber sie erfolgt nicht willkürlich:

Tegethoff, Mies, S. 69; Wefing, in: Bauwelt 1992, S. 930. 54 Vgl. dazu unten 3. Teil B.: Das Banner Bundeshaus. 53 Vgl. dazu

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

3 Mies van der Rohe, Deutscher Pavillon auf der Ausstellung in Barcelona 1928/29.

Zwei Bauwerke, der Kanzlerbungalow und das Bundesverfassungsgericht, geben obersten Verfassungsorganen Raum und stellen schon deshalb besondere Bauaufgaben unter dem Gesichtspunkt der Selbstdarstellung dar. Mit den beiden anderen, den Brusseler Weltausstellungspavillons und den Münchner Olympiabauten präsentierte sich die Bundesrepublik ganz bewußt und ausdrücklich der Weltöffentlichkeit. Für drei der Bauwerke gibt es zudem Vorgängerbauten, die von den Nationalsozialisten propagandistisch vereinnahmt worden waren: Das Olympiasta-

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dion in Berlin aus dem Jahre 193655, der ein Jahr später errichtete Pariser Weltausstellungspavillon sowie die Neue Reichskanzlei in Berlin (1937-1939). Von diesen Gebäuden suchten sich die Bauten der Bundesrepublik demonstrativ zu distanzieren: Alle vier sind gekennzeichnet von Offenheit, Leichtigkeit, Transparenz und stehen damit beispielhaft für die Architekturtendenzen des Neuen Bauens (oder zumindest, wie Behnischs Olympiabauten, in dessen zeitgemäß weiterentwickelter Nähe), das seinerseits in der Nachkriegszeit mit Internationalität und Abkehr vom politisch vereinnahmten Neoklassizismus gleichgesetzt wurde. Schließlich wurden die drei Architekten der vier Gebäude auch mit weiteren wichtigen Bauaufgaben betreut, die ebenfalls erhebliche Bedeutung für die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik besitzen.56

1. Weltausstellungspavillons Brüssel Die Bundesrepublik wurde 1954, also nur neun Jahre nach Kriegsende, zur Teilnahme an der Brusseler Weltausstellung 195857 eingeladen. Eine willkommene Gelegenheit für die junge Republik, sich kurz nach dem Kriege vor der 55 Zur Architektur des Berliner Olympiastadions und seiner Instrumentalisierung durch die nationalsozialistische Propaganda vgl. Schäche, in: Bauwelt 1993, S.930; Buddensieg, Labyrinth, S. 95. 56 Von diesen Bauvorhaben mit Selbstdarstellungsfunktionen können hier nur einige kurz vorgestellt werden. Egon Eiermann (1904-1970) plante: - Deutsche Abteilung auf der X. Triennale, Mailand, 1953-1954; - Deutsche Pavillongruppe auf der Weltausstellung, Brüssel, 1956-1958; - Kanzleigebäude der Deutschen Botschaft, Wasbington, 1958-1964; - Deutsche Botschaft, Ma>kau, Projekt 1969; - Abgeordneten-Hochbaus des Deutschen Bundestages, Bonn, 1965-1969. Vgl. zu Eiermanns Rolle in der Architektur der Bundesrepublik nur Zimmermann, in: Schreiber, Architektur, S. 89 f.: Eiermann sei der Mann, "der im Nachkriegs-Deutschland alles gebaut hat, was Rang und Namen hat und festigt." Sep Ruf (1908-1982) plante: - Deutsche Pavillongruppe auf der Weltausstellung, Brüssel, 1956-1958; - Wohn- und Empfangsgebäude des Bundeskanzlers, Bonn, 1963-1964. Paul Baumgarten (1900-1984) plante: - Umbau des Reichstagesgebäudes, Berlin, 1961-1970; - Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe, 1965-1969. 57 Die Weltausstellung 1958 unter dem Wahrzeichen des "Atomiums" beschäftigte sich mit dem Generalthema "Der Mensch angesichts des Fortschritts". Sie endete nach beinahe einjähriger Dauer am 31. März 1959; alle Ausstellungsgebäude wurden beseitigt; die demontierten und transportablen deutschen Pavillons wurden, anders als die Eingangsbrücke, die als Autobahnbrücke bei Duisburg Verwendung fand, jedoch nicht wieder andernorts aufgestellt.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Weltöffentlichkeit als veränderter, friedliebender und fortschrittlicher Partner zu präsentieren.58 Dem sollte, ähnlich wie bei der Ausstellung in Barcelona 1929, auch die Architektur des deutschen Pavillons sichtbaren Ausdruck verleihen. Für einen temporären Ausstellungsbau59 standen im königlichen Park von Laeken in BTÜSsel 18.000 qm zur Verfügung. Zu Vorentwürfen wurden 1956 die Architekten Egon Eiermann und Sep Ruf eingeladen, die anschließend ihre Pläne gemeinsam weiterentwickelten und realisierten.60 Angesichts der historisch bedingten, noch weit verbreiteten Vorbehalte des Auslandes gegenüber Deutschland eine diffizile Aufgabe, wie Egon Eiermann schrieb: "Es war ja sehr schwer für Deutschland, nach den schrecklichen Ereignissen ... wieder im Rahmen einer solchen internationalen Veranstaltung aufzutreten. Dieses Land hat sich soviel Schuld aufgeladen, so daß es sehr schwierig war, den richtigen Ton zu treffen. "61 Deshalb entschied man sich, "die direkte, ausdrückliche ... oder ausschließliche Betonung besonderer großer deutscher l..eistungen"62 zu meiden. Dem entspraCh nach Ansicht der Zeitgenossen das unaumillige Konzept der Architekten63 : Acht quadratische, voll verglaste Stahlskelett-Pavillons in drei verschiedenen Größen, zwei- und dreigeschossig, wurden locker über das Gelände verteilt und durch überdachte Stege miteinander verbunden. Die Pavillons wurden auf Grundlage eines Rasters von 10 m er58 Zudem konnte in Brüssel der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für das geteilte Deutschland unangefochten geltend gemacht werden: Die DDR war nicht zur Weltausstellung eingeladen worden, da Belgien mit ihr noch keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Dementsprechend war das Haus 8 der deutschen Ausstellung dem Thema "Geteiltes Deutschland" gewidmet. 59 Das Bauprogramm, das von Hans Schwippert, dem Architekten des Umbaus der Pädagogischen Akademie in Bonn zum Sitz des Deutschen Bundestages, erarbeitet worden war, forderte neben den Ausstellungsräumen u.a. einen Vortragsraum, ein Restaurant und eine Weinstube. Schwippert begleitete die deutsche Beteiligung an der Weltausstellung, die unter dem Leitthema "Leben und Arbeiten in Deutschland" stand, seit 1955 als Berater und gestaltete in Brüssel die Abteilungen Städtebau und Wohnu~bau. .. . . . Vgl. SchIrmer, EIermann, S.140; Schneider, m: Wlchmann, Ruf, S. 35 f. und S. 92 ff. 61 Egon Eiermann, zitiert nach Schirmer, Eiermann, S. 303. 62 Hans Schwippert, zitiert nach Johann, in: Architektur und Wohnform 1958, S.328. 63 Vgl. beispielhaft Hoff, in: Bauwelt 1958, S. 471: "Wie schwierig war gerade die Repräsentation Deutschlands auf einer Weltausstellung 1958, die Bilanz und Ausblick wollte [, angesichts der] nur mit Takt und eben mit Bescheidenheit zu überwindenden Widerstände und Ressentiments bei anderen Völkern .... Die Architekten, die auf Repräsentation oder gar einen gewissen Pomp ... verzichten, sachlich und einfach konstruiert haben, haben dieser Tatsache entsprochen." Vgl. auch Wichmann, Ruf, S. 18: Die Bauten "suggerieren Haltung und Verhaltenheit gerade wegen eines beschämenden Krieges."

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richtet, dessen Einheiten unterschiedlich addiert wurden. Die Decken- und Dachscheiben ragten bis zu 3,30 m über die tragenden Stahlstützen hinaus, schienen also zu schweben. So entstand eine Pavillongruppe, die einen großen, abgeschirmten Innenraum umschloß und sich zurückhaltend in den Park mit seinen alten Bäumen einfügte: "Die ... Pavillons zeigten sich in völliger Transparenz .... Die klaren, durch die seitliche Verglasung wie Kristalle wirkenden Baukörper, deren Geometrie sich durch das Liniensystem des Stahlskeletts steigerte, und die Anordnung der einzelnen Pavillons vergrößerten die Wirkung der Landschaft. "64

4 Egon Eiermann und Sep Ruf, Deutsche Pavillongruppe auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel.

Der deutsche Beitrag brachte mit Ausnahme des Zugangs65 bautechnischkonstruktiv nichts Neues, sondern variierte, ähnlich wie eine Vielzahl der Bei64 Schneider, in: Wichmann, Ruf, S. 35. Die charakteristische Transparenz der Pavillons wurde aber auch gelegentlich von zeitgenössischen Kritikern bemängelt, da sie sich negativ auf die Ausstellungsfunktion auswirke, vgl. Peters, Baumeister 1958, S.394. 65 Zur Überbrückung eines Höhenunterschiedes im natürlichen Gelände wurden die Pavillons über einen Brückensteg erschlossen, der an einem 50 m hohen Stahl pylon einseitig auskragend aufgehängt war.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

träge anderer Staaten, die in Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon von 1929 bereits angelegten Vorstellungen und Ideen. 66 Statt Unbekanntes zu riskieren, konzentrierten sich die Bemühungen darauf, das Bekannte formal ausgefeilt in höchster Vollendung vorzuführen67, was dem deutschen Ausstellungsbeitrag die spöttische Bezeichnung der "Darstellung des 'bundesdeutschen Musterknaben"'68 eintrug. Der Baukomplex erntete vor allem im Ausland viel Lob69, dem sich nach einigem Zögern70 auch die deutsche Öffentlichkeit anschloß.

2. Kanzlerbungalow Bonn

Von Brüssel führt ein direkter Weg nach Bonn. 71 In den Jahren 1963/1964 wurde dort in dem öffentlich nicht zugänglichen Park zwischen Palais Schaum66 Vgl. Hoff, in: Bauwelt 1958, S.471, die jedoch auch darauf hinweist, daß die Brüsseler Pavillons dazu dienten, Gegenstände, Kunstwerke und Informationen zu präsentieren, während der Mies'sche Bau eine von Ausstellungszwecken freie, selbst ausschließlich als Ausstellungsobjekt dienende "begehbare Plastik" war. Vgl. auch Wichmann, Ruf, S. 18; Schneider, in: Wichmann, Ruf, S. 28; Boyken, in: Schirmer, Eiermann, S.61 und S.66. Eiermanns wichtigster Mitarbeiter, Robert Hilgers, hatte am Bauhaus in Dessau und Berlin bei Mies van der Rohe studiert. 67 Vgl. G. Kühne, in: Bauwelt 1958, S. 755. 68 G. Kühne, in: Bauwelt 1958, S. 755. 69 Die Pariser Tageszeitung "Figaro" etwa schrieb, die Deutschen seien "zurückgekehrt vom Kolossalen in den ruhigen Garten der klugen Kinder Europas", und die Londoner "Times" bemerkte über den deutschen Beitrag, den ihrer Ansicht nach "elegantesten": "In ihm sind alle Qualitäten der Leichtigkeit und der Transparenz, die zu diesem Stil der Architektur gehören, voll ausgeschöpft .... Als reifes architektonisches Werk können mit ihm nur der jugoslawische und der japanische Pavillon wetteifern." Zitiert nach Johann, in: Architektur und Werkform 1958, S.333. Vgl. die Zusammenstellung der deutschen und ausländischen Reaktionen bei Johann, in: Werk und Zeit 1958, Heft 6. 70 Der deutschen Ausstellung wurde in Deutschland der Vorwurf gemacht, "zu bescheiden" zu sein, zitiert bei Johann, in: Architektur und Wohnform 1958, S.333. Nach Schneider, in: Wichmann, Ruf, S. 36, stellte "man sich Repräsentanz anders vor". Eine Auseinandersetzung mit der Kritik bei Kühne, in: Bauwelt 1958, S. 755. 71 Vgl. Steingräber, Bungalow, S.52, der die Verwandtschaft zwischen den BrOsseler Pavillons und dem Bonner Bungalow ausdrücklich hervorhebt. Dies gilt nicht nur für die beteiligten Personen Ruf und Erhard, sondern auch für Form, Konstruktion und Werkstoffe, für die SelbstdarsteIlungsabsicht ebenso wie für die Reaktionen im Inland (eher verhaltend bis ablehnend) und Ausland (überwiegend positiv) und sogar für die "Kunst am Bau": Mehrere der Kunstwerke, die im Innern und Äußern den KanzlerBungalow zierten, waren auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 im deutschen Pavillon oder in seinen Gartenanlagen gezeigt worden; Rossig, in: Bauverwaltung 1965, S. 12, nennt die Plastiken "Maternitas" von Fritz Koenig und "Die drei Grazien" von Bernhard Heiliger.

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burg, dem damaligen Dienstgebäude des Bundeskanzleramtes, und dem Rheinufer auf Betreiben Ludwig Erhards nach Plänen des Architekten Sep Ruf ein Wohn- und Empfangsgebäude für den Bundeskanzler errichtet72 , mit dem Erhard "weltoffene, qualitätsbewußte Baugesinnung demonstrieren"73 wollte.

5 Sep Ruf, Kanzlerbungalow Bonn.

Der flache, eingeschossige Bau steht auf einem Grundriß aus zwei Quadraten von 24 bzw. 22 Metern Kantenlänge, die an einer Ecke ineinandergeschoben sind. So entstehen zwei Atriumbauten, von denen der größere die Repräsenta72 Rechtsgrundlage für die &richtung des Bungalows war § 12 Abs. 1 Satz 1 Bundesministergesetz: "Der Bundeskanzler hat Anspruch auf eine Amtswohnung mit Ausstattung." Zum Gebäude vgl. Steingräber, Bungalow; Rossig, in: Bauverwaltung 1965, S. 6; Riese, in: Schreiber, Architektur, S. 73; Wichmann, Ruf. 73 Wichmann, Ruf, S. 122. Vgl. auch Steingräber, Bungalow, S. 53: "Der Bungalow als Ausdruck: politischer Gesinnung." Die Absicht, sich mit modemen Bauformen zu identifizieren, dürfte der Bundeskanzler sowohl als Repräsentant der Bundesrepublik wie auch als Privatmann verfolgt haben: Für die Bundesrepublik war das Glashaus im Park auch eine (späte) Antwort auf die Berliner Neue Reichskanzlei, die Albert Speer 1937-1939 als monumentales, steinernes und städtisches Gebäude für Hitler errichtet hatte.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

tionsräume enthält, während sich in dem kleineren die Privaträume des Kanzlers, die Küche und die Gästezimmer befinden. Das nicht auf den Wänden, sondern auf wenigen Stahlsützen auflagemde, weit auskragende Dach, optisch reduziert auf ein schmales Metallband, scheint zu schweben und betont damit den vorherrschenden Eindruck der Leichtigkeit. Die in ihrer architektonischen Auffassung disziplinierte und bis ins Detail konsequent durchgebildete Anlage verzichtet auf jegliches Pathos und besticht stattdessen durch zurückhaltende Eleganz. Der größere der beiden Flügel ist nahezu vOllständig verglast, wodurch eine Transparenz erzielt wird, "die dem Bau etwas Heiteres, Offenes gibt, das Gegenteil von der bei Repräsentationsbauten sonst üblichen, festungsartigen Abschirmung. "74 Sep Ruf knüpfte mit dem Bungalow an die Traditionen des Bauhauses an. 7S Besonders deutlich wird in diesem Gebäude das Vorbild des deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Barcelona 1929 von Mies van der Rohe: Der Mies'sche Pavillon "wurde gleichsam als Zitat in die Pläne eingearbeitet."76 Der nach Amerika emigrierte Walter Gropius, erster Direktor des Bauhauses und wie Mies Symbolfigur des "Neuen Bauens", hielt den Bungalow dementsprechend für geeignet, "vor der Welt den fortschrittlichen Geist des Deutschen Volkes, seines der Zeit verbundenen kulturellen Strebens zu repräsentieren."77 Dennoch stieß das Gebäude in der deutschen Öffentlichkeit überwiegend auf Ablehnung78 und auch die nachfolgenden Kanzler fanden daran kaum Gefallen79 • Zu keiner Zeit ist der Bungalow allgemein als offizieller Wohnsitz des 74 Riese, in: Schreiber, Architektur, S. 73. Der offene Charakter des Bungalows ist durch die sicherheitstechnisch bedingte Errichtung einer zwei Meter hohen Wand aus Panzerglas um die rheinseitige Terrasse empfindlich gestört worden. 7S Vgl. Schneider, in: Wichmann, Ruf, S. 28. 76 Riese, in: Schreiber, Architektur, S.73; ähnlich Wichmann, Ruf, S.20, der von einer "Paraphrase" des Mies'schen Pavillons spricht. Vgl. auch Steingräber, Bungalow,

S.52.

77 Zitiert nach Riese, in: Schreiber, Architektur, S. 73. 78 An der - später zurückgenommenen - Weigerung Kurt-Georg Kiesingers, in den

Bungalow einzuziehen, entzündete sich 1966 ein heftiger, überwiegend unsachlich geführter Streit um die Qualität des Baues ("Mahnmal der Häßlichkeit", "Kreuzung aus Aquarium und einem amerikanischen Drugstore", "gläserne Pracht", "kein deutscher Bundeskanzler sollte je in diesen Bungalow verbannt werden"), der noch zusätzlich durch eine negative Äußerung Konrad Adenauers angeheizt wurde, dem die Bemerkung zugeschrieben wurde, der Bungalow "brennt nicht mal 00"; Nachweise bei Wichmann, Ruf, S. 236 ff. 79 Kiesinger ließ das widerwillig bezogene Haus 1967 umbauen und tauschte die klassisch-modeme Möblierung gegen Stilmöbel aus. Willy Brandt zog gar nicht erst ein, machte aber die Neumöblierung wieder rückgängig. Allein Helmut Schmidt scheint das Haus "gemocht" zu haben.

A Voraussetzungen

97

Bundeskanzlers angesehen worden, "und schon gar nicht wurde [er] wie das Weiße Haus oder Downing Street 10 zu einem nationalen Symbol."80

3. Bundesverfassungsgerichtsgebäude Karlsruhe

Nach langjähriger provisorischer Unterbringung des Bundesverfassungsgerichts an verschiedenen Standorten in der Stadt Karlsruhe81 suchte das Gericht seit Anfang der sechziger Jahre nach einer befriedigenderen Lösung für seinen Sitz. Mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg und der Stadt konnte die Bundesrepublik Deutschland im Bereich des Schloßplatzes ein Grundstück in bester Lage erwerben, das der Bedeutung des Verfassungorgans angemessen erschien. Den Planungsauftrag erhielt 1962 der Architekt Paul Baumgarten.82

6 Paul Baumgarten, Gebäude für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 1969.

80 Riese, in: Schreiber, Architektur, S. 73.

81 Vgl. § 1 Abs. 2 BVerfGG: Der Sitz des Bundesverfassungsgerichts ist Karlsruhe.

82 Baumgarten hatte den zwei Jahre zuvor für dasselbe Grundstück ausgeschriebenen Wettbewerb für das Badische Staatstheater gewonnen, das jedoch nicht realisiert wurde, und erhielt in Zusammenhang damit den Auftrag für das Bundesverfassungsgerichtsgebäude ohne vorherigen Wettbewerb direkt zugesprochen.

7 Wefing

98

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Das auf dem Gelände zwischen Botanischem Garten und Schloßplatz errichtete Dienstgebäude des Bundesverfassungsgerichts besteht aus einem Komplex von fünf flachgedeckten, quadratischen Baukörpern unterschiedlicher Geschoßzahl, die miteinander durch gedeckte Stege verbunden sind.83 Zentrum der Anlage ist das Sitzungssaalgebäude, der höchste Baukörper, zugleich am weitesten zum Schloßplatz hin gelagert und "damit der Öffentlichkeit am meisten zugewendet."84 Im zweiten Obergeschoß befindet sich der Sitzungssaal, ein hoher heller Raum, der von den beiden vollverglasten Seitenwänden Licht erhält. 85 Die in Oregon-Holz vertäfelte Stirnwand hingegen ist völlig geschlossen und lediglich durch zwei unauffällige Rücksprünge gegliedert. Darin sind die Türen eingelassen, durch welche die Richter aus ihrem Beratungszimmer den Saal betreten. Den einzigen Schmuck der Stirnwand stellt die außermittig angebrachte Bronzeplastik eines stilisierten Bundesadlers dar. Die acht Verfassungsrichter sitzen erhöht auf einem Podest hinter einem langen, die ganze Breite des Saales durchschneidenden Tisch. Ihnen frontal gegenüber befinden sich in drei Tischreihen die Plätze der Verfahrensbeteiligten, dahinter Reihen weiterer Sitzgelegenheiten für Presse und Zuhörer. Die Bestuhlung, leichte Stahlrohrsessel, trägt ebenso wie die übrige Ausstattung zum schlichten, kühlen Gesamteindruck des Saales bei. Nördlich des Sitzungssaalgebäudes liegt das dreigeschossige Richtergebäude. Vom Schloßplatz zurüCkgesetzt und auf Stahlstützen auch über dem internen Verkehr des Hauses schwebend, beherbergt es in seinen beiden Obergeschossen die Arbeits- und Beratungszimmer der Verfassungsrichter und ihrer Mitarbeiter, die um einen begrünten Innenhof gruppiert sind. Im Norden schließt sich daran ein eingeschossiges Verwaltungsgebäude an, während südlich des Sitzungssaalgebäudes in eingeschossigen Pavillons die umfangreiche Bibliothek und das Casino untergebracht sind.

Lux/Wiedemann, Baumgarten, S. 225 ff. und passim. Baumganen, in: Bauwelt 1969, S. 1715. 85 Anband dieser zweiseitigen Verglasung (sowie der durch Verwendung des Baustoffes Glas erzeugten Transparenz der Engangshalle) entwickeln Lux/Wiedemann, Baumgarten, S.94, erneut die verbreitete These von der unmittelbaren Übersetzbarkeit politischer (hier wohl eher verfassungsrechtlicher, allenfalls verfassungspolitischer) Vorgänge in Architektur: "Die Vorstellung, politische Inhalte durch Architektur erlebbar werden zu lassen, wird auch für den Entwurf des Bundesverfassungsgerichts zum Thema der Gestaltung - besonders deutlich in der Konzeption des Plenarsaalgebäudes. Nichts soll verborgen bleiben von der Arbeit des Gerichts." Vgl. dazu unten 3. Teil C. 11.: Wörtliches Verständnis der Glasarchitektur. 83 Vgl. 84

A Voraussetzungen

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Das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts nimmt die prägenden Elemente der Pavillonarchitektur wieder auf und variiert sie, insbesondere gegenüber den Weltausstellungspavillons, nur unwesentlich86 : Die Stahlskelettkonstruktion verleiht dem Gebäude einen schwebenden Charakter. Umlaufende Fensterbänder schaffen Transparenz87, gewähren Durchblicke und beziehen die Natur in das Innere mit ein. Allein die Brüstungsbänder aus Aluminium-Gußplatten, die den Rahmen für die Glasflächen bilden, stellen ein neues Element dar.88 Die Auflösung der Gesamtanlage in Pavillons und die filigran strukturierten Fassaden reduzieren die Baumasse, geben dem Gebäude eine zurückhaltende Eleganz. Allein "Maßstab, Proportionen und ... Wahl der Materialien [verleihen] dem hohen Rang und der Würde des Hauses Ausdruck. "89

4. Olympiagelände München

Sechsunddreißig Jahre nach der Olympiade von 1936 in Berlin, die von der nationalsozialistischen Propaganda als Machtdemonstration des Deutschen Reiches inszeniert worden war, richtete die Bundesrepublik Deutschland 1972 die XX. Olympischen Sommerspiele in München aus. Eine prestigeträchtige Gelegenheit, sich der Welt als gewandeltes, demokratisches, bescheidenes, modernes Gastgeberland vorzustellen. 90 Aus der besonderen historischen Situation leitete sich das Konzept ab, nicht wie in Berlin demonstrative, sondern - als Gegenforrnulierung - "demonstrativ heitere" Spiele zu veranstalten.91 Dies sollte auch in der Architektur zu spüren sein, weshalb sich jeder Rückgriff auf Bautraditionen verbot: Monumentales kam nicht in Frage, aber "auch an die ... Tradition der deutschen Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre war nicht anzuknüpfen. Ein Wiederaufgreifen oder gezieltes Zitieren von Motiven aus dieser Zeit hätte den Vorwurf hervorgerufen, über die Existenz der natioVgl. Hoffmann-Axtleben, in: Lux/Wiedemann, Baumgarten, S. 43. Zur Transparenz als Charakteristikum des Werkes von Baumgarten vgl. Lux/Wiedemann, Baumgarten, S. 53, zur Transparenz des BundesverfassungsgerichtsGebäudes ebd. S. 56 f. 88 Und zwar auch im Werke Baumgartens, vgl. dazu Wilkens, in: Lux/Wiedemann, Baumgarten, S. 4l. 89 Baumgarten, in: Bauwelt 1969, S.1714. Ähnlich Leuschner, Bauten, S.29: "Dieser Bau ist ein Beispiel für zeitgemäße staatliche Repräsentation und Würde." 90 Zur Selbstdarstellungsfunktion von Sportveranstaltungen vgl. allgemein Wink/er, in: Quaritsch, SeI bsdarstell ung, S.109. Vgl. auch Bachmayer, in: Baumeister 1972, S.873. 91 Das Motto der Olympischen Spiele lautete: "Menschlichkeit und Heiterkeit". 86 87

7"

100

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

nalsozialistischen Architektur hinwegtäuschen zu wollen."92 Die Rahmenbedingungen, aus denen sich die Architektur entwickelte, waren somit "politisch programmiert".93 Die Sieger des Architektenwettbewerbes94, Behnisch & Partner in Zusammenarbeit mit Jürgen Joedicke und dem Landschaftsarchitekten Günther Grzimek95, entwarfen eine bewegte Landschaft aus Natur und Architektur. 96 Unter Einbeziehung eines Trümmerberges im Süden des stadtnahen Geländes gestalteten sie eine künstliche Hügellandschaft mit einem malerischen See, in die die Sportstätten - die Stadionmulde, die Sporthalle und die Schwimmhalle eingebettet wurden. Die Aufschüttungen schufen ein "natürliches" Gefälle für die Zuschauerränge und bildeten zugleich erhöhte Plattformen zur Verbindung von Arena, Sporthalle und Schwimmstadion.

7 Günter Behnisch, Querschnitt durch das OIympiagelände München, 1972.

Über die Sportanlagen und Teile der Freiflächen spannen sich transparente Kunststoff-Zelte, die sich durchdringen und deren Planen so gedehnt sind, daß sie von einer Sportstätte zur anderen übergreifen. Dieses "Zeltdach", eine gemeinsam mit Frei Otto und Leonhardt und Andrä konzipierte Seilnetzkonstruktion, wurde zum Symbol der Spiele.97 Da die dünne Dachhaut nur an Sembach, in: Schreiber, Architektur, S. 82. Behnisch, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 67: "... Der Olympiapark in München ... war politisch 'programmiert' durch Daume und Vogel, bevor dort überhaupt ein Architekt tätig wurde. FIst nachdem das Programm 'stand', wurden die Architekten gerufen. Sie sollten nun das politische Programm in Architektur umsetzen, es materiell sichtbar und erlebbar machen." 94 Die Jury, die sich 1967 für den Entwurf von Behnisch & Partner entschied, stand unter dem Vorsitz von Egon Eiermann. 95 Vgl. zur Landschaftsgestaltung Grzimek, in: SchmidJ/Zeller, Behnisch, S. 32. 96 Vgl. Behnisch, Arbeiten, S.22; SchmidJ/ZelIer, Behnisch, S. 71; Bode, Architektur, S. 138; Sembach, in: Schreiber, S. 82 97 Vgl. dazu Schlaich, in: Schwarz/Zeller, Behnisch, S. 47. 92 93

A. Voraussetzungen

101

wenigen Punkten die Erde berührt98 , können die Bewegungen der Besucherströme unbehelligt von starren Architekturteilen erfolgen, Konzentration auf das Spielgeschehen ist genauso möglich wie das ungehinderte Abwandern der Zuschauer danach. Die bei der Sport- und der Schwimmhalle notwendigen seitlichen Raumabschlüsse verlaufen unabhängig vom Arena- und vom Dachrand, so daß sie nicht als Hallenwände empfunden werden. Die in die Hallen hineinlaufende Pflasterung unterstützt noch den Effekt des oszilierenden Raumes. So verdrängten die Münchner Olympiazelte erfolgreich das Bild eines früheren martialischen Staates: "Hier war es der Demokratie gelungen, ein überzeugendes, ... international verstandenes Architektur-Zeichen zu bauen, ... eine sinnenhaft erfaßbare Darstellung einer politisChen Absicht, nämlich 'fröhliche Spiele' gegen den 'Sportfeld-Klassizismus' Hitlers aus dem Jahre 1936 zu setzen."99

5. Die Zeit von 1972 bis 1992 Bereits bei der knappen Übersicht über die wichtigsten Bauten, die bislang der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik dienten, fällt neben der Zurückhaltung und technisch-funktionalistischen Sachlichkeit der Architektur auch eine personelle Kontinuität auf. Neben Schwippert, der am Anfang stand, und dem noch tätigen Behnisch, teilten sich im wesentlichen drei Architekten die wichtigsten Bauaufgaben: Egon Eiermann, Sep Ruf und Paul Baumgarten.HlO Sie prägten in den fünfziger und sechziger Jahren entscheidend die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik.101 Dies fand schließlich sogar einen "institutionalisierten" Niederschlag darin, daß die drei Architekten 1962-1966 den Planungsrat für die Neubauten des Deutschen Bundestages und 98 Aus der Tatsache, daß das tief herabgezogene Dach von den Besuchern an einigen Stellen mit den Händen berührt werden konnte, auf den "menschlichen" Charakter der Architektur schließen zu wollen, wie dies Bode, Architektur, S. 140, tut, erscheint angesichts eines Architekturkonzepts, das sich im Ganzen betont technizistisch darstellt, mindestens problematisch. 99 Flagge, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 237. 100 V gl. dazu oben bei FN 56. 101 Sie setzten damit auch das fort, was Hans Schwippert 1948 bei dem ersten politisch bedeutsamen Bauvorhaben, der Herrichtung des Bonner Bundestages, mit ähnlichen architektonischen Mitteln begonnen hatte. Zu Schwippert vgl. G. Schwippert, Schwippert; sowie H. Schwippert, Denken. Vgl. auch unten 3. Teil E. 1.: Die Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und Schwippert um eine kreisförmige Sitzordnung 1948.

102

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

des Bundesrates in Bonn bildeten.1 02 Zugleich beeinflußten sie nachhaltig die Entwürfe von Günter Behnisch für die Münchner Olympiabauten und den Neubau des Plenarbereichs des Deutschen Bundestages in Bonn.1 03 Als die führenden Vertreter der deutschen Nachkriegsarchitektur formulierten die persönlich unbelasteten 104 Architekten besonders einprägsam und bis heute gültig die Architekturauffassungen ihrer Zeit. Ihre Bauten gelten "als Zeugnisse modemen Bauens, aber auch als Dokumente neuer und gewandelter deutscher Baugesinnung, die sich ... von den während der Zeit von 1933 bis 1945 gepflogenen repräsentativen Bauformen absetzt und zugleich die Öffnung zu internationaler Kontaktaufnahme und Verarbeitung des angebotenen Formenreservoirs zeigt." 105 Nach 1972 finden sich trotz erheblicher Bautätigkeit vor allem zum Ausbau der Stadt Bonn als Regierungssitz 106 zunächst keine für die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik wichtigen Bauwerke mehr, die die skizzierte Traditionslinie fortführen. Das 1976 fertiggestellte neue Bundeskanzleramtl 07 , architektonisch wenig bedeutsam, zeugt von einer ausgeprägten Unsicherheit im Umgang mit der Selbstdarstellungsfunktion.108 Dafür dürfte es eine Reihe von Gründen geben, die hier äußerst gerafft und damit notwendig vereinfachend angesprochen werden sollen. Die einst prägenden politisch-gesellschaftlichen Grundmuster hatten viel von ihrer Bedeutung für die Selbstdarstellung der Bundesrepublik mittels Architektur verloren: Die Westintegration der Bundesrepublik stand ebenso außer Frage wie das internationale Niveau, das die westdeutsche Architektur mit ihren 102 Eiennann bearbeitete im Rahmen dieses Planungsrates den Projektbereich Parlaments-Neubau mit Abgeordneten- und Fraktionsgebäude; Ruf war für das Projekt eines Bundesrats-Neubaus zuständig, und Baumgarten stellte Vorüberlegungen für den Bau eines neuen Bundespressezentrums an. 103 Der Bezug des Bonner Neubaus des Plenarbereichs des Deutschen Bundestages zur Pavillon-Architektur wird besonders deutlich bei dem südlich an den Plenarbereich anschließenden Präsidialanbau. Vgl. unten 3. Teil B. 11.: Baubeschreibung. 104 Eiennann hatte sich allerdings als Architekt der Halle 2 und des Filmvorführungsraumes auf der nationalsozialistischen Propaganda-Ausstellung "Gebt mir vier Jahre Zeit" in Berlin 1937 exponiert, ohne dabei aber fonnale Kompromisse einzugehen. Vgl. andererseits auch seinen Artikel "Das Theater in Dessau und die Baukunst von heute", in: Bauwelt 19/1935, S. 2 und 7 f., in dem er eines der ersten propagandistisch inszenierten Großprojekte der Nationalsozialisten scharf attackierte. 105 Wichmann, Ruf, S. 17. 106 Überblicke bei Leuschner, Bauten; Flagge, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 224. 107 Errichtet 1973-1976 nach Entwürfen der Planungsgruppe Stieldorf. 108 Vgl. Klotz, in: Warnke, Architektur, S.402; Sack, Architektur, S. 101; Flagge, in: Flagge/Stock, Architektur, S. 239.

B. Das Sonner Bundeshaus

103

Spitzenvertretern erreicht haUe. Die Konfrontation mit der DDR war durch Ostverträge und Entspannungspolitik entschärft, die architektonische Konkurrenz durch das Einschwenken der DDR auf die Forrnensprache des Internationalen Stils verblaßt. Allein die Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit schien noch immer der Betonung bedürftig, wenn auch in wesentlich geringerem Maße. Zudem wurde für die Architektur ganz allgemein eine "Revision der Moderne"l09 gefordert, ein "Umbruch"110 konstatiert: "Die heutige Architektur ist nicht mehr wie in den zwanziger Jahren auf das Primat bestimmter leitbilder festgelegt, sie ist vielfältig und konträr. Sie hat vor allem die Geschichte wieder als Inspirationsquelle entdeckt."l11 Angesichts der verwirrenden Vielfalt der Meinungen kann es nicht überraschen, daß auch die Frage nach der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik nicht mehr einheitlich beantwortet wurde. Dennoch knüpfen zwei Bauwerke zu Beginn der neunziger Jahre erneut an die beschriebene Traditionslinie an: Die im Bau befindliche südliche Erweiterung des Abgeordnetenhochhauses in Bonn 112, die von dem Kölner Architekturbüro Schürmann entworfen wurde, ebenso wie der Neubau des Plenarbereiches des Deutschen Bundestages in Bonn von Günter Behnisch, der nun näher untersucht werden soll.

B. Das Bonner Bundeshaus Im Zuge des Wiederaufbaus und Neubeginns nach der bedingunglosen Kapitulation des Deutschen Reiches bedurfte es für die von den Militärgouverneuren der drei Westzonen geforderte verfassungsgebende Versammlung, den Parlamentarischen Rat, einer geeigneten Tagungsstätte. Die Wahl fiel am 16. August 1948 wohl nicht zuletzt deshalb auf Bonn, weil sich die Stadt bereit erklärt hatte, die Pädagogische Akademie als Versammlungsort zur Verfügung zu stellen, die mit ihren Räumlichkeiten gute Voraussetzungen für die Arbeit des Parlamentarischen Rates bot.

109 Vgl. Klotz, Revision. 110

Vgl. Joedicke, Umbruch.

112

Vgl. Bauwelt 1984, S. 234.

111 Joedicke, Umbruch, S. 222.

104

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Sonn

Rhein

8 Lageplan Bundeshaus Bonn. 1 Parlamentarische Gesellschaft, 2 Abgeordnetenwohnungen, 3 Bereich Tulpenfeld (Allianz), 4.Presse- und Informationsamt, 5 Bundeskanzleramt, 6 Landesvertretung NW, 7 Palais Schaumburg, 8 Bundespräsidialamt (Villa Hammerschmidt), 9 Bonn-Center, 10 Neubau Haus der Geschichte, 11 Neubau Städtisches Kunstmuseum, 12 Neubau Kunst- und Ausstellungshalle des Bu., 13 Bundesrat, 14 Neubau Plenar- und Präsidialbereich, 15 Neues Abgeordneten Hochhaus ("Langer Eugen"), 16 Neubauten für Abgeordnete, Fraktionen und Wissenschaftlichen Dienst

B. Das Bonner Bundeshaus

105

Damit wurde das 1930 als Lehrerseminar errichtete Gebäude in den Sitz zunächst einer verfassungsgebenden Versammlung und dann eines Parlamentes umfunktioniert. Zugleich setzte ein jahrelanger Prozeß von An- und Umbauten nebst umfangreichen Planungen ein, der mit dem am 20. Juni 1991 gefaßten Beschluß des Deutschen Bundestages, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen, sowie der im Herbst 1992 erfolgten Übergabe des Neubaus des Plenarbereiches seinen Abschluß erlangt haben dürfte. Das Bonner Bundeshaus ist nach der Frankfurter Paulskirche und dem Berliner Reichstag zum dritten deutschen Parlamentsgebäude geworden. 113 Es ist aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr hinwegzudenken. Anband dieses Gebäudekomplexes sollen im folgenden beispielhaft Elemente der architektonischen Selbstdarstellung der Demokratie in der Bundesrepublik untersucht werden. Dazu soll zunächst kurz die Baugeschichte seit 1930 skizziert und das mittlerweile entstandene Gesamt-Ensemble knapp beschrieben werden.

I. Baugeschichte 1930-1992

Im Jahre 1926 beschloß das Preußische Staatsministerium im Rahmen der Neuordnung der Volksschullehrerausbildung die Errichtung von zunächst drei Pädagogischen Akademien, eine davon als katholische Akademie in der Rheinprovinz. Den Zuschlag dafür erhielt Bonn, das ein landschaftlich reizvoll gelegenes Grundstück am Rheinufer zur Verfügung stellte. Dort wurde im Frühjahr 1930 nach Plänen des Regierungsbaumeisters Martin Witte mit den Bauarbeiten begonnen, die jedoch wegen der schwierigen wirtschaflichen Situation nur langsam vorankamen, so daß erst am 2. Oktober 1933 die Einweihungsfeier stattfinden konnte. 114 Das von Martin Witte in der Formensprache des Dessauer Bauhauses errichtete, parallel zum Rheinufer hingestreCkte Akademiegebäude beherbergte neben Seminar-, Musik- und Laborräumen sowie Hörsälen auch eine Aula, eine Turnhalle und ein Tagesheim für die Studenten. In der umgestalteten Aula begann der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 seine Beratungen. Bereits am Ende dieses Monats wurde intern die Frage erörtert, ob Bonn vorläufig zur Hauptstadt und das Akademiegebäude zum Sitz Vgl. oben 3. Teil A. I.: Parlamentsbauten in Deutschland. Vgl. zur Baugeschichte Einzelheiten bei KnopplSchumacher, in: Bonner Geschichtsblätter 1984, S. 251. 113 114

106

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

von Bundestag und Bundesrat gemacht werden könne 115, und schon am 1. November, also ein halbes Jahr vor der Entscheidung des Parlamentarischen Rates, stellte das Land Nordrhein-Westfalen Mittel für die notwendigen Umbauarbeiten an der Akademie zur Verfügung, die nach Entwürfen des Architekten Hans Schwippert aufgenommen wurden. Die Turnhalle der Pädagogischen Akademie wurde zur Wandelhalle um- und an sie rheinseitig ein Plenarsaal für 800 Personen angebaut. Am 7. Mai konnte Richtfest für den Plenarsaal gefeiert werden. Nur drei Tage später, am 10. Mai 1949, entschied der Parlamentarische Rat, die Stadt Bonn zum provisorischen Sitz der "leitenden Bundesorgane" zu machen. 116 Gleichzeitig mit dem Plenarsaal entstanden durch Umbau im alten Gebäude und durch den Neubau eines Südflügeis ein Lese- und Schreibsaal, eine Sitzhalle, Fraktionssitzungssäle, Arbeits-, Verwaltungs- und Nebenräume sowie eine Bibliothek. Außerdem gruppierte Schwippert zwischen die ehemalige Aula, die zum Sitzungssaal des Bundesrates umgestaltet wurde, und den neuen Plenarsaal ein großes Restaurant mit großzügigem Rheinblick samt Nebenräumen. Alle Umbauarbeiten konnten pünktlich zur konstituierenden Sitzung des 1. Deutschen Bundestages am 7. September 1949 abgeschlossen werden. Schon bald erwiesen sich jedoch weitere Baurnaßnahmen als dringend erforderlich. Insbesondere die Bundestagsabgeordneten litten unter erheblicher Raumnot. Deshalb wurde im Juli 1951 südlich des Bundeshauses an der Görresstraße mit dem Bau eines achtgeschossigen (heute sog. "alten") Abgeordnetenhochhauses und eines Verbindungstraktes zum bestehenden Südflügel begonnen. Dieses schlichte Abgeordnetenhochhaus schuf Raum für 170 Arbeitszimmer, die jeweils zwei Abgeordneten zur gemeinsamen Nutzung dienten, sowie für vier Sitzungs säle, das Archiv und die Bibliothek. Nach einer Änderung des Bundes-Wahlgesetzes im Juli 1953 117, die eine Erhöhung der Zahl der Abgeordneten vorsah, mußte der Plenarsaal erweitert werden. Dazu verschob man die Stirnwand um sechs Meter in Richtung Rhein, wodurch sich eine Gesamtfiäche von 1235 qm ergab. An der neuen Stirnwand ersetzte eine Stuckplastik mit dem Bundesadler und stilisierten Eichenblättern 115 Vgl. zur Frage der vorläufigen Bundeshauptstadt und der Entscheidung für Bann HöroldJ, Bundeshauptstadt, S. 22; Dreher, Bann; Pommerin, Bann. 116 Vgl. zur Planungs- und Baugeschichte des Banner Bundeshauses seit 1949 Schindier, Datenhandbuch 1., S. 988; Schindier, Datenhandbuch III, S. 867; Cu lIen, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S. 1845. 117 BGBI. I S. 470: Wahlgesetz zum zweiten Bundestag und zur Bundesversammlung vom 8. Juli 1953.

B. Das Sonner Bundeshaus

107

nach einem Entwurf des Kölner Bildhauers Ludwig Gies 118 die bisherige Tuchbespannung mit den Wappen der Bundesländer. An den Seitenwänden wurden Tribünen für die Presse und das Diplomatische Korps errichtet, zudem wurde rheinseitig an den Plenarsaal ein dreigeschossiger, aufgeständerter Bürotrakt angebaut, in dem Arbeits- und Konferenzräume für das Bundestagspräsidium und die Bundesregierung untergebracht wurden. Schließlich wurde ebenfalls noch 1953 zwischen Südflügel und Abgeordnetenhochhaus ein winkeiförmiger Erweiterungsbau begonnen, in dem zusätzliche Fraktionsräume und Abgeordnetenbüros Platz fanden. Mit der Umgestaltung des Sitzungssaales des Bundesrates in der ehemaligen Aula der Pädagogischen Akademie, die 1955 erfolgte, fand der zweite Abschnitt der Baurnaßnahmen an den Gebäuden zwischen Görresstraße und dem Rhein nach acht Jahren einen Abschluß. Zu dem Ergebnis bemerkte der sozialdemokratische Abgeordnete Adolf Arndt 1960: "... in den Anbauten und Umbauten des Bonner Bundeshauses durch die Bonner Bundesbaudirektion sehe ich das Elendeste, was man sich nach 1945 leistete."119 Ein vielzitiertes und doch wohl wesentlich überzogenes Diktum: Für die offenbar durchaus vorhandene Qualität des Bundeshauses spricht die Tatsache, daß Nikolaus Pevsner 1976 in seinem architekturhistorischen Standardwerk "A History of Building Types" nur zwei Parlamentsbauten des 20. Jahrhunderts anführt, und zwar neben demjenigen in Brasilia eben das Bundeshaus in Bonn)20 Mit dem Beschluß des Deutschen Bundestages, sich im "Provisorium Bonn auf Dauer und den Ansprüchen des Regierungssitzes genügend einzurichten", begann 1969 ein neuer Abschnitt der Bauplanungen. Im Juni 1970 wurde ein unabhängiges Gremium von 18 Sachverständigen berufen, das Empfehlungen zur Einbindung der Bauten des Bundes in die Stadt Bonn erarbeitete, auf deren Grundlage im August 1971 die Ausschreibung eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs erfolgte. Den 1. Preis gewann das Büro Legge/Legge mit einem Entwurf, dessen Grundgedanke die Konzentration der Bundeseinrichtungen beiderseits des Rheins vorsah, mit Neubauten für Bundestag und Bundesrat sowie einigen Ministerien südlich des bestehenden Bundeshauses. Darauf aufbauend lobte die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, im September 1972 einen Bauwettbewerb zur endgültigen Unterbringung des Deutschen Bundesta118 119 120

Vgl. zu Leben und Werk Feldenldrchen, Gies; Ersting, Gies. ArndI, Bauherr, S. 233. Pevsner, Buildung Types, pp. 35.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

ges und des Bundesrates aus, bei dem vier erste Preise vergeben wurden.1 21 Nach mehrfachen Überarbeitungen der erstplazierten Arbeiten schlugen die Professoren Kammerer und Spengelin in einer gutachterlichen Stellungnahme im März 1976 vor, den Plenarbereich nördlich und den Fraktionsbereich südlich des Neuen Abgeordnetenhochhauses zu plazieren. Dementsprechend beschloß der Ältestenrat des Deutschen Bundestages im Juli 1977, das Büro Behnisch & Partner mit den Planungen für den Plenarbereich und das Büro von Wolff/von Wolff und Schneble mit der Planung der Räume für die Fraktionen und die Abgeordneten zu beauftragen. Seit 1980 wurde jedoch angesichts der angespannten Haushaltslage in der Öffentlichkeit und im politischen Raum die Größe der geplanten Bauten in Frage gestellt. Nach Diskussionen in den Gremien beriet der Deutsche Bundestag am 5. Juni 1981 in einer Plenardebatte über die Angemessenheit der vorgesehen Neubauten und stoppte die laufende Planung. Grundlage dieser Entschließung war die weitere Nutzung des vorhandenen Plenarsaals, der Erhalt der Altbauten und die Beschränkung von Neubauten auf den unbedingt notwendigen Umfang. Die Architektengruppe Behnisch & Partner erklärte sich daraufhin bereit, weiter mitzuwirken, während sich die Architektengruppe von Wolff/von Wolfl' und Schneble auszahlen ließ. Auf der Grundlage dieser veränderten Programmvorgaben wurde 1982 unter Beteiligung der Professoren Hillebrecht, Kammerer, Laage, Rossow und Spengelin eine neue städtebauliche Planung entwickelt, die Erweiterungsbauten südlich des Abgeordnetenhochhauses an der Kurt-Schumacher-Straße sowie den Erhalt und die Sanierung des alten Plenarsaals mit einem neuen Eingangsbauwerk vorsah. 1983 wurde die Architektengruppe Behnisch & Partner mit der Ausarbeitung von Vorschlägen für ein neues Eingangsbauwerk beauftragt. Zeitgleich zeigte sich, daß zur Behebung akuter Gefahren Sanierungsmaßnahmen im Plenarsaal unabdingbar wurden. Deshalb beschloß der Ältestenrat am 28. September 1983 die Beseitigung der Mängel und die Errichtung eines Ersatzplenarsaales als vorübergehende Tagungsstätte im Wasserwerksgebäude. Am 5. April 1984 bestätigte der Ältestenrat die Empfehlung der Baukommission, den Kölner Architekten SchÜTmann mit der Planung der Erweiterungsbauten südlich des Abgeordnetenhochhauses zu beauftragen und am 121 Mit ersten Preisen prämiert wurden die Arbeiten der Büros: Behnisch & Partner; Brunnert, Mory, Osterwalder, Vielmo; Hecker, Wolf, Poppe, Rudel; von Wolff/von Wolff u. Schneble.

B. Das Bonner Bundeshaus

109

7. Juni 1984 beschloß der Ältestenrat auf der Grundlage von Studien des Büros Behnisch & Partner eine "Sanierung des Plenarsaales mit einer neuen, kreisrunden, abgesenkten Sitzordnung", was einen Abbruch des alten Plenarsaals nötig machte. Daraufhin wurde in Parlament und Öffentlichkeit heftig über Erhalt oder Beseitigung des als historisch bedeutsam angesehenen Plenarsaales gestritten. Im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen teilte am 10. Januar 1986 der Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen mit, daß er die Stadt Bonn angewiesen habe, Teile des Bundeshauses in die DenkmalJiste einzutragen, was einen Abbruch des alten Plenarsaales zunächst ausschloß. Dennoch entschied sich der Deutsche Bundestag nach kontroverser Plenardebatte am 5. Juni 1987 mit Mehrheit für die Fortsetzung der Neubauplanung mit einer runden, abgesenkten Sitzordnung. Am 17. September 1987 ermächtigte der Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen den Regierungspräsidenten Köln, die bauaufsichtliche Zustimmung und denkmalrechtliche Erlaubnis zum Abbruch des alten Plenarsaals zu erteilen, nachdem ein verfassungsrechtliches Gutachten zu dem Ergebnis gekommen war, das Landes-Denkmalschutzrecht unterliege einem "bundeshoheitlichen Abwägungsvorrang"l22. Am 12. Oktober 1987 begannen daraufhin die Abbrucharbeiten am alten Plenarsaal, am 1. Juni 1988 die Rohbauarbeiten für den neuen. Am 30. Oktober 1992 schließlich, nach fünfjähriger Bauzeit, fand die Einweihung des für Gesamtkosten von 256 Mio DM fertiggestellten Plenar- und Präsidial bereiches statt. Die Freude darüber währte jedoch zunächst nicht lange. Bei der Haushaltsdebatte am 24. November 1992 brach die elektroakustische Anlage (Mikrofone und Lautsprecher) im Plenarsaal durch Rückkoppelungseffekte zusammen, woraufhin der Bundestag seine Beratungen wieder in den Plenarsaal des Wasserwerkes verlegte. Erst nach schwierigen Nachbesserungen an der Anlage und der Raumakustik des Saales konnte am 22. September 1993 die parlamentarische Arbeit im neuen Plenum dauerhaft aufgenommen werden. l23

122 Vgl. Salzwedel, Gutachten, S.2, und passim. Vgl. auch Fluck, in: NJW 1987, S.2352. 123 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.9.1993.

110

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

11. Baubeschreibung

Der heterogene Komplex des Bonner Bundeshauses liegt in der zum Rhein hin abfallenden Parklandschaft zwischen der Görresstraße und dem Flußufer und fügt sich in das über drei Terrassenhöhen gestaffelte Gelände ein. Der engere Plenarbereich schiebt sich als Querriegel zwischen den Altbau der ehemaligen Pädagogischen Akademie von Martin Witte aus dem Jahre 1930 und die nördlichen wie südlichen Erweiterungsbauten für Bundestag und Bundesrat von Hans Schwippert und der Bundesbaudirektion.

9 Bundeshaus Bonn: Grundriß Plenarsaalebene, Maßstab 1 : 1000. 1 Vorfahrt Päsidentin/Präsident, 2 Empfangsterrasse, 3 Sitzbereiche, 4 Halle Präsidialbereich, 5 Wandelgänge, 6 Dolmetscher, Regie Hörfunk/Femsehen, 7 Wissenschaftlicher Dienst, 8 Lounge, 9 Trennung Abgeordneten-!Besucherbereich, 10 Wartebereich Besucher, 11 Fünf Räume für Besucherdienst, 12 Westdeutscher Rundfunk, 13 Zugang aus dem Altbau, 14 Zugang in das Restaurant, 15 Zugang Fraktionsbereich, 16 Küche

B. Das Bonner Bundeshaus

111

Das weiße, harte, sterometrische Akademiegebäude im Norden der sich lang hinziehenden Baugruppe ist eine spannungsreiche Komposition aus unterschiedlichen Kuben in der Formensprache des "Neuen Bauens" mit einer nach Funktionen deutlich differenzierten Befensterung. Im Zuge der Arbeiten am neuen Plenarbereich wurde das denkmalgeschützte Akademiegebäude zwischen 1987 und 1992 restauriert und den heutigen Arbeits-, Wärmeschutz- und Sicherheitsbestimmungen angepaßt. Das Akademiegebäude dient heute den Fraktionen und der Verwaltung des Deutschen Bundestages. Gleiche Aufgaben erfüllt der fünfgeschossige sog. Südflügei, eine schlichte, leicht geSChwungene Konstruktion, ausgebildet als Stahlfachwerkbau mit zurückversetzter Ausfachung in Werksteinverkleidung und umlaufenden Fernsterbändern, an die sich, verbunden durch einen unauffaIligen Zwischenbau als südlicher Endpunkt der Gesamtanlage das achtgeschossige alte Abgeordnetenhochaus anschließt, das sich als weißer Kubus formal der Akademie unterordnet.

10 Eingangsbauwerk an der GÖrresstraße.

Das neue Eingangsbauwerk und den Plenarsaalneubau von Günter Behnisch betreten Abgeordnete und Besucher an der Görresstraße vom Parlamentsplatz

112

3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Sonn

aus auf gleicher Ebene, aber durch getrennte Eingänge. Von der zweigeschossigen Eingangshalle aus wird das ganze Gebäude durch drei Wege übersichtlich erschlossen: Links gelangen die Besucher zu den Vortragsräumen im Untergeschoß bzw. nach oben zu den Tribünen des Plenarsaals. In der Mitte schreiten die Abgeordneten über eine große Treppe, begleitet von blitzenden Chrompaneelen und einer "mikado"-ählichen Raumstruktur aus farbigem Glas und Metallstäben hinunter zur offenen, für die Besucher einsehbaren Lobby, die von der Rückwand des Plenarsaales begrenzt wird. So werden Parlamentarier und Besucher nicht zuletzt aus Gründen der Sicherheit zwar über unterschiedliche Wege geführt, doch bleibt die Verbindung in Blick- und Rufweite durch den weitgehend transparenten Innenausbau und die Sichtbeziehungen über mehrere Ebenen erhalten. Die einheitliche Decke aus unterschiedlich gerichteten Lichtbändern und der gleichförmige Natursteinfußboden verdeutlichen zusätzlich, daß die beiden funktional getrennten Teilbereiche zusammengehören. Rechts verbindet ein Steg den Abgeordneteneingang direkt mit den Räumen der Bundestagspräsidentin am anderen, rheinseitigen Ende des Gebäudes. Dieser lange Weg bietet einen Ausblick in den Park und auf den Präsidialanbau, der nur über einen schmalen verglasten Gang an den Plenarbereich angeschlossen ist. Der kreisrunde Plenarsaal selbst, in eine Geländemulde gebettetes Zentrum der Anlage, ist als flach zur Mitte hin abfallendes Amphitheater in das Gebäuderechteck gestellt. Er befindet sich nahezu exakt an jener Stelle, an der bis zu seinem Abriß 1987 Hans Schwipperts alter Plenarsaal aus dem Jahre 1949 stand. Die Sitzplätze für Abgeordnete, Regierungsmitglieder und Bundesratsvertreter sind auf elf gleichfalls kreisförmigen Stufen angeordnet. Presse, Besucher, Diplomaten und Ehrengäste können die Debatten auf breiten, rechteckigen Tribünen verfolgen, die auf drei Seiten über den Sitzkreisen der Parlamentarier in den Saal hineinkragen. Der rundum verglaste Raum gewährt Ausblicke auf den Rhein sowie auf drei Kunstwerke: Direkt hinter dem Platz der Bundestagspräsidentin hängt der von Günter Behnisch neugestaltete Bundesadler; links, hinter der kreissegmentförmigen Glaswand, befindet sich ein großes Gemälde von Sam Francis und rechts die sog. "Vogelnest"-Treppe.l24 Umschlossen wird der Saal allseitig von Hallen und Umgängen, in denen sich Sitzgelegenheiten befinden, die für persönliche Gespräche und kleinere Konferenzen der Abge124 Vgl. zur "Kunst am Bau" im neuen Plenarbereich des Deutschen Bundestages Iden/Mössinger, in: Deutsche Bauzeitung 1993, S. 25; Schröer, in: Bauwelt 1992, S.2355; Schöer, in: Bauwelt 1993, S. 2148. Zur Auseinandersetzung um den Bundesadler im Plenarsaal vgl. Wyrwoll, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1992.

B. Das Sonner Bundeshaus

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ordneten vorgesehen sind. Rheinseitig weiten sich diese Umgänge zum Foyer für den Bereich der Bundestagspräsidentin, deren Empfangs- und Büroräume im ersten und zweiten Obergeschoß als schmaler Riegel über der durchlässigen Halle hinter dem Plenarsaal schweben.

11 Blick in den Plenarsaal.

Im Süden schließt sich an den Plenarsaal ein zum Rhein hin vorgeschobener, zweigeschossiger Pavillon auf quadratischem Grundriß mit weiteren Büros des Bundestagspräsidiums an. Dort liegen die Räume der Vizepräsidenten und des Bundeskanzlers. Die Büros umschließen eine zentrale Halle mit schrägem Oberlicht. Eine mittige, silberne Stahlstütze trägt die hellblau gestrichenen Stahlträger des Daches. 8 Wefing

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bann

Eingangs-, Plenar- und Präsidialbereich bilden eine konstruktive Einheit: Ein stählerner Trägerrost mit 6 bis 12 Metern Spannweite trägt das gemeinsame, 6300 Quadratmeter große, einmal höhenversetzte Flachdach. Geschweißte Stahlstützen, die aus Brandschutzgründen mit Beton gefüllt sind, tragen die Dachlasten. .,,--~..

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12 Querschnitt durch den Plenarsaal.

Besonders in der Detailbehandlung macht sich der Bau zeitgenössische Architekturtendenzen zu eigen: Die Materialien sind schlicht; Sprossen und Geländer ragen "dekonstruktivistisch" schräg in den Raum; Hölzer bleiben hell und unbehande1t; Farben werden sparsam und fast wie zufallig, aber wirkungsvoll eingesetzt. Insgesamt kann der Neubau des Plenarbereichs des Deutschen Bundestages unabhängig von seiner politischen Bedeutung - als außergewöhnlich qualitätvolles Beispiel der Gegenwartsarchitektur bezeichnet werden.

C. Versuche einer Übersetzung von Stmkturmerkmalen der Demokratie in Architektur Das Parlament im Glashaus: Transparenz und Öffentlichkeit "Ich habe gewünscht, daß das deutsche Land der parlamentarischen Arbeit zuschaut. So bekam der [Plenar-]Saal zwei Fensterwände, jede 20 Meter lang, vom Boden bis zur Decke ausgedehnt. ... Ich wollte ein Haus der Offenheit, eine Architektur der Begegnung und des Gesprächs." So erläuterte der Architekt Hans Schwippert l25 seinen Entwurf für den 1948/49 erfolgten Umbau der

125 Zu Leben und Werk vgl. Werhahn, Schwippert; G. Schwippert, Schwippert; H. Schwippert, Denken. Siehe auch unten 3. Teil E. I.: Die Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und Schwippert um eine kreisförmige Sitzordnung 1948.

C. Transparenz und Öffentlichkeit

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Bonner Pädagogischen Akademie zum Tagungsort des Deutschen Bundestages l26, und er fügte hinzu: "Die Politik ist eine dunkle Sache, schauen wir zu, daß wir etwas Ucht hineinbringen." 127 Während bei Parlamentsbauten des 19. Jahrhunderts der Gedanke einer transparenten Architektur noch nicht zur Debatte stand, weil sich dort der Plenarsaal meist im Kern des Gebäudes befand l28, konnte Schwippert 1949 erstmals das Konzept eines durch die großzügige Verwendung von Glas transparent gemachten Parlamentsgebäudes verwirklichen. Für Schwippert war der Plenarsaal der Ort, an dem das parlamentarische Verfahren sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielen müsse, also durchsichtig werden sollte. Und diese Durchsichtigkeit lasse sich architektonisch in die Durchsichtigkeit gläserner Wände und ineinanderfließender Außen- und Innenbereiche übersetzen, meinten übereinstimmend die planenden Architekten wie ihre parlamentarischen Bauherren.1 29 126 Hans Schwippert, in: Neue Bauwelt 17/1951, S.65; wieder abgedruckt in: Schwippen, Denken. 127 Zitiert nach Meyer-Waldeck, in: Architektur und Wohnform, 1950, S. 99. Auch Frau Meyer-Waldeck, die für den Innenausbau zuständige Mitarbeiterin von Schwippert, teilte die Hoffnungen auf eine psychologische Wirkung der Architektur: "Der Saal ist durch seine zwei ganzseitigen Glaswände ... so mit der rheinischen Landschaft verbunden, daß alle verstaubten und veralteten parlamentarischen Gepflogenheiten gebannt sein müßten. Nichts von Geheimniskrämerei, von falschem Pathos und geborgtem Prunk. Licht, Sonne und die heitere rheinische Landschaft dringen in den Saal .. ", Meyer-Waldeck, in: Architektur und Wohnform, 1950, S. 102. 128 Vgl. Wagner/Wallot, Parlamentshäuser, S. 412. 129 Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht Konrad Adenauer. Er schrieb während der laufenden Bauarbeiten am 30. Juni 1949 an Schwippert: "Am Dienstag hörte ich von Ihren Herren, .. , daß beabsichtigt sei, den Nordtlügel und den Südtlügel ganz aus Glas herzustellen .... Ich glaube doch, verpflichtet zu sein, Ihnen zu sagen, daß ... ich die größten Bedenken dagegen habe. Ich war vor zwei Wochen in Genf in dem Hauptbau von Corbusier, der ganz aus Eisen und Glas hergestellt ist. Das Gebäude ist von außen betrachtet fürchterlich, und der Aufenthalt im Innern ist im höchsten Maße unerfreulich . ... Es gibt nichts Ungemütlicheres, fast möchte ich sagen, Unerträglicheres, als einen Aufenthalt in einem solchen Glaskasten. Die Lichtverhältnisse darin sind derartig unangenehm und störend, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß ein normaler Mensch in einem solchen Raum vernünftig denken und sprechen kann. Ich glaube, Ihnen sagen zu dürfen, daß ein solcher Bau von der weitaus größten Mehrzahl der zukünftigen Abgeordneten des Bundestages und den Vertretern des Bundesrates grundweg abgelehnt werden wird", vgl.Adenauer, Briefe 1949, Nr. 31, S. 46 f. Ein Schreiben, das anschaulich die entgegengesetzten Auffassungen von Adenauer und Schwippert in Fragen der Architektur belegt, vgl. dazu näher unten 3. Teil E. I.: Die Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und Schwippert um eine kreisförmige Sitzordnung 1948. Bemerkenswert zudem: Adenauer war zwar in der angegebenen Zeit in Genf, wie Notizen und andere Schriftstücke belegen, vgl. Adenauer, Briefe 1949, Anmerkung 2 zu Nr.31, S. 409 f., nur kann er dort nicht in einem von Le Corbusier errichteten Saal an einer Tagung teilgenommen haben, da in Genf nur ein einziges

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Dieser Gedanke entwickelte sich zum festen programmatischen Bestandteil aller Überlegungen zur architektonischen Selbstdarstellung des Parlamentes der Bundesrepublik13O : Adolf Arndt etwa, dessen Vortrag "Demokratie als Bauherr"l31 noch heute die Diskussion über Architektur und Politik maßgeblich beeinflußt, schrieb: "Parlament und Demokratie sind wesens gemäß durch Öffentlichkeit ausgezeichnet. ... Öffentlichkeit erfordert eine ... Durchsichtigkeit des parlamentarischen Geschehens. ... [Diese] korrespondiert notwendig mit ... einer Transparenz der gesamten Baulichkeit."132 Auch dem neuen Bonner Plenarsaal wurde vor allem Leb für seine gläserne Luftigkeit, die Offenheit nach allen Seiten zu Teil: Nichts sei dort "fest, eingemauert, abgeschottet; alles ist leicht, schwebend, offen."133 Die Bundestagspräsidentin erläuterte in ihrer Eröffnungsansprache: "Dieses Parlamentsgebäude beansprucht mehr als die architektonische Umsetzung parlamentarischer Funktionen. Es will selbst ein bestimmtes Demokratieverständnis zum Ausdruck bringen: Offenheit und Transparenz durch Glas, Nähe der Parlamentarier zu ihren Bürgern .. "134 Auch im Auslobungstext für den Architekten-Wettbewerb zum Umbau des Berliner Reichstages heißt es: "Transparenz bringt Offenheit, Bürgernähe und Freude an Kommunikation zum Ausdruck."13s Woraufhin der Sieger des Wettbewerbes, Sir Norman Foster, sich beeilte zu beteuern, auch er verstehe parla-

Gebäude von Le Corbusier existiert, ein Wohnhaus für Arbeiter, vgl. Bosman, Corbusier, S.66-85. Adenauer wollte wohl den Völkerbundpalast ansprechen, für den 1927 ein Wettbewerb ausgeschrieben worden war, an dem sich Corbusier erfolglos mit einem Entwurf beteiligt hatte: Sein Vorschlag war nicht realisiert worden, Vgl. Brooks, Corbusier. 130 Die Verbindung von gläserner Durchsichtigkeit und parlamentarischer Öffentlichkeit wird nur in Deutschland so ausdrücklich thematisiert. Neuere Parlamentsgebäude anderer Staaten, etwa in Stockholm, Canberra oder Den Haag, ordnen den Plenarsaal in traditioneller Manier im Herzen eines größeren Gebäudekomplexes an, so daß eine Blickbeziehung von außen nicht möglich ist. Auch auf die großzügige Verwendung von Glas für die Fassadengestaltung wird dort verzichtet. Vgl. zu Stockholm Metcalf, Riksdag; zu Canberra vgl. Australian Government Publishing Service: Australias Parliament House; Beck, Parliament; Murphy/Dixon, in: Progressive architecture, 8/1988, p. 65; zu Den Haag vgl. Slawik, in: Deutsche Bauzeitung, 4/1993, S. 28. 131 Amdt, Bauherr, S. 217 ff. 132 Amdt, Parlamentsgebäude, S. 253 f. 133 Schulz, in: Tagesspiegel, 30.10.1992. 134 Vgl. 12. BTag, Festakt zur Einweihung des neuen Plenarsaals am 30. Oktober 1992, StenProt., S. 9844. 13S Vgl. Ausschreibung Reichstag 1, S. 64.

C. Transparenz und Öffentlichkeit

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mentarische Arbeit als "offen und zugänglich", Licht und freie Sicht besäßen für ihn hohen Wert.1 36

13 Blick aus einem der Umgänge in den Plenarsaal und durch diesen hindurch. Rechts eine gläserne Außenwand.

"Volksnähe" wird also regelmäßig beschworen. Die räumliche Distanz zwischen dem Volk und seinen parlamentarischen Vertretern scheint abgeschafft, nicht nur dank der Invasion der Fernsehkameras, sondern auch infolge der bewußt getroffenen Entscheidung für eine transparente und offene Architektur.

I. Das Öft"entlicbkeitsprinzip des Art. 42 I 1 GG

Die Verbindung von gläserner Durchsichtigkeit und parlamentarischer Öffentlichkeit, nahe gelegt zunächst durch das beiden Begriffen zugeordnete

136

Vgl. Tagesspiegel, 23.6.1993.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

Synonym "Transparenz "137, findet einen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt in Art. 42 Absatz 1 Satz 1 GG, der für die Verhandlungen des Deutschen Bundestages den Grundsatz der Öffentlichkeit ausdrücklich festschreibt. l38 Entsprechend der etymologischen Abstammung von "offen" bezeichnet "öffentlich" in diesem Zusammenhang eine bestimmte Relation zwischen Gegenständen im weitesten Sinne und einer unbestimmten, unabgegrenzten Mehrheit von Personen139 ; "öffentlich" bezeichnet das Gegenteil von "nicht jedermann zugänglich" 140. Das Zugängliche kann beispielsweise ein Wissen, ein Vorgang oder ein Ort sein, der Zugang besteht etwa in Kenntnisnahme oder in Aufenthalt. Das Öffentlichkeitsprinzip des Art. 42 I 1 GG verknüpft den Zugang zu einem Ort mit der Möglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung des dortigen Geschehens durch Zusehen und Zuhören: Im Zuschauerraum des Plenums hat jede Frau und jeder Mann, einschließlich aller als Medienberichterstatter ausgewiesenen Personen, die rechtliche Möglichkeit freien Zutritts.l41 Da diese sog. Verhandlungs- oder Sitzungsöffentlichkeit naturgemäß stets nur wenigen Personen den Aufenthalt auf der Besuchertribüne des Plenarsaales ermöglichen kann 142, liegt der Gedanke nahe, die Zahl der bei einer Debatte körperlich anwesenden Zuschauer dadurch zu erhöhen, daß interessierte Bürger die Plenarverhandlungen von außen, durch gläserne Wände hindurch beobachten.

11. Wörtliches Verständnis der Glasarchitektur

Tatsächlich besaß die großflächige Verglasung des Plenarsaals 1949 während der allerersten Sitzungen des Deutschen Bundestages diese ganz praktische Bedeutung: Auf der an den Plenarsaal anschließenden Gartenterrasse er137 Vgl. nur den Titel von Kisslers Beitrag im Handbuch von Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, S. 993 ff.: "Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation". 138 Entsprechende Vorschriften finden sich für die Länderparlamente in den Länderverfassungen; sie sind aufgeführt bei Linck, in: ZParl 4;92, S. 673, bei FN 2. 139 Auch dieser unabgegrenzte, unbestimmte Personenkreis wird als "Öffentlichkeit" bezeichnet. 140 Vgl. dazu näher Martens, Öffentlich, S. 42 ff.; Krüger, Staatslehre, S. 440 ff. 141 Welche tatsächlichen Maßnahmen im einzelnen getroffen werden müssen, damit die Öffentlichkeit auch faktisch in ausreichendem Maße Zutrittsmöglichkeiten bekommt, ergibt sich nicht aus Art. 42 I 1 GG. Lediglich der völlige Ausschluß durch Nichtbereitstellen eines ausreichenden Zuhörerraumes wäre verfassungswidrig; vgl. Maunz, Art. 42, Rn. 3, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar. 142 Die Besuchertribüne im Plenarsaal-Neubau bietet 365 Zuschauern Platz. Der Besucherdienst des Deutschen Bundestages führt die Besuchergruppen im stündlichen Wechsel auf die Tribünen.

C. Transparenz und Öffentlichkeit

119

richtete die Bundestags-Verwaltung eine überdachte Zuschauertribüne, da die Empore im Saalinnern die vielen Gäste und Neugierigen nicht zu fassen vermochte. So sahen Bonner Bürger, Verwaltungsangestellte und Journalisten den Verhandlungen des jungen Parlamentes durch die Glasscheiben zu, allerdings ohne die Redner hören zu können, woraufhin der rheinische Humor das Wort vom "Bonner Bundesaquarium" prägte)43

14 Draußen vor der Glaswand: Zuschauer der konstituierenden Sitzung des 1. Deutschen Bundestages auf einer provisorischen Tribüne außerhalb des Plenarsaals.

Heute kann die interessierte Bevölkerung nicht mehr von draußen in den Plenarsaal hineinsehen, da das Bundestagsgelände wie die Mehrzahl der Bonner Regierungsgebäude von einem hohen Zaun umgeben ist. Angemeldete Besucher gelangen nur in Gruppen, räumlich getrennt von den Abgeordneten und geführt vom parlamentarischen Besucherdienst, auf einem sorgfältig insze143 Vgl. Mende, in: Pörtner, Kinderjahre, S. 111. Vgl. auch Knopp, Plenarsaal. Wie zeitgenössische Fotos belegen, wurden jedoch gelegentlich die Fensterflügel geöffnet, also auch ein Zuhören ermöglicht.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

nierten Weg in das Gebäude hinein, hin zu der leeren Mitte im Zentrum der kreisförmigen Sitzordnung des Plenarsaals. Nur noch den Blick hinaus ermöglichen die großen Glasflächen: Die Blicke der Parlamentarier können während der Debatten über den Rhein schweifen, über das jenseitige Ufer und das Siebengebirge am Horizont. Eine visuelle Rückkoppelung der Abgeordneten mit ihrem Land, mit der besonders von Ausländern als "typisch deutsch" gerühmten Rhein-Landschaft. Spätestens seit diesem Verlust seiner ganz praktischen Bedeutung für die Beobachtung der Plenardebatten von außen steht das Thema Glas in der Parlamentsarchitektur in Zweifel1 44 : Dürfe man wirklich glauben, daß es "zwecks demokratischer Kontrolle mit ein paar großen Glasscheiben getan sei, durch die das Volk seinen Vertretern beim Regieren auf die Finger gucken kann?", grübelte beispielsweise die Münchner Fachzeitschrift 'Baumeister' anläßlich der Einweihung des neuen Bonner Plenarbereiches.145

111. Transparenz als Metapher

Schon Hans Schwippert ging es aber 1949 weniger um die praktische Bedeutung des Glases in der Parlamentsarchitektur für die Beobachtung der Plenardebatten von außen. Er entwarf vielmehr eine programmatische Metaphorik: Symbolisierung parlamentarisch-politischer Transparenz mittels einer Architektur aus Glas und Stahl. Für die Etablierung dieser Metapher in der Diskussion über den angemessenen architektonischen Ausdruck des Parlamentarismus in Deutschland war nicht allein ihre auf den ersten Blick verführerische Wörtlichkeit entscheidend. In einem komplexen Netz von Abhängigkeiten verhalfen verschiedene Faktoren der Transparenz-Metaphorik im Parlamentsbau zu ihrer weitgehenden Anerkennung. Die wichtigste Wurzel dürfte der "Öffentlichkeitsmythos"146 sein: "Das Licht der Öffentlichkeit ist das Licht der Aufklärung."147 Es ist dieses Licht, das hell und klar durch die großen Glasflächen in das Plenum des Parlamentes "hineinscheinen" soll. 144 Lampugnani, in: ders., Architektur, S. 264 f. faßt die Kritik an dem wörtlichen Verständnis der Glas-Transparenz-Architektur zusammen. 145 Sayah, in: Baumeister 12/1992, S. 43. 146 Herzog, Staatslehre, S. 355. 147 Schmitt, Parlamentarismus, S. 48.

C. Transparenz und Öffentlichkeit

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1. Arkanum versus Transparenz: Der Öffentlichkeitsmythos

Das Öffentlichkeitsprinzip, das seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag in Art. 42 I 1 GG gefunden hat, ist entstanden als Reaktion auf das Arkanverhalten, die Geheimpolitik des Absolutismus 148: "Das Öffentliche soll öffentlich sein", lautete das Begehren.149 Dieser Begriff von Öffentlichkeit enthielt zwei Bedeutungskomponenten, die eng miteinander zusammenhängen. Einerseits ging es um die Herstellung faktischer Öffentlichkeit, also personal unbeschränkter Teilnahme-, Mitwirkungs- oder Benutzungsmöglichkeiten. Vor allem aber beruhte die Forderung nach Öffentlichkeit andererseits darauf, daß "Öffentlichkeit" sich zu einem "Wertbegriff'150 entwickelte.151 Der Gedanke, Publizität führte zu mehr Wahrheit und größerer Gerechtigkeit im Staate, fand breiten Eingang in die staatstheoretische und politische Publizistik.152 Dieser "Öffentlichkeitsmythos" läßt sich schon in der Antike nachweisen; in der Aufklärung aber gewann der liberale Öffentlichkeits-Optimismus seine volle Durchschlagskraft. Entscheidend ist, daß in dieser Vorstellung beide Bedeutungskomponenten zusammengehören. Danach soll schon die Herstellung faktischer Öffentlichkeit die "segensreiche ... Funktion der Publizität"153 gewährleisten, die öffentliche Verhandlung soll die Richtigkeit und Gerechtigkeit der getroffenen Entscheidungen garantieren: "Eine von wenigen Menschen hinter verschlossenen Türen betriebene Kabinettspolitik erscheint ... als etwas eo ipso Böses und die Öffentlichkeit des politischen Lebens infolgedessen als etwas schon seiner Öffentlichkeit wegen Richtiges und Gutes. ... Beseitigung von Geheimpolitik und Geheimdiplomatie wird das Allheilmittel gegen jede politische Krankheit und Korruption." 154 Die Forderung nach Öffentlichkeit wird zwar auch pragmatisch begrundet155, lebt aber überwiegend aus diesem Gedanken, Publizität stelle gleichsam automatisch Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit her. Da "Wahrheit" eng mit der 148 Vgl. dazu Stolleis, in: ders., Staat, S. 37; sowie die Hinweise bei Kiss/er, Öffentlichkeitsfunktion, S. 52 f.; und bei Martens, Öffentlich, S. 51, FN 46. 149 Weld'er, Art. Öffentlichkeit, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. 10, S. 258. 150 Krüger, Staatslehre, S. 443. 151 Vgl. nur Kissler, Öffentlichkeitsfunktion, S. 40 ff. 152 Vgl. Habermas, Strukturwandel. 153 Krüger, Staatslehre, S. 48. 154 Schmitt, Parlamentarismus, S. 48. 155 Etwa durch die am ökonomischen Marktmodell orientierte Vorstellung, im freien Wettbewerb der Meinungen werde sich zwangsläufig die gute und richtige durchsetzen.

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3. Teil: Das Beispiel Bundeshaus Bonn

traditionellen licht-Metaphorik verbunden ist 156, ergibt sich, vennittelt über die Wahrheit, auch eine Beziehung zwischen Öffentlichkeit und licht, eben das "licht der Öffentlichkeit", das weit mehr ist als nur das licht der FernsehScheinwerfer: "Nur im lichte entfalten sich Tugend, Recht und Glück", schrieb beispielsweise Carl von Rotteck.157 Die Parallelisierung von licht und Öffentlichkeit gewinnt aus der inhaltlich-normativen Assoziation beider Begriffe mit moralischen Kategorien ihre Überzeugungskraft, die auch Eingang in die Sprache gefunden hat, etwa in Redewendungen wie "es kommt alles ans licht", und Begriffen wie "dunkle Geschäfte" oder "lichtscheue Elemente". Selbst im Gesetzestext findet sich diese Verknüpfung von licht und Wahrheit: Die Legaldefinition des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO umschreibt als "Verdunkelungsgefahr" die Gefahr, "daß die Ennittlung der Wahrheit erschwert werde." Öffentliche Räume sind in dieser Vorstellung also hell erleuchtet. Nichtöffentliche, der Allgemeinheit unzugängliche hingegen werden als dunkel und finster vorgestellt. Glas als der lichtdurchlässige Baustoff schlechthin signalisiert die Erleuchtung der öffentlichen Räume, insbesondere des Parlamentes. In engem, kaum lösbaren Zusammenhang mit diesem Gedanken steht auch die Verkniipfung von Durchschaubarkeit und Erkenntnis. Aus dem Drängen der Aufklärung nach einer Rationalisierung von Politik erwuchs die Forderung nach Publizität: "Öffentliches Räsonement gilt als Voraussetzung einer Identität von Gesetz und Vernunft als Grundlage von zustimmendem, von der Einsicht in die Verkünftigkeit des Gesetzes getragenem Gehorsam."158 Nicht mehr die Macht sollte den Gehorsam erzwingen, sondern Duchschaubarkeit der Gründe eines bestimmten Vorgehens sollte Mitwirkungsbereitschaft erzeugen. Politische Entscheidungen und Rechtsnormen werden nicht mehr einfach hingenommen; sie müssen vielmehr begründbar, und das heißt vemunftmäßig nachvollziehbar, also einsichtig sein.. Erkennbarkeit der Gründe, Durchschaubarkeit der Entscheidungsprozesse und Einsichtigkeit der Entscheidungen - die Sprache legt hier eine Verknüpfung von visueller Wahrnehmung und vernunftbestimmtem Verständnis nahe, die von der Architektur mit ihren Ausdrucksmitteln übersetzt wird, und zwar durch die Verwendung von Glas als dem Baustoff, der visuelle Wahrnehmung trotz räumlicher Trennung ermöglicht. 156 Vgl. Blumenberg, in: Studium Generale 1957, S.432; Bremer, in: Archiv für Beyriffsgeschichte 1973, S. 7; Ra/zinger, in: Studium Generale 1960, S. 368. 57 v. Rotteck, Staatsrecht, S. 2.