Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter [Reprint 2013 ed.] 9783110878790, 9783110143683

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Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter [Reprint 2013 ed.]
 9783110878790, 9783110143683

Table of contents :
Vorbemerkungen
Was heißt und zu welchem Ende schreibt man regionale Literaturgeschichte? Das Beispiel der mittelalterlichen österreichischen Länder
Dichtung und Raum. Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen ‚Literaturgeographie‘
Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. Am Beispiel Rudolf Borchardts und Josef Nadlers
Überlegungen zu Hof und Schrift. Zur Globalisierung von Kommunikationsstrukturen. Die ersten Schritte
Kulturelle Verspätung und translatio imperii. Zu einer Semantik historischer Wanderungsbewegungen auf der eurasischen Halbinsel Europa
dâ heime niht erzogen - Translation und Erzählstil. ‚Rezeptive Produktion‘ in Hartmanns ‚Erec‘
... der rechten franzoiser het er gern gehabet mêr. Zu einigen Scheidelinien auf der mentalen Landkarte zu Wolframs ‚Willehalm‘
Süßkind von Trimberg, ein deutsch-jüdischer Autor im europäischen Kontext
Der amour courtois als überregionales Kulturmuster. Skizze zum Problem einer Begriffebildung
Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern
Register

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Interregionalität der deutschen Literamr im europäischen Mittelalter

Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter Herausgegeben von

Hartmut Kugler

W DE

G

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1995

Der produktiven Rückbesinnung auf Karl Bertaus Buch »Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter' gewidmet

©Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Intenegionalität der deutschen Literatur im europäischen hrsg. von Hartmut Kugler. - Berlin; New York: de Gruyter, 1995

Mittelalter!

ISBN 3 - 1 1 - 0 1 4 3 6 8 - 2

NE: Kugler, Hartmut [Hrsg.]

© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Rainer Engel, Berlin Satz: Dörlemänn Satz, Lemförde Druck: "Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis HARTMUT KUGLER

Vorbemerkungen

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F R I T Z P E T E R KNAPP

Was heißt und zu welchem Ende schreibt man regionale Literaturgeschichte? Das Beispiel der mittelalterlichen österreichischen Länder

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A L F R E D EBENBAUER

Dichtung und Raum. Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen .Literaturgeographie'

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ULRICH WYSS

Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. Am Beispiel Rudolf Borchardts und Josef Nadlers

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H O R S T WENZEL

Überlegungen zu Hof und Schrift. Zur Globalisierung von Kommunikationsstrukturen. Die ersten Schritte

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KARL BERTAU

Kulturelle Verspätung und translatio imperii. Zu einer Semantik historischer Wanderungsbewegungen auf der eurasischen Halbinsel Europa

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R E N E PERENNEC

da heime niht erzogen - Translation und Erzählstil. ,Rezeptive Produktion' in Hartmanns ,Erec'

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E L I S A B E T H SCHMID

... der rechten franzoiser het er gern gehabet m^. Zu einigen Scheidelinien auf der mentalen Landkarte zu Wolframs ,WiUehalm'

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Inhaltsverzeichnis

E D I T H WENZEL

Süßkind von Trimberg, ein deutsch-jüdischer Autor im europäischen Kontext

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INGRID K A S T E N

Der amom courtois als überregionales Kulturmuster. Skizze zum Problem einer Begriffebildung

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HARTMUT KUGLER

Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern

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Register

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HARTMUT KUGLER

Vorbemerkungen 1. Interregionalität Der Terminus,Interregionalität' gehört in die Nachbarschaft von ,Intemationalität' und .Interkulturalität' und grenzt sich gegen jene, wie es bei Nachbarn üblich ist, vor allem durch Negationen ab. ,Intemationalität' ist nicht gemeint, weil dieser Terminus im Bereich der Literatur längst jede Griffigkeit verloren hat und weil er zudem die Konnotationen von Nationalstaaten, Nationalsprachen, Nationalliteraturen mit sich herumschleppt. ,Interkulturalität' ist nicht gemeint, weil daran die Vorstellung grenzenüberfliegender Reisen in fremde Kulturwelten haftet. Demgegenüber zielt der Begriff der ,Interregionalität' auf Binnenbewegungen innerhalb eines komplexen Kulturzusammenhangs. Dieser Zusammenhang hat mit den beiden den Buchtitel auffüllenden Attributen ,deutsch' und »europäisch* sein grobes Raster erhalten; und er zitiert eine kulturpolitische Idee herbei, in der eine Taufpatin des Begriffs der ,Interregionalität' vermutet werden darf, die Idee eines ,Europa der Regionen'. Räumliche Anordnungen und Zuordnungen von Literatur haben etwas Mißliches und Bedrohliches. Die Versuche der Bestimmung von Literaturregionen, Literaturlandschaften und dergleichen wirken leicht gewaltsam und sind in der Regel mit Kategorien unternommen worden, die von anderswoher geholt waren, aus der Politik, der Sozialgeschichte, der Ethnographie. Die Zusammenordnung, die dem modernen Bewußtsein noch am ehesten hat einleuchten wollen, war die von Literaturraum und Sprachraum. Eine Sprache, eine Literatur; aus dieser Parallele bezog das Paradigma der Nationalliteratur seine Überzeugungskraft; sie wurde fatal, weil noch weitere Parallelen hinzutraten: ein Volk, ein Raum. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Rezepte der Nationalphilologie und besonders die der nationalen Literaturgeschichtsschreibung schon dutzendfach für obsolet und für historisch erledigt erklärt worden. Trotz

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Hartmut Kugler

dem werden sie noch immer weiter gebraucht. Wahrscheinlich deswegen, weil bisher keine hinreichend starken Argumente und Zwänge auf einen Paradigmenwechsel gedrängt haben. Ein literarischer Text ist seinem Wesen nach auf keine bestimmten sozialen oder territorialen Anordnungen und Zuordnungen verpflichtet, sie werden von außen an ihn herangetragen. Er kann aber ohne solche Zuordnungen nicht existieren, imd weil die sich mit der Zeit und den Verhältnissen ändern, ist es ratsam, sie gelegentlich neu zu überdenken. Den organisatorischen Rahmen, in dem der vorliegende Band zustande kommen konnte, hat ein kulturwissenschaftliches Projekt geboten, das unter dem Titel ,Kulturregionen, Regionalkulturen' an der Universität Kassel eingerichtet war. Ein Ausgangspunkt dieses Projekts war das Faktum, daß die in Vertragsformen gegossene Programmatik der Europäischen Union gerade auf kulturellem Gebiet große Hoffeiungen und Erwartungen auf ein künftiges ,Europa der Regionen' setzt. Im Zuge der Europäisierung der Wirtschafts-, Verkehrs- und Kommunikationsstrukturen sollen die alten nationalstaatlichen Grenzen an Bedeutung verlieren zugunsten regionaler Markierungen. In den Regionen, so die Hoffnung, sei am ehesten eine stabile ,kulturelle Identität' der einzelnen Menschen und Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten. Was aber ,Regionen' sind, und wie ihr Verhältnis zu den ,Nationen' zu bestimmen sei, darüber bestehen außerordentlich divergierende Vorstellungen. Divergierend sind auch die Argumentationen, in denen das Kriterium der Sprachzugehörigkeit als unterscheidendes Merkmal herangezogen wird. Versuche, regionale Einheiten zu definieren, waren meist stark auf die Einheit der jeweils vorherrschenden Sprache oder Mundart fixiert. Immer schon hat es aber in Europa sprachlich inhomogene Regionen gegeben, in denen verschiedene Dialekte und ,Nationalsprachen' nebeneinander existierten. Die Grenzen von Sprach- und Staatszugehörigkeiten waren in den seltensten Fällen identisch. Darin steckt eine beträchtliche Herausforderung an die Literatur- und Sprachwissenschaften. Denn wie immer das Verhältnis von ,Regionen' zu ,Nationen' bestimmt sein soll, im Verband einer ,Europäischen Union' werden die bisherigen, nationalstaatlich geprägten Paradigmen literarischer und sprachlicher Bildung auf die Dauer nicht unverändert fortgelten können. Regionen sind zweifellos nicht die naturgegebenen Grundeinheiten, wie sie von der friiheren Volkskunde und Heimatkunde definiert worden sind. Regionen sind, sucht man sie als Kulturregionen zu verstehen, den Prozessen kultureller Gestaltung und Umgestaltung unterworfen, sind Konfigurationen auf Zeit.

Vorbemerkungen

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Die ältere Regionalliteraturforschung, in Deutschland unter dem Namen der ,Volkskunde' von der Germanistik her (Erich Schmidt, August Sauer, Josef Nadler u. a.) geformt, hatte alles Gewicht auf Faktoren gelegt, die einmalig und unverwechselbar erschienen. Gesucht war die substantielle ,Eigenart', das Ursprüngliche und Authentische, das von nirgendwoher ableitbar sein sollte. Betont war die Bodenständigkeit einer Heimatkultur, so als sei diese gleichsam mit einer angestammten Urbevölkerung zusammen aus der Muttererde hervorgewachsen. Mit dem Begriff der ,Interregionaliät' wird demgegenüber ein anderes Erklärungsmodell ins Auge gefaßt. Demnach zeigt sich das, was eine Kulturregion ausmacht, nicht erst dann in seiner eigentlichen Form, wenn alle ,Fremdeinwirkungen' weggefiltert werden, sondern es entsteht und besteht substantiell in solchen Fremdeinwirkungen. Das gilt im besonderen Maß für die Literatur. Sie lebt vom Austausch, vom Transfer, von Translationen, von Transformationen der Stoffe, Motive, Gattungen. Eine regionale Ausdifferenzierung der Literatur, soweit sie überhaupt zu bewerkstelligen ist, kann sich nicht an,wesenhaften' Einheiten wie etwa den Stämmen und Landschaften der Nadlerschen Literaturgeschichte orientieren. Vielleicht kann sie es eher am offenen Regionenbegriff der modernen Wirtschaftsgeographie: Literaturregionen wären demnach als Verkehrsiäume zu betrachten, als Räume der Transformation imd Innovation. Für den Versuch einer solchen Betrachtungsweise steht der Terminus „Interregionalität".

2. Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter Für die grundsätzliche Frage, wie sich Kulturmuster ausbilden und verändern, bietet das europäische Mittelalter ein reiches Reservoir historischer Erfahrung. In seinen Kulturlandschaften finden sich vielfach noch antike Prägungen bewahrt. Das im Hochmittelalter herausgebildete Gefüge der europäischen Landschaften ist - zieht man die politischen Gliederungen ab - bis heute erkennbar und wirksam geblieben. Die mittelalterliche Literatur kannte keine nationalstaatlichen Scheidelinien. Sie war einerseits universal ausgerichtet unter dem Firmament der lateinischen Antike und der christlichen HeUserwartung, sie war andererseits auf regionale und lokale Wirkungsfelder konzentriert. Diese Wirkungsfelder hatten untereinander mannigfaltige Verbindungen, teils weit in die Vergangenheit zurückreichende, teils neu angelegte. Die unfesten, vor-

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Hanmut Kugler

Übergehenden Strukturen der sprachlichen und literarischen Kommunikation haben sich über viele Jahrhunderte hin in immer denselben Räumen und Landschaften aufgebaut, und sie mögen nicht immer völlig spurlos wieder verschwunden sein. Was im Mittelalter zur deutschen Literatur zu rechnen ist, hat sich in immer neuen Übertragungsleistungen über Sprach- und Regionalgrenzen hinweg konstituiert und ist nicht denkbar ohne die weit- und engmaschigen Vernetzungen mit lateinischer, provenzalischer, französischer, skandinavischer und anderer Literatur. Die Formulierung des Buchtitels zitiert ein literarhistorisches Werk, das vor zwei Jahrzehnten erschienen und inzwischen ein Klassiker geworden ist, Karl Bertaus „Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter" (1972/1973). Bertaus Literaturgeschichte führte programmatisch vor Augen, wie wenig die deutsche Literatur aus sich selbst heraus entstanden ist und wieviel sie dem Kontext weit ausgreifender kultureller Wanderungsbewegungen verdankt. Dabei rückt die Langzeirwirkung bestimmter Grundmuster kulturhistorischen Denkens ins Licht, vor allem der im Lauf der Geschichte immer neu interpretierte und mit Translationen verschiedenster Art renovierte Gedankenhorizont des Imperium Romanum und dessen folgenreiche Achsenverschiebung nach Norden. Die mittelalterliche deutsche Literatur ist kein selbsttragendes Kontinuum, sondern von Brüchen und Lücken durchsetzt und vielfach von regionalen Sonderbedingungen geprägt, die auch gesondert analysiert sein wollen. Die europäisch dimensionierte Literaturbetrachtung erfordert ein komparatistisches Instrumentarium, mit dem neben der Literatur verschiedener Sprachen auch realund kunsthistorische Gegebenheiten verarbeitet werden können. Bertaus Buch hat einen Maßstab gesetzt für komparatistisches Arbeiten, das bislang noch wenig praktiziert worden ist, aber in Zukunft dringlicher und gewichtiger werden sollte. Es ist durchaus programmatisch zu verstehen, daß sich alle Teilnehmer des Kasseler ,Interregionalitäts'-KoIloquiums mehr und weniger ausdrücklich auch mit Bertaus komparatistischer Literaturgeschichtsschreibung auseinandergesetzt haben.

3. Z u m Inhalt Die im vorliegenden Buch versammelten Beiträge erfüllen keinen streng definierten Gesamtplan, sind aber deutlich aufeinander bezogen. Allenthalben wird die Tramlatio als ein kulturprägendes Prinzip begreiflich. AUent-

Vorbemerkungen

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halben wird untersucht, wie und wieweit die Übertragung von Stoffen, Formen, Denkweisen und Gestaltungsmustern literaturbildend war, wie rezeptive Produktion und produktive Rezeption den literarischen Prozeß bestimmt haben. Die Beiträger gehen darauf aus, das traditionelle Paradigma einer deutschen Nationalliteratur zu transformieren. Sie möchten aus der germanistischen Perspektive - die historische Dimension einer europäischen Literaturforschung erarbeiten helfen. Die Beiträge ordnen sich zwei Hauptgruppen zu. In der ersten Gruppe dominieren Auseinandersetzungen mit Literaturgeschichtsschreibung und Literaturtheorie in allgemeinerem Zusammenhang. Die zweite Gruppe versammelt Arbeiten, die näher auf bestimmte Texte und Textgruppen gerichtet sind. Im Folgenden notiere ich zu den einzelnen Aufsätzen einige Stichwörter, an denen die durchlaufenden Verbindungslinien erkennbar werden. Die Kurzcharakteristiken sind keine Inhaltsangaben im üblichen Sinn und wollen zur Lektüre der Beiträge anreizen, nicht die Lektüre ersetzen. Fritz Peter Knapp bietet eine „theoretische Nachlese" zu seiner eigenen großen Literaturgeschichte, die sich zur Zeit der Abfassung des Referates noch im Druck befand. Diese ,Geschichte der früh- und hochmittelalterlichen Literatur in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis 1273' (= ,Geschichte der Literatur in Osterreich, Bd. 1') ist das Ergebnis einer Arbeitsweise, die „chorozentrisch", nicht „glossozentrisch" ausgerichtet war. Ausgehend von der Einsicht, daß jede Literaturgeschichtsschreibung ihren Gegenstandsbereich letztlich willkürlich begrenzen müsse, wenn sie ihn überhaupt darstellen wolle, setzt Knapp die Möglichkeit regionaler Eingrenzung gleichberechtigt neben die der (national)sprachlichen. Die regionale Grenzenziehung erleichtert das Begreifen mehrsprachiger Prozesse; ein Kriterium, das angesichts der strukturellen Zweisprachigkeit der mittelalterlichen Literatur (Latein neben Landessprache) ausschlaggebend sein kann. Alfred Ebenbauer untersucht ältere und neuere Literaturgeschichten auf ihre geographischen Parameter hin. Exemplarisch zeigen die wechselnden Einweisungen in Heimaträume und "Wesenheiten, die Walther von der Vogelweide hat erdulden müssen, wie groß die Schwankungsbreite und wie gering die Belastbarkeit eines Bodens ist, wenn ein literarisches Denkmal darauf befestigt werden soll. Gerade im Mittelalter sind die regionalen Grenzlinien, mit deren Hilfe sich eine ,Nationalliteratur' strukturieren ließe, besonders flüchtig. Freilich sei unter bestimmten Bedingungen und

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Hartmut Kugler

ZU bestimmten Zeiten die Existenz von „Literaturlandschaften" (de Boor) oder „geschichtlichen Kulturräumen" (Thum) nicht abzuweisen. Sie lasse sich erkenntnisfördemd betrachten, wenn man, wie F. P. Knapp es in seinen literarhistorischen Arbeiten zur Literatur in Österreich tue, das Pragmatische des Zugriffs und die Relativität seiner Geltung hinreichend deutlich kennzeichne. Ulrich Wyss artikuliert das tiefe Mißtrauen, das gegenüber jeder regionalisierenden Betrachtung der Literatur prinzipiell angebracht sei, im Rückblick auf historische Fehlversuche, besonders auf Nadlers »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften'. Nadler ist Exponent einer Denkrichtung, deren Apriori einer „unvermischten Natursubstanz" jeden kulturhistorischen Prozeß von Anfang an und nahezu begriffsnotwendig verfälschen muß. Bedenkenswerter, wenngleich hoch spekulativ, seien Gedanken Rudolf Borchardts, der „aus literarischen Tatsachen Beziehungen zwischen Kulturräumen" konstruiere und damit implizit zeige, „daß Regionen in Relationen zu bestimmen" seien und Regionalität als ein „Effekt interregionaler Textur" begreiflich werden könne. Horst Wenzel diskutiert die Gegenüberstellung von regionaler und überregionaler Kommunikation vor dem mediengeschichtlichen Horizont und analysiert sie in einem langfristigen historischen Prozeß, im „Vordringen der skriptoralen gegenüber den oralen Techniken". An Thomasins ,Wälschem Gast' lasse sich zeigen, wie „aristokratisches Lernen" zunächst noch auf die orts- und personengebundene „Nachahmung" vorbildlicher Körper und Konfigurationen beschränkt sei und durch das Hinzutreten literarischer Unterweisung eine zugleich abstraktere und allgemeingültige Qualität gewinne. Mündliche Kommunikation ist notwendig auf einen Ort angewiesen und wird von dessen Gegebenheiten mitgeprägt. Schriftliche Kommunikation ist prinzipiell ortsunabhängig und erfordert vom menschlichen Denken die Einübung einer „Prozessualisierung des Sinns, die sich aus der Linearität der Schrift ergibt", und die auf lange Sicht „ein besonders erfolgreicher Modus der Verarbeitung von gesellschaftlicher Komplexität" geworden ist. Im Mittelalter sei diese Entwicklung besonders relevant geworden für die Herausbildung eines gemeinadeligen Bewußtseins. „Die Vorzüge der Schrift werden zu einem zentralen Faktor für die Ausbildung der höfischen Kultur." Karl Bertau überdenkt den historischen Erfahrungsraum, den sein Buch ,Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter' ausgemessen hatte, nun, 20 Jahre nach Erscheinen des Buches, von einer metadisziplinären, einer geschichtsphilosophischen Position aus. Der mittelalterliche Begriff der

Vorbemerkungen

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translatio imperii, damals „konstruktiver Leitgedanke" des Buches, wird neu aufgegriffen und mit Hilfe der Frage nach einer „kulturellen Verspätung" (der deutschen Nation) als Instrument der Beobachtung großräumiger historischer „Wanderungsbewegungen" eingesetzt. Schon Otto von Freising und noch Hegel sah die Geschichte in einer großen Bewegung von Ost nach West, „der Sonne nach" sich vollziehen (Abfolge der antiken Weltreiche, Völkerwanderung, Eroberung der Neuen Welt), doch gab es auch die Gegenbewegung von West nach Ost, „die ,metereologische Bewegung', die den Weg unseres Wetters nimmt" (Alexanderzug, Kreuzzüge und Ostkolonisation, Napoleon, Marxismus). Darin scheint die als eschatologischer Heilsauftrag verstandene translatio imperii wie aus einer (bleibt man im meteorologischen Bild) Turbulenz entstanden und über dem ,Heiligen Römischen Reich deutscher Nation' hängengeblieben zu sein, mit lastend moralisch-religiösem Gewicht und bis in die jüngste Vergangenheit spürbaren Konsequenzen, politischen wie ästhetischen. Mit dem Referat von Rene Perennec beginnt die zweite Gruppe der Beiträge. Hier kommen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer ,interregionalen' Sicht auf die Literatur im nahen Umgang mit einzelnen Texten und Textgruppen zur Sprache, und zwar im Bereich der Epik (Perennec, Schmid), der Lyrik (E. Wenzel, Kasten), der Geschichtsdichtung (Kugler). Perennec geht der Frage nach, welche Bedeutung der große Übersetzungsschub, der um 1200 aus dem Französischen ins Deutsche stattfand, für die deutsche Literatur gehabt, was die „Translation qua Translation" bewirkt habe. In einer Fallstudie beobachtet er ein besonderes Merkmal der Hartmannschen ,Erec'-Fassung und unternimmt es dann, „dieses individuelle Merkmal als eine Konsequenz des Adaptationsprozesses zu interpretieren". Es handelt sich um die Hartmanns Roman eigene Art der direkten Publikums-Ansprache aus dem Erzählgeschehen heraus. Perennec analysiert und erklärt diesen ,Konversationsstil' als einen Kunstgriff, mit dem die Mühe des Übersetzens und Aneignens einer bis dahin fremden Materie in einen Bestandteil des poetischen Textes verwandelt worden sei. Der Konversationsstil verstehe sich „als eine Reaktion auf die besonderen Eigenschaften der neuen Gattung, die durch ,interregionalen' Kontakt in den deutschsprachigen Kulturraum transportiert wurde." Elisabeth Schmid untersucht die geographischen Benennungen in Wolframs ,Willehalm' als Elemente einer „mentalen Topographie". Sie fragt, wie sich „dem Ostfranken Wolfram das westliche Nachbarland" im Kopf organisiere, „wenn er die franzoise gegen die Heiden in den Krieg ziehen

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Hartmut Kugler

läßt". Wolfram nimmt eine,Innenperspektive' an, er markiert „das andere Land durch distinkte territoriale Einheiten" und bereitet so den im Epos verhandelten Problemen im Wortsinne „den Boden". Willehalm ist Provenzale, von Provenze dermarquis, und hat seine Not mit den Verwandten und Verbündeten aus der Franzoiser laut. Die territorialen Markierungen bilden keine Landkarte nach, sie stehen für widerstreitende Welthaltungen und demonstrieren, wie ein mühsam gefundener Ausgleich im ersten Ansturm wieder partikularistisch zerfallen kann. Edith Wenzel thematisiert mit Süßkind von Trimberg die Position des mittelalterlichen Judentums und führt damit in eine vertrackte Opposition des Eigenen und des Fremden, die sich mit räumlichen Koordinaten kaum fassen läßt. Süßkind erscheint mit seinen Gedichten konventionell, doch ist er ein „Fremder im königlichen Liederbuch" (Wapnewski), sobald er als Jude identifiziert ist. So haftet ihm das „Faszinosum der Einmaligkeit" an, das die moderne germanistische Forschung vielleicht stärker beschäftigt hat als die mittelalterlichen Zeitgenossen. Seitenblicke in die Literaturen der Romania (Provence, Spanien, Italien) bezeugen, daß einzelne jüdische Autoren dort im 13./14. Jahrhundert in der Landessprache dichteten. Bemerkenswert ist die Süßkind zugesellte Miniatur in der Manessischen Handschrift, da sie eine jüdische Gestalt in repräsentativer Dignität zeigt ein Büd, das in den späteren Epochen der Ghettoisierung und Verfolgung kaum mehr denkbar ist. Ingrid Kasten klärt darüber auf, daß der ,Amour courtois', der gewöhnlich als ein gemeineuropäisches Muster der mittelalterlichen Adelskultur aufgefaßt wird, sich bei nahem Hinsehen als eine Hilfskonstruktion der Nationalphilologie des 19. Jahrhunderts (Gaston Paris u.a.) herausstellt. Einen einheitlichen europaweiten Diskurs über die Liebe hat es in der mittelalterlichen Literatur nicht gegeben. Die „Konzeptualisierungen der Liebe" verteilen sich auf verschiedene Diskurse, auf Diskurstypen mit unterschiedlichem historisch-diachronem Verlauf, unterschiedlichen Ausprägungen und vielfältigen Funktionalisierungen. Die Diskurse berühren und überschneiden sich gelegentlich, doch sind dabei regionale Zuordnungen zu einzelnen (von Bertau so bezeichneten) „lyrisch-gesellschafdichen Landschaften" kaum zu machen. Mein eigener Beitrag beobachtet an den Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern, wie sich aus heterogenen Elementen Traditionen herausbilden, die dann als konstante Einheiten begriffen sein wollen. Die sog. ,Stanimessagen' behaupten nicht den angestammten Platz, nicht die Ortsansässigkeit als vordringlich identitätsstiftendes Kriterium, sondern

Vorbemerkungen

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die Abstammung „von weit her". Die Franken leiten sich von Trojanern ab, die Sachsen aus Alexanders Heer, die Bayern aus dem Landegebiet der Arche Noah. Auf das ethnische Profil wird weniger Aufmerksamkeit gewendet als auf die Ständegliederung. Alle Bewegungen und Übertragungen „von weit her" sind auf ein geographisches und ideographisches Grundschema bezogen, auf das Imperium Romanum in seiner mittelalterlich verwandelten Gestalt. Die Herkunftssagen „imaginieren den Eintritt kleiner Barbarenvölker ins große Haus der Latinität". Die Beiträge beleuchten, aufs Ganze gesehen, nur relativ schmale Ausschnitte. Die Blickrichtung nach Westen, hinüber in die französischen und provenzalischen Regionen, ist fraglos dominant. Das hat seinen Grund in der Sache, die Westbindung ist für die hochmittelalterliche deutsche Literatur schlechthin konstitutiv. Die Reihe der Aufsätze bietet Einzelvorstöße und Fallstudien, kein Panorama. Es entspricht der Art des Herangehens und dem Stand der Diskussion, daß ein gewisses Maß an Heterogenität von vornherein zugestanden war und im nachhinein nicht überspielt werden soU. Namen- und Sachregister weisen auf die verschiedenen angesprochenen Themen und Sachgebiete zusätzlich hin. Die materielle und organisatorische Grundlage der Publikation war an der Kasseler Universität durch den Forschungsschwerpunkt,Kulturregionen, Regionalkulturen' gesichert. Ich danke meinen Kasseler Kollegen Anselm Maler und Gerhard Neuner vielmals für die fruchtbringende Zusammenarbeit, dem Präsidenten der Universität Prof. Dr. Hans Brinckmarm und dem Planungsreferenten ROR "Wblfgang Gabler für ihr Interesse und ihre Unterstützung. Bei der Durchführung des Kolloquiums haben Marcus Angebauer, Uwe Noack und Sabine Neumeyer (Kassel), beim Erstellen von Druckvorlage und Register Monika Dirsch und Winfried Neumann (Erlangen) geholfen, und ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Besonders herzlich darf ich Frau Dr. Brigitte Schöning vom de Gruyter Verlag für ihre engagierte, kompetente und geduldige Betreuung des Buches danken, ebenso Herrn Andreas Vollmer für die Beseitigung der Kniffligkeiten, die die elektronische Datenverarbeitung immer noch und immer wieder bereithält. Eriangen, im JuH 1995

H. K.

FRITZ PETER KNAPP

Was heißt und zu welchem Ende schreibt man regionale Literaturgeschichte? Das Beispiel der mittelalterlichen österreichischen Länder Literaturgeschichtsschreibung ist wieder in Mode gekommen in Deutschland. ^ In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren hatte die zünftige Literaturwissenschaft, außer der marxistischen, über diese Tätigkeit nur noch die Nase gerümpft, sich der allgemeinen Texttheorie in all ihren Spielarten in die Arme geworfen und höchstens eine literarische Reihe von Texten als historisches, aber der allgemeinen Geschichte enthobenes Phänomen für darstellenswert gehalten. Ganz kamen literatursoziologische Erwägungen auch außerhalb des real existierenden Sozialismus freilich niemals ab. Insbesondere die Altgermanistik stand weithin unter dem Eindruck der Arbeiten des Heidelberger Altromanisten Erich Köhler, aber erst Karl Bertaus Literaturgeschichte von 1973 markiert die Wende.^ Bertaus faszinierend subjektiver Zugriff, der sich über theoretische Vorgaben immer wieder souverän hinwegsetzt, war allerdings kaum imitierbar, und so hat es noch einige Jahre gedauert, bis die gelegte Lunte bei anderen

Dieser Beitrag stellt so etwas wie eine theoretische Nachlese zu meiner eigenen Literaturgeschichte (siehe unten Anm. 25) dar und somit ein unmittelbares Pendant zu meinen methodischen Vorüberlegungen, welche ich bei einer Tagung 1982 erstmals zur Diskussion gestellt hatte: F. P. Knapp, Gibt es eine österreichische Literatur des Mittelalters? In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750), hg. von F. P. Knapp, Herbert Zeman. Graz 1986, S. 49-85. Die dort angebrachte Kritik an letztlich verworfenen Konzepten (z.B. dem Kulturraum-Konzept) wird hier nicht mehr wiederholt. Einige Grundideen des früheren Entwurfs haben sich natürlich erhalten. Jedoch wird der Leser die aus der praktischen Durchführung erwachsene Neuorientierung sofort erkennen. Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. 2 Bände. München 1972, 1973.

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Fritz Peter Knapp

wirklich gezündet hat. Jetzt aber liegen gleich mehrere umfassende Überblickswerke zur deutschen Literatur des Mittelalters vor, manches davon noch als Torso.^ Alle tragen sie den Titel „Geschichte der deutschen Literatur von ... bis ...", gehen also von einem glossozentrischen Prinzip der Gegenstandskonstitution aus. Dieses hat insofern durchaus seine Berechtigung, als nichts einen beliebigen literarischen Text so einwandfrei mit einem anderen verbindet wie die gemeinsame Sprache. Den Beweis ex negativo liefert die bekannte Schwierigkeit, literarische Werke zu übersetzen. Der millionenfache Versuch, diese Schwierigkeit zu überwinden, -zeigt aber zugleich, daß jenem Prinzip, so sinnvoll es sein mag, kein Absolutheitsanspruch zukommen kann. Das größere Ganze der Weltliteratur, schon von Goethe beschworen, bildet stets den Rahmen, auch wo er ausgeblendet wird. Doch auch anderswo stößt das Prinzip auf Grenzen. Zum ersten: Die Sprache selbst hat eine wechselvolle Geschichte. Sie wandelt sich nicht einfach als identische Entität, sondern kann sich aus mehreren Sprachen bilden und/oder in solche zerfallen. So wächst das Niederdeutsche aus der Wurzel einer durchaus eigenständigen nordseegermanischen Sprache, des Altsächsischen, im Laufe des Mittelalters durch Angleichung aUmählich in den deutschen Sprachzusammenhang hinein, während das Niederländische, obgleich ursprünglich stärker dem Fränkischen als dem Nordseegermanischen verhaftet, eher abdriftet, seine tatsächliche Eigenständigkeit aber doch erst in der Neuzeit nach Gründung der Republik der Vereinigten Niederlande erreicht.'^ Selbst das Hochdeutsche zeigt bis ins lO./ll. Jahrhundert so elementare innere Differenzen, daß die Unterscheidung von mindestens drei selbständigen Schreibsprachen der Realität am ehesten gerecht werden dürfte.^ Zum zweiten: Was ims das Mittelalter aus dem (heutigen) deutschen Sprachraum an Texten überliefert, ist keineswegs überwiegend in deutscher Sprache, sondern in lateinischer abgefaßt. Das gilt selbst für das späte Mittelalter und noch weit darüber hinaus, obwohl immerhin in der Belletristik schon ab dem 13. Jahrhundert das Deutsche zu dominieren beginnt. Kann man die hier entstandene lateinische Literatur so einfach aus der

^ Vgl. dazu meine Rezension in: Poetica 24 (1992), S. 456-460. Dort wird übrigens der Titel von Bertaus Werk fatalerweise falsch zitiert. Vgl. Knapp (wie Anm. 1), S. 61-64. 5 Vgl. u.a. Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur (Sammlung Göschen 8005). Berlin, N e w York 1974, S. 13-17, 32f, 62-67.

Regionale Literaturgeschichte

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deutschen Literaturgeschichte ausschließen, wie es uns die neueren Überblicksdarstellungen weismachen wollen? Ist es vertretbar - um vorab nur ein Beispiel zu erwähnen die Regensburger ,Kaiserchronik' und die Weltchronik des Freisinger Bischofs Otto, die etwa zur selben Zeit in benachbarten altbairischen Diözesen entstanden, auf zwei völlig getrennte Literaturgeschichten aufzuteilen? Oder genügt es, lateinische Texte nach Lust und Laune fallweise selektiv heranzuziehen? Zum dritten: Was der Literaturgeschichtsschreibung ihre Legitimation zurückgegeben hatte, war die Erkenntnis gewesen, daß Produktion und Rezeption von Literatur zwar nicht von außerliterarischen Faktoren bestimmt werden, wie eine vulgärmarxistische Maxime wollte, doch auch nicht unabhängig davon erfolgen. Zu diesen Faktoren gehört ganz gewiß der subjektive Identifikationsraum der Produzenten und Rezipienten, d. h. der weitere oder engere geographische Bereich, dem sich ein Individuum zugehörig fühlt, ein realer Raum also, den aber nur gedachte Grenzen umschließen. Ein denkbarer Raum wäre etwa der deutsche Sprachraum. Daß dieser für irgendeinen mittelalterlichen Autor von Bedeutung war, muß in jedem Einzelfall aber erst bewiesen werden. Wir wissen heute, daß der mittelalterliche Literaturbetrieb grundsätzlich eher kleinräumig organisiert war. Werke entstehen in der Regel zuerst einmal für einen relativ kleinen Kreis von Gönnern und Zuhörern. Erst in einem weiteren Schritt erfolgt meistens, aber nicht immer, die Verbreitung durch Handschriftenkopien oder fahrende Sänger oder beide. Nicht die Erfindung des Buchdrucks an sich, sondern erst die Einrichtung zahlreicher Druckereien in der Neuzeit hat die Situation hier grundlegend verändert, so daß Autoren für ihre Leser, wo immer sie leben mochten, schreiben konnten. Die zumindest anfänglich geringe Reichweite eines Textes korrespondiert mit einer historischen Grundbefindlichkeit des Individuums. Der mittelalterliche Mensch weiß sich, bis auf relativ wenige Ausnahmen, eingebunden in eine ziemlich eng begrenzte Gemeinschaft wie einen Konvent, eine Pfarrei, eine Grundherrschaft, einen Hof oder eine Stadt, beziehungsweise in die nächsthöhere Einheit, eine Ordensprovinz, ein Bistum, ein Territorium oder ein Land. Obwohl Angehörige bestimmter Personengruppen von den großen Fürsten bis zu einfachen Pilgern auch damals erstaunlich weit in der Welt herumkamen und es natürlich überregionale Verklammerungen materieller und ideeller Art in reichem Maße gab, dominierte wohl im ganzen Mittelalter, wenngleich mit wechselnder Intensität, der nicht nur standes- und bildungsmäßig, sondern auch geographisch beschränkte Horizont. Die Fremde besaß so wenig Anziehungskraft, daß

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das altdeutsche Wort dafür, eilende, im Laufe der Zeit nur noch das Elend bezeichnete. Wieweit lateinische Bildung den räumlichen Horizont erweitem half, wäre wieder im Einzelfall zu prüfen. Viele Mönche kamen aber gewiß nicht nur körperlich nie über ihr Kloster hinaus. Umgekehrt brachte es die Fähigkeit, sich auch im fremdsprachigen Ausland auf Latein verständigen zu können, keineswegs notwendig mit sich, daß die Zugehörigkeit zu einem Sprachraum bedeutungslos werden mußte. Der vermutlich älteste Beleg dafür, daß sich ein Angehöriger eines Stammesherzogtums im ostfränkischen Reich als Deutschen bezeichnet, ist - wie könnte es anders sein - ein lateinischer.^ In einem Brief aus dem frühen 11. Jahrhundert nennt sich ein Augsburger Gelehrter, Ascelims Teutonicus, civis Angustae civitatis/ Zuvor hieß kein Franke, Sachse, Alemarme oder Baier zugleich auch Deutscher. Aber selbst bei diesem Askelin oder einem anderen wenig später bezeugten vir Teutonicus^ ist es keineswegs sicher, daß „deutsch" so etwas wie einen staatsrechtlichen Begriff meint. Es könnte bloß von einem Marm deutscher Muttersprache die Rede sein. Anders liegt der Fall dann bei der Bezeichnung regnum Teutonicum, die im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts aufkommt. In der lateinischen Geschichtsschreibung taucht er erst in den kurz nach 1073 redigierten ,Niederaltaicher Annalen' auf. Das ist haargenau dieselbe Zeit, da Papst Gregor VU. in seiner antiköniglichen Propaganda Heinrich IV., der sich selbst rex Romanorum nennt, 1074 als rex Teutonicorum tituliert, der über das regnum Teutonicorum regiert. Den Versuch, den Anspruch des Königs aus dem Norden auf das Imperium Romanum zurückzuweisen, versucht dann Lampert von Hersfeld zu konterkarieren, indem er gerade dem „König der Deutschen" die Herrschaft über Italien zuspricht. Auf Lampert geht schließlich das deutschsprachige ,Annolied' zurück, wenn darin erstmals und für lange Zeit auch das letzte Mal Alemannen, Baiem, Sachsen und Franken zusammen als Bewohner des diutischen landes erscheinen.9 Sonst überwiegt im folgenden bis zum Anbruch der Neuzeit die Pluralform „deutsche Lande" (dintschiu lant, diutsche lant, diutsch lant) bei weitem. Selbst der 1572 verstorbene Schweizer Geschichtsschreiber Agi-

^ Das Folgende v. a. nach Karl Ferdinand Werner, Deutschland. A. Begriff; geographisch-historische Problematik; Entstehung. In: Lexikon des Mittelalters HI. München 1986, Sp. 781-789. 7 Ebd., Sp. 786. 8 Ebd. 9 Ebd., Sp. 786f.

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dius Tschudi stellt dem Beierland, Schwabenland, Land zu Francken noch die tütschen lande gegenüber. Nur eine deutschnationale Fehlinterpretation ist es m. E. daher, wenn die berühmte Stelle im,Preislied' Walthers von der Vogelweide, wo dieser unser lant sagt,i° auf Deutschland statt auf das tatsächlich gemeinte Herzogtum Österreich bezogen wurde. Vermutlich ist der Singular diutschez lant im 15. Jahrhimdert, anders als der im,Annolied', überhaupt erst aus dem doppeldeutigen Plural diutsch lant entstanden." Allerdings taucht gelegentlich schon fniher die Bezeichnung diutschez riebe für regnum Teutonkum auf, häufiger aber ebenfalls erst im 15. Jahrhundert. Das lateinische Wort rectum entspricht den deutschen Ausdrücken lant und riche, das riche seinerseits aber den lateinischen Begriffen regnum und imperium. Nach der offiziellen Staatsauffassung der Staufer bestand das vom rex bzw. imperator Romanorum regierte imperium Romanum aus Burgund, Reichsitalien (regnum Italicum) und dem Kemgebiet, dem regnum Teutonicum, das nach Otto von Freising ursprünglich aus Lothringen, Friesland, Thüringen, Sachsen, Schwaben und Baiem zusammengesetzt gewesen sei (Chronica VI, 11),^^ wozu später noch weitere Gebiete, v.a. das Königreich Böhmen, gekommen seien. Hier gäbe es also das in jedem Geschichtsatlas wie selbstverständlich abgebildete „Deutsche Reich" des Mittelalters, das freilich keineswegs nur deutschsprachige, sondern auch Gebiete slawischer und romanischer Zunge umfaißte. Aber wie fte/verankert ein solches speziell Reichsbewußtsein in der Mentalität der Bewohner gewesen ist, wäre erst zu untersuchen. Lange kann es keinesfalls vorgehalten haben. Die politische Dichtung in mittelhochdeutscher Sprache des 13. und 14. Jahrhunderts meint mit riche stets das Imperium Romanum, mit künec oder keiser stets den römischen König oder Kaiser. Nur Ausländer bevorzugen aus naheliegenden Beweggründen den nationalen Kaiser- und KönigstiteL^^ Für Deutsche „bildete das Impe-

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Walther von der Vogelweide, Die Gedichte, hg. von Karl Lachmann, 13. Aufl. von Hugo Kuhn. Berlin 1965,57,13: der sol körnen in unser lant. Es könnte hier allerdings auch ein endungsloser Plural des Adjektivs vorliegen. So Rüdiger Schnell, Deutsche Literatur und deutsches Nationalbewußtsein im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hg. von Jürgen Ehlers (Nationen, Bd. VIII), Sigmaringen 1989, S. 247-319, hier S. 279. Ebd., S. 284. Ebd., S. 283. Ebd., S. 287f. Ebd., S. 289.

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rium, nicht das Regnum den staatlich-rechtlichen Identifikationsrahmen", wie Rüdiger Schnell feststellt.Die Formel „Heiliges römisches Reich" mit dem Zusatz „deutscher Nation", der den Universalanspruch einschränkt, findet sich in Anfängen seit 1442, in einem Gesetzestext erst 1486.17 Während also ein Deutsches Reich im engeren Sinn, wenn überhaupt, höchstens im 12. Jahrhundert und ab der Mitte des 15. Jahrhunderts eine wirksame mentale Realität gewesen sein karm, darf man dies für die deutschen Länder durchgehend und für die gesamtdeutsche Sprache spätestens ab dem 11. Jahrhundert mit Fug und Recht voraussetzen. Eine so wirklichkeitsnahe Quelle wie das ,Chronicon EUenhardi' vom Ausgang des 13. Jahrhunderts kennt einerseits das alte Land Schwaben, das damals bereits im staatsrechtlichen Sinne zu bestehen aufgehört hatte, noch als relevanten Begriffes und spricht andererseits bei der Auseinandersetzung zweier Reichsfürsten in dem nur noch nominell bestehenden Königreich Burgund, nämlich des Bischofs von Basel und des Grafen von Mömpelgard, von einem Kampf von Gallia gegen Theutonia.^"^]zns]3mtn Enikel^o teilt in seiner,Weltchronik' (von 1276/77?) die Deutschen, deren Zusammengehörigkeit ihm offenbar allein durch die Sprache gewährleistet erscheint, ein in die Schwaben, Franken, Sachsen, Thüringer, Meißner, Tiroler, Görzer, Baiem, Kärntner, Steirer und Österreicher (V. 27419-58). Die Ausdrucksweise wechselt zwischen Volks- und Landnamen. So spricht er einmal von der Swäben lant\ ein andermal sagt er ze Swäben. Andere deutsche Verstexte der Zeit zeigen ein ganz ähnliches Bild. Besonders interessant ist das Zeugnis Hugos von Trimberg, eines Bamberger Schullehrers aus der Zeit von ca. 1300, weil dieser ausdrücklich vor allem die Sprachen der Deutschen im Auge hat. Er zählt dieselben auf wie Jans, mit Ausnahme der Tiroler und Görzer, statt derer er die ihm näher liegenden Rheinleute, Wetterauer und Egerländer nermt. Die Sprachen unterscheidet Ebd., S. 288. Angaben nach Kuno Drollinger, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. In: Lexikon der deutschen Geschichte, hg. von Gerhard Taddey. Stuttgart 1979, S. 501. Dazu F. P. Knapp, Süddeutsche Literaturlandschaften in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Versuch ihrer Abgrenzung. In: Festschrift für Ingo Reiffenstein zu seinem 60. Geburtstag, hg. von Peter K. Stein u. a.. Göppingen 1988, S. 425-42, hier S. 433. 19 Schnell (wie Anm. 11), S. 271. Ausführlich zu den im folgenden besprochenen Stellen bei Jans und bei Hugo von Trimberg Knapp (wie Anm. 18), S. 427-429. Die Formulierungen sind zum Teil wörtlich von dort übernommen.

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er zwar durchaus nach ihrer (von ihm kraß karikierten) Lautung, aber selbstverständlich nicht nach modernen dialektologischen Kriterien. Von einer gesamtbairischen Mundart etwa hat er keine Ahnung, ebensowenig von deren Unterteilung in Nord-, Mittel- und Südbairisch. Statt dessen trennt er Baiem, Österreicher, Steirer und Kärntner. Den Grund dafür spricht er deutlich aus: Ein ieglich lant hat sinen site, Der sinem lantvolke volget mite. An spräche, an maze und an gewande Ist underscheiden lant von lande. (V. 22 259 - 22 262) Der entsprechende Terminus ist lantspräche, der eine große Sprachgemeinschaft wie das Englische ebenso bezeichnen kaim wie die regionale dialektale Variante eines kleinen Gebietes, wenn dieses rechtlich als Land gilt, z. B. des Egerlandes. Das Land ist gemäß der kürzlich im Anschluß an Otto Brunner gegebenen Definition Max Weltins „ein Personenverband, das heißt, die Interessengemeinschaft einer Anzahl lokaler Machthaber mit der von ihnen als übergeordnet anerkannten Instanz des L a n d e s h e r m " . 2 i Selbst wo sich dieser Personenverband aufgelöst hatte, konnten solche Länder noch eine gute Weile als ideelle Größen das Bewußtsein der Menschen, nicht zuletzt der Intellektuellen, bestimmen, wie uns die konstante Nennung der alten Stammesländer Schwaben, Franken und Sachsen zu einer Zeit beweist, da sie längst zerfallen waren.22 Wenn es in letzter Zeit mit Recht gefordert und unternommen wurde, die Geschichte der mittelalterlichen Literatur an einzelnen Fürstenhöfen oder in einzelnen Städten zu schreiben, so muß es nach dem Gesagten also mindestens ebenso legitim sein, ein Land als geographischen Rahmen zu wählen, desgleichen natürlich ein Bistum, gleichgültig ob der Bischof zugleich Landesherr war oder nicht, schuf doch auch die geistliche Jurisdik-

Max Weltin, Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfassungsgeschichtliche Forschung. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 107 (1990), S. 349-376, hier S. 371. Für Schwaben zeigt dies beispielhaft Klaus Graf, Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter. In: Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter, hg. von Peter Moraw (Beiheft zur Zeitschrift für Historische Forschung 14), Berlin 1992, S. 127-164.

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tion eine Gemeinsamkeit, die sich bei dem hohen Anteil geistlicher Literatur in jener Epoche entscheidend auswirken mußte. Eine solche regionale Literaturgeschichte sollte selbstverständlich nur neben die deutsche Literaturgeschichte, nicht an ihre Stelle treten, während es - nebenbei bemerkt um die Legitimation einer deutschen Geschichte des Mittelalters nicht gleich gut bestellt sein dürfte. Unter einer solchen räumlich eingeschränkten Perspektive wird es nun weit leichter fallen, neben der deutschen auch diefremdsprachigeLiteratur zu berücksichtigen, d. h. natürlich in allererster Linie die lateinische. Das habe ich in meiner Literaturgeschichte versucht, die aus Anregungen meiner alten Heimatuniversität Wien hervorgegangen ist und im Verlauf vieler Jahre dort und an der Universität Passau Gestalt angenommen hat. Gegenstand der Beschreibung ist die mittelalterliche Literatur in südöstlichen Regionen des Reiches, die zusammen ungefähr dem heutigen Österreich unter Einschluß einiger bairischer Randgebiete und Südtirols, jedoch ohne den alemannischen Teil (Vorarlberg), entsprechen. Damit soll einerseits dem Identifikationsraum eines gegenwärtigen Publikums, andererseits den tatsächlichen mittelalterlichen Verhältnissen Rechnung getragen werden. Osterreich in seiner heutigen Gestalt hat es im Mittelalter nicht gegeben, sondern nur die selbständigen Länder Tirol, Salzburg, Kärnten, Steiermark und Österreich. Und auch diese Länder bilden sich teilweise erst zu Beginn des Spätmittelalters als verfassungsmäßig selbständige Einheiten aus.^^ Für die Darstellung der früh- und hochmittelalterlichen Literatur müssen als räumlicher Rahmen daher die Bistümer Trient, Brixen uhd Passau sowie das Erzbistum Salzburg (mit seinen Eigenbistümem) an die Stelle jener Länder treten, obwohl sie mit ihnen nur annähernd deckungsgleich gewesen sind. Als Alternativen wären nur entweder die gesamte Kirchenprovinz Salzburg oder das süd- und mittelbairische Dialektgebiet in Frage gekommen. Beide hätten eine Einbeziehung der reichen Literatur Altbaiems^^ erforderlich, dagegen eine Erfassung der gesamten Literatur des Landes Tirol, dessen Südteil dem romanischen Sprachgebiet und der Kirchenprovinz Aquileja zugehörte, urmiöglich gemacht. Gegen die Wahl des Dialektgebietes hätte schon gesprochen, daß sich, wie oben ausgeführt, seit der Entstehung der neuen Länder Österreich 1156 und Steiermark 1180 kein Vgl. dazu Knapp (wie Anm. 1), S. 50-55. ^^ Vgl. F. P. Knapp, Literatur vom frühen zum späten Mittelalter (750-1350). In: Handbuch der Literatur in Bayern. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, hg. von Albrecht Weber. Regensburg 1987, S. 27-45.

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Zusammengehörigkeitsgefühl aller Sprecher des bairischen Dialekts mehr nachweisen läßt. Im Spätmittelalter kommt es im mittelbairischen Dialektgebiet geradezu zu einer Polarisierung, verursacht durch die Anziehungskraft der habsburgischen und wittelsbachischen Residenzen. Vor allem hätte die Einbeziehung Altbaiems den Plan wohl illusorisch erscheinen lassen, wirklich die gesamte lateinische und deutsche Literatur des ausgewählten Gebietes zu erfassen, es sei denn, man wollte, wie jetzt allgemein üblich, die Last auf mehrere Schultern verteilen. Gerade der Versuch, einen größeren historischen Abschnitt aus der einheitlichen Perspektive eines einzelnen zu überschauen, schien jedoch lohnend. Für den Zeitraum von den Anfängen im 8. Jahrhundert bis zum Jahr 1273, dem Beginn der habsburgischen Herrschaft, liegt das Werk nun vor als Band L^s Band II wird die Literatur in den Herzogtümern Österreich, Steier und Kärnten sowie im Erzstift Salzburg und in der Grafschaft Tirol von 1273 bis 1439 behandeln. Der zugrundeliegende Literaturbegriff ist ein sehr breiter. Es werden freilich Schriftdenkmäler, die rein technischen Charakter aufweisen und in ihrer Gebrauchsfunktion für die Lebenspraxis aufgehen, in aller Regel völlig ausgeklammert: Inschriften, Urkunden, Register, Gesetze, Personen-, Ämter-, Güterlisten, Arzneibücher etc. Theologische und historiographische Texte werden dagegen behandelt, obwohl hier und anderwärts der Literarhistoriker vieles nur aus zweiter Hand berichten kann. Aber auch bei den poetischen Denkmälern, die naturgemäß im Vordergrund stehen, ist es im einzelnen angesichts der Masse unmöglich, stets ad fontes zu gehen. Handbücher müssen häufig den Weg weisen, der dann leider auch in die Irre führen kann. Vorstellung und Interpretation der einzelnen Texte folgen natürlich in hohem Maße dem gängigen Muster einer ganz gewöhnlichen deutschen Literaturgeschichte. Den regionalen Zuschnitt erhält die Darstellung einerseits durch Auswahl, Anordnung und Querverbindung der lateinischen und deutschen Denkmäler, andererseits durch eigene Abschnitte mit dem Titel,Profil der Epoche', welche eine Zusammenschau unter regionalem Aspekt am Ende jeder dargestellten Literaturperiode leisten sollen. Dabei entsteht selbstverständlich keineswegs das Bild eines hermetisch geschlos-

Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (Geschichte der Literatur in Österreich, Bd. 1). Graz 1994. 666 Seiten.

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senen und autochthonen Literaturraumes, aber zumindest an einzelnen Stellen der Eindruck einer unverwechselbaren Eigenart. Ich nenne nur drei Beispiele. Das erste: Sämtliche frühen lateinischen und deutschen Denkmäler aus den Diözesen Passau und Salzburg vor der Mitte des 12. Jahrhunderts lassen sich in Produktion und Rezeption einem einheitlichen Stand, nämlich dem Regularklerus, zuordnen. Das zweite: In der Mitte des 13. Jahrhunderts zeichnet sich eine spezielle höfische Literatur ab, die für den mächtigen Adel des Landes Steiermark, also sozusagen als Landesliteratur, geschaffen wurde. Beide Beispiele kann man inzwischen in eigenen Veröffentlichungen^^ nachlesen. Das dritte habe ich in meinem Beitrag zu dem Südtiroler Walther-Symposion 1988 kurz angesprochen.27 Auch hier kann ich es gerade nur streifen. Es vermag jedoch, wie ich meine, besonders gut zu demonstrieren, daß regionale und interregionale Literaturgeschichte einander bedingen und voraussetzen. Der sogenannte frühe donauländische Minnesang ist als eigenständiges Gewächs aus vorliterarischen Wurzeln einigermaßen gesichert und am ehesten dem Wiener Hof nach der Mitte des 12. Jahrhunderts zuzuordnen. An Parallelen zur romanischen Liedkunst des früheren 12. Jahrhunderts fehlt es zwar nicht, aber zu ihrer Erklärung reicht wohl das gemeinsame kulturelle KJima adeliger Gesellschaft mit ihren mündlichen Traditionen aus. Daß wir die deutsche weltliche Lyrik jedoch just ab diesem Zeitpunkt in späterer Schriftüberlieferung greifen können, scheint mir trotz mancher Versuche immer noch weiterer historischer Begründung bedürftig. Klar erkennbar ist dagegen das Eindringen der sogenannten Hohen Minne auf verschiedenen Wegen aus der Romania. Im Werk Albrechts von Johannsdorf überlagern sich die beiden Konzepte, ja selbst noch bei Reinmar, der gleichwohl das neue auf die Spitze treibt. Im Detail fällt es gar nicht leicht, die parallele Entfaltung autochthoner Ansätze im mittleren Donauraum

F. P. Knapp, Sprache und Publikum der geistlichen Literatur in den Diözesen Passau und Salzburg vom Ausgange des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Regensburger CoUoquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel, Nigel F. Pahner. Tübingen 1992, S. 32-41. - Ders.: Literarische Interessenbildung im Kreise österreichischer und steirischer Landherren zur Zeit des Interregnums. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter, hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart 1993, S. 106-113. F. P. Knapp, .Walther von der Vogelweide vagus'. Der zwischenständische Sänger und die lateinische Literatur in ,Osterreich?'. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989, S. 45-60, bes. S. 50ff.

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und in der Romania von dem Ergebnisfremdenliterarischen Einflusses zu unterscheiden. Überraschenderweise trifft dies nun in ganz ähnlicher Weise auf die lateinische geistliche Lyrik zu, die ausgerechnet ebenfalls in der Mitte des 12. Jahrhunderts in der Diözese Passau und dem Erzbistum Salzburg einen - mit dem weltlichen Bereich durchaus vergleichbaren ungeahnten Aufschwung erlebt. Einen solchen hat die Hymnologie sonst nur in Nordfrankreich konstatiert und zuerst eine Parallelentwicklung angenommen, während sie neuerdings die österreichische Sequenzendichtung dieser Zeit doch in unmittelbarer Abhängigkeit vom französischen Vorbild sieht. Für diese Auffassung spricht die gemeinsame Trägerschicht der neuen limrgischen Lyrik hier wie dort, der Orden der AugustinerChorherren. Uber die quellenmäßig gut abgesicherten, zahlreichen Verbindungen der Chorherrenstifte Nordfrankreichs und des deutschen Südostens sind hierher auch westliche Theologie und Rechtskunde reichlich importiert worden. Nun gehört die weltliche Lyrik einem durchaus anderen sozialen Raum an und lebt, wie ich meine, vorläufig überwiegend in der hergebrachten Mündlichkeit, so daß die Annahme direkten literarischen Austausches überaus prekär bleibt, selbst wenn man in hierher gehörenden lateinischen Marienliedem ab und an Minnesangstöne zu vernehmen glaubt (z. B. Analecta Hymnica 54, Nr. 224: Salve, proles Davidis, Str. 12-13). Umgekehrt will eine rein zufällige Koinzidenz der Phänomene auch nur schwer einleuchten. Ich muß das Rätsel hier selbstverständlich ungelöst stehen lassen. Als literarhistorisches Rätsel, und als ein wahrhaft spannendes noch dazu, wird es uns aber überhaupt erst aufgegeben durch die neue Betrachtungsweise. Ich möchte sie die chomzentrische nennen. Die glossozentrische deutsche Literaturgeschichte vermag dergleichen offenbar nicht zu leisten. Die Erprobung des chorozentrischen Prinzips an anderen Regionen sollte sich lohnen.

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Dichtung und Raum Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen,Literaturgeographie'

1. Probleme und Fragen Die Frage nach einer,Literaturgeographie' in und neben Literaturgeschichte ist - auch - der mittelalterlichen Literaturwissenschaft aufgegeben. Neben den Zeitkoordinaten bestimmen die Koordinaten des Raumes den Menschen, sein Leben, seine Kultur, seine Identität. Allerdings scheint es - aus welchem Grund auch immer - schwieriger zu sein, die räumlichen Faktoren von Identität zu bestimmen, als die der Zeit. Wir sind gewohnt, Kulturphänomene zeitlich zu ordnen und zu verstehen: „Man kann sich historischen Prozeß im Bilde entwerfen, als Entwicklungsbogen, welcher Jahrhunderte überspannt. Da wird dann die Einzelheit zum in sich kaum bewegten Steinchen jener Arkade, die jahrhunderteschnell, aber eben doch: irgendwann einmal, vollendet ist, und in jenem erdachten AugenbKck den erkannten Geschichtsprozeß ans Ende seines Lateins geführt hat." Zwar sei, so Karl Bertau, gegen einen Blick, der diesen Bogen leicht erkenne, Mißtrauen angebracht, aber der Kulturwissenschafder arbeite mit diesem Bogen, der die Jahrhunderte und die Epochen überspannt und die Zeit ordnet.^ Er arbeitet aber auch mit einem Bogen, der die Räume überspannt. Mit der Ordnung des Raumes scheint es allerdings weniger leicht zu gehen. Liegt das daran, daß wir in die Zeit, in eine Epoche, ein für allemal hineingeboren sind, unabänderlich, daß wir Räume aber wechseln können. 1 Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde. München 1972/ 1973, hier Bd. II, S. 917. - Ebenbauers Beitrag ,Dichtung und Raum' erscheint modifi2iert auch in: Morgenschtean. Die österreichische Dialektzeitschrift 17/93.

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daß wir nicht in eine andere Zeit, wohl aber in einen anderen Raum übersiedeln können? Jedenfalls, wenn es um räumliche Zugehörigkeit geht, geraten verschiedene Identitäten in einen schwebenden, oszillierenden Zustand, ein Schwanken, das vom Weltbürgertum bis zum Geburtsort-Patriotismus reichen kann. Literatur aus ihrer Zeit heraus zu verstehen ist nicht leicht, aber wie versteht man sie aus dem Raum heraus? Muß man am Comosee gewesen sein, um Manzoni zu begreifen? Erschließt sich Joyce nur dem, der in Dublin war, Hölderlin nur für den Kenner Schwabens? Bei Fragen dieser Art geht es natürlich nicht um Herkunft oder Wohnort, es geht um ,identifikatorische' Räume - und die sind schwer zu bestimmen, da in ihnen ein Zug von Freiheit liegt. Mag sich der prägende Einfluß eines Zeitalters, einer Epoche, eines Jahrhunderts, auf die kulturelle Produktion (vielleicht) noch einigermaßen bestimmen lassen, die Beschreibung prägender Räume gerät nur allzuleicht in den Bannkreis des Geheimnisvollen: Was ist typisches Wesensmerkmal eines schwäbischen Dichters? Ist Schnitzler ein typischer Wiener und gehört Handke wesensmäßig zu Kärnten oder Osterreich? Und was ist mit Walther von der Vogelweide?

2. Der ,Fall' Walther: Heimatschein, Literaturförderung und Literaturzentren „Walther [von der Vogelweide] ist der Österreicher als Einzelner, sein Urbild im Lichtkreis des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, wie die Nibelungen das österreichische Volk als Ganzes in seiner Vergangenheit und Zukunft. Sein gutgelaunter Witz und die Spotdust, die sich am eigenen Herzen wetzt, zaubern uns den zeitlosen Wiener vors Auge. Ein liebenswürdiger Schelter, gemütsfroh, tiefernst, in vergeblicher Mühe die Fäden seiner Zeit entwirrend. Rasch gekränkt, ein Tasso, der sich seiner Größe voll bewußt ist, dem die Galle leicht ins Blut tritt. Wem fallen nicht spätere Landsleute ein? Der scheele Blick machdoser Neider, die Handbewegung eines Großen, die kaum merklich die Grenze wies zwischen Herr und Dienstmann, scheuchte ihn auf, warf ihn ins Gewoge sprudelnden Zornes. Stets auf einer Seite, ein Bild dies zwiespältigen Volkes, das, so manchen fremden Tropfen im Blute, allzuleicht mit den wechselnden Fluten rollt. Doch ein Mensch grundehrlich und peinlich offen. Vor seinen Grobheiten schützte kein Herzogsmantel. [...] Ein Reichsgänger, den die Heimat ziehen ließ, der österreichische Dichter ohne Beruf, dem der Homung arg

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an die Zehen fror. Das herbe Schicksal des Donautales lastet auf ihm. Er verzehrte sich in Zorn und Not für die Sache des Reiches. Wer lohnte ihn? Auf dem kleinen Lehen, das der Greis erhielt, wird er sich kaum mehr die Kälte, die Verachtung, die Demütigung eines lebenslangen Fahrens auf allen Straßen aus dem Leibe gewärmt haben. Was er war, das ist er ganz gewesen: sein Land, sein Stamm, seine Zeit." So hat Josef Nadler in seiner berühmt-berüchtigten ,Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften'2 den „Österreicher" Walther von der Vogelweide^ charakterisiert. Alfred Kracher^ ist ähnlicher Meinung, wenn er das Österreichertum Walthers hervorhebt und „im Persönlichen und in der Dichtung" eine Verwandtschaft zwischen dem Minnesänger und Josef Weinheber, zwei echten österreichischen Dichtem, konstatiert. Anders sah das Rudolf Wustmann^ im Jahre 1913: „Walther [...] hatte nicht das weichere, lässigere Künstlertemperament, das dem Österreicher eigen ist, sondern war von Hause aus ein kantiger, quellfrischer, witziger Mensch von zarter Zurückhaltung und kecker Schneide." Der „kantige" und „quellfrische" Walther könnte nun gut nach Südtirol passen, und bekanntlich gibt es zahlreiche Forscher, die den Vogelweidhof im Lajener Ried am Anfang des Grödnertals als Walthers Herkunftsort ansehen. 1874 wurde dort auch eine Gedenktafel für Walther angebracht, und 1889 folgte die Waltherstatue in Bozen, bei deren Enthüllung Karl Weinhold ausrief: „Kein Parlament bezeugt urkimdlich, daß Walther von der Vogelweide als Kind dieses herrlichen Landes geboren ist." Aber: „Das schöne Marmordenkmal, das über uns leuchtet, ist der Heimatschein." So also lassen sich Dichter einbürgern und regionalisieren. Der Hintergrund solcher Einbürgerungen und solcher Heimatscheine ist bekannt. Das Bozener Waltherdenkmal wurde zu einem Stück Geschichte des 20. Jahrhunderts. Walther und sein Denkmal galten (und gelten?) als Symbol des Deutschtums im Grenzraum zu Italien. Nicht anders sahen das die italienischen Nationalisten, denen das Denkmal ein

2 Josef Nadler, Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1. Berlin, 4. Aufl. 1939, S. 134ff. ' Textstellen nach: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, hg. von Carl von Kraus. Berlin, 12. Aufl. 1962. Alfred Kracher, Walthers Heimat: Franken oder Österreich? In: Medisevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor. München 1971, S. 255ff., bes. S. 276f. 5 Rudolf Wustmann, Walther von der Vogelweide. Straßburg 1913, S. 6.

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Dorn im Auge war. In Trient wurde mit Blick auf das Waltherdenkmal 1896 eine Dantestatue errichtet. Mussolini verglich Walther mit einem kleinen Hügel neben dem Bergriesen Dante, und das Waltherdenkmal wurde zum Gegenstand eines Rededuells zwischen Gustav Stresemann und Mussolini (1926). Proteste verhinderten zunächst die Demontage. Am 23.3.1935 wurde es dennoch abgetragen und im abgelegenen Rosseggerpark aufgestellt. 1964 beschloß der Bozener Gemeinderat die Rückführung, da aber nichts geschah, bildete sich 1974 ein Bürgerkommittee. Am 2.11.1981 kehrte der steinerne Dichter auf den Waltherplatz zurück. (1984 mußte er einem Garagenbau weichen, seit 5.4.1985 steht er wieder auf seinem Platz.)^ Auch wenn kein Mensch es beweisen kann, auch wenn keine Zeile des Dichters darauf Bezug nimmt, steht er also da, der größte mittelalterliche Lyriker, eingebürgert durch den steineren Heimatschein, das Denkmal, und durch diese Einbürgerung ein Aushängeschild der (süd-)tirolischen Literatur, der (süd-)tirolischen Kultur und des (süd-)tirolischen Patriotismus. Der uferlose Streit um die Heimat Walthers von der Vogelweide (Böhmen, Schweiz, Franken,^ Frankfurt, Tirol, Niederösterreich)® kann als Paradigma für den Problemkomplex ,Dichtung und Raum' gelten. Freilich ein Negativparadigma. So geht es sicher nicht. Der vazierende Poet,^ dessen Kennzeichen die Unstetigkeit ist, der an vielen Orten daheim war und dessen Heimat wir nicht kennen, läßt sich nicht ,regionalisieren', läßt sich nicht durch geheimnisvolle Zusammenhänge zwischen Volk, Landschaft und Dichtung, nicht durch patriotische Einbürgerung ,verunsrigen'. Das Einzige, was an diesen Versuchen und Vereinnahmungen von Interesse

' Dazu ausführlich Georg Mühlberger-E.Taparelli, Walther von der Vogelweide. Bozen 1985. Vgl. zum Thema Waltherdenkmal auch Walther. Dichter und Denkmal, hg. von Oswald Egger und Hermann Gummerer. Wien / Lana 1990. 7 Bertau (wie Anm. 1), S. 1104f. gefällt der Gedanke, sich Walther (nach Karl Bosls ,Feuchtwangen'-Theorie) als Nachbarn Wolframs vorzustellen. ® Dazu Alfred Ebenbauer, ist mir unbekant (...) Hut und lant, dar inn ich von kinde bin erzogen/gebom. Zur Suche nach der Heimat Walthers von der Vogelweide. In: Das Waldviertel 4, 1991, S. 301-317. 9 Walther 31,13ff.: Ich hän gemerket von der Seine unz an die Muore, von dem Pfade unz an die Traben erkenne ich al irfuore. „Von der Seine bis zur Mur habe mich umgeschaut, vom Po zur Trave ketme ich das Treiben der Menschen."

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ist, ist die Wirkungsgeschichte solcher Mythen. Walther als frankischer Künder eines idyllisch-harmonischen Mittelalters ist etwas anderes als der Kämpfer gegen den römischen Trug im deutschen Kulturkampf; und wieder anders wirkt der Dichter als Südtiroler, der als „Urbild germanischen Wesens" an der Grenze zu Italien Patriotismus mobilisieren soll, oder als Urbild des Österreichers. Aber ist die Frage der räumlichen Bezüge der Waltherschen Dichtung damit erledigt? Wir wissen nichts über die Herkunft und den Menschen Walther, nichts über seinen Charakter und seine Heimat. Ist er deswegen ein Kosmopolit, ein Weltbürger der Dichtung? Wilhelm Wilmans (1913)1° hielt Walther für einen deutschen Patrioten: „Sein Patriotismus besteht in dem Bewußtsein des Gegensatzes zu fremden Nationen und in dem Stolz auf die Eigenart; er ist das ungeläuterte Gefühl der Nationalität und Rasse. Aber auch das ist etwas wert; es zeigt, daß die Stammesunterschiede zurückwichen und sich die Grundlage für eine umfassendere Einheit bildete." Im sogenannten ,Preislied' (Walther 56,14ff.) komme das am herrlichsten zum Ausdruck. Bekanntlich hat die Stelle Von der Elbe unz an den Rin (Walther 56,38; vgl. auch 31,13f. in Anm. 9) mit dem Motiv vom Grenzstrom Hoffrnann von Fallersleben im „Deutschlandlied" inspiriert: Von der Hemel bis zum Belt. Also Walther - wenn schon nicht ein typischer Südtiroler, Franke oder Österreicher, dann doch ein echter Deutscher! Kurt Herbert Halbach^ ^ hat mit Recht bestritten, daß es bei Walther um National-Liberalismus im Sinne Uhlands oder Bismarcks ginge, die Linie führe von Walther „kaum zu Hoffmann von Fallersleben", sie führe zu Hölderlins Gesang der Deutschen oder zum Gedichtentwurf Deutsche Größe von Schiller. Ob das dem Dichter Walther gerecht wird? Walthers Gedicht ist ja - so Halbach (S.66) - „defensiv, als ,Antwort' auf einen leicht chauvinistischoffensiven ,Nationalismus' des Proven^alen Peire Vidal [...], gegenüber den tölpischen Deutschen". Femer wiU Walther mit seinem Preis der tiutschen vrouwen den Frauenpreis Reinmars überbieten, und seine Bitte um Lohn der Damen und Gunst des Herrn hat durch die Antithese „weiter Raum - unser lant" einen eigenen Beigeschmack.

Wilhelm Wilmans, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide, (Germanistische HandbibUothek I), Bd. I. Halle/Saale 1916, S. 294. Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, (Slg. Metzler 40). Stuttgart 1965, S. 66f.

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Der ,patriotische Deutsche' Walther, Walthers deutsches Heimatgefühl steht also auch nicht außer Frage. Dennoch, wer wollte bestreiten, daß Walther ein deutscher Dichter ist? Schließlich dichtet er in deutscher Sprache. Wir sind gewohnt, die Literatur(en) nach der Sprache zu definieren. Es gibt keine Geschichte der Weltliteratur, wie sie Goethe gefordert hat, und auch keine europäische Literaturgeschichte, auch nicht trotz Karl Bertaus ,Deutscher Literatur im europäischen Mittelalter'^^ für das Mittelalter. Literaturbetrachtung ist nationalsprachlich bis in die Struktur der Universitäten. Die Komparatistik ist ein kleines, exotisches Fach.i3 Und doch ist auch hier die Sache komplexer als es den Anschein hat. Das Geplänkel mit dem Provenfalen Peire Vidal weist ja nicht nur auf einen patriotischen Schlagabtausch, sondern auf eine weiträumige literarische Kommunikationsgemeinschaft, auf eine Kommunikationsgemeinschaft, die über die Grenzen der Nationalsprachen hinweggeht. Der an der Nationalsprache orientierte Begriff der Nationalliteratur hat seine deutlichen Grenzen - und das gerade im Mittelalter, Das zeigt auch in besonderer Weise das Beispiel Frankreichs und Englands im Hochmittelalter. Mit der normannischen Eroberung Englands 1066 und der Etablierung der angevinischen Herrschaft kommt es dazu, daß 1154 mehr als die Hälfte Frankreichs politisch zu England gehörte, wo man allerdings in der Oberschicht anglonormannisch (französisch) sprach. Südfrankreich gehörte zwar zum Herrschaftsbereich der französischen Kapetinger, hatte aber seine eigene Sprache (okzitanisch, proven^alisch). Was kann und muß da nun als englische, was alsfranzösischeLiteratur des Mittelalters gelten? Obsolet wird der Begriff der Nationalliteratur, der sich an dem der Nationalsprache orientiert, auch angesichts der mittellateinischen Literatur. Ihr Kennzeichen könnte nun gerade ihre ,Intemationalität' sein, wenn nicht doch auch hier wiederum regionale Zuordnungen in Frage stünden. Das Problem wurde viel diskutiert und ist kaum lösbar: Der Scholastiker Hugo von St. Viktor war sächsischer Herkunft, wirkte aber in Paris - er läßt

Bertaus Literaturgeschichte weitet zwar den Blick aus, gibt sich allerdings in geographischen, kulturräumlichen Zusammenhängen äußerst zurückhaltend. Vgl. Fritz Peter Knapp, Gibt es eine österreichische Literatur des Mittelalters? In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert (10501750), hg. von Herbert Zeman, Teil 1. Graz 1986, S. 60. i'» Ebd., S. 60ff.

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sich kaum nationalisieren; doch ein Beda Venerabiiis oder ein Widukind lassen sich aus der Geschichte ,ihrer' Völker kaum wegdenken. ^^ Aber ist Walther nicht doch auch ein ,deutscher Patriot'? Zu seinen bekanntesten Texten gehören die ,Reichssprüche', seine Auseinandersetzungen mit der Kaiser- und Reichsidee. Aber das hat nichts mit Heimatgefühl oder Patriotismus zu tun. Das riche hat bei Walther die traditionelle Rolle eines übergreifenden Ordnungsfaktors, der Kaiser ist Wahrer des Friedens und des Rechts, Beschützer der Kirche. Walther formuliert in seinen Sprüchen wichtige Aspekte der unter Friedrich I. Barbarossa und dann unter Friedrich H. ausgeformten Kaiseridee, die aber angesichts des Ausbaus der Territorien im 13. Jahrhundert bereits zu einem überholten Leitbild wird.i^ Doch abgesehen davon: Das mittelalterliche sacrum imperium der Deutschen ist zwar ein literarischer Faktor ersten Ranges (Reichsdichtung!), aber sicher kein regionales Bestimmungselement. Es geht dabei um Herrschaft nicht um Heimat; auch werm das imperium ein regnum TeHtonicorum war, auch wenn die Herrschaftsrechte in Italien oder anderen Reichsteilen immer wieder durchgesetzt werden mußten, es war ein Römisches Reich. Zu diesem politischen Gebilde gehörte der „Bergriese" (Mussolini) Dante aus Florenz nicht weniger als der ,Deutsche' Walther von der Vogelweide aus ,Irgendwo'. Nun gibt es freilich - wie aus Walthers Gedichten deutlich wird durchaus regionale Fixpunkte für das Leben und Schaffen dieses Dichters. Es ist nicht zu bestreiten, daß Walther eine Affinität zu Wien hat. Als er 1198 nach dem Tod Herzog Friedrichs L Wien verlassen muß, do gieng ich slichent als ein pfäwe swar ich gie, / daz houbet hanht ich nider unz üf miniu knie (19,32f.); der wünnecliche hofze Wiene gehört neben Gottes Huld und der Miime seiner Dame zu Walthers höchsten Gütern (84,lff. Dri sorgen habe ich mirgenomen). Und beharrlich klopft der Dichter an dersxlden tor, das ihm freilich verspart bleibt (20,31ff.). Auch teilt uns Walther mit: Ze Osterriche lernt ich singen und sagen (32,14ff.). Von 70 ,Herrensprüchen' Walthers beziehen sich mindestens 14 auf österreichische Fürsten, davon

>5 Ebd., S. 64f. Ursula Schulze, Zur Vorstellung von Kaiser und Reich in staufischer Spruchdichtung bei Walther von der Vogelweide und Reinmar von Zweter. In: Stauferzeit. Geschichte-Literatur-Kunst, hg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum und Peter Wapnewski, (Karlsruher Kulturwiss. Arbeiten). Stuttgart 1978, S. 206-219; wieder in: Die Reichsidee in der deutschen Dichtung des Mittelalters, hg. von Rüdiger Schnell, (WdF 589). Darmstadt 1983, S. 403-421.

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11 auf Herzog Leopold. Zählt man die Namensnennungen österreichischer Herzöge, Wiens und Österreichs zusammen, so kommt man etwa auf die gleiche Zahl wie die der Nennungen aller anderen Fürsten in Walthers Gedichten - eine Rechnung, die Kracher^^ angestellt hat. Nach Österreich (Zeiselmauer) weist schließlich auch der einzige urkundliche Beleg für Walther, die berühmte Pelzrockurkunde. Wenn Walther also irgendwo Heimatrecht genießen könnte, dann in Österreich, am babenbergischen Hof zu Wien. Es war freilich ein - für den Dichter - fatales Heimatrecht, ein Heimatrecht, das zugleich die Ausbürgerung zu enthalten scheint. Aber abgesehen vom biographischen Aspekt, abgesehen von der Frage, warum Wien für Walther diese magnetische Anziehungskraft hatte, Tatsache ist, daß Walther in Wien wirkte. So kann er mit einem gewissen Grund als österreichischer Dichter gelten - wo immer auch seine Wiege gestanden sein mag. Schließlich gehört ja auch der Rheinländer Beethoven zur Wiener Klassik (oder nicht?). Ganz präzise ist eine solche Verösterreicherung des Wanderpoeten Walther allerdings nicht. Wir müßten wohl eher von einem babenbergischen Dichter Walther sprechen, der später - nicht zu einem thüringischen, sondern zu einem Dichter Herrmanns von Thüringen wurde. Das, worum es geht, ist deutlich. Zentrum mittelalterlicher Literaturproduktion war nicht ein Land, nicht ein Territorium, sondern der Hof, war der Fürst und Herrscher. Das Verhältnis des Poeten zum Herrscher ist das des Abhängigen von seinem Gönner, seinem Mäzen. Als Mäzene stehen die Babenberger sicher in der ersten Reihe, was freilich wiederum kein Anlaß zum Preis der musischen österreichischen Seele ist, derm die Babenberger kommen bekanntlich aus dem fränkischen Bamberg. Das Mäzenatentum der Babenberger (seit 1156 Herzöge) reicht bis Heinrich II. Jasomirgott (gest. 1177) zurück, derm der früheste (donauländische) Minnesang (die Burggrafen von Regensburg und von Rietenburg waren wohl Neffen Heinrichs) weist nach Wien. Unter Friedrich I. (gest. 1198) wirkten dann der Elsässer (?) Reinmar und Walther in Wien (wenn nicht Günther Schweikle mit seiner Kritik recht hat, wonach Reinmar nicht Reinmar von Hagenau und nicht in Wien war). Leopold VI. ( 1 1 9 8 - 1 2 3 0 ) scheint dann eher ein Banause gewesen zu sein. Unter Friedrich E. (gest. 1246) finden wir in Wien den Bayern Neidhard und den Tannhäuser. Das ist schon eine beachtliche Tradition, neben der klassischen ,Wiener Schule'

Alfred Kracher (wie Anm. 4), S. 270.

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und der modernen ,Wiener Schule' (Schönberg, Berg, Webern) und der ,Wiener Schule des Phantastischen Realismus' kann sich die .Wiener Minnesängerschule' durchaus sehen lassen - auch wenn sie oder richtiger: gerade weil sie aus ,Zugereisten' besteht. Mit der Hof- und Mäzeneforschung hat die Literaturgeschichtsschreibung sicher festeren Boden unter den Füßen, auch wenn die Mediävisten angesichts der schmalen Materialbasis immer noch häufig im Sumpf der Ungewißheit waten müssen. Joachim Bumke hat in,Mäzene im Mittelalter' das Material gesichtet und zusammengestellt, i® Die Höfe hatten ihre Anziehungskraft, sie waren Zentren, Metropolen der feudaladeligen Welt. Neben diesen adeligen Höfen stehen die Klöster und - besonders in Frankreich - die Kathedralschulen als Zentren der lateinischen Bildung und der lateinischen Literatur. (Soll man diese lateinische - Literatur deshalb französisch nennen?) Fürstenhöfe, Klöster, Kathedralschulen - das waren die Zentren der literarischen Produktion des frühen und hohen Mittelalters. Dazu kommen im 13. Jahrhundert die aufstrebenden Städte^^. Soweit die Städte Fürstenhöfe beherbergten (z. B. Wien) überschneiden sich fürstliche und städtische Literatur. In Basel lernen wir durch Konrad von Würzburg einige städtisch-patrizische Mäzene kennen und Zürich wird im 13. Jahrhundert zu einem Sammelplatz der höfischen Lyrik. Zentrenliteratur, Metropolenliteratur - dazu gibt es im Mittelalter keine Alternative, denn auch das kleine Kloster (sei es Melk), in dem ein frommer Mönch sich ein Gedicht abringt (sei Heinrich von Melk) ist Zentrum, ist Metropole. Was drumherum liegt, ist nicht Provinz, sondern Wildnis. Literatur und Bildung sind Angelegenheit von wenigen Leuten, und die befinden sich in den Zentren. An vielen solchen Zentren hat sich Walther herumgetrieben, seine Feder auch in den Dienst verschiedener Herren gestellt, von einem (Wolfger) wissen wir auch, wie er ihn entlohnt hat. In einem dieser Zentren (Wien) Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300. München 1979; vgl. J.Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, 1986, S. 638ff. Vgl. Ursula Peters, Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und M.Jahrhundert, (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7). Tübingen 1983, die die traditionelle Antithese ,adelig-bürgerlich' in Frage stellt und die städtische Literaturpraxis in der ,Übergangszeit' zwischen der Hofdichtung des 12. und der städtischen Literatur des 15./16. Jahrhunderts untersucht.

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hat er singen und sagen gelernt, woanders ist er vielleicht mit der romanischen, woanders mit der lateinischen Literatur und Bildung in Kontakt gekommen. Sehr leicht ist Walther jedenfalls nicht zu ,regionalisieren'. 3, Literaturgeographisches in de Boors »Geschichte der deutschen Literatur' Die räumliche Zuordnung eines Autors kann erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Wie steht es mit einer Erfassung der Literaturproduktion eines Raumes? Blickt man in eine (mittelalterliche) Literaturgeschichte, so dominiert auf den ersten Blick die sprachliche Zuordnung. Man greift zu einer französischen, englischen, italienischen oder deutschen Literaturgeschichte. (Die lateinische Literatur wird meist in irgendeiner Weise integriert oder ausgeschlossen). Die Werke selbst folgen - wie sollte es auch anders sein - einer chronologischen Anordnung. Aber wie sieht es mit dem Raum aus? Ich schlage vor, wiederum einen exemplarischen Fall zu prüfen, und blättere die ,Geschichte der deutschen Literatur' von Helmut de Boor^o nach räumlich-geographischen Ordnungsprinzipien durch. Im Band I (,Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung') wird bei der althochdeutschen Literatur nach Textsorten (Glossen, Zaubersprüche etc.) und nach der Chronologie vorgegangen, wobei Regionen durch die von der Sprachgeschichte vorgegebenen Grenzen („die Stämme deutscher Zunge") oder durch kulturhistorische Zentrenbildung (Klöster: Fulda, St.Gallen etc.) definiert werden. Das Sachregister weist die alten Stammesbezeichnungen und einige Regionen (z. B. Elsaß) aus. Das ist traditionell und sinnvoll, denn die germanischen Stämme der Sachsen, Franken, Baiem, Alemannen etc., die in dieser Zeit politisch zusammenwachsen, lassen sich sprachlich und politischhistorisch einigermaßen klar voneinander abgrenzen. Mit den Anfängen der (ftüh-)mittelhochdeutschen Literatur um 1060 treten am Niederrhein bei Köln und in Österreich zwei Landschaften Helmut De Boor, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 1-3,1. München 1971-1973; ich habe nicht die neueren überarbeiteten Auflagen verwendet, sondern die von de Boor verantworteten. Bd. 1. München 1949, 8. Aufl. 1971; Bd. 2. München 1953, 8. Aufl. 1969, bearb. von Ursula Hennig; Bd. 3.1. München 1962, 4. Aufl. 1973.

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hervor, die bisher stumm waren (Bd.I, S. 144). Dann kommt Bayern mit seinem Weifenhof (Mäzenatentum!) ins Spiel. Im zweiten Band (,Die höfische Literatur'), der der hochhöfischen Zeit gewidmet ist, tauchen irn Inhaltsverzeichnis regionale Begriffe (z. B. Österreich, Mitteldeutschland) auf. Für das Sachverzeichnis sind die Raum- oder Ortsangaben offensichtlich nicht wichtig genug - es gibt da kein Bayern, kein Tirol, kein Wien und kein Thüringen. Natürlich finden wir bei de Boor einen Abschnitt über „Veldekes Nachfolger in Thüringen", eine Autorengruppe, die sich am Hofe des Mäzens Hermann von Thüringen versammelte (vgl. o.). Mit einem Herrscher(geschlecht) ist auch der Abschnitt über „Die staufische Lyrik" verbunden, während das Kapitel „Fortleben der höfischen Epik im staufischen Raum" über den „Dichterkreis" um Heinrich VII. und Konrad von Winterstetten hinausreicht und (neben Rudolf von Ems) auch den Basler Konrad Fleck (um 1205) und Ulrich von Türheim miteinbezieht - und so das Gebiet des Oberrhein mit dem staufischen Raum gleichsetzt. Ist dieses Vorgehen berechtigt? Im Kapitel „Die späte Epik in Osterreich" bespricht de Boor die Literatur eines politischen Gebildes Österreich, im Abschnitt „Die späthöfische Epik auf mitteldeutschem Gebiet" Werke, die einem geographischen und dialektalen Bereich zugehören, ohne daß man von offensichtlichen historischen Zusammenhängen sprechen könnte. Geographisch ist auch die Zusammenstellung der frühen Lyrik unter „Der donauländische Minnesang", da de Boor darauf verzichtet, einen direkten Zusammenhang dieser Dichtungen mit dem Babenberger Hof in Wien herzustellen (wie dies Bumke tut). Ahnlich steht es mit der „Aufnahme der provenzalischen Lyrik am Oberrhein", die mit der „staufischen Lyrik" in Bezug hätte gebracht werden müssen. Im Band III/l (,Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn'), der kein Sachregister enthält, wird dann u.a. die „Epische Dichtung im rheinisch-niederdeutschen Raum" besprochen, es folgen „Die großen österreichischen Landeschroniken" und die „Nachfahren der Wiener Schule" (deren „Vorfahren" kein vergleichbares Kapitel bekommen haben), schließlich noch „Thüringen und der Osten" und die Schweiz mit dem Kapitel „Späte Schweizer" (das den Basler Konrad Fleck nicht ausweist). Daß das Einfließen regionaler Begrifflichkeit nicht systematisch ist, sondern dem Prinzip einer mehr intuitiven Gruppierung unterliegt, ist klar. Die Räimie werden definiert nach späteren (Schweiz) oder damaligen (Öster-

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reich) politischen Gebilden, nach fürstlichen Einflußräumen („staufischer Raum"), nach Fürstenhäusern (Thüringen), nach der geographischen Geschlossenheit (Donauraum), nach sprachlicher Zusammengehörigkeit (mitteldeutsch). Aber es wäre billig, diese methodische Ungenauigkeit in Bausch und Bogen zu verwerfen, denn: Alle diese Argumente können m.R. für die Literaturforschung und Literaturgeschichte fruchtbar gemacht werden, und alle beruhen auf zutreffender Materialbasis. Es ist tatsächlich nicht zu bezweifeln, daß der deutsche Nordwesten für den Begirm der fi^hhöfischen Epik eine wichtige Rolle spielt: Trierer Floyris, Heinrichs von Veldeke Eneit, Eilharts Tristrant. Man karm dafür verkehrstechnische Gründe geltend machen: „Hier war die kulturelle Verbindung mit dem ständisch und künstlerisch fortgeschritteneren französischen Sprach- und Einflußgebiet, Kenntnis der französischen Sprache und Literatur am weitesten verbreitet und die Aufnahmebereitschaft daher am offensten." (de Boor E, S. 21) Problematischer wird es für die hochhöfische Epik (II, S. 63ff.), d. h. den Schweizer Hartmarm, den Elsässer Gottfried und den Ostfi-anken Wolfram, die zwar - wegen ihrer Prominenz - zu keinem regionalen Kapitel zusammengefaßt sind, die de Boor aber doch zusammenschauen möchte: „Es ist der obere Rhein mit seinen östlichen Nachbargebieten, der im engeren Sinne ,staufische' Raum." Und er betont: „Es gibt in jener Zeit wirkliche Literaturlandschaften." Und zu dieser ,epischen Literaturlandschaft' gehören neben den drei Großen auch der Basler Konrad Fleck, der Thurgauer Ulrich von Zatzikhoven, und der Franke Wimt von Gravenberc. Was aber hat das „östliche Nachbargebiet" des „staufischen Raumes", nämlich Wolframs Franken, wirklich mit dem Oberrhein zu tun? Was auch immer die Beziehungen zwischen Gottfried und Wolfram gewesen sein mögen, unter dem Begriff des ,staufischen Raumes' möchte man sie eigentlich nicht zusammenbringen. Wolfram und Gottfried sind sicher nicht Schiller und Goethe eines ,staufischen Weimar'. Die alemannisch-frankische Epiklandschaft Hartmanns, Gottfiieds und Wolframs hat aber vielleicht doch eine gewisse Bedeutung, werm man Bayern und Österreich dagegenstellt, die sich auf dem Sektor des ,höfischen Romans' fast ganz zurückhalten, hingegen im Bereich des höfischen Heldenromans {Nibelungenlied, Klage) brillieren: ritterliche Buchepik mit heroischen Stoffen ist bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts nur in Österreich bekannt (II, S. 151). de Boor hält fest: „Wir glauben vielmehr, daß es Literaturlandschaften gegeben hat, und daß Österreich in seiner ritterlichen

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Epik so eigenständig gewesen ist wie in seiner Lyrik." Konsequenterweise kommt es in Osterreich auch zu einer reichen Spätblüte des heroischen Romans (H, S. 172). Bei der Lyrik haben wir das erstaunliche Phänomen, daß eine frühe, vom französischen Vorbild deutlich abzugrenzende Werkgruppe in den bayrischen und österreichischen Donauraum gehört („donauländischer Minnesang"), während die Einformung des provenzalischen Minnesangs unter Barbarossa „eine recht eigentlich staufische Leistung" ist (II, S. 250). Nach Osten hin versiege diese Kunst. Allerdings weite sich der Raum des Minnesangs mit Albrecht von Johannsdorf nach Niederbayern und mit Morungen nach Ostmitteldeutschland aus, um mit Reinmar und Walther auch den Wiener Babenbergerhof zu erfassen. Nach Osterreich gehören dann auch die „Nachfahren" Neidhard (aus Bayern), der Tannhäuser oder Ulrich von Liechtenstein. Der spätstaufische Kreis um Heinrich VII. und Ulrich von Winterstetten führe wieder ins Alemannische zurück. Entsteht aus solchen Ordnungsbegriffen so etwas wie eine Raumordnung der mittelalterlichen Lyrik? Sicher gibt es die genannten „Literaturräume"; werden sie zueinander in Beziehung gesetzt, zeigen sie so etwas wie Kulturwege, Vermitdungsbahnen, Einflußbereiche literarischer Geschmacksbildung. Und doch, die räumliche Kategorienbildung de Boors bleibt diffus, unordentlich. So etwa wenn er (für die spätere Zeit) feststellt: „Die alten Literaturlandschaften erweisen sich weiter als produktiv; immer noch bleibt der alemannische Südwesten in der höfischen Epik führend [Konrad von Würzburg]. [...] Gewiß verwischen sich die Grenzen, doch auch in der Spätzeit ist der Boden Österreichs für den Artus- und Abenteuerroman weniger fruchtbar. Wien mit Heinrich von Neustadt bedeutet nicht dasselbe wie Basel mit Konrad von Würzburg, und Bayern hat in der Wolframnachfolge des Jüngeren Titurel und des Lohengrin einen eigenen Stü gefunden. Neu hinzu tritt im deutsch-slavischen Grenzbereich Böhmen mit den bewußten höfischen Bestrebungen der Przemysliden, namentlich Wenzels H. [...]" (m,l, S. 119f.). In Mitteldeutschland sei es dagegen still geworden [nur der Wartburgkrieg. Noch schweigsamer werde der rheinische Nordwesten wegen der sprachlichen Abtrennung [Jacob von Maerlant - neue Literatursprache]. Sind das noch literarhistorisch relevante Aussagen oder nicht nur AnordnungsmodeUe des vorgegebenen Materials, Hilfskonstruktionen, um dieses Material irgendwie zu gruppieren? Allerdings, die Einsichten bleiben haften und wohl jeder Mediävist stellt sich das literarische Österreich des Mittelalters als Region des Heldenepos und des Minnesangs vor. Da dann

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aber die österreichische Lyrik den ,Minnescholastiker' Reinmar und den erotisch-derben Neidhard umfaßt, konnte man sagen, daß das österreichische Wesen und der österreichische Kunstgeschmack zwischen „overrefinement" und „crude animal vitality" schwankten.^i Mit dem Interesse an der heldenepischen Literatur käme noch ein Hang zum KonservativArchaischen, vielleicht gar zum Blutrünstigen, hinzu. An der eleganten höfischen Romandichtungfi-anzösischerHerkunft hatte man hingegen in Osterreich kein Interesse. Was dafür wohl der Grund war? Auch wenn die Fakten stimmen, de Boors unsystematische Vorgangsweise schafft Unbehagen. Die Unsicherheiten, ideologischen Belastungen, die geringe Chance, die Dinge in den Griff zu bekommen, all das müßte und könnte Anlaß sein, einen Bogen um regionale Literaturgeschichte und -betrachtung zu machen. Und fürs Mittelalter könnte man sogar geschichtsideologisch argumentieren: Das mittelalterliches Subjekt - wenn es denn existierte - definierte sich zeitlich, nicht räumlich. Die Menschen besinnen sich auf ihre Stellung in der Ordnung der Zeiten, auf ihre Position im 6. Weltzeitalter, dem letzten vor der Wiederkunft Christi. Aber vor Resignation ist doch auch zu warnen. Es gibt Kulturräume, politische Gebilde, es gibt regionale Gruppenidentität etc. Es gibt sie auch im Mittelalter. 4. Zwei Versuche: Bernd Thums ,Literatur und Geschichte am Oberrhein' und Fritz Peter Knapps Arbeiten zur ,Osterreichischen Literatur des Mittelalters' Ein interessanter Versuch zum Thema ist Bernd Thum^^ mit seinem Buch ,Aufbruch und Verweigerung' gelungen, in dem er den „Geschichtsraum Oberrhein" von Basel bis Mainz aus literaturwissenschaftlicher Sicht untersucht. Der Oberrhein, jenes Gebiet, das de Boor mit dem Schlagwort „staufisch" charakterisiert, wurde schon von den Menschen des Hochmittelalters als eine „politische" und „ökonomische" Landschaft verstanden, Maurice O'C.Walshe, Heinrich von dem Türlin, Chretien and Wolfram. In: Medieval German Studies presented to F.Norman. London 1965, S. 205: „The pendulum, in fact, had swung once again, as it seems to do so easily in Austria, firom the extreme of over-refinement to that of crude animal vitality." Bernd Thum, Aufbruch und Verweigerung. Literatur und Geschichte am Oberrhein im hohen Mittelalter. Waldkirch 1980.

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ein Raum mit „dichtem" sozialen Handeln, eine Landschaft, der „Ruhm gebührt". Thum definiert „Kulturraum" also als „eine Zone spezifischer, hoher Verdichtung von menschlicher Interaktion, gestützt auf Siedlung und Wirtschaft, getragen von geschichtlicher ,Erinnerung', ja ,Programmierung', bewegt von verdichtetem Güter- und Informaüonstransfer, - Verdichtung, die die Menschen zwingt, besondere Ordnungen zu entwickeln; spezielle Kommunikationsformen und Interaktionsformen, die diese von einem Verkehrs-, Güter- und Informarionsschwall heimgesuchte Weh verständlich und kalkulierbar machen und mit der Vergangenheit vermitteln." (S. 81) Diesem Kulturraum will Thum „Individualität" zusprechen, eine Individualität, die sich aus dem spezifischen Zusammenspiel von Natur und Kultur, von sozialen Ordnungen des Handelns, von intellektuellen, emotionalen, ästhetischen und physischen Leistungen ergibt. Thum zielt keine „regionale Literaturgeschichte" an, sondern wiU einen „Bericht über einen geschichtlichen Kulturraum" schreiben - und das nur für einen begrenzten Zeitraum (11. Jahrhundert bis 1220/1250). Literatur wird als Beitrag „beim Aufbau einer geschichtlichen Zivilisation" verstanden. „Es gibt nicht nur literarische Themen, es gibt auch Kulturthemen." (S. XIII) Thums Buch läßt sich nach den Worten des Verfassers nicht mit den Begriffen „Literaturlandschaft", „Literaturraum", „landeskundliche Literturwissenschaft" etc. charakterisieren (S. XIV). Volker Schupp^' hatte vor einer solchen Wissenschaft gewarnt, „beim Blick auf die Landschaft durch die Methode und Brille der Literaturgeschichte" sei ein literarischer Bädeker zu erwarten. Thum möchte einen Kulturraimi „durch die Brille einer interdisziplinären historischen Kulturwissenschaft" sehen, „zu der auch das Instrumentarium des Literaturwissenschafders gehört, wie Literatur zur Kultur gehört: Verständigungsform über die ,Welt' als gesellschaftliche Lebensordnung." (S. XVI) Gegen einen solchen Ansatz ist wohl nichts einzuwenden, besonders wenn „Stammesmentalitäten und ,geistige' Landschaften" der älteren regionalistischen Literaturgeschichten aus dem Spiel bleiben: „Was da [in den älteren Arbeiten] an ,Landschaft' ins Blickfeld trat, hat mit dem in diesem Volker Schupp, Literaturgeschichtliche Landeskunde, in: Alemannica. Festschrift für Bruno Boesch (Alemannisches Jb. 1973/5). Bühl 1976, S. 272-298; Schupp selbst macht den Vorschlag: „Um möglichst keine literatur- und geschichtsfremden Raumvorstellungen unerkannt eindringen zu lassen, sollte der Raum aus der Literatur selbst enrwickek werden." (S. 293)

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Buch gemeinten historischen Kulturraum soviel zu tun wie die Ebstorfer Weltkarte mit einer Karte des Karlsruher Instituts für Regionalwissenschaft." (S. XVI) Auch wenn der Abstand nicht ganz so groß sein mag, Thums Versuch verdient Beachtung. Fragt sich nur, inwieweit der Philologe dabei vom Historiker,geschluckt' wird, was vielleicht nicht nur wegen des Status zweier konkurrierender akademischer Fachrichtungen von Nachteil wäre.24 Ganz anders als Thum macht es Fritz Peter Knapp, der dabei ist, den ersten Band einer ,Österreichischen Literaturgeschichte' (Mittelalter) zu schreiben, und der sich mit den methodischen Problemen seines Unternehmens sorgfältig und (selbst-)kritisch auseinandergesetzt hat.^s Mit Kulturraum hat Knapp nichts im Sinn; bei seinem Versuch („Probe aufs Exempel") geht Knapp vom heutigen österreichischen Staatsgebiet („finaler" Osterreichbegriff im Gegensatz zu einem streng historischen Begriff) aus und nimmt einige südliche Räume (wohl Südtirol, Krain etc.) dazu. Er möchte aber nicht entscheiden, ob es sich beim solcherart definierten Österreich um einen Kulturraum handelt oder nicht. Knapp zeichnet die territoriale Entwicklung Österreichs nach,^^ die um 1500 einen Stand erreicht hat, der über die Grenzen des heutigen Österreich beträchtlich hinausgeht, aber auch Lücken (z. B. Salzburg) aufweist. In diesem Bereich (seit dem 15. Jahrhundert Bereich der domus Austriae) hätten die alten österreichischen Länder eine gewisse Eigenständigkeit erreicht, von einem einheitlichen politischen Gebilde könne aber nicht die Rede sein. Vgl. auch Knapp, Gibt es eine österreichische Literatur des Mittelalters? In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750), hg. von Herbert Zeman, Teil 1. Graz 1986, S. 67f. Ebd. S. 49-85. Vgl. auch F.P.Knapp, Süddeutsche Literaturlandschaften in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Versuch ihrer Abgrenzung. In: Festschrift für Ingo Reiffenstein, hg. von Peter K. Stein u.a., (GAG 478). Göppingen 1988, S. 425-442. - F.P.Knapp, Literatur vom frühen bis zum späten Mittelalter (7501350). In: Handbuch der Literatur in Bayern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, hg. von A.Weber. Regensburg 1986, S. 27ff. 1156 babenbergisches Herzogtum (Niederösterreich und kleine Teile von Oberösterreich) 1192 Steiermark (1180 Herzogtum) an die Babenberger 1282 Österreich und Steiermark an die Habsburger 1335 Herzogtum Kärnten an die Habsburger 1363 Grafschaft Tirol an die Habsburger 1523 Erwerbung Vorarlbergs durch die Habsburger.

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Das ist auch nicht verwunderlich, denn zwischen Land und Herrschaft besteht eine Differenz; ein Land ist ein Gebiet einheitlichen Rechts, eine Herrschaft hingegen der Besitz eines Herrn.27 „Nichtsdestoweniger hat erst die Politik des Landesherm das Land geschaffen [...]" (S. 53) Aber das war ein langsamer Prozeß. Jedenfalls: Das spätmittelalterliche habsburgische dominium Austriae war nach Knapp keineswegs ein Land; die einzelnen Länder waren keine Einheiten im Sinne eines modernen Flächenstaates, sie tendierten zwar dazu, zeigten aber noch Merkmale des Personenverbandsstaates. (S. 55) So nimmt es auch nicht wunder, wenn Jans Enikel im 13. Jahrhundert (Weltchronik) die Deutschen in Schwaben, Franken, Sachsen, Thüringer, Meißner, Tiroler, Görzer, Baiem, Kärntner, Steirer und Österreicher einteilt und der Seifrid Helbling (Anfing 14. Jahrhundert) die Österreicher vor Überfremdung warnt und sie im Gedicht HI den Elsässem, Schwaben, Steirem, Baiem, Tschechen, Mährem, Sachsen, Thüringern, Polen, Meißnem, Brabantem, Holländern, Rheinfranken, Hessen, Böhmen und Westfalen gegenüberstellt. Kämmer, Tiroler und Steirer sind für diese beiden ,Österreicher' Ausländer wie die Baiem oder die Polen. Ein gemeinsamer österreichischer Staatsgedanke ist auch um 1500 in den habsburgischen Ländem nicht zu finden (S. 57). Allerdings läßt sich vielleicht doch - so Knapp - aus dem Itinerar Ulrichs von Liechtenstein {Frauendienst), aus der Nationengliedemng der Wiener Universität und aus der Provinzengliedemng des Franziskanerordens ein „gewisses Zusammenrücken der (damaligen oder nachmaligen) österreichischen Länder gegenüber Bayem und dem übrigen Deutschland" herauslesen (S. 59). Insgesamt ist das kein günstiger Ausgangspunkt für die Abfassung einer mittelalterlichen österreichischen Literaturgeschichte. Knapp stellt einen Kompromiß in Aussicht, eine österreichische Literaturgeschichte, die offen ist zur „allgemeinen Geschichte", die aber auch die Relativität der einzelnen Geschichtskörper nicht aus dem Auge verliert. Unter diesen sorgfältig abgewogenen Prämissen trägt Knapp das Material zusammen. Daraus entsteht das Bild „eines zwar keineswegs hermetisch abgeschlossenen oder gar autarken, aber doch in vieler Hinsicht eigenartigen und (in des Wortes ursprünglicher Bedeutung) besonderen Literaturraums", der sich mit dem vorgegebenen Geschichtskörper „Österreich" mehr oder minder genau Nach Otto Branner, Land und Herrschaft. Grandfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Wien ^1965, Nachdrack Darmstadt 1973, S. 182.

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zur Deckung bringen lasse. „Die Indizien für eine Absonderung ,Österreichs' nehmen dabei im Laufe der Zeit merklich zu." (S. 85) Thum und Knapp gehen in ihren Arbeiten zwei sehr verschiedene Wege. Gefahrlos ist keiner von beiden. Und jeder verlangt Verzicht. Thum grenzt den Betrachtungszeitraum ein und verzichtet programmatisch darauf, Literatur als autonomen Gegenstand zu verstehen; sie ist räumlich bestimmbares, kommunikatives Handeln. Der oberrheinsche Geschichtsraum wird Gegenstand einer (eindrucksvollen) kulturhistorischen Studie mit (durchaus interessanten) literarhistorischen Aspekten. Knapp muß auch auf diese „räumliche Verdichtung" verzichten, denn sein Österreich definiert sich letztlich über die Herrschaftsgebiete der (Babenberger und) Habsburger und das, was daraus geworden ist, die Republik Österreich.^« So konzentriert sich Knapp - pragmatisch - auf das literarische Material und breitet aus, was in seinem (historisch veränderlichen und doch inkonsistenten) Raum da ist. Mit Deutungen hält er sich (wohlweislich) zurück.

5. Kein Ausblick Walther von der Vogelweide als Dichter der Deutschen oder als wesensmäßig südtirolischer/österreichischer/fiänkischer Dichter, die Regionen in der deutschen Literaturgeschichte (de Boor), die Frage nach einer oberrheinischen oder österreichischen literarischen Identität - bei all diesen Themenkreisen steht nicht nur das (allgemeine) Problem von Dichtung und Raum zur Debatte, sondern auch das eminent politische Thema: Kosmopolitismus, Nationalismus und Regionalismus in der Literatur. ^^ Das TheMan wird sehen, ob aus dem gesamten Unternehmen nicht die verspätete .Nationalliteratur' einer,verspäteten' österreichischen Nation wird. (Der Begriff der,verspäteten Nation' wurde für die Deutschen von Thomas Mann in seiner Rede .Deutschland und die Deutschen' von 1945 geprägt. - Thomas Mann, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/Main 1960, Bd. 11, S. lUOf.) - Korrektumote: Das Buch von F.P.Knapp ist inzwischen erschienen: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters (Geschichte der Literatur in Österreich, Bd. 1). Graz 1994. Dazu bes. die hervorragende Studie von Norbert Mecklenburg, Kosmopolitismus vs. Regionalismus im deutschen kulturellen Erbe. In: Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder, hg. von B.Thum (Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 2). München 1985, S. 317-333 (mit Literatur). - Femer A.Weber, Literatur in Bayern. In: Handbuch der Literatur in Bayern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, hg. von A.Weber. Regensburg 1986, S. l l f f .

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ma ist in besonderem Maße aktuell geworden. De Gaulles Vorstellung von einem Europa der Nationen stagniert, ein Europa der Regionen weg vom Nationalstaat wird angestrebt, Autonomie und Föderalismus sind die Forderungen der Stunde.3° Und das ist wohl richtig, wenn man mit Alvin Lenhard^^ meint: „Regionalismus löst Machtballung zugunsten pluralistischer Vielfalt auf und dient somit als freiheitliches Prinzip." Schon 1949 schrieb Oskar M. Graf in diesem Sinne: ,Je kleiner die Gebiete um so besser. Sie blasen dem Nationalismus das Lebenslicht aus, vor allem aber vermindern sie Unrecht und Unmenschlichkeit. [...] Provinziell muß die Welt werden, dann wird sie m e n s c h l i c h . " 3 2 Soll und kann die Literaturgeschichtsschreibung diesen Tendenzen, dieser Forderung der Stunde Rechnung tragen? Wahrscheinlich. Sie wird es aber dabei nicht leicht haben. Regionale Literaturgeschichte ist und bleibt (besonders im Bereich der deutschen Literatur) ein Problem besonderer Art. Der Begriff der Region ist durch Nadler und die Nazis obsolet geworden. ,Heimat' klingt nach ,Heimat und Rasse', nach ,Blut und Boden'. So verharren die Germanisten, auch wenn die Historiker sich seit 1945 zunehmend mit Landes- und Regionalgeschichte beschäftigen, nicht zuletzt in Hinblick auf die ,Nationalsprache' - bei einer überregionalen Konzeption ihres Gegenstandes, der Literatur. Wo von .regionaler' Literaturgeschichte die Rede ist, grenzt man sich ängstlich von Nadlers Konzept, aber auch von sentimentalen Heimatbewegungen ab - und muß das auch tun. Und doch, der „Diskurs der Heimat" gehört nach Ulrich Wyss^^ schon zum Denken des germanistischen Gründervaters Jacob Grimm. Neben Nadlers biologischem Positivismus gab und gibt es auch andere Möglichkeiten, etwa eine regionale Sozialgeschichte, eine „Archäologie demokratischer Traditionen", eine kulturwissenschaftliche Analyse von Kulturprovinzen. Emst Bloch34 gab kurz vor seinem Tod mit dem Satz „Provinz ist 30 Z.B. spricht Jutta Ditfurth in der ZEIT Nr.36 vom 3 I.August 1990, S. 5 von ihrer „Utopie der Auflösung von Nationalstaaten in sich selbst-bestimmende Regionen mit übergreifender Koordinierung". Alvin Lenhard (Hg.), Literatur einer Region. Dortmunder Autoren in Darstellungen und Deutschunterricht. Paderborn 1981, S. 14. 32 Oskar Maria Graf, Die Erben des Untergangs. Frankfurt/M. 1949, S. 430. - Dazu stimmt, daß Hitler den Föderalismus als Maske antinationaler Verräter verurteilte; vgl. Weber (wie Anm. 29), S. 14f. 33 Ulrich Wyss, Die wüde Phüologie. München 1979, S. 264. 3t Emst Bloch, Gespräche über Ungleichzeitigkeit. In: Kursbuch 39 (1975), S. 1.

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Alfred Ebenbauer

ein gutes Wort" die Parole für einen neuen (linken) Regionalismus aus. Er hat damit den 1935 geäußerten Gedanken einer gesellschaftlich-kulturellen Ungleichzeitigkeit formuliert, die es ermöglichen solle, kulturelle und literarische Residuen einer vorindustriell-agrarischen Welt im Umfeld des Kapitalismus zu „retten". Mit Dieter Breuer^s karm eine regional orientierte (etwa: süddeutsche) Literaturgeschichtsschreibung als Korrrektiv gegenüber der bisher üblichen nationalstaatlichen (etwa: preußisch-kleindeutschen) verstanden werden. Der Mediävist tut sich mit solchen Konzepten eines oppositionellen Regionalismus freilich schwer.^^ Besonders wenn Mittelalterverklärung und Pathos der Region sich verbünden, wird es allemal gefährlich. Und in einer Welt der kleineren und größeren Feudalherren wird man keine demokratischen Traditionen ausgraben körmen. Provinz mag ein gutes Wort sein, aber es ist kein Wort für den Mediävisten, die adäquaten Raumbegriffe des Mittelalters sind ,Land' und ,Herrschaft'. Daraus sind Regionen und regionale Identitäten zu einem guten Teil erst entstanden. Walther ist viel eher ein (zeitweise) babenbergischer Dichter als ein österreichischer Poet. Das ist eine Binsenweisheit, aber sie sollte nicht vergessen werden. Und vergessen werden sollte auch nicht, daß nicht nur Regionalismus ein Prinzip der Freiheit (vom Nationalstaat) ist. Es gibt vielleicht doch auch eine Weltliteratur, jedenfalls gab es sie gerade in der .engen Welt' des Mittelalters - in lateinischer Sprache. Gerhard Merz sagte zur Regionalkunst jedenfalls - mit guten Gründen: „Ich bin der Meinung, daß es heute innerhalb der westlichen Welt keine Regionalkunst mehr geben kann, sondern nur noch die eine Kunst, so wie es nur eine Mathematik und eine Physik gibt. Man darf hier nicht nach englischer, amerikanischer, ost- und westdeutscher Kunst fragen, sondern eben nur nach Kunst. Regionalisten gehören nicht in ein Museum für Bildende Kunst, sondern in eines für Ethnologie. Oder ist nicht doch jede auch noch so kosmopolitische Kunst auch Regionalkunst?^® Gehört nicht jedes Kunstwerk (auch) in ein Dieter Breuer, Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979. ^ Das gilt auch für eine Kultur- und Literaturanalyse ,von unten', wie sie Raymond Williams (The Country and the City, London 1973) versucht hat, wenn er Industriekultur und alternative Kultur gegenüberstellen möchte; vgl. dazu Mecklenburg (wie Anm. 29), S. 328f. In: Die ZEIT, Nr. 36 vom 31.August 1990, S. 56. Zu diskutieren wäre natürlich das Verhältnis von Kunst und mathematischen Wissenschaften.

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ethnologisches Museum? Was wäre gegen eine Anthropologie der Kunst einzuwenden? Was gegen die Bestimmung der raum-zeitlichen Koordinaten künstlerischer Produktion? Das Problem sind nicht die Museen für Ethnologie, sondern die Heimatmuseen mit ihren latenten Mythenbildungen. Mer kommt der Erforschung der mittelalterlichen Literatur vielleicht eine besondere Aufgabe zu. Sie eignet sich recht wenig zur Herstellung raumbezogener literarischer Identität, auch nicht im Sinne eines oppositionellen Regionalismus. Walther ist nicht seinem Wesen nach Österreicher oder Südtiroler, die österreichische Literatur hat nicht (wegen Reinmar, Walther, Neidhard) eine grundsätzliche Affinität zur Lyrik. Hingegen eignet sich die Dichtung des Mittelalters als Demonstrationsobjekt dafür, wie Räume und ihre Literatur einmal anders waren: Dialekträume, feudale Herrschaftsräume, Mäzenatentum, Verkehrsräume, Wirtschaftsräume. Nicht das ,Wesenhafte', sondern das Werdende und Gewordene von Räumen und Regionen steht zu Debatte.

ULRICH WYSS

Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. Am Beispiel Rudolf Borchardts und Josef Nadlers 1. Die Frage nach der Region ist in der Literaturwissenschaft nicht ganz neu. Als Alternative zum Konzept der Nationalliteratur setzte sich der Regionalismus jedoch nirgendwo durch: weder in Deutschland noch in Frankreich, wo es eine „Federation Regionaliste Fran^aise" gab, von welcher sich deutsche Romanisten zu Zeiten einiges versprachen, ^ und schon gar nicht in Italien, wo Francesco de Sanctis das überzeugendste Beispiel einer nationalen Literaturgeschichte geliefert hatte. Das Paradigma zerfiel jedoch spätestens am Ende des Ersten Weltkriegs, als das Europa der Nationalstaaten in eine Krise gefallen war, von der es sich nicht mehr erholen sollte. Die Literaturwissenschaft reagierte, jedenfalls in ihrem mediävistischen Teil, mit der Radikalisierung jener Optionen, die in der Epoche der Nationalliteratur immer latent geblieben waren. Sie deutete die ältere Literatur im Zeichen germanischer Kontinuität, der christlichen Ästhetik oder der antiken Tradition; für diese Strategien stehen die Namen des Germanisten Hans Naumann und der Romanisten Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius.2 O b es auch ein Paradigma „Literatur- und Kulturregion" geben karm, das über die Grenzen der Nationalstaaten, die immer noch nicht gefallen sind, hinausgreift, fragen wir uns heute. Nationale Stereotypen haben sich in der Arbeit gerade der französischen, englischen und deut-

1 Vgl. Gerhard Moldenhauer, Wurzeln und Wesen des französischen Kulturregionalismus. In: Die neueren Sprachen 48 (1940), S. 12-26; zum ganzen Komplex FrankRutger Hausmann, „Aus dem Reich der seelischen Hungersnot". Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich. Würzburg 1993, S. 57ff. 2 Vgl. Ulrich Wyss, Mediävistik als Krisenerfahrung. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter, hg. von Gerd Althoif. Darmstadt 1992, S. 127-146.

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Ulrich Wyss

sehen Mediävisten in den letzten zehn oder zwanzig Jahren weitgehend aufgelöst. Kein deutscher Germanist wird noch einen germanischen Tiefsinn Hartmanns oder Wolframs gegen die oberflächlich-welsche Brillanz des Chretien de Troyes ausspielen, wie es in der Generation der Vater und Großväter selbstverständlich war. Die Unterschiede in den Wissenschaftskulturen lösen sich zwar nicht einfach auf; sie werden jedoch in der Praxis von Forschung und Wissenschaftsbetrieb gegenstandslos.^ Darin zeigt sich ein wohltätiger Effekt der Intemationalisierung unserer Kommunikationsverhältnisse. Doch fangen wir jetzt ganz von vorne an? Gibt es alte Meister, von denen etwas zu lernen wäre, zum Beispiel den Verfasser einer „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften"? Das war der Titel jenes mehrbändigen Werkes aus der Feder des Germanistenjosef Nadler, welches zuerst im Jahre 1912 zu erscheinen begann und sogleich einige enthusiastische Leser fand. Den Dichter Hugo von Hofmannsthal etwa, der darauf angewiesen war, eine österreichische Idee und Identität auch dann noch zu entwickeln, als die Donaumonarchie als deren staatliches Gehäuse zerbrochen war. Gegen Ende des Weltkrieges schenkte er Nadlers Bände den wichtigsten seiner Freunde, und er sagte selber, daß er mit dem Thema „alle Leute agaciere, daß sie's kaum mehr aushalten können".'* Auch für Hofmaimsthal kam das regional Partikuläre auf die Tagesordnung, als die nationalstaatliche Deutung der Tradition ihrer Selbstverständlichkeit verlustig gegangen war. Was das heute heißen kann, soll anhand eines konkreten literarhistorischen Problems erörtert werden. Daß Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, die beiden großen deutschen Epiker am Beginn des Xin. Jahrhunderts, in jeder Hinsicht gegensätzliche Weltbilder, Kunstauffassungen und Stilprinzipien ausprägten, gilt in der Literaturgeschichte seit langer Zeit als selbstverständlich. Jacob Grimm, um nur dies eine Beispiel anzuführen, verglich sie mit den beiden Klassikern von der Wende zu seinem Jahrhundert, die gleichfalls als Antagonisten in fast jeder Hinsicht gedeutet werden. „Und sollte hier einmal", heißt es in der Gedenkrede zu Schillers hundertstem Geburtstag

Für Wolfram und Chretien hat Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. München 1972 und 1973, bahnbrechend gewirkt. Als Zeugnis der neuen Unbefangenheit mag Rene Perennec, Recherches sur le roman arthurien en vers en AUemagne aux XHe et XHIe siede, Göppingen (GAG 393 I und ü) 1984 gelten. Brief an Gerty von Hoftnannsthal vom 23. März 1918 aus Berlin, zit. nach Werner Volke, Hugo von Hoftnannsthal und Josef Nadler in Briefen. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 37-88, hier S. 51.

Literaturlandschaft und Literaturgeschichte

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im Jahr 1859, „eine ähnlichkeit aus unserer älteren poesie anschlagen, so würde sich Göthes kristallene klarheit mit Gotfrieds von Straszburg, Schillers geistiger aufflug mit dem Wolframs von Eschenbach wol vergleichen l a s z e n " . 5 Bei der Bildung dieses Gegensatzpaares wird Gottfried selber Pate gestanden haben, denn das Wort von der kristallenen Klarheit stammt aus dem Literaturexkurs des Tristanromans, wo es auf Hartmann von Aue gemünzt war; ihn stellte Gottfried als den Klassiker unter den ritterlichen Romanschreibem jenem ungenannten vindaere wilder maere, der maere wildenaer^ gegenüber, den wir mit Wolfram gleichzusetzen geneigt sind. Für Hartmann aber, den der Dichter als Vorbild ansieht, sind sin kristalliniu wortelin (4627) charakteristisch. Wir wissen auch, daß sich die Erzähler der folgenden Generation als Schüler oder Nachahmer entweder Wolframs und Gottfrieds verstanden: halten sich Reinbot von Dume mit seiner Georgslegende oder Albrecht, der Dichter des Jüngeren Titurel', an Wolfram - Albrecht geht soweit, sogar den Automamen des Meisters zu usurpieren -, so sehen sich etwa Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg in der Nachfolge Gottfrieds. Worin besteht der Gegensatz, wenn wir uns nicht der suggestiven Ökonomie des Dioskuren-Diskurses anvertrauen, sondern ihn mit den Begriffen der Literaturwissenschaft zu fassen versuchen? Jacob Grimm hatte sich auf die Antithesen der Goethezeit verlassen, wenn er Schiller, und damit Wolfram, mit den Epitheta idealistisch, sentimental, dramatisch kennzeichnet, Goethe, und mit ihm Gottfried, als realistisch, naiv, episch bestimmt. Dazu kommen Vorstellungen aus dem Alltag wie, daß „Schiller farbiger, Goethe einfacher heiszen (dürfe)".^ Sie gehören in den Bereich jener naturwüchsigen Anthropologie, die der gesunde Menschenverstand zu allen Zeiten ausbilden zu können glaubt. Damit werden sich die professionellen Literaturkundigen unserer Tage indessen nicht mehr ohne weiteres zufrieden geben. Doch wo holen sie sich ihre Begriffe? Die Ästhetik des Idealismus läßt sich nicht mehr umstandslos auf die mittelalterliche Literatur anwenden. Darüber besteht Konsens. Stattdessen suchen viele ihr Heil in der Repristination von Fachausdrücken, die in mittelalterlichen Rhetoriken und Poetiken gang und gäbe gewesen sind. Man redet dann von den omatus, den diversen Schmuckmitteln der Rede. Der Terminus begegnet schon bei Quintilian, dessen Buch ,De institutione oratoria' für viele 5 Jacob Grimm, Rede auf Schiller, Kleinere Schriften L Berlin 1864, S. 379. Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von Peter Ganz. Wiebaden 1978, v. 4663f. 7 Grimm (wie Anm. 5), S. 378.

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Jahrhunderte maßgeblich blieb; seit dem XI. Jahrhundert wurden die rhetorischen Mittel zum Ausschmücken der Rede in einer regelrechten „ars dictaminis" systematisiert.® In solchen Lehren nun spielt der Unterschied des omatHS dijficilis vom omatus facilis eine wichtige Rolle: als Gegensatz einer irgendwie „schweren" zu einer „leichten" Stilauffassung also. Dazu scheint die Antithese der cristallinen wortelin und des Dichtens jener „Verwilderer" der schönen Rede, die „ihren Geschichten Erklärer hinterherschicken müssen", wie Gottfried sagt (4681f.), und uns zumuten, „in den Büchern der schwarzen Kunst die Glossen zu dem Erzählten zu suchen" (4687f.), nur zu gut zu passen. In Gottfried haben wir den Protagonisten des leichten, in Wolfram den Meister des schweren Stils vor uns. So lesen wir in Leonid Arbusows kleinem, aber nützlichen Handbuch der ,Colores rhetorici': „In Deutschland (...) ist der erste wichtige Vertreter des leichten Schmuckes Gottfried von Straßburg - trotz des Metaphorischen im Tristan. Er pflegt besonders meisterhaft beherrschende Mittel des Ornatus facUis: Alliteration, Antithese, "Wbrtwiederholung, Wortspiel, meidet aber Neuerungslust, Fremdartiges, Gekünsteltes, Rätselhaftes, erzwungene Bildlichkeit, Umschreibung, andeutenden Ausdruck". Und weiter unten: „Gottfrieds Antipode Wolfram verwendet typische Mittel des schweren Ausdruckes in der Grundabsicht zum absonderlich Neuen, zu phantastischen Umschreibungen, gesuchten Vergleichen, dem rätselhaft Andeutenden, was alles er in Mode gebracht hat. Personifikation ist für üm nicht rhetorische Figur, sondern Denkform [...]; er liebt das Verschnörkelte, das Dunkle, die Häufungen".^ Bei Arbusow findet sich auch der Hinweis auf die „geblümte Rede" der mittelhochdeutschen Spruchdichter, der sich mit dem omatus dijficilis berühre, und vor allem auf das Prinzip des trobar dm bei den Troubadours der Provence. Ihm entsprach als Gegenstück das trohar leu, also das leichte neben dem verschlossenen, schwierigen „Finden", womit das Dichten gemeint ist. Dieser Gegensatz wurde seit der Mitte des XII. Jahrhunderts von den Dichtem immer wieder erörtert. Auch hier geht es um zwei Dichtungsarten, und das gilt schließlich ebenfalls für das Begriffspaar von „Asianismus" und „Attizismus". Es stammt aus der antiken Rhetorik, wo der Stil der aus Kleinasien stammenden Redner gegen den der attischen Klassiker wie zum Beispiel Demosthenes

8 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948 U.Ö., S. 85ff. ^ Leonid Arbusow, Colores rhetorici. Göttingen 1963, S. 20. Ulrich Mölk, Trobadorlyrik. Eine Einführung. München, Zürich 1982, S. 73ff.

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ausgespielt wurde. Emst Robert Curtius erklärte es als „das erste Auftreten dessen, was wir fortan als literarischen Manierismus bezeichnen wollen. Der Asianismus ist die erste Form des europäischen Manierismus, der Attizismus die des europäischen Klassizismus.''^^ Was spricht dagegen, einem asianischen Wolfram den attizistischen Gottfried entgegenzustellen? Das erscheint nicht deswegen legitim, weil die alten Terminologien irgendwie authentischer wären als jene, die sich die Literaturwissenschaft neu geschaffen hat. Wenn wir einen noch so ehrwürdigen Begriff aus einem vergangenen Zusammenhang entleihen, setzen wir ihn in unseren modernen Kontext, wo er dann als Bestandteil einer modernen Terminologie funktioniert; mittelalterlich ist daran allenfalls noch eine Aura, ein archaisches Parfüm. Authentizität der Erkenntnis garantiert dieses nicht. Als legitim können die Anleihen bei der Tradition der Rhetorik dann gelten, wenn wir bedenken, daß im Reden über das Reden immer auch gesellschaftliche und seelische Konflikte verhandelt werden. Es gibt nicht nur die Rhetorik des Unbewußten wie in der Psychoanalyse, sondern auch so etwas wie ein Unbewußtes der Rhetorik... Das sollten wir nicht vergessen. Als Stilbegriff in einem modernen Sinn bezeichnet der omatus dijficilis eine seelische Notwendigkeit, während die Tradition der Rhetorik die Ausdrucksmittel, deren sich ein Redner bedient, von Zweck und Gegenstand der Rede abhängig gemacht hatte. Klassizist oder Manierist wird man nicht von Fall zu Fall und nach Belieben. Auch die Diskussion über den trobar clus rechnet nicht mit der anthropologischen Kategorie des AusdrucksZwangs, die wir ohne weiteres voraussetzen.

2.

Lassen sich literarhistorische Tatsachen statt ästhetisch, psychologisch oder im Rückgriff auf eine möglichst weit zurückreichende poetologische Tradition auch dadurch erklären, daß wir sie auf eine Vorstellung von der Regionalität des mittelalterlichen Europa beziehen? Einen interessanten Vorschlag dazu finde ich in den Schriften des Dichters Rudolf Borchardt (1877-1945), der auch ein beinah furchteinflößender Gelehrter gewesen ist. Er stammte aus dem ostpreußischen Bürgertum - sein Vater war ein wohlhabender Teehändler in Rußland - und bezog, nachdem er von einem

i> Curtius (wie Anm. 8), S. 76.

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preußischen Gymnasiallehrer Privatunterricht erhalten hatte, die Universität: in Berlin zunächst, dann in Bonn, schließlich in Göttingen, wo er vor allem Kunstgeschichte und klassische Philologie studierte. ^^ Im Jahre 1929, als Zweiundfünfzigjährer, schrieb er: „Ich bin, nicht nur als wissenschaftlicher Arbeiter, sondern auch als Dichter der dankbare Sohn der aus dem Geiste der Romantik wiedergeborenen deutschen Universität", und weiter: „Nicht an die mir nichtssagende zeitgenössische Poesie habe ich angeknüpft, sondern an die in Wissenschaftsformen geschichtschemisch gebundenen Geisterreste der deutschen Poesie großen Stils und vorbürgerlichen Zeitalters".Den Kontakt zu bedeutenden Gelehrten suchte er sein Leben lang. Er war als Professor für deutsche Literatur in Bern im Gespräch, obwohl er nie ein Universitätsstudium abgeschlossen hatte. Max Rychner überliefert die Anekdote, daß der junge Borchardt eines Tages in Göttingen die Vorlesung seiner Dissertation angekündigt habe. Es war ein evenement, ganz Göttingen strömte in den größten Hörsaal. Borchardt sprach, ohne Manuskript, zwei Stunden lang, die Zuhörer waren hingerissen. Aber niedergelegt war von der Arbeit nichts und sie wurde nie geschrieben.!'^ Seiner Übersetzung der ,Divina Commedia' ließ er eine monumentale Abhandlung folgen, die als Brief an den Berliner Germanisten Konrad Burdach formuliert war.^^ Borchardts Verhältnis zur Literaturwissenschaft und sein Rang in deren Geschichte bedürfte dringend der Erörterung jenseits der fatalen Alternative von wütender Polemik und blinder Apologie, wie sie die Diskussion vor allem der Dante-Übersetzung bis heute bestimmt. Hier nur soviel. Als ich vor einigen Jahren eine Abhandlung über die literaturwissenschaftliche Mediävistik der Zwanziger-

12 Vgl. den Katalog: Rudolf Borchardt / Alfred Walter Heymel / Rudolf Alexander Schröder, Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs. Marbach 1978, bes. S. 285ff.; femer die autobiographischen Texte vor allem in: Rudolf Borchardt, Prosa VI. Stuttgart 1990: ,Der Brief an der Verleger' (1906); ,Aus der Bonner Schule' (1908); ,An den Herausgeber des „Ring"' (1929); ,Der Dichter über sich selbst' (1929). Auch die meisten der Schriften über Literatur- und Kunstgeschichte sowie die Erinnerungen an Hoftnannsthal und die Polemiken gegen den George-Kreis kommen immer wieder auf Borchardts Erfahrungen als Student der Philologie zurück. Vgl. auch ,Das Gespräch über Formen' (1900/1901), in Prosa L Stuttgart 1967, S. 328-373. " Rudolf Borchardt, Prosa VI. Stuttgart 1973, S. 209. Max Rychner, Erinnerung an Rudolf Borchardt. In: M. R., Zeitgenössische Literatur. Charakteristiken und Kritiken. Zürich 1947, S. 57-71, hier S. 70. 15 Jetzt als ,Epilegomena zu Dante II' in Prosa II. Stuttgart 1959, S. 472-531. Vgl. den Katalog (wie Anm. 13), S. 311.

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jähre mit einem Blick auf Rudolf Borchardt schloß, schrieb ich den Satz: „Es wäre an der Zeit, von ihm zu lemen."i^ Was das, genaugenommen, zu bedeuten hatte, war mir nicht deutlich. Jetzt sehe ich klarer und versuche ein Beispiel für jenes Lernen, das der Philologenzunft nicht zum Schaden anschlagen sollte, vorzuführen. Borchardt hatte vor der Liebeslyrik der Provenzalen den allergrößten Respekt. „Die erste große Originalpoesie des Abendlandes und die Mutter aller übrigen", so nannte er sie, als er eine Auswahl von Liedern in deutscher Nachdichtung v o r l e g t e . D a s war 1924. Er nahm damals einen Topos aus der romantischen Urgeschichte der Neuphilologien auf. Mit August Wilhem Schlegels Abhandlung über die Sprache und Literatur der Provenzalen hatte im Jahr 1818 die wissenschaftliche Erforschung der romanischen Poesie und Grammatik angefangen. Der Romanist Erich Auerbach übrigens sprach mit ähnlichem Pathos von den Troubadours, als er die Vorgeschichte von Dante, dem Dichter der irdischen Welt, darzustellen hatte; auch er zehrte von der romantischen Tradition, und er zitierte Borchardt sogar, allerdings, wie es dem Brauch der Zunft entsprochen haben wird, nur en passant und ohne genauen Nachweis.'^ - Zunächst handelt Borchardt von der Sprache, die er als ein germanisch-romanisches Amalgam auffaßt: Provenzalisch war „ein mit burgundischem Munde schnell ausgesprochenes Vulgärlatein", in welchem die trüben Nasale entfielen. Die lakonisch kurzen Wortformen entstanden zum Teil auf der Grundlage germanischer Betonungsweise, also zum Beispiel cug aus lat. c6gito\ in Fällen wie dreg aus directum dagegen wird die kurze Form von dem lateinischen Akzent auf der Paenultima aus gewonnen. ^^ Schon hier ist entscheidend, daß am Ursprung etwas Zusammengesetztes, Heterogenes siedelt. Was nun den Inhalt der Troubadourlyrik angeht, so desavouiert Borchardt alle geläufigen Theorien über die Entstehung des Minnesangs. Dieser ist nicht die Reprise einer Kunstübung, die es irgendwo schon gegeben hat, sondern etwas ganz Unvordenkliches und Neues. Originalpoesie eben, und zum ersten Mal in einer europäischen Vulgärsprache. Neu ist die rückhaltlose Artikulation dessen, was Borchardt „die leidenschaft-

Wyss (wie Anm. 2), S. 146. Prosa n, S. 345. Vgl. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt. Berlin, Leipzig 1929, S. 32. Prosa n, S. 344.

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liehen Widersinne" nennt,20 als deren Erfinder er Amaut Daniel ansieht. Jener Troubadour aus der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts galt als großer Meister des trobar clus. Dante hat ihm im Purgatorio einen unvergeßlichen Auftritt ermöglicht. Guido GuinizeUi aus Bologna, der wichtigste Vertreter des dolce stil novo, macht Dante, im 26. Gesang, auf Arnaut aufmerksam und sagt von ihm: „fu miglior fabbro del parlar matemo" (XXVI, 117); Borchardt übersetzte: „war bessr ein schmied der mundart seiner leute". Das parlar matemo war die Volkssprache überhaupt. Arnaut hatte ihr, in Borchardts Perspektive, eine nie gekannte Expressivität gewonnen. Seine Dunkelheiten und Extravaganzen machen aus dem Prinzip des trobar clus die Voraussetzung jeder Art von hohem Stil in Europa seit dem Xn. Jahrhundert. Borchardt beschreibt es so: „ Trobar clus, verschlossenes Reimen, nannte die entsetzte, erschreckte, aufgescheuchte Zeit dieses schrankenlose Zusammenraffen der Sprache, in dem nicht mehr die grammatischen Endungen reimen oder die zwanzig oder dreißig zugelassenen "Worte des höfisch als ,gelind' und wol erzogen angesehenen Klischees, sondern alles heran muß, was etwas zu sagen hat, nicht nur der Vogel im Baum als schabloniertes Frühlingszeichen, sondern der Frosch im Wasser in dem der Frühling nicht nur singt und schmettert, sondern so schrecklich gellt und schreit und schluchzt und schrillt, wie das zitternde Herz ihn iimen hört.''^^ Derlei radikales Dichten setzte sich von Anbegiim in den schärfsten Gegensatz zu jeder höfisch kultivierten Konvention, vor allem aber gegen den ritterlichen Roman, welcher besonders im Bereich der Sprache des oil, also in Nordfrankreich, gepflegt wurde. „Unterhaltungsroman", heißt es bei Borchardt, wenn er an die Werke Chretiens de Troyes oder des Thomas von Bretagne denken muß, und, schlimmer noch, „die spitze und blinzende Armseligkeit der galloromanischen Amüsierfabel".^^ Das Pathos seines Lobs der Provenzalen speist sich aus der Abwertung der französischen Literatur; als Übersetzer der Troubadours macht er wie von selber Front gegen Frankreich. Dafür gibt es eine geschichtsphilosophische Legitimation. Die Literatur in der Sprache Amauts ist untergegangen, schon im XIH. Jahrhundert wurde die provenzalische Kultur vernichtet. Sie ist eine Kultur der Besiegten, der Borchardt leidenschaftlich die Treue hält.

Rudolf Borchardt, Übertragungen. Stuttgart 1958, S. 250 als Kommentar zu Amaut Daniel. 21 Prosa m . Stuttgart 1960, S. 90. Prosa n, S. 346.

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Auch Dante macht, nach Borchardts Verständnis, gegen die ritterlichen Romane aus Frankreich Front, wenn er den .Lancelot' „in die Hölle der Kuppler ä c h t e t " . 2 3 Aber eben nicht nur Dante; es gibt noch einen zweiten großen Erben der provenzalischen Kunstgesinnung und poetischen Radikalität: Wolfram von Eschenbach. Er adaptierte zwar den Gralroman des Chretien de Troyes auf Mittelhochdeutsch, berief sich aber auf eine zweite Quelle, und zwar eine aus der Provence. Kyot ist ein Provenzal, / der dise ävenüurvon Parziväl/heidensch geschriben such. /swazeren franzoys da von gesprach, /bin ich nihtderwitze laz, /dazsage ich timchen vürbaz (416,25ff.). Demgegenüber hat der Magister Chretien aus Troyes in der Champagne einen schweren Stand: er habe der Geschichte dann und wann Unrecht getan, und das habe Kyot mit Recht erzürnt, heißt es am Schluß des Romans (827,Iff.). Borchardt paraphrasiert das mit den Worten: „Wolfram, der die Romane Chrestiens nach Gebühr abstellt".^^ Ob uns das heute als die Quintessenz der Beziehung des ostfränkischen Dichters zu seiner Quelle einleuchtet, bleibe dahingestellt - fragen wir uns, ob sich die Distanz zurfranzösischenLiteratur wirklich als Option für die Provence deuten läßt. Der Provenzale Kyot überlieferte seine Geschichte, wie wir gesehen haben, immerhin auf Französisch ... Borchardt spielt einen unerwarteten Trumpf aus. Zu den auffälligen Raffinements des manieristischen, schwierigen Stils gehörte schon im Altertum die Reihung von Adynata, also unmöglichen Dingen. Curtius hat sie unter der Überschrift ,Verkehrte Welt' zusammengestellt. Bei ihm können wir lesen, daß Arnaut Daniel, „der große, ferne Meister Dantes", besonders viele Beispiele für diese Stilfigur bietet, nämlich fünf in den achtzehn überlieferten Liedem.^s Darunter findet sich ein Motiv gleich dreimal: leu sm Amatz q'amas l'aura, e chatz la lehre ab lo bou e nadi contra subema „Ich bin Amaut, zwinge winde; und hetz auf hasen den stier, und schwimm auf wider gefälle" « Ebd. 2t Ebd. 25 Curtius (wie Anm. 8), S. 107 und Anm. 1.

(X,43ff.)

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UHch Wyss

- SO übersetzte Borchardt^^. Die weiteren Belege lauten: Amors e iois e liocs e tems mifan tomar lo sen e derc d'aqel noi c'avia l'autr'an can cassava-l lebr'ab lo bou (XIV,Iff.) „Liebe und Freude und Ort und Zeit bringen mir etwas von jenem Kummer in den Sinn zurück, den ich letztes Jahr hatte, als ich den Hasen mit dem Ochsen jagte." farai, c'Amors m'o comanda, breu chansson de razon loi^m, que gen m'a dmich de las artz de s'escola; tont sai qel cors fatz restar de subema e mos bous es pm plus correns que lebres (XVI,3ff.) „Ich werde, weil Amor es mir befiehlt, ein kurzes Lied über eine lange Geschichte machen. Denn er hat mich gut in die Geheimnisse seiner Schule eingeweiht: ich kann soviel, daß ich die Strömung des Flusses zum Stehen bringe, und mein Ochse läuft schneller als der Hase".^^ Derlei meinte Borchardt, wenn er Arnaut als den Erfinder der „leidenschaftlichen Widersiime" pries. Dabei kann das Adynaton sowohl die Verzweiflung des unglücklich Liebenden ausdrücken als auch die Meisterschaft des Dichters, welcher lange Geschichten in dunklen, aber kurzen Worten zu kondensieren vermag, Den Hasen aber kennt jeder Leser von Wolframs ,Parzival'. Dort flattert im Prolog zvmächst die zweifarbige Elster umher, als Gleichnis für die ambivalente Menschermatur (l,6ff.). Wolfram sagt dann: „Dieses fliegende Beispiel ist zu flink für dumme Menschen, sie bringen es nicht fertig, ihm nachzudenken; denn es kann vor ihnen Haken

Übertragungen, S. 251. Amaut Daniel, Canzoni, hg. von Gianluigi Toja. Florenz 1960. Dort finden sich auch Übersetzungen ins Italienische. Vgl. Curtius (wie Anm. 8), S. 107 Anm. 1 zur .neuen seelischen Funktion' des Adynaton in Lied XVI. Dort auch der Hinweis auf Borchardt, „der Amaut am tiefsten erfaßt" habe.

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schlagen gradeso gut wie ein verstörter Hase" (l,15ff.)29. Der verstörte Hase ist so etwas wie das provenzalische Leitfossil in Wolframs Dichten. Als Gottfried den Antipoden des kristallinen Hartmann attackiert, beginnt er mit den Worten: swer nü des hosen geselle st / und üf der wortheide / höchsprünge und witweide /mit bickelworten welle sin (4636ff.) - er macht den Kontrahenten mithilfe der Hasenmetapher kermtlich. Für den Keimer Borchardt aber identifiziert er damit Wolfram als den deutschen Nachahmer Amauts. „Die berühmte Auseinandersetzung Gottfiieds mit Wolfram im Excurse bei Tristans Schwertleite wird nur aus diesem Gesichtspunkte verständlich; die erbitterte Polemik gegen die ,schwere Poesie' ist der deutsche Erbnachhall der provenzalischen Erregung über ,trobarclus\ und geht in Wirklichkeit immer noch um die Stilform Amauts. So in dem Essay, der die Übersetzungen aus dem Provenzalischen begleitet. Borchardt postuliert, daß es in der deutschen Literatur der mittelhochdeutschen äütezeit zwei Arten von Dichtem gebe; eine unsichtbare Grenze trenne „die Deutschen, die ihre Formen aus provenzalischen und die sie aus französischen Händen empfangen haben".3i Dieser Unterschied fällt offenbar mit dem Gegensatz der Wolfram- und der Gottfried-Schule zusammen. Durch ihre Aszendenz, die in die Sprache des oc oder aber des oü führt, lassen sich die Stilprinzipien des omatus difficilis und omatus facilis neu erklären. Doch der Dualismus der Stile hat auch etwas mit der literarischen Geographie zu tun. Borchardt erklärt das Rheinland, also die Gegend, in welcher der französische Einfluß am stärksten war, zur Krisenzone. Es sei geradezu eine Lebensfrage für den deutschen Geist gewesen, „sich gegen den Geist des Rheines zu verteidigen".^^ Ein Dichter wie Reimar, der aus dem Elsaß stammte, gewann sein Profil am Wiener Hof. Walther von der Vogelweide hatte dort keinen Erfolg, wo die Übersetzung fi-anzösischer Romane alles beherrscht. Was Borchardt damit meint, ist mir nicht ganz klar. Es folgt eine Reihe von Anklagepunkten gegen das Rheinland: „Was hätte aus Fischart werden können, was aus Jacob Balde, wie schwer hat Wieland den Coblenzer Einschub büßen müssen, (...) wo sind Förster und Brentano erstickt, wo Heine geboren?" Bis zu Stefan George, der in

Übersetzung nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Aus dem Mittelhochdeutschen von Peter Knecht. Frankfurt 1993, S. 9. 30 Prosa n, S. 346. Prosa n, S. 347. Prosa n, S. 347.

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schrecklicher Ambivalenz „zerrissenen Gestalt", bekommt der Rhein in Jahrhunderten nie wieder einen großen Dichter. Die Gegenkräfte wurden im Südosten wirksam, wo die poetische Energie der Provenzalen immer noch lebendig ist. Von den „provenzalisch bis tief nach Wien ergriffenen Baiem" ist bei Borchardt die Rede, denen das Verdienst zukommt, daß sie „die Ost-Mittelfranken mit sich und vom Stamme abrissen".^^ Das ist die Stunde Wolframs... Dieser wollte mit der „Literatenliteratur" der Franzosen nichts zu tun haben, sondern trug lieber „sein Lied am Schildhaken" und rechnete sich zu denen, die nicht mit den „Buchstaben" arbeiten (Parzival 115,25ff., Willehalm 2,19ff.); Borchardt übersetzt das tendenziös mit „les lettres".34 3. Soweit Borchardts Konzeption einer Literaturgeschichte, in welcher Regionen und Landschaften eine Rolle spielen. Aus literarischen Tatsachen werden Beziehungen zwischen Kulturräumen konstruiert. Dabei geht es nie darum, daß Borchardt auf dem Boden einer Landschaft die einheimische, sozusagen autochthone Poesie ansiedelt. Poesie ist vielmehr immer etwas Heterogenes, Endehntes, Erworbenes. Man könnte beinahe sagen: Regionen definieren sich in der Literaturgeschichte durch das, was sie von anderswo beziehen; sie bezeugen Rezeptionen, nicht den Ursprung. Mit Ursprungsdenken hat Borchardts Reflexion auf die Geschichte der Poesie, auch wo sie hoch spekulativ ansetzt, nichts zu tun. Müssen wir uns darüber wundern, daß dieser selbe Borchardt, der den Deutschen jeden „bodenheimischen" Minnesang abspricht, mehr als einmal seiner Bewunderung für den LiterarhistorikerJosefNadler Kusdrack verliehen hat? Machen wir eine Art Gegenprobe, indem wir Nadlers Auffassung von der Literaturlandschaft mit der Borchardts vergleichen! Nadler (1884-1963) war Ordinarius in Freiburg im Uechtland, in Königsberg und schließlich in Wien von 1931 bis 1945. Er wurde als Verfasser einer ,Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften' mehr berüchtigt als berühmt. Diese erschien zuerst in den Jahren 1912 bis 1918in drei Bänden; neu bearbeitet, nunmehr vierbändig zunächst zwischen 1923 » Prosa n, S. 346. Prosa n, S. 491. Die ,Epilegomena zu Dante II' bieten die ausführlichste Darstellung von Borchardts Ideen zur deutschen Literatur des Mittelalters und den Problemen ihrer Erforschung: Prosa H, S. 472-531.

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und 1925, dann von 1929 bis 1932. Eine weitere Überarbeitung begann 1939 zu erscheinen, die schon 1941 abgeschlossen wurde. Sie trug nun den Titel ,Literaturgeschichte des deutschen Volkes'. Daraus stellte Nadler nach dem zweiten Weltkrieg eine einbändige Version her, die 1951 herauskam und einfach »Geschichte der deutschen Literatur' hieß.^s Die vierte Auflage ist im Katalog der Erlanger Universitätsbibliothek mit dem Vermerk „NS" gekennzeichnet. Und in der Tat: das Odium, der prominenteste Nazi-Germanist gewesen zu sein oder wenigstens einer der wenigen, die ihre Disziplin einer konsequent durchgebildeten faschistischen Geschichtskonzeption unterwarfen, ist Nadler nie mehr losgeworden, nachdem er im August 1945 zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war. Schon 1937 veröffentlichte Walter Muschg in Basel eine fulminante Polemik, die sowohl der wissenschaftlichen Systematik als auch den politischen Implikationen von Nadlers großem Werk galt. In einem Nachtrag zu der vierten Auflage heißt es dann bei Muschg: die Neubearbeitung erscheine „als ragendes Monimient einer dem chauvinistischen Rassenwahn verfallenen Literaturwissenschaft".^^ Dem scheint nichts hinzuzufügen. Nadlers Literaturgeschichte ist une affaire classee, es gibt da nichts mehr zu lernen, schon gar nicht etwas zu retten. Kollegen, die sich der Mühe unterzogen hätten, die voluminösen Bände überhaupt zu lesen, kenne ich nicht. Als Gerücht und Schreckgespenst lebt Nadler vor allem in der österreichischen Germanistik fort, der man auch schon ein regelrechtes „Nadler-Trauma" attestiert hat.3^ Es lohnt sich wohl nicht, dieses oeuvre einer neuen Analyse im Detail zu unterziehen. Dennoch ist aus ihm zu erfahren, welche Fehler jede auf Region und Landschaft zielende Literaturgeschichte begehen wird, wenn sie ihre Prämissen nicht auf das allersorgfältigste durchdenkt. Wer Nadlers Gedanken kermenlemen will, liest am besten den schmalen Band ,Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes', der 1934 zum ersten Mal herauskam. In dieser konzentrierten Fassung spielt sich das Drama der deutschen Kultur vor den Augen des verblüfften Lesers in rasantem Tempo ab. Entscheidend ist die Unterscheidung der „Altstämme", das heißt der in der Völkerwanderung etablierten germanischen Völker, von den „Neustämmen", die aus den Kolonisationsbewegunbgen seit dem Mittelalter

Bibliographie und Chronologie im Anhang zu Nadlers Erinnerungsbuch: Josef Nadler, Kleines Nachspiel. Wien 1954. Walter Muschg, Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Die Zerstörung der deutschen Literatur. München 1961, S. 185-200, hier S. 198. Wendelin Schmidt-Dengler, mündlich.

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hervorgegangen sind. Also Franken, Alemannen, Baiem sowie Sachsen und Friesen auf der einen, die Deutschen jenseits der Elbe auf der anderen Seite: die Deutschböhmen, die Preußen, die Kolonisten in Ungarn, in Rumänien und Rußland. Sie umschließen, was Nadler den „Herzraum" des deutschen Volkstums nennt, nämlich Thüringen. Hier hat sich ein „staatsloses Schicksal" erfüllt, das für die deutsche Kultur in mancher Hinsicht bestimmend wurde. Auf der Wartburg kamen die größten Dichter des Mittelalters zusammen, Luther übersetzte ebendort die Bibel, Erfurt war eine führende Universität im Spätmittelalter, Jena in der Goethezeit. Und in Weimar leuchtete das Dreigestim erlauchter Geister, die von weither gekommen waren: der Franke Goethe, der Alemanne Schiller und Herder aus Ostpreußen ... Die Virtuosität, mit welcher Nadler literarhistorische Konstellationen in stammeskundliche Mythologeme umbaut, hat etwas Verrücktes. Wer fände so schnell den gemeinsamen Nenner im Werk von Wagner, Nietzsche und Karl May, den drei großen Sachsen des XIX.Jahrhunderts?38 Nadler, um es kurz zu machen, sind drei Fehler vorzuhalten. Erstens. Sein Grundfehler besteht darin, daß er auf dem primären Gegensatz von „Naturvolk" und „Kulturvolk" aufbaut. Germanen und Slawen seien, lehrte er, im Gegensatz zu den Römern, Natur-Völker - als ob es so etwas wie ein rein natürliches Volkstum überhaupt gäbe. Es ist die Spekulation auf die elementare Naturwüchsigkeit von Sachverhalten, die, wie alles, was die vergesellschaftete Menschheit tut, historisch vermittelt ist und damit zum Bereich der Kultur gehört. Dabei weiß Nadler sehr wohl, daß zum Leben auch Erziehung, Kultivierung, Bildung gehört. An Hofmannsthal schrieb er: „Aber das weiß ich, daß der Deutsche jedesmal absurd wird, wenn er aus der römischen Schule davonläuft. Was hätte aus den Deutschen werden müssen, wenn dieser Büffel von Cherusker nicht die Wege einer großen Entwicklung gekreuzt hätte."^^ Aber das ist nicht der Weisheit letzter Schluß. Am Schluß des Buches über das stammhafte Gefüge feiert er eine Orgie von Naturbegriffen, die zwar oft nur als Metaphern daherkommen, aber dennoch zeigen, worauf es hinausläuft. „Natürliche Gemeinschaften" heißt es da, „Zellenverbände der Anpassung und Abwehr", „Anpassungsorgane des Gesamtvolks"; femer ist von der „Kraft zur Zellteilung" die Rede, von den „Gliedern am Körper des VolJosef Nadler, Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes. München 1934 u.ö., S. 127. Brief vom 9. Juli 1920, nach Werner Volke (wie Anm. 4), S. 64.

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kes", und schließlich lesen wir: die deutschen Stämme „sind alle Glieder eines Leibes und sein Wille ist das Reich".'*° Auch das Telos der Geschichte wird dergestalt an das Naturwesen des deutschen Volkes gebunden. Das führt zum zweiten Punkt. Nadler schließt die Geschichte in das Gehäuse eines großen Heldenepos ein. Sein Werk ist, das hat Muschg kritisch vermerkt, ein Art „historischer Roman", dessen Verfasser einen „nicht alltäglichen schriftstellerischen Glanz" über die vielen hundert Seiten seiner Bände auszugießen in der Lage war.'^i Wenn Borchardt sagt, Nadler habe „die deutsche Landkarte tragisch gemacht", so war das, anderseits, als Lob gemeint.'^^ Jedenfalls konstruierte er eine strikt durchgehaltene Teleologie der deutschen Geschichte: das Volk (Band 1) erringt sich den Geist (Band 2), bevor es sich im Staat (Band 3) organisiert, der seinerseits durch das Reich (Band 4) überhöht wird. Das ist eine Fiktion, die stellenweise grotesk anmutet, so wenn Nadler Goethes Untreue an Friederike Brion als Abkehr des fränkischen Titanismus vom alemannischen Zauber d e u t e t . ' ^ ^ Und drittens: Der historische Roman wird aber erst dann bedenklich, wenn er auf rassistische Axiome zurückgreift. Nadler baut die historische Welt aus der Einheit des Geblütes, die in der Familie gegeben ist, auf. Diese erweitert sich zur Gestalt des Stammes. „Familienkunde" war denn auch eins der Lieblingsthesen dieses Germanisten, der es weder an Fleiß noch an intellektueller Konsequenz jemals fehlen ließ. Noch im Jahr 1944 hielt er zum Beispiel in Erlangen Vorträge vor Panzeroffizieren über „familienkundliche Volksgeschichte".'^^ Das Konzept von Familie und Stamm aber wird in der Vorstellung von der Autochthonie verankert, so daß die Landschaft als das Natursubstrat erscheint, aus welchem die Identität der Stämme hervorgeht. Anders konnte das System wohl nicht funktionieren. Daß der Rassismus im Einzelnen zu ungezählten Absonderlichkeiten zwingt, ist leicht zu belegen. Warum bekennt sich Wolfram mehrfach mit Emphase zu Heinrich von Veldeke? „Vielleicht unter dem Drange der Stammesgleichheit", mutmaßt Nadler,'^^ denn beide waren Franken, aller-

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Nadler (wie Anm. 38), S. 193-195. Muschg, (wie Anm. 36), S. 186. Prosa IV, S. 263. Das schöne Beispiel bei Muschg (wie Anm. 36), S. 191. Vgl. Nadler (wie Anm. 35), S. 146. ^^ Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Zweite Auflage, Band 1. Regensburg 1923, S. 108.

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dings Ostfranke der eine, der andere ein Franke vom Niederrhein ... Im übrigen narmte Wolfram sich, wie man weiß, einen Baiem: ein pris den wir Beier tragn, /mmz ich von Wäleisen sagn: /die sint toerscher denne beiersch her (121,7ff.). Das war auch schon Andreas Heusler aufgefallen, der anmerkte: „Was diese Stämme unterschied, war gewiß zum kleineren Teil das ,Blut' (...): es waren die ungleichen staatlichen und sittengeschichtlichen Erlebnisse. Das erhielt die Sache immer im Fluß, von einer Konstanz der Stammesart wäre schwer zu reden". So in einem Brief an den Basler Kollegen Muschg.'*^ Das Rätsel jener Parzival-Stelle ist bis heute nicht gelöst. Wahrscheinlich redete Wolfram damals zu einem bairischen Publikum.- Nadlers Lehre hat etwas Paranoisches; als ein Wahnsystem ist sie am Ende nur für ihren eigenen Urheber ganz durchsichtig. Die Lektüre der Autobiographie, die Nadler mit siebzig Jahren abfaßte, zeigt ihn als einen monomanen Selbstdenker, der in seinem Leben nur einen einzigen Gedanken dachte, diesem aber eine Kraft zutrauen zu dürfen meinte, die ihn sozusagen welthellsichtig machte. Auch sein Prager Lehrer August Sauer hatte die Literaturgeschichte an die Volkskunde zu binden versucht, so in der programmatischen Rektoratsrede von 1907, aber Nadler beharrte darauf, dieses Konzept schon zwei Jahre früher, als Einundzwanzigjähriger, notiert zu haben.'^^ Er ermangelte jeder Urbanität, transkulturelle Eleganz ging ihm gänzlich ab. Er war am 28. Mai 1884 in dem kleinen Ort Neudörfl in Nordböhmen geboren worden, gehörte einem „Menschenschlag von Grüblern und Basdem" an'*® und war stolz auf seine einfache Herkunft. Er schreibt oft eindrucksvoll, aber wenig coUoquial. Um das Einverständnis seiner Leser ist es ihm offenkundig kaum jemals zu tun. Man vergleiche die Parataxe des Emst Robert Curtius, die oft arrogant daherkommt, aber den Leser nicht zu blenden sucht; ein anderes Beispiel für autoritären, aber nicht eifernden Lakonismus bietet Andreas Heuslers Prosa. Was Borchardt und Hofmannsthal an Nadler faszinierte, ist schwer zu sagen. Zwar gibt es bei Borchardt einige Affinität im Tonfall. Aber die grandios ansetzenden Hypotaxen des gelehrten Dichters erzeugen immer wieder eine intellektuelle Spannung, die über das hinaustreibt, was Borchardt an Ort und Stelle sagen will, während Nadlers rhetorische Prachtzit. bei Muschg (wie Anm. 36), S. 192. ^^ Vgl. August Sauer, Literaturgeschichte und Volkskunde. Rektoratsrede, gehalten in der Aula der k.k. deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag am 18. November 1907; dazu Nadler (wie Anm. 35), S. 34. Nadler (wie Anm. 35), S. 130.

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entfaltung daraufhinausläuft, dem Leser die eine einfache Wahrheit immer neu einzuhämmern... Hofmannsthal machte Nadler im Mai 1920 in Freiburg in der Schweiz seine Aufwartung,und Borchardt schrieb zwei lobpreisende Artikel, als Nadler 1929 den Martin-Bodmer-Preis der Gottfried-Keller-Stiftung zu Zürich erhielt.Aber am Ende notierte sich Hofmannsthal: „Bedenklich Determinimus - alles Höhere des Menschen aus seinem Niedersten entwickeln - eine Art Freudianismus".®! Als Borchardt ihn gebeten hatte, sich bei dem Freund Karl Vossler für Nadlers Berufung nach München stark zu machen, empfahl Hofmannsthal stattdessen Walther Brecht, der ihm denn doch näher stand. Borchardt aber quälte sich noch im Jahr 1943, kurz bevor ihn selber die Schergen Hitlers ergreifen sollten, mit Nadlers Theorien über die Juden in Deutschand und vor allem in Ostpreußen, das Borchardts Heimat war.53 Er wird jetzt der bestürzenden Effekte von Nadlers Rassismus irme, denn Nadler erweist sich, wie in seinen Büchern zu lesen, als unfähig, die spezifische Kulturleistung zu verstehen, die Assimilation und Emanzipation der Juden ausmacht. Schärfer als in diesen verzweifelten Notizen, die zu keinem Schluß fanden, ist Nadler nie kritisiert worden. Er blieb am Ende ohne Erfolg. Borchardts Abrechnung aber, ein schwieriger, gewundener Monolog, hatte keine Chancen mehr, veröffentlicht zu werden. Borchardt ließ sich nicht in erster Linie von der Landschaft als einem Natursubstrat von Kunst und Kultur faszinieren. Viel wichtiger waren ihm die Errungenschaften des Gartenbaus. Im Garten wird Natur umgebildet, Tradition hergestellt, wird den Wirkungen von Erdreich und Klima entgegengearbeitet. Die Gärten der toskanischen Villen, in denen er jahrzentelang seinen Wohnsitz hatte, waren berühmt: sei es für die Pracht der darin

Vgl. Josef Nadler, Zu Besuch in der Schweiz. In: Hebnut A. Fiechtner, Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Wien 1949, S. 202-206. 50 Prosa I, S. 401-410; Prosa IV, S. 254-263. 51 Hugo von Hoftnannsthal, Prosa IV. Frankfurt 1955, S. 495. Vgl. Emst Osterkamp, „Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre". Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die Muncker-Nachfolge 1926/27 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 348-369). - Christoph König, „Geistige, private Verbündung". Brecht, Nadler, Benjamin und Hugo von Hofmannsthal. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910bis 1925,hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, (Fischer Taschenbuch 11471). Frankfurt 1993, S. 156-171. 53 Prosa IV, S. 370-396.

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angesiedelten Flora, sei es um der Eloquenz willen, die Borchardt in deren Erläuterung zu investieren pflegte.^'^ Texte wie die ,Gartenphantasie' von 1925 und vor allem das enzyklopädische Werk ,Der leidenschaftliche Gärtner', 1938 niedergeschrieben und erst posthum veröffentlicht, feiern den „Kampf um die Kulturpflanze, die gezogene, gezüchtete, gestaltete Blume anstatt der blühenden Wildpflanze, die noch ungefähr so wie sie über See herkam in allen Gärten w u c h e r t " . 5 5 in seinen autobiographischen Texten konstruierte Borchardt sich selbst als ein Produkt unausgesetzter Kultivierung durch seine eigene Arbeit und die Bildungsvoraussetzungen dieser Arbeit. Das ist ein Aspekt des Themas. Der andere besteht darin, daß Borchardt sein restauratives Tun nicht als beschwörendes Raunen vom Ursprung verstand. Hofmannsthals Rede ,Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation' spekulierte auf eine „konservative Revolution" als Heilmittel gegen die Unbilden der Gegenwart in den späten Zwanzigerjahren. Was darunter zu verstehen sei, blieb ganz unklar. Es zählte wohl in erster Linie die Geste, die neoromantische Verkündigung eines großen Zurück. Borchardt dagegen stellte sich, zur gleichen Zeit, seine Aufgabe ganz anders vor. Nicht auf ein halb träumerisches Erinnern kam es ihm an, sondern auf radikale, konstruktive Intervention. „Wunden zu heilen, Glieder zu schienen, Zerstreutes zu sammeln. Zerrissenes herzustellen",®^ das war sein Projekt. Deshalb der deutsche Dante in der Sprache des Quattrocento, der in der Geschichte versäumt worden war: und mit allen Reimen. Die Commedia war nur die grandioseste von diesen Unternehmungen, mit welchen die Fatalität dessen, was nun einmal gewesen ist, korrigiert werden soUte. Bei Borchardt gibt es keinen Glauben an die Notwendigkeit der historischen Entwicklung. Ganz anders Nadler: Er halluziniert jede Einzelheit als organisch Notwendiges, als Glied vom Ganzen. Der Glaube an die Geschichte als Natur macht ihn blind für alles, was verfehlt und vergessen und verfemt worden ist. Was es nicht gibt, hat es auch nicht geben müssen.

Vgl. den Bericht von Max Rychner (wie Anm. 14), S. 68f. 55 V ^ . Rudolf Borchardt, Der leidenschaftliche Gärtner. Stuttgart 1968. Dort S. 29 das Zitat aus der ,Gartenphantasie'. Vgl. neuerdings Gerhard Schuster, Der leidenschaftliche Gärtner. Rudolf Borchardt am Bodensee, (Spuren 22). Marbach am Neckar Mai 1993. 56 Rudolf Borchardt, Reden. Stuttgart o.J., S. 252.

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4.

Wir erinnern uns an Nadler als ein Symptom für die Problematik regionaler Literaturbetrachtung. Was er ims lehren kann, ist dies eine: alle Betrachtung des landschaftlich und landsmannschaftlich Partikulären setzt ein Universelles voraus. Die pure regionale Intensität gibt es nicht. Bei Nadler erscheint dieses Allgemeine in der Gestalt des Imperiums, auf das alle Sonderwege der Stämme hinführen. Nur im Gehäuse rigider Institutionen kann sich das Eigenleben der Stämme entfalten. Daß dieses unvermischte Natursubstanz zur Geltung bringe, ist eine unhaltbare petitio principii. In Wirklichkeit erweist sich das Stammesleben der alten Deutschen als das Produkt einer geradezu terroristischen Phantasie mit paranoiden Zügen. Aber wir müssen dennoch über Landschaft und Region nachdenken. Und es muß anders gehen als bei dem Selbstdenker aus Neudörfl. Borchardt, denke ich, hat Vorschläge gemacht, wie das anzufangen wäre. Regionen lassen sich definieren, ohne daß wir das Phantasma der Autochthonie und die Pseudonatur von Stamm und Familie heraufbeschwören. Das ist dann mögjyich, wenn wir die Tradition nicht als blind über die Menschen verhängtes Schicksal auffassen, sondern als Arbeit, als aktives Handeln. Borchardt lehrt auch, daß Regionen in Relationen zu bestimmen sind. Es gibt literarische und Kulturbeziehungen, aber nicht das grandiose Drama der Literaturgeschichte, weder als interessanten Roman noch als imponierende Tragödie. Vielmehr ist der Ansatz bei der Region nichts als ein Einsatz im Spiel jener Wahrheiten, die sich vielleicht zur Literaturgeschichte addieren. Als Leser Borchardts schlage ich vor, das Prius der Interregionalität vor dem Re^nalen gelten zu lassen. Wie in der strukturalistischen Linguistik die Differenz der Identität vorangeht und in der poststrukturalistischen Literaturtheorie die Dissemination der Zeichen jede Einheit des Begriffs unterläuft, wird in der modernen, zeitgemäßen Theorie der Literaturregion die Regionalität als ein Effekt der interregionalen Textur in Erscheinung treten. Die Germanisten haben versucht, mittelalterliche Literaturregionen so oder so zu umschreiben; es kommt darauf an, sie alle zu dekonstruieren.

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Überlegungen zu Hof und Schrift Zur Globalisierung von Kommunikationsstrukturen. Die ersten Schritte 1. Vorbemerkungen Die kritisch resümierende, wenn auch kaxim schon abgeschlossene Auseinandersetzung mit dem Epochenbegriff,i der sich in der Literaturgeschichtsschreibung als besonders produktiv, aber auch als restriktiv erwiesen hat, führt zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Klassifikation und der Beschreibung mittelalterlicher imd friihneuzeitlicher Literatur. Historische Ordnungskategorien erscheinen auch im Posthistoire nicht ganz verzichtbar, und zugleich herrscht weitgehender Konsens darüber, daß sich die alten Ordnungskategorien, die auf das ontologische Geschichtsmodell des deutschen Idealismus zurückführen, nicht weiter fortschreiben lassen. In der Geschichtswissenschaft und der Soziologie sind daraus folgenreiche Konsequenzen gezogen worden. Koselleck hat den Terminus der „Sattel- und Schwellenzeiten" vorgeschlagen,^ und Luhmann spricht noch allgemeiner von „Zeiten relativ häufiger imd tiefgreifender Strukturveränderung. Als neue Eckpunkte einer literarhistorischen Betrachtungsweise schlägt er die

' Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer. Frankfurt a. M. 1985 (stw 486). - Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhan Herzog, Reinhart KoseÜeck. München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12). - Rainer Rosenberg, Epochengliederung. Zur Geschichte des Periodisierungsproblems in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: DVjs 61 (1987), Sonderheft, S. 216-235. ^ Reinhart Koselleck, .Neuzeit*. Zur Semantik modemer Bewegungsbegriffe. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. ^1984, S. 300-348. ^ Niklas Luhmann, Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Epochenschwellen (wie Anm. 1), S. 11-33. Hier S. 16.

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Orientierung an „evolutionären Errungenschaften" vor, die die Verhältnisse der Kommunikation auf eine irreversible Weise verändert haben. Dazu zählt er die Einführung der Schrift, des Buchdrucks und der neuen Medien,und er scheint sich dabei an dem Paläontologen Andre Leroi-Gourhan zu orientieren, der die mündliche Überlieferung, die Schrift, die Registrierung (von Schriften) durch Karteikarten und die elektronische Datenverarbeitung als entscheidende Stationen für die Exteriorisierung des menschlichen Gedächtnisses und für die mediale Weitergabe von kulturellen Daten hervorgehoben hat.5 Dieser mediengeschichtliche Zugriff hat sich seit etwa zwanzig Jahren in verschiedenen Wissenschaften etabliert und zu einem leitenden Paradigma der Kulturwissenschaften entwickelt. Auf die Mediävistik richten sich dabei besondere Erwartungen, weil von den Mittelalterwissenschaften die Quellen für zwei entscheidende Umbruchsituationen verwaltet werden, - für den Übergang von der oralen Gedächtniskultur (brain memory) zur Manuskriptkultur (script memory) und von der Manuskriptkultur zur Druckkultur (print memory). Unter dieser Perspektive sind aus mittelalterlichen Texten neue Einsichten zu erschließen, die nicht nur für die Mediävistik im engeren Sinn, sondern für die Philologien und für die historischen Kulturwissenschaften insgesamt von hohem Interesse sind. Die Verschriftlichung der Volkssprachen in Mitteleuropa vollzieht sich als ein Vorgang von besonderer Komplexität, weil ihr, gestützt auf die lateinische Schriftkultur, bereits eine ausgebildete Literaturgesellschaft vorausgeht. Aus der Perspektive der Schriftkultur erscheint das alte Medium problematisch, als defizitär und zugleich als dämonisch (mhd. wilde), weil es sich der Kontrolle durch die Schrift entzieht. Um die Ambivalenz dieses Konkurrenzverhältnisses anzudeuten, stelle ich den Überlegungen zu Hof und Schrift vier Oppositionen voraus, die einige der Spannungen spürbar werden lassen, die langfristig das Verhältnis von Oralität und Scriptoralität begleiten: 1. Gottes Stimme ist in den Gesetzestafeln festgehalten, in der heiligen und heilenden Schrift. Es ist das verbum Dei, die Schrift des Gesetzes, die Gott selbst vertritt. Die Geschichte der Sünde beginnt mit den Worten der Schlange. Ihre Stimme sprengt die Disziplin des logos, die schöne Ordnung Gottes, durch die FüUe der ihr eigenen Vitalität.^ Luhmann (wie Anm. 3), S. 20f. Andre Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M. 1988. Vgl. hierzu Paul Zumthor, La poesie et la voix dans la civilisation medievale. Paris 1984, S. 60f.

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2. Thomas spricht bei der Nachricht von der Auferstehung Christi: Es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, will ich 's nicht glauben (Joh. 20,25.). Demgegenüber steht die Forderung von Paulus, dem Apologeten der Schrift, nicht zu sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig (2. Kor. 4,18; 5,7). 3. Der Illitteratus ist der nicht durch Schriftkenntnis Gebildete. Die Schrift definiert die Mündlichkeit ex negativo, als ,nicht', und sie verweigert diesem ,nicht' die inhaltliche Füllung, den Reichtum der multisensorischen Wahmehmimg, der die Stimme im Ensemble von Mimik, Gestus und Habitus ihr eigentliches Fluidum verdankt. 4. Die Volkssprache ist als Muttersprache das Organ primärer Welterfahrung, die das Kind im Kontext der Familie erwirbt. Sie bindet an den familialen Raum und ist in der Regel ausgezeichnet durch einen besonderen Reichtum affektiver Dimensionen, durch Bildlichkeit, Expressivität, Emotionalität. Die Vatersprache erscheint demgegenüber als Sprache der Distanz, der größeren Abstraktion und der höheren Reflexivität. Sie wird nicht im Raum der familialen Nahwelt, sondern in der Schule mit Hilfe der Grammatik erlernt.^ Die Bi-Medialität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die das ganze Mittelalter prägt, ist durch die Opposition dieser Paradigmen zu charakterisieren: Schlange - Thomas - Illitteratus - Volkssprache vs. Gott - Paulus Litteratus - Latein. Die Volkssprache wird dabei in den eher mythologischen wie in den weniger mythologischen Assoziationsfeldern als defizitär charakterisiert, als weniger anspruchsvoll, als weniger leistungsfähig und als verführerisch im Blick auf eine mögliche Gefährdung der prämierten Standards. Daraus ergibt sich die Frage, unter welchen Vorzeichen und aufgrund welcher Vorzüge sich die Volkssprache etablieren und an den Zentren des dynastischen Adels, die zugleich als wichtige Kommunikationszentren zu gelten haben, sich durchsetzen konnte.

7 Henry David Thoreau, Waiden, or: Life in die Woods (1853). New York 1963. Nach Aleida Assmann, Kultur als Lebenswelt und Monument. In: Aleida Assmann, Dietrich Hardt, Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M. 1991, S. 11-25. Hier S. 14f.

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2. H o f und Schrift Im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert gewinnt die volkssprachige Literatur zunehmende Bedeutung in einer semi-oralen Adelsgesellschaft, in der sich Lernen grundsätzlich durch Teilhabe vollzieht und erst sekundär durch die Schrift: Höfisch-vorbildliches Handeln lernt der junge AdHge durch Partizipation am höfischen Leben, durch Nachahmung, indem er hörend und vor allem sehend sich einstellt auf die prämierten Verhaltensweisen, die ihm vorbildliche Vertreter seines Standes vorleben.^ Im jWälschen Gast', der ersten volkssprachigen Adelslehre, die wir hineinzustellen haben in die Umgebung des Patriarchen Wolfger von Aquileja und präzise auf das Jahr 1215/16 datieren können, fordert Thomasin von Zerclaere, daß die jungen Adligen sich höfisches Verhalten aneignen in der nachahmenden Teilhabe am Leben vorbildlicher Ritter:

ein ieglich edel kint mac sich seihen meistern alle tac. sehende, hoerende, oh er wil, und gedenkent lernt man vil. (,Wälscher Gast', v. 613ff.)9 (Jeder junge Adelige kann jederzeit an sich selbst arbeiten. Durch Hinsehen, Hinhören und Nachdenken kann er, wenn er dazu bereit ist, viel lernen.) Der geschriebene Text bezieht sich damit auf seine konkrete Antithese: Thematisiert wird eine textunabhängige Kommunikationssituation, eine face-to-£ice-Situation, die mit der verbalen Verständigung zugleich die Erfahrung des Gegenüber in seiner körperlichen Erscheinung und seinem Verhalten berücksichtigt. Über den komplexen Charakter einer solchen ® Horst Wenzel, Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur. In: Materialität der Kommunikation, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988, S. 178 - 202. Vgl. Eric A. Havelock, Preface to Plato. Harvard University Press. Cambridge 1963 (A History of the Greek Mind 1). Repr. 1982. - Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton University Press. Princeton, New Jersey 1983. - Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. München 1986. Hier bes. Bd. 2, S. 596ff. ' Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirklaria, hg. von Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung von Friedrich Neumaim. Berlin 1965.

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Verständigung sind wir uns aufgrund zahlreicher Studien zum Verhältnis von Schrifdichkeit und Mündlichkeit einigermaßen im Klaren. So heißt es bei Goody und Watt: „Die Bedeutung eines Wortes bestimmt sich [...] in einer Folge konkreter Situationen, mit denen stimmliche Veränderungen und körperliche Gesten einhergehen, die alle darauf zielen, seine spezifische Bedeutung und seine Nebenbedeutungen festzulegen. Dieser Prozeß direkter ,semantischer Ratifizierung' vollzieht sich natürlich kumulativ; und aus diesem Grunde wird die Totalität der Symbol-Referent-Beziehungen vom Individuum in einer ausschließlich oralen Kultur unmittelbar erfahren, so daß es gründlicher sozialisiert wird."'° Die „Situation", die hier betont wird als bestimmender Horizont konkreten Sprechens und Wahrnehmens, wird also nie in ihrer vollen Komplexität, sondern immer schon als interpretierte Situation erfaßt. Dabei ist die Sprache nur eines von vielen Ausdrucksmitteln, das Hören nur eine von vielen Sirmeswahrnehmungen, die überdies zurücktritt gegenüber der optischen Wahrnehmung. Das Ergebnis dieses Uberprüfungsprozesses ist die Stabilisierung oder die Modifikation des eigenen Verhaltens, Voraussetzung ist die immer schon prämierte Anerkennung von prestigebesetzten Vorbildern: merke waz der beste tuot (,Wälscher Gast', v. 618). Aristokratisches Lernen vollzieht sich demgemäß als Nachahmung vorbildlicher Körper und Konfigurationen, deren lebendige Erscheinung mit allen Sinnen aufgenommen wird, doch primär mit den Augen, weil sich aristokratischer Status auch primär für die Augen darstellt. Die wichtigste Form der höfischen Erziehung ist deshalb die Nachahmung lebender Modelle aus der Gruppe vmmer Hute: In sinem muot man stille sol einn vrumen man erweln wol und sol sich rihten gar nach im, daz ist tugent unde sin.

(,Wälscher Gast', v. 627ff.)

(Man soll sich in aller Stille einen guten Mann zum Vorbild wählen und sich ganz nach ihm richten. Das hat Tugend und Verstand.) Jack Goody, lan Watt, Konsequenzen der Literalität. In: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, hg. von Jack Goody u. a.. Frankfurt a. M. 1986, S. 63-122. Hier S. 66. Vgl. dies., The Consequences of Literacy. In: Literacy in Traditional Societies. Ed. by Jack Goody. Cambridge 1968, S. 2 7 - 6 8 .

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In der kindlichen Erziehung, aber auch in der Erziehung am Hof, dominiert zunächst die Erziehimg durch Teilhabe, die Orientierung an einem lebendigen Vorbild, einer lebendigen Bezugsperson. Die Erziehung, die sich mit einem derartigen Bezug verbindet, ist nicht textualisiert, sondern charakterisiert durch die Fülle all der Zeichen, die in der face-to-face Situation wirksam werden. Die mündliche Rede wird geprägt durch die Stimme, die sie trägt, und bringt den ganzen Körper in das Spiel der Kommunikation. Sie widersetzt sich deshalb mehr als der geschriebene Text einer Analyse, die die Sprache aus ihrer sozialen Funktion herauslöst und von dem Ort ablöst, den der Sprecher selbst in der realen Gemeinschaft einnimmt, der er zugehört, auf die er sich direkt oder indirekt beruft, und vor der er seine Worte zu Gehör bringt. Viel mehr als der geschriebene Text, der von den manuellen oder mechanischen Schreibtechniken geprägt ist, hängt der mündliche Text von den Bedingungen und Eigenheiten ab, die jede mündliche Kommunikation bestimmen. Entscheidend ist das hic et nunc, das Hier und Jetzt, die konkrete Bedingung von Raum und Zeit, entscheidend ist die Expression und weniger entscheidend die Abstraktion oder die Distanz. Das ändert sich mit der zunehmenden Durchsetzung skriptoraler Techniken und einer skriptoral geprägten Mentalität. An den höfischen Zentren, die sich bereits dadurch auszeichnen, daß sie Kanzleien und Schreibstuben besitzen, wird auch das Medium der Schrift verstärkt genutzt, um den Konsens über aristokratische Lebensformen herzustellen." Der Einsatz der Schrift bedeutet jedoch nicht, wie Luhmann nachdrücklich hervorhebt, „daß zunächst nur mündlich und dann nur schriftlich kommuniziert wird." Vielmehr stehen mit der Einführung der Schrift „beide Kommunikationsmöglichkeiten zur Wahl, sie erklären sich wechselseitig und können in je ihrer Art verfeinert werden, so daß die Wahl der Form und ein etwaiges Zusammenwirken reguliert werden m ü s s e n . " In erster Linie ist die Schrift ein Instrument organisierender Wirklichkeitsbewältigung und herrscherlicher Repräsentation. Der dynastische Henry John Chaytor, From Script to Print. An Introduction to Medieval Vemacular Literature. New York 1967, S. 4. - Klaus Schreiner, , H o f (curia) und ,höfische Lebensführung' (vita atrialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit. In: Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200, hg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 67-139. - Hans Ulrich Gumbrecht, The Body Vs. the Printing Press: Media in the Early Modem Period, Mentalities in the Reign of Castile, and Another History of Literary Forms. In: Sociocriticism 1 (1985), S. 179-202. Luhmann (wie Anm. 3), S. 20.

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Adel beginnt dementsprechend, die Möglichkeiten der Schrift nicht nur für Zwecke der Verwaltung, sondern auch zur Darstellung und Deutung seiner selbst zu nutzen. Höfische Sozialisation als Nachahmung erfahrener, als Muster anerkannter Vorbilder {vmmer liute) bleibt tendenziell gebunden an die Überlieferung von Generation zu Generation. Das erweist sich jedoch als zu langer und zu schwieriger Prozeß, um die Integration in den höfischen Lebensstil und die Verständigung der höfisch Lebenden so schnell und gründlich zu ermöglichen, wie es nunmehr wünschenswert erscheint. Dies wird eine zentrale Aufgabe der Literatur, besonders der volkssprachlichen höfischen Dichtung. Im Vordergrund des höfischen Interesses steht die Auseinandersetzung über ein höfisch vorbildliches Menschenbild, stehen Fragen der Statusinterpretation, der Anwendung und Modifizierung von Statusregeln. Dies Interesse verbindet Höfe gleicher oder ähnlicher Zentralität.^^ Höfische Literatur erweist sich deshalb potentiell als übertragbar, ist nicht ausschließlich regional gebunden wie viele Formen der mündlichen Überlieferung, in denen die jeweils besondere Situation den Ausschlag gibt. Dementsprechend konzediert auch Thomas Klein, der sich grundsätzlich gegen die Klischeevorstellung einer „höfischen Literatursprache" wendet, „mehrere koexistierende regionale Literatursprachen mit großen Gemeinsamkeiten in Wortschatz und Phraseologie und einer Tendenz zur übermundartlichen Stilisierung, die eine gewisse Konvergenzbewegung dieser regionalen Literatursprachen zur Folge hat."!'* Gemessen an der Regionalität der Dialekte zeichnet sich die höfische Literatur bereits durch einen hohen Grad an Allgemeingültigkeit und Generalisierung aus. Sie schafft die Möglichkeit, den räumlich voneinander separierten Adel, der nicht direkt miteinander kommunizieren kaim, auch über große Distanzen hinweg zu koordinieren, und sie überwindet damit die räumliche und zeitliche Gebundenheit mündlicher Kultur. Wo der Adel selbst nicht reisen kann, mobilisiert er Briefe oder Manuskripte, Horst Wenzel, Zentralität und Regionalität. Zur Vernetzung mittelalterlicher Kommunikationszentren in Raum und Zeit. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des Vn. Internationalen Germanisten-Kongresses. 11 Bde. Göttingen 1985. Bd. 7: Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Literatur vor Lessing - nur für Experten? Hg. von Klaus Grubmüller, Günter Hess. Tübingen 1986, S. 14-26. Rudolf zur Lippe, Naturbeherrschung am Menschen. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1974, S. 126. Thomas Klein, Zum Verhältnis von Sprachgeschichte und Literaturgeschichte in der gegenwärtigen Mittelaltergermanistik. In: D U 41 (1989), S. 91-103. Hier S. 102.

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die die feste Bindung zwischen der Person und ihrem Ort relativieren. Einen ähnlichen Befund konstatiert). H. Smith am Beispiel von Heiligenlegenden für die britischen Verhältnisse: „In Brittany, writing was important not because it represented the power of the clergy over the laity but because it could make or break the link between saint and place. The significant dichotomy is not clerical opposed to lay or populär, but rather local, particular, and uncentralized as distinct from foreign, intrusive, and hierarchical."i5 Ahnlich heißt es auch bei Havelock in der Gegenüberstellung von visä-vis-Kommunikation und Schrift, daß die überregionale Selbstdeutung, „by a voice which is collective, a voice of the Community [...] requires a body of language ,encoded' (as we say in literate terms) to carry the necessary Instructions."!^

3. Medienwechsel und Generationswechsel Die Ausbreitung der volkssprachlichen Literatur der Höfe trägt ganz erheblich bei zur Artikulation eines aristokratischen, durch höfische Exklusivität geprägten Identitätsbewußtseins, das überregionale Relevanz gewinnt. Höfische Literatur fördert ein gemeinsames Normbewußtsein, einen Maßstab für höfisches Verhalten und für intellektuelle Qualifikation. Wer die höfischen Erzählungen nicht kermt, wer die Sprache des Hofes nicht beherrscht, wird als i/örper disqualifiziert. In Wolframs ,Parzival' kann nicht nur die Königin des Artushofes lesen und schreiben, sondern auch Gahmuret und Gawan. Der Aufwertung der Schriftlichkeit als Attribut des Adels entsprechen die Forderungen zu lesen und lesend zu lernen, wie das Leben einzurichten sei. So heißt es im deutschen ,Cato': Swelch leser von geschihte wil merken diz getihte, der sehe daz er kere sinen muot ze ganzer lere.

Julia M. Smith, Oral and Written. Saints, Miracles, and Relics in Brittany, c. 8501250. In: Speculum 65 (1990) S. 309-343. Eric A. Havelock, The Muse Leams to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. Yale University Press. New Häven, London 1986, S. 69.

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Und daz er gerne lerne: wan der niht lernet gerne, dem ist sin leben wilde und als des tödes bilde. (,Cato', V. 337ff.)i7 (Welcher Leser Nutzen ziehen will aus dieser Dichtung, der sehe zu, daß er ihren Sinn auch ganz erfaßt und sich bemüht, daraus zu lernen: Wer nicht lernen will, der läßt sein Leben ohne Sinn, ein Abbild des Todes.) Hier wird die These formuliert, daß die Schrift (das Lesen) den Lernenden davor bewahre, daß sein Leben wilde bleibe, ein Ort der Leblosigkeit {als des tödes bilde) im organischen Gefüge einer hoch organisierten Kommunikationsgemeinschaft. Die Bücher werden zum Garanten avancierter Erziehung und Lebensführung: DH solt diu buoch gerne lesen und niht äne lernen wesen: hästu der schrifte minne, sie zieret dir muot unde sinne. (,Cato', V. 405ff.) (Du sollst mit Verlangen die Bücher lesen und nicht leben ohne zu lernen: Besitzt du die Liebe zur Literatur, schmückt sie dir Gemüt und Verstand.) Der deutsche Cato. Geschichte der deutschen Übersetzungen der im Mittelalter unter dem Namen Cato bekannten Distichen bis zur Verdrängung derselben durch die Übersetzung Sebastian Brants am Ende des 15. Jahrh., hg. von Friedrich Zamcke. Leipzig 1852. In diesem Sinne heißt es weiter: GentH daz dir werde gegeben ein reine sicherlichez leben, und daz din gemüete si von schenükhen dingen vri, so heiz dir tuen ze maneger stunt diu Wort mit lesen kunt. hoere und merke wol da bi waz dir guot oder schade si; du vemimst die wüe etewaz dazu du gevarest deste baz. (,Cato', V. 425f.)

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Umgekehrt wird auch der Mensch selbst zum Produkt der Bücher, zum Produkt und Ergebnis eines Schreibvorganges, der mit der Geburt einsetzt. Jedes Kind erscheint dem Teichner als ein unbeschriebenes B l a t t , d a s von Mutter und Vater abstammt, doch erst eigentlich zum Menschen wird durch seine Beschriftung: der mensch der wirt gebom zwir, von dem vater und von der muoter. so ist diu ander buort noch gmter, daz er lernt heschaidenhait. der anvanck ist recht berait alz ein ungeschriben blat daz man noch muot ze schriben hat, dar uff man schrtbet, waz man wil. (Teichner, v. 503,112ff.) (Der Mensch wird zweimal geboren, zum ersten von Vater und Mutter. Doch ist die zweite Geburt noch wichtiger, daß er lernt, was er wissen muß. Der Beginn ist anzusehen wie ein unbeschriebenes Blatt, das man noch zu beschreiben gedenkt, worauf man schreibt, was man will.) Mit der zunehmenden Bedeutung literarischer Kommunikation in der Volkssprache wird die individuelle Lebenserfahrung als Reservoir von lebenspraktischem Wissen zunehmend relativiert. So klagt bereits Hugo von Trimberg (1280-1313) in seiner umfassenden Erziehungslehre ,Der Renner' über die Marginalisierung der Alten durch die besserwisserischen Schlaeger macht dieses Motiv zvim Thema einer eigenen Untersuchung und konstatiert: „Ein unbeschriebenes Blatt kann sprichwörtlich erst da sein, wo Schriftlichkeit untrennbar zum Persönlichkeitsverständnis gehört. Im Englischen sind Wendungen, in denen Leben und geschriebene Seite in Verbindung gebracht werden, erst seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bekannt, und das ist genau die Zeit, in der dort erste Dokumente einer individualisierenden Selbstverschriftlichung entstehen." Jürgen Schlaeger: Das Ich als beschriebenes Blatt. Selbstverschriftlichung und Erinnerungsarbeit. In: Memoria. Vergessen und Eriimem, hg. von Anselm Haverkamp, Renate Lachmann. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 15). München 1993, S. 315-337. Hier S. 323f. Es zeigt sich auch in diesem Fall, daß viele Phänomene, die man dem Einfluß des Buchdrucks meint zuordnen zu köimen, bereits im 12. und im 13. Jahrhundert unter den Bedingungen der Manuskriptkultur auftreten. - Das folgende Zitat nach: Die Gedichte Heinrichs des Teichners, hg. von Heinrich Niewöhner. (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 46). Berlin 1954.

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Jungen. Im Medium der Schrift verteidigt er die Alten als hörbare und sichtbare Vorbilder der Jugend. Das Wissen, das sie weitergeben, erscheint ihm besonders dauerhaft, die Alten selbst besonders ehrenwert: Swaz die jungen von den alten Sebent, hoerenU daz wirt behalten Vürbaz aber ein ander jdr Ez si gelogen oder war: Da von wer gmt, daz alte Hute Wol gezogen weren hiute, Getriuwe und wärhaft von den jungen. (,Renner', v.

873ff.)2o

(Was die Jungen von den Alten abschauen und vernehmen, das behalten sie das ganze Jahr, sei es gelogen oder zutreffend: Deshalb wäre es gut, wenn alte Leute heute von den Jungen ehrlich und getreu behandelt würden.) Zunehmende Schriftlichkeit bewirkt dagegen, daß die Autorität der Alten zu schwinden beginnt. Die Alten werden nicht mehr akzeptiert als vorbildliche Traditionsträger, weil das Medium des Buches die Aneignung des Traditionswissens sehr viel schneller, sehr viel effektiver, sehr viel breiter ermöglicht als die Lehrer selbst: Daz junge Hute die alten hten Und sich vorne gein in Mrten, Swenne sie sie mit witzen lerten Wie si guot und m gemerten: So kerent si nu den rücke dar Do si der alten nement war. Und habent ir gespötte üz in. Sit man schuolbuoch in die hant Krumpte und durch die gürtel want, Sit wart unmere schuolmeister lere, Ir lön, irfürderunge und ir ere. {,Renner', v.

16395ff.)

Hugo von Trimberg: Der Renner, hg. von Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. Tübingen 1908. Reprint Berlin 1970. Vgl. auch Renner v. 13877ff., 16392ff., 16477-80. - Vgl. femer Mai und Beaflor. Eine Erzählung aus dem dreizehnten Jahrhundert. (Dichtungen des deutschen Mittelalters, Bd.7). Leipzig 1848. Nachdruck: Hüdesheim 1974. V. Iff.

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(Wie junge Leute die alten ehrten und sich ihnen zugewandt haben, wann immer diese sie belehrten, wie sie Besitz und Ansehen mehren könnten, so wenden sie den alten nun den Rücken zu, wenn sie diese wahrnehmen und haben ihr Gespött mit ihnen. Seit man Schulbücher in die Hand genommen hat und am Gürtel zu tragen begann, seitdem ist die Lehre der Schulmeister entwertet, ihre Anerkennung, ihre Förderung und ihre Ehre.) Giesecke geht davon aus, daß erst der Einbruch des neuen typographischen Programmes in das Unterrichtssystem die Autorität des Lehrers relativiert: „Verglichen mit den mittelalterlichen Lehr- und Lemtraditionen mußte jeder gedruckte Donat in der Hand eines Schülers als Fremdkörper erscheinen, der die Autorität des Lehrers relativiert und zu einer Neubestimmung derselbigen nötigt. Der Donat in der Hand des Schülers erscheint als eine unabhängige Informationsquelle, als ein Informationsspeicher, aus dem der Schüler Wissen abzapfen kann, welches der Lehrer nicht hineingegeben hat. Neben dem Lehrer als der alten Informationsquelle gibt es nun eine neue - und es kann durchaus sein, daß beide unterschiedlich programmiert sind. Damit stellt sich dann auch für den Schüler die Frage, welchem Programm er folgen soll."2i Im Hinblick auf die ,Klage' des Hugo von Trimberg ist diese Umorientierung kein Ergebnis der Gutenbergschen Medienrevolution. Der von Giesecke vortrefflich dargestellte Konflikt manifestiert sich bereits mit dem privaten Besitz von Büchern, die von stolzen Scholaren als ,Handbuch' am Gürtel getragen werden, womit sie den Anspruch auf den eigenen Zugang zu dem kanonisierten Wissen wie ein Statusattribut demonstrieren konnten. Am Gürtel, wo die Hausfrauen den Schlüsselbund zu tragen pflegten, der ihre hauswirtschafdiche Gewalt demonstrierte, tragen Scholaren ihre Bücher, mit denen sie sich selbst den Zugang zu den Schatzkammern der Wissenschaft erschließen. Die Autorität des Lehrers, der sein Wissensmonopol nunmehr gegenüber der Kontrolle durch die Buchbesitzer verteidigen muß, wird also nicht erst durch den Buchdruck relativiert, sondern spätestens zu dem Zeitpunkt, als die Manuskriptkultur so weit entwickelt ist, daß Handbücher hergestellt und privatisiert werden konnten. In diesem

Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 1991, S. 220.

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Sinne hat schon Ong die Leistung von Schrift und Buchdruck gleichgestellt: „Die Schrift und mehr noch der Druck bewahren das Wissen außerhalb des individuellen Bewußtseins, sie degradieren dadurch den weisen alten Mann und die weise alte Frau, die Bewahrer des Alten, und bevorzugen gleichzeitig den jungen Entdecker des Neuen."22 Heinrich der Teichner sieht den Zusammenhang zwischen der zunehmenden Zahl der Bücher und der Marginalisierung der Alten durch die Schrift noch um einiges komplexer als Hugo von Trimberg: mm vint nu den jungen drat derpey hundert maistem hat und auch akvil lerer ler. der chan sich berichten mer dann der nie chain puch gehört, alter leraer, maister wort, damit han ich daz beczewget daz der jungen chunst nu flewget fuer der alten chunst und sin. aber sie habent dennoch min denn die alten heten vor, wann si gingen selb daz spor da si ander leut hin lerten. wa si mit den warten cherten, da gingen auch die werch der mit, daz siphlagen guter sit. daz ist nu den jungen wild, irew wort und vrew pild die sind ungleicher geschieht, da ist chunst und weishait nicht, der wol waiz und ubel tut. (Teichner, v. 564,1613ff.) (Man findet jetzt leicht einen jungen Mann, der gegen hundert Meister hat und die Unterweisung ebenso vieler Lehrer. Der kann sich besser unterrichten als der, der nie ein Buch von den klassischen Gelehrten, Worte der Meister hat vortragen hören. Damit habe ich begründet, daß die Kunst/ die Fähigkeit der Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, S. 46.

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Jungen heute weiter reicht als die Kenntnisse und der Verstand der Alteren. Aber sie haben dennoch weniger als früher die Alten, denn jene gingen selber auf dem Weg, den sie andern Leuten zeigten/ lehrten: Ihren Worten entsprachen ihre Taten, ihre vorbildliche Lebenshaltung. Das ist nun den Jungen fremd. Ihr Wissen und ihre Verhaltensweisen stimmen nicht überein. Gelehrsamkeit und Weisheit gibt es nicht, wo jemand gelehrt ist und übel handelt.) Die breite Verfügung über das Bücherwissen, so Heinrich der Teichner, mache es denkbar, daß ein junger Gelehrter einem erfahrenen Mann an Wissen überlegen sei. Aber dieses Wissen habe auch seine handlungsorientierende Vorbildlichkeit verloren. Die vielfältigen Kenntnisse relativierten sich gegenseitig bis hin zur Aufhebung jeglicher Verbindlichkeit. Ein solches Wissen aber, resümiert er, sei kein eigentliches Wissen mehr. Die Schrift trenne das Wissen von den Taten. Daß damit auch der Körper ,freier' gegenüber jenem Wissen wird, das ihm vor-schriftlich eingeschrieben ist, kann der Teichner nur verurteilen. Damit sei die Tradition verlassen und seien die Traditionsträger selbst entwertet. Er kaim noch nicht wahrnehmen, daß er als Autor umfangreicher Schriften selbst im Dienst des neuen Mediums steht, das diese Umwertung vorantreibt. Er sieht sich ganz im Zug der Tradition als Lehrer und Erzieher. Wie der Computer die Schreibmaschine, der Film das Theater, der Buchdruck die Schrift,^^ so ahmt zunächst die Schrift den Körper nach. Die unmittelbare Referenz der Körper wird auf die Manuskripte übertragen, auf die Kommunikation mit Schrift und Bild, die deshalb auch zunächst als Stütze der tradierten Kommunikationsverhältnisse fungieren. Obwohl die Physiologie der menschlichen Wahmehmungsorgane darauf angelegt ist, simultan verschiedene, nicht-komplementäre Sinneseindrücke zu perzipieren,24 erweist sich die Prozessualisierung des Sinns, die sich aus der Linearität der Schrift ergibt, als ein besonders erfolgreicher Modus der Verarbeitung von gesellschaftlicher Komplexität. Die Vorzüge der Schrift werden zu einem zentralen Faktor für die Ausbildung der höfischen Kultur. Die

23 Giesecke 1991 (wie Anm. 19), S. 134f. Hans Ulrich Gumbrecht, Beginn von .Literatur*. Abschied vom Körper? In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, hg. von Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla. München 1988, S. 15-50. Hier S. 22.

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Entlastung der Sinnübertragung vom hic et nunc eines adligen Körpers fördert die Kommunikation des Adels über die Gren2en von Zeit und Raum, fördert ein gemeinadliges (dynastisches) Bewußtsein und die Identifikation über einen kollektiven Mythos, der die höfische Selbstdeutung (im Artusbild etwa) verewigt.

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Kulturelle Verspätung und translatio imperii 2 u einer Semantik historischer Wanderungsbewegungen auf der eurasischen Halbinsel Europa 1959 erschien ein berühmtes Buch mit dem Titel ,Die verspätete Nation'. Sein Verfasser war der Göttinger Soziologe und Philosoph Helmuth Plessner. Während der Nazizeit hatte er sich in Holland verstecken können. Sein Buch von 1959 war 1935 schon einmal unter dem Titel ,Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche' veröffentlicht und dann verboten worden. Die Frage, die es behandelte, hatte sich für meine Generation mit dem Ende der Hitlerherrschaft über Europa sehr dringend gestellt. Mit dieser Frage hatte sie sozusagen ihr akademisches Leben begonnen. Aber mit dieser Frage nach einer Verspätung Deutschlands als Nation undeutlich vermengt war die andere Frage: Wie war es möglich gewesen, daß eine in der Welt anerkaimte Kultumation im Namen ihrer Nationalität in die erfahrene Barbarei hatte „zurückfallen" körmen, so daß über dem symbolischen Kulturort Weimar das Folterlager Buchenwald errichtet worden war, ohne daß die Erbauer von Buchenwald auch nur einen Augenblick einen Widerspruch zwischen beiden Orten hatten empfinden körmen. Geistige Kultur und politische Kultur erschienen im Nachhinein wie zwei Hände eines Körpers, von denen die eine nicht wußte, was die andere tat. Kultur und Nation waren zweierlei - und vielleicht sind sie es ja bis heute geblieben. Plessners Buch behandelte die Verspätung der Nation als kulturelles Problem. Ich habe dieses Buch kürzlich noch einmal gelesen und seine Antworten verglichen mit dem, was sich mir seither ergeben hatte. Daran mag, mir mehr oder weniger unbewußt, jene Fragestellung und jene Antwortkonstellation beteiligt gewesen sein. Zuerst artikuliert hatte ich meine geistigen Erfahrungen vor 20 Jahren in dem Buch ,Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter', geschrieben

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auf französisch-sprachigem Boden, in Genf. Und der Blick auf die deutsche Literatur von dort aus war ein Blick von außen her gewesen, westeuropäisches und mediterranes Mittelalter der Rahmen, in dem deutsche Literatur vorgestellt wurde. Wie jede Literatur, hat auch die deutsche Literatur keine eigene Geschichte; ihre Geschichte ist Teil einer allgemeinen Geschichte. Das Verhältnis der west- und mitteleuropäischen Literaturen zueinander ergab sich im Zusammenhang eines allgemeineren, räumlich weiter gespannten Kulturprozesses. Für diesen gab es einen mittelalterlichen Begriff, den Begriff der translatio imperii. Dieser Begriff deutete den Kulturprozeß als eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit, als eine Absicht Gottes mit der Geschichte der Menschen. Da mir nichts besseres einfiel, nahm ich diese Vorstellung zum konstruktiven Leitgedanken. In diesem Zusammenhang ließ und läßt sich auch das Plessnersche Problem der „Verspäteten Nation" artikulieren, aber darüberhinaus weiteres anknüpfen. Das will ich hier tun. Plessner hatte (1959) geschrieben: „In deutscher Perspektive mußte die Blütezeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation die Stelle des Goldenen Zeitalters einnehmen. Damit gewarm die romantische Bewegung [...] im Unterschied zu England und den romanischen Nationen an Bedeutung für die nationale Integration" (S. 15). Plessner versucht, sich daim die geistige Situation nach dem Ersten Weltkrieg als nationale Kränkung zu erklären. Die Nation hatte 1871 eben erst ihre „Zerfallenheit in Territorialherrschaften" überwunden. Zwischen dem „jähen Sturz aus kaum wieder errungener Großmachtposition [... und] seiner innerlich nie aufgegebenen Rolle im Mittelalter" (S. 13) bestand ein übelträchtiges Mißverhältnis, an dem die verspätete Nation-Werdung entscheidenden Anteil hatte. Das ist im Ganzen sicher wahr. Deimoch ist es wohl wichtig, sich deutlich zu halten, daß die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" nicht mittelalterlich war, sondern erst im 15. Jahrhundert aufkam, daß es einen Deutschen Kaiser oder König dem Recht nach im Mittelalter nicht gab, sondern nur einen Römischen Kaiser und Römischen König, daß das imperium sacrum eben gerade kein nationales, sondern ein endzeitlich-übemationales Caesarentum meinte, und daß es unter diesen Caesaren ein Goldenes Zeitalter eben erst seit der Romantik gegeben hatte. Kulturelle Verspätimg und translatio imperii standen auch hier in vermitteltem Zusammenhang. Aber wie dieser Zusammenhang sich gebildet hatte, läßt sich von weiter her bedenken. Es läßt sich dabei auch die komplementäre Frage erörtern: Worauf beruht eine eventuelle Verfrühung oder Überlegenheit des Westens?

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1. Zunächst von der Literatur her sieht es ja doch anscheinend so aus: Um 800 werden mit,Hildebrandslied' imd »Wessobrunner Gebet' erste Literaturwerke auf deutsch aufgezeichnet, französische Dichtung zuerst um 890 mit der ,Eulalia-Sequenz'. Die deutsche Literatur hat einen Vorsprung von ca. 90 Jahren. Um 1100 beginnt in Frankreich mit Trobador-Dichtung und ,Rolandslied' eine laikale Literatur. Sie wird um 1150 als Minnesang und um 1170 in der Übersetzung des ,Rolandsliedes' in Deutschland aufgenommen. Der Vorsprung hat sich - zwischen 900 und 1100 - in eine Verspätung von ca. 50 bis 70 Jahren verwandelt. Aber weiter: Die Gotik beginnt in Saint Denis und Chartres 1140/1165; in Deutschland wird sie 1235 mit Marburg aufgenommen, 1248 wird der Dom in Köln begonnen. Die Verspätung beträgt ca. 75/100Jahre. Der französische höfische Roman hat seinen Höhepunkt mit Chrestien de Troyes ca. 1165 bis 1190, der deutsche mit Wolframs ,Parzival' und Gottfrieds ,Tristan' um 1210. Die Verspätung beträgt ca. 30 Jahre. Mal verringert, mal vergrößert sich danach diese Differenz wieder. Die altniederländische und die altniederdeutsche Beginenmystik mit Namen wie Hadewijch und Mechthild sind um 1250 ebenso von europäischem Rang, wie die deutsche Dominikanermystik des Pariser Magisters Eckhart und des deutschen Dominikaners Seuse um 1300. Indes: Der altfranzösische,Roman de la Rose' und das Werk Dantes sind gleichzeitig urbaner. Um 1450 läßt sich den Gedichten des Fran9ois Villon in Deutschland nichts an die Seite stellen - allenfalls die Erfindung des Buchdrucks in Mainz, die sich von dort schnell ausbreitet. Um 1500 ist Luther zu nennen, aber nicht als Literat. Die Gleichzeitigkeit von Ronsard imd Hans Sachs um 1530 mutet grotesk an. Dem klassischen Zeitalter Frankreichs um 1680 entspricht eine literarische Klassik in Deutschland um 1800 mit einer Verspätung von ca. 120 Jahren. Zwischen dem Nationalstaat von 1789 und dem von 1871 liegen ca. 80, dem von 1918 liegen ca. 130 Jahre. Doch das Phänomen einer Verspätung von Westen nach Osten ist nicht auf Deutschland beschränkt. Gehen wir weiter nach Osten, scheint sich solche Verspätung fortzusetzen. Laikale Ritterkultur und Lehnswesen setzen sich in Böhmen und Polen noch später, in Rußland gar nicht mehr durch, usw. Emst Robert Curtius hat sich einmal zimi Thema „Spaniens kulturelle ,Verspätung"' (,Europäische Literatur und lateinisches Mttelalter', S. 526) Gedanken gemacht. Und auch von der römischen Kultur könnte man sagen, sie sei gegenüber der griechischen verspätet. Hat das

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irgendeinen Erklärungswert? Man könnte wohl denken: Die Verspätung sei auch hier Teil einer größeren Kulturbewegung. Römische und griechische Kultur der Antike sind nicht unabhängig voneinander erwachsen, sondern der zeitliche Unterschied von griechischer und römischer Kulturblüte betrifft einen Prozeß des Kulturtransports: Das zerfallende griechische Weltreich in der Nachfolge Alexanders ist zunächst (um 150-90 v.Chr.) von den Römern erobert worden; anschließend haben die Eroberer die Kultur der kriegerisch Unterlegenen übernommen, umgeformt und weitergebildet: Eroberer und Eroberte sind an der Entstehung des Neuen beteiligt. Nach dem gleichen Prinzip hatten (um 300 V. Chr.) die Griechen Alexanders das Weltreich der Perser erobert, und noch der Eroberer selbst hatte die Kultur der Unterlegenen angenommen. Ebenso hatten die Perser (um 500) ihrerseits das kulturell überlegene assyrisch-babylonische und das ägyptische Reich erobert. Ebenso werden - nachdem eine römische Eroberung Galliens, Südgermaniens und Englands voraufgegangen war - von verschiedenen barbarischen Germanenstämmen zuletzt die Franken (um 800 n. Chr.) das weströmische Reich erobern und die Kultur der Unterlegenen zum Maßstab ihrer eigenen Kultur machen; sie werden diese Kultur und ihre Religion, so gut sie können, aufnehmen. Fernand Braudel hatte für solche Vorgänge einmal eine Art Regel zu formulieren versucht: „Wenn Kulturen mit hohem Zivilisationsniveau unterliegen oder zu unterliegen scheinen, ist der Sieger laut Definition immer ein,Barbar'" (Alltag, S. 92). Aber der,Barbar' ( - der in der Regel bereits ein Halbzivilisierter ist -) triumphiert „nicht lange, sondern wird schon bald von der unterworfenen Kultur absorbiert"... „Hinter dem Barbaren schlägt die Tür des eroberten Hauses wieder zu" (Alltag, S. 93). Doch: Das Haus steht jetzt an einem anderen Ort, in einem neuen Zentrum, das sich infolge der Veränderung gebildet hat. Eroberer und Unterworfener, das Fremde und das Eigene zeugen die neue Kultur. In der ,Deutschen Literatur im europäischen Mittelalter' hatte ich diesen Vorgang einmal duch Kartenbilder veranschaulichen wollen (Karten 1 u. 2). Denn eine Vorstellung von diesem Kulturtransport bildet den Kern der mittelalterlichen TranslatioIdee. Darin war die hier beschriebene Kette von Aggressionen mit der christlichen Zielvorstellung vom Jüngsten Tag und Begriff des Römischen Imperiums verbunden worden. Notker schrieb (um 1000) auf Althochdeutsch nach Remigius von Auxerre (um 900): „Sankt Paulus prophezeite denen, die [...] den jüngsten Tag erwarteten, daß dieser nicht käme, ehe nicht das Imperium Romanum vergangen wäre und der Antichrist zu

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Karte 1 (aus Bertau 1972, 6): a. »Fruchtbarer Halbmond' und mittelmeerischer Raum ca. 3000-800 V. Chr., b. Weltbild des hellenistischen Griechenland nach der Erdkarte des Eratosthenes (ca. 250 v.Chr.), c. Das Römische Imperium um 100 n.Chr.

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Karte 2: ZerMendes Imperium Romanum ca.450-750 n. Chr.

herrschen begonnen hätte" (S. 8). So wie die "Weltherrschaft von den Babyloniem auf die Perser, von den Persem auf die Griechen, von den Griechen auf die Römer „übertragen" worden sei, so sei sie auf die Franken übertragen worden. Die gedachte Dynamik dieses Vorgangs ließe sich auf einer Karte durch Pfeile veranschaulichen. Vergessen wir nicht: Es sind Zentren, die wandern. Einst Zentrales wird jetzt Peripherie. Es gibt keine topographische, geopolitische Garantie für eine Zentralposition (Karte 3). Und da das römische Imperium das letzte vor dem jüngsten Gericht sein werde, mußte es dasselbe „Römische Imperium" sein, dessen Herrschaft um 900 noch von den karolingischen Franken, um 1000 von den sächsischen Ottonen-Kaisem ausgeübt wurde. Unter diesem endzeitlichen Titel eines „Römischen Imperiimis" hat solche Herrschaft nominell bis zum Sieg des neuen Caesars Napoleon, bis 1806 bestanden. Napoleon aber nannte sich nicht mehr „Römischer" Caesar, sondern „Empereur des Frangais", obschon die römische Adlerstandarte auch über seinen Legionen schwebte. Otto von Freising formulierte (1143) den Translatio-Begriff in weiterer Abstraktion geographisch: Alle menschliche Macht und Wissenschaft hat im Orient begonnen und findet im Occident ihr Ende. Noch Hegel setzte (1822) diese geographische Formulierung fort, wenn er schrieb: „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen; denn Europa ist schlechthin das Ende der Wehgeschichte, Asien der Anfang. Für die Weltgeschichte ist

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Karte 3: translatio imperii

Karte 4: translatio der Börse.

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ein Osten kat exochen vorhanden, während der Osten für sich etwas Relatives ist: denn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum [ . . . ] D a ß die Börse von New York die Börse von London an Bedeutung ablösen wird, daß, wenn nicht die Weltherrschaft, so doch die Weltwirtschaft eines Tages ihr Zentrum eher an der Börse von Tokio finden könnte, das lag für Hegel außerhalb des Vorstellbaren (Karte 4). Es sind immer die letzten vermeintlichen Sieger, die die Bewegung der Weltgeschichte auf sich selber hinführen sehen. Die Begeisterung nimmt es mit dem Siegersein auch gar nicht so genau. Wer sich als Sieger fühlt, wer sich auf die Seite der Sieger denkt, der war selbst der Zweck und der Sinn der Geschichte. Hegel sah sich 1822 nicht als Preuße, sondern als musterhaft eurozentristischer Europäer, wenn er Europa als das absolute Ende der Geschichte dachte, die dem Weg der Sonne gefolgt war. Dieser Weg „der Sonne nach" ist in der europäischen Literatur immer wieder mit Begeisterung vorgestellt worden. Ich brauche Sie bloß an die großartige Passage in der ,Comedia' zu erinnern, in der Ulysses seine Gefährten zur letzten Fahrt in die Abgründe des Weltmeers im Westen aufpeitscht mit den Worten: a questa tanto picciola vigilia de' nostri sensi ch' e del rimanente non vogliate negar l'esperimza, di retro al sol, del mondo senza gente In diesem Augenblick, wo unserm menschlich Sinnen, nur eine kurze Abendstunde bleibt, verleugnet nicht den Mut, Erfahrungen zu machen! Laßt uns der Sonne nach, in menschenleere Welt! Inferno 26,114-117 und bei Tasso, Ger. XV,25. Erinnern darf ich Sie an die Worte des ,Faust' an die sinkende Sonne (v. 1071): Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt. Dort eilt sie hin und fordert neues Leben, O daß kein Flügel mich vom Boden hebt, Ihr nach und immer nach zu streben! Ich sah' im ewigen Abendsonnenstrahl Die stille Welt zu meinen Füßen, Entzündet alle Höhn, beruhigt jedes Tal, Den Silberbach in goldne Ströme fließen.

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Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten; Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten Vor den erstaunten Augen auf. Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken; Allein der neue Trieb erwacht. Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken, Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht... Dieser "Weg „der Sonne nach" war zugleich der Weg der europäischen Aggression, die 1492 auch Amerika erreichte, auch das Christentum, welches in der Tat die bisher expansivste Weltreligion war, ist diesen europäischen Aggressionsweg mitgegangen. Man kann sich diese Eroberungen als Fortsetzung der Völkerwanderungen vorstellen, die die Völker Eurasiens immer wieder nach Westen aufbrechen ließen (Karte 5). Die Völkerwanderungen von Ost nach West im Norden und die Wanderung der Weltherrschaft von Ost nach West aus dem vorderasiatisch-mediterranen Raum als zwei historische Bewegungen, die sich schließlich zu einer

Karte 5: Translatio-Bewegung und Steppenvölker

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Karte 6: Ost-West-Bewegungen und Kolonialismus

verbinden (Karte 6). Es sind dann die Völker am westlichen Meer, die weiter ausgreifen und dabei den ,Duft der großen, weiten Welt' zu sich nach Hause bringen. Das, was von dort zurückkommt, ist eine kulturelle Gegenbewegung. 2. Die euroasiatische Geschichte kennt anscheinend nicht nur die große Bewegung von Ost nach West, „der Sonne nach", sondern auch die Gegenbewegung von West nach Ost, die ,meteorologische Bewegung', die den Weg unseres Wetters nimmt. Ich würde sie gerne ein bißchen bedenken. Womit beginnt sie? Für die deutsche Literatur wohl mit der Aufzeichnung des ,Wessobrunner Gebets'. Denn diese Aufeeichnung bedient sich an einigen Stellen einer Abkürzung, die wohl aus der altenglischen Literaturschrift übernommen wurde. Übernommen wurde sie im Zuge einer Christianisierung der Germania jenseits des Limes, die dann von den Frankenherrschem als Eroberung im Zeichen der Christianisierung fortgesetzt wurde. Die Bewegung von Westen nach Osten stellt sich zunächst als eine Bewegung der Bekehrung zur Römischen Religion dar (Karte 7). Hier nun scheint sich eine Antwort anzubieten auf die Gegenfrage: Worauf beruht die Verfrühung oder die Überlegenheit des Westens? Vielleicht auf der kulturell überlegenen Religion. Otto von Freising hatte die Vorstellung von translatio nicht nur geographisch spezifiziert. Er hatte auch von einer

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Karte 7: Römische Christianisierung von Germanen und Slaven

translatio sapientiae gesprochen und von einer translatio religionis. Damit

meinte dieser Zisterzienser auch die Ausbreitung seines Ordens ab 1112 (Karte 8). Dieser Orden rodete Wälder und trocknete Sümpfe und bereitete den Boden auch für bäuerliche Siedler. Er griff aus nach Norden (England), nach Süden (Spanien und Italien) vor allem aber nach Osten (Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Skandinavien). Und da er von seiner Ordensverfassung her eine Verbindung aller Klöster zum Stammkloster aufrechterhalten mußte, schuf er Wege für den Nachrichtentransport. Auch die 100 Jahre später gegründeten Bettelorden, vor allem die Dominikaner, transportierten Nachrichten, Bücher und Gedanken durch ganz Europa, hin und zurück, nicht bloß Rechtgläubiges, sondern auch z. B. mystische Gedanken (Karte 9 und 10). Die Ausbreitung der Universitäten bietet ein ähnliches Bild. Zwar dienten die mittelalterlichen Universitäten vorab der Ausbildung von Theologen. Aber ihnen folgen nach Rang und Weisheit die Juristen und die Mediziner, die der Sorge um das geistliche Heil die Sorge um das weltliche Wohlergehen hinzubrachten. Die Artisten-Fakultät jedoch, ursprünglich Propädeutik für die Theologie, wurde nach und nach

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Karte 8: Zisterzienser

deren Konkurrent. Denn auch die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten sind aus dem Artes-Studium erwachsen. In dem Maße, wie die Religion ihren Gehalt verändert, verändert sich der Inhalt der westlichen Kultur-Überlegenheit. Der Weg der Christianisierung scheint auch in Richtung Osten ein Weg der ideologisch verbrämten Aggression. Zwar mag es nach den bisher erwähnten West-Ost-Bewegungen so aussehen, als sei der Weg des Wetters eher friedlich und unmerklich, kein Weg der großen Heere, sondern einer der vielen Einzelnen. Aber das täuscht wohl (Karte 11). Der Alexanderzug Napoleons verbreitete in imperialistischer Verkleidung die Ideen der Französischen Revolution, den Code Napoleon bis nach Polen hin, den Gedanken des Nationalstaates bis hin nach Rußland. Sofern der Gedanke ,Nation' eine natürliche Selbwachsenheit eines Volkes meint, liegt ihm wohl das parthenogenetische Denkmuster (vgl. Claude Levi-Strauss) einer Entstehimg von ,Eins aus Einem' - ohne Vater oder ohne Mutter, allein aus ewiger Identität - zugrunde, nicht das genitale Denkmuster einer Entstehung von ,Eins aus Zweien' - aus Vater und Mutter. Das parthenogenetische Muster, mit dem sich die Vorstellung von

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Karte 9: Dominikaner bis 1303

besonderer Reinheit verbindet, ist nicht biologisch, aber durchaus wohl ideologisch wahr. Der ,eine Vater' ist das Einheit stiftende KohortenErlebnis etwa der Französischen Revolution oder der napoleonischen Armeen oder des deutsch-französischen Krieges, welches in allen diesen Fällen zugleich ein Instrument der Herrschaft zu sein scheint. Empfangen hatte allerdings die Französische Revolution das Vorbild ihrer Verfassung bereits aus dem protestantischen Amerika. Und dabei war wohl die konfessionelle Grundlage nicht ganz gleichgültig. Davon soll noch gesprochen werden. Es ist dann sozusagen auch ein,technischer Protestantismus', der auf derselben Wetterstraße von Westen nach Osten seine Errungenschaften transportiert. In der sogenannten Ersten industriellen Revolution nahm diese historische Dynamik noch von England ihren Ausgang, getragen von einer Wirtschaftsethik, die dann namentlich in Amerika den Nährboden des industriellen Kapitalismus bereitete. Von West nach Ost lief im 19. Jahrhundert die Ausbreitung der Evolutionslehre. An die Stelle der besseren Religion war die Vorstellung vom besseren Fortschritt getreten, gelegentlich christlich, gelegentlich atheistisch kolo-

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Karte 10: Universitäten

riert: In der Form von Quäker-Spenden, Care-Paketen und Wirtschaftshilfe nach der Beft-eiung Europas von der Hider-Herrschaft, in Umerziehung zu anglo-amerikanischer Demokratie, Freiheit, NATO-Sicherheit, als technikgestützter Kapitalismus des Computer-Zeitalters, aber vorher auch als Marxistische Heilslehre bis hin nach China. Die bessere Kulturreligion sah sich nicht nur durch den besseren Fortschritt, sondern auch durch die besseren Waffen und durch die bessere Wirtschaft auf diesem West-OstWege bewährt. Wir leben wohl heute noch in dieser Bewegungsrichtung. Wie die Karte zeigt, bleibt einiges nachzutragen. Vor allem die WestOst-Bewegung im Süden, die der ritterlichen Kreuzzüge. Auch diese könnte als Bewegung im Zeichen der Christianisierung angesprochen werden, die mit der Eroberung des christlichen Byzanz 1205 auch wirtschaftliche Interessen offenlegte. Wirtschaftliche Expansion der Hanse imd militärische Christianisierung durch den Deutschritterorden bis hinauf ins Baltikum bilden eine nördliche Parallele. Die Hanse und der Deutsche Orden wurden, wie der ganze Nordosten Europas, in der Reformation protestantisch. Sie haben zugleich den Weg des protestantischen Industrie-

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Karte 11: Kreuzzüge, Hanse, Napoleon, Industrialisierung

Kapitalismus vorgebahnt, einen Weg, der aber selbst wohl unendlich viel älter ist. Durch ihn sind für die Franzosen die Deutschen, was für die Deutschen die Tschechen und die Polen, was für Tschechen und Polen die Russen und für die Russen vielleicht die Tataren sein mögen. 3. Gegenüber den beiden Hauptwegen - dem vielleicht stärker durch Aggression geprägten Weg von Ost nach West, „der Sonne nach", und dem vielleicht mehr durch kulturellen Transfer geprägten Weg von West nach Ost, ,der Straße des Wetters' - scheinen die Wege in Richtung des Meridians, von Süden nach Norden wie von Norden nach Süden weniger spektakulär begangen worden zu sein. Sie sind anscheinend eher Teil von Verwirbelungsbewegungen, die dann letztlich in eine der beiden Hauptrichtungen einmünden (Karte 12). Es dürfte Hegel nicht klar gewesen sein, wie sehr sein Begriff vom Gang der Weltgeschichte mit dem römischen

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Karte 12: Ausbreitung des Römischen und des Griechischen Christentums

Christentum verbunden war. An das griechische Christentum von Konstantinopel dachte er nicht. Dieses hatte durchaus sich selbst als das letzte Römerreich der Geschichte verstanden, und nach dem Fall Konstantinopels 1453 hatte der Herrscher über die nicht von Türken und Goldener Horde unterworfenen griechisch-orthodoxen Christen sich seinerseits Caesar, auf russisch Xar genannt. Noch Lenin konnte in dieser Tradition Moskau als das „dritte Rom" bezeichnen. Mit dem Herrscher über das letzte Weltreich der Geschichte aber war der Auftrag verbunden, die sanitas gentium, das Heil der Völker herzustellen. Die Erörterung der Dritten Bewegung führt zugleich auf unsere Ausgangsfrage zurück. Was für Remigius von Auxerre und Notker, für Otto von Freising und für Hegel als der einfache Übergang der Weltherrschaft von den Römern auf die Franken erschienen war, war etwas weniger einfach verlaufen. Nicht ein einheitliches Römisches Reich hatte den Barbaren gegenübergestanden, sondern ein geteiltes Römisches Reich, ein oströmisches und ein weströmisches. Die translatio imperii ging eben in mehreren Etappen vonstatten (Karte 13). Die barbarischen, dann arianisch christianisierten Goten er-

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Karte 13: Goten, Langobarden, Franken, Sachsen

oberten das weströmische Reich, konnten sich aber gegenüber dem rechten athanasianischen Christentum Italiens und der Oströmer nicht behaupten. Die Reste ihrer Ethnie nahmen in Südfrankreich und Spanien das weströmische Christentum an und wurden dort von den Eroberten absorbiert. „Hinter dem Barbaren schlägt die Tür des eroberten Hauses wieder zu" Braudel, Alltag, S. 93). Die barbarischen Franken eroberten das west-römische Gallien und nahmen Kultur und Religion der Unterworfenen an (Zentrum: ParisReims), sie eroberten ebenso das langobardische Italien und versuchten auch dessen Kultur anzunehmen. Sie eroberten aber auch das noch nicht christianisierte Germanien jenseits des römischen Limes und drückten ihm die neu angenommene Kultur auf. (Zentrum Aachen-Mainz.) Wenn um 800 mit ,Hildebrandslied' und ,Wessobrunner Gebet' erste Literaturwerke »deutsch' aufgezeichnet wurden,französischeDichtung aber zuerst um 890 mit der,Eulalia-Sequenz', dann war dieser Vorsprung von ca. 90 Jahren ein Vorsprung der Herrschaftssprache, der Adeligen-Sprache, der edihungun. Mit dem Auftreten einer laikalen Ritterkultur um 1100 in Frankreich, erst um 1150 in Deutschland hatte sich der Vorsprung in eine Verspätung

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verwandelt. Der Augenblick, in dem das zeitliche Verhältnis umgekippt war, lag also zwischen 900 und 1100. Damals riß auch die berühmte ,Lücke' in der deutschen Literaturgeschichte auf. Hier läßt sich von den großen Bewegungen her sagen: Das Ende des kritischen Zeitraums zwischen 900 und 1100 fällt zusammen mit dem Beginn der großen mittelmeerischen West-Ost-Bewegung der Kreuzzüge. Der Transport einer laikalen Ritterkultur erfolgt dann unmerklich durch Einzelne. Wir keimen die Transporteure eigentlich nicht. Die Verspätung ist also wohl Teil der großräumigen Kulturbewegung von West nach Ost. Dieser Kulturtransport erscheint jetzt als die späte Folge der militärischen Aggression einer weniger entwickelten auf eine höher stehende Kultur, also der Translatio-Bewegung: Die frankisierten Germanen identifizierten sich zwischen 900 und 1000 nach dem Ende der Karolinger mit den Franken und versuchten deren Tradition fortzusetzen (Zentrum Aachen), indem sie sowohl die westfränkisch-römische als auch die langobardisch-römische Kultur anzunehmen versuchten. Die französischen Capetinger (Zentrum Paris-Reims) hingegen haben die fränkische Karls-Tradition zunächst nicht aufgenommen. Erst nach 1200 taucht der Karls-Name in ihrer Genealogie wieder auf. Aber zwischen 900 und 1100 beleben im Osten Ottonen und Salier die fränkisch-römische Caesarentradition als die des einen christlichen und Römischen Weltreichs, welches die Aufgabe hat, das Heil der Völker wiederherzustellen. Dieser weltgeschichtliche Anspruch scheitert im Investiturstreit (1077 bis 1177, ja bis 1245). Mit dieser ottonischen translaüo hat der später christianisierte Osten des Frankenreiches sich zum erstenmal gegen die West-Ost-Richtimg gestellt: Die legitimierenden Romzüge gehen von Norden nach Süden, mit der Macht der Ritterheere. Und Rom hatte schließlich geantwortet mit der Macht seines geistlichen Bannstrahls von Canossa, wohin noch Bismarck ja niemals hatte gehen wollen auf so lange hinaus war das Ereignis Gegenwart geblieben. Eine Nord-Süd- und zugleich Ost-West-Bewegung, also eine Art Zyklonen-Bildung, zeigte sich dann um 1450 mit der Erfindung des Buchdrucks in Mainz (Karte 14). Sie hat eine entfernte Ähnlichkeit mit der Ausbreitung der Orden und der Universitäten. Aber hier war wohl zugleich die gefährliche Macht einer technischen Intelligenz angemeldet. Die Erfindung breitete sich, wie die das Schießpulvers, rasch überall hin aus. Und sie verband sich einer geistlichen Aggression, die sich sehr wohl als Folgeerscheinung der im Investiturstreit gescheiterten geistlichen Würde des imperialen Heilsauftrags denken läßt: Das Ende des Karolinger-Imperiums hatte sozusagen einen Druckgegensatz zwischen Norden und Sü-

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Karte 14: Buchdruck

den, aber auch zwischen Westen und Süden hervorgebracht. Der VerM von Kirche und Mönchstum veranlaßte den frommen Ahnherren des ersten Trobadors 910 das Muster-Kloster Cluny zu gründen, so wie der Verfall der karolingischen Königsmacht den Sachsenherzog Heinrich nur acht Jahre später veranlaßte, diese Königsmacht im Osten wiederherzustellen, für welche sein Sohn Otto dann die römische Caesaren-Würde der Karolinger gewarm. Die von Cluny ausgegangene geistlich-rechtliche Reform wird von dem salischen Caesar Heinrich EI. daim in Sutri 1043 aufgegriffen und zu einer gewaltsamen Reform des römischen Papsttums verwendet. Das so reformierte Papsttum wird darm gegen den Sohn seines kaiserlichen Reformators im Investiturstreit seinen Machtanspruch durchsetzen. Der Investiturstreit verhinderte in Deutschland aber auch die frühzeitige Ausbildung eines laikalen Selbstbewußtseins, indem er eine Teilnahme des gebannten Caesars am Ersten Kreuzzug verhinderte. Gewiß, auch der König von Frankreich hat nicht daran teilgenommen. Er koimte zunächst auch gar nicht teilnehmen. Die Organisation lag in den Händen der Kirche

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(in Gestalt des Legaten Adhemar von Le Puy). Im Verlauf des Ersten Kreuzzugs spaltete sich das Unternehmen geistig zwischen kirchlich-insuffizienter Führung und laikal-ritterlicher Eroberungsleistung. Der fränkische Orient wurde französisch. Der König von Frankreich war heilsgeschichtlich überhaupt nicht darauf angewiesen, an diesem Kreuzzug teilgenommen zu haben, er war sozusagen durch seine Ritterschaft vertreten worden, die ein ritterliches laikales Selbstbewußtsein mit nach Hause brachte. Auch das Rittertum wurde nun in Frankreich als Folge einer translatio militiae vorgestellt: von Troja nach Griechenland, von Griechenland nach Rom, von Rom nach Frankreich. Hoffentlich gefällt es der Dame Chevalene in Frankreich, so daß sie dort bleibt, schrieb Chrestien de Troyes (,Cliges', Prolog). Erst mit dem Zweiten Kreuzzug um 1150 setzt auch eine laikale ritterliche Kultur in Deutschland ein. Jetzt aber verspätet. Jetzt ist der römische König Konrad IE., der seine Kaiserkrönung nie erlebte, dabei, wie derfranzösischeKönig. Aber die deutschen Ritter scheitern militärisch im unbekannten Orient, der französisch geprägt bleibt, auch als beim drittenmal dann Friedrich Barbarossa als gekrönter Caesar mit intensiv nachgeholter miles christianus-ldtoXo^t an der Kreuzfahrt teilnimmt, die in frühen nationalen Gegensätzen mit der Geiselnahme des englischen Königs Richard Löwenherz kulminiert. Der Prototyp des miles christianus-^fzr der französische, nicht der deutsche Ritter. Die verspätete deutsche Ritterliteratur hat diesen Typus dann sozusagen mit aller moralischen Ernsthaftigkeit des kaiserlichen Heilsauftrags nachgeholt. Ein deutscher Ritterorden, der nach französischem Vorbild im Heiligen Lande gegründet wurde, konnte dort nicht reüssieren, sondern mußte in den nördlichen Heidenkampf im Balten- und Slavenland ausweichen, in die sogenannte ,Ostkolonisation' des Deutschen Ordens. Seit dem Investiturstreit gibt es in Deutschland den geistigen Gegensatz zwischen römisch-ekklesial tmd römisch-imperial. Es ist kein nationaler Gegensatz. Und einen Gegensatz zum römisch-ekklesialen hat es in Frankreich und England, ja in Italien auch gegeben. Im Abstand von Jahrhundert zu Jahrhundert erfolgt mal hier mal dort ein geistliches Aufbegehren gegen die bestehende Kirchenmacht in Gestalt von zunächst monastischen Reformationsschüben: Um 1100 Zisterzienser, um 1200 Bettelorden, um 1300 die dominikanische Mystik des Meister Eckhart und die radikale Scholastik des englischen Franziskaners Occam und die Staatsphilosophie des italienischen Arztes Marsilius von Padua in München, um 1400 Hus und die Konzilbewegung, um 1500 Luther stehen als Namen dafür (Karte 15).

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Karte 15: Reformation

Aber dem römisch-ekklesialen Heilsanspruch stand nirgendwoanders als in Deutschland ein römisch-imperialer Heilsanspruch entgegen, sondern überallwoanders allenfalls ein königlich-nationaler. Der König von Frankreich konnte das Papsttum nach Avignon in königliche Gefangenschaft führen, ohne einen universalen Heilsauftrag dabei übernehmen zu müssen. Ich denke: Durch das Scheitern des caesarischen Heilsanspruchs im Investiturstreit wird auch die deutsche literarische Kultur mit einem moralischreligiösen Gewicht belastet, das sich allenthalben ausprägt und nie mehr verliert, mit dem Gewicht der translatio imperü. Wenn links des Rheins eine ästhetische Innovation aufkommt, wird sie rechts des Rheins ins Moralische variiert. Der Kampf um den eschatologischen Heilsauftrag des Papstes oder des Caesar aus dem Investiturstreit setzte sich fort in der Reformation. Durch sie wird der protestantische Landesfürst zum defensor fidei, zum miles christianus, der das reine Wort Gottes gegen eine Welt ,voll Teufel' schützt. Dies wiederum wurde Anlaß des 30jährigen Krieges, der die kulturelle Verspätung weiter vergrößerte. Denn die Gegenreformation vermochte die kulturelle Grenze in Europa nicht aufzuheben, welche die Reformation ausgebildet hatte: In Deutsch-

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land verläuft sie in der Nähe des römisches Limes, und sie trennt religiös ein römisches von einem anti-römischen Europa. Das Barock als europäische Bewegung sah sich in den protestantischen Ländern des Nordens, in England, Norddeutschland, Skandinavien, Rußland, ja selbst in Frankreich merkwürdig abgekühlt und nüchtern geworden. In Italien, Spanien, Österreich, Süddeutschland, Böhmen, Schlesien, Sachsen imd Polen war das Barock Kunst der Gegenreformation, in den andern Ländern bloß Kunst des Absolutismus. Hier hat der Ruhm des fürstlichen Herrschers die Gloria Dei ersetzt (Karte 16). Die Reformation und ihre Folgen hatten Europa gespalten, in ein nördlich-protestantisches und ein südlich-katholisches, wobei das nördliche dann das protestanrisch-industriell-kapitalistische werden sollte. Auch das 1871 aus dem Krieg heraus gegründete nationalstaatliche Reich hatte keinen römischen, sondern einen protestantischen Kaiser, und die anti-römischen Reformbewegungen fanden alsbald ihre Fortsetzung im sogenannten Kulturkampf. Der aus Lübeck stammende Emanuel Geibel begleitete (1861 und 1871) mit seinen ,Heroldrufen' das neue Reich der „Verspäteten Nation", in deren letzter Strophe ein Satz erscheint, den

Karte 16: Gegenreformation und Barock

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Büchmanns Sammlxmg der Geflügelten Worte heute als „viel mißdeutet" hinsteUt (S. 173): Macht und Freiheit, Recht und Sitte, Klarer Geist und scharfer Hieb Zügeln dann aus starker Mitte Jeder Selbstsucht wilden Trieb, Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen. Da lebt der Translatio-Auftrag, die sanitas gentium herzustellen, zusammen mit dem zu spät gekommenen Schwert-Rittertum der Kreuzzüge, säkularisierter Reformations-Moral (gegen die Selbstsucht der Anderen) und klarem Erfindergeist (von Buchdruck und Schießpulver) in drohendem Ressentiment fort, unmißdeutbar - scheint mir. Die Identifizierung des verspätet nationalen, in Versailles gegründeten Kaiserreichs mit dem übernationalen Römischen Imperium des Mittelalters und seinem Heilsauftrag war falsch, aber kein Wunder. Das Falsche faßt der Begriff des „deutschen Wesens", das in der Geschichte identisch geblieben sei. Die Menschen des mittelalterlichen Imperiums und die des Kaiserreichs von Versailles waren in gar keiner Weise dieselben. Identität ist eine Fiktion, welche die Justiz von natürlichen und juristischen Personen fordert, damit sie haftbar gemacht werden können. Eine historische Wirklichkeit ist sie angesichts des ständigen Wandels aller Dinge nicht. Die Entstehung eines Ressentiments nach der Niederlage des Kaiserreichs von Versailles in Versailles ist gleichfalls kein Wunder, zumal die Rechtsnachfolge des Reichs in der Republik die Vorstellung von einer Identität des „deutschen Wesens" nur stützen konnte. Die Freiheit zu sagen: „Wir sind nicht mehr, die wir waren", hatte im Mittelalter ein Römischer König, nachdem er zur Regierung gelangt war, weil er das Recht setzte und nicht als Staatsbürger unter dem Recht stand. Daß die Fiktion von einer Konstanz des „deutschen Wesens" darm, wie ich es erlebt habe, auf biologistische Weise als rassisches Faktum hergestellt werden sollte, hat eine auch heute noch anzutreffende und dermoch unfaßbare Gläubigkeit in die Wahrheit der Erkermtnisresultate von irgendwelchen Spezialisten (hier ,Rasseforschem') zur Voraussetzung. Der Begriff eines selbstidentischen deutschen Wesens liegt aber implizit wohl auch der Frage nach seiner nationalen Verspätung zugrunde. Der Begriff der „Verspätung" vergleicht eigentlich in unrechter Weise. Es sollen ja doch nicht alle gleichzeitig zum genau gleichen Ziel kommen. Weder soll

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am deutschen noch an irgendeinem anderen Wesen die Wek genesen müssen. Denn das hieße doch wohl bloß: Alle sollen sein wie wir und Andere soUte es gar nicht geben. Wir haben ein Bild von historischen Transfer-Prozessen zu geben versucht, die sich in der Zeit erstrecken und daher notwendig hier früher und dort später ankommen. Und sie transportieren eben keine unveränderte Ware, erzeugen keine parthenogenetischen Identitäten, sondern aus dem Einen und dem Anderen immer wieder ein Drittes. Die Vorstellung ,Eins aus Einem' ist zugleich die, daß einer das, was er ist, sich selbst verdankt, daß er sein gutes Recht auf seinen Stolz und seine Ehre habe. Mir will da die Rede des Paulus (1. Kor. 4,7) immer noch einleuchten: Was hättest du denn, das du nicht empfangen hast; wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dessen, ah ob du es aus dir selber hättest? Das andere Vorstellungsmodell, ,Eins aus Zweien', könnte wohl das humanere sein. Daß man selbst durch die Andern immer wieder ein Anderer werden kann, scheint mir erfahrbar zu sein. Ebenso, daß der Andere als komplementär und nicht als konträr erfahren werden kann. Danach käme es auch beim Vergleichen darauf an, daß der eine nicht die Note ,früher', d.h. ,besser' und der Andere die Note ,verspätet', also .schlechter' bekommen muß, sondern daß jeder anders sein darf, eben weil er immer wieder anders wird. Aber für jeden kann wohl nur der Andere herausfinden, wo das Komplementäre in einem liegt, das für ihn von Wert sein könnte. Aber es besteht wohl wenig Aussicht, daß solche Erfahrungen allgemein werden können. Obgleich: Es könnte von allgemeinem Nutzen sein, wenn sich über traditionsvermittelte Beschränktheiten eigener Sitten und Selbstverständlichkeiten im freundlichen Umgang mit dem Fremden vielleicht doch einiges lernen ließe. Braudel nannte einmal Kulturen „jene sonderbaren Schicksalsgemeinschaften, die über die materiellen Güter hinaus auch Symbole, Illusionen, Träume und Denkschemata teilen" (Alltag, S. 357). Wenn ein vernünftiges Gespräch darüber möglich würde, wäre vielleicht schon viel gewonnen. Die Frage nach einer deutschen kulturellen Verspätung ist zurecht und zugleich einigermaßen schief gestellt. Sie hatte sich besonders gestellt angesichts des Rückfalls in eine systematische Barbarei. Der Wunsch, HitlerDeutschland hätte es nicht geben dürfen, ist verständlich. Aber Geschichte läßt sich nicht durch nachträgliches Besserwissen rückgängig machen. Es ist da ein geringer Trost, sich zu sagen: Auch sonst sind scheinbare Kulturvölker von heute auf morgen zu unglaublicher Barbarei fähig. Man wird nicht nur bei den Deutschen ständig darauf gefaßt sein müssen - aber leider

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durchaus auch bei ihnen. Denn Kultur und Zivilisation sind wohl nur eine sehr dünne tragende Kruste, die jederzeit durchbrechen kann. Ob wohlmeinende Aufklärung dagegen etwas ausrichten kann, ist zu bezweifeln. Ein Glückliches Ende gibt es bislang nur als Symbol von Hofftiung oder als Schwindel, als Wirklichkeit immer nur für den Augenblick einer Illusion, der sofort vorbei ist, sonst nie. Oder? ZITIERTE LITERATUR Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 1: 800-1197. München 1972. Fernand Braudel: Der Alltag (Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd 1). München 1985. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 351986. Emst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948 u.ö. Emanuel Geibel: Deutschlands Beruf. Gesammelte Werke Bd. 4. Stuttgart, Berlin 1906. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte (Sämtliche Werke Bd. XVm A). 5. verb. Auflage hg. von Johannes Hofimeister. Hamburg 1955. Helmuth Plessner: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Stuttgart 1935. Ders.: Die verspätete Nation. Stuttgart 1959. Claude Levi-Strauss: Anthropologie structurale. Paris ^1974. Ders.: Anthropologie structurale deux. Paris 1973. Chretien de Troyes: Cliges, hg. von A. Micha (Classiques Fran^ais du Moyen age 86). Paris 1965.

R E N E PERENNEC

da heime niht erzogen - Translation und Erzählstil ,Rezeptive Produktion' in Hartmanns ,Erec'^

1. Übersetzung als reaktiver Prozeß Es soll im folgenden Beitrag um das Verhältnis von geokultureller Konstellation und literargeschichtlicher Entwicklung im Bereich der französischdeutschen Literaturbeziehimgen um 1200 gehen. Frankreich/Deutschland: das ist gewiß eine recht grobrastrige Regionalgliederung und man würde

Ich greife in dieser Arbeit auf meine .Recherches sur le roman arthurien en vers en AUemagne aux Xn° et Xmo siecles' (Göppingen 1984, GAG 393 I/ü) zurück. Gestützt habe ich mich auch auf den Aufsatz von Franz-Josef Worstbrock, „Düatatio materiae. Zur Poetik des ,Erec' Hartmanns von Aue, In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30, sowie auf die Arbeit des amerikanischen Französistenjeff Rider, De l'enigme ä l'allegorie. L'adapution du ,Merveilleux' de Chretien de Troyes par Hartmann von Aue. In: Romania 112,1991, S. 100-128. Vgl. auch Johannes Singer, ,nu swic, lieber Hartman: ob ich ez errate?' Beobachtungen zum Imgierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns ,Erec'Roman (7493-7766). In: Dialog. Festschrift Siegfried Grosse, Tübingen 1990, S. 5974 (interessanter literaturtheoretischer Zugriff); femer Ingrid Strasser, Fiktion und ihre Vermitdung in Hartmanns ,Erec'-Roman. In: Fiktionalität im Artusroman, hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1993, S. 63-83. Zitiert wird nach folgenden Textausgaben bzw. Übersetzungen: Chretien de Troyes, Erec et Enide, hg. von Mario Roques, Paris 1963 (CFMA). - Übersetzung: Chretien de Troyes, Erec et Enide/Erec und Enide, von Albert Gier, Stuttgart 1987. Le Chevalier au lion (Yvain)', hg. v. Mario Roques, Paris 1965 (CFMA). Hartmann von Aue, ,Erec' (Leitzmann/ Wolff/Cormeau/Gärtner), Tübingen ^1985 (ATB 39). Ders., Iwein (Benecke/Lachmann/Wolff), Berlin 71968, - 2 Bde. Laurence Sterne, Tristram Shandy, hg. von Howard Peter Anderson, New York-London 1980. Laurence Sterne, Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys, München 1990 (revidierte Fassung der Übersetzung von Rudolf Kassner).

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Rene Perermec

natürlich gerne wissen - um bei den Verfassern der Werke anzusetzen, die Gegenstand der Analyse werden sollen -, ob Chretien de Troyes und Hartmann von Aue innerhalb des jeweiligen sprachlichen Großraums einer bestimmten Literaturregion mit erkennbaren Konturen zugeordnet werden können und wie die Kontakte zwischen solchen Regionen verliefen. Uns geht aber ein solches Wissen ab, und so belassen wir es bei der massiven Unterscheidung französisch/deutsch, um statt dessen den Akzent auf den ersten Teil des Wortes ,Interregionalität' zu legen und zu fragen: Welche Bedeutung hat der große Übersetzungsschub, der damals in West-Ost-Richtung stattfand, für die deutsche Literatur gehabt? Was hat diese Translation qm Translation bewirkt? So formuliert dürfte die Themenstellung trotz der Weitherzigkeit des hier verwendeten Region-Begriffs mit den Zielen des Colloquiums im Einklang stehen. Umgekehrt sollte die CoUoquiums-Problematik der Diskussion über die literarischen Kontakte zwischen der Romania und der Germania schon deshalb zugute kommen, weil sie zwingt, den Blick von den ,Besitzverhältnissen' wegzulenken und auf reaktive Prozesse zu achten. Dadurch erspart man sich die Frage nach dem Eigenständigkeitsgrad und dem Eigenwert der Nachdichtungen, d. h. die Frage, die in der Vergangenheit diese Diskussion immer wieder blokkiert hat. Mehr als eine Fallstudie kann dieser Beitrag nicht bieten. Ich werde einen Aspekt von Hartmanns ,Erec' selektieren, der in der Regel als individuelles Merkmal der deutschen Fassung von Chretiens ,Erec et Enide'-Roman gilt, und dann den Versuch unternehmen, dieses individuelle Merkmal als Konsequenz des Adaptationsprozesses zu interpretieren. Um die Aussagekraft der Analyse zu erhöhen, habe ich den Applikationspunkt in einem Bereich gesucht, wo die Dynamik des Rezeptionsvorgangs nicht direkt greifbar ist, nämlich im Bereich der Erzählweise und der Dreieck-Relation zwischen Autor, Werk und Publikum.

2. nü sage ... nu swic, lieber Hartman ... Konversation im ,Erec' Das hier anvisierte Merkmal des deutschen ,Erec' ist von Günter Mecke mit besonderer Schärfe herausgearbeitet worden. „Hartmanns Erzählhaltung im ,Erec"', schreibt Mecke, „ist (...) exceptionell publikumsunmittelbar. Chretien, Gottfried, der ,Nibelungenlied'-Dichter, auch der Hartmann des ,Iwein' sind weit gegenstandsunmittelbarer eingestellt".^ Diese

da heime niht erzogen - Translation und Erzählstil

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„Publikumsunmittelbarkeit" nimmt verschiedene Formen an, für die ich jeweils ein Beispiel gebe. a) Sprung in die Erzählgegenwart, einseitiger Kommentar des Erzählers: Nach Erecs ,Auferstehung' auf der Burg Limors werden die liute von Panik befallen, und waere ich gewesen bi, ich hete gevlohen, swie küene ich si. (6681f.)

b) Frage- und Antwortspiel zwischen Erzähler und Publikum: Nach dem zweiten Kampf gegen Guivreiz wird die geselleschaft mit slafe und mit mazze zwischen Erec und Enite wiederhergestellt; den vil lieben gesten wird unter einer schönen Buche ein Bett bereitet: ,nu sage waz waere ir hettewät?' entriuwen, als ez der walt hat, schoenez loup und reinez gras, so ez in dem walde beste was. waz touc daz lange vrägen, wan daz si doch lagen? (7106-111)

c) Der Hörer als Ko-Erzähler: Bei der descriptio des Sattels von Enites Wunderpferd unterbricht ein Hörer den Vortrag und versucht sich als Miterzähler: (...) 50 wil ich iuch wizzen Idn ein teil wie er geprüevet was, als ich an dem buoche las, so ich kurzlichest kan. ,nu swic, lieber Hartman, ob ich ez errate? (...) ,er was guot hagenbüechin.' ja, wä von möhte er mere sin? ,mit liehtem golde übertragen.'

(7489-505)

2 Günter Mecke, Zwischenrede, Erzählfigur und Erzählhaltung in Hartmanns Erec, München (Diss.) 1964, S. 140.

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Der ,offizielle' Erzähler täuscht Anerkennung vor {wer mohte iuz doch rehte sagen} V. 7505), wartet aber in Wirklichkeit ab, bis ein eindeutiger Beweis der Inkompetenz seines Konkurrenten vorliegt und kontert dann: sehet wie gröz ein gmz si: so vil enwas da ntht hohes hi. er was von helfenbeine und von edelem gesteine joch von dem besten golde daz ie werden solde geliutert in dem viure: vahch was im tiure.

(7526-533)

Mit der dritten Variante der Theatraüsierung der Erzähler-Publikum-Beziehung erreicht Hartmanns Text eine Stufe, zu der nach allgemeiner Auffassung der europäische Roman erst im 18. Jahrhundert gelangt, vor allem mit Sternes ,Tristram Shandy'. Einige Textbeispiele aus dem ,Tristram Shandy' mögen dies verdeutlichen: An einer Stelle wird der Leser aufgefordert, das Porträt der Frau, in die sich der Onkel des Erzählers verliebt hat, zu zeichnen: (...) Atpresent, I hope Ishall be sujftciently understood in telling the reader, my uncle Toby feil in love. (...) Let love therefore be that it will - my uncle Toby feil into it. —Andpossibly, gentle reader, with such a temptation—so wouldstthou: For never did thy eyes behold, or thy concupiscence covet any thing in ihis World, more concupiscible than widaw Wadman. To conceive this right, —call forpen and ink—here'spaperready toyour hand. Sit down, Sir, paint her to your mind—as like your mistress as you can—as unlike your wife as your conscience will let you—'tis all one to me—-please butyourownfancy in it. Es folgt eine leere Seite, die der Leser

.Tristram Shandy', VI, 37/38, S. 330. Übersetzung (wie Anm.l), S. 420: „Gegenwärtig hoffe ich, daß man mich genügend versteht, wenn ich sage: Onkel Toby war verliebt (...). Was immer also die Liebe sei - Onkel Toby war ihr verfallen. Und möglicherweise wärst auch du ihr, lieber Leser, bei dieser Versuchung verMen. Denn noch niemals hat dein Auge etwas erblickt oder deine Lust etwas begehrt, was begehrenswerter gewesen wäre als die Witwe Wadman. (VI, 38:) Um das richtig zu erfassen - lassen Sie sich Feder und Tinte bringen, Papier ist schon hier.

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III

als .Assistenzautor''* nach Lust und Laune füllen kann, eine Seite, merkt der Erzähler an, „welche Böswilligkeit nicht schwärzen wird und Unwissenheit nicht entstellen kann."® Abgesehen davon, daß in diesem Passus der Erzähler Tristram den Leser zur Mitgestaltung seiner Aufzeichnungen auf- bzw. herausfordert, während in der dritten zitierten Hartmarm-Stelle der Hörer sich spontan zu Wort meldet, weisen beide Formen der Beteiligung des Publikums am Erzählen eine erstaunliche Ähnlichkeit auf. Übrigens wird auch bei Sterne der ,aktive Leser' gelegentlich an der kurzen Leine geführt, so z.B. in folgender Stelle, wo (imterstellte) Vorstellimgen des Lesers vorgreifend korrigiert werden: (Der Gefreite Trim, der ehemalige Adjutant von Onkel Toby, macht sich daran, den gerade entdeckten Text einer Predigt, der zwischen den Seiten eines Buches steckte, vorzulesen:) — B u t before the Corporal begins, I mustfirstgive you a description of bis atütude,—otherwise he will naturally stand represented, by your imagination, in an uneasy posture,—stiff,—-perpendicular, —dividing the weight ofhis body equally upon both legs; —bis eye fix'd, as if on duty; —bis look determined, —clincbing the sermon in bis left-band, like bis fire-lock:—In a word, you wouldbe apt topaint Trim, as ifbe was in bisplatoon ready foraction:—His atütude was as unlike all tbis as you can conceive. He stood before them with bis body swayed, and bentforwards just so far, as to make an angle of 85 degrees and a half upon the piain of the borizon; —wbich sounds orators, to whom I address this, know very well, to be the true persuasive angle of incidence; —in any other angle you may talk and preach; —'tis certain,—and it is done every day; —but with wbat effect,—I leave the world to judge?'

Setzen Sie sich nieder, Herr, und malen Sie die Schöne ganz nach Ihrem Siime aus, so ähnlich Ihrer Geliebten wie nur möglich, so unähnlich Ihrer Gattin, wie Ihr Gewissen es Ihnen erlaubt - es ist mir ganz gleich, lassen Sie sich ganz von Ihrer Phantasie führen." Cf. Isabelle Rouffiange, Un .Nouveau Roman' au XVin° siede. Tristram Shandy, Paris 1986, S. 132-135: „Le jeu du lecteur assistant". .Tristram Shandy', VI, 38, S. 332: Thrice happy book: thou wilt have onepage, at least, within thy Covers, which MALICE will not blocken, and which IGNORANCE cannot misrepresent. Ebd. n, 17, S. 85, 87: „Doch bevor der Korporal beginnt, muß ich Ihnen erst seine Haltung beschreiben, sonst wird sich Ihre Phantasie ihn natürlich in einer unbequemen und gezwungenen Haltung vorstellen: steif, kerzengerade, das Körpergewicht auf beide Beine gleich verteilend, das Auge starr, als hätte er stillezustehen, den Blick

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Die Bandbreite des Spiels mit dem »Partner' Leser ist bei Sterne recht groß. Sie reicht vom ,Blankoscheck' bis zur Vorab-Annullierung einer virtuellen Leserversion. Demgegenüber verläßt der Begriff des Hörers in der Beschreibung von Enites Wunderpferd nicht die Mitte des Spektrums. Und natürlich kommentiert kein Exkurs die Beteiligung des Publikums am Erzählprozeß, während der Erzähler Tristram sie ,theoretisiert': Writing, whenproperly managed, (asyou may be sure Ithink mine is) is but a dijferent name for conversation: As no one, who knaws what he is about in good Company, wonld venture to talk all; —so no author, who understands thejust bomdaries of decorum and good breeding, would presume to think all: The tmest respect which yott canpay to the reader's understanding, is to halve this matter amicably, and leave him something to ima^ne, in his tum, as well as yourselfJ Dennoch bleibt die teilweise Übereinstimmung zwischen Hartmanns Erzähl-pmxwim ,Erec' und dem Erzählstü des viel späteren Autors, in dem wiederum Isabelle Rouffiange wohl mit Recht einen Vorläufer der Nouveaux Romanciers gesehen hat,® ein bemerkenswertes Faktum. Sollte man den ,Erec' zum Proto-Proto-NouveoM Roman erheben? Das Dreisprung-Bild hat einen Vorteil: die zeitliche Spannweite macht den hohen faktischen Innovationsgrad des Hartmannschen ,Konversationsstils' deutlich. Von Nachteil ist dagegen, daß ein solche Perspektivierung eine Kontinuität suggerieren könnte, die es nicht gegeben hat. Wäh-

entschlossen und die Predigt fest in der Hand, als wäre sie ein Schießgewehr. Kurz, Sie würden vielleicht geneigt sein, sich Trim jetzt so vorzustellen, als stünde er in Reih und Glied, bereit anzugreifen. Seine Haltung war aber ganz anders, das heißt, er hielt den Körper wiegend und nach vom geneigt, so daß dieser mit der Horizontalebene einen Winkel von 85 Vz Grad bildete, welchen Winkel wirkliche Redner, an die ich mich hiermit wende, als den wahren EinMswinkel der Überredung kennen. Man kann natürlich auch in jedem anderen Winkel eine Predigt halten oder eine Unterhaltung führen, es ist ganz gewiß so und geschieht auch jeden Tag, doch mit welchem Erfolg, das zu beurteilen überlasse ich der Welt." (Übers. S. 114) ^ Ebd. n, 11, S. 77 - : „Schreiben, richtig verstanden (Sie kötmen sicher sein, daß ich mir einbilde, es zu verstehen), ist nur ein anderes Wort für Konversation. Gleichwie ein Mensch, der weiß, wie er sich in guter Gesellschaft zu benehmen hat, niemals wagen würde, alles zu sagen, so wird auch ein Autor, der die Grenzen des Anstands und der guten Lebensart kermt, nicht alles denken. Sie können dem Verstand des Lesers keinen höheren Respekt erweisen, als weim Sie die Sache freundschaftlich mit ihm halbieren, also einen Teil ihm zu denken überlassen und den anderen sich selber vorbehalten." (Übers. S. 103) 8 Rouffiange (wie Anm. 4), S. 19.

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rend sich von Sterne zum heutigen Roman eine Linie ziehen läßt, bleibt der ,Erec'-Sprung sowohl in Hartmanns Oeuvre als auch in der Literatur der Zeit - und für mehrere Jahrhunderte auch in der Folgezeit - ein isoliertes Phänomen; was sich wohl auf eine besondere Konstellation zurückführen läßt. Die These, die hier vorgelegt wird, ist folgende: Man kann diese Konstellation - also die Rahmenbedingungen der Entstehung des Konversationsstils im ,Erec' - ausreichend beschreiben, wenn man die Implikationen einer zweigliedrigen Feststellung bedenkt, die am Anfang jeden Aufsatzes über den deutschen ,Erec' stehen könnte und im Einleitungsteil einer Arbeit von Franz Josef Worstbrock so formuliert ist: (...) „der ,Erec' Hartmanns von Aue, erste deutsche Nachschöpfung eines Chrestienschen Artusromans.

3. »Rezeptive Produktion' Verweilt man ein wenig bei der ersten Feststellung (der ,Erec', eine Nachschöpfung) und nimmt man eine zweite Evidenz hinzu (ein Nachdichter ist zuerst ein Leser oder ein Hörer), so hat man in der Tat schon eine halbe Erklärung für die Entstehung des innovativen Erzählstils im ,Erec': Hartmann mußte eigentlich schon deshalb zum „publikumsunmittelbaren" Erzählen neigen, weil er durch seine Position in der Produktions-ZRezeptionskette das erste deutsche Publikum bildete . . . und weil er - wie jeder sich selbst unmittelbar war. Gemeint ist folgendes: Während bei Sterne der Leser als ,Assistenzautor' ein alter ego des Erzählers ist - woraus sich von selbst eine „freundschaftliche Arbeitsteilung ergibt" (vgl. oben das dritte Zitat aus dem ,Tristram Shandy'), scheint der aktive Hörer im ,Erec', der Hörer als Mitautor, eher eine Projektion des Rezipienten Hartmann zu sein, so daß die Relation zwischen dem,Haupterzähler' und dem Ko-Erzähler auf einer chronologischen und zum Teil realen Rezeption basiert, real, insofern die Rezeption des fiktionalen Werks ,Erec et Enide' selbst keine Fiktion ist. Mit anderen Worten: die Kreativität des Adaptateurs, die sich im Konversationsstil zu erkennen gibt, ist meines Erachtens sehr stark von dem Rezeptionsmoment geprägt. Dementsprechend möchte ich zur Kenn-

9 Worstbrock (wie Anm. 1), S. 5.

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Zeichnung dieses Merkmals den Terminus ,rezeptive Produktion' vorschlagen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff,produktive Rezeption' bei der Analyse und der Bewertung von späthöfischen Epen als hilfreich erwiesen. So konnten einige Kapitel der deutschsprachigen Literatui^eschichte neu geschrieben werden.Wichtig dabei ist vielleicht weniger der instrumentale Wert ausgereifter Rezeptionstheorien gewesen als eine durch die Diskussion um die Rezeptionsforschung bewirkte Schärfung des Bewußtseins, die zu der Einsicht führte, daß ,Epigonen' primär Rezipienten sind imd daß nachklassische Epen dementsprechend untersucht werden sollten. Ich übernehme den Begriff und stülpe ihn um, da es hier nicht um das Innovationspotential der Imitation, sondern umgekehrt um den Erweis geht, daß die auffälligste Innovation im ,Erec' ein ,nach-schöpferischer' Zug des Textes ist - dies in der Überzeugung, daß Anagramm-Begriffe die Wege der fachintemen Verständigung verkürzen können. 4. Genese des Hartmannschen ,Konversationsstils' Im folgenden versuche ich, die Dynamik zu analysieren, die zur Entstehung des ,Konversationsstils' im ,Erec' führt. Es handelt sich um eine logische Sukzession, die mit der Reihenfolge der Episoden nicht übereinzustimmen braucht, auch wenn die Distributionsanalyse lehrt, daß man das dritte Fünftel des Romans erreichen muß, um das erste Beispiel zu finden, und zwar in der noch nicht sehr markanten Form der Verwerfung einer möglichen Frage aus dem Publikum, V. 4150ff." - Das ist schon als Indiz dafür zu werten, daß die erzähltechnische Innovation in einen reaktiven Prozeß eingebettet ist. 4.1. daz wizzen umbe die geschiht Publikumsbezogenes Erzählen - die Grundvorausetzung für die Entstehung einer dialogischen Erzähler-Publikum-Beziehung - läßt sich schon Z.B. für den Artusroman des 13.Jahrhimderts: Christoph Cormeau, .Wigaiois* und ,Diu Grone'. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, München 1977. - Peter Kern, Die Artusromane des Fleier. Untersuchungen über den Zusammenhang von Dichtung und literarischer Situation, Berlin 1981. ,Erec', V. 4150-53: nü endarf niemen sprechen daz,/ von wannen kaeme daz diu vrouwe baz! beide gehörte und gesachJ ich sage tu von wiu daz geschach.

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dort feststellen, wo das Publikum überhaupt nicht in Erscheinung tritt, aber doch präsent ist, weil die Erzählweise von der geplanten Rezeption durch das Publikum bestimmt wird. Beim Übergang zur eigenen Textproduktion programmiert der Autor die Sekundärrezeption auf der Basis seiner eigenen Rezeptionserfahrung. Dies sei an einer Textstelle demonstriert, in der die scheinbare Monologizität der deutschen Fassung so weit geht, daß sogar den Protagonisten das Wort genommen wird. Bei der Ankunft Erecs auf der Burg, die in der deutschen Fassung Tulmein heißt, herrscht auf den Straßen ein fröhliches Treiben (348ff.); den Grund erfährt man aber erst aus dem abendlichen Gespräch zwischen dem Helden und Enides Vater (547-562): Quand Erec ot tot escote „Als Erec alles gehört hatte, was quanque ses ostes ot conti, sein Wirt ihm erzählte, bat er ihn, puis Ii demande, qu'il Ii die er möge ihm sagen, woher alle die dorn estoit tex chevalerie Ritter kämen, die an diesem Ort qu'an ce chastel estoit venue, versammelt waren; denn es gebe qu 'il n 'i avoit sipovre me keine noch so unbedeutende Straße ne fust plainne de chevaliers und kein noch so ärmliches und et de dames et d'escuiers, kleines Haus, in dem sich nicht n 'ostel tont povre ne petit. viele Ritter, Damen und SchildEt Ii vavasors Ii a dit: knappen drängten. Der Edelmann 'Biax amis, ce sont Ii haron antwortete ihm: ,Lieber Freund, das de cestpats ci an viron: sind die Edlen des Landes hier rings trestuit le juene et Ii chenu herum; alle, jung und alt sind zu eia une feste sont venu nem Fest gekommen, das morgen qui an ce chastel iert demain: hier am Ort stattfinden soll; Darum por ce sont Ii ostel si piain. sind die Quartiere so voll belegt."' (Darauf folgt eine Beschreibung der Sperberpreis-coitewe, die Enides Vater mit den Worten beschließt, 579f.:) Iceste costume maintienent „Das ist hier der Brauch, und darum por ce chascun an i vienent. kommen sie jedes Jahr hierher." (Übersetzung A. Gier) In der deutschen Fassung wird zuerst eine - nicht formulierte - Vorfrage beantwortet, die sich der Leser stellen kann, und die sich der Primärrezipient, Hartmann, stellen konnte: warum hat sich Iders überhaupt auf diese Burg begeben? Dann liefert der Erzähler seinem Publikum die Informationen, die zum Verständnis des Sperberkampfrituals nötig sind:

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Rene Perennec ich sage iu durch waz er (= Iders) kam mit siner vriundin. ez hete der herzöge tmain hochzit da vor zwei jär: saget diu äventiure war, so hete er si dö zem dritten.

(181-186; dann Präsentation des Sperberpreises; Iders hat ihn schon zweimal gewonnen, weil niemand gegen ihn anzutreten wagt, 187-217.) Gegenüber der Vorlage wird also der Verlauf der Erzählung gleichsam begradigt - um den Preis zweier Zusätze: es muß zuerst vermerkt werden, daß Erzähler und Publikum über ein Wissen verfügen, das der Held nicht teilt {nü enweste ßrec niht/umbe dise geschiht, 218f.), und dann muß sich Erec dieses Wissen aneignen, so daß das vorgreifende ,Referat' über das, was in der Quelle ,live' angeboten wurde, einen rückverweisenden Bericht nach sich zieht: den wirt er vragen hegan waz der schal von den liuten möhte bediuten den er in dem markte hete gesehen, dö begunde im der wirt jehen wiez umbe die rede was getan, als ich iu gesaget hän, beide umbe die hochzit und ouch des sparwaeres strit. (447-455) Erec reitet als Unwissender durch die Stadt, Koralus' eigene Stimme bleibt (in dieser Angelegenheit) unhörbar: Die Verständigung zwischen Erzähler und Publikum erfolgt über die Köpfe der Protagonisten hinweg. Man könnte von einer protokollartigen Erzählweise sprechen: Den absoluten Vorrang hat die möglichst rasche Orientierung des Adressaten. Der Erzähler als Protokollführer - und der Protokollführer gehört immer zu den Primärrezipienten - ordnet seine ,Notizen' so, daß der daraus entstehende Bericht auf die Bedürfnisse der potentiellen Leser zugeschnitten ist. Dennoch bildet m.E. dieser mehr referierende als eigentlich erzählende Stil die Basis für die Konversation zwischen Erzähler und Publikum.

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4.2. Die Verselbständigung des Gegenübers: Das Frage- und Antwortspiel. Für die weitere Stufe der Publikumsbezogenheit, das Frage- und Antwortspiel zwischen Erzähler und Publikum, mit dem die Konversation beginnt, ^ t schon, was Worstbrock in seiner Analyse der zweiten Pferdebeschreibung im jErec' herausgestellt hat: „Hartmarm reflektiert sich als Subjekt fiktiven Erzählens und teilt sich so auch dem Publikum mit.''^^ So frappierend der Unterschied zum eben besprochenen,Referatsstil' sein mag, man wird den Kontrast nicht als Bruch deuten wollen. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Beziehung zum Publikixm sich in dieser singulären dialogischen Auseinandersetzung (für die allenfalls Eilharts ,Tristrant' - und dann nur ansatzweise - Parallelen bietet) ^^ sich anders manifestiert; dies zuerst unter dem Einfluß eines werkinneren Zeitfaktors: der Dauer des Gestaltungsprozesses bzw. des Vortrags (diese Alternativformulierung zur Absicherung, man wird aber gleich danach sehen, daß sie sich wahrscheinlich erübrigt). Die Relation zwischen Autor und Publikum, lehrt die Pragmatik, verändert sich während der Entstehung des Werkes. Einen ironischen Ausdruck dieser Modifizierung findet man in einer Schallplatten-Aufnahme des Chansons von Boris Vian, ,J'suis snob".^'^ Bei der letzten Wiederholung des Refrains (der den Titel abgibt) heißt es dort, lacheffektsicher: J'suis snob, encore plus que tout ä l'heure („Ich bin ein Snob, ein noch größerer Snob als vorhin"). Der Einschub ist das Kind des Gedankens, daß das Sprechen über einen Gegenstand diesen Gegenstand verändert oder mindestens zur Frage zwingt, ob der Gegenstand derselbe geblieben ist (hier wird dies verneint). Im Fall des ,Erec' köimte man im Lichte desselben .Gesetzes' sagen: Beim publikumsbezogenen Erzählen wird die Relation zwischen Autor und Publikum von der Entfaltung der Erzählung viel stärker betroffen als beim gegenstandsbezogenen Erzählen angesichts des wachsenden Objekts, dessen Qualitäten gleichsam zurückstrahlen und den Status dieses Objekts schillernder machen, selbständiger. So kann sich die Rezeptionssteuerung zu einer offeneren Haltung biegen, die sich darin ätxßert, daß der Erzähler seine eigenen Reaktionen als (eventuell bloß mögliche) Fragen des Publikums projiziert (bzw. reale Fragen registriert).

12 Worstbrock (wie Anm. 1), S. 26. Eilhart von Oberg, .Tristrant', hg. von Danielle Buschinger, Göppingen 1976 (GAG 202) V. 3300-307 (H und D); 5084f. (H und D); 7628-44 (H und D); 8070f. (H). Edierter Text: Boris Vian, Chansons. Textes etablis et annotes par Georges Unglitz et C. Mabourdin, Paris 21994.

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Zum Dauerfaktor kommt als auslösendes Moment - ein weiterer Faktor, der die zur Konversation nötige Distanz vergrößert imd der sich aus der literarhistorischen oder ,literargeographischen' Position des entstehenden Werkes ergibt. Er betrifft die poetologischen Rahmenbedingungen, das, was die Literaturgeschichte ,Gattungsregeln' nennt. Seine Wirkung läßt sich besonders deutlich da erfassen, wo die Gattung gut eingeführt ist (auf eine solche Tradition konnte Sterne zurückblicken) und erst recht, wenn der Text am Ende einer Kette steht, wenn die Weiterpflege der Gattung nur noch über die Problematisierung oder gar die Ironisierung bestimmter konstitutiver Merkmale möglich erscheint, wie im Chanson von Vian. Dort wird das Prinzip der teilweisen Wiederholung ironisch reflektiert, als wären Wiederholung und Einfallslosigkeit synonym - wie in banaler Prosa. Soll das Chanson weitergehen, muß der Refrain Mitteilenswertes, also mindestens eine neue ,Information' enthalten; auch eine forme fixe ist (in doppelter Hinsicht, s. oben) ,in der Zeit'. Man wird davon ausgehen dürfen, daß auch im Anfangsteil der Kette, zwar nicht in erster, wohl aber schon in zweiter Position, sobald also eine Distanz zum Gründungsakt gewonnen werden kaim, die symmetrische Situation denkbar ist: Problematisierung wegen der Neuheit der Rahmenbedingungen. Und diese Neuheit - um diese Konstruktion auf den deutschen ,Erec' zu beziehen - wird im Fall eines Transfers noch mehr zur Reflexion Anlaß geben, da der chronologische Abstand sich mit der räumlichen Distanz kombiniert. 4.3. Primärrezeption durch den Autor und fingierte Sekundärrezeption durch das Publikum. Damit wären wir wieder im Bereich der ,rezeptiven Produktion'. Anders als bei der Analyse des Referatstils (oben 4.1) steht man hier vor der Schwierigkeit, daß das Frage- und Antwortspiel zwischen Erzähler und Publikum eine Irmovation des deutschen ,Erec' gegenüber Chretiens Roman darstellt. Wie läßt sich daim.die Bedeutung des Rezeptionsmoments beim Nachdichten überhaupt ermessen? Viele Belege werden sich zugegebenermaßen nicht finden lassen; bedenkt man aber die Undurchsichtigkeit der Rezeptionsvorgänge im Vorfeld der Bearbeitung, so könnte schon ein Beispiel einigen Wert haben. Und es gibt ein solches Beispiel. Kaum hat Guivreiz, der an Erecs Seite reitet, die Burg Brandigan vor sich gesehen, wird er von tiefster Sorge befallen:

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(...)

ein burc si sahen vor in stan, michel unde wol getan. Und als si Guivreiz ersach, daz wart im vil ungemach und begunde in vaste beswaeren. daz si dar komen waeren.

(7820-25)

Sofort, also gleich zu Episodenbeginn, kommt aus dem Raum eine kurze Frage, auf die der Erzähler zuerst rügend, dann belehrend, schließlich anscheinend besänftigend, aber in Wirklichkeit dilatorisch antwortet: ,nu sage, von wiu?' daz wetz ich wol und sagez so ichz sagen sol. des enist noch niht zit. wie gebitelos ir sit! wer solde sin maere vür sagen? ich enwil iuch niht verdagen wie diu burc geschaffen waere: daz vemement an dem maere.

(7826-33)

Die Ungeduld der Hörer erscheint recht verfrüht; sie wäre etwa hundert Zeilen weiter viel eher am Platze gewesen, als Erec sich vergeblich bemüht, mehr über die Befürchtungen seines gesellen zu erfahren: (...)

yich wil daz hus erkunnen: des sult ir mir wol gunnen.' ,mirst leit daz ich ius gunnen sol. we dan so irz bevindet woU' ,waz meinet ir, kUnec Guivreiz?' ,ich enmeine niht wan daz ich wetz.' ,durch got, nü saget was?' ,nü k^t wider, daz kumt uns baz.' Die Frage aus dem Publikum, deren Charakter durch den Vorwurf der Ungeduld präzisiert wird, hat eine andere Qualität als etwa diese Stelle aus dem Bericht über den Zweikampf zwischen Erec und Mabonagrin: geselle Hartman, nu sage/wie erwerte inz der Up} (9169f.). Sie bezieht sich nicht auf

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das, was erzählt wurde, sondern auf das, was noch erzählt werden soll. Oder: sie bezieht sich auf eine andere, schon fertige Fassung der BrandiganEpisode, die dazu angetan war, das Publikum ungeduldig zu machen. Diese Fassung ist die Chretiensche Fassung. Das deutschsprachige Publikum, das in Frage kommt, ist ein Publikum, das den französischen Text genau kennt, also ist wohl Hartmann, der Autor, der Vermittler. Wie Jeff Rider gezeigt hat,^® ist Chretiens gegenstandsbezogener Bericht in der ersten Hälfte der Brandigan-Episode ganz darauf angelegt, Spannung zu erzeugen und eine änigmatische Aura um die aventure, die zugleich eine mervoille 'ist,^^ zu weben. Der Gegenstand entzieht sich äußerst harmäckig dem Helden und dem Leser/Hörer. Die Yerhen parier, conoistre und besonders savoirhegegjcien mit auffälliger Häufigkeit, i'' Nur: was man frei nach Hartmann daz wizzen umbe diegeschihtnermen könnte (vgl. oben 4.1), das wird einem sorgfältig vorenthalten. Typisch die Worte, die König Evrain beim Nachtmahl auf Brandigan an Erec richtet: Por ce vos di que traison vers vos feroie et mesprison, se tot le voir ne vos disoie.'

(5591-93)

„Darum sage ich Euch, da ich Euch verriete und einen Fehler gegen Euch beginge, wenn ich Euch nicht die ganze Wahrheit darüber offenbarte." (Übers. A. Gier)

Der Ausdruck „die ganze Wahrheit" kann den Leser, der von der aventure lediglich erfahren hat, daß sie bisher für die abenteuerlustigen Gäste einen tödlichen Ausgang nahm, nur irritieren. Eine noch deutlichere Provokation ist dann der ,zusammenfassende' Satz (5621f.): De ce tote la nuitparlerent jusque tant que couchier alerent. („Davon sprachen sie die ganze Nacht, bis sie zu Bett gingen."): Davon, gewiß, aber wovon? Daß Hartmann diese Verzögerungs- und Vemebelungstaktik gut beobachtet hat, daß sie außerdem in seinen Augen einen gewissen Reiz nicht entbehrte, zeigt die Art und Weise, wie er das Spielchen mit dem Verb sdWirübemimmt und abwandelt. Das Publikum möchte erfahren, was der Erzähler weiz (7926); was letzterer weiß, weiz (7929) auch Guivreiz ganz genau; dieser nun, meint Erec, hat keinen Grund, mit seinem Wissen hinterm Berg zu halten (7948) und Guivreiz erklärt sich schließlich bereit. « Rider (wie Anm. 1), S. 120-26. ,Erec et Enide', V. 5596f. savoir im Gespräch zwischen Erec und Guivreiz bei der Ankunft vor Brandigan (5319-5444): 5429; 5338; 5339; 5375; 5377; 5380; 5383; 5393.

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dieses Wissen zu verraten, was er beim dritten Anlauf (vgl. 7953, 7958) auch tut (7998), nachdem Erec beteuert hat, daß er vom Fragen nicht lassen wird, solange er die rede niht baz weiz (7996). Hartmanns neue Fassung der ,Prolegomena' zur Brandigan-Episode ist dennoch nicht als Verdeutlichung, Rhetorisierung und Explizierung der Erzähler-Publikum-Relation zu verstehen; weil Erec das doch schließlich erworbene Wissen wie eine Seifenblase wegpustet (8028ff.): der Berg verbarg eine Maus; und weil man in der deutschen Brandigan-Episode,schon' ab V. 8017, also nach nur 195 Zeilen weiß, wiez dar umbe stat (8000), während der Leser der Chretienschen Fassung sich mehr als dreimal so lange gedulden muß (5319-5847=638 V.), bevor er ahnen kann, daß die aventure in einem ritterlichen Zweikampf besteht. J. Rider hat, glaube ich, richtig gesehen: „(...) der deutsche Autor zieht die Erzähltaktiken, die Chretien anwendet, um diese (sc. änigmatische) Aura zu schaffen, ins Lächerliche."!® Man körmte auch sagen: Mit den Variationen zum Wissens-Thema wird Chretiens Erzählstil anzitiert, Zitat, Vorwegnahme der Ungeduld des Publikums und Antizipation der Enthüllung können als Polemik gegen die eigenwillige Manier des Vor-Dichters verstanden werden. So spielerisch die Konversation zwischen Erzähler und Publikum anmuten mag, es steckt dahinter eine Mahnung: Es kann nicht Aufgabe eines Dichters sein, auftrumpfend ein Wunder zu verrätsein. Es steckt femer der alte Lehrsatz darin: Wissen will tradiert werden, verbunden mit einer Weisheit: Wie dem auch sei, einer müßte es eigentlich wissen - der Autor. Aus dieser Analyse wären zuerst zwei rückwärts gewandte Schlüsse zu ziehen:

Rider (wie Anm. 1), S. 120: (...) „l'auteur allemand ridiculise les tactiques que Chretien emploie pour creer cette aura." Das Zitat geht höchstwahrscheinlich über die Köpfe der realen Hörer/Leser hinweg. Dies ist für die Rekonstruktion der .Kommunikationsgemeinschaft' (vgl. Gert Kaiser, Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung: Die Artusromane Hartmanns von Aue, Wiesbaden ^1978, S. 9-46) nicht unwichtig. Die hermeneutische Gleichung: vermittelter Stoff, aber neuer Autor und neues Publikum=Verständigung auf neuer Basis durch Assimilation und Identifikation stimmt in der Praxis nicht immer, weil der Autor als Nachdichter, also auch als früher Rezipient, nicht eigentlich neu ist. Die Situation ist aus dem Weitererzählen von Witzen bekannt. Die Kommunikationsgemeinschaft fühlt sich frustriert, wenn der Vermitder den Witz dadurch verdirbt, daß er selber zu früh lacht.

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a) Die Inszenierung der spontanen Rezeption der entstehenden Erzählung durch das Publikum ist hier ganz eindeutig ein Reflex der eigenen Lese- oder Hörerfahrung des Autors als Rezipient des Romans Chretiens. Auch da, wo man es eigentlich nicht erwartet, gleich zu Episodenbeginn, kann das Reflektieren des eigenen Erzählens durch die Rimärrezeption stark beeinflußt werden, kann die Initiative reaktiv sein. b) Das Frage- und Antwortspiel zwischen Erzähler und Publikum ist hier zweifellos nichts anderes als eine Veranstaltung des Autors. An die Möglichkeit einer Selbstinterpolation Hartmanns, die einen tatsächlichen Einwurf eines realen Publikums integrieren würde, mag man nicht glauben. Ein reales Publikum hätte gar keinen Grund gehabt, so früh derart zu reagieren - es sei denn, es hätte Chretiens Fassung der BrandiganEpisode gut gekannt. Aber wozu hätte dann ein solches reales Publikum eine deutsche Übertragung nötig gehabt? Man wird also auf die Altemativformulierung realer/fingierter Hörer verzichten dürfen (vgl. 4.2): Das einzige reale Publikum, das hier zu fassen ist, ist Hartmann als Rezipient der französischen Vorlage. Jetzt nach vorne gerichtet: Die Entmythisierung der Fabel (die Burg ist also keinesweges vol/gewürmes und wilder tiere, V. 8037f.), die durch das Frage- und Antwort-Intermezzo vorbereitet wird, dokumentiert ein bisher in der deutschen erzählenden Literatur noch nie so eindeutig feststellbares Fiktionsbewußtsein. Dennoch bleibt dieses Bewußtsein ambivalent, weil die Demonstration der Fiktionalität der Erzählung mit einer Art Ruf nach erzählerischer Führung einhergeht. Aber darüber später. Es soll zuerst der Ubergang zur zweiten Stufe des Konversationsstils, zum Auftreten des fingierten Publikums als Miterzähler in der zweiten Pferdebeschreibung besprochen werden. 4.4. ,Konversation' als poetologischer Kommentar Vom Moment an, wo dem Hörer As persona eine Reaktion ,unterschoben' wird, die nur der Autor Hartmann als Hörer/Leser der Vorlage haben könnte, werden Hörer- und Erzählerfigur vom Autor gleichrangig behandelt. Insofern sind sie prinzipiell austauschbar. Was führt nun aber dazu, daß der Austausch und damit das Experiment des zweistimmigen Erzählens tatsächlich stattfindet? Und warum geschieht dies gerade in der descriptio des bemerkenswerten Reittieres? Zwei Momente treffen hier aufeinander. Das erste muß rekonstruiert werden, aber es herrscht ein ziemlich breiter Konsens darüber, daß Hartmann Chretiens Grundkonzeption erkannt hat (weshalb man auch von

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kongenialer Nachschöpfung spricht): Binnen-Referentialität sichert künstlerische Autonomie. Hartmann hat - anders als WoHram - das dazu gehörende antihistorische Prinzip der Diskontinuität respektiert (außer im Schlußteil, wo die Berufsethik den Mut zum Fragmentarischen sinken ließ). Als Rezipient hatte er auch den Blick frei für die Konsequenz, daß bei einem solchen Konzept keine Instanz für die Wahrheit des Erzählten bürgt, und für ein Korrelat dieser Konsequenz: Fehlt dem Erzähler die offizielle Autorität, verfällt der unanfechtbare Anspruch auf Allein-Autorschaft. Eine autoritative Stoffvermitdung ist naturgemäß zuerst im Bereich des Wunderbaren problematisch, und zwar besonders da, wo das Wunderbare keine subtilen Beziehungen zur vorgespiegelten Wirklichkeit unterhält und als massiv in die Erzählwelt hineinragendes Element empfunden wird. Nun hat Hartmann gerade eine solche Einstellung zum Wunderbaren. Er neigt dazu, Wunder und Wirklichkeit zu entflechten. Der längere Passus über Famurgans Salbe ist hier aufschlußreich.20 Hartmann nimmt Chretiens Bericht aus dem Erzählfluß heraus, verlegt ihn auf die Kommentarebene und akzentuiert in sehr starkem Maße die übernatürlichen Gaben der Fee. In der Beschreibung des zoologischen Wunders von Penefrec verfährt er ähnlich (nur, daß er das Wunder nicht zu isolieren braucht, eine descriptio hat als solche einen exkursartigen Charakter): das Wunder wird an die Peripherie der zivilisierten Welt gedrängt. Das Tier, erfährt man, gehörte ursprünglich einem wilden getwerge (7396); die Verbindung zwischen beiden Welten, die offenbar nicht ineinander aufgehen sollen, wird - darf man wohl hinzuphantasieren - durch den Umstand möglich gemacht, daß der neue Eigentümer, Guivreiz, vil na getwerges genöz ist (4284) und sich in dieser Eigenschaft an die Grenze zur anderen Sphäre begeben kann. Bei dieser Ausgrenzung des Wunders kann es aber nicht bleiben, weil - im Einklang mit der Vorlage - eine radikal entgegengesetzte Provenienz des Gegenstands der descriptio suggeriert wird. Dieses Objekt konstituiert sich vor unseren Augen Stück für Stück, Pinselstrich für Pinselstrich und kommt als wandelnder Romanführer in Bildern daher. Wildheit und Artifizialität: der Status des Beschreibungsgegenstandes könnte kaum widersprüchlicher, die Grundlage des autoritativen Erzählens kaum brüchiger sein. Keine andere Textpartie bot ein solches Autoritätsvakuum, in das die Hörerfigur schlüpfen konnte, um sich als Ko-Autor zu versuchen, kein

20 Dazu Rider (wie Anm. 1), S. 101-111.

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anderer Textteil war besser als diese Einlage dazu geeignet, das Legitimitätsproblem eines selbstgesteuerten literarischen "Werkes mit erzählerischen Mitteln zu artikulieren, ohne den Verlauf der Geschichte zu tangieren. So gesehen, stellt die Beteiligung der Hörerfigur am Erzählen, im Bereich der Erzählweise diefi-appantesteInnovation des deutschen ,Erec', einen Kommentar zu der konzeptionellen Hauptinnovation von Chretiens Roman dar. „Als erster Aneigner des Artusromans ist (Hartmann) in Deutschland auch der erste, der ein Bewußtsein für literarische Fiktionalität herausstellt (...)", stellte Worstbrock fest.^^ Der damit angedeutete Kausalzusammenhang kann bestätigt werden: Die Herausbildung des Konversationsstils im ,Erec' erscheint als eine Reaktion auf die besonderen Eigenschaften der neuen Gattung, die durch,interregionalen' Kontakt in den deutschsprachigen Kulturraum transportiert wurde. Der ,Iwein' stützt übrigens indirekt diese These. "Wenn der ,Konversationsstil' auf einen reaktiven Prozeß zurückzuführen ist, kann man prinzipiell erwarten, daß fünfzehn oder zwanzig Jahre nach dem ersten impfen die Übertragung eines zweiten Romans von Chretien mildere Reaktionen hervorruft. Tatsächlich bildet sich im ,Iwein' die ,Konversation' zurück; sie begegnet nur noch an zwei Stellen, im Dialog zwischen vrou Minne und dem kleinkarierten Rationalisten namens Hartman (2970-3028) und in dem Disput zwischen Hartman und einem kritischen Hörer (7015-7074).

5. Roß oder Reiter(in)? Diese Stellen aus dem ,Iwein' lenken den Blick auf den ,Erec' zurück, denn sie klingen anders, abstrakter als die vergleichbaren Dialoge im ersten Roman, didaktisch (wo im ,Erec' die Figur, welche die erzählerische Autorität vertrat, bloß oberlehrerhafte Töne anschlug). Und die Nähe zur Allegorie ist unverkennbar. Sollen diese Stellen vor einem anderen Hintergrund gesehen werden? Oder verdeutlicht sich hier eine Tendenz, die sich schon im ,Erec' streckenweise abzeichnete? Der zweite Passus ist als ziemlich vorlagengetreue "Wiedergabe der schon (nach dem Schema Sic et Non) dialogisierten und allegorisierenden Darstellung Chretiens (Amors et Haine en un ostel, ,Yvain' 5995ff./ minne bi

21 Worstbrock (wie Anm. 1), S. 26.

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hazze in einem vazze) in diesem Zusammenhang weniger ergiebig als das Gespräch zwischen vrou Minne und dem Erzähler Hartman. Dieses Gespräch verhält sich komplementär zum impliziten poetologischen Kommentar, den die Mitautorschaft der Hörerfigur in der Beschreibung des Wunderpferdes von Penefrec darstellte (vgl. oben 4.4). Vrou Minne - man beachte die Personifizierung - unterweist den unbedarften Erzähler in der Kunst der indirekten Darstellung: der Herztausch soll bitte als Bild für die bedingungslose Liebe verstanden werden. Benutzte im ,Erec' der Hörer die mit den stofflichen und kompositorischen Besonderheiten des Artosromans verbundene ,Autoritätskrise', um mitzudichten, so wird im ,Iwein' Autorität auf anderem Boden wiederaufgebaut: legitimitäts- und autoritätsverleihende Wahrheit erwächst aus der Sirmgebung. Das ist in der Tat das Grundprinzip, das dem Roman Chretienscher Prägung zugrunde liegt. Der Dichter, der aber imstande ist, ein solches Programm zu formulieren, ist innerlich schon bereit, Texte im allegorischen Stil zu verfassen. Nun zeigt der Schluß des Textteils, in dem sich der Konversationsstil gerade am breitesten entfaltet, daß diese Neigung schon im ,Erec' bestand: von sus getanen dingen was der satel vollebräht und baz dan ichs hän gedaht. zewäre ouch bedunket mich reht unde billich daz er mit vollem maere harte schoener waere dan dehein ander gereite, wan er mit wärheite dem schoenisten wibe wart gegeben diu in den jären mohte leben, der edeln vrouwen Eniten. (7755-7766)

Die Schlußpointe, die die Logik der descriptio auf den Kopf stellt, enthält eine ästhetische Grundsatzentscheidung. Nicht auf Grund eigener Merkmale versagt sich der Sattel einer erschöpfenden Beschreibung; unbeschreiblich ist er, weil das Geschenk sich der Beschenkten anpaßt. Die Pracht des Sattels ist eine Funktion der Schönheit der Heldin. Wie die Frau, so der Sattel. Und das heißt: Die nicht-enden-wollende descriptio des Pferdes indiziert die unendliche Schönheit Enites. Das wunderbare Tier ist quasi eine Allegorie dieser Schönheit. Auf diese indirekte Weise wird

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das Pferd, das da heime niht erzogen was (7393), im Roman heimisch gemacht. Es lassen sich also in Hartmanns ,Erec' unter der Perspektive des Erzählstils zwei kausal zusammenhängende, aber äußerlich völlig verschiedene Formen des Wandels durch grenzüberschreitende Vernetzung unterscheiden. Das Innovative am Ausgangswerk wird auf zweifache Weise verarbeitet. Zuerst als radikale Transponierung; man körmte von beschleunigender Reflexion sprechen, die ,optisch' den Eindruck einer Antizipation späterer Entwicklungsprozesse vermittelt. Die Konsequenzen der Selbstlegitimierung von Literatur und der damit zusammenhängenden Entdekkung der Flexibilität von Autoren- und Publikumsrolle werden inszeniert. Katalysierend wirkte dabei die,Vergangenheit' des Autors als Hörer/Leser. Andererseits wird diese Innovation auf einer anderen Ebene reflektiert und transformiert, und dies auf so durchsichtige Weise, daß man meint, die Überlegung des Nachdichters rekonstruieren zu körmen: Wenn Legitimität und Sinn identisch sind, kann man sich dieser Legitimität vergewissem, wenn man den Sinn so herauspräpariert, daß er zwar indirekt, aber doch als fertiges Ganzes angeboten wird. Das wahre Wunder ist Enite. Angesichts des Wunders von Brandigan braucht niemand gebitelos zu werden; nicht das Wunder steht im Mittelpunkt, sondern Erecderwunderaere (9308, vgl. auch 10045) .22 Beim Transfer erfährt die konzeptionelle Irmovation Chretien eine doppelte Brechung. Das Dreieck Autor-Werk-Publikum verengt sich einerseits zu einer Publikumsbezogenheit, die ein singuläres Phänomen blieb, und andererseits zu einer neuen, der Nachschöpfung eigenen Form des werkzentrierten, also gegenstandsbezogenen Erzählens, die mehr Zukunft hatte, weil sie das Autoritätsprinzip nicht preisgab. Diese Instabilität, bewirkt durch den literarischen Kontakt, macht den besonderen Reiz des deutschen ,Erec' aus.

über die Einstellung Chretiens und Hartmanns zum Wunderbaren zusammenfassend: Rider (wie Anm. 1), S. 126-127.

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... der rehten franzoiser het er gern gehabet mer Zu einigen Scheidelinien auf der mentalen Landkarte von Wolframs,Willehalm' Durchweg begegnen im ,Willehalm' Benennungen, die Raumvorstellungen zu beinhalten scheinen. Versucht man jedoch, diese Verweise auf räumliche Koordinaten zu beziehen, sperren sie sich gegen unser Bemühen, sie einem zusammenhängenden Gebiet zuzuordnen. Stattdessen scheinen wir eher mit diskontinuierlichen Größen im Kopf des Dichters rechnen zu müssen, gleichsam mit einer mentalen Topographie. Diskontinuierliche, instabile Größen, Größen von variabler Ausdehnung treten im , Willehalm' vor allem dort zutage, wo Wolfram franzoiser lant oder franze oder das riebe im Zeichen der römischen Krone, insbesondere aber die Franzosen ins Feld führt. Der Name franzeü mit seinen Spielarten/rawze/saere, franzoise, franzoisaere scheint, je länger man hinschaut, je mehr differente und einander überschneidende Ordnungskategorien zuzudekken. Wie organisiert sich dem Ostfranken Wolfram das westliche Nachbarland, wenn er die franzoise gegen die Heiden in den Krieg ziehen läßt? Die unterschie^chen Ausdehnungen, die der Nzmefranzois im,Willehalm' annimmt, soll zum einen eine verkürzte Wortstudie belegen. Zum andern sollen Scheidelinien sichtbar gemacht werden, welche die dargestellte Welt des ,Willehalm' durchziehen: geographische, politische, ideologische Oppositionen; Grenzziehungen globaler Art und punktuelle Brüche, die mitten durch die Personen gehen. Zu Beginn also die verkürzte Wortstudie': Zuerst wähle ich zwei Kon1 Zu .Franzose* und .Französisch' vgl. auch Michael Curschmann, The French, the Audience and the Narrator in Wolframs ,Willehalm'. In: Neophilologus 59 (1975), S. 549-561, und Christian Kiening, Umgang mit dem Fremden. Die Erfahrung des .Französischen' in Wolframs .Willehalm'. In: Wolfram Studien X (1989), S. 65-85.

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texte, in denen der Namefranzoissich auf einen ausgedehnten und zugleich abstrakten und deshalb unproblematischen Raum erstreckt: Am Ende des Prologs bescheinigt Wolfram seinem eigenen Unternehmen, die überlieferte Geschichte auf deutsch zu erzählen, einen unvergleichlichen Rang: unsanfte mac gendzen / diutscher rede deheine / dirre, die ich nu meine (4,30ff.).2 Die ävenüure']e6.och.gilt hierzulande als Ausländerin: diu vert hie mit den gesten. Franzoiser die besten, heißt es, haben sie sozusagen heiliggesprochen: hänt ir des die volge lan / daz süezer rede wart nie getan / mit wirde noch mit wärheit (vgl. 5,8ff.). Die Argumentation operiert hier einerseits mit den Gegensatzpaaren einheimisch / fremdländisch, deutsch / fremdsprachlich und anderseits mit der parallelen Würde von Uberlieferung und Bearbeitung, so daß die Franzoiser m diesem Kontext zugleich als fremde und als kulturelle Größe zur eigenen Identität ins Verhältnis gesetzt werden. Es gibt weniger Stellen als man dächte, aber doch einen prägnanten Beleg dafür, daß der Kollektivbegrifffiranzois die Gesamtheit des Christenheeres bedecken und als Synonym von diegetouften auftreten kann. 351,21 wird die zweite Schlacht folgendermaßen eröffnet: nü warn ouch die getauften komen ... die tjostiure ze beder sit / mit einem buhurte huoben den strit, / Franzois und Sarrazine. Der Titelheld der Geschichte Willehalm ist ein Franzeiser. äne den keiser Karlen nie, heißt es, so werder Franzeiser wart erbom. (3,30f.). Gilt also Karl der Große in Wolframs Akklimatisierung der chanson de geste im deutschen Spachraum als Franzose? Oder denkt sich Wolfram seinen Helden WiUehahn als Franken? Sicher, der hochadligefiranzoiserWillehalm hat auch in Wolframs Version das Grenzland als Lehen vom riche. Aber ist hier das Königreich Frankreich gemeint oder das ehemalige Karlsreich? Und warum hat der deutsche Dichter dem prominentesten Vasallen des Königs von Frankreich entgegen der Vorlage eine so markante provenzalische Identität verliehen?^ von Provenze der markis / Willalm bin ich genant (135,16f.), so stellt er sich seinem Gastgeber dem Kaufmann Wimar in Munleun vor. Ingesamt neunmal wird er als von Prauenze der marquis oder

Wolfram von Eschenbach, ,Willehabii'. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Herausgegeben von Joachim Heinzle, (Bibliothek des Mittelalters 9). Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Manfred. W. Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politische Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Bonn 1969, S. 166-171.

... der rehten franzoiser het er gern gehabet mir dervürste üzpnyvenzalen definiert. Auch markieren Willehalm und die Vertreter seiner Sippe in ihren Anreden den König und die Franzoiser wiederholt als ,die andern', als eine von ihnen geschiedene Gruppe.'^ Geographisch unterscheidet Wolfi-am konsequent zwischen Provenzalen lant und der Franzoiser lant, und läßt auch manche seiner Figuren das entsprechende Bewußtsein ausdrücken: Amalt zum Beispiel, einer von Willehalms sechs Brüdern, ist Statthalter des Königs Louis im (zu Wolframs Zeit) zur Krondomäne gehörigen Orleans. Ihm ist es außerordentlich peinlich, daß Willehalm auf seinem Ritt durch die Stadt üf Franzoiser erde (123,30) angegriffen wurde. Auch Willehalm scheint eine territorial differenzierte politische Landkarte im Kopf zu haben: Nur zwanzigtausend Leute, so heißt es, kamen Willehalm in der ersten Schlacht zu Hilfe: Provenzäl und Burgunpis / und der rehten Franzois / het er gehabet gerne mh(15,27ff.). In unserem Zitat sind die rehten Franzois den andern beiden Ordnungen, den Burgundern und Provenzalen, gleichgeordnet wie ein Stamm bzw. ein Territorium dem andern. Nicht nur geht aus dieser Stelle hervor, daß Franzois nicht unbedingt als Oberbegriff auftreten muß, sondern es scheint auch Franzosen zu geben, auf die der Name richtiger zutrifft, Franzosen, die quasi französischer sind als andere. Joachim Biunke bestimmt die hier getroffene Unterscheidung aus dem Gegensatz zu den Territorien Provence und Burgund, die zu Wolframs Zeiten Reichslehen waren. Joachim Heinzle definiert die rehten Franzois als die „Nordfranzosen aus dem Herzogtum Franzien"®. Wie auch immer man das französische Kernland bestimmen will, bemerkenswert ist nicht zuletzt, daß Wolfi-am hier, sich mit Willehalm indentifizierend, eine Innenperspektive annimmt. Nicht der Blick des Ostfranken auf das westliche Ausland jenseits des Rheins bestimmt hier den Horizont, sondern das Bemühen, das andere Land durch distinkte territoriale Einheiten zu markieren und so den damit zusammenhängenden künftigen Problemen den Boden zu bereiten: 298,1-4; 301,21-30; 306,6-10; 304,2f.; 304,6-8. Vgl. Heinzle (wie Anm. 2), Stellenkommentar zu 15,28. Darüber, ob es einen ducatus Franciae als geographisch messbares Gebiet tatsächlich gegeben hat, sind sich die Historiker allerdings nicht einig. Vgl. dazu Margret Lugge, „Gallia" und „Francia" im Mittelalter. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen geographisch-historischer Terminologie und politischem Denken vom 6.-15. Jahrhundert. Bonn 1960, S. 165f. Dieser Studie zufolge ist seit dem 10 Jahrhundert der Name Francia als Bezeichnung für den dritten Teil des Westreiches (neben Aquitanien und Burgund) üblich. Der Terminus bezieht sich in dieser Nachbarschaft auf den Rest des Landes, „also alle westfränkischen Gebiete nördlich der Loire", vgl. S. 167f.

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es sind alles Franzosen, zu denen der Provenzale Willehalm sich ins Benehmen wird setzen müssen, jedoch von xmterschiedlichen Graden. Es stellt sich auch die Frage, aus welchen Quellen Wolfram je seine mentale Topographie anregen läßt. Aus der zeitgenössischen Realität oder der literarischen Tradition? .Aliscans'^ operiert mit dem König von Frankeich als König in ständig gefährdeter Position, der eigentlich nur in der Krondomäne zu Hause ist. Deshalb, läßt sich vermuten, fühlt er sich auch in Laon^ nicht sicher, sondern wünscht sich angesichts von GuiUaumes Drohgebärden heim nach Paris; die Königin wiederum wäre lieber in ihren Gemächern in Senlis, oder aber in Estampes oder in der Stadt St. Denis, alles Residenzen in der Krondomäne^. Orleans, jenseits der Loire, markiert die Grenze zum Kernland des Königs, wo die gent de France beheimatet ist (vgl. 2330ff. und 2485). Im .Willehalm' wünscht sich der König nach Paris und Etampes oder Orleans. An dieser Stelle ergibt das von Wolfram durch diese drei Namen abgesteckte Gebiet somit kein neues Bild gegenüber ,Aliscans'. Von seinem Bruder Amalt, dem Statthalter des Königs in Orlens, wird Willehalm nach Munleun geschickt, wo der König einen Hoftag hält, der, wie es heißt al die Franzoiser wegetr. ganz Frankreich auf die Beine bringt, übersetzt Heinzle. Doch vor Ort sehen wir diesen integralen Wortsinn wieder aufgegliedert: Als Willehalm sich nämlich Munleun nähert, sieht er: manec Franzois und Bertün / und vil der Engelloise / und der werden Burgunschoise / zer höchgezite körnen dar. Außerdem von tiuschem lande / Flaeminge und Brabände / und der herzöge von Lahrein.{l26,SH.) Möglicherweise deckt sich das hier aus dem Oberbegriff herausgeschnittene französische Segment mit den oben diskutierten rehten Franzois und der gent de France aus ,Aliscans'. Die Erwähnung der Engelloise dürfte als Rezeptionsspur auf das deutsche Rolandslied verweisen. Dieses hat Ro6 Mscans, hg. von Claude Regnier, 2 Bde., (CFMA 110 und I I I ) . Paris 1990. (Vgl. 3010ff.) ^ Der alte Bischofssitz Laon gehört offenbar nicht zu den bis 1226 neu zu der Krondomäne hinzugewonnenen Gebieten. Vgl. Großer historischer Weltatlas. Zweiter Teil Mittelalter, hg. vom Bayerischen Schulbuch-Verlag, Redaktion: Josef Engel. München 1978, S. 21: England und Frankreich vom 10. bis 13. Jh. ® Vgl. Aliscans (wie Anm. 6), S. 40. - Wenn Aliscans, wie angenommen wird (vgl. Hellmann, wie Anm. 3, S. 149), um 1185, also in der Regierungszeit des äußerst erfolgfei^en Philippe II. Augustus entstanden ist, darm verweist schon in der chanson de geste die Zeichnung eines ohnmächigen Königs auf eine seit geraumer Zeit überlebte Problematik.

...der rehtenfranzoiserhet er gern gehabet mh lands Prahlerei, wie er für den Kaiser Karl Engletere eroberte, diese Hyperbel des großfränkischen Geltungsanspruchs seinerseits aus der ,chanson de Roland'^ übernommen: Engelland ze einer kamere / ervaht ich dem chunc Kary°. Zugleich gehört von den hier aufgeführten Regionen insbesondere Lothringen auf eine Landkarte des Frankenreiches vor der Teilung, denn dieses Territorium gehört seit 925 zum sog. Ostreich. Zu Wolframs Zeit zählen Flandern, Brabant und Lothringen zum Verband des deutschen Reichs. ^^ Das hieße, daß Wolfram an dieser Stelle, in der Einleitung zum Hoftag von Munleun, zum ersten Mal eine politische Größenordnung entwirft, welche die in der zeitgenössischen Realität geltenden Grenzen Frankreichs nach Osten verschiebt. Darauf werde ich zurückkommen. Es handelt sich jedoch um eine partielle Erweiterung, denn wie wir gleich sehen werden, läßt sich eine neue Scheidelinie einzeichnen: die durch den Rhein gebildete Grenze. Wie Rene Perermec nämlich gezeigt hat, sind sämtliche von Wolfram als deutsch identifizierten Stämme, die das riche zum Kampf gegen die Heiden abordnen wird, linksrheinisch angesiedelt^^: nämlich Lothringer, Brabanter, Flamen und die den Flamen zugerechneten Städte IpernnA Arras. Die östlich des Rheines erwähnten deutschen Regionen heißen etwa Virgunt, Swarzwalt, Spehtesart, Sand, Kitzingen, Nördlingen etc. Meistens iimiitten der Schilderung heidnisch exotischer Prachtentfaltung schaltet Wolfram ostfränkische Ortsnamen ein und kontrastiert so das zwar schreckliche, aber zentrale Geschehen mit dem bäuerlichen, handwerklichen, familiären Kolorit der heimatlichen Provinz: So steht etwa Nördlingen im Zeichen der Dechsscheite (Flachsschwingen) (vgl. 295,16). Eisenrüstungen, wie sie die Leute am Sand bei Nürnberg kennen, können keinen Vergleich mit den aus unzerstörbarer Schlangenhaut gearbeiteten Waffenkleidem des Königs Purrel von Nubiant aushalten (vgl. 425,30ff.). Neben dem Gleißen heidnischer Seide kann sich miner tohter tocke nicht mehr sehen lassen (vgl. 33,24f.). Diese Blickweise situiert die ' La chanson de Roland, übers, von H. W. Klein, (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 5). München 1963 , 2331f. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. von Carl Wesle, zweite Aufl. v. Peter Wapnewski, (ATB 69). Tübingen 1967, 6855f. Vgl. Heinzle (wie Anm. 2), Stellenkommentar zu 126,8. Vgl. Rene Perennec, Histoire, geographie et ecriture dans le .Willehalm' de Wolfram von Eschenbach. In: Litterales 14 (1994): La chanson de geste. Ecriture, Intertextualites, Translations. Textes presentes par Frangois Suard. Universite Paris X Nanterre 1994, S. 173-199 - S. 195f.

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Einwohner der fränkischen Provinzen zwischen Rhein und Main, die im „ostfränkisch-deutschen Bereich" Francia genannt werden,weit weg vom Schuß, in einem Abseits, das dem welthistorischen und heilsgeschichtlichen Geschehen zu Alsiscans inkommensurabel ist.''^ In dieser Provinz ist auch des Erzählers nachgebürzu Hause; er braucht sich die Flut exotischer Namen und Titel, mit der uns der sich kosmopolitisch gebärdende Erzähler zuschüttet, nicht zu merken und er könnte sie auch gar nicht behalten, selbst wenn man sie ihm zweimal sagte: ob ich im's zwirent nande (26,24). Was muß man sich schließlich unter der Herrschaftsbereich des Königs Lois vorstellen? Der König, sein lant, sein riebe, sänefürsten, was sind das für Größen? König Lois, der Karlssohn und Karlserbe, wird bekanntlich an keiner Stelle Kaiser genarmt, doch auch nirgendwo König von Frankreich. Dermoch legt ihm Wolfram, wie schon bemerkt wurde, die französische Namensform bei: L o u i s . D e r Sohn Karls ist durch eine doppelte Ausschließung gekennzeichnet (nicht Kaiser, nicht König von Frankreich). Dafür wird er durchgängig mit dem Universalität signalisierenden, zugleich, wie deutsche Hörer vermuten sollten, reichsdeutsch eingefärbten Attribut römiscb versehen. Der König wird von Rome rois Ldwis (103,13), der roemisch künec (95,23), dervürsten vogt^ genannt, den riebe bat. der legitimiert ist, die Fürsten, die auf dieser Heerfahrt dem riebe hilfsfpflichtig sind (vgl. 211,12f.), zur Unterstützung Willehalms aufzurufen. Es ist gewiß kein Zufall, daß der König in dem Augenblick, da er als würdiger Sohn Karls handelt, von seiner besten Kriegsmacht spricht, die in Deutschland hinter ihm stehe {binder mir ze tiuseben landen, 210,29). Hier läßt der König persönlich die Idee eines ungeteilten Frankenreichs am Horizont aufscheinen. Es ist dies zugleich der Augenblick, an dem König Louis seine Befehlsgewalt als oberster Kriegsherr an den dem Karlserbe verpflichteten Willehalm abtritt. Doch genaugenommen decken sich die Bezeichnung römische Krone und universaler Reichsbegriff nur an zwei Stellen mit der Totalität im Namen Karls, die Willehalm und die Narbonnesen nicht müde werden zu beschwören: In der Vergangenheit, als es um die Karlsnachfolge ging und Willehalm dem Sohn die Herrschaft verschaffte: ber künee, nü waenet ir kreftie sin: gap ieb iu roemisebe kröne / naeb also swacbem lone, / als von iu

Vgl. Lexikon des Mittelalters, s. v. Francia, Sp. 682. " Vgl. Perennec (wie Anm.l2), S. 197f. 15 V ^ . Hellmann (wie Anm. 3), S. 213.

... der rehten franzoiser het er gern gehabet mir gein mir ist bekant? / daz riebe stuont in miner bant (145,16ff.). Und im Augenblick, da König Louis die deutschen Hinterländer ins Spiel bringt. Löis, der künec, heißt es da, was oucb roemiscber voget (210,1), und er unterstellt Willehalm alle die ze keiner belfe sin gezalt / «/dise vart dem riebe (211,12f.). Wie umfassend soll man sich derm überhaupt die römische Universalität im ,Willehalm' denken? Gyburg zum Beispiel dissoziiert Willehalm gegenüber das Hilfspotennal des Königs von Rom von den Verwandten ihres Gatten (d. h. Vater und Brüder, die von Narbon): von Röme rois Lawis/und dine mage sulen irpm! an dir nu lazen scbin. (103,13£f.) Wäre König Lois, der roemiscbe voget, als eine identische Größe gedacht, dann verstünde er sich durchgängig als Schutzherr des römischen Reichs und der Christenheit so wie sein Vater Karl im Rolandslied oder so wie Terramer, der vogt von Baldae (96, 9) sein Amt versteht. ^^ Würden die Ordnungskategorien reibungslos funktionieren, wären Willehalms Markgrafschaft Provenze und die Grafschaft Narbon nicht nur im Oberbegriff Francricbe sondern allemal in der übergreifenden Einheit Röme enthalten. In Wolframs Zeichnung kann jedoch der vogt von Rome je nachdem als Partei^nger partikulärer Territorialinteressen auftreten und auch seine von Gyburg mit roemiscbe vürsten angeredeten Vasallen sind gegebenenfalls nordfranzösisch verortet und engagiert. Daß die Repräsentanten des Oberbegriffs ( riebe in der Verbindung mit Röme'^) sich meist als Vertreter der partikulären regionalen Interessen gebärden (vgl. 141,1-142,23), bringt die hierarchischen Ordnungskategorien durcheinander. In Wolframs Präsentation des Geschehens wird Lois, der angestammte Karlserbe (in der militärischen Verantwortung für den Emstfall) abgelöst durch denjenigen, der die wahre Reichsidee vertritt, den ,echten' Karlsnachfolger. Vielleicht entsprechen dieser Unterscheidung die zwei extensiven Gebilde, die in Wolframs mentalem Universum koexistieren. Beide Vorstellungen fallen weder mit Franknebe, der Herrschaft des Königs von Frankreich, noch mit dem deutsch-römischen Imperium zusammen: Die eine erscheint als politisch gegliederter Komplex und erlaubt geographische Vorstellungen: des riebes ber (328,7), abgeordnet von Lois, der roemisebe kröne truoe (321,Iff), besteht vor der zweiten Schlacht bei Wolfram aus genau den Gruppierungen, die schon am Hoftag von Munleun Erwähnung

Vgl. Heinzle (wie Anm. 2), Stellenkommentar zu 96, 9. Vgl. Zu den Belegstellen vgl. Hellmann (wie Anm. 3), S. 222.

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fanden: Burgunzois, Bertun, Flaeminc, Engellois, Bräbant undFranzois sehen wir als Willehalms Gäste im palas zu Orange tafeln (vgl. 269,24ff.). Den Hoftag von Munleun, der al die Franzoüer weget (121,18) hält Lois einerseits zunächst in seiner Eigenschaft als Herr des Königreichs Frankreich ab.18 Ich wiederhole die dabei vorgestellten Kontingente: manec Franzois und Bertun und vil der Engelloise und der werden Burgunschoise zer höchgezite körnen dar. ich mag's iu niht benennen gar. da was von tiuschem lande Flaeminge und Brähande und der herzöge von Lahrein.

(126,8ff.)

Der Einflußbereich des ftanzösischen Königs beginnt anderseits dieser mentalen Topographie zufolge unmittelbar links des Rheins, beinhaltet als deutsche Territorien definierte Gebiete und erstreckt sich sogar auf England. Beide Momente verleihen dieser Reichsvorstellung - im Verweis auf die literarische Tradition des Rolandsliedes wie auf die historische Vergangenheit - eine übernationale Dimension, Zugleich kennzeichnet dieses Reich der zweiten Generation jedoch gegenüber dem geeinten Imperium des Kaisers Karl, daß es desintegrative Züge aufweist. Denn das mit dem Namen Franzoise bezeichnete Reichsheer fällt wiederum mit den oben genannten regionalen Kontingenten zusammen, von denen die nominelle Größe Franzois an der oben zitierten Stelle als Vertreter eines Territoriums unter anderen nur eine Gruppe ausmachen. Als es jedoch darauf ankommt, wird dieser als irawzowerÄer bezeichnete übernationale Verband dann doch eher nordfranzösisch verortet (332,18). Es sind die Leute, die von Rennewart mit Gewalt daran gehindert werden müssen, sich aus Aliscans auf und davon zu machen, gein dem lande ze Franknche,\md das muß wohl hier heißen: nach Norden, jenseits der Loire. Andere Belege weisen in dieselbe Richtung: In den Augen Heinrichs von

18 Vgl. Hellmann (wie Anm. 3), S. 223ff. ' ' Vgl. Joachim Bumke, Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit, (Germanische Bibliothek 3. Reihe). Heidelberg 1959, S. 128-130.

... der rehten franzoiser het er gern gehabet mer

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Narbon sind diese von Kö«zg Lois entsandten Fürsten ihm zwar vom Adel ebenbürtig, doch sind sie nicht für harte Kämpfe geschaffen {niht erweit ze der scharpfen nterlichen tat (268,27), eben nicht vom echten Schrot und Korn. Dieselben Leute neimt Willehalm härslihtaere-. Haarglätter; Scheitelzieher, sagt Heinzle. Eine scharfe Zäsur trennt diese kulturell und geographisch nordfranzösisch verorteten Genießer von den markigen Narbonneser Kerlen. Als sich derselbe Truppenverband indessen - bewegt durch Rermewarts Stange - eines Bessern besormen hat, wird hingegen sant Dionise de Franze (330,20) für diesen Sinneswandel zuständig erklärt und somit das geläuterte Heer unter national-französischem Aspekt betrachtet. Während die übernationale Reichsidee von politischen und ideologischen Gräben zerklüftet erscheint, hat sie immerhin konkrete räumliche Bestimmungen in sich aufgenommen: (z. B. eine Nord-Süd- und eine OstWestgrenze). Der anderen Einheitsvorstellung hingegen entspricht kaum eine räumliche Differenzierung. Sie manifestiert sich vor allem als Verallgemeinerung einer moralischen Idee, die aus der vielleicht regressiven Utopie einer karolingischen Identität gewonnen ist. Beispielhaft wird diese ideologische Größe durch den im,Willehalm' ein einziges Mal auftretende Begriff Kerlinge (334,10) beschworen. Es ist an der Stelle weder eine geographische noch eine historische territoriale Größe gemeint,2o sondern Wolfram plaziert den Terminus gezielt, um Terramer, den Oberbefehlshaber der Heidenschaft damit zu konfrontieren, daß er es von nun an mit der endlich geeinten christlichen Heereskraft zu tun hat. Die auf Terramer zurollenden Kerlinge werden fast im selben Atemzug Franzoyser genannt. Der Terminus, der hier extensiv verwendet ist (er meint das ganze christliche Heer), ist zugleich koextensiv mit Kerlinge. Darüberhinaus erscheint an diesem Punkt das wolframsche Heterostereotyp des unmärmlichen (französischen) Franzoiser^^ nicht nur im Zeichen von sant Dionise de Franze geläutert, sondern gerettet im Namen der karolingischen Vergangenheit. Abgesehen davon jedoch bildet in der epischen Präsentation die beinharte karolingische Charakterfestigkeit geradezu das Gegenmodell zum französischen Wesen, und die Schlüsselrollen auf der alternativen Seite sind in Wolframs Stück besetzt durch Willehalm, der vürste üz Provenzalen lant und seine robuste Narbonner Sippe. Das heißt, gerade die universale moralische Idee scheint eher in einer besonderen - je nachdem - regional

20 Vgl. Perennec (wie Anm. 12), S. 187ff. 21 Perennec (wie Anm. 12), S. 190.

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oder verwandtschaftlich bestimmten Partikulariät konkretisiert werden zu können. So gesehen könnte Willehalms nachdrücklich behauptete provenzalische Identität nicht nur als mentale Verortung von Bedeutung sein. Die Provence war zu Wolframs Zeit noch nicht formell von deutschen Reich dissoziiert, sie war aber auch geographisch ein Zwischenbezirk: Provenze als Land zwischen dem Königreich Frankreich und dem Imperium, Provenze, als dem Imperium benachbartes Grenzland, war vielleicht gerade der Ort, so Rene Perennec, von dem aus sich diefranzösischenAngelegenheiten in einer universalen Perspektive darbieten mochten.22 So gesehen wären die karolingisch fühlenden Provenzalen gerade dazu berufen, altfränkische Werte zu verkörpern. Zum Tragen kommt indessen hier weniger die geographische Randlage als der ideologische Gegensatz; der durch Provenze und die Dynastie der Narbonneser markierten Geschlossenheit in der Gesinnung entspricht kein Ort auf der Landkarte. Wie wenig territorial gedacht diese gegen die Franzoiserhzw. das riche abgesetzte Einheit ist, fällt besonders dort auf, wo Willehalm vor der zweiten Schlacht sein Heer in einzelne Scharen aufteilt. Fünf von sechs Treffen werden von Heimrich von Narbon und seinen Söhnen angeführt (vgl. 3 2 8 , 1 4 f f . ) . An der entsprechenden Stelle im deutschen Rolandslied bestimmt der Kaiser Karl die Fürsten seiner Länder zu den Anführern ihrer Scharen, die jedoch nach ihrem identifizierbaren Stammland benarmt werden.23 Wolfram gibt nur die Namen von Vater und Brüdern bekannt und die entsprechenden Schlachtrufe: Brubant, Berbester, Tandemas und Munschoie. Die Leute, welche die Treffen bestreiten, kommen lediglich vor als die Schreier der Schlachtrufe (etwa: diu dritte schar rief Brubant). Zwar sind auch hier die Devisen nach dem Muster adliger Herkurrftsnamen gebildet, doch sie sehen nur so aus, lassen sich jedoch nirgendwo situieren. Nur mit Willehalm macht Wolfram eine Ausnahme: Munschoie ist freilich der von Karl geerbte, überregionale Schlachtruf; doch auch Munschoie ist gänzlich ohne Verweis auf partikulären oder nationalen Boden. Dieser Zeichnung entspricht, wie schon bemerkt wurde, daß die dem Markis eigene Fahne von Provenze, das Sternenbanner auf blauem Grund, ein Wappen von unbestimmbarer Identität beinhaltet.^^ Was Willehalms Schar betrifft, so erfahren wir allerdings, woraus sich die Leute rekrutieren.

22 Vgl. Perennec (wie Anm. 12), S. 193f. 23 Vgl. RolandsUed (wie Anm. 10), 7787-7870. 2"* Vgl. Hellmann (wie Anm. 3), S. 170f. die interessanten Überlegungen dazu.

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die den Ruf Munschoie erwählt haben. Es sind die Kampfkräfte, die der Sold von Mutter und Schwester angeworben hat {erkoufet, 323,4), Truppen, die sich übrigens im Gegensatz zu den Franzoisem vom riebe von Anfang an glänzend bewähren: der memischen küneginne solt wart nü mitprise alda geholt, und die von Paveie Irmenschart het erkoufet üf die vart - der neweder von den beiden durh vlubt wolden scheiden: siner swester und siner muoter her bt dem marcgräven beliben ze wer. (323,Iff.) „Der Sold der römischen Königin wurde nun ruhmvoll da verdient, und jene, welche Irmschart von Pavia angeworben hatte für den Zug - nicht die einen, nicht die andern wollten vor den Heiden fliehen: die Heere seiner Schwester, seiner Mutter blieben wehrhaft beim Markgrafen." Bemerkenswert, daß hier die Treue, die keinem Zweifel unterliegt, durch das Geld, nicht durch die Vasallitätsbindung garantiert wird. Durch diese Scheidelinie kommt plötzlich eine Spezies von Leuten in den Blick, die als Handelnde in dieser Geschichte sonst nicht den Vordergrund der Szene bestreitet: die Söldner, deren Verläßlichkeit sich gerade nicht in einer adligen Natur begründen läßt. Noch eine andere Stelle zeugt von Wolframs Bemühen, einen Begriff zu finden, der geeignet wäre, die adlig-territorial verankerte Qualität der Individuen aufzulösen: Im Hofrat zu Munleun versucht die Gattin des Königs, zugleich Willehalms Schwester, diesen dazu bewegen, Willehalms Sache zu seiner eigenen zu machen. Sie tut das jedoch, nachdem sie den König zuvor explizit aus der Trauer um die in der ersten Schlacht gefallenen Verwandten Willehalms ausgeschlossen hat (vgl. 180,7ff.). Es sind ihre Verwandten und die ihrer Tochter AHze, der König jedoch ist mit ihnen nicht blutsverwandt, nur verschwägert. Ihrem und ihrer Tochter Verlust setzt nun Willehalms Schwester des Königs eigene Sache entgegen, das, was ihn selbst betrifft: nu habt ouch eigen riuwe, sagt sie, nach den, die iwer riebe /werten werliche. „Habt auch eigenen Schmerz um die, die tapfer euer Reich verteidigt haben." Wen soll man sich nun unter des Königs eigenen Leute vorstellen, denen er so verpflichtet sein soll wie seine Gattin ihren Blutsverwandten? Es ist bemerkenswert, daß Willehalms Schwester,

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um die königliche Zuständigkeit zu begründen, weder auf die Verwandtschaftsbindung noch die Pflicht des Lehnsherrn den fürstlichen Vasallen gegenüber rekurriert. Verantwortlich, sagt sie, ist der König für diejenigen Subjekte, die ihr Leben für sein Land einsetzten. Das ist eine zwar unspezifische Aussage, die indessen darauf abziek, den Bereich der königlichen Zuständigkeit zu verallgemeinem. Dann fordert Willehalms Schwester ihren königlichen Gatten auf, folgende Vorstellung zu bilden: nu, lat se alle juden sin, die durh den trürigen bruoder min iuwer lant ze weren sint verlorn: wart ie triuwe an iu gehom ir sult durh triuwe klagen sie (180,230^.)

„Und wenn sie alle Juden wären, die für meinen leidbeladenen Bruder gefallen sind in der Verteidigung eueres Landes: wenn ihr jemals Treue hattet, solltet ihr aus Treue sie beklagen." An dieser Stelle hat Wolfram als Beispiel nicht bodenständig verwurzelter Identität die Juden gewählt. Die Worte der Königin von Frankreich treten für die Ansprüche von Subjekten ein, die sich weder auf die Verwandtschaftsbindung noch auf eine bodenständig ererbte Ehre berufen können, sondern auf ihre Taten. Im Fall von Willehalms Söldnern wiederum scheint als Alternative zur prekären feodal begründeten Hilfeleistungspflicht die Idee einer funktionierenden, durch die Geldwirtschaft geregelten Vergesellschaftung auf. - Willehalms nicht identifizierbare Fahne, sein Söldnerheer, die von der Schwester - gedanklich - vollzogene Ablösung des Geburtsrechts durch die Moralität der Subjekte, könnten das eventuell Zeichen sein, die in dieselbe Richtung weisen? Ist es Zufall, daß Wolfram auf der Seite der Narbonnersippe Gedanken aufwirft, die an der Auflösung der bodenständig begründeten Identität arbeiten? An Munschoie, dem von Karl inspirierten, nicht territorial fixierten Schlachtruf, hält Willehalm fest. Die Reichsfahne aber, die ihm der König in Orleans anvertraut hatte und die zumindest in jenem Moment als Symbol des ganzen christlichen Heeres galt, übergibt er nun, in dem Augenblick, da Rennewart sie auf den Kampfplatz zurückgeprügelt hat, den Franzoisem^ die im selben Atemzug das riebe heißen. Zusammen mit Rennewart schart Willehalm alle französischen Truppen unter i' riches van und veordnet ihnen - zum Andenken an die Härte von ihres Anführers Stange - den Schlachtruf ,Rennewart'. Als Führer der Franzoiser, die in Wolframs Dar-

... der rehten franzoiser het er gern gehabet mir Stellung bekanntlich "Wein, Weib und weichen Kissen zugeneigt sind, also das unbändige Heidenkind. Will der Dichter etwa die französiche Dekadenz durch Rennewarts heidnisch angeboreniu manheit, die ja der Gesinnung nach mit WiUehalms karolingischer Kernigkeit verwandt ist, adeln? Dafür, daß in seinem Kopf eine internationale provenzalisch-heidnische Affinität existiert, spricht nicht zuletzt, daß der Ostfranke Wolfram Terramer, dem obersten Kriegsherrn aller Heiden, einen ähnlichen Affekt gegen die Errungenschaften westlicher Zivilisation einimpft wie dessen Widersacher Willehalm: tavemen Ingesinde und sahen suppiere : die Attribute, die in Terramers Augen die verabscheuungswürdigen Sitten der Franzosen insgesamt auf den Punkt bringen, und härslihtaere: aus Willehalms Sicht der Ausdruck der Verachtung für die abziehenden Franzoisertruppen, das sind doch wohl Diffamierungen derselben Ordnung ... Wolfram mag den verweichlichten Franzosen durch die wilde Kraft des hochadligen Heiden aufhelfen wollen. Doch des riches van wird im Augenblick, da die Fahne Rennewart mit seinen Franzoisem vereinigen, ihn vielleicht seinerseits zum französischen Ritter adeln soll, als Kreuzbanner definiert. Und ein Kreuzbanner wurde offenbar seit Heinrich VI. von den deutschen Königen als Reichsfahne geführt.^s Der Name von Willehalms Freund Rennewart, von Terramers Sohn, des Sohns des obersten Kriegherrn der Heiden als Schlachtruf eines nordfranzösisch gekennzeichneten Ritterheers, das unter einer Reichsfahne vereinigt ist, die als Kreuzbanner auf ein deutschrömisches Reich verweist? Vielleicht sollte diese Konstellation - im Augenblick vor der großen Schlacht - die Integration aller möglichen Oppositionen und regionaler Partikularitäten im Zeichen des Banners eines rex et imperator Romanorum demonstrieren. Falls diese spannungsvolle Allianz als Programm gemeint war, dann ist umso bemerkenswerter, wie jämmerlich sie zerschellt. Denn gerade die aus Rennenwart und den ihm anbefohlenen Franzoisem zusammengezwungene Einheit wird durch alle möglichen kollisionsträchtigen Zugehörigkeiten, Loyalitäten und Identitäten durchkreuzt, durchquert, durchschnitten. Jetzt, wo das christliche Heer mit vereinter Stoßkraft zuschlägt, wo Rennewart von der Stange Abschied nimmt, um mit dem ordentlichen Schwert umso effizienter zu metzeln, sehen wir auch seine Identität zerbrechen: Wir wissen, daß Rennewart sich danach gesehnt hatte, von seinen Brüdern errettet und wieder seinen einheimischen Göt-

25 Vgl. Hellmann (wie Anm. 3), S. 227.

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tem zugeführt zu werden; nun erschlägt er im Rasen des Kampfs seinen Halbbruder Kanliun mit dem Ritterschwert, bevor weder der eine noch der andere die Gelegenheit bekommt, den Bruder zu erkennen. Auf der anderen Seite tragen die übergreifenden Verklammerungen, die einzelnen Schlachtrufe, welche die je den sechs Treffen zugeordneten Christen zusammenhalten sollten, nicht mehr, sondern machen anderen Identifikationen Platz. Rennewart ist angesichts der seine Person durchquerenden Widersprüche von sich selbst abgefallen. Jetzt kommen Einzelkämpfer, ie der man, ins Bild, die im Siegesrausch aus der sozialen Rolle fallen und vereinzeln: Als sich die Heere allgemein in Auflösung befinden, Terramer ist bereits auf der Flucht, nur noch Josweiz, mit dem Schwan im Schild kehrt immer wieder um und gibt seinen Sarazenen Rückendeckung, da wirft Wolfram einen Blick auf die christlichen Truppen. Nicht nur das Heer der Feinde ist in Auflösung begriffen, sondern vor allem die soziale Ordnung der Franzoise: ie der man fällt von dem ihm von Wülehalm zugewiesenen Verband ab, um den Sieg für die allerengste Heimat zu reklamieren, um die eigene Idenitität in einem höchst partikulären ,wir' zu beschreien. Jetzt wo die christlichen Ritter Oberwasser haben, vergißt jeder einzelne den Schlachtruf seines Verbands. der sehs herzeichen ruof die man's morgens den getauften schuof, wart etswä nu vergezzen, dö mit swerten was gemezzen diu schunpfentiure so wit; so gmz. man hört da mangen niuwen döz: swannen ie der man was benant also schrei er al zehant in vürten und üf plane. (437.1ff.)

„Die sechs Rufe, den Christen morgens zugewiesen, wurden nun an einem Ort vergessen, als die Niederlage mit den Schwertern so groß, so weit geschnitten war./ Da hörte man viele neue Töne. Jeder Mann schrie alsbald den Ort, von dem er seinen Namen hatte." (also den Namen des Orts, aus dem er kam). Namentlich erwähnt werden vornehmlich die Teilnehmer des sechsten Treffens, das vom König roemischer voget (210,1) abgeordnete Reichs-

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heer, dem Willehalm den Schlachtruf ,Rennewart' verordnet hatte (vgl. 333,1-12), und es heißt: Gandalüz von Schampdne und die sinen sehnten „Pr&vis". Jofreit von Sälis ouch siner krie niht vergaz. Jper" und Jirraz" sehnten Flaeminge. manges swertes klinge erklanc, so man die krie sehrei. vaste uf der sld „Nanzei" sehnten Lahreine. (43,10ff.) „Gandaluß von Champagne und die Seinen schrien ,Provins'. Jofreit von Senlis vergaß auch seinen Schlachtruf nicht. ,Ypem' und jArras' schrien die Flamen. Die Klingen vieler Schwerter klangen, als man die Rufe schrie. ,Nancy', brüllten auf der Spur die Lothringer." Entfremdung, Isolierung, Vereinzelung läßt Wolfram zuletzt auch die Krieger von Terramers wohl organisiertem, jedoch in anderer Hinsicht heterogenem Heer erleiden: Die Uberzahl der Heiden und die Dichte ihres Heers ist gewaltig. Die Chance, sie aufzuhalten, sei, sagt Wolfram, etwa so wie die eines Mannes, der versuchen wollte, im Regen jeden einzelnen Tropfen durch einen Pfropfen auszusperren: doeh müese er manegen zapfen tragen der des regens zäher besunder verschübe (daz waer ein wunder): (399,20ff.) Doch gleich anschließend an diese Betrachtung aus der Sicht der Christen wechselt Wolfram den Blickwinkel, um sich nun in die Lage der Tropfen zu versetzen: sus aht ich den von Suntin (i.e. Terramer). man mohte iewedemthalhen sin dar zuo vor im unde binden vil grozer storje vinden.

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mit der spräche ein ander gar unkunt. da vuor manec sunder munt, der niht wesse, waz der ander sprach, ob er erge oder gwte jach. (399,23ff.). „So schätze ich das Heer des Herrn von Suntin ein: und vor und hinter ihm (Terramer) sah man viele große Trupps, jeder mit der Sprache des andern ganz und gar unbekannt. Da ritt mancher einzelsprachliche Mund^^, der nicht wußte, was der andere sagte. Böses oder Gutes."

Übersetzung von sunder munt abweichend von Heinzle.

EDITH WENZEL

Süßkind von Trimberg, ein deutsch-jüdischer Autor im europäischen Kontext^ 1. Zur Spruchdichtung Süßkinds Unter der Überschrift Süskint derJvde von Tnmperg überliefert der Codex Manesse auf insgesamt drei Seiten eine Miniatur und zwölf Strophen, die vermutlich kaum die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen hätten, wären sie nicht von der Handschrift einem Juden zugeschrieben worden - ein Unikat in der Literatur des deutschsprachigen Mittelalters. Diese zwölf Strophen, die sich fünf verschiedenen Tönen zuordnen lassen,2 bewegen sich inhaltlich und formal völlig im Rahmen des gängigen Spruchdichter-Repertoires mit seinen gattungstypischen Themenkreisen: Das überlieferte Oeuvre beginnt mit einer kritischen Abwägung von Geburtsund Seelenadel (1,1), dann folgt ein Preis der ,rechten'&re sodann eine Variation zum Memento-mori-Thema (1,3, wiederaufgenommen in IV,1). Der zweite Spruch plädiert für die Gedankenfreiheit (II). Es folgt ein Preislied auf den allmächtigen Gott (111,1) und auf die keusche Ehefrau (in,2). Die übrigen Strophen behandeln sodann durchaus kritisch - aber immer in den Grenzen des Gattungstypischen - Armut und Reichtum (rV,2 + IV,3 und VI). Der Konvention der Armutsklagen und der Heischestrophen entsprechen schließlich die beiden Strophen Wähebuf undNkhtenvint (V,l) und Ich vor üf der toren vart (V,2), die ganz besonders das Interesse der Nachwelt auf sich gezogen haben, weil man in ihnen das Bekenntnis des Juden Süßkind zu seiner jüdischen Identität zu erkennen

1 In gekürzter Form erschien dieser Beitrag bereits in: Gedichte und Interpretationen Mittelalter, hg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1993, S. 284-298. 2 Ich zitiere im folgenden die Ausgabe Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus. Bd. 1. Tübingen 1958, S. 421-425. - Abb. s. u. S. 159.

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glaubte. Diese beiden Strophen sollen auch im Zentrum der nachfolgenden Ausfuhrungen stehen. Weder in editorischer noch in formaler Hinsicht haben die beiden Strophen die Forschung vor große Probleme gestellt, so daß sich die vorliegenden Editionen von C. von Kraus, de Boor, Höver/Kiepe und Wapnewski^ nur geringfügig unterscheiden. Die wenigen Korrekturen der handschriftlich überlieferten Version verändern aber weder Aussage noch Form, weshalb wir sie an dieser Stelle übergehen können mit dem Hinweis auf Wapnewskis Kommentar, der die Textvarianten akribisch aufgelistet und eingehend diskutiert hat.'^ Auch in interpretatorischer Hinsicht bieten diese beiden Strophen - auf den ersten Blick zumindest - keine Innovationen, die die intensive Beschäftigung der Forschung mit diesem Autor und speziell diesen beiden Strophen erklären könnten. In der ersten Strophe stellt sich der Autor in der Rolle des von Armut bedrückten Hausvaters vor.^ Er sieht sein Haus von allerlei Plagegeistern xmistellt: „Wogibtswas" und „Findenichts" und den „Herrn Notgesell von Darbenland" benennt er als seine Feinde, dazu „Herrn Habenichts", der seinem Haus Unglück bringe. Seine Kinder weinten oft vor Hunger, weil Frau „Beißrein" sie nicht sättige: Wdhebüf und Nichtenvint tuot mir vil dicke leide: her Bigenöt von Darbian der ist mir vil gevare. des weinent dicke miniu kint, bces ist ir snabelweide. si hat si selten sat getan, Izzüf, diu fröidenb