Lied im deutschen Mittelalter: Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991 [Reprint 2015 ed.] 9783110925777, 9783484107298

Not only German Minnesang but also religious songs, historical folksongs, Spruchdichtung and the Gesellschaftslied of th

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German Pages 358 [360] Year 1996

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Lied im deutschen Mittelalter: Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991 [Reprint 2015 ed.]
 9783110925777, 9783484107298

Table of contents :
Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide. Zu den Anfängen der Pastourelle in Deutschland
Die Pastourelle im Gattungssystem der höfischen Lyrik
Walthers Leich und das Carmen Buranum 60/60a. Überlegungen zu einer Kontrafaktur
Obe ichz lâze oder ob ichz tuo. Zur Entstehung und Funktion des dilemmatischen Frauenmonologs
»Spruchlieder«. Untersuchung zur Frage der lyrischen Gattungen am Beispiel von Walthers Kreuzzugsdichtung
Minnedienst - Gottesdienst - Herrendienst. Zur Typologie des Kreuzliedes bei Hartmann von Aue
Zum Begriff der »Entbehrung« in deutschen Minneliedern
Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen
Ästhetische Konvention und Geschichtserfahrung. Zur historischen Semantik im Minnesang Ulrichs von Winterstetten
Wie dunkel ist wilde rede? Allegorische Verfahren beim Wilden Alexander
snel hei ghel scrygh ich dinen namen. Zu Wizlaws Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jahrhunderts
Abgefeimte Kunst: Frauenlobs ›Selbstrühmung‹
Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram
dy trampet (MR 15). Ein Tagelied-Experiment des Mönchs von Salzburg
Walther in k
Ein meisterliches Streitgedicht. Zum poetologischen Horizont der Lieder Nr. 89-94 des Hans Folz
Reimpublizistik und Lieddichtung am Konstanzer Konzil. Zum historisch-politischen Gedicht des Spätmittelalters
Leonhard Assenheimer und Heinz Dompnig. Zwei »Historische Volkslieder« aus Breslau im Vergleich
Zum Begriffsfeld »rein« im religiösen Lied
Die ›St. Katharinentaler Liedersammlung‹. Zu Gehalt und Funktion einer bislang unbeachteten Sammlung geistlicher Lieder des 15. Jahrhunderts
Sebastian Brant als Lieddichter
Das Lied im Verlagsprogramm deutscher Drucker des 16. Jahrhunderts

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Lied im deutschen Mittelalter

Lied im deutschen Mittelalter Überlieferung, Typen, Gebrauch Chiemsee-Colloquium 1991 Herausgegeben von Cyril Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Dieses Buch erscheint gleichzeitig als Band 56 der Reihe: Publications of the Institute of Germanic Studies (University of London) ISBN 085457-164-7 Titelabbildung: Brecheltage in Kärnten, Zeichnung von F. Schlegel, 19. Jahrhundert

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lied im deutschen Mittelalter: Überlieferung, Typen, Gebrauch ; Chiemsee-Colloquium 1991 / hrsg. v. Cyril Edwards ... - Tübingen: Niemeyer, 1996 NE: Edwards, Cyril [Hrsg.] ISBN 3-484-107294 © Max Niemeyer Vertag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Buchbinden Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Vom 10. bis 14. September 1991 fand im Benediktinerinnenkloster Frauenwörth im Chiemsee das XII. Anglo-deutsche Colloquium statt, das, wie zwei Jahre zuvor in Liverpool vereinbart, dem »Lied im deutschen Mittelalter« gewidmet war. Der vorliegende Band vereinigt mit 22 Beiträgen fast alle Referate, die dort gehalten wurden, in einer für die Druckfassung überarbeiteten, Anregungen der intensiven Diskussionen aufnehmenden Form. Das Tagungsthema war von den Veranstaltern bewußt weit und offen gehalten worden: Erwünscht waren Vorträge jeder methodischen Richtung, Fragestellung und Zielsetzung, zu allen Epochen des deutschen Mittelalters, über geistliche wie weltliche, volkssprachliche wie lateinische Texte, zu Fragen der Überlieferung und Typologie, des Text-Melodie-Verhältnisses, der Motiv-, Rezeptionsund Sozialgeschichte. Selbstverständlich konnten die zur Diskussion gestellten und hier abgedruckten Referate nicht das ganze Spektrum aller im vorgegebenen Rahmen denkbaren Möglichkeiten berücksichtigen. Aber sie stecken doch einen nach Gegenständen und Zugriffsweisen wie nach der historisch-chronologischen Spannbreite und der thematischen Vielfalt weiten Horizont ab, vor dem sich das Lied im deutschen Mittelalter präsentiert, sei es, indem neue Ergebnisse vorgestellt oder neue Fragestellungen erprobt wurden. Wir haben nach vielen Seiten Dank abzustatten: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Durchführung auch dieser Tagung in gewohnt großzügiger Weise finanziell unterstützt. Nicht zuletzt mit ihrer Hilfe sind die Anglo-deutschen Colloquien mittlerweile zu einer Institution geworden, die das Zusammenwirken englischer und deutscher Mittelalter-Germanisten weit über den jeweiligen Tagungsrahmen hinaus befördert. Der Max Niemeyer Verlag, Tübingen, zeigte für die Aufnahme des Buches in sein Programm von Beginn an großes Entgegenkommen und hat es in vorbildlicher Weise betreut. Klaus Paschke hat sich der EDV-Bearbeitung der einzelnen Beiträge mit Engagement und Umsicht angenommen und ihnen erst die Form eines Buches gegeben; Wolfgang Walliczek fand den Weg zur Bereitstellung der für diese Arbeit notwendigen Mittel. Die besondere Atmosphäre des Tagungsorts und die Gastfreundschaft der Benediktinerinnen des Klosters Frauenwörth haben entscheidend zum Gelingen der Tagung und zu ihrem für wissenschaftliche Kongresse nicht unbedingt selbstverständlichen, jeder Eitelkeit entbehrenden Klima beigetragen. Angelika von Damnitz und Kai Ebel sorgten mit freundlicher Kompetenz für die reibungslose Organisation vor Ort. Die Musiker der »Schola Vocalis« - Fred Büttner,

VI Franz Körndle und Bernhold Schmid - trugen mit ihren Darbietungen dazu bei, das Bewußtsein aller Teilnehmer dafür zu schärfen, daß selbst die subtilste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Lied den spezifischen Charakter gerade dieses Forschungsgegenstands letztlich nur unzureichend vermitteln kann. Zuweilen ist es weniger mühevoll, ein Colloquium zu organisieren als seine Ergebnisse zum Druck zu befördern: Die Herausgeber haben besonders den Beiträgern des Bandes für die Geduld zu danken, mit der sie dessen aus verschiedenen Gründen verzögertes Erscheinen hingenommen haben. Cyril Edwards

Ernst Hellgardt

Norbert H. Ott

Inhalt

CYRIL EDWARDS: Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide. Zu den Anfängen der Pastourelle in Deutschland

1

INGRID KASTEN: Die Pastourelle im Gattungssystem der höfischen Lyrik..

27

CHRISTOPH MÄRZ: Walthers Leich und das Carmen Buranum 60/60a. Überlegungen zu einer Kontrafaktur

43

JEFFREY ASHCROFT: Obe ichz läze oder ob ichz tuo. Zur Entstehung und Funktion des dilemmatischen Frauenmonologs (Reinmar, Waither und [Pseudo-]Hausen)

57

SILVIA RANAWAKE: »Spruchlieder«.

Untersuchung zur Frage der lyrischen Gattungen am Beispiel von Waithers Kreuzzugsdichtung

67

CHRISTA ORTMANN: Minnedienst - Gottesdienst - Herrendienst. Zur Typologie des Kreuzliedes bei Hartmann von Aue

81

JOHN MARGETTS: Zum Begriff der »Entbehrung« in deutschen Minneliedern

101

TOMAS TOMASEK: Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen .

115

ERNST BREMER: Ästhetische Konvention und Geschichtserfahrung. Zur historischen Semantik im Minnesang Ulrichs von Winterstetten . . . .

129

SABINE SCHMOLINSKY: Wie dunkel ist wilde rede? Allegorische Verfahren beim Wilden Alexander

147

ELISABETH HAGES: snel hei ghel scrygh ich dinen namen. Zu Wizlaws Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jahrhunderts...

157

JOHANNES RETTELBACH: Abgefeimte Kunst: Frauenlobs >SelbstriihmungSt. Katharinentaler Liedersammlung^

Zu Gehalt und Funktion einer bislang unbeachteten Sammlung

geistlicher Lieder des 15. Jahrhunderts JOACHIM KNAPE:

Sebastian Brant als Lieddichter

L. FLOOD: Das Lied im Verlagsprogramm deutscher Drucker des 16. Jahrhunderts

JOHN

295 309 335

CYRIL EDWARDS (Oxford)

Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide Zu den Anfängen der Pastourelle in Deutschland

And. are these places shadows of one Place? Those trees of one Tree? A.S. Byatt, >Possession< For there is amongst us a set of critics, who seem to hold, that every possible thought and image is traditional; who have no notion that there are such things as fountains in the world, small as well as great; and who would therefore charitably derive every rill they behold flowing, from a perforation made in some other man's tank. >Preface to Christabek 1 Die Pastourellenforschung, kontroversensüchtig, oft von nationalistischen Tendenzen geprägt und geplagt, hat sich immer um zwei Pole gedreht: die Gattungsdefinition und die Frage nach dem Ursprung der Gattung. 2 Dieser Beitrag zur Ursprungsfrage setzt minimale gattungsbestimmende Kriterien voraus: 1. die lyrische Form; 2. als Inhalt ein Treffen im Freien von zwei (Haupt)personen, das mit einem erotischen Vorhaben verknüpft ist. Anfangspunkt, Verlauf und Ausgang der Begegnung sind als Variable zu betrachten. Gegen eine solch grobe Definition läßt sich argumentieren, daß man somit das Netz zu breit spannt, Nichtverwandtes vergleicht, ungerechtfertigt Beziehungen findet, wo keine zu suchen wären. Aber eine engere Definition, etwa eine, die vom Rang der Sichbegegnenden ausginge, ließe sich ebenso des Zirkelschlusses bezichtigen, indem sie Gefahr liefe, von vornherein brauchbares Vergleichsmaterial auszuschließen. Der Streit über den Vorrang der altfranzösischen oder der provenzalischen Pastourelle überlebte sich schnell, um anderen, tiefergreifenden Fragen zu weichen. Die lateinische bukolische Dichtung wurde ins Feld geführt; man überlegte, ob sich die volkssprachliche Pastourelle aus lateinischen Wurzeln entwickelte. Damit verbunden war die Frage nach volkstümlichen oder gelehrten Ursprüngen. Diese auch heute 1

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The Poems of Samuel Taylor Coleridge. Hrsg. von D E R W E N T und S A R A COLERIDGE. London 1 8 5 2 , S. 1 1 8 . Im Zusammenhang des »Pastoral« zitiert von R A Y M O N D WILLIAMS: The Country and the City. London 1985, S. 19. Zur Gattungsdefinition s. S A B I N E BRINKMANN: Die deutschsprachige Pastourelle. 13. bis 16. Jahrhundert. Göppingen 1985 (GAG 307), S. 23-54; zur Forschungsgeschichte S. 66-101; für einen forschungsgeschichtlichen Überblick sei auf den Beitrag von INGRID K A S T E N in diesem Band verwiesen (S. 26-41).

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Cyril Edwards

noch umstrittenen Fragen möchte ich vor dem Hintergrund eines umfassenderen Dilemmas sehen: Ist es überhaupt gerechtfertigt, nach einer einzigen Quelle einer Gattung zu suchen? Ist die Pastourelle, wie die Alba, nicht eher als ein fast universelles Phänomen, ein immer wieder hervortretender Ausdruck des menschlichen Geistes in seiner »pastoral mode« 3 aufzufassen? Wenn die polygenetische Prämisse akzeptiert wird, ist die komparative Methode umso leichter anzuwenden, man darf fast unbegrenzt vergleichen; andererseits bleibt bei der Feststellung von Einflüssen und Verwandtschaften Vorsicht geboten. In Köln wurde 1974 eine Epode von Archilochos (Anhang § 1) »in Fackelmanns Waschmaschine aus Mumienkartonage herausgekocht«4, das bisher längste Fragment dieses Dichters von der Mitte des siebten vorchristlichen Jahrhunderts. Der fehlende Anfang des Fragments beschrieb vermutlich die Umstände der Begegnung und enthielt den Anfang der Rede des Mädchens. Die »blühenden Bäume« (Z. 29) lassen vermuten, daß er den locus amosnus beschrieb. Das Mädchen versucht den Liebhaber abzulenken, indem sie ihm ein anderes aus ihrem Haus empfiehlt. Archilochos lehnt das Angebot ab, seine Rede greift das ältere Mädchen (Neobule), seine ehemalige Geliebte, heftig an. Das Gedicht endet mit einer Beschreibung der Liebeserfüllung. D i e G a t t u n g s z u g e h ö r i g k e i t z u r P a s t o u r e l l e b e h a u p t e t e WILLY T H E I L E R . 5 T H E I -

LER sieht einen Zusammenhang mit der 27., Theokrit zugeschriebenen Idylle, welche schon von JEANROY herangezogen wurde, um das für ihn wesensbestimmende Element der Pastourelle zu charakterisieren, die Oaristys, das Liebesgetändel. 6 Der 27. Idylle (Anhang § 2) fehlt ebenfalls der Anfang. An einem stichomythischen Dialog nehmen Daphnis und ein Mädchen teil. Die Verführung wird hier als Vorstufe zum Ehestand aufgefaßt. Nachdem er einen Kuß gestohlen hat, lädt Daphnis das Mädchen in das Olbaumgehölz ein. Er hütet die Kühe und Stiere seiner Familie, das Mädchen ist Ziegenhirtin, aber beide sind »aus guter Famile«. Wie in der Bergwaldpastourelle Oswalds von Wolkenstein (KLEIN 92) wird der locus amoenus in die Verführungsdialektik eingebaut: Daphnis zeigt dem Mädchen den Wald, in dem seine »schlanken Zypressen« (Z. 46) wachsen. Nach der Verführung beschreibt der Erzähler, wie beide Liebhaber freudig zu ihren Tieren zurückkehren. In den letzten Zeilen wird der Hirt eingeladen, »ein andres bukolisches Lied zu singen«. Es dürfte 3

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5

6

Der Ausdruck bei WILLIAM D. P A D E N JNR: Reading pastourelles. TENSO (Bulletin of the Société Guilhem IX) 4 (1988), S. 1-21, hier S. 1; vgl. WILLIAMS, The Country and the City (s. Anm. 1), bes. S. 13-34. REINHOLD MERKELBACH und MARTIN L . W E S T : Ein Archilochus-Papyrus. ZPE 14 (1974), S. 97-113, hier S. 97. THOMAS GELZER, WILLY THEILER, LUDWIG K O E N E N , MARTIN L . W E S T : Ein wiedergefundenes Archilochos-Gedicht? Poetica 6 (1974), S. 468-572, hier S. 497-498. Den Hinweis auf die Epode verdanke ich Don Fowler (Jesus College, Oxford), der unabhängig von THEILER auf den Vergleich verfiel. Die frühen Interpretationen der Epode galten vor allem der Echtheitsfrage, die inzwischen als (positiv) gelöst gelten darf, und der Frage nach dem Ausmaß des Autobiographischen im Gedicht. Für MERKELBACH galt Archilochos als ein »glänzender Dichter« aber »auch ein schwerer Psychopath« (ZPE 14 [1974], S. 113). Inzwischen wurde eine kritische Bilanz gezogen, etwa bei A N N E P I P P I N BURNETT: Three Archaic Poets. Archilochus, Alcaeus, Sappho. London 1983. A L F R E D JEANROY:

Les origines de la poésie lyrique en France au moyen-âge. Paris 1889, S. 14.

Von Archüochos zu Walther von der Vogelweide

3

sich wie in der 5. Idylle um einen Sängerstreit handeln; der Schluß könnte aber andeuten, daß die Pastourelle schon als Gattung eingebürgert ist. In der 11. Idylle singt Cyclops Lieder, als er um Galatea wirbt, und preist ebenfalls seine Zypressen. Die 27. Idylle wird allgemein als späte Nachahmung gesehen.7 Den Überlieferungsverhältnissen nach hat weder sie noch die Epode von Archilochos ins Mittelalter gewirkt. Sie sind aber sowohl von der Form als auch vom Inhalt her der mittelalterlichen Pastourelle näher als die bukolische Dichtung Vergils, als Ovid, als das Hohe Lied, welche von der Forschung als Vorstufen der Pastourelle aufgefaßt worden sind.8 Daher stehen sie hier am Anfang des Arguments als Plädoyer für die Polygenese der Pastourelle. Die gängigen Gattungsdefinitionen gehen von der altprovenzalischen und -französischen, sogenannten »klassischen« Pastourelle aus, in der das lyrische Ich - implizit ein Ritter - einer Schäferin begegnet9. So konnte MORET von »le mythe de la pastourelle allemande«10 reden, da die wenigsten deutschen Lieder in dieses Schema passen. Die Polemik war insofern begründet, als man, um deutsches Material in diese Gattungszwangsjacke zu integrieren, zu allerlei Notlösungen gegriffen hatte: Kürenbergs Wîp vil schoene (MF 9,21), dem Tenson Albrechts von Johansdorf (MF 93,12), Morungens Ich hörte uf der heide (MF 139,19).11 WAPNEWSKI eröffnet seinen Aufsatz über die Traumpastourelle Walthers von der Vogelweide mit einem charakteristisch souveränen Satz: »Stoff und Gattung bedingten einander im Mittelalter ausschließlicher und präziser als im Dichten der Neuzeit«.12 Man neigt dazu, den Satz leicht abzuwandeln: »Stoff und Gattung bedingen einander in der Mediävistik ausschließlicher und präziser als im Dichten des Mittelalters«. WAPNEWSKIS Diktum entspricht nämlich weder dem bunten Durcheinander der Handschriften noch den mittelalterlichen Gattungsdefinitionen. Diese pflegen großzügiger zu sein, weniger eng und streng zu definieren als die Mediävisten. Die Definition von Raimon Vidal (1290) besagt, daß man der Schäferin »einen anderen Hirtennamen geben« kann, »je nach den Tieren, die sie behüten wird«; Guillaume Molinier (vor 1341) führt »die Pastourellen der Kuhhirtinnen, Gärtnerin7

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W I L L Y THEILER: Liebesgespräch und Pastourelle. In: Studien zur Textgeschichte und Textkritik. Fs. Günther Jachmann. Hrsg. von HELLFRIED DAHLMANN und REINHOLD MERKELBACH. Opladen 1 9 5 9 , S . 2 7 9 - 2 8 6 ; A N D R E W SYDENHAM FARRAR G O W : The Greek Bucolic Poets. Cambridge 1953, S. 106. Vgl. E D M O N D FARAL: La Pastourelle. Romania 4 9 ( 1 9 2 3 ) , S. 2 0 4 - 2 5 9 ; LEO POLLMANN: Iam, dulcis amica, venito und die Hoheliedtradition. RF 7 4 ( 1 9 6 2 ) , S. 2 6 5 - 2 8 0 ; KEITH B Ä T E : Ovid, Médiéval Latin and the Pastourelle. Reading Médiéval Studies 9 ( 1 9 8 3 ) , S. 1 6 - 3 3 . Vgl. zusammenfassend WILLIAM DOREMUS PADEN: The Médiéval Pastourelle. A Critical and Textual Revaluation. Diss. Yale 1971, S. ü; S. 3-4. A N D R É M O R E T : Le mythe de la pastourelle allemande. Études Germaniques 3 ( 1 9 4 8 ) , S. 1 8 7 1 9 3 . Zustimmend MICHEL ZINK: La pastourelle. Poésie et folklore au moyen âge. Paris 1 9 7 2 , S. 40-41.

11 12

Siehe

Anm. 2), S. 102-117. Walthers Lied von der Traumliebe (74,20) und die deutschsprachige Pastourelle. Euphorion 51 (1957), S.113-150. Zitiert nach: P E T E R WAPNEWSKI: Waz ist minne. Studien zur mittelhochdeutschen Lyrik. München 2 1979 (Beck'sche Schwarze Reihe 195), S. 109154, hier S. 109. S A B I N E BRINKMANN (S.

P E T E R WAPNEWSKI:

4

Cyril Edwards

nen, Schweinehirtinnen, Gänsehirtinnen, Ziegenhirtinnen, Obstgärtnerinnen, Nonnen« an. 13 Die Überlieferung weist drei altfranzösische Nonnenpastourellen auf. In Quant se vient en mai ke rose est panie (BARTSCH 1,33) geht der Erzähler in der Nähe einer Abtei Rosen pflücken. Dort belauscht er eine Nonne, wie sie diejenigen verflucht, die sie ins Kloster geschickt haben: malois soit de deu ki me fist nonnete. In der letzten Strophe eilt der Liebhaber herbei, um sie nach Paris zu bringen; unklar ist es, ob das dichterische Ich der Liebhaber sei oder nicht. BARTSCH 1,34 L'autrier un lundi ambaniant gehört eindeutig zum Typ III nach der Einteilung FARALS: das lyrische Ich handelt als Voyeur, indem es eine Begegnung zwischen Nonne und Mönch beobachtet. In der dritten Pastourelle, Antrai en la ruwelette, aus der Oxforder Douce-Handschrift, widerstrebt die Nonne der Verführung, obwohl der Liebhaber sie mit einen Schuh oder Gürtel zu bestechen versucht (Anhang § 3). 14 Die älteste Nonnenpastourelle stammt aus der Mitte des elften Jahrhunderts. Es handelt sich um das älteste deutsche Liebeslied, Suavissima Nunna aus den Carmina Cantabrigiensia (Anhang § 4). Schon im Mittelalter hat man das Gedicht vermutlich wegen seiner Obszönität radiert; ein Leseversuch mittels Säuren im 19. Jahrhundert hat den Text noch unzugänglicher gemacht. PETER DRONKE hat 1968 die Ergebnisse seiner Versuche mit UV-Licht herausgegeben.15 Mittels kalter Lichtquelle gelang es, einige Buchstaben hinzuzufügen, einiges allerdings naturgemäß wieder anzuzweifeln. Wenn man den Text ohne die Zuhilfenahme der genialen Rekonstruktionen von KOEGEL16 und DRONKE liest, versteht man, warum die neueren Pastourellenforscher dem Gedicht nur gelegentlich Aufmerksamkeit geschenkt haben. PADEN behauptet: »it is pointless to daim a poem corrupted to unintelligibility as the origin of anything«. 17 Was dem heutigen Leser aber obskur vorkommt, kann für die mittelalterliche Gattungsgeschichte eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ohne Natureingang fängt der Dialog an. Der locus amcenus wird aber gleich in die erste Rede eingebaut, als Teil der suasio, der Verführungsdialektik: gröuonot gras in erthun. Die Nachtigall, die avis Cupidinis18, singt; die Nonne aber hat sich Christo gewidmet. Der Dialog scheint wie in der Theokritschen Idylle einem epischen Schluß 13

14

15

The Razos de Trobar of Raimon Vidal and Associated Texts. Hrsg. von JOHN HENRY MARSHALL. Oxford 1972, S. 96 und 98; Guillaume Molinier, Las Flors del Gay Saber estier dichas las Leys d'Amors. Hrsg. von ADOLPHE FÉLIX GATIEN-ARNOULT. Toulouse 1841 (Monuments de la littérature Romane, publiés sous les auspices de l'Académie des Jeux Floraux). Bd. I, S. 346. Vgl. EGLAL DOSS-QUINBY: D'Esquem las razos: contribution à la définition de la pastourelle médiévale. Romance Quarterly 36 (1989), S. 131-139. KARL BARTSCH: Altfranzösische Romanzen und Pastourellen. Leipzig, 1870; FARAL: La pastourelle (s. Anm. 8). PETER DRONKE: Médiéval Latin and the Rise of European Love-Lyric. Oxford 2 1968. Bd. II, S. 3 5 3 - 3 5 6 . Z u r H a n d s c h r i f t s i e h e : A R T H U R G E O R G E R I G G u n d G E R N O T R U D O L F W I E L A N D : A

16

Canterbury classbook of the mid-eleventh Century (the >Cambridge Songs< manuscript). AngloSaxon England 4 (1975), S. 113-130. RUDOLF KOEGEL: Geschichte der deutschen Litteratur bis zum Ausgange des Mittelalters. Straßburg 1894-97. Bd. I,ii, S. 137.

17

P A D E N (S. A n m . 9 ) , S . 2 0 1 .

18

So heißt sie in einem Gedicht aus dem 12. Jh., München, clm. 14834, fol. 26R, DRONKE (wie Anm. 1 5 ) , I I , S. 3 6 1 .

Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide

5

zu weichen, der Liebhaber eine conversio im Gemüt der Nonne hervorzubringen: thaz her si bekere. Das von DRONKE vorgeschlagene Quam penetrabit ut soi ist allerdings nicht gesichert. Der männliche Partner läßt sich wegen der Erzählperspektive schwer identifizieren. Dasselbe gilt für den Großteil der altfranzösischen Pastourellen, aber der Ton des Dialogs läßt dort den Schluß zu, daß es sich um einen Ritter handelt. In der unmittelbar in der Cambridger Handschrift vorausgehenden Invitatio amicœ, von PADEN mit Recht als Vorgänger der Pastourelle begrüßt 19 , herrschen ähnliche Identifizierungsprobleme, obwohl oft angenommen wird, daß es sich um einen Dialog zwischen >Kleriker und Nonne< handelt. In dieselbe Richtung weist das ab dem 13. Jahrhundert überlieferte Gegenstück, De iuvene et moniali, ein stychomythischer Dialog, in dem eine Nonne einen Kleriker zu verführen versucht, aber schließlich von der Leichtfertigkeit ihres Tuns überzeugt wird (Anhang § 5). De iuvene et moniali und die Invitatio amiceE gehören zur selben Tradition wie Suavissima Nunna, zu einer Tradition, die im späteren Mittelalter wieder makaronische Gestalt annimmt und in Beispielen wie Pertransivit clericus dor eynen gronen walt (Anhang § 6) den typischen Pastourellenanfang aufweist. 20 Für diese antiklerikale Dichtung bietet sich die Makaronik als ideales symbolisches Medium an, indem die Ironie oft darin besteht, daß das Obszöne eher in der kirchlichen als in der vulgären Sprache seinen Ausdruck findet. Suavissima Nunna und die Invitatio amicœ werden von MAURICE DELBOUILLE als Argument für den gelehrten Ursprung der Pastourelle benutzt: »[Le genre] a ses racines dans une poésie >cléricale< dont l'existence est attestée dès le dixième siècle«. Erst im 12. Jahrhundert fand die »modification >courtoise* .M»«. t . _ ./ / . _ deferendo*, demòni «jfti nr «m naca? 1 «CÉV ^jprÀ^rrrr;!. rectal!? ainib«:. «yupnif « * m m p.ir»inr«Jenni,, um SiW^f fi Di -i^fi App.xvurr HiJrrif a-imono-. dimorili"-. mfptu-if ¡Mrticif fery férutUìf "^tidraf ì '¿Ut^énrr- ^'dprin^pe pbia^f «iimnfì d.xnf ccninicnn >rctfam t lefìco mtffTfwrfi, cmifì j J « ^ ÌTpa/rnf" .uiiarrf^t funi/"pninif fìr Jifònffii) cienSf xpi.irkvpaf mt ^pulitolutefei:Srfm^itif'rtfc» tH'm»

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l^fxmeitQ.

Abb. 2: Cambridge, University Library, Gg. v. 35, fol 439r. Schluß von Suavissima Nunna in der 1. Spalte

12

Cyril Edwards

Meisterhaft ist die Verwendung der alternierenden deutschen und lateinischen Zeilen in Ich was ein chint so wolgetan (CB 185). Die deutschen Reime sind zum Teil Assonanzen, was auf eine Kompositionszeit im 12. Jahrhundert hinweist. Das Mädchen ist eine virgo guten Rufes, wie in CB 184 hat sie wize hant. Sie spricht, wie sonst in der Pastourelle nur die Mädchen in Under der linden und in CB 163a, in proprio persona. Die Retrospektive ist zweisprachig, wie auch die Verführungsworte des Mannes. Das Mädchen geht auf einer Wiese Blumen pflücken, wird aber selbst deflorata. Das Verhältnis zum Verführer ist wie oft in der Pastourelle schizophren. Einerseits ist er ein ungetan, schließlich aber lobt sie seine Jagd: bene venabatur!. Das Ganze wird wie in CB 90 zum Spiel, ludus. Wie in Under der linden wird der locus amoenus in die Erzählung eingebettet. Dort besteht die Möglichkeit, daß die Rosen, vielleicht auch die Nachtigall, das Mädchen verraten könnten; hier wird der Weg verflucht, der zur Linde führt: dirre wech, der habe haz! planxi et hoc totum. Das Verhältnis Walthers von der Vogelweide zum Codex Buranus faßt man am besten als einen in zwei Richtungen fließenden Strom auf. Die Schreiber kannten Muget ir schouwen (L 51,13), das Palästinalied (L 14,38), wahrscheinlich Under der linden und andere Lieder Waithers.36 Der Codex bietet andererseits einen Uberblick über die lateinische Lyrik, die zeitgenössich mit Waither war und ihm hätte zugänglich sein können. Die Breite der Minnesangkenntnisse im Codex erklärt sich am einfachsten dadurch, daß den Kompilatoren eine Sammelhandschrift zur Verfügung stand. Von den überlieferten Liedersammlungen steht die Große Heidelberger Liederhandschrift dem Codex Buranus am nächsten, wie aus Tabelle I zu ersehen ist. Von den Strophen der Dichter von Dietmar bis Neidhart, die im Codex erhalten sind, befinden sich alle außer Reinmar MF 203,10 in C. Das ist wohl nicht nur darauf zurückzuführen, daß C die umfassendste Minnesangsammlung ist. Die Waltherstrophe Röter munt (L 51,37) ist nur in C und M erhalten; dasselbe gilt für die Morungenstrophe MF 142,19. Nicht weniger als fünf Belege für das zentrale Motiv des deflorare, bluomen brechen, im Walther-Corpus deuten eine von Dichter und Publikum geteilte Bekanntschaft mit der Gattung Pastourelle an.37 Nur zwei Lieder Walthers lassen sich jedoch streng genommen in die Gattung einreihen: Nemt, frowe, disen kränz (L 74,20) und Under der linden. Das Verhältnis der Traumpastourelle zur Tradition hat WAPNEWSKI ausführlich behandelt. Under der linden bleibt dem tradierten Handlungsmodell der Pastourelle wesentlich näher. Es bildet den Gipfel der hier skizzierten Entwicklung der frühen lateinisch-deutschen Pastourelle. Die Nähe zu den Pastourellen im Codex Buranus sieht man vor allem in drei von SABINE BRINKMANN isolierten Hauptpunkten: in der weiblichen Ich-Persona, im »Fehlen des Dialogs«, und im 36

37

Zum Verhältnis vom Leich zur Sequenz CB 60/60a siehe den Beitrag zu diesem Band von CHRISTOPH M Ä R Z , S. 4 3 - 5 6 . Beim Verhältnis von L 3 9 , 1 Uns hat der winter zu CB 1 3 5 Cedit, Hyemps läßt sich bestreiten, ob das deutsche oder das lateinische Gedicht den Vorrang hat. WAPNEWSKI (S. Anm. 12). Zu bluomen brechen S. 126-132.

Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide

13

38

»Verzicht auf die Schäferin« . Das Lied unterstreicht und steigert die Mädchenbezogenheit der frühen deutschen Pastourelle. Das mag tautologisch klingen. Wenn man CB 185 zum Vergleich heranzieht, sieht man jedoch, daß die Verwendung der weiblichen Ich-Persona keineswegs automatisch eine weibliche Perspektive mit sich bringt. Tabelle I Uberlieferung der in CB (M) enthaltenen deutschen Strophen in anderen Hss. M M M

Dietmar MF 32,1 Reinmar MF 177,10 Reinmar MF 203,10 Reinmar MF 185,27 Morungen MF 142,19 Neidhart SL 11,1 Botenlouben KLD XIII,2 Walther L 14,38 Walther L 51,29 Walther L 51,37

B b

C C C C C C C C C

M M M M M

A

(Gedrut)

A A A

(Niune) B (Seven)

Tabelle II Überlieferung der Waltherlieder, die einen eventuellen Zusammenhang mit den lateinischen Strophen im CB aufweisen. Waither L 39,1 Walther L 39,11 Walther L 3,1

C C C

B B

E k

k2

1

Uns hat der winter Under der linden Leich

In Under der linden dagegen bleibt die Ich-Perspektive konstant, obwohl das Ich erst zu Anfang der zweiten Strophe hervortritt. Walther schafft ein außerordentlich selbstbewußtes Verhältnis der Persona zum Erzählten, indem er in jede Strophe den Bezug zum Publikum einbaut und zur Hauptquelle des Humors macht. Anstelle des Dialogs zwischen Liebhaber und Geliebter steht der implizite Dialog zwischen Ich-Persona und Zuhörer (1,4 da mugt ir vinden, 11,7 kuster mich?; 11,9 seht, 111,4 des urirt noch gelachet ... kumt iemen; IV,2 wessez temen; IV,5-6 niemer niemen bevinde daz). Die Angst vor der Entdeckung, die in CB 158 die postkoitale Reaktion des Mädchens auf die Verführung bildet: Satis Uli fuit graue - und Hauptthema der beiden letzten Strophen ist, ist in Under der linden von vornherein strukturbildendes Element. Die Retrospektive, die sich im komplexen, plötzlichen Wechsel von Tempus

38

SABINE BRINKMANN (S. A N M . 2 ) , S . 129; 1 9 5 .

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Cyril Edwards

und Modus der Verba widerspiegelt, bringt eine in der Pastourelle sonst nicht belegte Distanz zum Erzählten mit sich.39 Die Distanz zu den tradierten Konventionen der Pastourelle besteht nicht nur in der Retrospektive, sondern auch in dem Fehlen der Verführung oder der Vergewaltigung, welche von der feministischen Kritik als zentrales gattungsbestimmendes Element betreichtet wird.40 In dieser Hinsicht ist Walthers Lied nicht so isoliert, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. In den Pastourellen vom Typ III, in denen der Erzähler den Voyeur spielt, handelt es sich oft um das Beobachten eines vorarrangierten Treffens, so zum Beispiel in den zwei von BARTSCH herausgegebenen Nonnenpastoureilen. In einer Pastourelle von Waithers occitanischem Zeitgenossen Gavaudan, L 'autre dia, per un matin, ist das Treffen zwar ein Zufall, aber das Liebespaar kennt sich schon, hat schon ein längeres, wenn auch unterbrochenes Verhältnis erlebt. Das Treffen im Freien markiert eine neue Entwicklungsstufe im Verhältnis, indem es ihnen gelingt, sich von der Gesellschaft zu befreien: »Amiga, per bon endesti crey que.m det Dieus aquest parelh, joy de cambra en pastori, que m'es dous, don me meravelh, et anc mais tan be no.ns anet; vostra merce e la mia yssit em d'autra baylia: et Amors en mi no.s pecquet.«

(Str. VI)

41

Aber fehlt die Verführung gänzlich in Under der linden? Wenn sie überhaupt eine Rolle spielt, ist sie wohl in den umstrittenen Worten Here frowe enthalten. Die Forschung hat sich hier viel Mühe gegeben; die Ergebnisse wurden von DAVID 42 M C L I N T O C K zusammengefaßt. Fast jedes Argument läßt sich durch Parallelen unterstützen. Im (Pseudo-)Neidhart Der wenglinck wird das Mädchen die here vom Erzähler genannt. Der wohl von Walther beeinflußte Hadlaub redet in seiner Pastourelle die Geliebte mit vil here an. In der Pastourelle von Guy d'Ussel (Ende des 12. Jahrhunderts) wird die Hirtin schmeichelnd mit Toza de bon aire (»Mädchen guter Familie«) angeredet. In einer anonymen Pastourelle des frühen 13. Jahrhunderts 39

40

Vgl. JOERG SCHAEFER: Die Gestaltung des lyrischen Ich in Walthers »Under der Linden«. Monatshefte 63 (1966), S. 33-42. KATHRYN GRAVDAL: Camouflaging Rape: the Rhetoric of Sexual Violence in the Medieval P a s t o u r e l l e . R o m a n i c R e v i e w 7 6 ( 1 9 8 5 ) , S. 361-373; d a g e g e n WILLIAM DOREMUS PADEN: R a p e

41

42

in the Pastourelle. Romanic Review 80 (1989), S. 331-349. »Geliebte, ich glaube, daß Gott mir diese Zusammenkunft als gutes Schicksal schenkte, / Kammerfreude auf der Weide, / denn sie ist mir angenehm, worüber ich erstaune, / und nimmer ging es uns so gut; / dank Euch und dank mir / sind wir aus einer anderen Gewalt herausgegangen: / und die Liebe machte mit mir keinen Fehler.« Text und Übersetzung nach: Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von DIETMAR RIEGER. Stuttgart 1980, S. 208-209. Vgl. ERICH KÖHLER: Die Pastourellen des Trobadors Gavaudan. GRM 45 (NF 14) (1964), S. 337-49, hier S. 343. DAVID MCLINTOCK: W a l t h e r ' s Mädchenlieder.

O G S 3 ( 1 9 6 8 ) , S. 3 0 - 4 3 , hier S. 4 0 - 4 2 .

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Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide

schreit das Mädchen: par sainte Marie, / tenez vo main coie! Das könnte die These bekräftigen, daß die Worte ein Ausruf des Mädchens sind. 43 Wenn es sich aber um einen Vokativ handelt, so bieten sich als Parallelen zwei Stellen aus den Carmina Burana an. Im pastourellenahen Liebeslied 77 wird die puella angeredet: »Aue formosissima, aue decus uirginum, aue lumen luminum,

gemma preciosa, uirgo gloriosa, aue mundi rosa...«

CB 77, Str. 8

Und in noch eindeutigerer Erinnerung an die Verkündigungsszene wird die Hirtin in CB 157 mit Salve, regte digna angesprochen.44 Das Schlüsselwort enpfangen in der vorangehenden Zeile mag Walther zum Anklang an die Begrüssung Mariae angeregt haben. Idee und Wort sind auch bei Morungen intim verbunden: Si kam her dur diu ganzen ougen [ ] sunder tür gegangen. öwe, solde ich von ir süezen minne sin als minneclich enpfangen! Heinrich von Morungen MF Via, Str. I Auf die Bedeutung der Verkündigungsszene für die Literatur und Ikonographie des Mittelalters braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Es sei nur kurz im anglodeutschen Kreis daran erinnert, daß sich im frühen 13. Jahrhundert der Fensterrrahmen, durch den der Engel Gabriel eingeflogen ist, in Westminster Abbey befand. 45 Die Stellungnahme zu Under der linden hat sich im Laufe dieses Jahrhunderts radikal geändert. Anstatt es mit RICHARD MEYER und BURDACH als »altes deutsches Volksliedchen«46 zu begrüßen, erkennt man jetzt, daß Walther mit Material gearbeitet hat, das in der mittellateinischen Lyrik als Gemeinplatz galt. Hier hat MARTIN schon richtig gesehen; dazu kamen die Untersuchungen von KRAUS, und das zusammenfassende Urteil von W . T . H . JACKSON: »its Conventions are derived directly from the Latin forms of the pastourelle«.47 Vor allem in der Verwendung 43

Der wenglinck zitiert nach INGRID BENNEWITZ-BEHR: Die Berliner Neidhart-Handschrift c (mgf 779). Transkription der Texte und Melodien. Göppingen 1981 (GAG 356), S. 20; Hadlaub 35,31 nach KARL BARTSCH: Die Schweizer Minnesänger. FYauenfeld 1886, S. 331; vgl. GUSTAV ROETHE: Here frouwe.

44 45

Z f d A 5 7 (1920), S. 132-133; G u y d ' U s s e l n a c h PADEN (S. A n m . 19) § 18;

die anonyme Pastourelle nach PADEN § 35, Str. IV. Vgl. DRONKE: Poetic Meaning (s. Anm. 26), S. 125. Siehe JOHN FLEETE: The History of Westminster Abbey. In: Notes and Documents relating to W e s t m i n s t e r A b b e y , N o . 2. H r s g . v o n JOSEPH ARMITAGE ROBINSON. C a m b r i d g e 1909, S. 68-76,

hier S. 69-70. Den Hinweis verdanke ich Emma Mason (Birkbeck College). 46

47

RICHARD M . MEYER: A l t e d e u t s c h e Volksliedchen. Z f d A 29 (1885), 121-236; KONRAD BUR-

DACH: Reimar der Alte und Waither von der Vogelweide. Halle 21928, S. 169. ERNST MARTIN: Die Carmina Burana und die Anfänge des deutschen Minnesangs. ZfdA 20 (1876), S. 46-69; CARL VON KRAUS: W a l t h e r v o n d e r Vogelweide. U n t e r s u c h u n g e n . Berlin u n d

Leipzig 1935, S. 131-134; WILLIAM T . H. JACKSON: The Medieval Pastourelle as a satirical genre. Philological Quarterly 21 (1974), S. 156-170, hier S. 167.

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des locus amcenus sieht man Walther jetzt als der lateinischen Tradition verpflichtet. Der Lustort ist aber »at once too general and too particular to illuminate the pastourelle«48 Für die einzelnen Elemente des Natureingangs lassen sich Parallelen sowohl in der romanischen als auch in der lateinischen Pastourelle finden. Selbst die linde, welche von M E Y E R und H A T T O als typisch für die Pastourelle deutschen Ursprungs gehalten, als Brücke zwischen dem Codex Buranus (CB 59, 84, 145, 185) und Walther gesehen wird, trifft man in einer Pastourelle von Gavaudan: assec me a l'ombra d'un telh.49 Im Vokalspiel heißt der Baum sogar diu linde mcEre (L 94,24), wohl eine selbstironische Anspielung auf seine traditionelle Bedeutung im Natureingang der Pastourelle, welche auch vom Miniaturkünstler der Großen Heidelberger Liederhandschrift anerkannt wird. Die Linde befindet sich im Wald in der Miniatur zu Rubin von Rüdeger; der Künstler denkt aber an die in der Handschrift folgende Pastourelle Kols von Niunzen.50 Das Motiv der tausend Küsse findet sich im selben Lied wie die Begrüßung der uirgo gloriosa, in CB 77: mille dedi basia. Auch in einer makaronischen, diesmal französich-lateinischen Pastourelle werden die Küsse gezählt: oscula dedi milia.51 Schon Catull hat das Motiv gekannt: da mi basia mille, deinde centum, dein mille altera, dein secunda centum, deinde usque altera mille, deinde centum, dein cum milia multa fecerimus conturbabimus illa ne sciamus aut ne quis malus inuidere possit cum tantum sciat esse basiorum.52 Wie Catull weiß Walther das Motiv humorvoll zu variieren: das Mädchen ist sich der Zahl nicht ganz sicher, oder, wie sich laut den Wörterbüchern ebenfalls übersetzen läßt, hat der Liebhaber sie tausend Mal gut geküßt. Eine monogenetische Erklärung der Pastourelle, von Archilochos zum Mittelalter, wird kaum stichhalten. Aber innerhalb des polygenetischen Rahmens ist die Suche nach Einflüssen gerechtfertigt, nach Einflüssen, die die Grenzen zwischen Latein und Volkssprache im Mittelalter ignorieren. D R O N K E erkennt die damit verbundenen Schwierigkeiten: »The Latin lyric is omnipresent and everywhere contemporaneous with the vernacular. Often they enrich one another - it is scarcely possible 48

Pastoral and Pastourelle. Kentucky Romance Quarterly 2 1 ( 1 9 7 4 ) , hier S. 152. M E Y E R (S. Anm. 4 6 ) , S . 1 8 1 - 1 8 2 ; ARTHUR T. HATTO: The Lime-Tree and early German, Goliard and English Lyric Poetry. In: ARTHUR T. HATTO: Essays on Medieval German and other Poetry. Cambridge 1 9 8 0 (Anglica Germanica Series 2 ) , S. 17-41; Gavaudan zitiert nach WILLIAM DOREMUS PADEN:

S. 1 5 1 - 1 5 7 , 49

80

51

52

PADEN (S. A n m . 1 9 ) , § 2 7 , 1 1 , 1 2 .

Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hrsg. und erläutert von INGO F . WALTHER unter Mitarbeit von GISELA SIEBERT. Prankfurt am Main 1988, S . 258. PADEN (s. A n m . 1 9 ) , § 2 2 A , 6 , 4 .

The Poems of Catullus. Hrsg. von Guy Lee. Oxford 1991, § V. Zur Rezeption des Motivs bei Johannes Secundus in seinen Basia siehe: P E T E R GODMAN: Literary Classicism and Latin Erotic Poetry of the Twelfth Century and the Renaissance. In: Latin Poetry and the Classical Tradition. Hrsg. von P E T E R GODMAN und OSWIN MURRAY. Oxford 1990, S. 149-182.

Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide

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53

to say more.« Die Verpflichtung des einzelnen Dichters zur Tradition läßt sich selten präzisieren; das Dilemma gilt sowohl für die Gattungsgeschichte als auch für die Entwicklung einzelner Motive. Das Motiv der Nachtigall darf als letztes Beispiel dienen. Es befindet sich seit Suavissima Nunna in der deutschen Pastourelle. Die Nachtigall tritt sowohl in den deutschen als auch in den lateinischen Liebesliedern des Codex Buranus auf, allerdings nicht in den Pastourellen. 54 In der altfranzösischen Pastourelle trifft man sie jedoch häufig (z. B. BARTSCH § 27, 28, 29, 32), auch im Lied, das KIPPENBERG für die Quelle von Walthers Melodie für Under der linden hielt. 55 WACKERNAGEL meinte, daß der Refrain tandaradei auf die Möglichkeit des Verrats durch den sprechenden Vogel hinweisen könnte: »das Maedchen muß fürchten, daß die Nachtigall plaudern werde«.56 Diesem Vorschlag ist man kaum gefolgt, obwohl in die letzte Zeile ein zwivelin eingebaut wird: daz mac w o l getriuwe sin. Das qualifizierende wol bringt wie bei den tausend Küssen ein Element der Unsicherheit mit sich. WACKERNAGEL führt als Parallele das mittelniederdeutsche Lied De gebonden Nachtegaal heran. 57 Das Liebespaar befindet sich in einem boomgard, in den keiner außer der Nachtigall eintreten kann. Um das Geheimnis zu bewahren, wird vorgeschlagen, daß man ihr das Häuptlein zu den Füßen bindet, aber die mutige Nachtigall antwortet, daß ihr das Herz nicht gebunden werden könne: ik kan nog evenwel klappen. Der sprechende Vogel, der nicht nur Vertrauter sondern auch Verräter sein kann, ist Gemeingut des europäischen Volksliedes. Er spielt eine Rolle in den abschließenden Strophen der englischen Fassungen von Lady Isobel and the Elvish Knight oder The Outlandish Knight (CHILD 4), einer auch in Deutschland weit verbreiteten Ballade, die wohl auf das Mittelalter zurückgeht. Mitte des 19. Jahrhunderts zweigt eine Flugblattfassung, >The Maid and the MagpieDoctrina de compondre dictats< im Anhang der >Razos de trobarRazos< wird auch die Autorschaft an der >Doctrina< zugeschrieben. B E C (S.

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Trobadors die weibliche Figur in jedem Fall den Status einer Hirtin haben soll. Dies gilt im Grundsatz auch noch für den Verfasser der im 14. Jahrhundert entstandenen >Leys d'amorsDoctrina< davon absieht, den Stand des männlichen Akteurs zu bestimmen, dann läßt sich das genauso wenig als Indiz dafür werten, daß der Standesunterschied in der Pastourelle seiner Ansicht nach ohne größere Bedeutung war. Vielmehr verstand es sich offensichtlich von selbst, daß es sich bei dem Mann um den Repräsentanten einer sozial höheren Schicht handelte. Im Kontext der höfischen und städtischen Literaturproduktion ist bereits in der Figur der Hirtin der ständische Gegensatz als gattungshafte Spezifität codiert. Und es ist nicht nur die Differenz zwischen den Ständen, die der Figur der Hirtin eingeschrieben ist, sondern auch die Differenz zwischen den Geschlechtern und die Differenz zwischen Natur und Kultur. Noch in weiterer Hinsicht sind die Ausführungen Raimon Vidals für die Gattungsfrage aufschlußreich. Er erklärt dem potentiellen Pastourellendichter, an den er sich wendet, daß die Pastourelle eine bestimmte Art erfordere, um über die Liebe zu sprechen: Si vols far pastora, deus parlar d'amor en aytal semblan com eu te ensenyaray (wenn du eine Pastourelle machen willst, mußt du so von der Liebe sprechen, wie ich es dich lehren werde). Wer allerdings erwartet, daß Raimon Vidal dieser Ankündigung regelhafte Anweisungen folgen läßt, sieht sich enttäuscht. Der Trobador begnügt sich damit, an die Imagination des künftigen Dichters zu appellieren, indem er ihm eher suggestiv Möglichkeiten des Verhaltens bei der Begegnung mit einer Hirtin zu vergegenwärtigen versucht: »Das heißt, du triffst auf eine Hirtin und willst sie grüßen oder erobern oder anfassen oder ihr den Hof machen oder mit ihr über etwas diskutieren, ihr etwas schenken oder zu ihr sprechen .,.« 24 So wenig theoretisch die Darlegungen des Trobadors auch sind, so haben sie doch einen poetologischen Aussagewert, der ernst genommen werden muß. Raimon Vidal geht nicht von einem normativen Gattungsbegriff, sondern lediglich von einer Situation aus, die der Autor einer Pastourelle sich vorzustellen hat und die er unterschiedlich konkretisieren kann. Entsprechend offen bleibt die besondere Art des parlar d'amor, welche die Pastourelle nach Raimon Vidal erfordert. Geht man allerdings davon aus, daß in den von Männern geführten Diskursen über die Liebe im Mittelalter die Liebe durchweg unter oppositionellen Aspekten betrachtet wurde, etwa unter dem Aspekt des »Hohen« und »Niederen« (wobei diese Opposition nicht nur eine ständische, sondern auch eine moralische und ästhetische Bedeutung hatte), dann ist mit der Kennzeichnung der weiblichen Figur als der Angehörigen einer »niederen« sozialen Schicht (mit Tieren als unverzichtbaren Attributen) die Lizenz zur Thematisierung des sogenannten »niederen« Bereichs der Liebe bereits gegeben.

24

MEYER (S. Anm. 23), S. 356: Fo es a saber, s» t'acostes a pastora e la vols saludar, o enquerer o manar o corteiar, o de qual razo demanar o dar o parlar li vulles.

Die Pastourelle

im Gattungssystem

der höfischen Lyrik

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Die Figur der pastorela ist, so gesehen, Chiffre der Bedingung für die Grenzüberschreitung, die in der Thematisierung von Sexualität lag. In diesem Sinne hat die Standesdifferenz anscheinend nur die Bedeutung eines Vorwands, um etwas anderes aussprechen zu können. Die Erlaubnis zur Thematisierung von Sexualität bedeutete indessen nicht, daß die Autoren sich einer »unhöfischen« Sprechweise bedienen durften. Die Wendungen, mit denen Raimon Vidal die Darstellungsmöglichkeiten des Pastourellendichters umschreibt, deuten vielmehr darauf hin, daß sich das parlar d'amor durchaus am Sprachgestus des aristokratisierenden Registers zu orientieren hatte. Verstöße gegen die Normen höfischen Sprechens, das erklärt auch Guillaume Molinier, sollten in der Pastourelle vermieden werden. In seiner diffinitios de pastorela hebt er zwar die Unterhaltungsfunktion des Genres besonders hervor, warnt aber gleichzeitig davor, sich qua Gattungslizenz zum Gebrauch von gemeinen oder häßlichen Wörtern hinreißen zu lassen (que hom no diga vils paraulas ni laias).25 Zwischen dem Bereich des »Niederen«, dem das Thema der Pastourelle zugeordnet wird, und dem geforderten Sprachgestus besteht demnach ein Gegensatz, der in unterschiedlicher Weise ausgespielt werden kann. So wichtig die Feststellung ist, daß der Begriff der Sexualität und die Differenzierung zwischen Sexualität und Erotik im Mittelalter noch unbekannt waren, 26 so eröffnet diese Konstellation doch auch Möglichkeiten des Sprechens über die Liebe, die eine Differenzierung gegenüber der herkömmlichen Opposition von »hoch« und »nieder« erlaubten. Schon dadurch wird die generelle Bestimmung der Pastourelle als »Gegensang« relativiert. Das Entscheidende aber ist, daß die volkssprachlichen Poetiken bestätigen, welche Bedeutung die Figur der Hirtin als gattungskonstitutives Moment hat. Die Gegensätze, die ihr mit der Differenz der Stände (auch wenn diese unter Umständen nur als Vorwand dient), mit der Differenz der Geschlechter und mit der Differenz von Kultur und Natur eingeschrieben sind, bilden eine semantische Struktur mit verschiedenen Valenzen, die in der Kombination mit anderen literarischen Elementen in vielfältiger Weise Gestalt annehmen kann. Diese semantische Struktur hat nicht den Status eines normativen Gattungsbegriffs. Auch der Begriff der »gattungshaften Dominante« 27 , mit der die Vorstellung eines im Wandel unterschiedlicher Konkretisierungen gleichbleibenden Merkmals oder Merkmalsensembles verknüpft ist, trifft nicht genau das, was diese semantische Struktur ausmacht, eher schon der Terminus »noyau générateur«. 28 Die in der Figur der Hirtin verschlüsselten Gegensätze bilden einen »produktiven Kern«, der entsprechend der in ihm enthaltenen Gegensätze zu 25

26

Guillaume Molinier, Las Leys d'Amors (zitiert nach CARL APPEL: Altprovenzalische Chrestomathie. 3. Aufl. Leipzig 1907, S. 199): E deu tractor d'esquern, per donar solas. E deu se hom gardar en aquest dictât maiormen quar en aquest se peca hom mays que en los autres, que hom no diga vils paraulas ni laias [...]. Dies betont GERHARD WOLF in seinen Überlegungen über den Quellenwert der Literatur im Blick auf das Verhältnis zur Sexualität im Mittelalter: Spiel und Norm. Zur Thematisierung von Sexualität in Liebeslyrik und Ehelehre des späten Mittelsliters. In: Ordnung und Lust. Hrsg. v o n H A N S - J Ü R G E N BACHORSKI. I t t e r 1 9 9 1 , S . 4 7 7 - 5 0 9 , d o r t S . 4 7 9 .

27

J A U S S (S. A n m . 1 ) , S . 1 1 2 .

28

Der Terminus ist BEC (S. Anm. 5), S. 42, entlehnt, der ihn in einem anderen Zusammenhang verwendet. Vgl. auch die neuere Studie von PIERRE BEC: L'accès au lieu érotique: motifs et exorde dans la lyrique popularisante du moyen âge à nos jours. In: Love sind Marriage in the

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verschiedenen Ausgestaltungen führen kann. Er ist für unterschiedliche Optionen offen, für das Spiel mit den verschiedenen Ebenen der in ihm codierten Semantik, für Variationen, Erweiterungen, Umbesetzungen, Verschiebungen zwischen den Bedeutungen, deren Träger die Figuren sind, für Anschlüsse an die Strukturen anderer Gattungen oder Darstellungsformen wie der Satire, des Schwanks, des Hirtenspiels. Die hohe Variabilität, die sich in der Gattungsgeschichte der Pastourelle zeigt, ist in der Semantik des produktiven Gattungskerns, in der Figur der Hirtin, als Möglichkeit enthalten, und entsprechend vielfältig sind die Funktionen, welche die Konkretisierungen, die auf diesen »noyau générateur« zurückgehen, erfüllen können. Daß die Ausprägungen und Typenbildungen der Pastourellen in den Literaturen der einzelnen Kulturbereiche des Mittelalters unterschiedlicher Art sind und daß sie in den lyrischen Gattungssystemen einen je spezifischen Stellenwert haben, ist seit langem bekannt. Insbesondere im Blick auf den deutschen Minnesang hat sich immer wieder die Frage gestellt, warum die Pastourellenstruktur hier nur in verhältnismäßig geringem Maße wirksam geworden ist. Während MORET die Existenz von deutschen Pastourellen überhaupt bestreitet und dies mit der Annahme erklärt, daß die höfischen Kreise im deutschen Bereich »trop peu raffinés« gewesen seien, um die besonderen Reize der Gattung schätzen zu können, 29 vermuten andere Interpreten, daß es die Gattung durchaus gegeben habe. Aber die frühen Pastourellen, so nimmt etwa ANTONÍN HRUBY an, seien der Uberlieferung zum Opfer gefallen,30 oder es wird, beispielsweise von INGEBORG GLIER, erwogen, daß die Gattung als subliterarisches Genre existiert habe und zunächst der schriftlichen Überlieferung nicht für wert befunden wurde. 31 Weniger um die Frage nach der Existenz der Gattung im frühen Minnesang geht es WILLIAM T . H . JACKSON. Er vertritt die Auffassung, daß die lateinischen Formen der Pastourelle im deutschen Bereich bekannt waren, und erklärt die fehlende Ausprägung der »klassischen« Pastourelle im deutschen Minnesang - gleichsam vom Gattungssystem her - mit dem Erfolg von Neidharts Dörperlyrik. Neben der in besonders eigentümlicher Weise von ständischen Gegensätzen beherrschten Minnewelt Neidharts habe sich die »typische« Pastourelle nicht durchsetzen können. 32 BRINKMANN, die JACKSONS These grundsätzlich zustimmt, nimmt darüber hinaus an, daß mit pastourellenhaften Elementen erst dann wieder, wie sie formuliert, etwas »Volkstümliches« in den Minnesang eingedrungen sei, als sich die Diskussion über die höfische Liebe in der Lyrik etabliert hatte. 33 Die Lyrik Neidharts und das Tagelied hätten die Thematisierung von Sexualität ermöglicht und damit eine »Leerstelle« ausgefüllt, die im Gattungssystem der romanischen Literaturen durch die PastouTwelfth Century. Ed. by

W I L L Y VAN HOECKE

und

ANDRIES WELKENHUYSEN.

Leuven

1981,

S. 2 5 0 - 2 9 7 . 29

M O R E T (S. A n m . 9 ) , S . 1 9 0 .

30

Die Kürenbergerstrophe M F 9 , 2 1 - 2 8 . Orbis Litterarum 1 8 ( 1 9 6 3 ) , S . 1 3 9 - 1 5 4 . Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts. In: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide. Hrsg. von F R A N Z B Ä U M L . Göppingen 1984 (GAG 368), S. 160-168, dort S. 163.

31

ANTONI'N H R U B Y :

INGEBORG GLIER:

32

JACKSON ( s . A n m . 1 3 ) , S . 4 2 7 .

33

B R I N K M A N N (s. A n m . 1 4 ) , S. 4 0 8 .

Die Pastourelle im Gattungssystem

der höfischen Lyrik

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relle besetzt worden wäre. Dabei teilt B R I N K M A N N die verbreitete Annahme, daß die Gattungen des genre objectif eine »Ventilfunktion« gehabt hätten. 3 4 Diese These leuchtet zunächst durchaus ein, aber sie reduziert schließlich doch das Kommunikationspotential des genre objectif in übermäßiger Weise. Ohne Zweifel kann, um nur von der Pastourelle zu reden, das Gattungsschema als Vorwand für die Inszenierung von mehr oder weniger »schwankhaften« Sprachspielen über Sexualität dienen; vor allem in Liedern wie dem des Kol von Niunzen, aber auch in Oswalds von Wolkenstein >Jetterin< oder in der anonymen provenzalischen porquiera, dem Lied von der Schweinehirtin, ist dies der Fall. 35 Aber die Funktionen, welche die Gattung im System der Lyrik und insbesondere im Blick auf den höfischen Diskurs über die Liebe in den einzelnen Literaturen erfüllt, lassen sich mit dieser These nicht hinreichend erfassen. Außerdem dürfen die Unterschiede zwischen dem Tagelied und der Pastourelle, die durch die - auf J E A N R O Y zurückgehende - Zuordnung zum sogenannten genre objectif weithin als enge Verwandte gelten, in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden; bezeichnend ist es, daß die beiden Gattungen in der Typologie 36 B E C S merklich auseinanderrücken. Auch die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten, welche die Gattungsstruktur der Pastourelle bietet, sind mit dem Tagelied nicht gegeben. Schon wegen der fehlenden Standesdifferenz zwischen den Partnern im Tagelied kann außerdem von einer Austauschbarkeit der Gattungsfunktionen der beiden Vertreter des genre objectif allenfalls partiell die Rede sein. Das größte Problem in der Argumentation mit »Leerstellen«, die ausgefüllt werden müssen, liegt jedoch darin, daß dem literarischen System damit eine - wie auch immer geartete - »Ganzheit« und das heißt eine Norm unterstellt wird, die zur Richtlinie bei der Betrachtung der Gattungen und der Einzeltexte wird. Dadurch entsteht die Gefahr, daß die Vielfältigkeit der Relationen, welche zwischen einem Text und seinem Bezugsfeld bestehen, ebenso leicht übersehen werden wie neue Kommunikationsfunktionen, die aus solchen Relationen hervorgehen. Die angesprochenen Probleme können hier nur skizzenhaft verdeutlicht werden. Gezeigt werden soll zunächst an einigen okzitanischen Pastourellen, wie unterschiedlich die Gattung im Blick auf den Diskurs über die fin'amor funktionalisiert oder auch an ihn angebunden wird. Ein Beispiel, in dem der Standesgegensatz alles andere als Vorwand ist, um über Sexualität zu sprechen, ist etwa Marcabrus Lied L'autrier jost'una sebissa. Das Lied ist vor der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden, und es ist damit die älteste volkssprachliche Pastourelle überhaupt, welche die Uberlieferung bewahrt hat. Ein als »Herr«, als senher, gekennzeichnetes Ich berichtet von der Begegnung mit einer pastora, und gibt das Gespräch, das er mit ihr geführt hat, wörtlich wieder. 34

35

36

BRINKMANN (S. Anm. 14), S. 421 Anm. 64, und die Darlegungen zum Verhältnis von Pastourelle und Tagelied in BRINKMANN, Die deutschsprachige Pastourelle (s. Anm. 15), S. 281ff. Vgl. J E A N A U D I A U : La Pastourelle dans la poésie occitane du Moyen-Age. Paris 1 9 2 3 , Nr. XXIV. Das »schwankhafte« Element ist in der porquiera allerdings nicht merklich ausgeprägt. In der letzten Strophe wechselt der unbekannte Autor überdies ohne Ubergang ins religiöse Register. Zum Tagelied vgl. jetzt CHRISTOPH CORMEAU: Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger (s. Anm. 9), Bd. II, S. 695-708.

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Aus dem Dialog geht hervor, daß der »Herr« alle Register der Überredungskunst zieht, um die pastora zu einem »Schäferstündchen« zu bewegen. Aber trotz aller Bemühungen bleibt er am Ende ohne Erfolg. Die Schäferin weist den »Herrn« ab, indem sie ihn darüber belehrt, daß die Grenzen der ständisch geordneten Welt, dem Gebot des Maßes entsprechend, nicht überschritten werden dürfen (»... der Tor sucht die Torheit, der Hofmann das höfische Abenteuer, der Bauer die Bäuerin...«). 37 Die Funktion dieser Pastourelle läßt sich aus dem Zusammenhang mit anderen Liedern Marcabrus und durch die Relation zum zeitgenössischen Stand der Auseinandersetzung über die Liebe in der TVobadorlyrik näher bestimmen. Marcabru ist ein Gegner der neuen höfischen Ideen, die sich mit dem Frauendienst verbinden. Er unterstellt den Sängern, welche dieses Konzept verbreiten, daß sie damit die überkommene moralische und hierarchische Ordnung umstürzen wollten.38 Vor diesem Hintergrund erweist sich, daß Marcabru die Pastourelle als Medium der Kritik an den von ihm bekämpften Anschauungen instrumentalisiert. Der Standesgegensatz dient dazu, die gestörte Ordnung sinnfällig zu machen. Der »Herr«, der kraft seines Standes die Pflicht hätte, als Verteidiger der moralischen und ständischen Ordnung aufzutreten, verstößt mit seiner Werbung um die Schäferin gegen die Regeln dieser Ordnung; nur dank der Hirtin, die Marcabru zu einem Gegenbild der (seiner Meinung nach durch den Frauendienst verdorbenen) dompna des Hofes stilisiert, bleibt diese Ordnung bewahrt. Das Spiel mit der Überschreitung von Grenzen, das in der Pastourellenstruktur angelegt ist, wird von Marcabru entschieden zurückgewiesen. Ganz anders als Marcabru, nämlich nicht als Medium der Kritik, sondern um den Frauendienst zu bestätigen, verwendet Giraut de Bornelh die Gattungsstruktur. Die Begegnung eines »Herrn« mit einer bergieira ist bei ihm zunächst einmal Anlaß für den »Herrn«, sein Leid über die Unbeständigkeit und Falschheit einer höfischen Dame zu beklagen. Als die Hirtin jedoch ebenfalls Kritik an den Frauen der höfischen Gesellschaft übt und ihm ihre Liebesbereitschaft erklärt, weist er sie ab und zieht die ungewisse Aussicht auf Erfolg bei der Dame dem Liebesgenuß vor, den ihm die Hirtin verspricht. 39 Die Funktionalisierung der Pastourellenstruktur erschöpft sich jedoch weder in der kritischen noch in der affirmativen Anbindung an den höfischen Diskurs über die Liebe. In der Lyrik der Trobadors dient die Gattung auch zur Inszenierung der Kompensation »höfischer« Entbehrungserfahrung. So finden sich in einem Lied von Gui d'Ussel die Antagonisten der Gattung, Herr und Hirtin, in der gegenseitigen 37

38

Vgl. AUDIAU (S. Anm. 35), Nr. 1, Str. XII, V.lff.: Don, oc; mos segon dreitura / Cerca fols la folatura, / Cortes cortez' aventura, / E.l vilas ab la trilana. Vgl. dazu KÖHLER (S. Anm. 6) sowie INGRID KASTEN: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern. Heidelberg 1986 (Beih. zur GRM 5), S. 148-160 (mit weiteren Literaturhinweisen). FYaglich bleibt die Annahme, daß Marcabru in seiner Pastourelle bereits den »klassischen« Typus »parodiere«, für den Beispiele erst aus späterer Zeit überliefert sind. Ein Indiz für die Existenz von (nicht überlieferten) Pastourellen zur Zeit Marcabrus ist jedoch der Hinweis in der Vida Cercamons, eines Zeitgenossen des Trobadors. Von Cercamon heißt es dort, er habe pastoretas a la usanza antiga gedichtet, vgl. DE RIQUER (S. Anm. 11), S. 222. Vgl. dazu auch W A R N I N G (S. A n m . 9 ) , S . 9ff.

39

AUDIAU (S. Anm. 35), Nr. II. Die Wirkungszeit von Giraut de Bornelh setzt DE RIQUER (S. Anm. 11), Bd. 1, S. 463, zwischen etwa 1162 und 1199 an.

Die Pastourelle im Gattungssystem der höfischen Lyrik

37

Klage über enttäuschte Liebe zusammen und trösten sich miteinander in dem Bewußtsein, damit Rache an ihren jeweiligen Partnern zu nehmen. 40 Das Spiel mit den Möglichkeiten der Gattungsstruktur, die sich bereits hier in der Umbesetzung und Verschiebung der Positionen zeigt, setzt der Trobador in anderen Pastourellen fort. 41 Auch Cadenet spielt mit der Verschiebung der Bedeutungen, deren Träger die Figuren der Pastourellen sind: Bei ihm trifft der Herr nicht auf eine Hirtin, sondern auf einen Hirten, der Klage über die Verleumder führt, die seiner Freundin Leid verursachen. Er hat damit den »höfischen« Part inne, der eigentlich dem seigneuralen Berichterstatter zukommt, während diesem die Position des vilanus, des »Dörpers«, zugewiesen ist, der nicht richtig zu lieben versteht und der mit den Feinden der Liebe gemeinsame Sache macht. 42 Gelegentlich trifft der Berichterstatter auch auf eine Hirtin oder einen Hirten, der singt, und aus der Begegnung wird ein Gespräch über die Qualitäten oder den Inhalt des Gesangs entfaltet. 43 Wenn der Trobador Guiraut Riquier die Figur der pastora benutzt, um die Qualität seiner Lieder zu rühmen, dann übernimmt die Pastourelle damit eine Funktion, die im deutschen Minnesang in einigen Fällen Reinmars Frauenlieder erfüllen. 44 In der Lyrik der Trobadors ist, wie diese knappen Hinweise zeigen, die Pastourelle ein Medium, in dem die Formen aristokratischer (und dichterischer) Selbstauslegung durch die fin'amor in einer so vielfaltigen Weise gespiegelt werden,45 die mit der Annahme von »Leerstellen« nicht erklärt werden kann. Das Problem der »Leerstellen« besteht jedoch nicht nur auf der Ebene des Gattungssystems, sondern auch auf der Ebene der Einzeltexte, deren produktiver Kern die Gegensatzstruktur der Pastourelle bildet. Es scheint, als ob die Forschung nicht auf die Vorstellung eines Prototypus der Gattung verzichten könnte, und so wird auch immer wieder von einer »echten«, einer »eigentlichen« oder auch einer »ursprünglichen« Pastourelle gesprochen, welche die »klassische« Pastourelle angeblich repräsentiert. Besonders signifikant ist es, wie K Ö H L E R die Prämissen formuliert, die er für das adäquate Verständnis einer Pastourelle des Trobadors Gavaudan 40

A U D I A U (S. A n m . 3 5 ) , N r . V I I .

41

A U D I A U (S. Anm. 35), Nr. VI. In einer weiteren Komposition ist es der Herr selbst, der singt und damit die Kritik einer Hirtin provoziert, welche die Partei der vom Dichter ihrer Meinung nach zu Unrecht geschmähten dompna ergreift (Nr. VIII bei A U D I A U ) .

42

A U D I A U (S. A n m . 3 5 ) , N r . V .

43

A U D I A U (s. A n m . 3 5 ) , N r . V .

44

(s. Anm. 35), Nr. I X , Str. V I , V . 4-6: Senher, on que.me vaya, / Gays ehans se perpara / D'En Guiraut Riquier. Auffallend ist in der Trobadorlyrik die Bildung von PastourellenSequenzen. Diese schon in den Pastourellen Gavaudans und Guis d'Ussel erkennbare Tendenz ist besonders ausgeprägt in den sechs (zwischen 1260 und 1282 entstandenen) Pastourellen Guiraut Riquiers, die von der Begegnung mit einer Hirtin in den verschiedenen Stadien ihres Lebens (Jugend, Mutter, Alter) berichten. Zu der Funktion des dichterischen Selbstlobs, welche die Frauenlieder Reinmars erfüllen können, vgl. INGRID K A S T E N : Weibliches Rollenverständnis in den Frauenliedern Reinmars und der Comtessa de Dia. GRM 37 (1987), S. 131-146. Zur Pastourelle in der Lyrik der Trobadors vgl. auch D I E T M A R RLEGER: Die altprovenzalische Lyrik. In: Lyrik des Mittelalters I (s. Anm. 8), S. 343-355. Schon der knappe Überblick KÖHLERS im Grundrifi (s. Anm. 6) zeigt, daß die Pastourelle der Kritik und der Klärung unterschiedlichster Fragen und Probleme diente.

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AUDIAU

38

Ingrid

Kasten

für erforderlich hält: »Man erfaßt den Sinn von Gavaudans Gedicht vielleicht am ehesten, wenn man sich das Mädchen gleichsam als Hirtin aller bisherigen Pastourellen mit der Summe der Erfahrungen aller ihrer Vorgängerinnen vorstellt [•••]«46 Alle vorgängigen Konkretisierungen der pastorela sollen also in die Deutung von Gavaudans Pastourelle eingebracht werden, den KÖHLER übrigens als Schüler Marcabrus ansieht, obwohl Gavaudan die von Marcabru so entschieden geforderte Respektierung der Standesgrenzen keineswegs wahrt. 47 Mit der Annahme, daß in einer Textreihe jeder Text den anderen gleichsam interpretiert, argumentiert auch KATHRYN GRAVDAL - wenngleich mit anderen Vorgaben - im Blick auf die altfranzösische Lyrik. GRAVDAL verweist darauf, daß hier in 38 von 160 Pastourellen die sogenannte »Liebesbegegnung« als eine Vergewaltigung dargestellt wird, die durch rhetorische Strategien verharmlost und damit annehmbar gemacht werden soll.48 Methodisch von einem Konzept der Intertextualität ausgehend folgert sie, daß die Vergewaltigung die »narrative norm«, das gattungskonstitutive Element, der altfranzösischen Pastourelle sei.49 Die Texte, in denen keine Vergewaltigungen geschildert werden, eine beträchtliche Mehrheit also, müssen, so GRAVDAL, von dieser Norm her gesehen werden. Daraus ergibt sich für sie, daß die Funktion der Mehrheit der Texte darin besteht, die in einer Minderheit geschilderte Gewalt gegen Frauen vorzubereiten oder zu verteidigen.50 Die These, daß es in der Adelsgesellschaft an den Höfen des Mittelalters eine Akzeptanz von sexueller Gewalt gegen Frauen gab, die im Medium der Pastourelle einen institutionalisierten Ausdruck finden konnte, ist durchaus plausibel. Wenn daraus aber eine Gattungsnorm abgeleitet wird, die überall dort, wo sie nicht erfüllt ist, als eine »Leerstelle« erscheint, die nach der angenommenen Norm ausgefüllt werden muß, wird das Prinzip der Intertextualität zu einem circulus vitiosus. Es steht zwar außer Frage, daß die Pastourellendichter wie andere Literaten auch mit den Gattungserwartungen ihrer Rezipienten spielen. Aber sie tun dies nicht nur, indem sie diese Erwartungen unerfüllt lassen, sondern auch, indem sie die Erwartungen durchbrechen, negieren oder überschreiten und damit neue Gattungserwartungen produzieren. 51 Mit einem normativen Gattungsbegriff, wie immer er definiert wird, ist dieser Prozeß der Kommunikation nicht zu beschreiben. Die Annahme, daß es eine 46

KÖHLER (S. A n m . 6 ) , S . 3 4 0 .

47

Vgl. A U D I A U (S. Anm. 35), Nr. III und IV. Gavaudan entfaltet in seinen Pastourellen zwar Momente der Idyllik, aber sie sind im Blick auf den »höfischen« Diskurs über die Liebe als Kompensation im Lied selbst inszeniert. Unter anderem deshalb stehen sie den pastourellenartigen Liedern Walthers von der Vogelweide nicht so nahe, wie KÖHLER annimmt. KATHRYN GRAVDAL: Camouflaging Rape: The Rhetoric of Sexual Violence in the Medieval Pastourelle. Romanic Review 76 (1985), S. 361-373. Kritik an dem statistischen Befund und den Schlußfolgerungen GRAVDALS übt WILLIAM D . PADEN: Rape in the Pastourelle. Romanic Reviews 80 (1989), S. 331-349. Es ist gleichwohl, das betont auch P A D E N , ein Verdienst G R A V DALS, auf einen in der Forschung bislang eher vernachlässigten Aspekt aufmerksam gemacht zu haben.

48

49

GRAVDAL ( s . A n m . 4 8 ) , S . 3 6 9 .

60

GRAVDAL (S. Anm. 48), S. 369: »The songs in which rape does not occur prepare and justify the sexual violence in the others [...] The corpus functions intertextually [...]«. JAUSS (S. Anm. 1) hat dies mit den Begriffen der fortgesetzten Horizontstiftung und Horizonterweiterung beschrieben. In der Variation von Gattungsformen oder Gattungstypen entsteht

51

Die Pastourelle im Gattungssystem

der höfischen Lyrik

39

»echte« oder »eigentliche« Pastourelle und eine entsprechend einsinnige Funktion der Gattung gegeben habe, erscheint daher wenig hilfreich. Ein Zusammenhang zwischen der Entsinnlichung der Liebeserfahrung in der Kanzone und bestimmten Formen der Pastourelle mag bestehen. Es ist immerhin auffallend, daß das Zentrum der Pastourellenproduktion im Wirkungsbereich der Trouvères lag, die offensichtlich in besonderem Maße dem Prinzip der poésie formelle verpflichtet waren. Aber dieser Zusammenhang ist keineswegs zwingend und überall gegeben. Ebenso wenig läßt sich die Präsenz oder das Fehlen der Gattung allein mit dem Hinweis auf »Leerstellen« im Gattungssystem erklären. Dies gilt auch für die deutsche Lyrik des Mittelalters. Pastourellen im eigentlichen Wortsinn gibt es hier überhaupt nicht, wohl aber Lieder, die im Ansatz nach einem analogen Prinzip konstruiert sind. Lieder dieses Typs sind allerdings erst vergleichsweise spät bezeugt. Sie bieten schon aufgrund ihrer Semantik (die Flachsschwingerin, die Wasserträgerin, die Jetterin etc.) weniger Anhalt für Anschluß- und Ausgestaltungsmöglichkeiten als die Pastourelle und müssen sich gattungsgeschichtlich nicht unbedingt von dieser herleiten lassen. Welche Probleme sich aus der Argumentation mit einem normativen Gattungsbegriff ergeben, soll abschließend noch kurz an den Liedern Walthers erörtert werden, in denen pastourellenhafte Elemente gesehen worden sind. Dabei handelt es sich um zwei Texte, die einer ebenso fragwürdigen wie zählebigen germanistischen Konvention zufolge die in mancher Hinsicht irreführende Bezeichnung »Mädchenlieder« tragen. In beiden Texten thematisiert Walther die Erfahrung von Sexualität. 52 Im sogenannten >Lindenlied< verwendet er dazu die Perspektive einer Frau, die aus der Erinnerung von dem mit einem Freund genossenen Liebesglück berichtet; in Nemt, frowe, disen kränz gestaltet er eine solche Erfahrung mit anderen Mitteln: nicht als Erinnerung, sondern als Traum, der in die »Wirklichkeit« einer Tanzsituation übergreift und durch den das Liebesglück im Nachhinein zur Fiktion erklärt wird, und nicht aus der Perspektive einer Frau, sondern aus der Sicht eines Mannes. Liest man die Lieder vor dem Gattungshorizont der Pastourelle, so fällt auf, daß der Standesgegensatz zwischen Mann und Frau fehlt. Im Blick auf die sogenannte »klassische« Pastourelle hat WAPNEWSKI daraus geschlossen, daß Walther die »echte Liebe als legitimes Mittel zur Durchbrechung dieser [ständischen] Schranken« betrachtete 53 und in Nemt, frowe, disen kränz seinem Protest gegen die ständisch exklusive Hohe Minne Nachdruck verleihen wollte. Konnte aber ein

52

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dabei etwas je Neues, während Teilelemente und Teilfunktionen des Vorgängigen aufgehoben werden. Vgl. Die Geschichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von K A R L LACHMANN. 13. [...] Ausgabe neu hrsg. von H U G O K U H N . Berlin 1965, L 39,11 und 74,20. Zur Kritik an dem Begriff der »Mädchenlieder«, der sich in der Forschung für eine (im einzelnen unterschiedlich weit gefaßte) in sich höchst heterogene Gruppe von Walthers Liedern eingebürgert hat, vgl. bereits INGRID BENNEWITZ: >vrouwe / magetLindenlied< wie das Carmen buranum 185 Ich was ein chint so wolgetan als »Frauenlied« konzipiert ist, und es gibt Gründe, die für die Priorität des Vagantenlieds sprechen.57 In dem Carmen buranum spielt der Standesgegensatz bereits keine besondere Rolle mehr; es erhält zugleich eine spezifisch vagantische Ausprägung der Figurenkonstellation, indem die Protagonisten als puella und musicus vorgestellt werden. Aber im Unterschied zum Carmen buranum ist im >Lindenlied< die Darstellung der Sexualität nicht mit Gewalt verbunden, und mit dem Standesgegensatz zwischen Mann und Frau läßt Waither auch das gattungskonstitutive Moment der Pastourelle hinter sich. So setzt das >Lindenlied< produktionsästhetisch die Struktur der Pastourelle voraus, ohne selbst noch eine Pastourelle zu sein. Auf der Grundlage der Pastourellenstruktur erschließt Walther dem Minnesang auf diese Weise etwas qualitativ Neues, eine positive Möglichkeit, über Sexualität zu sprechen, und damit einen literarhistorisch neuen Erfahrungswert von Liebe jenseits der Dichotomie von Hoher und Niederer Minne. Gerade dies könnte den Verzicht auf eine Markierung des Standesgegensatzes erklären. Die hier nur an einigen Beispielen skizzierten Probleme, die sich im Blick auf die Pastourelle und ihre Stellung im Gattungssystem der höfischen Lyrik ergeben, sind weder mit einem normativen Gattungsbegriff noch auch dadurch zu lösen, daß den Pastourellen ein gattungsspezifischer Status abgesprochen wird. Die Ausdifferenzierungen der Pastourellenstruktur und ihre Funktionen lassen sich allenfalls beschreiben, wenn das gattungskonstitutive Element in einer polyvalenten, in der Figur der Hirtin codierten und für verschiedene Besetzungen offenen semantischen Struktur gesehen wird, die als produktiver Kern fungiert, der erst im Zusammenwirken mit anderen literarischen Elementen konkrete Konturen erlangt, der aber auch gleichsam >überschritten< werden kann, so daß neue Gattungsformationen entstehen.

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In der Vagantenlyrik ist die Pastourelle als Gattung fest etabliert. Auch ist die Zugehörigkeit von CB 185 zu dieser Gattung noch deutlich erkennbar. Im deutschen Minnesang läßt sich dagegen kein Text finden, der Walther als Modell für das >Lindenlied< gedient haben könnte.

CHRISTOPH M Ä R Z ( E r l a n g e n )

Walthers Leich und das Carmen Buranum 60/60a Überlegungen zu einer Kontrafaktur

Dem Germanisten JOHANNES A. HUISMAN gelang in seiner 1950 erschienenen Dissertation die Entdeckung, daß der Leich Walthers und das lateinische Liebeslied CB 60 Captus amore gravi derselben formalen Struktur sich verpflichten, daß also das eine Stück ein Kontrafakt zum anderen ist. 1 Wir werden davon ausgehen können, daß solche Baugleichheit ihre Wirksam- und Wirklichkeit nicht oder nicht nur in einem Abzählen von Versen und Hebungen, sondern in gemeinsamer musikalischer Gestaltung hatte, auf die in diesem Stück aber nicht einmal mehr ein paar für uns unleserliche Neumen deuten. HUISMAN konnte zudem zeigen, daß an einigen Stellen enge Berührungen von Vorstellungsinhalten beider Texte stattfinden, auch, daß beide Stücke gelegentlich in ähnlicher Weise mit Worten und Reimen spielen. Mit der Gleichheit des Baus der beiden Werke und ihrer allusiven Verknüpfung stellt sich uns ihr Verhältnis als ein besonderes von Erstling und Gegenstück dar, weshalb man, folgte man einem Vorschlag WALTHER LIPPHARDTS2, diese Kontrafaktur oder Tonübernahme genauer bestimmen könnte als Parodie, in jenem hergebrachten Sinne, der über ein zwischen den beiden Stücken herrschendes polemisches Verhältnis noch nichts aussagen muß. Doch soll es hier nicht vorrangig um die Abgrenzung dieser Bezeichnungen voneinander gehen, die je verschiedene intertextuelle Referenzen bergen - dem neuen Wein sind die alten Schläuche kaum je ganz gleichgültig. An den genannten beiden Werken möchte ich der Frage nachgehen: Was heißt das, wenn festgestellt werden kann, daß ein alter Text hie und da in einem neuen durchschimmert? Bot er, als Vorlage des Parodisten oder in seiner Erinnerung, Notanker, wo ihm Einfälle ausblieben, oder sollte das Alte im Neuen als dessen Tenor oder Generalbaß mitgehört werden, und dann: in welcher Weise mitgehört? Es bleibe dabei noch offen, welches der beiden Stücke, Walthers Leich oder die lateinische Sequenz aus der Sammlung der Carmina Burana 3 , das Kontrafakt zum Artefakt ist. Über 1

2

3

J O H A N N E S A L P H O N S U S HUISMAN: Neue Wege zur dichterischen und musikalischen Technik Walthers von der Vogelweide. Mit einem Exkurs über die symmetrische Zahlenkomposition im Mittelalter. Academisch Proefschrift, Utrecht 1950 [auch: Studia litteraria Rheno-TVaiectina I], S. 66-77. Es finden sich dort beide Texte nebeneinander abgedruckt und ihre Parallelen im Druck hervorgehoben. W A L T H E R L I P P H A R D T : Über die Begriffe: Kontrafakt, Parodie, Travestie. JbLH 12 (1967), S. 104-111. Der Entflechtung der Vielfalt von Bezeichnungen wie Parodie, Travestie, Kontrafakt, Palinodie und Verwandtem für die Literatur der Neuzeit haben sich gewidmet T H E O D O R V E R W E Y E N und G U N T H E R W I T T I N G : Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz 1987 (Konstanzer Bibliothek Band 6). Anders als L I P P H A R D T reservieren sie der Parodie die Funktion der »Herabsetzung der Vorlage mittels einer Komisierungsstrategie« (S. 49). Zitiert werden die Ausgaben: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von K A R L LACHMANN. 1 3 . , aufgrund der 1 0 . von C A R L VON K R A U S bearbeiteten Ausgabe neu hrsg.

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Christoph März

die historische Reihenfolge der beiden Werke liest man hier und dort Verschiedenes. Welches der beiden sich die Form des andern borgte und einiges von dessen Inhalt weiterklingen ließ, scheint mir nicht von vorneweg ausgemachte Sache zu sein. Ich spreche übrigens im folgenden vom >Leich< (Walthers) einerseits, der (lateinischen) >Sequenz< anderseits einzig der Deutlichkeit wegen. Nur einer ersten flüchtigen Begegnung mit der Sequenz dürfte verborgen bleiben, daß dieses Lied sich durch einen Zug entscheidend vom Rest der Liebeslieder absetzt, die den umfangreichen Mittelteil der Carmina Burana bilden. Denn es inszeniert sich darin nicht, wie so oft sonst, ein glücklich Liebender, auch nicht einer, der um Gewinn, Erhalt oder Erneuerung seiner Liebe bangt und bittet, sei er auch bislang abgewiesen worden, sondern einer, der seine Geliebte verloren weiß, verloren an einen andern. Er spricht sie an als eine fidem promittens alteri (60, 4)4, die auf iam alterius benivolentiam (60, 5C) brennt und lubrica contagia (60, 10), »schlüpfrige Kontakte« (VOLLMANN) pflegt; kurz: als prostibulum (60, 10), Hure. Das ist, bei aller die Carmina Burana durchziehenden Libertinage des Ausdrucks wie der Vorstellungsinhalte, jedenfalls unkonventionell. Der abgewiesene Liebhaber, der hingehaltene Liebhaber, sie nähren sich von der mit Hoffnung getränkten Erinnerung, ihre Bitterkeit ist mit Süße durchmischt; dem betrogenen Liebhaber indes bleibt Ellies Erinnern unvergoldet, und so wünscht er der Treulosen den Galgen: prostibulum patibulo iam meruit piari (60, 10). Diesen Anwürfen ist nun zweitens aber ein Frauenpreis zugesellt, der einen denkbar harten Kontrast schafft zu der Beschuldigung, die Geliebte sei untreu geworden und habe ihre Unschuld an einen andern weggegeben. Der Uberschwang dieses Lobs läßt die Integrität der Geliebten rein erstrahlen, läßt sie als die Jungfrau schlechthin glänzen. Sie wird apostrophiert als virgo inclita (60, 2 d ), als intemerata virginum (60a, 10), und nimmt man dann noch die Vergleiche wie den ihrer Schönheit mit dem Morgenstern - matutini sideris iubar preis (60a, 6 a ) - , mit hinreichend bekannten Blumen - et lilium rosaque periere (60a, 6a) - und die Anrede proles regia (60a, 5 a ) hinzu, wird man gewahr, woher diesem Lob der Wind weht: Es sind marianische Attributionen, die der Geliebten da zugedacht werden, auf ewig: Eher werde der Ätna im Meer versinken quam desinat, virgo, tuus honor laudari (60a, 7). Herkunft und Tradition dieser marianischen Attribute, alle Gemeingut der lateinischen Sequenzen- und Hymnenpoesie, hier im einzelnen nachzuweisen, erscheint mir nicht von HUGO KUHN. Berlin 1965. - Carmina Burana. Mit Benutzung der Vorarbeiten WILHELM MEYERS k r i t i s c h h r s g . v o n ALFONS HILKA u n d OTTO SCHUMANN. I. B d . : T e x t , 2 . Teil: D i e

Liebeslieder. Hrsg. von OTTO SCHUMANN. Heidelberg 1941. Bei dieser Zitierweise können die beiden Teile CB 60 und CB 60a voneinander unterschieden werden. Die Übersetzungen werden gegeben nach: Carmina Burana. Texte und Ubersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift u n d e i n e m A u f s a t z v o n PETER u n d DOROTHEE DIEMER. H r s g . v o n BENEDIKT KONRAD 4

VOLLMANN. FVankfurt am Main 1987 (Bibliothek des Mittelalters Bd. 13). VOLLMANN, Ausgabe (s. Anm. 3) übernimmt aus der Handschrift das mir unverständliche fidens. In seiner Einzeluntersuchung der Sequenz setzt er, seinen Vorgängern gleich, die Konjektur fidem-, vgl. BENEDIKT K. VOLLMANN: Carmen Buranum 60/60a. In: Scire litteras. Forschung e n z u m m i t t e l a l t e r l i c h e n G e i s t e s l e b e n . Hrsg. v o n SIGRID KRÄMER u n d MICHAEL BERNHARD.

München 1988 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhh. NF, H. 99), S. 409-422, hier S. 418.

Walihers Leich und das Carmen Buranum 60/60a sinnvoll, hat doch meine Suche nach einem geschlossenen Vorbild nichts erbracht. Diese Anklänge lassen sich, wenn ich recht sehe, nicht in einem gemeinsamen, einem literarischen oder liturgischen Brennpunkt bündeln. Daß aber in Stropheninitien wie gaude, proles regia (60a, 5 a ) oder (hec,) ecce, virgo inclita (60, 2 d ) Maria gewidmete Adorationsgesänge anklingen, ist, wie ich meine, kaum zweifelhaft. 5 Dieses doppelte Gesicht, das in diesem Gedicht der Frau geliehen wird, wenn man so will: die darin ausgebreitete Spannung zwischen AVE und EVA, die sich da in ein und derselben Frauengestalt darstellen, erscheint mir Eds das Besondere dieser Strophen. Und ich frage mich, wie sich hier das vom Dichter zum Sprechen gebrachte Subjekt definieren mag. Der abgewiesene Liebende, der sich einst der Geliebten sicher wähnte, der noch immer Liebende, der denselben Atemzug auf das Lob der hehrsten Jungfrau wie auf ihre Beschimpfung als Hure verwendet, das ist, als diese Gedankenfigur in einer Person zusammengefaßt: Joseph, aus dem Geschlechte Davids, der »Nährvater Jesu«, wie ihn das Lexikon für Theologie und Kirche bezeichnet. Er ist es, der den Widerspruch zu ertragen hat, die hehrste Jungfrau zu lieben und sie schwanger zu sehen mit einem Kind, dessen Vater er nicht ist; nur er kann Maria beschuldigen, ihn gegen einen anderen eingetauscht zu haben, er ist der verschmähte, doch rechtmäßige sponsus der Jungfrau. Hierher gehörte dann der Vorwurf des gebrochenen Verlöbnisses: federa discerpis (60, 14b). Daß in dieser Sequenz der Verschmähte sich nicht nur als sein Leid Klagender geriert, sondern als ein Kläger, der seinen Anspruch mit einer gleichsam juristischen Ausdrucksweise zu befestigen hofft, daraufhat B . K . VOLLMANN das Augenmerk gelenkt.6 Mit auffälliger Parallelität wird auch in der theologischen Dogmatik von früh an das Wesen der Ehe zwischen Maria und Joseph als ein rechtlich kompliziertes verhandelt. 7 Und von hier aus erst, der Perspektive Josephs, erschließt sich uns vielleicht auch eine Stelle des Textes, wo sich der Dichter, wie mir scheint, bestimmen ließ, Joseph ein klein wenig mehr hervorlugen zu lassen, und die, mir wenigstens, sonst unverständlich bliebe. Es heißt da: Ex fraudibus alternis et ignominia cur, emula, superbis bifrons, ingloria? (60, 14a)8 »Warum du doppelzüngige, ehrlose Buhlerin, bist du stolz auf deinen doppelten Betrug und deine Schande?« (VOLLMANN) Wie kommt es, ohne daß man vorher oder nachher Eingehenderes erführe, zur Rede von den fraudes alternae, die ja wohl nicht auf den bloß wiederholten Betrug, dessen Iterum, sondern auf sein Dupliciter abzielen? Doch schwerlich anders, als daß hier angespielt wird auf Marias Begegnung mit der ersten und dritten Person 5

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Die von HUISMAN (S. Anm. 1 ) , S. 7 4 konstatierten liturgischen Parallelen gehen über Punktuelles nicht hinaus. VOLLMANN, Carmen (s. Anm. 4), S. 416. Vgl. JOSEPH SEITZ: Die Verehrung des hl. Joseph in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis zum Konzil von Trient dargestellt von J. S. Freiburg/Br. 1908, S. 29-44. Zeichensetzung nach der Ausgabe VOLLMANNS (s. Anm. 3 ) .

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der Trinität in der Empfängnis. Ums rechte Verständnis der Rollen der an der Empfängnis Beteiligten wurde viel gerungen; und es läge nicht fern, aus den reichen Väterzitaten zu schließen, daß Maria in Josephs Augen ihn mit nicht nur einem anderen hintergangen hat. Man kann - etwa bei Petrus Damiani 10 - von Maria als der conjugata des Heiligen Geistes lesen, aber sie ist auch sponsa dei. In der Tat hat das Geschick Josephs frühzeitig schon zu einer über die dürre Behandlung des Evangelisten hinausführenden Episierung dieser Figur angeregt. Von ihm erzählt Matthäus, hier in der Ubersetzung Martin Luthers: »DJe geburt Christi war aber also gethan. Als Maria seine Mutter dem Joseph vertrawet war / ehe er sie heim holet / erfand sichs / das sie schwanger war von dem heiligen Geist. Joseph aber jr Man war from / vnd wolt sie nicht rügen / Gedacht aber sie heimlich zu verlassen. Jn dem er aber also gedachte / sihe / da erschein jm ein Engel des HERRN im trawm / vnd sprach / Joseph du son Dauid / fürchte dich nicht / Mariam dein gemalh zu dir zu nemen / Denn das in jr geborn ist / das ist von dem heiligen Geist.« (I, 17-20)11 Der Engel teilt Joseph mit, daß der Sohn durch den Geist empfangen worden sei, und wischt so Josephs Bedenken beiseite. Die Kürze der Darstellung dessen, was Joseph bei der Entdeckung der Schwangerschaft umtrieb - ein für seine Exegeten seit je klippenreicher Satz 12 fand später ihre Ausgestaltung, polemisch etwa in der durch Origines bezeugten und von ihm bekämpften Auffassung des Celsius, derzufolge Joseph als der hinters Licht geführte Ehemann Maria verläßt; 13 weiter in den apokryphen Kindheitsevangelien und vor allem dem Protevangelium des Jacobus, die dem inneren Zwist Josephs nachspüren wie auch seine Einsicht in die Botschaft des Engels hervorheben. 14 Auch in den aus den apokryphen Quellen schöpfenden volkssprachigen Marienviten wird der Verwirrung des Joseph gedacht, und dies in einer Ausführlichkeit, die nicht mehr nur dem Willen, das Wunder der Empfängnis herauszustreichen, sich verdankt, sondern die auch aus einem Mitfühlen mit dem Betrogenen zu fließen scheint; in Wernhers Marienleben gerät der vil alte brütdegen Joseph in Wut und Bestürzung, weil ihm klar ist: 9

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Dunkel bleibt mir der Sinn der Worte et ego te in soliloquiorum carmine canebam (CB 60a, 11). Sie scheinen auf etwas anspielen zu wollen, doch wohl kaum auf Augustinus? Virgo Dei Filio singulariter consecrata, specialiter sancto conjugata spiritui, Sermo XL in assumptione B. M. V. In: PL 144, Sp. 719. - Zu den überaus zahlreichen patristischen Auslegungen, in denen von Maria als der sponsa Gottvaters oder des Heiligen Geistes gesprochen wird, vgl. KARL WITTKEMPER: Braut, IV. Dogmatik. In: Marienlexikon. Hrsg. im Auftrag des Institutum Marianum Regensburg e. V. von REMIGIUS BÄUMER und LEO SCHEFFCZYK. 1. Bd. St. Ottilien 1988, S. 564-571, besonders S. 568-569. Das Neue Testament in der deutschen Ubersetzung von Martin Luther nach dem Bibeldruck von 1545 mit sämtlichen Holzschnitten. Studienausgabe. Bd. 1: Text. Hrsg. von HANS-GERT ROLOFF. Stuttgart 1989, S. 13. Zu den Erklärungsversuchen von Josephs Reaktion durch die Kirchenväter vgl. SEITZ (S. Anm. 7), S. 49-52. Vgl.: Des Origenes acht Bücher gegen Celsius. Aus dem Griechischen übersetzt von PAUL KOETSCHAU. I. Teil: Buch I-IV. München 1926 (Bibliothek der Kirchenväter [52]), I, 33 (S. 44f.). Evangelia apocrypha. Coli, atque rec. CONSTANTINUS DE TISCHENDORF. Editio altera. Leipzig 1876; vgl. auch EDGAR HENNECKE: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 3., völlig neubearbeitete Auflage hrsg. von WILHELM SCHNEEMELCHER. I. Band: Evangelien. Tübingen 1959, S. 319f.

Walthers Leich und das Carmen Buranum 60/60a

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ez was ein man böse der iuch alle hat betrogen: er was von himele niht geflogen, er kom geslichen üz der stete, an sîne tumplîche bete hât si ir muot gewendet [...]15 Sodann schließlich wird die Bestürzung Josephs szenisch ausgebreitet in mittelalterlichen geistlichen Spielen, in Frankreich wie in Deutschland 16 , worin Joseph die Gelegenheit zu theatralischer Klage des Betrogenen gegeben wird, und - das erscheint mir wichtig - Maria von Joseph bereits nicht als beliebige Frau, sondern als dame de devocion, als espose saincte - so im Passionsspiel des Arnoul Gréban 17 angesprochen wird. Auf diese Weise gerät der Kontrast zwischen ihrer Heiligkeit und ihrem vermeintlichen Fehltritt zum besonderen gestalterischen Mittel. Es läßt sich dieser Gedanke aber auch anders wenden, in einer Weise, die es nicht zwingend erfordert, die Person des Joseph und seine gelegentlich als mißlich betrachtete Rolle bei der Empfängnis Jesu in dem Carmen Buranum explizit mitzudenken; auch wenn ich nicht daran zweifle, daß auf sie angespielt wird. Bedenkt man nämlich das Bedürfnis, das sich der Kränkung des biblischen Joseph annimmt und sich dessen Enttäuschung nur zu gern ausmalt, kann sich erweisen, daß sich diese bestimmte historische Gestalt auch wieder herauskürzen kann; es spricht in diesem Lied, wenn man so sagen darf, der Joseph in jedem Marienverehrer. Denn so wahr einerseits Heinrich Heine in seiner >Romantischen Schule< über den mittelalterlichen Marienkultus bemerkt hat: Die katholische Klerisey hat überhaupt, wenn es die Madonna galt, dem Sensualismus immer einige Zugeständnisse gemacht. Dieses Bild einer unbefleckten Schönheit, die noch dabey von Mutterliebe und Schmerz verklärt ist, hatte das Vorrecht, durch Dichter und Maler gefeyert und mit allen sinnlichen Reitzen geschmückt zu werden. Denn dieses Bild war ein Magnet welcher die große Menge in den Schooß 15

Priester Wernher, Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen. Hrsg. von CARL WESLE. 2. Aufl. besorgt durch HANS FROMM. Tübingen 1969 (ATB 26), Vv. 3119-3350, hier 3254FF. Es er-

staunt, wie so viele deutschsprachige Viten Marias oder des kindlichen Jesus von dem Problem des Joseph angerührt waren; vgl. auch die Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica. Hrsg. von ADOLF VÖGTLIN. Tübingen 1888 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 180), Vv. 1638-1673. Zur Aufnahme der apokryphen Kindheitsgeschichte Jesu in die deutsche Literatur vgl. zuletzt WERNER J. HOFFMANN: Apokryphen, II. Literaturgeschichte, 1. Mhd. Apokryphen. In: Marienlexikon. 1. Bd. (s. Anm. 10), S. 195-197; sieh auch ACHIM MASSER: Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters. Berlin 1969, S. 144-149. - Für freundliche Hinweise danke ich Kurt Gärtner. 16

17

Vgl. CONNY VAN DEN WILDENBERG-DE KROON: Joseph ein Tölpel? Zur Josephgestalt in den

Weihnachtsszenen des spätmittelalterlichen deutschen und französischen geistlichen Dramas. Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 30 (1990), S. 127-137, insbesondere S. 128f. Le Mystère de la Passion d'Arnoul Gréban. Edition critique par OMER JODOGNE. Tome I. Bruxelles 1965 (Académie Royale de Belgique. Classe des Lettres. Mémoires. Collection in-4°. Deuxième série. Tome XII, fasc. 3 et dernier), S. 59. Das Motiv ist in deutschen Spielen weniger ausgeprägt, vgl. z. B. das »Hessische Weihnachtsspiel< aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert (Das Drama des Mittelalters. Hrsg. von R. FRONING. 3. Teil. Stuttgart o. J. [1891/92] (DNL 14,3), S. 902-939, hier S. 906f.).

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des Christenthums ziehen konnte. Madonna Maria war gleichsam die schöne Dame dü Comptoir der katholischen Kirche, die deren Kunden, besonders die Barbaren des Nordens, mit ihrem himmlischen Lächeln anzog und festhielt,18 - so treffend also Heine jenes Angebot an die Sinnlichkeit charakterisiert, das die Figur der Maria gewährt, so ist anderseits die solchermaßen sublimierte Sinnlichkeit nicht ohne Haken. Denn sind nicht alle, die den in Maria gelegten Begriff der weiblichen Reinheit und Schönheit lieben, zugleich auch Betrogene? Gerade weil sie so untadelig projizieren? Dies scheint mir das Besondere ein diesem Carmen Buranum zu sein, die Wahrheit dieser Parodie, die ebensogut als Liebeslied durchgehen kann, in dem der Liebende sich gleich einem Joseph vorkommen will - wie ja öfter in mittelalterlicher Lyrik Unsicherheit darüber bestehen kann, ob die erotische Atmosphäre auf Maria übertragen oder einer hienieden verehrte Dame gilt. Es scheint da einen breiteren Grenzstreifen zu geben, auf dem mit dieser Unentschiedenheit literarisch kalkuliert wird: indem entweder die Erotisierung Marias - genügend Ansätze bietet bereits das Hohe Lied - an einen kaum mehr der geistlichen Sphäre angemessenen Punkt getrieben wird, oder indem der Frauendienst sich der devotionalen Attitüde so weit bemächtigt, daß die geliebte eine Frau von der einen Frau, Maria, nicht mehr geschieden werden kann und soll.19 Bemerkt sei noch, daß nicht weit weg von unserer Sequenz sich das Carmen Buranum 77 befindet, das, wie dies PAUL LEHMANN festgestellt hat, marianische Hymnik parodiert, um ein zweifellos weltliches Mädchen zu besingen.20 Wie stellt sich aber nun das Verhältnis von Walthers religiösem Leich, in dessen Zentrum die Huldigung Marias steht, zu der Sequenz dar, historisch wie logisch? Die beiden Möglichkeiten des Verhältnisses, welches die beiden Werke zueinander eingegangen sein könnten, wie also das eine durchs andere hindurch weiterklänge, sind: 1. Die Sequenz ist das erstgeborene Stück. Dann mag man, mit B E N E D I K T K O N RAD VOLLMANN, auf den »westlichen« Charakter des Stücks hinweisen, wie das die es umgebenden Lieder als auch der Eigenname Glicerium offenbar werden ließen, und in ihm einen Import aus der Romania vermuten.21 Eine Vergewisserung erführe 18

Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von M A N F R E D W I N D FUHR im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Band 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Text, bearbeitet von M A N F R E D W I N D -

19

Von einer psychoanalytischen Seite her, mit C. G. JUNGS >AnimaWaltherus de Vogelweide vagusÖsterreichLeich< Waithers von der Vogelweide. In: Waither von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hrsg. von JAN-DIRK M Ü L L E R und F R A N Z J O S E F WORSTBROCK. Stuttgart 1989, S. 159-175. - Ein detailliertes Formschema des Leichs findet sich bei K A R L BERTAU: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. II: 1195-1220. München 1973, S. 1075f.

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der Bogen von dem immerwährenden Lob Gottes oder Marias zur Zeitklage über Unsitten der Kirche einige Spannung auszuhalten hat. Der zweite, jüngere Uberlieferungszweig des deutschen Textes mit drei eng miteinander versippten Handschriften sieht diese Form anders. Diese Handschriftengruppe - zusammengefaßt gewöhnlich unter der Sigle der einen Handschrift k32 - verfährt so, daß hier, die Form in C einmal als die ursprüngliche vorausgesetzt, der Leich zweigeteilt wird und die beiden Teile vertauscht werden. Der zweite Teil wird als eigenes Stück mit eigenem Titel dem ersten vorangesetzt. Der Schnitt erfolgt genau vor dem Mittelteil, so daß die Form entsteht: C B D und dann A B. Diese Umstellung könnte, dies hat H E I M O R E I N I T Z E R 3 3 ZU zeigen versucht, möglicherweise begründbar sein durch den Wunsch nach einer deutlicheren Akzentuierung des marianischen Lobs. Und sie wäre, wie die kurze Formanalyse zeigen sollte, sozusagen musikalisch sinnvoll, insofern die Zerlegung an einer alten Sollbruchstelle stattfand, die gewiß mit einem Wechsel des musikalischen Ausdrucks verbunden war; ja, diese Aufgliederung stützt geradezu die erschlossene Struktur des Aufbaus in C. Aber: Die neue Gliederung gründet in dieser Handschriftengruppe gerade nicht auf einer Umstellung von musikalischen Themenkomplexen, denn diesen Handschriften war, wie dies jüngst H E R M A N N A P F E L B Ö C K in seinem Buch über den Leich34 breiter darlegen konnte, musikalischer Vollzug ganz fremd geworden. Sie faßten den Leich, den sie hinter Konrads von Würzburg >Goldene Schmiede< setzten, wie diese als Lesestück die Uberschrift in k2 heißt hie svlle wir lesen ein lop vnde einen leich sitzen von vnser vrowen - und hatten ihre Schwierigkeiten damit, daß sich die gewünschten Vierheber nicht recht einstellen wollten. Das Auseinanderbrechen der alten Form möchte ich zwar nicht darin begründet, aber dadurch ermöglicht sehen, daß eine Vorstufe der Handschriftengruppe k um die Wiederkehr von melodisch Gleichartigem noch wußte, daß dieser Vorstufe die in der Musik gründende Tektonik des Leichs noch bewußt war; denn k selbst scheint das Verständnis für die Großform bereits abhanden gekommen zu sein. Die Folgerung liegt nicht fem, daß der Leich schon frühzeitig auf einem seiner Uberlieferungswege um seine große Form gebracht wurde, so als könne man mit demselben Baukasten statt des einen großen auch mehrere kleinere, handlichere Stücke verfertigen.35 32

Dies sind, jeweils mit den Walther-Siglen: k = Heidelberg, UB, Cod. pal. germ. 341; k 2 = Bibliotheca Bodmeriana Genf-Cologny, Cod. Bodm. 72, die »Kälocsaer Handschrift«; 1 = Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2677. Vgl. die Abbildungen der Handschriften in: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, M a t e r i a l i e n , M e l o d i e t r a n s k r i p t i o n e n . H r s g . v o n HORST BRUNNER, ULRICH MÜLLER, FRANZVIKTOR SPECHTLER. Mit B e i t r ä g e n von HELMUT LOMNITZER u n d HANS-DIETER MÜCK. Ge-

leitwort von HUGO KUHN. Göppingen 1977 (Litterae 7). - Meine Kollationierung des Leichs bestätigte nur den bekannten Befund, wonach 1 sicher eine Abschrift von k2 ist und k2 entweder aus k geflossen ist oder auf eine mit k gemeinsame Vorlage zurückgeht (k hat keinen Sonderfehler). 33

34

36

REINITZER (S. A n m . 31), S. 162.

HERMANN APFELBÖCK: Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte mittelalterlicher musikalischer »discordia«. Tübingen 1991 (Hermaea 62), S. 124f. Andere und merkwürdige, doch hier nicht zu erörternde Wege geht die deutsche geistliche Kontrafaktur von Walthers Leich, wie sie fragmentarisch zu Beginn der Jenaer Liederhandschrift

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In den Carmina Burana wahrt die Sequenz die gleichen Formbausteine in gleicher Folge wie der Leich nach C. Doch ist auch hier die Form als ganze zerbrochen, oder sie hat wenigstens einen Riß. Seit der Ausgabe von HILKA und SCHUMANN unterteilt man die Sequenz in zwei Stücke, in die Nummern 60 und 60a. 36 Während der erste Teil das von BENEDIKT KONRAD VOLLMANN so apostrophierte T h e m a

»Abrechnung mit einer Ungetreuen« 37 hat, singt der zweite Teil vornehmlich das Lob der Frau. Streng genommen gilt, was ich als die innere Spannung des Stücks formulierte, nur für den ersten Teil immanent und für das Verhältnis der beiden Teile zueinander; der zweite Teil CB 60a kennt die Verwünschung der Abtrünnigen nicht. Auch wenn es lockt, BURGHART WACHINGERS Wunsch zu erfüllen: »Das einfachste aber wäre zweifellos, wenn es künftiger Interpretation gelänge, die überlieferte Einheit von CB 60/60a auch inhaltlich zu rechtfertigen« - WACHINGER sah eine unüberbrückte Differenz zwischen der Treulosen und der Hochgelobten: »Um ein und dieselbe Geliebte kann es sich gewiß nicht handeln« 38 -, scheint mir doch eine Zweiteilung des Stücks weiterhin evident. Gewiß, die Maske des Joseph, wie ich sie zu skizzieren versuchte, wäre gerade geeignet, die scheinbare Dichotomie aufzulösen; indes bleibt auch einer Lektüre des Leichs, die die Hure und die Heilige vereinbaren kann, die Erfahrung einer Kluft zwischen CB 60 und CB 60a nicht erspart. Zu kraß schließt sie da an die Verwünschung der Nektarhauch der Venus an. Dieser Lektüre will sich der zweite Teil des Lieds eher als eine Art von revocatio darstellen, nicht unähnlich übrigens der revocatio, zu der auch Joseph nach seiner Zurechtweisung durch den Engel genötigt war. Die Niederschrift der Teile im Codex Buranus läßt sich von dieser Zäsur nichts anmerken, sie bietet die Stücke dem Auge als eins dar. Das Merkwürdige ist aber hier, daß der Einsatz des zweiten Liedes oder zweiten Teils nicht mit einer neuen Formgruppe zusammenfällt, sondern daß dieser Teil zehn Verse nach der Aufnahme des 2. Cursus einsetzt, inmitten einer langen Kette von vierhebigen Versen, mithin an einer wohl auch melodisch unprägnanten Stelle, wodurch vermutlich auch ein musikalischer Zusammenhang zerschnitten wurde. Darin liegt für mich ein ernstzunehmender Anhaltspunkt für die Vermutung, die Sequenz sei auf eine bestehende und also die Form des Leichs gedichtet worden. Mit seiner Gliederung, in der die schweren Langzeilen vom Typus 3- 3 das Ende eines Abschnitts bzw. des Leichs selbst bilden (5, 39ff. und 8, lff.), hat er der Sequenz Schlüssigkeit der Form voraus. Dann wäre hier wohl das vorausgesetzte Formbett dem lateinisch dichtenden Parodisten zu lang gewesen, und er hätte für seinen zweiten Teil neuen Atem geholt an einer Stelle, der er kein gesondertes Formmerkmal zukommen lassen konnte, weil ihm die Form vorausgesetzt war. Daß die Sequenz nicht in der auffälligen Weise

36

37 38

überliefert ist. Das Erhaltene läßt vermuten, daß die Form des Leichs in ihrer alten, durch C bezeugten Form bewahrt wurde, und daß die Vorlage, Waithers Leich, der Aufzeichung des Kontrafakts vorausging, wie dies BURGHAKT WACHINGER: Der Anfang der Jenaer Liederhandschrift. ZfdA 110 (1981), S. 299-306, eindrucksvoll darlegen konnte. VOLLMANN, Ausgabe (s. Anm. 3), hält diese Trennung in seiner Textausgabe nicht mehr aufrecht, gibt ihr aber im Kommentar recht (S. 1008). VOLLMANN, Ausgabe (s. Anm. 3), S. 1008. WACHINGER, Anfang (s. Anm. 35), S. 305.

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wie der Leich die formale Gliederung durch verbale Signale begleitet, wie dies bei Walther mit seinem nu zu beobachten war, mag für sich wenig zählen, gehört aber in diesen Zusammenhang. Gesetzt, die Sequenz sei eine listige Antwort auf Walthers Leich: In welcher zeitlichen Nähe zueinander dürfen wir uns die beiden Stücke entstanden denken? So gestellt, als eine der Datierung, erscheint diese Frage tot geboren, nicht zu beantworten. Aber sie verleitet mich doch dazu, zum Schluß von hier aus noch einen Blick über dieses eine Stück hinaus auf die literarhistorische Situation der Sammlung der Carmina Burana zu werfen und ihr eine Überlegung mit noch offenem Ausgang zu widmen. Hat sich in den Carmina Burana von Walthers Leich nur sein lateinisches Gegenbild erhalten, so ist doch das gewöhnliche Phänomen bekanntlich das, daß in dieser Handschrift lateinischen Liedern deutsche Strophen hintangesetzt sind, von denen wir die wenigsten mit einem Dichternamen verknüpfen können; die Mehrzahl sind Unica. Uber diese Verquickung von deutscher und lateinischer Lyrik und ihre Rätsel ist viel gehandelt worden, zuletzt und ausführlich von OLIVE SAYCE und BURGHART WACHINGER;39 und ich stehe nicht daran, den Schlüssel zu den noch ausstehenden Fragen gar fertig gefeilt zu haben. Als Gesamteindruck bleibt nach den bisherigen Untersuchungen ein schillerndes Bild bestehen: Auch wenn wohl mit guten Gründen das Gewicht zugunsten des Deutschen als der Ausgangssprache verschoben wurde, ist nicht strittig, daß die Tonübernahme oder die Kontrafaktur in beide Richtungen statthatte - wo nicht gar unsicher geblieben ist, welcher Richtung die größere Wahrscheinlichkeit zukommt. Daß es sich um einen wechselseitigen Austausch von Literaturen - und es geht ja um mehr als nur um den Unterschied der Sprachen gehandelt hat, legt mir nahe, versuchsweise einmal die Frage nach dem Prius factum beiseitezustellen. Die Beschäftigung mit dem Leich konnte vielleicht zeigen, wie schwierig und mit Unsicherheit beladen solche Urteile über Vor- und Nachbild sind. Es scheint mir, nicht nur aus Verlegenheit, geraten, den archivierenden Charakter der Liedersammlung des Codex Buranus einmal hinter dem zurückstehen lassen, was in ihm als ein lebendiger, als ein Produktionszusammenhang aufscheinen könnte. Daß die Handschrift eine Sammlung bietet, diese Feststellung duldet keinen Zweifel;40 aber ob alles, was hier nebeneinander seinen Platz gefunden hat, erst durch eine sammelnde Hand zusammengebracht wurde, ist damit nicht schon entschieden.41 Mir scheint auch denkbar zu sein, daß die Carmina Burana Zeugnis von einer Werkstatt, einer schola poetarum - ja und: cantorum nicht beiseite - ablegen, in der Dichten gelehrt, gelernt, geübt wurde; durchaus in zwei Sprachen, und durchaus 39

40

41

OLIVE SAYCE: The Medieval German Lyric 1150-1300. The Development of its Themes and Forms in their European Context. Oxford 1982; darin das Kapitel: The German Strophes of the Carmina Burana, S. 234-264. - BURGHART WACHINGER: Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana. In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hrsg. von HANS FROMM. 2. Band. Darmstadt 1985 (WdF 608), S. 275-308. Zur Datierung der Niederschrift der Carmina Burana innerhalb des Zeitraums zwischen 1217/1219 bis spätestens zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts vgl. zuletzt KARIN SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textbd. Wiesbaden 1987, S. 130-133. Diese Überlegungen beziehen sich selbstverständlich nur auf die jüngere Schicht der lateinischen Werke.

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in der den jeweiligen Sprachen anhaftenden Tradition, wie darin amor und minne konzipiert waren. Es gibt bei den mit deutschsprachigem Annex versehenen Stücken der Carmina Burana Indizien eben dafür, daß die Handschrift Zeugnis für eine Erprobung dichterischer Kunstausübung ablegen könnte, daß sie nicht so fertig ist, wie sie uns nun begegnet, sondern daß sich in ihr Experimente niedergeschlagen haben. Ich will es hier bei zwei eher andeutenden Argumenten belassen: Erstens: Die große Zahl der anderswo nicht überlieferten deutschen Einzelstrophen, denen man nicht anmerkt, daß sie den durch Parallelüberlieferung namhaft gewordenen Strophen an poetischer Substanz - die allenthalben kaum bedeutend zu nennen ist - nachstünde, kann zwar die Auffassung nähren, der Verlust an mittelhochdeutscher Lyrik sei relativ hoch anzuschlagen; sie kann aber auch zu der Vermutung führen, daß es mehr erste Strophen, dichterische Versuche gegeben haben könnte als gerundete Lieder. Das muß nicht heißen, daß die vielen deutschen Einzelstrophen der Carmina Burana schon immer so einsam waren, wie sie die Handschrift überliefert: Denn sie hielt wohl das lateinische Gut für literatur- und daher aufzeichungswürdiger. Zweitens: Bei der Durchsicht aller sorgfaltigen Untersuchungen der Carmina Burana und ihrer deutschsprachigen Zusatzstrophen, wo einmal der lateinischen, dann wieder der deutschen Lyrik das Recht der Erstgeborenen eingeräumt wird, bleibt als Gemeinsames nicht nur bestehen, daß die nehmende Sprache und Dichtungsweise gegenüber der gebenden jedenfalls nicht prinzipiell, durchgängig auszumachen ist - daß jeweils das Gewicht anders gelegt wurde, kann hier beiseite bleiben -, sondern auch, daß dieses Tertium sich recht strikt zusammenfassen läßt in der - von den beiden verschiedenen Sprachen allenfalls am Rande affizierten - Gleichheit der Formen; ich kann daraus kaum etwas anderes schließen, als daß diese »Tonübernahme« etwas Wesentliches, kein Akzidenz im Rätsel um die deutschen Strophen darstellt: kurz, daß uns die Handschrift Einblick in eine Kontrafaktur-Stube mit den verschiedenen Spielarten dieser Kunst gewährt. Daß solch ein Schulbetrieb gelehrten Späßen wie der Kontrafaktur des Waltherschen Leichs den Nährboden bot, käme mir dann nicht unwahrscheinlich vor. Ob der deutsch und lateinisch dichtende, spätere Marner so einzig ist?

JEFFREY ASHCROFT (St. Andrews)

Ohe ichz läze oder ob ichz tuo Zur Entstehung und Funktion des dilemmatischen Frauenmonologs (Reinmar, Walther und [Pseudo-]Hausen)

Am Ende der Hausen-Anthologie der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) steht ein in dieser Version dreistrophiges Frauenlied (MF 54,1-27), das wegen der divergierenden Uberlieferung in der Handschrift F und der umstrittenen Attribution wenig Beachtung gefunden hat. Doch besitzt das Lied als Beispiel für den keineswegs reich belegten Gattungstyp des »dilemmatischen Frauenmonologs« ein gerade durch die stark kontrastierenden handschriftlichen Versionen verstärktes, exemplarisches Interesse. Ich nehme es, zunächst in der C-Fassung, zum Ausgangspunkt folgender Skizze, die Entstehung und Funktion dieser Variante zum höfischen Minnelied zu klären versucht. Die Frau ist lyrisches Subjekt. Ob solche Frauenmonologe tatsächlich von Frauen vorgetragen wurden, oder ob der weibliche Part vom Minnesänger mimisch, etwa in der höhen stimme, realisiert wurde, ist nicht bezeugt. 1 Auch davon abgesehen, dürfte der Effekt der Aufführung paradox gewesen sein, denn das Publikum belauscht ein intimes Selbstgespräch, das seinem Wesen nach hätte geheim bleiben müssen. Nicht erst Walthers Lindenlied lehrt, daß auf die Verschwiegenheit der Nachtigallen nicht zu vertrauen ist. Im Frauenmonolog wird dem weiblichen lyrischen Ich ein fiktiver Privatraum für Selbstreflexion gewährt, die das höfische Publikum als mitteilbar im öffentlichen Sang anerkennt. Damit gewinnt die Frau eine allerdings ersatzweise vom männlichen Minnesänger vermittelte Kommunikationsfähigkeit, die mit derjenigen des Mannes in der Minne-Kanzone vergleichbar ist, freilich eine, deren Fiktionalität völlig transparent ist, solange die Frau nicht als vortragendes, geschweige denn als dichtendes Subjekt auftritt. 2 Gestaltet wird ein Konflikt, der sich spezifisch aus der Liebeserfahrung der Frau, ja der höfischen frouwe, ergibt. Ein Mann, der rehte staete bewiesen hat, verlangt den verdienten Ion ihrer Liebe. Sie liebt ihn mehr, als sie ihm bis jetzt erweisen konnte. Ihm Liebe zu gewähren, würde sie aber mit gesellschaftlichen und morali1

2

Vgl. V O L K E R MERTENS: Reinmars »Gegensang« zu Walthers »Lindenlied«. ZfdA 112 (1983), S. 161-177, hier S. 169; JAMES V. M C M A H O N : The Music of Early Minnesang. Columbia, South Carolina 1990 (Studies in German Literature, Linguistics and Culture 41), S. 20-21, 38-39. »Eine vornehme, adelige Troubadourin [...] trat an den deutschen Höfen nur in der Dichtung auf: Isolde in dem Tristan-Roman des Gottfried von StraBburg.« URSULA L I E B E R T Z - G R Ü N : Höfische Autorinnen. In: Deutsche Literatur von Frauen. Erster Band. Hrsg. von GISELA BRINKERG A B L E R . München 1988, S. 48f. Zu dem Vorschlag MÖLLENHOFFS, daß die unter den Namen Gedrut und Geltar überlieferten Strophen einer Spielfrau Gertrud zuzuschreiben seien, vgl. 2 V O L K E R MERTENS: Gedrut, Geltar. In: VL 2 (1989), Sp. 1135, 1187-1189.

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sehen Verboten konfrontieren. Sich diesen zu widersetzen, dürfte ihr die ere, ihm gar das Leben kosten. 3 Das fingierte Dilemma beruft sich auf ein doppeltes Bezugssystem. Es postuliert eine Gesellschaftsstruktur, die der Frau die Selbstbestimmung in Geschlechterrelationen abspricht und die den Verstoß gegen ihre Regelungen mit abschreckenden Strafen belegt. Andererseits wird vorausgesetzt, daß die gleiche Gesellschaft, in ihrer Punktion als rezipierendes Publikum der Liebeslyrik, die Frau als »Minneherrin« erkennt, die in diesem Rahmen privilegierten Status hat, da der an sie gerichtete ritterliche »Frauendienst« als Muster oder Metapher höfischer Sozialisation exemplarische Gültigkeit beansprucht. Im dilemmatischen Monolog erlebt und reflektiert das weibliche Subjekt die ungelöste Spannung zwischen den restriktiven Bedingungen der feudalen Gesellschaftsordnung und der Aufwertung der Frau in der höfischen Literatur. In der ersten Strophe unseres Liedes stellt sich die Frau als Opfer dieses ihr aufgezwungenen Dilemmas dar. Bis jetzt hat sie sich vor erotischem Engagement geschützt: den minen lip vil wol behüetet (54,3-4). Das klingt an Gottfrieds huoteExkurs im >TristanTristan< 17872-76) Die Liebe, der daz guote wip jetzt zu verfallen droht, kann vor den wol tüsent ougen am Hofe nicht verborgen werden (54,8-9). Berechtigt und zwingend ist die Liebe, weil sie gegenseitig ist; die bewiesene staete des Mannes verlangt und rechtfertigt ihre Hingabe (54,3-5). So scheint die Frau bereit, sich zum Entschluß aufzuraffen, gegen Verbot und Hindernisse ihre sexuelle Freiheit zu behaupten, bis sie vor dem ungeheuren Wagnis zurückschreckt: getorste ich genenden, so wolde ich im enden sine klage (54,14). Am Angelpunkt der Selbstdebatte, in der genauen Mittelzeile des Liedes, kommt der Umschwung: Furcht vor dem Verlust der sozialen und sittlichen ere (54,15-18), Furcht auch vor der Gefahr für den geliebten Mann (54,17), und das unlösbare Paradox, daß sowohl die Hingabe an die Liebe wie der Verzicht darauf ihr nur selbstzugefügtes leit bereiten (54,19-25), zwingen sie, ihre erotische Selbstbestimmung preiszugeben: ich wil hüeten min, ich engetar sin niht gewern. 3

(54,26-27)

Zu den sexuellen Praktiken und Normen der feudalen Gesellschaft und deren Spiegelung in der Literatur s. JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im Mittelalter. München 1986, Bd. 2, S. 558-569; WERNER RÖSENER: Die höfische Frau im Hochmittelalter. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von JOSEF FLECKENSTEIN. Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 171-230, hier S. 188-190, 205, 219-222.

Obe ichz läze oder ob ichz tuo

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Damit ist das Dilemma selbstverständlich nicht aufgehoben. Der Versuch, es zu lösen, ist gescheitert, und die Frau kehrt zur Ausgangsposition zurück, indem sie, ohne ihre Liebe zu verleugnen, weiterhin unter selbstauferlegter huote (54,4) leben und den Konflikt zwischen Liebe und Ehre, Neigung und Pflicht, unentschieden austragen will. Sie kapituliert nicht an ihre Ängste und Hemmungen. Vielmehr steht sie am Ende wie am Anfang dar als leidendes Opfer eines spezifisch weiblichen Konfliktes zwischen den Rollen, die ihr die sozialen und sittlichen Forderungen der feudalen Gesellschaft vorschreiben. Ihre Fähigkeit, die männliche Sexualität zu reizen, ihre eigene Sexualität, die sie als problematisch, aber keineswegs als bloß negativ erfährt, das in der höfischen Minnelehre anerkannte sittliche Potential ihrer Liebe, sind in gesellschaftlich gestatteten Lebensformen nicht realisierbar. Gattungstypisch bezeichnend in der C-Fassung des Liedes sind die Persona der Frau als Minneherrin, die formale Gestaltung ihrer Situation als dilemmatischer Kasus und dessen Thematisierung als internalisierter seelisch-sittlicher Konflikt, die ihr zu einer erhöhten kommunikativen Funktion als Vermittlerin höfischer Verhaltensmuster verhilft. Gegenüber den anderen vorhandenen Varianten des Frauenliedes im Minnesang vor 1200 hat der dilemmatische Monolog ein stärker ausgeprägtes Profil. Was INGRID KASTEN in ihrer Reclam-Anthologie von 1990 unter der Gattungsrubrik »Frauenlied« als Auswahlkorpus zusammenstellt, ist eine durchaus heterogene Sammlung von Liedern diverser Gattungstypen, von denen sie feststellen muß, daß »sich die Gattung des Frauenliedes zuallererst durch ein formales Moment, die Frauenrede, konstituiert und daher ungewöhnlich offen ist«.4 Von den 47 mittelhochdeutschen Texten der Anthologie sind knapp die Hälfte eigentliche Frauenmonologe, und auch diese weisen kaum kohärente, gattungskonstituierende, formale oder thematische Merkmale auf. Die Frau redet, tritt als fühlendes Subjekt und in handelnden Rollen überwiegend im Rahmen der objektiven Gattungen der Liebeslyrik auf, wie Tagelied und Pastourelle, wo ihr instrumentalisierte Rollen in situationsbedingten Darstellungen einer fiktiv inszenierten Liebeshandlung zugeteilt werden, oder im Wechsel und in Frauenstrophen, wo ihre Gefühle und Interessen als Ergänzung, Pendant, Kontrast zu der Liebeserfahrung des Mannes dienen. Die Artikulation der Liebe aus der Perspektive der Frau ist weitgehend auf lyrische Formen und Gattungsmuster angewiesen, oder auf andere Liedtypen hin offen, die die Frau in komplementäre oder untergeordnete Rollen und Funktionen verweisen. Selbst die eigentlichen Frauenmonologe, die bis auf die Ausnahmefälle der Witwenklagen Hartmanns (MF 217,14) und Reinmars (MF 167,31) ohnehin seit der Anfangsphase des Minnesangs selten werden, entstehen in deutlicher Abhängigkeit von dem männlichen Minnelied.5 Der dilemmatische Frauenmonolog hingegen ist vergleichsweise formal und thematisch ungewöhnlich geschlossen; er sticht von den zumeist sekundären Darbietungsformen der Frauenrede und der Frauenrolle vor allem dadurch ab, daß die Frau als profiliertes lyrisches Subjekt in einer ihr spezifischen, gattungskonstituierenden Situation auftritt. 4

5

FYauenlieder des Mittelalters. Übersetzt und hrsg. von INGRID KASTEN. Stuttgart 1990 (Reclams Universal-Bibliothek 8630), S. 24. Vgl. INGRID KASTEN: FVauendienst bei Troubadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Heidelberg 1986 (GRM Beiheft 5), S. 275-276.

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Diese im Ansatz sehr bedeutende gattungsgeschichtliche Innovation spricht man - wohl mit Recht - Friedrich von Hausen ab. 6 Nur die eine Handschrift C teilt das Lied Hausen zu; in F und p steht es anonym unter Texten Walthers, bzw. Walthers und Reinmars. Strophenform und Stil sprechen gleichermaßen gegen Hausen und eine Datierung vor der Wende zum 13. Jahrhundert. Wie entstand also der Gattungstyp des dilemmatischen Frauenmonologs? Direkte Vorbilder aus der romanischen Lyrik sind nicht nachzuweisen; nur Hartmanns Frauenmonolog MF 216,1 hat einige Gemeinsamkeiten mit den romanischen jeux-partis, die allerdings in Dialogform sind. 7 Von den Frauenmonologen der frühen, »donauländischen« Lyrik unterscheidet sich der dilemmatische Monolog andererseits dadurch, daß er in wesentlichen Punkten aus dem durch romanischen Einfluß geprägten Motivkomplex des Frauendienstes hervorgeht. 8 Innerhalb des mittelhochdeutschen Minnesangs weist das Pseudo-Hausensche Lied (in der C-Fassung) nun am deutlichsten Bezüge zu Frauenliedern Reinmars des Alten auf. CARL VON KRAUS beweist die »Unechtheit« des Liedes anhand der vielfachen formalen Mittel: Reimresponsionen, stilistische und wörtliche Entlehnungen, die der Verfasser anderen Minnesängern »abgelernt« haben soll. KRAUS führt dieses »Sündenregister« 9 an, um das ästhetische Delikt eines anmaßend-inkompetenten Nachdichters bloßzulegen, der Texte klassischen Ranges - vornehmlich Reinmars, allerdings aber auch des von KRAUS erfundenen Pseudo-Reinmars! - ungewollt travestierend nachahmt. Die wilde Jagd auf Anklänge und verdeckte Zitate in Texten zweifelhafter Attribution hat man als eine Schwäche der KRAUS'schen philologischen Methode und seiner elitären Kunstauffassung längst entlarvt. 10 Doch KRAUS hat im Grunde richtig erkannt, daß dieses Lied in einem engen intertextuellen Verhältnis zu den dilemmatischen Frauenmonologen Reinmars steht. 11 Daß Reinmars Frauenlieder die Priorität hatten, also das Gattungsmuster und die sprachlichen Realisierungsmittel für das Pseudo-Hausensche Lied abgaben, muß man nicht wie KRAUS axiomatisch aus der »klassischen« Überlegenheit Reinmars schließen. Als effektiver Schöpfer des dilemmatischen Frauenmonologs darf Reinmar gelten, nicht nur weil seine beiden Lieder in dieser Gattungsform zentrale Komponenten seiner Minneauffassung artikulieren, sondern auch weil sich nachweisen läßt, daß sie thematisch und formal aus einer inhärenten Dynamik seines Minnesangs ent6

CARL VON KRAUS: Des Minnesangs FYühling. Untersuchungen. Leipzig 1939, S. 127-132 (mit Hinweis auf die ältere Forschung).

7

KASTEN, Frauenlieder (s. Anm. 4), S. 240.

8

Dagegen W I L L I A M E. JACKSON: Reinmars Women. A Study of the Woman's Song (»Frauenlied« and »Frauenstrophe«) of Reinmar der Alte. Amsterdam 1981 (German Language and Literature Monographs 9): »Reinmar's >FVauenlieder< and >FVauenstrophen< belong to the tradition of the >Donauländische Lyrik< . The latter, in turn, belong to the international genre of the Woman's Song.« (S. 329)

9

10

11

K R A U S (s. A n m . 6 ) , S . 1 2 9 .

Vgl. schon H E R M A N N SCHNEIDER: Die Lieder Reinmars des Alten. DVjs 1 7 ( 1 9 3 9 ) , S . 3 1 2 - 3 4 2 , und grundlegend: FRIEDRICH M A U R E R : Die »Pseudoreimare«. EYagen der Echtheit, der Chronologie und des »Zyklus« im Liedercorpus Reinmars des Alten. Heidelberg 1966 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 1 9 6 6 , 1 ) , S . 2 8 - 3 1 . Vgl. im einzelnen K R A U S (S. Anm. 6 ) , S. 1 3 0 , der hier weitgehend auf die Nachweise B U R D A C H S , JELLINEKS, HALBACHS u . a . b a u t .

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stehen. Wie zuletzt INGRID KASTEN ausführlicher demonstriert hat, stehen seine dilemmatischen Frauenmonologe »in einem sorgfaltig geplanten Zusammenhang«, als Glieder in einer Sequenz, einer Liedkette, deren motivische und intertextuelle Verbindungen zu stark ausgeprägt sind, um mit der als ganzes sicher haltlosen Zyklus-Theorie CARLS VON KRAUS verworfen zu werden. 12

Es handelt sich wesentlich um zwei Motive: das in den Liedern MF 156,27 und 163,23 verkündete, selbstauferlegte swigen des Sängers, falls die geliebte Frau ihn nicht zu neuem, freudigem Sang auffordert und Anlaß gibt, und die in den Liedern MF 160,6,165,10 und 166,16 immer unverhohlener zum Ausdruck gebrachte, von der Frau heftig beanstandete Forderung nach sexueller Erfüllung, zumindest nach dem toerschen bi ligen in einer Probenacht, als ez von herzen si (167,9). Somit verlangt Reinmar in seiner fiktiven Doppelrolle als Sänger und Liebender Anerkennung und Lohn für seinen lobenden Sang und seinen auf erotischen Erfolg drängenden Minnedienst. Die Frau wird vor ein Dilemma gestellt und muß sich erklären. Aus der Inszenierung einer lyrischen Minnehandlung - ob wir diese als »Liebesroman« oder vorsichtiger als Liedersequenz in der Vortragssituation verstehen - wird die liedhafte Frauenrede punktuell neu motiviert und erhält konsequent eine neue Formgebung. Die Frau tritt in der Persona der höfischen Minnedame auf, die gezwungen ist, Wesen und Beschaffenheit wiplicher tugende und rehter güete zu reflektieren, und die die Grenzen der Vertretbarkeit des männlichen und minnesängerischen Werbens bestimmen soll.13 Der dynamische Ablauf der lyrischen Fiktion bewirkt die Entstehung einer den sich entwickelnden Anforderungen der Situation gemäßen Gattungsform. Zunächst äußert die Frau ihre Reaktion in Abwandlungen des aus älterer Tradition aufgriffenen Botenliedes. MF 177,10 (Sage, daz ich dirs iemer löne) beginnt als konventionelles Gespräch mit dem Boten des Liebenden, um aber in den beiden letzten Strophen in reflektierendes Selbstgespräch der Frau auszulaufen: die Analyse ihrer dilemmatischen Situation und des daraus entstehenden inneren Konfliktes obe ichz läze oder ob ichz tuo (177,33) - ist nicht mehr Botschaft an den werbenden Mann sondern interne Reflexion, die das Publikum belauschen darf. Das motivisch anschließende Lied MF 178,1 (Lieber böte, nu wirp also) hebt in der Tat das Botenlied auf: den Boten läßt sie nicht einmal zu Wort kommen und sie verbietet ihm schließlich, ihre Botschaft effektiv zu liefern: dün solt im niemer niht verjehen alles, des ich dir gesage. (179,1-2) Der Rest müßte eigentlich Schweigen sein. Die überkommene Form des Botenliedes erweist sich als nicht mehr tragfähig für die Selbstdarstellung der Frau, die sich nicht mehr mit unselbständigen, exemplarisch abweisenden oder unterwürfigen Rollen abfindet. Als Vehikel der inneren, vermeintlich verschwiegenen Auseinandersetzung mit 12

13

Siehe INGRID KASTEN: Weibliches Rollenverständnis in den Frauenliedern Reinmars und der Comtessa de Dia. GRM 37 (1987), S. 131-146, hier S. 133-137. Vgl. zum folgenden KASTEN, Frauenlieder (s. Anm. 4) und Rollenverständnis (s. Anm. 12). JACKSON (S. Anm. 8) versteht die Frauenfigur in den verschiedenen Frauenmonologen Reinmars als jeweils einmalige, für sich stehende Persona, deren Aussagen er mit überstark psychologisierender Tendenz auslegt.

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sich selbst, der Selbstreflexion, auf die sie ihr Recht geltend gemacht hat, schafft ihr Reinmar nun den reflektierenden Monolog. Reinmar liefert ein poetologisches Spiel: die Motivierung einer neuen Variante der Minne-Kanzone aus der fiktiven Entfaltung seiner höfischen Liebesgeschichte heraus. Das verleiht dem dilemmatischen Frauenmonolog von Anfang an ambivalente Züge, mit sich selbst konkurrierende Funktionen. Die Frau bricht aus der starren Pose der unbeweglichen Minnedame heraus, wird mündig, entfaltet und äußert eine vertiefte Dimension der Innerlichkeit. Das swaere spil der Minne, das Dilemma, ob sie die sexuelle Freiheit ergreifen will, die ihr die feudale Gesellschaft verbietet, teilt ihr das Recht und die Pflicht zu, die Grenzen höfischer Minne und höfischen Minnesangs zu bestimmen. Ihr Recht, zu sprechen, läßt sie darüber entscheiden, was der Mann zu ihr und vor al der werlte (MF 195,26) sprechen darf. Zum einen dient der Frauenmonolog zur Legitimierung von Reinmars minnesängerischer Persona. Das Auftreten der Frau, ihr freimütiges Bekenntnis ihrer Liebe, beantwortet die immer wieder von Reinmar zitierten Kritiker und Skeptiker, die die Echtheit seiner Gefühle und die wirkliche Existenz seiner Dame bezweifeln (z.B. MF 165,10, 166,16). Die wenn nicht Fleisch, so doch Wort gewordene Frau bestätigt die Liebe als gegenseitig erlebte Realität und rechtfertigt auch damit seinen Minnesang. Ohne ihre eigenen Gefühle zu verleugnen, vermag sie nicht, seine rede zu verbieten. Doch erkennt sie in vollem Bewußtsein, daß sie manipuliert wird, daß sie Opfer einer Erpressung ist: Dest ein not, daz mich ein man vor al der werlte twinget, swes er ml.

(MF 192,25-26)

Die imaginierte, wohl durch Reinmar selbst imitierte Frauenfigur darf selbst die Fiktion durchbrechen und erkennen lassen, daß sie ihre neue Mündigkeit dem Bedürfnis Reinmars verdankt, seine kontroverse Übersteigerung des lyrischen Frauendienstes und der Ansprüche des Minnesangs durch das Herbeizitieren der Kronzeugin zu verteidigen. Er »instrumentalisiert« das Frauenlied, wie I N G R I D K A S T E N zeigt, als Legitimierung seiner Auffassung höfischer Minne und Kunst. 14 Wenn wir annehmen, daß die mit bewundernswerter Einfühlung imaginierte Selbstanalyse der Frau von Reinmar selbst vorgetragen wurde, so muß diese Inszenierung völlig transparent gewesen sein und wohl nicht nur für moderne Begriffe eine ironische Wirkung erzeugt haben - vollends die der Frau in den Mund gelegte, doch vom Minnesänger selbst gesungene Beteuerung: ein also schöne redender man, wie möhte ein wip dem iht versagen, der ouch so tugentliche lebt, als er wol kan?

(193,5-7)

Es ist eine Ironie, die Gottfried von Straßburg wohl genossen hätte, der die Frau, die sich im Konflikt zwischen ere und Up bewährt, zum Ehren-Mann erklärt: wan swelh wip tugendet wider ir art, diu gerne wider ir art bewart 14

KASTEN, Rollenverständnis (s. Anm. 12), S. 137.

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ir lop, ir ere unde ir lip, diu ist niwan mit namen ein wip und ist ein man mit muote. (>Tristan< 17971-75) Für einen billigen Trick, eine durchsichtige Manipulation der angeblichen Selbsterfahrung der Frau, scheint Walther von der Vogelweide Reinmars Frauenmonologe gehalten zu haben. Seine Parodie L 113,3115 reduziert die inneren Konflikte zu schon müden Klischees und läßt die Frau zum Schluß den Mann mit demselben hyperbolischen Lob krönen, das Reinmar seiner Dame spendete, und das Walther im Schachlied L 111,22 als unzulässige Übersteigerung minnesängerischer fuoge travestierte: so hän ich im vil nähen eine stat in mime herzen geben, da noch nieman in getrat. si hänt daz spil verlorn, und er eine tuot in allen mat. (L 114,19-22) Für Walther gegen Reinmar Partei zu nehmen, ist allerdings eine Versuchung, der die Minnesangforschung allzu gern erliegt. Es wäre einseitig, mit INGRID KASTEN zu schließen, Reinmars Frauenmonologe hätten »lediglich eine komplementäre Funktion [...], die Aufgabe, die Auffassung des Mannes und des Minnesängers vom Frauendienst zu stützen«. 16 Im Vergleich zu der blassen Präsenz der belle dame sans merci in den Männerliedern (vor allem Reinmars) und zu den schematisierten Frauenrollen im Tagelied und in der Pastourelle (auch in Reinmars Frauenliedern der erotisch realisierten Liebe), verleiht er der Frau in den dilemmatischen Monologen ein wesentlich gesteigertes Maß an Selbsterkenntnis und psychologischer Vertiefung. Auch über die spezifische Manipulation der Frau im Interesse seiner künstlerischen Belange hinaus bleibt Reinmar in seinem Verständnis der Geschlechterrelationen und der weiblichen Sexualität den Anschauungen und Vorurteilen seiner Zeit verhaftet. Die Furcht der Frau vor ihrer eigenen sexuellen Natur, als ein wip, diu minnet und daz angestlichen tuot (192,30-31), die Unselbständigkeit, die sie den gesellschaftlichen Zwängen und der Gefährdung durch die Liebe hilflos preisgibt - der min huote, des waere zit (192,32) - , ihre Anfälligkeit für die verführenden Künste des Mannes - mir ist lieber, daz er bite, danne ob er sin sprechen lieze (187,9-10): in alledem verrät sich die männliche Perspektive, aus der sie gesehen wird. Trotzdem stellen Reinmars Frauenmonologe einen Versuch dar, Selbstverständnis und Mentalität der Frau zu imaginieren und zu gestalten, der über die Norm und die gängigen Muster der lyrischen Tradition hinausgelangt. Bezeichnend ist es nicht zuletzt, daß in beiden Liedern die Unentscheidbarkeit des Dilemmas respektiert wird. So sehr das Wesen des Konfliktes und die psychologischen Motivierungen, die der Frau zugeschrieben werden, aus männlichpatriarchalischer Perspektive konzipiert sind: sie wird nicht zur endgültigen Entscheidung genötigt. Immer wieder scheint sie den Punkt zu erreichen, wo sie dem 15

Siehe CARL VON KRAUS: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin 1935, S. 406-409. Der Ton ist identisch mit Reinmars Lied MF 182,34.

16

K A S T E N , R o l l e n v e r s t ä n d n i s (s. A n m . 1 2 ) , S. 1 4 2 .

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Drängen des Mannes und ihrer eigenen Neigung nachgeben muß; immer weicht sie der Entscheidung aus in wiederholter revocatio. Auch in der Schlußstrophe des zweiten Monologs (192,25), in der sie zunächst protestiert, sie wolle lieber sterben, als seiner gewalt zum Opfer fallen, dann aber die Liebe als schicksalhafte Macht anerkennt und erneut seine Vollkommenheit in Minnedienst und Minneklage einräumt, auch hier erreicht sie tatsächlich nur einmal wieder die Schwelle der Hingabe und kommt damit an ihre Ausgangsposition zurück: zum swaeren spil, zur Qual der Frau, die nur angestlichen minnen kann. In einer Gesellschaft, deren hierarchische Strukturen sie zwangsläufig in die Lage des Machtlosen verweisen, die das Weibliche überhaupt in binären Oppositionen, als Widerspruch in sich selbst versteht, ist die Unentschiedenheit, die Unentscheidbarkeit der Frau im dilemmatischen Monolog, ihre Unfähigkeit, zwischen den polaren Frauenrollen der Minnelyrik zu wählen, doch paradoxerweise eine privilegierte Position. Das der Frau aufgezwungene Dilemma wird als ihre leidende Erfahrung der Unrealisierbarkeit der höfischen Liebe internalisiert. Wenn auch notwendigerweise nur in der vom männlichen Minnesänger konzipierten, alles andere als interesselosen Fiktion, schafft Reinmar das Modell einer authentischen femininen Selbstreflexion, eines vertieften weiblichen Selbstbildes. Das Identifikationsangebot des dilemmatischen Monologs dürfte vor allem darin bestanden haben, daß es jedenfalls im utopischen Entwurf der Frau einen Status verleiht, der demjenigen des Mannes in den gleichermaßen modellhaften Männerliedern des Minnesangs vergleichbar ist. Statt fernes Objekt des Minnediensts zu sein, wird die Frau zum selbstverantwortlichen Subjekt, das eine ihr als Frau eigene Erfahrung der Liebe reflektiert. Wie das männliche lyrische Subjekt Reinmarscher Prägung wirkt sie bei der Definition und der Infragestellung höfischen Verhaltens mit, das sie mit neuer Autorität verkörpert und artikuliert. Auch als nur fingierte Minne-Sängerin setzt sie dem literarischen Ausdruck höfischen Empfindens einen ideellen femininen Stempel auf. Damit trägt Reinmar bedeutend und produktiv zu einem Prozeß bei, der bezeichnend ist für die Evolution des Minnesangs und der Liebesliteratur um 1200: die stellvertretend von männlichen Dichtern betriebene Beförderung der Frau als Wert besitzendes und bestimmendes höfisches Wesen. Trotz allen Unterschieden und Kontroversen sind demnach Reinmars Frauenlieder als Parallelerscheinung zu denjenigen Liedern Waithers zu sehen, die in einer viel breiteren Skala von Gattungstypen ein neues Verständnis und neue lyrische Darbietungsformen der wipheit erproben. Beide leitevrouwen des Minnesangs tragen Gottfrieds Lob des saeligen wibes Rechnung: diu ir leben unde ir lip an die maze verlat, sich selben rehte liebe hat.

(>Tristan< 18018-20)

Ich komme zum Schluß auf den Hausen zugeschriebenen Frauenmonolog MF 54,1 zurück. In der Handschrift F ist das Lied anonym in einer grundsätzlich anderen Version als in C überliefert. 17 Die starken intertextuellen Bezüge zu Reinmars Frauenlie17

Siehe den Paralleldruck der beiden Fassungen in Des Minnesangs Frühling. Hrsg. von H U G O M O S E R und H E L M U T TERVOOREN, Stuttgart 3 6 1 9 7 7 , S. 9 4 - 9 6 . Zitate aus den Texten Reinmars und (Pseudo-)Hausens richten sich nach dieser Ausgabe.

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dern, die sich auch auf die beiden zusätzlichen Strophen der F-Fassung erstrecken,18 lassen vermuten, daß der unbekannte Verfasser Eeinmars dilemmatische Monologe kannte und zum Vorbild nahm. Absicht und Wirkung des Liedes in dieser Form sind aber offenbar nicht nur imitierend, sondern vielmehr parodistisch. Es ist eine travestierende Fortspinnung der - wie ich voraussetze - primären C-Fassung und vielleicht auch unmittelbar der Reinmarschen Vorbilder. Der Monolog wird umstrukturiert: die letzte Strophe der C-Fassung kommt nun als zweite der insgesamt fünf Strophen in F; die Frau scheint sich daher zunächst viel stärker abwehrend zu verhalten. Sie schließt die Möglichkeit einer erfüllten Liebe aus, noch bevor sie (wie in der zweiten Strophe der C-Version) ihre Liebe zum Mann eingesteht. Das Geständnis bringt sie dann im Aufgesang der dritten Strophe. Jetzt, an der genauen Mittelachse dieser fünfstrophigen Fassung, kommt die Peripetie. Statt sich aber auf das ungeheure Wagnis der Minne zu besinnen (in C: getorste ich genenden...), mahnt die Frau den Liebenden plötzlich und völlig unvermittelt an Liebesfreuden, die sie schon mit einander geteilt haben: er sol gedenken an die stat mit vreuden alle tage, da ich in rehter liebe gar in umbevienc, unde er mich wider. da lac alle sorge nider, unser wille dö volgienc. (54,14-18) Damit büßt das Lied als dilemmatischer Frauenmonolog jeden Ernst ein. Das Dilemma existiert in Wirklichkeit nicht. Die Frau ist schon restlos an die Liebe gebunden und schlüpft in die stereotype Rolle des gefälligen Sexualobjekts hinein: des ist gewert, wes sin herze von mir begert, und solt ez kosten mir den Up.

(55,3-5)

Reinmars dilemmatische Frauenmonologe haben noch weniger als Walthers Innovationen in verschiedenen Gattungsformen einen spürbaren Einfluß auf das Frauenbild in dem Minnesang des 13. Jahrhunderts ausgeübt. Lediglich zwei überlieferte Lieder bezeugen eine Reaktion auf seinen Versuch, die höfische Minnedame zum lyrischen Ausdruck ihrer inneren Konflikte zu verhelfen. Beide: Walthers Mir tuot einer slahte wille sanft und die F-Version des Pseudo-Hausenschen Liedes, sind parodistisch. Sonst bleibt die Darstellung der Frau im späteren Minnesang weiterhin, wenn nicht verstärkt, der Polarisierung ihrer Rollen als schematischer Wunschvorstellung höfischer tugende oder als Verkörperung der amoris intemperantia verhaftet. Daß Reinmars Versuch, ein ästhetisches Modell femininer Selbstreflexion zu schaffen, so gut wie folgenlos blieb, dürfte jedenfalls den relativen Wert seiner Leistung im Gattungstyp des Frauenmonologs unterstreichen.

18

Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Halle 2 1928, S. 62; Anm. 8), S. 266-269.

KONRAD BURDACH, JACKSON (S.

SILVIA RANAWAKE ( L o n d o n )

»Spruchlieder«* Untersuchung zur Frage der lyrischen Gattungen am Beispiel von Walthers Kreuzzugsdichtung

I Eine stattliche Anzahl von Poemen bekunden das lebhafte Interesse, das Waither von der Vogelweide und sein Publikum dem Kreuzzugsgeschehen entgegenbrachten. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß mehrere Gönner des Sängers an dem einen oder anderen Kreuzzugsunternehmen beteiligt waren. Auffallend jedoch ist die Vielfalt der Themen, Formen und Lied typen, die Walther zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Lyrik in Verbindung mit Kreuzzugsmotiven verwendet, auffallend auch die Tatsache, daß er gerade den Typ des Kreuzliedes fallen läßt, der bis dahin die deutsche Szene fast ausschließlich beherrschte: das Minnekreuzlied nordfranzösischer Provenienz. Für die Kategorisierung von Walthers Kreuzzugsdichtung ist die Untersuc h u n g FRIEDRICH

WILHELM

WENTZLAFF-EGGEBERTS weitgehend

maßgeblich

geblieben, der zwischen politischen Kreuzzugssprüchen einerseits und religiösen Kreuzliedern andererseits unterscheidet. 1 So spricht auch noch GERHARD HAHN in seiner Einführung zu Walthers Oeuvre von »politischen Sangspruchstrophen« und »religiösen Kreuzliedern«.2 Zur ersten Gruppe zählen Walthers >Ottenton< (L ll,6ff.) und >Kaiser Friedrichston< (L 10,lff.), die >Engelsschelte< des >Bognertons< (L 78,24ff.) und einzelne Spruchstrophen, zur zweiten das >Palästinalied< (L 14,38ff.), das >Kreuzlied< (L 76,22ff.), der »Aufruf zum Kreuzzug< (L 13,5ff. Owe waz eren sich eilendet von tiuschen landen) und die >Elegie< (L 124,lff.). 3 Diese Gruppierung ist allerdings nicht unproblematisch, geht sie doch an dem Zusammenspiel von religiösem Anliegen und politisch-propagandistischer Intention vorbei, das Walthers Kreuzzugsdichtung entscheidend prägt und das generell in dem Charakter der Kreuzzüge als religiöse und politische Unternehmen begründet ist. Außerdem entspann sich erst nach dem Erscheinen von WENTZLAFF-EGGEBERTS Untersuchungen eine lebhafte Diskussion zum Thema der Gattungen Lied und Spruch, die durch FRIEDRICH MAURERS »Liedthese« ausgelöst worden war. 4 In ih* Die Forschungsarbeit, die diesem Beitrag zugrundeliegt, wurde durch ein Research Grant der British Academy ermöglicht, deren Unterstützung ich hiermit dankbar bestätige 1 FRIEDRICH WILHELM WENTZLAFF-EGGEBERT: Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Studien zu ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit. Berlin 1960, S. 234-245. 2 2 GERHARD H A H N : Walther von der Vogelweide. Eine Einführung. München - Zürich 1989, S. 138-42. 3 Ausgabe: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von K A R L LACHMANN. 1 3 . , aufgrund der 10. von CARL VON KRAUS bearbeiteten Ausgabe neu hrsg. von HUGO KUHN. Berlin 1965. 4

FRIEDRICH M A U R E R

1954, 2 1964 S. III.

(Hrsg.): Die politischen Lieder Waithers von der Vogelweide. Tübingen

68

Silvia Ranawake

rem Verlauf, der zum Teil in dem von HUGO MOSER herausgegebenen Sammelband Mittelhochdeutsche Spruchdichtung (1972) seinen Niederschlag gefunden hat, wurden die Gattungskriterien schärfer herausgearbeitet, was es notwendig erscheinen läßt, WENTZLAFF-EGGEBERTS Gattungszuweisungen zu überprüfen. 5 Zugleich hat man berechtigte Zweifel geäußert, ob es überhaupt möglich sei, den »Spruch« eindeutig gegen das »Lied« abzugrenzen; schließlich spielen die Gattungskriterien des »Spruches« (belehrender Inhalt, relativ geschlossene Strophen) auch für die Gattung Lied eine Rolle, so daß man mit wechselseitiger Abhängigkeit der beiden Gattungen rechnen kann. 6 Letztlich erscheint zudem der Begriff »Kreuzlied« noch nicht eindeutig geklärt. Die Gruppe, die WENTZLAFF-EGGEBERT als »Kreuzlieder« bezeichnet, umfaßt Kompositionen sehr unterschiedlicher Art. Auch ist in der Forschung keine Ubereinstimmung darüber erzielt worden, welche Stücke Walthers tatsächlich als »Kreuzlieder« gelten können, 7 ja die Definition der Gattung Kreuzlied bereitet generell Schwierigkeiten. Die etwa von PETER HÖLZLE aufgestellte Forderung, ein »Kreuzlied« müsse in der Mehrzahl seiner Strophen vom Kreuzzug handeln, 8 wird nur von einem der von WENTZLAFF-EGGEBERT so benannten Poeme erfüllt (L 76,22fr.), geht jedoch an der öfters bei Waither zu beobachtenden Tendenz vorbei, das eigentliche Anliegen erst gegen Ende einer Strophe oder eines Liedes zu formulieren. Im Folgenden sollen die Kreuzzugsdichtungen Walthers (mit Ausnahme einzelner Spruchstrophen) noch einmal auf ihre Stellung im System der lyrischen Gattungen und auf ihre literatur-historischen Hintergründe befragt werden. Ich hoffe, auf diese Weise zur Klärung der Gattungsfrage beizutragen und, ausgehend von den an den Kreuzzugspoemen gemachten Beobachtungen, die Sonderstellung Walthers innerhalb der zeitgenössischen deutschen Lyrik neu zu sichten.

II Das Lied L 76,22ff Vil süeze wäre minne entspricht den von HÖLZLE aufgestellten Kriterien der Gattung Kreuzlied und wird auch durchgehend von der Forschung 5

Siehe insbesondere H E L M U T TERVOOREN: »Spruch« und »Lied«. Ein Forschungsbericht (1970). In: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung. Hrsg. von HUGO MOSER. Darmstadt 1972 (Wege der Forschung 154), S. 1-25; H U G O M O S E R : »Lied« und »Spruch« in der hochmittelalterlichen deutschen Dichtung, ebd. S. 180-204; K U R T RUH: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem, ebd. S. 205-226 (zuerst in: DVjs 42 (1968), S. 309-324); H E L M U T TERVOOREN: Spruchdichtung, mhd. In: 2RL4 (1984), S. 160-169.

6

TERVOOREN, Spruchdichtung (s. Anm. 5), S. 161.

7

Vergleiche etwa M A U R I C E COLLEVILLE: Les chansons allemandes de croisade en moyen hautallemand. Diss. Paris 1936, S. 108-128 (L 14,38ff. und 76,22ff.); so auch W E N T Z L A F F - E G G E B E R T (s. Anm. 1); H E R M A N N INGEBRAND: Interpretationen zur Kreuzzugslyrik Friedrichs von Hausen, Albrechts von Johansdorf, Heinrichs von Rugge, Hartmanns von Aue und Waithers von der Vogelweide. Diss. FYankfurt a.M. 1966 (L 14,38ff., 76,22ff., 124,lff.). P E T E R HÖLZLE: Das Gattungsproblem »Kreuzlied« im okzitanischen und deutschen Minnesang des 12. Jahrhunderts. In: Akten des V. Intern. Germanistenkongresses Cambridge 1975. Hrsg. L. FORSTER, H.G. ROHLOFF. Bern - Frankfurt 1976, Heft 2, S. 350-361; ders. Die Kreuzzüge in der okzitanischen und deutschen Lyrik des 12. Jahrhunderts. Das Gattungsproblem >Kreuzlied< im historischen Kontext. Bd. I. Göppingen 1980 (GAG 278,1), S. lOlf.

8

»Spruchlieder«

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als solches bezeichnet. Seine Memento-mori-Thematik und die an die Trinität und die Gottesmutter gerichteten Bitten und Lobpreisungen münden in immer neuen Anläufen in den Aufruf, das heilige Land zu befreien. Als kollektiv empfundene Gebetslyrik 9 schöpft das Lied aus demselben Gedanken- und Formelschatz wie die lateinischen Hymnen 10 , mit denen es sich auch formal berührt. 11 Seine Strophe, eine Folge von fünf identischen Vierzeilergruppen, die durch Schweifreim die Struktur A A B B B erhält, erinnert mit Mehrfachwiederholung und Reimhäufung an den Bau von Leichversikeln. Nahe steht dem >Kreuzlied< dann auch Walthers Leich, der gleichfalls um die Themen Sünde, Erlösung, Bitte um den Beistand der göttlichen Personen kreist. Daneben deutet sich eine Verbindung zum provenzalischen Kreuzlied an: die zeitgenössische Troubadourdichtung hat Strophen aus Kurzversreihen aufzuweisen, darunter ein Kreuzlied von Gaucelm Faidit (1185-1220), P C 167,51. 12 Das >Palästinalied< ist bekanntlich Kontrafakt eines provenzalischen Minneliedes, Lanquan Ii jorn son lonc en mai (PC 262,2) von Jaufre Rudel 13 , repräsentiert aber formal und inhaltlich einen anderen Typ als das >KreuzliedBordesholmer Marienklage< (15. Jahrhundert) zeigen. 14 (In die gleiche Rich-

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Nach H Ü B N E R berührt sich das Lied seinem Text nach, nicht aber formal (Drei- statt Vierheber) mit der Sphäre des Pilgerliedes: ARTHUR HÜBNER: Die deutschen Geißlerlieder. Berlin - Leipzig 1931, S. 250-258, besonders S. 250f. Dazu J O S E F FASCHING: Beiträge zur Erklärung der religiösen Dichtungen Walthers von der Vogelweide. Germania 22 (1877), S. 429-447, hier 431-434; zur literarischen Tradition: VOLKER LADENTHIN: Walthers Kreuzlied 76,22 vor dem Hintergrund mittelalterlicher Kreuzpredigten. Euphorion 77 (1983), S. 40-71. G Ü N T H E R MÜLLER: Strophenbindung bei Ulrich von Lichtenstein, ZfdA 60 (1923), S. 33-69, hier S. 43: Fortbildung des Hymnus Verbum bonum et suave, Analecta hymnica 54, S. 343346. Man vergleiche die eindeutig als »Kanzone« gebaute Strophe mit aus vier Dreihebern bestehenden Stollen, die Heinrich von Rugge für eine Kreuzliedstrophe, MF102,14ff. (Lied IV, Str. II) verwendet. SILVIA RANAWAKE: Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formentypologie von Minnesang und Trouverelied. München 1 9 7 6 (MTU 5 1 ) , S. 2 4 9 , 2 5 1 . - P C = A L F R E D P I L L E T : Bibliographie der Troubadours, ergänzt von HENRY CARSTENS. Halle a.S. 1 9 3 3 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Sonderreihe Bd. 3). Walther spielt vielleicht in der Eingangsstrophe auf Jaufres Text an; s. GISELA KORNRUMPF und BURGHART WACHINGER: Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU. Stuttgart 1 9 7 9 , S. 3 5 6 - 4 1 1 , hier S. 3 9 2 . Der Anfang erinnert aber auch an das Kreuzlied des Provenzalen Peirol, PC 3 6 6 , 2 8 siehe WILHELM NICKEL: Sirventes und Spruchdichtung. Berlin 1 9 0 7 (Palaestra 6 3 ) , S. 3 6 . Literatur zur Melodie in: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Hrsg. von H O R S T BRUNNER, ULRICH M Ü L L E R u.a. Göppingen 1 9 7 7 (Litterae 7 ) , S. 5 1 * - 5 6 * . Zur Neuinterpretation der Melodie durch Walther: s. HANS TISCHLER: Rhythm, Meter, and Melodie Organization in Medieval Songs. In: Studies in Medieval Culture 8 / 9 ( 1 9 7 6 ) , S. 4 9 - 6 4 (hier S. 5 6 - 5 8 ) .

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tung weisen die Zusatzstrophen der Handschriften BCEZ). Wie beim >Kreuzlied< deuten sich Beziehungen zur lateinischen geistlichen Lyrik an: die Melodie berührt sich zumindest typologisch mit der Antiphononkunst, insbesondere mit der Marienantiphon Ave regina celorum;16 der Text klingt an das vielstrophige lateinische Kreuzlied erzählenden Charakters, Carmen Buranum Nr. 26, an. 17 Ein eigentlicher Appell fehlt. 18 Während man mit W E N T Z L A F F - E G G E B E R T und H A H N das >Kreuzlied< und das >PalästinaliedAufruf zum Kreuzzug< L 13,5ff. Zweifel ein, vor allem wenn man die Gattungsmerkmale von Lied und Spruch im Auge behält, wie sie K U R T R U H in einem einschlägigen Aufsatz herausgearbeitet hat. Nach RUH hat Walther den Spruch dem Lied zwar angenähert, aber doch den Unterschied der Gattungen gewahrt: 19 Die fortdauernde Eigenständigkeit der Spruchdichtung läßt sich an der beschränkten Zahl der Töne (13 Töne für 98 Spruchstrophen) erkennen oder, anders ausgedrückt, an der Neigung, einen Ton wiederzuverwenden. 20 Entscheidend ist außerdem vor allem die Autonomie der Einzelstrophe: In der einzelnen Spruchstrophe findet jeweils ein Gedanke, eine Vorstellung ihren sprachlichen Ausdruck. Ihre Geschlossenheit wird unterstrichen durch den Strophenabschluß, der häufiger als im Lied eine syntaktische Einheit bildet und in dem sich vielfach der Gehalt der ganzen Strophe verdichtet. Im Spruch bedeutet Strophenbindung Reihung, Addition, im Minnelied dagegen Verklammerung und Sukzession. 21 15

Zur Echtheit der einzelnen Strophen s. HUGO KUHN: Walthers Kreuzzugslied (14,38) und Preislied (56,14). Diss. Tübingen 1936. Würzburg 1936, S. 1-33; Friedrich Maurer: Zu den religiösen Liedern Walthers von der Vogelweide. Euphorion 49 (1955), S. 42-49. Auch in: F.M., Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze, Bern - München 1963 (Bibl. Germ. 10), S. 129-36; VOLKER SCHUPP: S e p t e n a r u n d B a u f o r m . S t u d i e n zur » A u s l e g u n g d e s V a t e r u n s e r s « ,

zu »De VII Sigillis« und zum »Palästinalied« Walthers von der Vogelweide. Berlin 1964 (Philol. Studien und Quellen 22), S. 101-154. 16

17 18

19 20 21

BRUNNER (S. A n m . 14), S. 56* m i t Hinweis auf URSULA AARBURG: P r o b l e m e u m die M e l o d i e n

des Minnesangs. DU 19,2 (1967), S. 98-118, hier S. 115f.. So schon BRUNO STÄBLEIN: Antiphon. In: MGG I, 1949-1951, Sp. 523-545, hier Sp. 536f. CARL VON KRAUS, Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin - Leipzig 1935, S. 42f. Nur indirekt wird für den Kreuzzug plädiert, indem der Sänger in der Rolle des Pilgers das Betreten des heiligen Landes als das dem Leben seinen eigentlichen Wert verleihendes Erlebnis preist (L 14,38-15,2) und indem er im Namen aller Christen Anspruch auf dieses Land erhebt (L 16,3335). Jeglicher verifizierbarer Basis scheint mir HAUBRICHS Versuch zu entbehren, das Fehlen des Appells aus der politischen Lage von 1228/29 zu erklären und die Pilgerrolle auf die Person Friedrichs II. festzulegen, der nicht mit dem Schwert sondern durch kluge Verhandlungen den Christen den Zugang zu den heiligen Stätten eröffnet hatte; s. WOLFGANG HAUBRICHS: Grund und Hintergrund in der Kreuzzugsdichtung. Argumentationsstruktur und politische Intention in Waithers >Elegie< und >PalästinaliedAufruf< eher als »Kreuzzugsspruch« denn als »Kreuzlied« gelten. Die unterschiedliche Thematik der einzelnen Strophen, hat V O L K E R L A D E N T H I N sogar dazu bewegt, den Aufruf als eine »Zusammenstellung unterschiedlicher Genres« (Kreuzliedtradition, religiöse Lyrik, Liebeslyrik, Fabel) zu bezeichnen.22 Die erste Strophe rügt die Kreuzzugsverweigerer, die weltlichen wie himmlischen Lohn verscherzen (L 13,5-11). Eine zweite, nur in C erhaltene Strophe warnt vor dem kommenden großen Sturm, einem Zeichen des bevorstehenden Weltgerichts und ruft zur Pilgerfahrt auf (L 13,12-18). Die dritte Strophe beklagt, daß wir über den vergänglichen irdischen Freuden vergessen, uns um das ewige Heil zu mühen (L 13,19-25). Als belehrendes Beispiel zitiert die vierte Strophe die Fabel von der leichtsinnigen Grille und der fleißigen Ameise (L 13,26-32). In jeder der vier Strophen gelangen zwar Aspekte der Kreuzugsproblematik zur Darstellung, aber III und IV formulieren ihr Anliegen, ohne ausdrücklich auf Kreuzzug oder Pilgerfahrt bezug zu nehmen. 23 Ständen sie nicht im Strophenverband mit den ersten beiden, könnte man sie neben die Strophenpaare allgemein belehrenden Inhalts stellen, wie sie in den vielstrophigen Spruchtönen Waithers häufig auftreten. 24 Thematische Bezüge zur Spruchdichtung lassen auch die ersten beiden Strophen erkennen. Mangelnde Kreuzzugsbegeisterung, wie sie Strophe I beklagt, tadelt Walther im >BognertonAufrufs< (Strophe II), sondern auch Thema einer Strophe des >Wiener Hoftons< (L 21,25ff), dazu bestimmt, die Christenheit aus ihrem Sündenschlaf aufzurütteln. Zudem genügt die Gestaltung der Strophenschlußzeilen von L13,5 ff. durchaus dem RuHschen Kriterium des betonten Abschlusses. Die letzten Zeilen der Strophen III, IV und V sind syntaktisch wie inhaltlich deutlich von dem vorangehenden Text abgesetzt und formulieren prägnant das Anliegen der Strophe als Rat, Empfehlung, sprichworthaftes Statement. In diesen Schlußzeilen drückt sich besonders deutlich die Haltung des Sängers als die eines Ratenden und Mahnenden aus. Sie bestimmt überhaupt den >Aufruf< als Ganzes: Das Kreuzzugsthema erklingt nicht als zündender kollektiver Imperativ: erlaesen wir daz grap! (L 77,23), sondern als Weheruf über den Verlust deutscher Ehre, kritische Töne, die aus Walthers Sangsprüchen bekannt sind. 25 Während der Sänger des >Kreuzliedes< als Vertreter der betenden Gemeinde mit der Bitte um göttlichen Beistand schließt (L 78,18f. dur diner namen ere / lä dich erbarmen, Krist), mündet der > Aufruf< in die Mahnung, die Lehre der Weisen nicht in den 22

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25

VOLKER LADENTHIN: Schelte, Vision und Belehrung. Walther von der Vogelweide 13,5. ZfdPh 102 (1983), S. 84-111, hier S. 84. Ebd. S. 105-110 Beispiele: L 83,14 und L 83,27 (falsche Räte), L 80,3 und L 80,11 (tmm&ze); L 80,31 und L 82,3 (Minne); L 29,25 und L 29,35 (Mafihalten beim Trinken); L 30,9 und L 30,19 (Treue und Falschheit). Vgl. 9,8-11: so tue dir, tiusche zunge / wie stet din ordenunge! / daz nü diu mugge ir k&nec hat, / und daz din ere also zergat.

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Wind zu schlagen: L 13,31f. tören schulten ie der wisen rät. / wan siht wol dort wer hie gelogen hat.26 Die Überlieferung bestätigt, daß der >Aufbruch< das Kriterium additiver Reihung, wie es RUH für den Spruch aufgestellt hat, erfüllen würde. Die zweite Strophe über die Vorzeichen des jüngsten Gerichts ist nur in C erhalten, und zwar ohne den strophenbindenden Anfangsrefrain: Owe. Zudem weichen die beiden ersten Strophen metrisch von den Strophen III und IV ab: In der überlieferten Fassung zählt der Stollenschlußvers der zwei ersten Strophen jeweils eine Hebung weniger als der Stollenschluß der beiden Folgestrophen. Trotz dieser metrischen Abweichung und der thematischen Autonomie der Strophen hat man die Strophenfolge seit je als Einheit verstanden. 27 Die Bindung durch den Klageruf des Strophenbeginns (der jedoch in Strophe II fehlt!) spielte dabei gewiß eine bestimmende Rolle. Sieht man in der Mahnung von Strophe III eine Aufforderung dazu, sich den Entbehrungen einer Pilgerfahrt zu unterziehen, so darf man alle Strophen dem Thema Kreuzzug zuordnen. 28 Daneben bildet die Warnung vor der Hauptsünde der Trägheit, acedia, ein übergreifendes Thema: 29 In Strophe I erscheint acedia in ihrer spezifischen Ausprägung als Kreuzzugsverweigerung; Strophe II warnt mit Hinweis auf das unmittelbar bevorstehende Weltgericht davor, den Aufbruch zur Bußfahrt hinauszuzögern. Die dringende Notwendigkeit rechtzeitiger Buße begründet Strophe III mit dem schnellen Vergehen irdischer Freude. Schließlich exemplifiziert die Fabel von der trägen Grille und der fleißigen Ameise die wisheit geistlicher Vorsorge, Gegenpol der geistlichen Nachlässigkeit und Faulheit. 30 Die metrische Form stützt die Annahme, daß sich in diesem Stück lied- und spruchhafte Züge mischen: als »Liedstrophe« eine siebenzeilige Kanzone mit dem Reimschema ababccc, die sich jedoch aufbaut aus längeren auftaktigen Zeilen mit leicht differierender Hebigkeit (in Strophe III und IV) , wie sie in der Spruchdichtung häufig auftreten. 31 Bereits SIMROCK hat in seiner Ausgabe von 1870 die Strophenfolge in Anerkennung ihrer liedhaften Einheit bei spruchhafter Themaktik und Diktion unter die »Spruchlieder« (oder »Liedersprüche«) eingereiht, Spruchstrophen, die »ein un26

Der wisen rät bezeichnet spezifisch die Spruchdichtung. Ulrich von Liechtenstein zitiert in seinem >Frauendienst< Walthers >Reichston< mit dem Hinweis: als ich di wisen hoere jehen (FD 1828); s. SILVIA RANAWAKE: der manne muot - der wibe site. Zur Minnedidaxe Walthers von der Vogelweide und Ulrichs von Lichtenstein. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988. Zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER und FRANZ JOSEF WORSTBROCK. Stuttgart 1989, S. 177-196, hier S. 177f.

27

Zwei verschiedene Töne nimmt KURT PLENIO an: Metrische Studien über Walthers Palinodie. P B B 42 (1917), S. 255-276, hier S. 264 Anm. 1

28

LADENTHIN (S. A n m . 2 2 ) , S . 1 1 0 .

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Umfassend zur Trägheitssünde: SIEGFRIED WENZEL: The Sin of Sloth: acedia in Medieval Thought and Literature. Chapel Hill 1960, 2 1967. Vgl. Prov. 6,6ff. vade ad formicam, o piger, et considera ejus et disce sapientiam, guae ... parat in aestate cibum sibi et congregat in messe quod comedat. Zur pigritia als Tochter der IVägheitssünde WENZEL S. 36, 79, 95, 160; zur Identifikation mit acedia ebd. S. 58, 88, 192, 221; zur Notwendigkeit der arbeit (labor) ebd. S. 99. TERVOOREN, Spruchdichtung (s. Anm. 5), Sp. 164.

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»Spruchiieder*

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trennbares Ganzes bilden«. SiMROCKs Begriff des »Spruchliedes« artikulierte die Beobachtung, daß Walthers Spruchdichtung neben dem »offenen« Ton, der häufig und für disparate Themen, wiederverwendet werden kann, auch den geschlossenen Ton von beschränkter Strophenzahl (drei bis sechs Strophen) kennt, dessen Strophen sich wie beim Minnelied unter einem Generalthema zusammenschließen.33 (Die Kategorie des »Spruchliedes« könnte zusätzlich der Erfahrung Rechnung tragen, daß eine stattliche Anzahl von Walthers Liedern mit Minnethematik, was Form, Inhalt und Überlieferungsmodus angeht, der Spruchdichtung nahestehen.) 34 Zur Bezeichnung der >Aufrufs< als »Kreuzlied« hat wahrscheinlich nicht nur die Mehrstrophigkeit und die Strophenbindung des Stückes beigetragen, sondern auch seine Nähe zur >ElegieElegie< tritt die dreistrophige B-Fassung des >Aufrufs< zur Seite. (Sie ist durch den Refrain, der sich auf die in B überlieferten Strophen beschränkt als die primäre Fassung ausgewiesen.) Daß beide Töne Vertreter einer Gattung, ja eines Liedtyps repräsentieren, erscheint sicher. In anderen Worten, wenn der >Kreuzzugsaufruf< ein »Spruchlied« darstellt, dann ist auch die >Elegie< dieser Gattung zuzuschlagen. R U H S Definition der Sangsprüche scheint zunächst eine solche Zuordnung auszuschließen. Von bloßer Addition der Strophen kann bei der >Elegie< keine Rede sein. Kein anderes Gedicht hat neuzeitliche Leser durch seinen kunstvollen gedanklichen Aufbau derart fasziniert. 35 Und doch - und hier zeigt sich eine Schwäche von R U H S Darstellung - die einzelnen Strophen der >Elegie< sind nicht nur Teil eines Ganzen, sondern in ihnen findet auch jeweils ein bestimmter Vorstellungskreis seinen sprachlichen Aussdruck. Jede Strophe ist einem besonderen Schauplatz menschlichen Agierens, einem Bereich des Zusammenlebens, einer Problematik menschlicher Existenz gewidmet: Heimat, Reich, diese und jene Welt - der Einzelne, die höfische Gesellschaft, Gott und Mensch - Altern, sittlicher Verfall, die Gefährdung des Seelenheils. Ausgehend von der Besinnung des Sängers auf sich selbst, entfaltet sich in drei konzentrischen Kreisen das menschliche Dasein. Jede Strophe erreicht den ihr eigenen

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KARL SIMROCK (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Bonn 1 8 7 0 , S. 7-9, 1 2 , 1 1 8 . Dazu KORNRUMPF und WACHINGER, Alment (s. Anm. 13), S. 407. Zum Inhalt GERHARD HAHN: Walther von der Vogelweide oder Ein Spruchdichter macht Minnesang. In: Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Fs. Helmut Motekat. Hrsg. ERICH HUBER-THOMA und GHEMELA ADLER. Frankfurt a.M. - Bern - New York 1986, S. 197-212. - Lieder, die das Verhältnis von Minne und höfischer Ordnung sangspruchhaft thematisieren, sind im Strophenbestand wie in der Strophenfolge zum Teil unfest, lassen also ein relativ größere Eigenständigkeit der Einzelstrophe erkennen. Siehe JAN-DIRK MÜLLER: Die frouwe und die anderen. Beobachtungen zur Überlieferung einiger Lieder Walthers. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Colloquium 1988 (s. Anm. 26), S. 127-145, besonders S. 128f., 131f., 138. Siehe unter anderem die Interpretation von MAX WEHRLI: Die Elegie Walthers von der Vogelweide. THvium 1.3 (1942/43), S. 12-29, besonders S. 14-16.

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Gipfel in den Schlußzeilen und dem syntaktisch integrierten Refrain. Gleichzeitig weisen die Strophenschlüsse jedoch über sich hinaus auf die Folgestrophe und auf das Ganze der >Elegie< hin: im Klageruf über die Flüchtigkeit der wünneclichen tage etwa verdichten sich zum einen die Reflexionen der ersten Strophe über die Veränderlichkeit der persönlichen Lebensumstände, zum anderen kündigt sich hier bereits das Thema der Folgestrophe - Verlust der höfischen Freude - an. Die revocatio der zweiten Strophe verwirft rückblickend die Klage über das Schwinden der irdischen Wonne und macht zugleich den Blick frei für das eigentliche Ziel des christlichen Lebens, wie es in der letzten Strophe aufscheint. Generell besitzen Strophenschlußzeilen jeweils eine zweifache Funktion: das Anliegen der Strophe abschließend pointiert zu formulieren und sie zugleich weiterführend und übergreifend dem Zusammenhang einzugliedern. Entsprechend der relativen Bedeutung dieser beiden Funktionen können Strophen in unterschiedlichem Maße »offen« und »geschlossen« zugleich sein. Es erscheint fraglich, ob ein gradueller Unterschied dieser Art als primäres Gattungskriterium dienen kann. Wie dem auch sei - die Gestaltung der Strophenschlüsse der >Elegie< spricht nicht gegen ihre Kategorisierung als »Spruchlied«. Strophenform (sechzehn paarig gereimte zäsurierte Langzeilen plus Refrain), Strophenumfang und Strophenbindung rücken die >Elegie< zudem auch formal in die Nähe anderer unstollig gebauter, ausladender Formen der Waltherschen Spruchdichtung. 36 Vergleichbar ist etwa der >Reichston< (auffallend umfangsreiche Strophe, Paareim, gleichlaufender Strophenbeginn, Schlußbeschwerung), der sich auch inhaltlich-stilistisch mit der >Elegie< berührt. Zwar sind die Strophen des >Reichstons< eigenständiger als die Elegiestrophen, was sich schon dadurch erklärt, daß die >ReichstonElegie< nicht aus einem Anlaß, sondern zu verschiedenen zeitlich auseinanderliegenden Ereignissen (Krönung Philipps, Exkommunikation seiner Anhänger) komponiert wurden. 37 Doch lassen auch sie sich auf ein gemeinsames Anliegen beziehen: den Ruf nach Wiederherstellung der gottgewollten ordo als Antwort auf die Wirren des deutschen Thronstreits. Einheitsstiftend wirkt für beide Strophenfolgen, >ElegieReichstonElegieReichston< zusammen mit den beiden anderen »Klagen«, >Elegie< und >Aufruft, zu den »Spruchliedern« zählt.

III Als »Spruchlieder« rücken der >Kreuzzugsaufruf< und die >Elegie< aber nun auch typologisch in die Nähe der thematisch verwandten Kreuzzugsappelle des >Ottentons< und des >Kaiser FriedrichstonsKaiser Friedrichstonsc einleitende Preisstrophe, Appell, Romschelte liegt auch der Strophenfolge des >OttentonsOttentons< allerdings an den Kaiser gerichtet ist. Wenn die in A an anderer Stelle überlieferte Strophe A 22 (L 12,18ff.) auf Strophe A 81 (L 12,6 ff.) folgte, wie dies auch die Reihung in C 39 und der identische Strophenbeginn mit Her heiser nahelegen, so handelt es sich hier wie beim 38 39

Vgl. 9,32-39. 81A = 360 [376]C; 22A = 361 [377]C; 83A = 362 [378]C

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>Kaiser Friedrichston< um einen fünfstrophigen Ton, der sich aus Preisstrophe plus zweistrophigem Aufruf plus zweistrophigem Angriff auf die Kirche aufbaut. Zwar sind Kreuzzugsappell und Geistlichenschelte nicht so eng verzahnt wie im ersten Ton, doch da alle Strophen des >Ottentons< die weltliche Autorität des Kaisers im Hinblick auf die Angriffe Roms zum Gegenstand haben, so lassen sie sich auch alle dem Generalthema: Preis des Herrschers als des potentiellen Kreuzzugsführers, zuordnen,40 bzw. zu einem »Spruchlied« zusammenfassen. Den Zusammenhang zwischen Preis und Schelte illustriert zudem der Beginn der zusätzlichen, nur in BC überlieferten Papststrophe (L ll,6ff.), die mit der Anrede Her habest ironisierend auf den Anfang der Kaiserstrophen bezug nimmt. Als »spruchliedhafte« Einheit kann man schließlich die inhaltlich-stilistisch sorgfältig miteinander verknüpften Strophen der >Engelsschelte< im >Bognerton< betrachten: Zwei an Gott und die Jungfrau addressierte Preisstrophen (L 78,24ff., L 78,32ff.) leiten hin zu einer kontrastierenden zweistrophigen Schelte (L 79,lff., L 79,9ff.). Allerdings fand der >Bognerton< im Gegensatz zu den Tönen unserer restlichen »Spruchlieder« weitere Verwendung für Gönnerpreisstrophen und moralischdidaktischer Sprüche, d.h. es handelt sich nicht um einen »geschlossenen Ton.«41 Was die Strophenformen der drei Töne angeht, so steht der >OttentonKönig Friedrichston< eine unstollige Sonderform (»gespaltene Weise«) aus auftaktigen langen Zeilen und der gleichfalls unstollige >BognertonOttenton< weicht mit Terzinenstollen und einem Gesamtumfang von zwölf Versen nicht gravierend von Walthers Spruchtönen ab und hat als >Feiner Ton< auch Eingang in die Meistersingerhandschriften des 16. Jahrhunderts gefunden.43 Als Fazit der Untersuchung zeichnet sich eine neue Gruppierung der Waltherschen Kreuzzugsdichtung ab. Für sich stehen das >KreuzliedPalästinalied< als geistliche Kontrafaktur eines weltlichen Liedes mit inhaltlicher Beziehung zum lateinischen Kreuzlied. Die übrigen Stücke kann man aufgrund 40

Zum >Ottenton< als Propaganda für Otto IV. s. EBERHARDT NELLMANN: Walthers unzeitgemäßer Kreuzzugsappell. Zur Funktion der Her keiser-Strophen des Ottentons. ZfdPh 98

41

Allerdings hält GESA BONATH nur die >Engelsschelte< für echt: Zur Frage der Echtheit des Bognertons. In: Beiträge zur weltlichen und geistlichen Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. Würzburger Colloquium 1970. Hrsg. von KURT RUH und WERNER SCHRÖDER. Berlin 1973, S. 9-39. BONATHs Auffassung hat sich nicht durchsetzen können, da unbestreitbare Indizien für die Unechtkeit der übrigen Strophen fehlen. Dazu: HORST BRUNNER in AfdA 88 (1977), S. 106, und WERNER SCHRÖDER: Die Sprüche im Bognerton und die Anfänge von Walthers Spruchdichtimg. ZfdA 118 (1989), S. 165-176. Den Zusammenhang aller Strophen betont JUTTA GOHEEN: Zur m&ze im >Bognerton< Waithers. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hrsg. von HANS-DIETER MÜCK. Stuttgart 1989, S. 363-390. Siehe DANIEL ROCHER: Critères formels et différence spirituelle du Spruch et du Lied chez Walther von der Vogelweide. In: Fs. Jean Fourquet. München - Paris 1969, S. 309 - 322. HORST BRUNNER: Walther von der Vogelweide (s. Anm. 14), S. 69* mit Literatur.

(1979), S o n d e r h e f t , S. 22-60.

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»Spmchlieder«

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ihrer Themenkombination, Sprechhaltung, Strophenbindung und metrischen Form zu den Spruchtönen stellen. Doch bilden sie dort, zusammen mit dem >ReichstonAufrufElegieReichstonOttentonKaiser FriedrichstonEngelsschelteBognerton< ab, nicht für Sprüche abweichenden Inhalts weiterverwendet, in anderen Worten jedes drei bis fünfstrophige »Spruchlied« besitzt seinen eigenen Ton.

Ausblick Walthers »Spruchlieder« mit Kreuzzugsthematik heben sich, wie erwähnt, durch ihre Themen und Motive deutlich von der älteren und der gleichzeitig entstandenen deutschen Kreuzzugslyrik ab. Neben einer Verstärkung eschatologischer Momente, dem Eingehen auf das Thema der acedia/tristitia, auf Sittenkritik und Vergänglichkeitsklage, verleiht besonders die politische Komponente - Herrscherappell und Romschelte - den »Spruchliedern« ihr eigenes Gepräge. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, daß Walther hierfür Impulse aus der Troubadourlyrik empfing.44 Insbesondere stammt der Herrscherappell, in dem die politische Intention am deutlichsten hervortritt, mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Provenzalischen. Denn während die an einzelne Persönlichkeiten gerichteten Kreuzzugsaufrufe in der deutschen und lateinischen Kreuzzugslyrik fehlen, 45 finden sich solche Herrscherappelle häufiger in der okzitanischen Lyrik.46 Für andere Themen läßt sich zwar lateinische Anregung nicht ausschließen, und auch deutsche Ansätze sind vorhanden. Jedoch spricht manches dafür, daß Walther Themen wie Zeitkritik oder das acedia-Motiv gleichfalls aus dem Provenzalischen übernahm. Walther war Berufssänger, Spruchdichter, der sein Brot damit verdiente, das Lob seiner Gönner zu singen, ihre Feinde zu schmähen und seiner Zeit tadelnd und ratend den Spiegel vorzuhalten. Zugleich mußte er den am Minnesang geschulten erhöhten, ästhetischen Ansprüchen seiner Zuhörer Genüge tun, um sich gegen seine Konkurrenten, professionelle Minnesänger und provenzalische Berufssänger durchzusetzen. Der Charakter provenzalischer Kreuzlieder kam den Bedürfnissen des Berufssängers Walther entgegen. Die Mehrzahl der Verfasser waren wie Walther Hofsänger, die ihrerseits an den Höfen Südfrankreichs, Spaniens und Norditaliens 44

SILVIA RANAWAKE: Walthers >Ottenton< (ll,6FF.) und der Kreuzzugsappell der Troubadours. In: MÜCK, W a l t h e r v o n d e r Vogelweide (s. A n m . 14), S. 315-330.

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Das anonyme, etwa 1146 entstandene Kreuzlied: Chevalier, muet estes guariz, das dazu aufruft, Ludwig VII. auf seinen Kreuzzug zu begleiten, preist zwar den König (Str. III), ist aber nicht an diesen gerichtet. Ausgabe: Les chansons de croisade, publiées par JOSEPH BÉOIER avec leurs melodies publiées par PIERRE AUBRY, Paris 1909, S. 1-16. KURT LEWENT: Das altprovenzalische Kreuzlied. Romanische Forschungen 21 (1908), S. 341448, hier S. 374.

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ihr Auskommen suchten. Sie pflegten die Gattung des sogenannten Sirventes, ein Terminus, der zunächst das Lob -und Spottlied des dienenden Spielmanns, dann auch das politische Rügelied allgemein bezeichnet. Fürstenpreis und Kontrahentenschelte, basierend auf und verbunden mit Sittenlehre und -kritik, Themen mit denen die Troubadours die Gunst Ihrer Mäzene zu erringen hofften, nehmen in diesen Liedern einen breiten Raum ein. Auch die Kreuzzugsthematik wurde einbezogen. Es entstanden Kreuzlied-Sirventesen, die an der Entwicklung der Sirventesgattung teilhatten, insbesondere an deren formalen und stilistischen Angleichung an das Minnelied, wie sie vor allem Guillem de Berguedan und Bertan de Born durchführten. 48 In den Sirventesen fand Walther demnach »Spruchlieder« vor, die im liedhaften Verband die moralischen und religiösen Themen der Spruchdichtung behandelten, die aber auch der »politischen« Thematik, d.h. in erster Linie dem Preis des Gönners und der Rüge seiner Widersacher einen hervorragenden Platz einräumen, und die schließlich den formalen Ansprüchen, wie man sie an das Minnelied stellte, genügten. Walther hatte sicher mehrfach Gelegenheit, die Kunst der Traubadours kennenzulernen. Verkehrte er doch an Höfen, die Beziehungen zu Südfrankreich und Norditalien pflegten und an denen die Troubadourlyrik nicht unbekannt gewesen sein kann. Das gilt für den Hof der Staufer ebenso wie für den Umkreis Wolfgers oder den Thüringer Hof. Daß Walther sich von den Liedern der Troubadours hat anregen lassen, bezeugt nicht nur das >PalästinaliedPreislied< (L 56,14ff.), das mit seinem Bezug auf provenzalische Scheltlieder zudem den Beweis liefert, daß dem deutschen Sänger das Verständnis provenzalischer Texte nicht verschlossen geblieben ist. 49 Die Beobachtung, daß Walther vom provenzalischen Sirventes Anregung für seine »Spruchlieder« mit Kreuzzugsthematik erhalten hat, läßt sich letztendlich mit großer Wahrscheinlichkeit auf seine politische Sangspruchdichtung ausweiten und besitzt damit grundsätzliche Bedeutung für die Beurteilung der Entstehung und der generischen Zusammenhänge dieser Dichtung. K U R T R U H sah die große Leistung Walthers darin, den Spruch formal, thematisch und soziologisch dem Minnelied angeglichen zu haben. Die Angleichung vollzog sich nach RUH in der Wendung von der Eintönigkeit zur Vieltonigkeit, in der kunstvollen Ausformung der Spruchstrophe und in der Ausweitung auf die politische Thematik, die einen sozialen Aufstieg des Sängers bedeutet. Diese These wäre dahin zu modifizieren, daß Waither die Spruchdichtung nicht dem deutschen Minnelied angeglichen hat, sondern den provenzalischen Sirventesen, »Spruchliedern«, die Politik, Moral und Religion in liedhaften Strophenreihen thematisierten und die formal bereits den Minnekanzonen angepaßt waren. Was Friedrich von Hausen und sein Kreis für den deutschen Minnesang getan haben, das leistete Walther für die deutsche Spruchdichtung. Indem er sie nach dem Vorbild der Sirventesen thematisch und formal bereicherte, hob er sie auf ein europäisches Niveau. Mit seinen »Spruchliedern« konnte er gleichberechtigt neben 47

48 49

Unter den von K U R T L E W E N T genauinten Verfassern der vor 1 2 3 0 entstandenen Kreuzlieder finden sich neben zwei adeligen Herren und dem Kaufmannssohn und späteren Bischof von Toulouse, Folquet de Marseille, 11 Berufssänger mit insgesamt 14 Liedern. ULRICH MÖLK: Trobadorlyrik. Eine Einführung. München - Zürich 1982, S. lOlf. WILHELM NICKEL: Sirventes und Spruchdichtung. Berlin 1907 (Palaestra 63), S. 21f. und 24.

Spruchlieder«

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provenzalische Hofsänger treten. So begegnen wir Walther dann am Anfang seiner uns erkennbaren Laufbahn nicht etwa als Minnesänger, der sein Repertoire auch auf die Spruchdichtung ausgeweitet hat, sondern als Spruchdichter, der den Anspruch erhebt, mit seinen »Spruchliedern« wie seine provenzalischen Berufskollegen als offizieller Hofsänger auftreten zu dürfen.

CHRISTA ORTMANN (Konstanz)

Minnedienst - Gottesdienst - Herrendienst Zur Typologie des Kreuzliedes bei Hartmann von Aue

Welche Bedeutung der Herr bzw. der Tod des Herrn in Hartmanns Liedern hat, ist ein altes Forschungsproblem, das noch immer kontrovers diskutiert wird, weil, so scheint mir, nicht nur über seine textkritischen, sondern auch seine methodischen Voraussetzungen keine Einigkeit besteht. Wie paßt der Autor Hartmann in die rollenhermetischste Gattung des Mittelalters, den Minnesang, oder, eingegrenzter gefragt, wie ich es hier tun möchte: Welche Punktion hat der Rekurs auf lebensweltliche, vielleicht sogar biographische Realität in Hartmanns Kreuzlied? Zu diesem alten Problem möchte ich einen neuen Vorschlag machen und formuliere angesichts der methodologischen Relevanz zunächst thesenartig, was ich zum Verständnis von Minnesang und speziell zum Kreuzlied voraussetze, was also als Prämisse meines Vorschlags zu gelten hat. 1 - Kreuzlieder sind Lieder, die die Situation der Kreuzfahrt (Ferne) oder der Kreuznahme (Abschied) ansprechen. Kreuzfahrt wird als gottesdienstliches Unternehmen, Kreuznahme als Antwort auf den absolut verbindlichen Appell zu diesem Unternehmen verstanden. - Kreuzlieder stehen im Kontext der Gattung Minnesang. Die Themenverbindung Minne und Kreuzfahrt, vorgegeben in der Romania und von den deutschen Sängern schon früh übernommen, bewirkt besonders in der Abschiedssituation eine programmatische Anreicherung mit Gedankengut aus Kreuzzugspredigt und -aufruf. - Kreuzfahrt und Kreuznahme werden als Akte ritterlicher Bewährung im Gottesdienst interpretiert und konfrontiert mit der ritterlichen Bewährung im Minnedienst. In dieser Konfrontation stehen klerikale und laikale Deutungsmuster von Dienst, Ritter, Heil einander mit konkurrierenden Absolutheitsansprüchen gegenüber. - Daß Ritterschaft in dieser Weise reflektiert und problematisiert werden kann, ist insofern erstaunlich, als die Überlegenheit und die höhere Verbindlichkeit des geistlichen Deutungsmusters über allen Zweifel erhaben ist. Die Entscheidung für die Fahrt ist im Kreuzlied gefallen. Die Überlegenheit der militia Christi aber wird nicht geistlich, sondern minnesangspezifisch begründet: Die Gottesminne ist das Urbild der Minne, ist Gegenseitigkeitsminne. Gott hält sein Lohnversprechen. Der Gottesdienst führt zum Heil und ist darum dem Minnedienst überlegen. 1

Zum Folgenden: GERHARD H A H N : Habemus ad Dominam? Das Herz der Minnesänger zwischen Frauen- und Gottesdienst. In: Sursum Corda. Fs. PHILIPP HARNONCOURT. Hrsg. von ERICH R E N H A R T und A N D R E A S SCHNIDER. Graz 1991, S. 31-38.

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- Mit dieser Begründung kann der Gottesdienst der Kreuzfahrt als der überlegene Minnedienst erscheinen, an dessen Maßstab gemessen Frauendienst kritikwürdig und letztlich unterlegen ist. Er kann aber auch - positiv - als der umfassende, höchste Minnedienst verstanden werden, der Frauendienst integrieren kann unter der Voraussetzung, daß die Qualitäten dieser Minne, Gegenseitigkeit und Erfüllung, auch hier gelten. Diese Funktionalisierung von Kreuzfahrt und Kreuznahme weist das Kreuzlied als Situationsvariante des hohen Minneliedes aus, für das die Diskussion von Minne und Minnedienst gattungstypisch ist. -

Die Situation Kreuzfahrt bzw. Kreuznahme ist also strukturiert durch den minnesangspezifischen Appell des Dienstes. Thema der Kreuzlieder ist Dienst als ritterliche Lebensform, als ritterlicher Heilsweg und das im Sinn einer laikalen, strukturell auf Minne und Minnesang bezogenen Definition von Dienst. Aus diesem Grund sind die Kreuzlieder geprägt von der autortypischen und daher unterschiedlichen Konzeption von Dienst und Minnebindung (Hausen, Johansdorf, Hartmann, Reinmar, Walther, Neidhart).

- Die Thematisierung von Dienst in der Situation der Kreuzfahrt und Kreuznahme hat die Funktion, die Frage nach der ritterlichen Lebensausrichtung und nach der normativen Geltung der Minne - und das ist eine Minnesangfrage - angesichts der Verbindlichkeit von Gottesdienst und Gottesminne zu radikalisieren. Im Unterschied zur zeit- und ortlosen Reflexion der Minnekanzone kann im Kreuzlied diese Frage auf die politische Aktualität konkreter Kreuzzugsunternehmen bezogen sein. Diese Kreuzzugsrealität wird damit weder explizit noch implizit selbst thematisch. Sie dient vielmehr der politischen Dimensionierung von Dienst im umfassenden Sinn. - Kreuzlieder sind also in diesem strengen Gattungssinn Minnelieder. Sie dienen nicht der Kreuzzugspropaganda und nicht der Minnesangabsage, und sie artikulieren auch nicht die persönlichen Konflikte des Autors angesichts einer konkreten Kreuzzugsverpflichtung. Hartmanns erstes Kreuzlied (MF 209,25),2 das im Zentrum der Untersuchung stehen soll, nimmt sich in diesem Rahmen zunächst befremdlich aus. Folgende Feststellungen verdeutlichen diesen Befund: Die Minnethematik scheint vollends ausgeblendet zu sein. Es geht um geistlich definierte Ritterschaft und die Sorge um das ewige Heil des Kreuzfahrers. Hier werden drei verschiedene Motive bzw. Motivationsbereiche für die Kreuznahme miteinander verbunden: a. Die motivierende, lebensbestimmende und zu Taten auffordernde Kraft des Kreuzes selbst als wirksames Zeichen des göttlichen Erlösungshandelns in der Heils2

Ich lege den Text der Ausgabe von H U G O M O S E R und H E L M U T T E R V O O R E N zugrunde: Des Minnesangs Frühling. Bd. 1: Texte. Stuttgart 1988. Im Folgenden: MF und M/T. - Die Zählung der drei Kreuzlieder entspricht der Reihenfolge, in der sie überliefert sind. 1. MF 209,25 (M/T V): das hier interpretierte Lied. 2. MF 211,20 (M/T VI): eine einzelne (Spruch)strophe, die keine Ich-Rolle enthält und die im Folgenden unberücksichtigt bleibt. 3. MF 218,5 (M/T XVII): das am häufigsten interpretierte Kreuzlied; vgl. in dieser Arbeit S. 95

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geschichte (1. Strophe) und der unmittelbare, absolut verbindliche göttliche Auftrag zur Befreiung bzw. Verteidigung der Heiligen Stätten im bewaffneten Kampf mit der Aussicht, das weltliche und ewige Heilsziel auf diesem Weg zu erreichen (2. Strophe). Das sind Elemente aus Kreuzzugspredigt und -aufruf. b. Die Absage an die trügerische, das Seelenheil gefährdende, weil von den Nachstellungen und Versuchungen des Teufels erfüllte Welt und die Hinwendung zu Christus, dem Erlöser im Zeichen des Kreuzes (3. Strophe) - ein Gedanke aus der contemptus-mundirlAteraitm.

c. Der Tod des Herrn und der Wunsch, auch für sein Seelenheil mit zu sorgen und mit ihm vor Gott vereint zu sein (4. Strophe). Die ersten beiden Motive bilden eine Verbindung, die wir auch aus anderen Kreuzliedern kennen: 3 Vom Standpunkt der Kreuzfahrt als gottesdienstlicher Verpflichtung aus gesehen, aus einer geistlich orientierten Sicht auf das Heil also, richtet sich der kritische Blick auf die Welt und ihre vergänglichen Freuden, zu denen auch die Freuden der Minne und des höfischen Lebens zählen. Es ist der Blick des wisen, der die richtige Einsicht in die von Gott gestiftete Ordnung hat und darum seinen Lebensweg entsprechend ausrichten kann. Angesichts der umfassenden Heilschance der Kreuzfahrt erkennt er die Begrenztheit innerweltlicher Heilsvorstellungen und durchschaut das eigene Befangensein in diese als sündhafte Verblendung. Wie paßt dazu das dritte, keiner literarischen Tradition verpflichtete Motiv, der Tod des Herrn? Seine Zuordnung ist schwieriger als es zunächst scheinen mag. Einerseits bestätigt bzw. verstärkt die Trauer über den Tod des Herrn die Abkehrhaltung von der Welt, andererseits aber erscheint die Welt aus dieser Sicht keineswegs prinzipiell abgewertet, im Gegenteil, sie ist durchaus positiv ein - wenn auch nur in der Vergangenheit erfahrener - Ort der vreude. Die beiden Motive der Weltabsage miteinander zu verbinden, ist also problematisch, weil die normativen Maßstäbe des Verständnisses von >Welt< einander widersprechen. In der Forschung ist für dieses Problem unter Zuhilfenahme einer Hypothese, daß es sich nämlich um ein autobiographisches Versatzstück handelt, und unter der stillschweigenden methodischen Voraussetzung, daß Hartmann im Lied eine autobiographische Aussage überhaupt machen kann, eine Art psycho-logischer Brücke gebaut worden: Der Tod des Herrn wird als einschneidendes Ereignis im Leben Hartmanns verstanden, das eine tiefe Identitätskrise ausgelöst hat. Merkwürdigerweise äußert sich Hartmann dazu nur in den Liedern und nur zwei- bzw. dreimal. 4 Der Autor, so wird besonders im Hinblick auf MF 218,5, das dritte Kreuzlied, interpretiert, erteilt unter dem Eindruck des Todes des Herrn der weltlichen Minne im Rahmen einer generellen Weltabkehr eine radikale Absage und wendet sich der geistlichen Minne zu im Kontext der Kreuzfahrt als Möglichkeit einer neuen, jetzt geistlich definierten Ritteridentität. Diese Reaktion war in der harten Kritik an Minne und Minnesang, wie sie sich vor allem in dem sog. Unmutslied MF 216,29 äußert, und wie sie dann im dritten Kreuzlied wiederaufgenommen wird, bereits vorbereitet. Die Entschei3 4

Vgl. Friedrich von Hausen MF 45,37 und Walthers »Elegie« L 124,1, bes. die 3. Strophe. Außer im ersten Kreuzlied MF 210,23-34 erwähnt Hartmann den Tod des Herrn in MF 206,10-14 und, wenn man dem von CARL VON KRAUS hergestellten Text folgt, im 3. Kreuzlied MF 218,19.

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dung für die Teilnahme am Kreuzzug würde dieser Interpretation zufolge einem persönlich motivierten Akt der conversio entspringen, zu dem die Trauer über den Tod des Herrn und die daraus spontan folgende Abkehr von Welt und Minne zwingt. Kreuzzug als Thema der Lieder hätte die Funktion, diese Abkehr für endgültig zu erklären, das Ich auf geistliche Ritterschaft festzulegen (unser Lied) und als Minnesänger der Gottesminne zu profilieren (MF 218,5). Dies entspricht aber nicht der argumentativen Logik des Liedes. Nicht der Kreuzzugsaufruf der ersten beiden Strophen motiviert das Ich, auch nicht eigentlich die geistlich begründete Weltabsage der dritten Strophe, sondern die diese Absage zwar steigernde, aber eben auch mit ihrer eigenen ritterlichen Weltsicht unterlaufende Trauer über den Tod des Herrn der vierten Strophe: Kreuzfahrt im Dienst des Herrn, für ihn und um der Gemeinschaft mit dem Herrn willen. Damit ist eine merkwürdige Umkehrung der Motive erzeugt. Rangiert Herrendienst bei Hartmann höher als Gottesdienst? Ich formuliere diesen Befund im Rahmen meiner einleitenden Prämissen: Wenn im Kreuzlied die Frage nach der normativen Orientierung von Dienst als ritterlicher Lebensform in radikalisierter Form, d.h. angesichts des umfassenden Geltungsanspruchs von Gottesdienst und Gottesminne aufgeworfen wird - wenn das Kreuzlied also in diesem strukturellen Sinn ein Minnelied ist - dann sieht es so aus, als hätte Hartmann in diesem Kreuzlied die Strukturpositionen umbesetzt, als hätte er die Position der Minneherrin gegen die des Herrn ausgetauscht. Aus der Perspektive des Herrendienstes, nicht des Frauendienstes wird das Kreuzzugsheil anvisiert, oder anders formuliert, wie es die vierte Strophe tut: Wenn das Heil der Kreuzfahrt dem Herrn zugute kommt, dann ist die Kreuzfahrt als ritterliches Unternehmen sinnvoll. Wie also gehören die drei Ebenen der Dienstdefinition, Frauendienst, Gottesdienst und Herrendienst, zusammen? Wie lassen sich der Minnediener, der Kreuzfahrer und der Ministeriale Hartmann in der Ich-Rolle des Liedes literarisch integrieren? Oder ist dieses Kreuzlied gar kein Minnelied mehr, sondern ein Herrenlied? - Das sind Fragen, die sich auf die Typologie des Kreuzliedes bei Hartmann richten. Nicht diskutiert werden muß unter den gegebenen Prämissen die These von der persönlichen Krise Hartmanns. Die literarischen Gegebenheiten des Minnesangs, die strenge Rollengebundenheit des Minneliedes bieten hierfür keinen Spielraum. Hartmann agiert als Autor unter diesen gattungsspezifischen Bedingungen. Seine persönliche Betroffenheit vom Tod des Herrn ist von Belang nur als literarisches Faktum im funktionalen Zusammenhang der Ich-Aussage des Liedes. Insofern ist auch die biographische Faktizität der Aussage weitgehend irrelevant. Anliegen der folgenden Interpretation ist die Untersuchung der liedspezifischen Ich- oder Autorrolle. Sie wird daher die Fragen nach der Typologie nicht schon beantworten können, sondern nur eine Vorarbeit dazu leisten. 1

Dem kriuze zimet wol reiner muot und kiusche site, so mac man saelde und dllez guot erwerben dá mite. ouch ist ez niht ein kleiner haft

Minnedienst - Gottesdienst - Herrendienst

dem tumben man. der sinem libe meisterschaft niht halten kan. Ez wil niht, daz man si der werke dar under vri. waz touget ez üj der wät, der sin an dem herzen niene hat? 2

Nu zinset, ritter, iuwer leben und ouch den muot durch in, der iu da hat gegeben beidiu lip unde guot. swes schilt ie was zer weite bereit üf höhen pris, ob er den gote nü verseit, der ist niht wis. Wan swem daz ist beschert, daz er da wol gevert, daz giltet beidiu teil, der weite lop, der sele heil.

3

Diu weit lachet mich triegende an und winket mir. nu hän ich als ein tumber man gevolget ir. der hacchen hän ich manigen tac geloufen nach, da niemen staete vinden mac dar was mir gäch. Nu hilf mir, herre Krist, der min da värende ist, daz ich mich dem entsage mit dinem zeichen, daz ich hie trage.

4

Sit mich der tot beroubet hat des herren min, swie nü diu weit nach im gestat, daz läze ich sin. der vröide min den besten teil hat er da hin, schüefe ich nü der sele heil, daz waer ein sin. Mac ich ime ze helfe komen, min vart, die ich hän genomen, ich wil ime ir halber jehen. vor gote müeze ich in gesehen.

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1 Dem Kreuz ist zu Recht makellose Gesinnung und lauteres Verhalten angemessen, auf diese Weise kann man Glückseligkeit und jegliches Gut mit seiner Hilfe erwerben. Auch ist es kein geringer Halt für den, der keine Einsicht hat, der seinem Leben keine kontinuierliche Orientierung geben kann. Es ist nicht in seinem Sinn, daß man unter seinem Zeichen tatenlos ist. Was nützt es auf dem Gewand, wenn man es nicht an das Herz geheftet hat? 2 Nun gebt, Ritter, euer Leben und auch eure Lebensausrichtung als Zins dem zuliebe hin, der euch Leben und Besitz gegeben hat (oder: der für euch dort Leben und Besitz hingegeben hat). Wenn derjenige, dessen Schild jemals bereit war, in der höfischen Welt hohen Ruhm zu erwerben, diesen nun Gott verweigert, dann hat er keine Einsicht. Dem das vergönnt ist, daß er dort die Fahrt gut verrichtet, der leistet damit Entgelt für beide Teile (der gewinnt damit beides), den Ruhm der höfischen Welt und das Heil der Seele. 3 Die Welt lacht mich trügerisch an und winkt mir. Nun bin ich ihr als einer, der keine Einsicht hat, gefolgt. Der Dirne (oder: dem Köder) bin ich viele Tage hinterhergelaufen, wo niemand Beständigkeit finden kann, dorthin hatte ich es eilig. Jetzt hilf mir, Herr Christus, daß ich mich von dem lossage, der mir da nachstellt, mit Hilfe deines Zeichens, das ich hier trage. 4 Weil (oder: nachdem) mich der Tod meines Herrn beraubt hat, lasse ich auf sich beruhen, wie es mit der höfischen Welt nach seinem Tod steht. Den besten Teil meiner Freude hat er mit sich fortgenommen, wenn ich nun das Heil der Seele (mit Taten) erwerben würde, dann wäre das ein vernünftiges Ziel. Wenn ich ihm zu Hilfe kommen kann, dann will ich ihm die Kreuzfahrt, die ich gelobt habe, zur Hälfte zusprechen. Möge es mir vergönnt sein, ihn vor Gott zu sehen.5 Die erste Strophe nennt reinen muot und kiusche site als Qualitäten, die dem Kreuz gemäß sind. Wenn man sie hat, erwirbt man sich mit seiner Hilfe alles Heil, hier und dort (allez guot), nicht nur ewiges Heil. Das Kreuz erscheint als Zeichen, unter dem ganz global ein ritterlicher Weg zum Heil, zur Vollendung hier und dort verheißen ist. Darüber hinaus wird konstatiert: Auch derjenige, der diese Verheißung nicht selbst aktiv ins Werk setzen kann, findet einen Halt am Kreuz, denn das Kreuz treibt von sich aus zum Werk an, vorausgesetzt, es hat seinen Sitz im Inneren, im herzen, von wo aus es die Steuerung des Lebens gewissermaßen selbsttätig übernimmt. Eine Maxime von globaler Geltung wird formuliert: Das Kreuz als Verheißung eines umfassenden ritterlichen Heilswegs für denjenigen, der mit den entsprechenden Qualitäten ausgestattet ist, Verheißung aber auch, die selbsttätig wirksam wird unter der Voraussetzung, daß das Kreuz vom Zentrum der Person aus das ritterliche Handeln bestimmt. Die zweite Strophe setzt diese Maxime in einen programmatischen Aufruf an die Ritter, die ritterliche Welt um, Leben und Lebensorientierung (leben und muot), also die ungeteilte ritterliche Existenz ganz und gar demjenigen als Zins zu geben, dem sie gehört, der Anspruch darauf hat, weil er sie verliehen hat, bzw. weil er seine Existenz ebenso aufs Spiel gesetzt hat. Die Formulierung läßt beide Bedeutungen zu. Gleichgültig aber, ob nun Schöpfung oder Erlösung gemeint ist, in jedem Fall ist die kreuzritterliche Entscheidung ein Akt der Gegenseitigkeitsbindung an Gott, den Schöpfer und/oder Erlöser. Die Argumentation ist aus anderen Kreuzliedern 5

ZU diesem Lied vgl. bes.: WOLFGANG HAUBRICHS: Reiner muot und kiusche site. Argumentationsmuster und situative Differenzen in der staufischen Kreuzzugslyrik zwischen 1188/89 und 1227/28. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hrsg. von RÜDIGER KROHN u.a. Stuttgart 1978, S. 295-324. HELMUT BRACKERT: Kristes bluomen. In: Liebe als Literatur. Hrsg. von RÜDIGER KROHN. M ü n c h e n 1983, S. 11-23.

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bekannt. Bei Hartmann wird ihre Bedeutung für die höfisch ritterliche Lebensorientierung besonders herausgearbeitet. Es kennzeichnet den tumben, daß er sein ritterliches Streben nach Ruhm nur auf den weltlich höfischen Bereich beschränkt, denn damit verkennt er die Totalität von Ritterheil, die das Kreuz verheißt - wie mit der lehrsatzartigen Feststellung der ersten Strophe proklamiert worden ist. Im Gegensatz dazu ist derjenige wise, der sich vom Kreuz zum Handeln bewegen läßt, denn er erwirbt beides: der weite lop und der sele heil.7 Die Formel saelde und allez guot der ersten Strophe wird variierend, die höfisch ritterliche Ebene bezeichnend, wieder aufgegriffen. Der Aufruf zur Kreuznahme zielt also darauf, dem Kreuz die Priorität zuzuerkennen.8 Die Kreuzfahrt als Werk, zu dem das Kreuz motiviert und die Einsicht in das Recht bzw. die Pflicht zur Gegenleistung führt, ist der Weg der Verwirklichung von verheißenem Ritterheil. Mit dem Appell der ersten beiden Strophen wird also, obgleich das Gedankengut ganz eindeutig zum zeitgenössischen Programm von Kreuzzugspredigt und -aufruf gehört, kein Dualismus ritterlicher Heilsvorstellungen geschaffen; keine geistlich motivierte Abkehr von der Welt ist vom Kreuzritter verlangt. Vielmehr wird eine umfassende laikale Perspektive auf das Ritterheil entworfen, in der der Kreuzritter als der ideale Ritter erscheint, in dem dieser Dualismus gerade aufgehoben ist. Allerdings ist die Minnethematik in dieser Perspektive ausgespart, und eine entsprechende Ich-Rolle als Träger dieser Programmatik ist noch nicht eingeführt. Dies leisten die folgenden Strophen. Die dritte und vierte Strophe reflektieren auf jeweils verschiedenen Ebenen die Realisierung dieses Kreuzritterprogramms aus der Sicht einer Ich-Rolle, deren unterschiedliche normative Bindungen genau aufeinander bezogen werden müssen. In der dritten Strophe äußert sich ein Ich, das im Begriff ist, sich von der Welt und ihren trügerischen Lockungen abzuwenden. Im Blick auf die von tumpheit geprägte Vergangenheit - der tumbe man ist hier explizit der stultus, der verblendete, von Sünden bedrohte Mensch - und im Blick auf die vergängliche, wankelmütige Welt verkörpert im Bild der Dirne, der Hure Babylon, bzw. der trügerischen Frau Welt, die ihren Köder auswirft - richtet dieses Ich einen Hilferuf an den Erlöser, um sich im Zeichen des Kreuzes den Nachstellungen des Herrn dieser Welt entziehen zu können, der das Ich um sein Seelenheil bringen will. Hier wird also in topischer Form der Aufbruch des Dualismus von weltlicher und geistlicher Sicht auf das Heil durch eine geistliche Deutung des Kreuzes als Erlösungszeichen und seiner Verheißung des ewigen Heils der Seele inszeniert. Damit ist die laikale Deutung der Welt, des Ritters und des ritterlichen Weges im Kontext des Kreuzritterprogramms der ersten beiden Strophen preisgegeben. Dieses Ich definiert sich als sündenbedrohter, erlösungsbedürftiger Mensch, der bereit ist zur Umkehr, um gerettet zu werden. Seine kreuzritterliche Identität ist geprägt vom geistlichen Gehalt des conversio-Schemas. Derjenige, der in dieser Weise das Kreuz als Zeichen Christi trägt, spricht als Repräsentant der gefallenen Menschheit, nicht als Ritter im Sinn der ersten beiden Strophen. 6 7

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Vgl. Albrecht von Johansdorf MF 89,21 und 94,15. Tumpheit, wisheit, sin sind Leitmotive, an denen sich die Argumentationsstruktur des Liedes erkennen läßt. Etwa im Sinn der neutestamentlichen Aufforderung Mt 6,33.

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Demgegenüber hat die vierte Stophe das Ziel, den spezifisch ritterlichen Geheilt dieser Ich-Rolle neu zu definieren. Sie führt das Motiv der Weltabkehr fort, aber mit einer anderen Begründung. Die Trauer über den Tod des Herrn, die die Abkehr von der Welt auslöst, bezeichnet eine neue ritterliche Ebene der Selbstdeutung des Ichs im Zeichen des Kreuzes. Auf dieser Ebene ist die Welt nicht abgewertet, sie ist nur bedeutungslos geworden angesichts des Verlusts von vreude, den dieser Tod bewirkt hat. Der Begriff der vreude signalisiert die Positivität und Sinnhaftigkeit der höfischen Welt. Diese Welt ohne vreude ist unter ritterlichem Aspekt betrachtet eine sinnlose Welt. Das Ich wendet sich von ihr ab, ohne sie zu verurteilen (daz laze ich sin). Wie soll es sein Leben nun ausrichten? Im Hintergrund steht die geistliche Alternative der dritten Strophe. Es wäre (Konjunktiv!) vernünftig, in dieser Situation der weude-losigkeit sich um das ewige Heil zu kümmern, die Kreuzfahrt in diesem Sinn zu unternehmen. Der Gedanke wird aufgenommen, aber der angesagten ritterlichen Ebene anverwandelt: Kreuzfahrt ist sinnvoll, ist eine ritterliche Alternative, wenn sie Hilfeleistung für den Herrn ist, wenn das Heil dieser Fahrt ihm zur Hälfte zugesprochen wird und wenn dies ein Weg ist, der zu ihm führt, der bei Gott ist. Auch dieser Gedanke, der geteilte Lohn oder die stellvertretende Kreuzfahrt ist aus anderen Kreuzliedern bekannt.9 Er hat die Funktion, die konfliktträchtige Doppelbindung des Ritters im Minne- und Gottesdienst auszubalancieren. Dadurch, daß Gott der Dame und dem Ritter den Lohn der Kreuzfahrt je zur Hälfte zuspricht, d.h. die Dame am Heil der Kreuzfahrt teilhaben läßt, erkennt er den Ritter als Stellvertreter der Dame an, bestätigt er also die rechtsförmige Minneeinheit von Ritter und Dame in der Person des Kreuzfahrers. Hartmann paßt diesen Gedanken dem spezifischen Selbstverständnis des Kreuzfahrer-Ichs der vierten Strophe an, denn dieses Ich definiert sich als Ritter nicht aus seiner Minnedienstbindung an die Herrin und auch nicht unmittelbar aus der gottesdienstlichen Bindung, sondern aus seiner Dienstbindung an den Herrn heraus. Es ist eine Bindung, die über den Tod hinaus in idealtypischer Weise staete und triuwe verwirklicht, eine >erfüllte< Bindung - wenn man so analogice formulieren darf - , in der Dienst anerkannt worden ist, die darum vreude bewirkt hat. Diese vreude hat der Tod zerstört. Das Ich bewährt sich in der Trauer. Es kann diesem vreude- Verlust durch die Kreuzfahrt ritterliche Qualitäten abgewinnen, und es kann dessen sicher sein, daß dieser Bewährungsweg zum Ziel führt, - in der Minnesangterminologie gesprochen - ein guotez ende hat. Diese laikale, ritterliche Deutung und Funktionalisierung der Kreuzfahrt ist die Basis, auf der das umfassende Ritterprogramm der ersten beiden Strophen verwirklicht werden kann. Diese Deutung gelingt durch ein ritterliches Ich mit deutlich >biographischem< Autorprofil, durch die Hartmann-Rolle. In dieser Rolle bleibt Weltabsage, wie sie die dritte Strophe formuliert, in der Weise präsent, daß innerweltliches Heilsverständnis relativiert ist. Diese Relativierung ist angesichts des umfassenden Horizonts von Kreuzritterschaft ein argumentationslogisch notwendiger Schritt. Das traditionelle Motiv des contemptus mundi hat diese Funktion. Seine normativen Implikationen aber werden in der vierten Strophe ausgetauscht. Nicht das Ich der dritten Strophe, sondern das Hartmann-Ich der vierten ist der adäquate Träger des 9

Vgl. Albrecht von Johansdorf MF 94,25; Hartmann MF 211,20.

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Kreuzritterprogramms. Die normativen Voraussetzungen seiner Weltabkehr und seiner Entscheidung zur Kreuzfahrt entsprechen diesem Programm. Wir kennen diese Rolle aus mindestens zwei anderen Liedern, dem Minnelied M F 205,1 und dem dritten Kreuzlied M F 218,5. 1 1 Auch hier wird der Tod des Herrn als Auslöser für ein verändertes ritterliches Selbstverständnis genannt. Ein Vergleich mit der dritten Strophe von MF 205,1 soll zeigen, wie Hartmann mit dieser Rolle im Kontext des Minneliedes agiert. Er kann die strukturelle Determination, die Minnesangförmigkeit dieser Rolle und damit ihre literarischen Möglichkeiten erkennbar machen, die Hartmann im Kreuzlied nutzt. 1 2 Ich hän des reht, daz min lip trùric wan mich twinget swaz vröiden

mir von kinde wonte

die sint verzinset, Mich hat beswaeret

si,

ein vii sendiu als ez got

not. bi,

gebòt.

mines herren

tòt.

dar zuo sö trüebet mich ein varende mir hat ein wip genäde der ich gedienet stt der stunde,

hän mit

leit:

widerseit, staetekeit,

daz ich üf mime stabe reit. (MF 206,10-18)

Ich habe allen (Rechts-)Grund, daß mein Leben voll Trauer ist, denn mich bezwingt ein bedrückendes Liebesleid. Alle Freuden, die mich von Kind auf umgaben, die sind mit Zins belegt, so hat Gott es verfügt. Mich hat meines Herren Tod niedergedrückt. Dazu betrübt mich ein chronisches13 Leid: Mir hat eine Frau ihre Huld aufgekündigt, der ich mit Beständigkeit gedient habe, seit der Stunde, daß ich auf dem Stecken ritt. Ich skizziere den Kontext der Strophe, soweit er für das Verständnis notwendig ist. Das Lied stellt in unerhört radikaler Form den Sinn von Minnedienst in Frage, zit, dienest, wàn sind versümet (205,6f.), staete führt nicht zur liebe (205,5), nicht zur saelde (205,16). D a s vernichtende Resumé eines Lebens i m Minnedienst gipfelt im 10

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Von hier aus gesehen scheint die 3. Strophe die Funktion zu haben, die notwendige Weltdistanz des Kreuzfahrers zunächst programmatisch »falsch«, nämlich geistlich zu interpretieren, damit in der 4. Strophe dann ganz gezielt das geistliche Deutungsmuster durch ein dezidiert ritterliches ersetzt werden kann. Damit entscheide ich mich für den von CARL VON KRAUS konjizierten Text. Vgl. dazu auch Anm. 16. - Im sog. Unmutslied MF 216,29 wird Hartmann zwar mit Namen genannt, das Ich des Liedes also explizit als Autor-Ich identifiziert, aber der Herrendienst fehlt und auch der Tod des Herrn. Das läßt auf andere strukturelle Gegebenheiten in diesem Lied schließen, und darum grenze ich es für die Beschreibung der Autorrolle im Kreuzlied aus. Ich lege - auch bezüglich der Strophenfolge - den Text von M / T I zugrunde. Vgl. zum Lied: HELMUT BRACKERT:Hartmann von Aue: Mich hat beswaeret mines herren tot. Zu MF 205,1. In: Interpretationen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von GÜNTHER JUNGBLUT. Bad Homburg - Berlin - Zürich 1969, S. 169-184. Zur Übersetzung von ein varende leit vgl. den Vorschlag von ULRICH PRETZEL im Anhang z u MATTHIAS LEXERS M i t t e l h o c h d e u t s c h e m T a s c h e n w ö r t e r b u c h , S t u t t g a r t 1974, S. 477, d e n

ich hier übernehme. In der Forschung überwiegt die auch mögliche Übersetzung »vergänglich«, die, weil sie das Minneleid als »minder gewichtig« erscheinen läßt, den Gedankengang widers p r ü c h l i c h m a c h t . Vgl. d a z u : CHRISTOPH CORMEAU u n d WILHELM STÖRMER: H a r t m a n n v o n

Aue. Epoche - Werk - Wirkung. München 1985, S. 84.

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vluoch und im haz des Sängers gegen sich selbst; diu schulde ist min (205,14), da bin ich alterseine schuldic an (205,18). Allerdings wird diese Selbstbeschuldigung schlußfolgernd aus der ablehnenden Haltung der Dame abgeleitet. Diese Ablehnung, so wird unterstellt - und damit wird die Rolle der hohen Minnedame im funktionalen Sinn beim Wort genommen - ist berechtigt. Das Ich vollstreckt mit seiner Selbstverurteilung an sich selbst den Rechtsspruch der Dame. Aus ihrer wertenden und richtenden Perspektive - und für das Selbstverständnis des hohen Minnedieners gibt es nur diese - muß sich das Ich als schuldig, als wandelbaere erkennen, wandel ist das zentrale Vergehen gegen die staete des Dienstes. Dienst ohne staete und triuwe ist Felonie, sie wird mit dem Tod bestraft. Wäre der Minnediener nicht wandelbaere, hätte die Dame wol getan. Da sie ihn verstoßen hat, ist seine Schuld evident, und dies vernichtet ihn. Da sie auch in ihrer Ablehnung die Wertinstanz bleibt, die sie ist, spricht er sich schuldig und vernichtet sich damit selbst. Hartmanns Strategie der Minne- und Minnedienstkritik ist höchst subversiv: Das Ich, das sich in einer Art geschlossenem System quasi juristischer Beweisführung mit dem Urteil der Dame identifiziert, ist genau dadurch, daß er dies tut, die idealtypische, rollenkonforme Verkörperung des Minnedieners. Es verkörpert absolute staete dadurch, daß es sich des wandels beschuldigt und die Verstoßung durch die Dame als gerechte Strafe anerkennt. In dieser paradoxen Zuspitzung ist die das Punktionsmodell der hohen Minne prägende paradoxe Grundsituation konsequent zu Ende gedacht. Dieses Modell sieht vor, daß sich ritterliche Identität in ihren zentralen Wertaspekten der staete und triuwe in der lebenslangen Dienstbindung des Ritters an die Dame verwirklicht und vervollkommnet. Die Voraussetzung dafür ist die Kompetenz der Dame, ritterlichen Dienst zu beurteilen, und die Möglichkeit des Ritters, diesen Dienst immer wieder neu unter Beweis zu stellen. Dieser Prozeß ist so unendlich, wie der von der Vollkommenheit der Dame ausgelöste Weg der Bewährung zwangsläufig unendlich ist. Das zeitliche ende des Wegs einzuklagen (die Lohnforderung) ist einerseits notwendig, um der Bewährung als Wertverwirklichung in Raum und Zeit Geltung zu verschaffen, und ist andererseits sinnlos, weil der Weg das durch die Dame gesetzte Wertniveau niemals erreichen kann. Das ende zu fordern, ist unter dem Realisierungsanspruch also ebenso notwendig, wie es unter dem Optimierungsanspruch unmöglich ist, es einzulösen. Mit dem realen ende kollabiert darum das Punktionsmodell der hohen Minne. Das gilt für das gute und auch für das böse ende. Hartmann inszeniert in diesem Lied die Bedingungen für ein böses ende. Wenn die Dame als Wertinstanz und als Herrin über Leben und Tod in der Selbstsicht des Minnedieners als absolut erklärt wird, entfällt der Spielraum für die Interpretation und Bewertung von Dienst, und ein positives Urteil ist nicht mehr denkbar. Insofern diese Haltung den Regeln der hohen Minne grundsätzlich entspricht, ist der paradoxe staefe-Beweis, den die Selbstvernichtung des Ichs liefert, Zeichen für die Untauglichkeit des Modells. Hartmann führt die hohe Minne mittels ihrer eigenen Regeln ad absurdum. Ich versuche, die dritte Strophe in dieses radikale Experiment der Minnekritik einzuordnen. Im Rahmen der Rechtfertigung des trurens als Grundgestimmtheit des Sängers wird eine sendiu not, eine minnespezifische Bedrängnis genannt, die so gar

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nichts mit Minne zu tun zu haben scheint, das bedrückende Leid (swaere) als Reaktion auf den Verlust aller vreude von Kindheit an durch den Tod des Herrn. Dieses Leid wird dem varenden leit, das aus der Feindschaft der Herrin resultiert (genäde widersagen), zugeordnet, hinzugefügt (dar zuo). Der ungelohnte Minnedienst und der Abbruch des gelohnten Herrendienstes werden dadurch miteinander vergleichbar. Beide sind Dienst von Kindheit an, beide machen das Ich truren. Allerdings sind unterschiedliche Akzente gesetzt: Der Tod des Herrn schafft ein reht für das truren, löst aktuell ein (Liebes)leid aus (sendiu not), das zu Boden zwingt (twingen). Die Aufkündigung der Huld durch die Herrin verursacht ein das Ich ständig begleitendes, nicht loslassendes (varende), sein Leben verdüsterndes und verwirrendes (trüeben) Leid. Das Minneleid ist nicht weniger gewichtig, es bezeichnet den >chronischen< (unaufhebbaren) Leidzustand des Minnedieners. Weil auch das Leid, das der Tod des Herrn verursacht - eigentlich ein Fremdkörper im Minnelied - als typisches Minneleid stilisiert ist, wird die Grundgestimmtheit des trurens verstärkt; das Nebeneinander der beiden Motive des trurens aber dient dem Vergleich und im Rahmen des Vergleichs der Konfrontation der Dienstbeziehungen. Der Tod des Herrn hat vreude zerstört, die Feindschaft der Herrin hat vreude verhindert. Diese Konfrontation der Dienstbeziehungen ist nicht aus der Luft gegriffen, wenn man bedenkt, daß die Beziehung hoher Minne nach dem Muster der lehnsrechtlichen oder ministerialischen Dienstbeziehung konzipiert und stilisiert ist. Herrendienst ist genau besehen von Anfang an Modell des Frauendienstes, er steht als normatives Muster im Hintergrund der Minnereflexion. Hartmanns Innovation besteht eigentlich >nur< darin, daß er mit seiner Rolle die Verbindlichkeit dieses Musters real, gewissermaßen leibhaftig realisiert, einem Frauendienst gegenüber zur Geltung bringt, der den rechtlichen Implikationen dieses Dienstverständnisses nicht genügt - und auch das gehört als argumentative Strategie schon lange vorher zum Inventar des Minneliedes, wenn der Dame als Herrin des Minnedienstes ungena.de, unreht, sünde, Rechtsverletzung im weitesten Sinn vorgeworfen wird. Die Konfrontation im Medium der Hartmann-Rolle läuft also auf einen strukturellen Vergleich hinaus, mit dem die paradoxe Grundsituation des Dienens und Sichbewährens unter den Bedingungen der hohen Minne verschärft dargestellt und ihre für das Ich bedrohlichen, tödlichen Folgen gezeigt werden können: Im Kontext des Herrendienstes ist der Dienende in seiner Identität als dienstman bestätigt, sind triuwe und staete belohnt und damit als verwirklichte Qualitäten des Dienstes anerkannt worden. Nach dem Tod des Herrn besteht Trauer daher zu Recht als Zeichen des Verlusts von einstmals realer positiver Lebensführung (vreude). Im Kontext des Minnedienstes dagegen hat die Herrin dem Dienenden durch die Verweigerung des Lohns triuwe und staete aberkannt. Seine Identität ist damit in Frage gestellt, und seine Trauer ist Zeichen eines verfehlten Lebens. Im Medium der Hartmann-Rolle, die beide Dienstkonzepte in sich vereinigt, wird das traditionelle Minneleid nicht nur gesteigert und als Ausdruck totalen Identitätsverlusts radikalisiert dargestellt - und dies umso schärfer, je mehr sich der Dienende das Urteil der Dame zu eigen macht, je >klassischer< er sich verhält - , mittels dieser Rolle kann gleichzeitig auch - und darin liegt ihre spezifisch neue, für das Kreuzlied

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relevante literarische Leistung - der Herrendienst als Maistab der Kritik am Frauendienst explizit gemacht werden. Sie verkörpert die lebensweltlich verankerte Norm des Dienstes, der der Frauendienst entsprechen muß, wenn er das exklusive Paradigma der Reflexion ritterlicher Lebensform sein will, das er zu sein beansprucht. Hartmann agiert mit dieser Rolle auf zwei normativen Ebenen der Dienstdefinition, die einander in der Strategie der Minne- und Minnesangkritik ergänzen können, weil über das Motiv des trurens die Minnesangförmigkeit der Rolle des Herrendieners gewährleistet wird.14 Je rückhaltloser das Ich auf der Ebene des Minnedienstes seine (negative) Selbsteinschätzung aus der Ablehnung der Dame ableitet und dadurch buchstäblich zunichte wird, umso radikaler wird die Normativität dieses Minne Verhaltens durch den Repräsentanten des Herrendienstes in Frage gestellt. Auf der Ebene des Herrendienstes ist die übergreifende Norm des Dienstes maßstäblich etabliert. Das Hartmann-Ichs als Träger dieser Norm verdeutlicht darum nicht nur das Unrecht der Dame, sondern auch dessen Tragweite. Wenn die Herrin als Instanz für die Bewertung von Dienst dominiert - und das ist im Minnelied zwangsläufig der Fall - , dann ist Minnedienst kein Modell, in dem die ritterliche Gesellschaft ihr ideales Selbstbild erkennen kann. Der von diesem Minnedienstkonzept geprägte Minnesang ist disfunktional. Dies kommt am Ende des Liedes in krasser Form zum Ausdruck: si lönde mir, als ich sie dühte wert. michn sieht niht anders wan min selbes swert.

(MF 206,8f.)

Sie lohnte mir nach Maßgabe dessen, was ich in ihren Augen wert war, (und der Wert des Dienstes hängt nur von ihrem Werturteil ab, deshalb:) mich erschlägt nur mein eigenes Schwert.

Ich paraphrasiere diesen Schluß: Als Minnediener bin ich das, was die Dame aus mir macht, und bin das wert, was die Dame für wert hält. Wenn sie mich ablehnt, bin ich nichts wert. Nicht sie also richtet mich zugrunde, sondern mein nach den Regeln des Minnedienstes ausgerichtetes Rittersein, meine eigene ständische Identität. Die Hartmann-Rolle kann sich im Minnelied nur indirekt artikulieren. Träger der Aussage ist das Ich des Minnedieners. Daß aber der Herrendiener in ihm präsent ist, zeigt sich in seiner lapidaren, den Minnesangkontext sprengenden Selbstdeutung. Dienst im umfassenden Sinn ist tödlich, solange die Regeln der hohen Minne ihn bestimmen. Die Autor-Hartmann-Rolle mit ihrer >außerhalb< der Reichweite der Minnesangrollen formulierten ritterlichen Dienstqualität hat in diesem Lied die Funktion, die (Selbst-) Zerstörung des Minne-Ichs zum Bezugspunkt radikaler Minnekritik zu machen. Ich fasse zusammen, was aus diesem Vergleich mit MF 205,1 bezüglich der strukturellen Beschaffenheit der Autor- oder Hartmann-Rolle für die Interpretation des Kreuzliedes festgehalten werden soll. Es ist eine Rolle, in der Dienst als ritterliche Lebensform minnesangübergreifend thematisiert werden kann, und es ist eine Rolle 14

Insofern kann man auch sagen, daß der Tod des Herrn, unabhängig von der Frage nach seiner biographischen Faktizität, ein strukturelles Erfordernis der Minnesangdiskussion ist, die Hartmann mit seiner Autorrolle führt.

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der Minnesangdiskussion. Auf der Basis der strukturellen Analogie der Dienstkonzepte wird die Maßstäblichkeit des Herrendienstes dem Frauendienst gegenüber zur Geltung gebracht. Möglich ist dies über das gemeinsame Motiv des trürens bzw. der Klage als gattungstypische Haltung des Minnesängers. Im Vergleich der Gründe für dieses trüren werden die normativen Bedingungen der beiden Dienste miteinander verglichen und konfrontiert. Die Herrendiener-Identität dieses Hartmann-Ichs bezeichnet eine >Außenpositionalten< Rechte eintreten kann als die eine geistliche und weltliche Instanz, die ritterliches Handeln motiviert. Insofern ist die Präsenz der Hartmann-Rolle im dritten Kreuzlied unabdingbar. Ich paraphrasiere die entscheidenden Verse: Wenn aber mein Herr noch leben würde, dann würde die Bedrohung des Heiligen Grabes durch Saladin und sein gesamtes Heer mich überhaupt nicht von hier fortbewegen, d.h. alle Kreuzzugspropaganda würde als Motivation nicht ausreichen. Nur die Minne kann mich bewegen, und daß sie es kann, ist möglich, weil der Tod meines Herrn mich dazu bewegt, Ritterschaft in idealer Form, orientiert an vergangener und ausgerichtet auf zukünftige vreude zu verwirklichen. Aus der Perspektive dieser Dienstidentität, die die Hartmann-Rolle verkörpert, ist Minne, was sie sein soll - und im Minnesang nicht sein kann - , die das ritterliche Leben absolut beherrschende und zur vreude führende Macht. Nur diese Sängerrolle gibt daher dem Minnesang die richtige Orientierung. Die Leistung des interpretierten ersten Kreuzliedes besteht darin, diese Rolle zu entwerfen (in der ersten bis vierten Strophe) und ihre Minnesangbedeutung zu entfalten (die fünfte und sechste Strophe der Handschrift C). Im dritten Kreuzlied agiert sie als exemplarischer Träger eines Minne-Kreuzliedes. Es ist ein Lied, in dem die ganze Reichweite der Minne öffentlich im Auftritt des Kreuzfahrersängers, in der Situation des Abschieds - und gerade dieses Lied ist gekennzeichnet durch seine »Aufführungsform« 17 - deutlich wird. Es erteilt dem Minnesang der hohen Minne eine Absage und fordert einen Minnesang der Gegenseitigkeit nach dem Vorbild der Gottesminne. Ein Minnelied, das diese Forderung erfüllt, gibt es nicht. Hartmanns Minneabsage oder das sog. Unmutslied MF 216,29 entwirft mit dem armen wip, das der Gegenseitigkeitsforderung entspricht, gerade keine neue Minnedame. Die Wendung zu den armen wip führt das Hartmann-Ich ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der höfischen Minne hinaus als Zeichen für die ständische und literarische Grenzüberschreitung, die eine solche Rolleninnovation bedeuten würde. Es kann kein Minnelied an das arme wip geben, ohne die höfische Verbindlichkeit der Rolle und der Gattung aufzulösen, d.h. es ist unter den Bedingungen der Gattung Minnesang keine Damenrolle denkbar, an die dieser aus dem Herren-Kreuzdienst begründete Minnedienst adressiert werden kann. Im Medium des Kreuzliedes aber ist es möglich, ein neues Minneprogramm zu formulieren und mit der HartmannRolle einen Sänger zu präsentieren, der als Verkörperung der funktionalen Einheit von Minnedienst, Gottesdienst und Herrendienst dieses Programm realisiert. Mein Interpretationsanliegen war die Beschreibung der literarischen Prägung der Ich- oder Autorrolle Hartmanns und die Bestimmung ihrer Funktion im Kreuzlied. 17

HUGO KUHN: Minnesang als Auffiihrungsform. In: H.K., Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 1 8 2 - 1 9 0 .

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Ich habe versucht (dem diente vor edlem der Vergleich mit der Minneliedstrophe MF 206,10), die minnesangspezifische Leistung des Kreuzliedes im Medium dieser Rolle herauszuarbeiten. Dabei sind die Konturen der für Hartmann typischen Minnesangdiskussion deutlich geworden, sein autortypisches literarisches Programm. Unter diesem letzten Aspekt möchte ich meine Eingangsfrage nach der Bedeutung der lebensweltlichen und/oder biographischen Realität, die in dieser Rolle steckt, wieder aufgreifen: - Welche neue, strukturelle Ebene der Reflexion ritterlicher Werte ist mit dieser biographisch besetzten Rolle bezeichnet? - Wie läßt sich diese Rolle mit ihrer ständischen Kontur literarisch identifizieren? - Mit dieser Rolle ist eine neue >Außenperspektive< auf die Gattung gerichtet. Wie läßt sich ihre literarische Leistung genauer bestimmen? Die Fragen betreffen Hartmanns Minnesang insgesamt und setzen die Analyse des Lied-Oeuvres voraus. Ich möchte daher - ausgehend von einem kursorischen Vergleich mit der Walther-Rolle, deren spruchdichterliche Identität und innovatorische Funktion seit G E R H A R D H A H N S Untersuchungen zum Bestand der WaitherForschung gehören18 - nur ein paar Anmerkungen dazu abschließend zusammentragen. Walthers entscheidende Neuerung besteht darin, daß er an die elitäre, aristokratisch-höfische Gattung Minnesang mit ihrem exklusiven standesethischen Selbstverständnis eine Universalethik heranträgt, in der Wert und Rang nur beanspruchen darf, wer Wert und Rang realisiert, unter Beweis stellt. Diesem Prinzip der Wertverwirklichung entsprechend ersetzt Walther die hohe Minnedame durch die erfüllungsbereite und auf Gegenseitigkeit ausgerichtete Partnerin, gestaltet das Verständnis von Minne programmatisch um durch das Konzept der herzeliebe, der »Beglückungsminne«, und weist dem von diesem Programm bestimmten Minnesang die neue Funktion zu, die reale sozialethische Verfassung des Hofs und der Hofgesellschaft an der Bereitschaft zu messen, den Minnesang der herzeliebe zu akzeptieren, d.h. sich das universalehtische Normverständnis, das er proklamiert, zu eigen zu machen. Mit dieser Innovation zielt Walther auf seine Weise auf einen Minnesang ab, der vreude bewirkt. Organ dieser Innovation ist die spruchdichterlich definierte Walther-Rolle, denn die Spruchdichtung ist als Gattung von diesem Normverständnis geprägt. Die biographischen Konturen dieser Rolle (der Fahrende, der außerhalb des Hofs steht, um Aufnahme am Hof wirbt, unter dem Schicksal des Unbehausten leidet, auf Gönnergunst angewiesen ist usw.) sind nur als literarische identifizierbar. Der fahrende Walther ist der Sangspruchdichter. Mit dieser literarischen Walther-Rolle ist also strukturell eine Reflexionsebene geschaffen, auf der die höfisch ritterlichen Werte der Universalethik unterstellt und das exklusive Selbstverständnis des Hofs aufgebrochen werden kann. Walthers Außenperspektive auf die Gattung problematisiert die Funktion von Minnesang im Kontext höfisch repräsentativer Selbstdarstellung. 18

GERHARD HAHN:

Walther von der Vogelweide. Eine Einführung. München - Zürich 1986.

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Ortmann

Die Andersartigkeit der Hartmann-Rolle liegt auf der Hand. Realisierungs- und Gegenseitigkeitsforderung kennzeichnen auch sie, aber diese Forderungen sind aus einer radikalen Dienstethik abgeleitet, deren literarischer Ort nicht ohne weiteres ausgemacht werden kann. Die literarische Identität des Hartmann-Ichs ist schwer erkennbar. Der methodische Aspekt dieses Problems sei noch einmal erinnert: Auch wenn man unterstellt, daß es der biographische Hartmann ist, der sich artikuliert, muß die literarische Signifikanz seiner Rolle geklärt werden. Naheliegend ist der Vergleich mit der Autorrolle der Epik.19 Hier ist Hartmann der miles litteratus und der mit Namen genannte Ministeriale von Ouwe. Auffällig ist die Kombination von dezidiert ständischer, namentlicher (dienstman was er ze Ouwe) und kulturell literarischer, namenloser Selbstdarstellung des adeligen Laien Hartmann (ein ritter so geleret was). Hier wird exemplarisch die ständeübergreifende Reichweite höfischer Literatur deutlich gemacht, in der sich der Epiker Hartmann sieht. Der dienstman Hartmann als buchgelehrter Ritter betont wie der schildes ambet tragende, Buchgelehrsamkeit ablehnende Wolfram die standesethische Ausrichtung seiner Autorrolle (wobei die Diskrepanz des an diese Standesethik gebundenen literarischen Selbstverständnisses kaum größer sein kann). In den Liedern ist Hartmann dienstman in einem dem Minnedienst analogen Herrendienst,20 er ist Herrendiener, nicht Ministeriale. Die gattungstypische Rolle des Dienenden schließt auch den gelehrten Ritter aus, wie umgekehrt die Epik den trauernden Herrendiener nicht kennt. TVauer und Dienst sind topische Elemente des Minnesangs, der miles litteratus gehört zur Legitimationstopik der Epik. Der dienstman ze Ouwe im epischen Kontext bezeichnet den Standesangehörigen im Kontext der kulturell und standesethisch definierten Rittergemeinschaft, der im Herrendienst dienende dienstman den Minnediener und -Sänger als Träger einer standesethischen Norm. Der Vergleich verweist auf die Gattungsgebundenheit der Autorrollen und macht zunächst nur deutlich, daß die Epik für die literarische Präzisierung der Hartmann-Rolle im Minnesang nichts beisteuern kann außer der Bestätigung, daß Hartmann weder dort noch hier biographische Aussagen machen will. Ich setze noch einmal bei der normativen Prägung dieser Rolle an. Die HartmannRolle mit ihrer rigiden Dienstethik stellt im Minnesang - vermittelt über die analogen Strukturen von Herrendienst und Minnedienst - eine in die ständische Realität ausgreifende Minnedienstexpertenrolle dar. Sie referiert damit auf ein minnesangspezifisches Bewußtsein von ständischer Identität, nicht auf den realen Stand des Autors und auch nicht auf die Ministerialität als Stand. Sie bietet - im Minnesang und für die Diskussion von Minnesang - eine neue Reflexionsebene an, auf der die ritterlichen Werte, die der Minnesang vermittelt, einem realitätsbezogenen laikalen Dienstethos unterstellt werden. Es ist eine Rolle, die idealen Ritterdienst, thematisch 19

20

»Der arme Heinrich< V. 1-5 und >Iwein< V. 21-29. Die beiden Selbstaussagen unterscheiden sich gerade in Bezug auf die ständische Profilierung des Autors; im >Iwein< ist Hartmann nur der Ouwaere, also noch viel eindeutiger auf den miles litteratus festgelegt. Für den hier unternommenen kursorischen Vergleich spielt dieser Unterschied keine Rolle. Der Herrendiener bezeichnet sich im Lied nicht als dienstman. Er könnte dies aber durchaus tun und würde sich damit in einer Minnerolle darstellen, die auf die Norm des Herrendienstes bezogen und insofern ständisch konturiert ist, aber keinen Stand bezeichnet.

Minnedienst - Gottesdienst - Herrendienst

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ausgelagert (Herrendienst) aber strukturell bezogen (auf Minnedienst) verkörpert. Hartmann tritt in dieser Rolle aus der Minnekonstellation heraus, er bezieht sich von >außenAußenperspektive< auf die Gattung vom Standpunkt dieser realitätsbezogenen Rolle aus ist und bleibt eine kreuzliedspezifische: Minnesang eines umfassenden Minnedienstes, in dem Frauendienst noch mit gemeint sein, aber nicht mehr thematisch werden kann. Hartmanns programmatische standesethische Innovation des Minnesangs bleibt - wie seine Rolle - an das Kreuzlied gebunden, ist Ergebnis eines typenspezifischen Experiments. Sie führt nicht wie bei Walther zu einer Erneuerung und zu einem tiefgreifenden Funktionswandel der Gattung. Hartmann entwirft keinen neuen Minnesang, er entwirft >nur< einen neuen Minnesänger, an dem sich Gegenseitigkeit und Realisierungsbereitschaft erfüllt haben, einen Sänger der absoluten Minne und des absoluten Dienstes. Hinsichtlich der Radikalität dieses minnesangkritischen Ansatzes ist Hartmann, scheint mir, der kompromißlosere: Mit seiner Autorrolle ist im Kreuzlied ein Hebel geschaffen, um die Gattung aus den Angeln zu heben. Das damit vergleichbare Minnelied, das sog. Unmutslied, macht klar, daß der angekündigte Ausbruch des Sängers Hartmann aus der Minnesangkonstellation irreversibel sein wird. In diesem Lied und im Kreuzlied steht der Minnesänger Hartmann an der Grenze der Gattung.

JOHN MARGETTS (Genova)

Zum Begriff der »Entbehrung« in deutschen Minneliedern

Zu Ehren des altehrwürdigen Hauses, in dem wir tagen, möchte ich mit einem Zitat von einer Benediktinerin beginnen: [...] ut omnibus patet, immoderato amore complexa sum. Nosti, karissime, noverunt omnes quanta in te amiserim et quam, miserabili casu summa et ubique nota prodito me ipsam quoque mihi tecum abstulerit, ut incomparabiliter sit dolor ex amissionis modo quam ex dampno. Quo vero major est dolendi causa, majora sunt consolationis adhibenda remedia, non utique ab alio, sed a te ipso, ut, qui solus es in causa dolendi, solus sis in gratia consolandi. Solus quippe es qui me contristare, qui me letificare seu consolari valeas, et solus es qui plurimum id mihi debeas et nunc maxime cum universa que jusseris in tantum impleverim ut cum te in aliquo offendere non possem, me ipsam pro jussu tuo perdere sustinerem. Et quod majus est dictuque mirabile, in tantam versus est amor insaniam ut quod solum appetebat, hoc ipse sibi sine spe recuperationis auferret, cum ad tuam statim jussionem tarn habitum ipsa quam animum immutarem, ut te tarn corporis mei quam animi unicum possessorem ostenderem. Nichil umquam (Deus seit) in te nisi te requisivi; te pure, non tua concupiscens.1 In diesem zweiten Brief des uns überlieferten Briefwechsels von Heloisa und Abaelard, dem ersten, den Heloisa selbst an ihren Mann, domino suo, immo patri; conjugo suo, immo fratri2, geschrieben haben soll, drückt sie den ganzen Schmerz aus, den sie bei der erzwungenen Trennung von ihrem Ehemann immer noch empfindet. Die Aufopferung eines Menschen für einen anderen gelangt hier zu vollendetem schriftlichen Ausdruck. Als 1

Zitiert wird hier nach der Ausgabe von J[ACQUES] MoNFRlN: Petrus Abaelardus, Historia calamitatum. Paris 1959 (Bibliothèque des textes philosophiques), S. 114,125-144. Die deutsche Ubersetzung lautet: [...] alle Welt bezeugt es, daß meine Liebe zu Dir kein Maß und kein Ziel gekannt. Herzliebster, Du weißt es, alle wissen es, was ich in Dir verloren, wie jammervoll der Sturz war nach dem schwärzesten Verrat, den die Welt kennt; Dich verloren und in Dir mich verloren, schmerzt tief; doch abgrundtief schmerzt es, wie ich Dich verlieren mußte. Wer unter stärkstem Druck leidet, verlangt auch die stärksten Heil- und Trostmittel, und er verlsingt sie nicht von irgendwem sonst, sondern von Dir und nur von Dir. Du einzig, Du allein schlugst mir die Wunde, heile Du sie auch gnadenvoll! Du allein kannst mich betrüben, Du allein kannst mich fröhlich machen und trösten, und Du allein bist dazu verpflichtet, so stark, wie es nur ein Mensch sein kann. Jeden Befehl von Dir habe ich ausgeführt in so blindem Gehorsam, daß ich auf Dein Geheiß mich selbst opferte: ich mußte Dir eben gehorchen. Aber noch nicht genug, ich traue mich kaum es zu sagen, meine Liebe schlug um in Wahnsinn; sie opferte in hoffnungslosem Verzweifeln das eine einzige Ziel ihrer Sehnsucht. Ohne Zaudern - Du, Du gabst ja den Befehl - brachte ich mein altes Gewand und mein altes Herz zum Opfer, um aller Welt zu zeigen, wie ich Dein eigen sei mit Leib und Seele. Gott ist mein Zeuge, ich habe je und je in Dir nur Dich gesucht, Dich schlechthin, nicht das Deine, nicht Hab und Gut. (Abaelard. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Übertragen und hrsg. von EBERHARD BROST. Mönchen 1987 (dtv 2190), S. 80f. [= Nachdruck der 4., von WALTER BERSCHIN revidierten Aufl. Heidelberg 1979].)

2

MONFRIN (s. A n m . 1), S. 113, 1 - 3 (bei BROST [S. A n m . 1], S. 74).

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John Margetts

Dokument einer historischen Beziehung - ich klammere hier bewußt die immer noch andauernde Authentizitätsdiskussion aus 3 - findet sich im europäischen Mittelalter kein ergreifenderer Ausdruck des Leidens über das Ohne-den-anderen-auskommenMüssen. Nicht umsonst lautet eine der Definitionen des Wortes »Liebe«: sich nach der Anwesenheit des geliebten Menschen sehnen, wenn man von ihm bzw. ihr getrennt ist. 4 Diese Situation der Trennung bildet bekanntlich die bei weitem größte Zahl der in den Liebesliedern des 12. und 13. Jahrhunderts dargestellten Situationen. Es gibt in den Liedern eine breite Skala von Reaktionen auf diese Situation, z.B. von der läppischen, übertrieben devoten Anrede Kristans von Hamle an die Wiese: 5 Ich wolte daz der anger sprechen solte als der sitich in dem glas und er mir danne rehte sagen wolte wie gar sanfte im hiure was, dö min frouwe bluomen las abe im und ir minnenclichen füeze ruorten üf sin grüenez gras.

[...] erloubet mir, her grüener Plan, daz ich mine füeze setzen müeze da min frouwe hat gestän.

[...] wirdet mir von ir ein lieplich grüeze, so gruont min herze als iuwer kle. (KLD S. 221: II, 1; 2,5-7; 3,6f.) bis zur larmoyanten Feststellung Ulrichs von Lichtenstein, daß er im Gegensatz zur jahreszeitlich bedingten Harmonie an Herzkrankheit leidet: Der meie troestet al daz lebt, wan mich ml minnesiechen man. daz herze min ist minne tmint: daz muoz ich sunder fröide sin. ist daz min lip iht fröiden hebt, 3

4

5

Hierzu s. jetzt überzeugend ELISABETH SCHMIDT: Die Regulierung der weiblichen Rede. Zum Problem der Autorschaft im Briefwechsel Abaelard-Heloisa. In: Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik. Hrsg. von INGRID BENNEWITZ. Göppingen 1989 (GAG 517), S. 83-111. Festzustellen, daß sich die Gefühlsstärke dieser und anderer Stellen beim Ausdruck der Leidenschaft den Stil der ovidischen Heroiden zum Vorbild nimmt, entkräftet meine Argumentation nicht, denn bei der Diskussion von toposähnlichen Fragen muß weiter gefragt werden, was für ein Sachverhalt sich in dieser sog. »konventionellen« Form artikuliert. Siehe M A J A LANGSDORFF: Die Sucht zum Anderen. Psychologie heute, 17. Jg., November 1990, S. 92f. (= Rezension von STEPHANIE COVINGTON und LIANA B E C K E T T : Immer wieder glaubst du, es ist Liebe: Wege aus der Beziehungssucht. München 1990). Zitiert wird mit Seite und Liednummer nach: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von CARL VON KRAUS. Bd. 1: Text. Bd. 2: Kommentar. Besorgt von HUGO KUHN. 2. Aufl., durchgesehen von GISELA KORNRUMPF. Tübingen 1 9 7 8 [abgekürzt: KLD].

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Zum Begriff der »Entbehrung« in deutschen Minneliedern

daz herze siht mich weinend an und giht ez si vil ungesunt: so muoz ich län die fröide min.

(KLD S. 436: IX, 2)

Unterschiedliche Gründe werden angeführt, um nun das Nicht-Zusammenkommen mit der geliebten Frau zu erklären: Soziale Hindernisse, die böse Gesellschaft, der zu hohe Rang der Frau bzw. ihre zu niedere soziale Stellung, oder die fehlende Bereitschaft der Frau, die Annäherungswünsche bzw. -versuche des Mannes zu akzeptieren. Die Reaktion auf diese Situation seitens des Mannes ist oft der Schwur einer nichtendenden Dienstbereitschaft, weniger oft auch ein zorniges Aufgeben der Liebe, gelegentlich auch verbunden mit dem Ausdruck von Rachegefühlen über den eigenen Tod hinaus. 6 Die klassische höfische Lyrik zeigt uns also häufig Situationen, in denen das Ich des singenden frustrierten Liebhabers das nicht erreicht, was es angeblich erreichen wollte. Es muß nolens volens ohne die Liebe auskommen und lebt in einem nie endenden Zustand der Entbehrung. Diese Situation des Ohne-dengeliebten-Menschen-auskommen-Müssens wird einerseits als solche nicht akzeptiert. Andererseits wird die Ernsthaftigkeit der Entbehrung nicht begrifflich artikuliert. Wie kann jemand um 1200 ausdrücken, daß ihm bzw. ihr etwas fehlt, daß er bzw. sie etwas nicht hat, was er bzw. sie gerne hätte? Die am meisten verwendeten Wörter scheinen mir zu sein: enbem, enthaben, entsagen, entwesen, verzigen J Davon sind enthaben, entsagen und verzigen, die alle einen Anklang ans Juristische 8 haben, verhältnismäßig selten. Entwesen ist sehr selten und auch seit dem Mittelalter ausgestorben. Nur eine kaiserliche Figur kann wohl im Sinne des juristischen Verzichtes, einer Abdankung ähnlich, formulieren:9 e ich mich ir verzige, ich verzige mich e der kröne (MF 5, 36). Der verhältnismäßig beschränkte Verwendungsradius des Wortes enbern bleibt auch bei den Liederdichtern des 13. Jahrhunderts gleich. Die wenig häufige Verwendung dieses Wortes überrascht einen, auch wenn das Reimpotential der Wörter in Betracht gezogen wird: enbern : (be)gern; verbir : gir, sogar ere : enbaere. Enbern10 war vielleicht ursprünglich eine Art intransitives Verb, entwickelte sich aber in Richtung eines transitiven mit genitivischem und akkusativischem Objekt, das die bewußte Entscheidung des Verzichtes ausdrückt. Vgl. z.B.: 6

7

Vgl. JOHN MARGETTS: Loneliness and Obsession in the Songs of Heinrich von Morungen. In: Courtly Literature: Culture and Context. Hrsg. von KEITH BUSBY - ERIK KOPPER. Amsterdam - Philadelphia 1990 (Utrecht Publications in General and Comparative Literature 25), S. 411-428, bes. S. 412-414. Vgl. die entsprechenden Einträge in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des N a c h l a s s e s v o n GEORG BENECKE. A u s g e a r b e i t e t v o n WILHELM MÜLLER u n d FRIEDRICH

ZARNCKE. 3 Teile [in 4 Bänden]. Leipzig 1854-1861. Nachdruck Hildesheim 1963 [abgekürzt: BMZ]; MATTHIAS LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878. Nachdruck Stuttgart 1974 [abgekürzt: HWB]; JACOB und WILHELM GRIMM: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854ff. Nachdruck München 1984 [abgekürzt: DW]. 8

V g l . D e u t s c h e s R e c h t s w ö r t e r b u c h . B e a r b . v o n RICHARD SCHRÖDER u n d EBERHARD FREIHERRN VON KÜNSSBERG. B d . 2 . W e i m a r 1 9 3 2 , S p . 1 5 8 7 - 1 5 9 0 ( z u

9

entsagen).

Zitiert wird auf die übliche Weise nach Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausg a b e n v o n KARL LACHMANN u n d MORIZ HAUPT, FRIEDRICH V O G T u n d CARL VON KRAUS b e a r b . v o n HUGO MOSER u n d HELMUT TERVOOREN. 3 6 . , n e u g e s t a l t e t e u n d e r w e i t e r t e Aufl.

10

Stuttgart 1977 [MF], Vgl. BMZ 1, 155b-156a; HWB 1, Sp. 544; DW 3 (Leipzig 1862), Sp. 492-494.

John Margetts

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ich muoz leider vröiden enbern; liebes des enhän ich nicht (MF 199, 13f.; Reinmar) und >ir mugent iuwer klage wol läzen sin.< > Vrowe, ich enrnac ir niht enbern.< (MF 93, 21f.; Albrecht von Johansdorf) Dieses Wort findet sich in den Texten von Des Minnesangs Frühling relativ selten; wenn es vorkommt, dann häufiger in Verbindung mit Objekten wie fröide, genäde, Ion, z.B.: >hete ich liebe, minne enbere ich wol< (MF 132, 22 nach K; Heinrich von Morungen), weniger oft in Bezug auf einen Menschen: sol ich sin - daz ist min not - ze vriunde enpem, (MF 54, 24f.; Friedrich von Hausen). 11 Auch die intensivierte Form verbern wird in dieser Bedeutung seltener in Bezug auf Menschen verwendet; 12 vgl. fast formelartig: Hülfe ez mich iht, so waere daz ie min wän: swer alliu urip durch eine gar verbaere, daz man in des geniezen solte län. (MF 119, 3-5; Bligger von Steinach), wobei hier die konjunktivische Form in dem verallgemeinernden swer-Satz den Inhalt des Satzes insgesamt ins Unreale abschiebt. Der Unterschied zwischen enbern und miden läßt sich an dem tageliet von Walther von der Vogelweide13 - friuntlichen lac / ein riter vil gemeit / an einer frowen arme (LA 88, 9) - schön belegen. Im Augenblick der Trennung sagt der Mann: >Friundinne min, du solt din trären län. ich wil mich von dir scheiden:< 11

12

13

Vgl. die Belege bei R [ O E ] - M [ E R R I L L ] S[ECRIST] H E F F N E R - K Ä T H E PETERSEN: A Word-Index to Des Minnesangs iVühling. Madison: University of Wisconsin 1942, S. 20 b -21 a . Ein Mensch bildet das Objekt bei 8/20 Belegen. Vgl. H E F F N E R / P E T E R S E N (S. Anm. 11), S. 28": Der Mensch als Objekt kommt bei 8/22 Belegen vor. Zitiert wird auf die übliche Weise nach: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von K A R L LACHMANN. Dreizehnte, aufgrund der zehnten von C A R L VON K R A U S bearb. Ausgabe neu hrsg. von H U G O K U H N . Berlin 1 9 6 5 . Bei Walther kommt enbern selten vor: zwei Belege (verbern mit drei Belegen). Vgl. R[OE]-M[ERRILL] S[ECRIST] H E F F N E R - W [ I N F R E D ] P[HILIPP] LEHMANN: A Word-Index to the Poems of Walther von der Vogelweide. Madison: University of Wisconsin 1 9 4 0 , 2 1 9 5 0 , S . 15 A , 19". Dagegen sind miden/vermiden jeweils mit neun bzw. sieben Belegen vertreten, vgl. HEFFNER/LEHMANN S. 46B, 20®.

Zum Begriff der »Entbehrung« in deutschen Minneliedern

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Beim Mann pressiert es und die Eile des Aufbruchs tut der Frau weh: >Min friunt, [...]

daz tuot mir we,

nü mit mich niht ze lange: ml liep ist mir daz.< Der Mann antwortet: >Daz muoz also geschehen daz ich es niene mac, sol ich dich, frowe, miden eines tages lanc: so enkunt min herze doch niemer von dir.< Hier bedeutet miden »aus dem Weg gehen«, »jemanden nicht zu treffen suchen«, d.h. »meiden« im heutigen Sinne. 14 Die Trennung beschäftigt aber die Frau weiter: >friunt, dest und mir ein jon weiz ich wie lange

ouch min klage wernde not. niht ein ende, ich din enbir.
NibeIungenliedunde habe ich minen man, sit ich in von erste gewan, verworht an ihtes ihte mit muote oder von geschihte also daz ez niht wol gezimt, ob mir in din gewalt danne nimt, daz selbe reht vinde ich mir wan ichs von rehte danne enbir.
ich enwils ouch langer niht enbern, ez enwerde vollebräht. entriuwen, ich hän nü wol gedäht.Erecaussagefreiaussagenden< Information begleitet, und das Gefühl ist eng mit der Information verbunden, wodurch es verursacht wurde, an wen es sich richtet und wie man mit ihm umgehen kann. [...] Was die vierte hervorstechende Eigenschaft betrifft, so sind Emotionen nicht nur eine Kommunikation mit uns selbst, sondern auch mit anderen. Viele Tiere, einschließlich des Menschen, teilen Glück, IVauer, Arger, Furcht und Ekel hauptsächlich durch ihren Ausdruck und ihre Gesten mit. [...] Wir wissen auch, daß der Gesichtsausdruck für alle fünf Grundemotionen in allen Kulturen erkannt wird, und neuere Forschungen deuten darauf hin, daß jede Emotion eine andere Konstellation physiologischer Wirkungen erzeugt.« (KEITH OATLEY: WOZU brauchen wir Gefühle. Psychologie heute. Jg. 17, Januar 1990, S. 30-35, hier S. 34f.) Das Gefühlsleben ist sehr früh in der DNS der Menschen festgelegt. »Aus Forschungsgebieten wie der Neurobiologie ergeben sich zahlreiche Verbindungen zu Fragen der psychologischen Grundlagenforschung wie auch zu klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Fragen. Wenn zum Beispiel neuronale und humorale Prozesse immer gemeinsam auftreten, Kognitives und Leidenschaftliches Hand in Hand geht, dann ist jede wissenschaftliche Trennung von >Kognitionen< und »Emotionen« künstlich. [...] Oder wenn man zum Beispiel weiß, daß eine getrennte Ausschüttung derselben Hormone gleichzeitig in inneren Organen und im Hirn stattfindet, etwa im Falle von Adrenalin und Noradrenalin, die wegen der Blut-Hirn-Schranke nicht über die Blutbahn ins Hirn gelangen können, dann stützt das die Ansicht, daß somato-psychische Veränderungsprozesse sowohl von der Peripherie des Körpers wie von der Zentrale des Gehirns her angegangen werden können, [...].« (ULRICH GEUTER in einer Rezension von JEAN-DIDIER VINCENT: Biologie des Begehrens. Wie Gefühle entstehen. Reinbek 1990. Psychologie heute. 18. Jg., April 1991, S. 64f., hier S. 65.) Im Lichte dieser beiden Zitate kann man feststellen, daß nur die für die Menschen jeweils anderen sozialen Umstände Unterschiede im Gefühlsleben zwischen jetzt und damals prägen.

Zum Begriff der »Entbehrung* in deutschen

113

Minneliedern

keit in der Liebesbeziehung, von Entbehrung, im Grunde aus. Es ist in der männlich geprägten »Reitergesellschaft« vielleicht auch nicht anders zu erwarten. Der narzistische Anspruch des männlichen lyrischen Ichs schafft eine falsche Zuversicht und ein sprödes Glück: ê daz wir âne swaere stn des lîbes und des herzen, man vindet ê daz glesîne gelücke. daz hat kranke veste: swenn ez uns under ougen spilt und schînet aller beste, sô brichet ez vil lîhte in kleiniu stücke. (KLD S. 128: 2,8-12) Dieser Gottfried von Straßburg zugewiesene Spruch32 läßt sich meiner Meinung nach als Kommentar zu den Illusionen des Minneliedes verstehen. Die Unfähigkeit Tristans, die Trennung und daraus entstehende Trauer voll zu akzeptieren, stempelt ihn als jemanden ab, der nicht zu den edelen herzen gehört, wogegen Isolde die Probe anstandslos besteht. Sie kann Leid, Trauer, Kummer als einen Bestandteil des Liebeserlebnisses akzeptieren, was kenntlich edeliu herzen kennzeichnet, und kann somit entbehren. 33 Gerade die Ausschließlichkeit der Freude auf Kosten der Integrierung ihres Gegenteiles scheint das Ziel der umstrittenen Bemerkung Gottfrieds am Ende des Literaturexkurses zu sein. Er bewundert bekanntlich das technische Können der Nachtigallen, hofft aber, daß sie truren und senedez clagen in die Freude integrieren können: die müezen so gesingen, daz si ze vröuden bringen ir truren und ir senedez clagen:

(4817-19)

Der im Spruch enthaltenen Kritik füge^ich also die problematischen Schlußzeilen des Literaturexkurses im >Tristan< hinzu, die ich mit H A N S F R O M M , R Ü D I G E R 34 K R O H N , H U G O K U H N und anderen als eine Kritik an dem ausschließlichen Drang nach Freude im Minnesang deute. Der Kreis schließt sich, und ich möchte den Schluß wiederum mit einem Zitat abrunden: Quid igitur arguis quod vox anxietatis meae participes feci, ad quod me adjurando compulisti? Nunquid in tant vitae, qua crucior, desperatione gaudere vos convenit? Nec doloris sociae, sed gaudii tantum vultis esse; nec flere cum flentibus, sed gaudere cum gaudentibus? Nulla major verorum et falsorum differentia est amicorum, quam quod illi adversitati, isti prosperitati se sociant. Quiesce, obsecro, ab 32 33

34

Vgl. KLD Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 163-167 zur Authentizitätsdiskussion. BENECKES Meinung (s. Wörterbuch zu Hartmanns >Iweinich entbehre< verschieden, daß es durchaus niemals damit übersetzt werden darf«, kann ich nicht teilen; vgl. auch oben Anm. 21 und 22. Siehe HANS FROMM: Tristans Schwertleite. DVjs 41 (1967), S. 333-350, bes. S. 342f.; Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH RANKE neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von RÜDIGER KROHN. 3 Bde. Stuttgart 1980, 2 1981 (Reclams Universalbibliothek 4471-4473), hier Bd. 3, S. 69f.; HUGO KUHN (s. Anm. 32), S. 165f.; vgl. auch DIETZ (S. Anm. 24), S. 60-79.

John Margetta

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his dictis, et hujusmodi querimonias compesce, quae a visceribus charitatis absistunt longissime.35 So schreibt Abaelard, sponsae Christi seruus ejusdem,36 im fünften Brief des Briefwechsels. Es ist vielleicht ein schönes Beispiel für die Unfähigkeit des Mannes schlechthin, auch in dieser berühmten Liebesbeziehung, die Einstellung der Frau zu verstehen: Heloisa spricht von ihrer Liebe, amor, zu Abaelard - immoderato amore complexa sum37 - und unterscheidet sie von Begierde (concupiscentia); Abaelard dagegen versteht unter amor offensichtlich nur eine sexuelle Beziehung, denn er kann das Wort amor nicht verwenden und spricht hier gewissermaßen gezwungenerweise von Charitas. So reden beide, Mann und Frau, nicht zum ersten Mal, aneinander vorbei.

35

36

37

Siehe Petri Abaelardi Opera omnia. In: Patrologiae cursus completus, series Latina. Ed. J.-P. MLGNE. Bd. 1 7 8 . Paris 1 8 5 5 , Sp. 2 0 3 ( B / C ) . Die deutsche Übersetzung lautet: Wollt Ihr etwa nicht Genossinnen meines Schmerzes sein, sondern nur der Freude, wollt Ihr nicht weinen mit den Weinenden, sondern nur fröhlich sein mit den Fröhlichen? Der tiefste Unterschied zwischen echten und falschen Freunden ist der, daß die echten Freunde in der Not zur Seite stehen, die falschen Freunde im Glück. Laß also bitte von solchem Gerede ab und hör auf mit diesen Klagen, die mit echter Liebe nicht das geringste zu tun haben, (s. B R O S T [s. Anm. 1], S. 1 2 5 . ) M I G N E (S. A n m . 3 5 ) , S p . 1 9 9 ( A ) ; B R O S T (S. A n m . 1 ) , S . 1 1 6 .

Siehe M O N F R I N

(S.

Anm. 1), S. 114, 125f.

TOMAS TOMASEK

(Münster)

Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen

I

Flachs gehört zu den ältesten Kulturgewächsen Europas.1 Seit alter Zeit hat die Beund Verarbeitung dieser vielseitig nutzbaren Pflanze hauptsächlich in den Händen von Frauen gelegen,2 so daß Volkskundler den Flachs gern als eine »Pflanze der Frau«3 bezeichnen. Nicht ohne weiblichen Stolz führt zu Beginn des 15. Jahrhunderts die Dichterin Christine de Pizan den Ursprung der Flachsarbeit auf die Gestalt der Arachne zurück: »Eine weitere, noch nützlichere Technik erfand diese Frau, war sie doch die erste, die die Fähigkeit entwickelte, Flachs und Hanf anzubauen, zu sammeln, zu rotten, zu schneiden, zu kämmen, mit der Spindel zu spinnen und Tuch herzustellen. Mir scheint, dies gereichte der Welt zu großem Vorteil, auch wenn manche Männer den Frauen gerade die Ausübung dieser Tätigkeiten vorwerfen.«4 Nach Gründen für die hier angedeuteten Vorbehalte gegenüber der von Frauen ausgeführten Flachsarbeit braucht nicht lange gesucht zu werden: Im Volksglauben ist der Weg des Flachses von der Aussaat bis zur Verarbeitung so eng mit der Sexualität und Fruchtbarkeit der Frau verbunden gewesen, daß manches am Flachsbrauchtum Anstoß erregen konnte.5 Weibliche Nacktheit sollte z.B. das Wachstum der Pflanze fördern, deshalb schritten Frauen mit erhobenen Röcken über das Flachsfeld.6 Seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts ist eine größere Zahl von Sprüchen erhalten, mit denen Frauen bei der Aussaat den Flachs unverblümt aufforderten, bis zu ihren Genitalien emporzuwachsen.7 Von anderen Bräuchen wird im folgenden noch zu reden sein. Hauptzweck der uralten, in Europa weit verbreiteten Fruchtbarkeitsmagie war der Wunsch, eine gute Ernte zu sichern. Doch steckte natürlich in Sprüchen, die vom 1

Vgl. O.

Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde. Hrsg. von ALFONS Bd. 1. Berlin - Leipzig 21917-23, S. 323- 326. - Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bearb. und hrsg. von K O N R A T ZIEGLER und WALTHER SONTHEIMER. Bd. 3 . Stuttgart 1 9 6 9 . Sp. 548f. Siehe dazu z.B. HEINRICH MARZELL: Flachssaat und Frauen. Hess. Bll. f. Vk. 11 (1912), S.1623. H A N N S B Ä C H T O L D - S T Ä U B L I : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 5. Berlin Leipzig 1932/33, Sp. 1177. Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen. Übertragen von M A R G A R E T E ZIMMERMANN. München 1990 (dtv klassik 2220), S. 113. (Vgl. hierzu Plinius: Nat. hist. VII, 196). So klagte z.B. am Beginn des 18. Jahrhunderts Tharsander darüber, daß sich die Frauen bei der Flachssaat »schändlicher« Worte bedienten (BÄCHTOLD-STÄUBLI [S. Anm. 3], Sp. 1186). SCHRÄDER:

NEHRING.

2

3

4

5

9

7

MARZELL (S. A n m . 2 ) , S . 1 8 , 2 0 .

Ebd. S. 16ff.; B Ä C H T O L D -

S T Ä U B L I (S.

Anm 3), Sp. 1185f.

116

Tomas Tomasek

Flachs verlangten, er möge bis zur Höhe gewisser weiblicher Körperteile emporwachsen, ein auf die menschliche Erotik übertragbarer Doppelsinn. Mhd. Belege zeigen, daß damit auch im Mittelalter gespielt wurde: Läz üf gän agen' unde vlahs, ruft z.B. im Schwank des Armen Konrad eine Kupplerin, als es ihr gelingt, die Liebesgefühle zweier Menschen füreinander anzustacheln. 8 Der erotische Sinn solcher Anspielungen auf das Flachsbrauchtum ist sicher älter als der Prozeß der »Erotisierung des Handwerks«, den CYRIL W . EDWARDS in der europäischen Literatur seit dem 13. Jahrhundert nachgezeichnet hat. 9 Auf alte Flachsbräuche wird auch im Lied >Ain graserin< Oswalds von Wolkenstein (Kl. 76) angespielt, worauf u.a. von DIETER KÜHN hingewiesen wurde. 10 Darin fordert eine Bauernmagd den Ritter auf: »swenzel, renzel mir den flachs! treut in, wiltu, das er wachs!«11 Diese Worte beziehen sich vordergründig auf das Jäten des Flachses (vgl. ebd. v. 21), das zweite Stadium der Flachsarbeit, das mit eigenen Bräuchen verbunden war. 12 Oswald geht es darum, die erotische Aufladung der Flachsthematik für ein raffiniertes, doppelbödiges Lied zu nutzen, auf das an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll. Der Umgang mit dem Flachs zog sich im bäuerlichen Leben früherer Jahrhunderte durch das Kalenderjahr bis hin zur winterlichen Spinnstubenarbeit. Die Aussaat fand zumeist im April statt, geerntet wurde im Hochsommer. Die mit der Wurzel »gerauften« Pflanzen mußten sodann in verschiedenen Arbeitsgängen »geriffelt«, »geröstet« und auf dem Feld zum Trocknen ausgelegt werden. 13 Der November war, wie auch Kalenderminiaturen des frühen 16. Jhs. zeigen,14 der Hauptmonat des Flachsbrechens und -schwingens. Zuerst wurde der Flachs hierbei mit grobem Gerät (meist auf der Flachsbreche) gebrochen, damit sich das mürbe gewordene Holz des 8

9

10

11

12

13

14

FRIEDRICH H. VON DER HAGEN. Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen. Bd. 1. Darmstadt 1961 (Nachdr. d. Aufl. Stuttgart - Tübingen 1850), S. 197 v. 175. - Agene sind »die Stengel des Flachses, die beim >Brechen< zerbrochen werden« (JOSEF BLAU: Flachsbau und Flachsverwertung in der Rothenbaumer Gegend. Zs. f. österr. Vk. 5 [1899], S. 241). CYRIL W. EDWARDS: Die Erotisierung des Handwerks. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1 9 8 5 . Hrsg. von JEFFREY ASHCROFT, DIETRICH HUSCHENBETT, WILLIAM H. JACKSON. Tübingen 1 9 8 7 , S. 1 2 6 - 1 4 8 ; vgl. bes. S . 1 3 8 - 1 4 1 . D I E T E R K Ü H N : Ich Wolkenstein. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1980 (insel taschenbuch 497), S. 207f. Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von KARL K. KLEIN. 2., neubearb. u. erw. Aufl. von H A N S M O S E R , N O R B E R T R. W O L F und N O T B U R G A W O L F . Tübingen 1975 (ATB 55), S. 203. Beim Jäten wurden die Mädchen von ihren Verehrern unterstützt. Um das Wachstum der Pflanzen zu stimulieren, wälzte man sich im Flachsfeld herum. Hierzu und zu weiteren Bräuchen s. PAUL SARTORI: Sitte und Brauch. Zweiter Teil: Leben und Arbeit daheim und draußen. Leipzig 1911 (Handbücher z. Vk. 6), S. 112f. u. Anm. 36. Vgl. auch RICHARD A N D R E E : Braunschweiger Volkskunde. Braunschweig 2 1901, S. 226. Zu den einzelnen Stadien der Flachsverarbeitung, die auch regional variieren konnten, vgl. die Darstellungen bei GABRIELE HARZHEIM: Das blaue Wunder. Rheinische Flachs- und Leinenproduktion im 19. Jahrhundert. Köln 1989, S. 14-27. Vgl. WILHELM H A N S E N : Kalenderminiaturen der Stundenbücher. Mittelalterliches Leben im Jahreslauf. München 1984, S. 137, 146, 194,196, 217, 237, 242.

Die mittelhochdeutschen

Lieder vom Flachsschwingen

117

Stiels löste und die Fasern sich voneinander trennen ließen. Zum Entfernen der restlichen spröden Teile wurde danach mit dem Schwingholz gearbeitet. In mhd. Texten wird dieser letzte Vorgang als dehsen und swingen bezeichnet. 15 Das Flachsschwingen war eine niedere und anstrengende Frauenarbeit, 16 bei der sich viel Staub entwickelte. Nach ADAM WREDE hingen bestimmte brauchtümliche Freiheiten, die noch zu Beginn unseres Jahrhunderts den Flachsschwingerinnen zustanden, auch mit diesen äußeren Umständen zusammen: »Der Staub ... reizt zur Befeuchtung der Kehlen. Trinken aber macht fröhlich und regt zum Singen an. So gestalten sich die Schwingtage zu einem Arbeitsfest, zur Schwöngkirmes, mit der noch besondere Bräuche verbunden sind. Naht sich z.B. ein männliches Wesen, ganz einerlei, ob es ein Knecht oder ein Bauer, der Briefträger oder der Förster ist, ahnungslos dem Orte der Schwingkirmes, so stürzen die Schwingerinnen auf den Unglücklichen zu. Einige halten ihn fest, andere putzen ihm mit Flachs die Schuhe ...«17 An den Schwing- und Brecheltagen gaben die Frauen den Ton an. In vielen Gegenden war es üblich, daß sie mit den männlichen Passanten ihre Scherze treiben durften, wobei es rabiat zugehen konnte. So berichtet JOSEF BLAU, daß österreichische Flachsbrechlerinnen des Rothenbaumer Pfarrsprengels vorbeikommende Männer ergriffen und auf der Breche hin- und herzerrten, ihnen bisweilen sogar die Hosen gewaltsam auszogen und sie an einen Baum hängten. 18 Aus Kärnten ist folgendes bezeugt: »Gerät ein bekannter Knecht oder Bauernsohn in die Nähe der Brechlerinnen, so wird er sogleich von ihnen umringt und trotz heftigen Sträubens mit Werg umwickelt, dann an Händen und Füßen gepackt und an einem daliegenden Baumstamm unsanft gehobelt... Glimpflicher ergeht es einem Mann, wenn sich die Brechlerinnen damit begnügen, ihm Gesicht und Hals erbarmungslos einzureiben.« 19 Es erübrigt sich fast, daraufhinzuweisen, daß die handgreiflichen Bräuche zugleich ihre erotischen Aspekte hatten, 20 so daß junge Männer auch von sich aus die Nähe der Flachsschwingerinnen und -brechlerinnen suchten:

15

Dabei schließt die Bedeutung von dehsen wahrscheinlich neben dem Schwingen auch das Brechen d e s F l a c h s e s m i t ein; vgl. GEORG F . BENECKE, WILHELM MÜLLER, FRIEDRICH ZARNCKE:

16

17

Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1. Hildesheim 1963 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1854), S. 330. Im >Meier Helmbrecht< werden dehsen, swingen, bliuwen als besonders lästige Tätigkeiten angeführt; Wernher der Gartenaere, Helmbrecht. Hrsg. von FRIEDRICH PANZER. 9., neubearb. Aufl. bes. von KURT RUH. Tübingen 1974 (ATB 11), v. 1360. Vgl. Hartmann von Aue, Iwein. Textausgabe. Berlin 1968, v. 6203. ADAM WREDE: Eifeler Volkskunde. Bonn - Leipzig 2 1924, S. 182.

18

BLAU (S. A n m . 8 ) , S. 242.

19

GEORG GRABER: Alte Gebräuche bei der Flachsernte in Kärnten und ihr religionsgeschichtlicher Hintergrund. Zs. f. österr. Vk. 17 (1911), S. 156f. Aus der Steiermark ist z.B. bezeugt, daS Flachsbrechlerinnen jungen Männern, die ihrem Arbeitsplatz zu nahe kamen, die Hosen mit Brennesseln ausstopften, was als Rest eines alten

20

F r u c h t b a r k e i t s r i t u s g e d e u t e t wird (OSWALD A . ERICH, RICHARD BEITEL: W ö r t e r b u c h d e r

deutschen Volkskunde. Leipzig 1936 [Kröners Taschenausg. 127/8], S. 105). Vgl. auch das bei GRABER (S. Anm 19), S. 157 über die Sitte des »Ubersteigens« Gesagte.

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Tomas

Tomasek

»Die jungen Burschen hielten sich in der Nähe ... auf, sie halfen hie und da den Frauen, und in den Ruhepausen wurde geneckt und gescherzt. In dem Kreise Saarburg pflegte man in den Pausen zu >gunschengehowenzeltLocheimer LiederbuchsLiederbuch der Clara Hätzlerin«. Hrsg. von CARL HALTAUS. Mit einem Nachwort von HANNS FISCHER. Berlin 1966 (Nachdr. d. Ausg. Quedlinburg - Berlin 1840), S. 242 v. 302. Als tertium comparationis diente offenbar die rhythmische Bewegung des Schwingholzes; vgl. EDWARDS, S. 138.

1 9 8 6 , S. 143.

Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen

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sammenhängen. Bevor im folgenden auf das Verhältnis der beiden Werke zueinander eingegangen wird, sollen sie in kurzen Interpretationen vorgestellt werden. Das unter Neifens Namen überlieferte Lied KLD 15, XLI26 ist dem Dichter in der Forschung mehrfach abgesprochen worden, oder es wurde als ein verderbtes, unvollständiges Werk angesehen.27 Doch bei genauer Betrachtung erweist sich der Text, in dem kein Wort zu viel und keines zu wenig gesagt wird, als eines Neifens absolut würdig: 1

Uns jungen mannen sanfte mac an frouwen misselingen. ez kam umb einen mitten tac, dö hörte ich eine swingen: wan si dahs wan si dahs, si dahs, si dahs.

Der einleitende Zweizeiler faßt sentenzhaft den Inhalt des Liedes zusammen, das vom erotischen Mißerfolg eines jungen Mannes erzählt. 28 Auch die nächsten beiden Zeilen geben wichtige Vorinformationen: Mit v. 3 wird das imperfektische Zeit-Feld des genre objectif eröffnet, während sich im vierten Vers der Raum einer pastourellenartigen Handlung auftut: Das Ich bemerkt eine FYau niederen Standes bei bäuerlicher Tätigkeit. Präzise setzt an dieser Stelle der Refrain begründend ein: Die Tätigkeit der Frau war hörbar, denn sie schwang Flachs (wan si dahs). 2

Guoten morgen bot ich ir, ich sprach >got müeze iuch eren.< zehant dö neic diu schoene mir; von dannen muoste ich keren: wan si dahs, wan si dahs, si dahs, si dahs.

Mit betont höflichem Gruß nähert sich hier das Ich dem Mädchen. Man hat moniert, daß ein »guter Morgen« gewünscht wird, obwohl das Geschehen, wie die erste Strophe aussagt, um die Mittagszeit spielt.29 Doch liegt darin eher eine Raffinesse: Gegen Mittag ist der Morgengruß einerseits gerade noch zulässig, andererseits läßt er sich als Indiz der Scheinheiligkeit des Mannes deuten. Vor allem aber eröffnet die leichte Diskrepanz der Zeitangaben die Möglichkeit, das meridies-Signal der ersten Strophe als Hinweis auf die erotische Gestimmtheit des Ichs zu lesen, in jenem Sinne, wie etwa auch Gotfrid von Straßburg das Mittags-Sinnbild verwendet.30 26

27 28

29

30

Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von CARL VON KRAUS. Zweite Aufl., durchges. v. GISELA KORNRUMPF. Bd. 1 Text, Bd. 2 Kommentar. Tübingen 1978. - Auf Ragen der Textkritik wird nicht eingegangen, da sie für die Darstellung nicht von entscheidender Bedeutung sind. S. dazu KLD Bd. 2 (s. Anm. 26), S. 146f. Zur Deutung der ersten Zeile vgl. SABINE C . BRINKMANN: Die deutschsprachige Pastourelle. 13. bis 16. Jahrhundert. Göppingen 1985 (GAG 307), S. 148. WILHELM UHL: Unechtes bei Neifen. Paderborn 1888, S. 205. Gottfried von Straßburg, THstan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE. Dublin - Zürich 14 1969, v. 18126.

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Abb. 1: Die Herrin beaufsichtigt das Flachsbrechen auf dem Hof. Monatsbild für November aus einem Nürnberger Stundenbuch von 1535, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1880, fol. 17 r .

Die mittelhochdeutschen

Lieder vom

Flachsschwingen

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Abb. 2: Rösten, Darren, Brechen, Schwingen und Hecheln des Flachses. Kupferstich aus: Florius, Haus-Vatter, Nürnberg 1792.

Abb. 3: Brecheltage in Kärnten. Zeichnung von F. Schlegel, 19. Jahrhundert.

122

Tomas Tomasek

Die schoene erwidert mit scheinbar freundlichem nigen den Gruß des Mannes (v. 3); allerdings sind die Folgen überraschend, wenn es im nächsten Vers heißt: von dannen muoste ich keren. Auch an dieser Stelle hat man Inkonsistenzen im Lied bemängelt, doch braucht hier nur die Situation des Flachsschwingens mitbedacht zu werden: Das nigen der Frau stellt aus der Sicht des Mannes eine Einladung zum Nähertreten dar; da aber das Mädchen, wie der Refrain im Nachhinein zum Ausdruck bringt, ihr Schwingholz demonstrativ weiterbetätigt, wird die Nähe zur Flachsschwingerin für den Mann gefahrlich. Deshalb (wie die kausale Verknüpfung der Verse 4f. besagt) muß er sich schnell wieder aus ihrer Reichweite entfernen. Ein mittelalterliches Publikum, dem die Arbeit des Schwingens bekannt war31 und das sich vorstellen konnte, wie es einem Mann ergehen würde, der unter das dehsschit einer Flachsschwingerin gerät,32 dürfte durch diese Pointe des begründend angeschlossenen Refrains belustigt worden sein. 3 Si sprach »hien ist der riben niht: ir sint unrehte gangen, e iuwer wille an mir geschiht, ich saehe iuch lieber hangen.«, wan si dahs, wan si dahs, si dahs, si dahs. In der letzten Strophe ergreift die Flachsschwingerin, die das Ansinnen des Mannes sofort durchschaut hat, selbst das Wort: »Solche Frauen, wie Ihr denkt, gibt es hier nicht ... Ehe Ihr Euren Willen an mir bekommt, sähe ich Euch lieber hängen.« Und wieder führt der begründend angeschlossene Refrain den Gedanken logisch fort, denn das beim Schwingen anfallende Werg wurde zur Herstellung von Seilen benutzt. 33 Es handelt sich also um ein mit sprachlichen Mitteln sparsam umgehendes Lied, dessen Pointenstruktur sich erschließt, sobald man die Bedeutung des Flachsschwingens im Volksleben mitbedenkt. Reizvoll ist vor allem, wie das sentenzhaft vorgegebene Thema des erotischen Mißerfolgs ästhetisch eingelöst wird, indem der in der ersten Strophe noch harmlos anmutende Refrain in den Folgestrophen mit verblüffendem, sich steigerndem Effekt das Scheitern des Mannes begründet. Die monotone Wiederholung des wan si dahs hat eine komische Wirkung, zumal im Nachhinein 31

32

33

Wenn Neifens Flachsschwingerin, wie auf der Abbildung eines Nürnberger Kupferstichs von 1702 (HARZHEIM [S. Anm. 13], S. 19 Abb. 9), im Stehen arbeitend zu denken ist, wird besonders gut vorstellbar, wie die Haltung ihres grüßenden nigens und die vorgebeugte Bewegung des Schwingens ineinander übergehen konnten. Diese klischeehafte Vorstellung ist in dem etwa um die Mitte des 13. Jhs. in Tirol entstandenen »Buoch von dem Übeln wibe< enthalten. (Daz buoch von dem Übeln wibe. Hrsg. von ERNST A. EBBINGHAUS. 2. neubearb. Aufl. Tübingen 1968 [ATB 46], v. 311-328). HARZHEIM (s. A n m . 1 3 ) , S. 24; BLAU (S. A n m . 8 ) , S. 246; UHL (S. A n m . 2 9 ) , S. 207. - M a n v g l .

auch den Brauch des »Kraglns«: »Die Brechlerinnen legen dem Vorübergehenden eine Strähne Flachs um den Hals und ziehen so lange zu, bis dieser sich mit Wein freikauft« (HAIDER [S. Anm. 22], S. 3 7 9 ) .

Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen

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deutlich wird, daß die Flachsschwingerin ihre Arbeit nicht eine Sekunde zu unterbrechen gedenkt.34 Die pointenhafte Zuspitzung einer Liedaussage mit Hilfe des Refrains besitzt Vorläufer in nordfranzösischen Pastourellen,35 ist aber vor Neifen in der deutschen Lyrik keineswegs alltäglich gewesen.36 Das Form-Element des Refrains wird hier in raffinierter und für deutsche Verhältnisse origineller Weise für den Textsinn genutzt, so daß kein Grund besteht, ein solches Lied dem Formkünstler Neifen abzusprechen. Auch wenn die Flachsschwingerin dem Ritter am Ende den Strick wünscht, treten bei Neifen doch keineswegs »Aggressionen der sozial Deklassierten«37 zutage. Das Auftrumpfen des Mädchens ist gerade nicht ständisch begründet, sondern steht in engem Bezug zur Flachsthematik und den Flachsbräuchen. Mit der Einführung der Flachsschwingerin wird im Lied ein Modell erotischer Begegnung aufgerufen, bei dem die weibliche Seite dominiert. In der Uberlagerung dieses Modells mit Pastourellenstrukturen liegt ein wesentlicher Reiz des Textes: Wenn in der zweiten Liedhälfte das Mädchen körperliche Stärke zeigt (Str. 2 v. 4f.), selbständig und furchtlos mit dem Mann fertig wird, während der Ritter passiv wirkt, folgt das Geschehen nicht mehr völlig den Mustern der Pastourelle. Das autonome Verhalten der Frau, die zuerst den Mann mit ihrem nigen neckt, um ihm danach eine Lektion zu erteilen, stellt indes keinen Akt des sozialen Protestes dar, sondern muß vor dem Hintergrund der weiblichen Rolle im Schwing- und Brechelbrauchtum gedeutet werden.

III Angesichts der überlieferten Flachsbräuche fallt auf, daß Neifen von Schilderungen derber Handgreiflichkeiten ganz absieht. Neidharts Lied von der Flachsschwingerin (Winterlied 8)38 hat, bei vergleichbarer Ausgangssituation, in dieser Hinsicht einen anderen Charakter. Ein kurzer Durchgang durch Neidharts Text39 läßt weitere Unterschiede erkennen. 34

36 36

37

38

39

Vgl. R E N A T E HAUSNER: Spiel mit dem Identischen. Studien zum Refrain deutschsprachiger lyrischer Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Sprache - Text - Geschichte. Hrsg. von P E T E R K. S T E I N . Göppingen 1980 (GAG 304), S. 301 Anm. 31. Vgl. KLD Bd. 2 (s. Anm. 26), S. 147 Anm. 4. Wie SILVIA RANAWAKE im Anschluß an H U G O K U H N gezeigt hat, folgt auch die vom Neifer benutzte Liedstrophe einem romanischen Typus. (SILVIA RANAWAKE: Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formentypologie von Minnesang und Trouvfcrelied an der Wende zum Spätmittelalter. München 1976 [MTU 51], S. 324f.). Diese Auffassung vertritt T H O M A S CRAMER: SO sint doch gedanke fri. Zur Lieddichtung Burgharts von Hohenfels und Gottfrieds von Neifen. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hrsg. von R Ü D I G E R K R O H N . München 1983, S. 52. Die Lieder Neidharts. Hrsg. von E D M U N D W I E S S N E R . ... Vierte Aufl. rev. von P A U L S A P P L E R . ... Tübingen 1984 (ATB 44), S. 76-78. Einen interpretierenden Gang durch Neidharts Winterlied 8 bieten ULRICH M Ü L L E R / INGRID BENNEWITZ-BEHR: Neidharts Lied von der »Derr Plahen« (R 31, c 82; HW 46, 28). Ein Beispiel für Satire und Parodie im späten Mittelalter. In: Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters. Greifswald 1989 (Wiss. Beitr. d. Ernst-Moritz-Amdt-Universität Greifswald. Deutsche Literatur des Mittelalters 5), S. 90-102, bes. S. 95ff.

124

Tomas Tomasek

Anders als Neifen stellt Neidhart z.B. die bäuerliche Novemberarbeit des Flachsschwingen ausdrücklich in den Kontext eines Winterliedes. Die erste Strophe bietet den entsprechenden Natureingang, der das Leid der unbehaglichen Jahreszeit dem vergangenen Sommerglück gegenüberstellt.40 Das Thema des erotischen Mißerfolges, das Neifen seinem Lied wie ein Motto vorangestellt hat, wird bei Neidhart zu Beginn der zweiten Strophe angeschlagen, aber bezeichnenderweise nicht in Form einer Sentenz, sondern als ein an das Publikum gerichtetes Problem: Mine vriunde, ratet, wiech gebäre umbe ein wip, diu wert sich min!

(46,37f.)

Erst der nächste Vers eröffnet die epische Handlung: die begreif ich, da si flahs ir meisterinne swanc. Von einem Versuch des Ichs, das Mädchen mit höfischem Gruß zu umgarnen, ist hier nicht die Rede, sondern die arbeitende Frau wird sogleich handgreiflich behelligt. Verglichen mit der diskreten Darstellung Neifens, kommt Neidharts Schilderung den handfesten Flachsbräuchen näher: Der Mann begibt sich etwa auf die Ebene jener saarländischen Bauernburschen, die mit den Flachsbrechlerinnen »scherzen« (»gunschen«) wollen.41 Auch die Frau zeigt bei ihm keine Scheu vor Tätlichkeiten. So muß der Mann mangen ungefüegen büz (47,8) einstecken, wobei sich die Flachsschwingerin als uneingeschränkte Herrin der Situation erweist: doch tet si ze jungist schin, daz si mir ze starec was und ich ir gar ze kranc.

(47,4f.)

Die dritte Strophe schildert eine Eskalation der Handgreiflichkeiten. Der Mann faßt der Flachsschwingerin »dorthin, wo sich bei Frauen die Reife ausprägt«, 42 d.h. an ihre Brüste, 43 und erhält im Gegenzug von ihr solche Prügel auf die eigene Brust, daß ihm der Mund aufspringt (47,14f.). Mit noch derberen Worten als in v. 47,9 verlangt sie erneut, in Ruhe gelassen zu werden: »Laßt mich arbeiten, leidiger Holzstecken!«44 In ihrer vulgären Sprechweise mutet Neidharts Mädchen wie ein Gegenbild zur souveränen Flachsschwingerin Neifens an. 40

Da der Natureingang genau zur Jahreszeit des Flachsschwingens paßt, verbietet sich die Behauptung, daß die erste Strophe »in keiner Verbindung mit dem im Lied geschilderten Abenteuer« stehe (BRINKMANN, [S. Anm. 28], S. 225).

41

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44

S.o. bei Anm 21. - Im Text wird das Geschehen ebenfalls ausdrücklich als »Scherzen« bezeichnet: vgl. 47,10: schimpfen; 47,14: tusch; 47,19: gezecken. da diu wip so stundich sint (47, 12 nach R). Mhd. stundic ist im Sinne von »gereift« bezeugt, deshalb empfiehlt es sich, dem Wortlaut von Hs. R zu folgen. - Über (wenig befriedigende) Konjekturversuche zu dieser Stelle vgl. E D M U N D W I E S S N E R : Vollständiges Wörterbuch zu Neidharts Liedern. Leipzig 1954, S. 261. Mit dieser Möglichkeit rechnet auch B R U N O FRITSCH: Die erotischen Motive in den Liedern Neidharts. Göppingen 1976 (GAG 189), S. 163 Anm. 2. lät mich wirken, leider witsteche! (47, 16 nach R). Vgl. dazu W I E S S N E R (s. Anm. 42), S. 355f. Die Umschreibung witsteche ist als Scheltwort für das männliche Genital deutlich genug. Für derbe Bezeichnungen, die österreichische Brechlerinnen den vorübergehenden Männern zuriefen, s. B L A U (S. A n m . 8 ) , S . 2 4 2 .

Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen

125

In der vierten Strophe wird erzählt, wie Mann und Frau nach ihrem Kampf erschöpft zusammensitzen und sich gemeinsam an gebratenen Birnen laben. Mag dies zunächst überraschend klingen,45 folgerichtig ist in jedem Fall, daß auch hier die Frau die Oberhand behält: sehse biren briet si in dem viuwer: der gap mir die vrouwe zwo; viere az si selbe...46 (47,23ff.) Die beiden Schlußverse der vierten Strophe (47,28f.) verlassen bereits wieder die Ebene des epischen Berichts. Klagend fragt das Ich sich selbst und sein Publikum, warum es solche Pein auf sich genommen habe. In der fünften Strophe aber wird darauf eine überraschende Antwort gegeben: Die Schmerzen hätten sich gelohnt, denn das Mädchen habe später alles wieder gutgemacht. Auf einer Dörrfläche47 habe sie sich dem Manne hingegeben, und im Gegenzug habe er ihr den besten Teil seiner Ländereien vermacht, ein Flurstück mit dem Namen »Seufzereck« (Siuftenecke, 47,39).48 Aus diesem allegorischen Flurnamen spricht, daß das Mädchen, nachdem es sich zuletzt doch mit dem Ritter aus dem Reuental eingelassen hat, am Ende als Geschändete die Leidtragende ist. Diese Wendung des Geschehens in der letzten Strophe, die darauf zielt, den Rezipienten zu überraschen, kommt nicht unmotiviert, sondern wurde im Text sorgfaltig vorbereitet. Verschiedene Indizien zeigen, daß das Mädchen dem Reuentaler offenbar von Anfang an nicht völlig abgeneigt gewesen ist. 49 Daß sie ihm während des Flachsschwingens »im Scherz« tüchtig zugesetzt hat, wird angesichts der derben Natur der Flachsbräuche erklärlich. Vor dem Hintergrund des brauchtümlichen »Neckens« verwundert es auch nicht, wenn zwischen Mann und Frau keine Feindschaft entsteht, sondern beide bald darauf friedlich beim Birnenessen zusammensitzen. 50 45

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B R Ü N D L spricht von einer »akausal und beziehungslos bleibenden Szene« ( P E T E R BRÜNDL: Minne und Recht bei Neidhart. Interpretationen zur Neidhartüberlieferung. Diss. phil. München 1972, S. 61). Vgl. >Daz buoch von dem Übeln wibe< (s. Anm. 32), v. 85f.: sprich ich ein wort, si sprichet driujgen vier Worten sibeniu. derreblahe (47, 35). - WIESSNER (s. Anm. 42) deutet blähe als »grobe Leinwand« (S. 23). Dagegen wendet BRINKMANN (S. Anm. 2 8 ) mit Recht ein: »Auf Leinwand ... wird Flachs nicht gedörrt« (S. 233). Im Obdt. kann »Blähe« aber auch eine »ausgedehnte, ebene Bodenfläche« bezeichnen (Schweizerisches Idiotikon.... Begonnen v. FRIEDRICH STAUB und LUDWIG T O B L E R . Bd. 5. Frauenfeld 1905, Sp. 48. Vgl. auch: Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Hrsg. von der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften [Kommission für Mundartkunde und Neimenforschung]. Bd. 3. Wien 1983, Sp. 254). Es dürfte sich in Neidharts Lied also um ein Wiesenstück handeln, auf dem Flachs zum denen ausgelegt wird. (Für einen Hinweis danke ich Friedhelm Debus, Kiel.) Vgl. dazu W I E S S N E R (s. Anm. 42), S. 244. Als Bezeichnung für einen »Vorsprung im Gelände« ist »Ecke« ein häufiger Orts- und Flurname (Vorarlbergisches Wörterbuch ... Bearb. von LEO JUTZ. Bd. 1. Wien 1960, Sp. 665). Auch wäre zu beachten, dafi von Siuftenecke im Kontext topographischer Angaben (47,35f.) die Rede ist. S. z.B. 47,3 und die 47,18f. gegebene Begründung des Mädchens; man vgl. auch die Metaphorik des »Ringens«, die in der mhd. Literatur die Bedeutung eines »Vorspiels zum Liebesvollzug« haben konnte (dazu: B R Ü N D L [S. Anm. 45], S. 62). Daß der Tag des Flachsbrechens in manchen Gegenden mit einem Festmahl und einer rituellen »Vermählung« gefeiert wurde, wobei auch Obst eine Rolle spielte, sei nur erwähnt. Für EinzelPETER

126

Tomas Tomasek

Dem Birnenmahl kommt für die Handlungsmotivierung eine wichtige Funktion zu. Das Zahlenverhältnis der verspeisten Früchte verweist einerseits auf die dominante Position der Flachsschwingerin. Andererseits zeigt sich daran aber auch, wes Geistes Kind sie ist, da das Obstessen im Mittelalter als Sinnbild des sexuellen Appetits verstanden werden konnte. 51 Neidhart nutzt hier das seit der Antike bekannte 52 und auch biblisch belegte (z.B. Prov 30,15f.) Klischeebild von der angeblich nicht zu sättigenden voluptas der Frau, um die Pointe der Schlußstrophe vorzubereiten: Zwar ist die Flachsschwingerin dem Mann physisch überlegen, aber diese Eigenschaft ist mit einer libidinösen Gier verbunden, der sie am Ende, da sie noch triebhafter ist als der Mann, zum Opfer fällt. Während bei Neifen die männliche Figur als erotisch affiziert geschildert wird, nuanciert Neidhart mit Hilfe seines »Birnenquotienten« anders: Bei ihm erscheint die Frau doppelt so gierig wie der Mann. Neidharts Lied zeigt sich damit erheblich kohärenter, als zumeist angenommen wird. Ein kurzer Blick auf die Gesamtanlage des fünfstrophigen Liedes genügt, um BIELSCHOWSKYS Behauptung, es handele sich um eine assoziative, »lose Komposition« 53 , zu widerlegen. Im Gegensatz zum dreistrophigen Lied Neifens, das den Mißerfolg des Mannes bei der Flachsschwingerin in linearer, sich steigernder Progression beschreibt, ist Neidharts Version eine Zentralkomposition, die einen Handlungsumschwung enthält. Nur die handgreiflichen Vorgänge der zweiten und dritten Strophe werden bei Neidhart als eskalierendes Geschehen dargestellt, das im »kühnen Griff« des Mannes und der deftigen Reaktion der Frau kulminiert. So stehen die spektakulären Vorgänge der dritten Strophe im Zentrum des ganzen Liedes, während in der vierten Strophe bereits wieder eine Beruhigung des Geschehens eintritt. Der Charakter einer Zentralkomposition wird ferner dadurch betont, daß die epische Handlung der Strophen 2 bis 4 von je zwei an das Publikum gerichteten Zeilen umschlossen wird: Die ersten beiden Verse von Strophe 2 (46,38f.) und die letzten beiden von Strophe 4 (47,28f.) gehören nicht zur epischen Situation, sondern bilden einen reflektierenden Rahmen. Auch dadurch wird die Mittelstellung der dritten Strophe betont, so daß die erste und fünfte einander als äußere Flügelstrophen entsprechen. Daß die Anfangs- und Schlußstrophe vom Autor bewußt als Gegenstücke konzipiert wurden, zeigt eine Reihe von auffälligen Responsionen: Man vergleiche etwa die alliterierenden fünften Zeilen der ersten und der letzten Strophe: We, wä tanzent h e i t e n s . G R A B E R (S. A n m . 1 9 ) , S . 158FF., 1 6 6 ; H A I D E R (S. A n m . 2 2 ) , S . 3 8 0 ; SAKTORI (S. A n m . 51

52

53

12), S. 116f. und Anm. 64. S. dazu E R I K A KARTSCHOKE: Fastnachtspiel. In: W I N F R I E D F R E Y , W A L T E R R A I T Z , D I E T E R SEITZ u.a.: Einführung in die deutsche Literatur des 1 2 . bis 1 6 . Jahrhunderts. Bd. 3: Bürgertum und Fürstenstaat. - 1 5 . / 1 6 . Jahrhundert. Opladen 1 9 8 1 , S . 1 2 5 . Es sei auch an das Märe von der >Halben Birne< erinnert. Ein antikes Diktum besagt: »Einen von zehn Teilen genießt der Mann,/ die zehn macht voll das Weib im Genüsse der Lust« oder: »Das Weib genießt neun Teile, den zehnten der Mann« ( W O L F G A N G SCHULTZ: Rätsel aus dem hellenischen Kulturkreise. Erster Teil. Leipzig 1909 [Mythologische Bibliothek 3], S. 144 Nr. 344f.). A L B E R T BIELSCHOWSKY: Geschichte der deutschen Dorfpoesie im 13. Jahrhundert. Berlin 1891, S. 290. - Ähnlich B R Ü N D L (S. Anm. 45), S. 60f., 64ff.

Die mittelhochdeutschen Lieder vom Flachsschwingen

127

nü diu kint? (46,32) / waz darumbe, was mir we? (47,34). In beiden Fällen handelt es sich um Fragen, von denen die letzte jedoch nur rhetorisch gemeint ist, da das Leid des Wintereingangs am Ende nicht mehr zählt. Oder man stelle die sechsten Verse beider Strophen gegenüber: In 46,33 ist von der heißen Sonne die Rede, und nicht zufällig wird an entsprechender Stelle in der letzten Strophe (47,35) mit der derreblahe, dem Ort der Liebesbegegnung, das Motiv der Sonnenhitze wieder aufgenommen. Natureingang und Schlußstrophe korrespondieren also, wie die Beispiele zeigen, nicht nur in formaler Hinsicht,54 sondern sie verhalten sich inhaltlich wie Frage und Antwort zueinander, da es in der letzte Strophe gelingt zu erweisen, daß auch die unwirtliche Jahreszeit ihre Glücksmöglichkeiten bietet.

IV

In der Forschung wird zumeist von einem literarischen Zusammenhang zwischen den beiden Liedern Neifens und Neidharts ausgegangen.55 Nach SABINE BRINKMANN soll es Neidhart gewesen sein, der (»da Neifen später als Neidhart zu dichten begann«) einen Einfluß auf den Neifer ausgeübt hat. 56 Doch wäre es zu einfach, im älteren Dichter automatisch den Gebenden zu vermuten. Wenn Neifen Neidharts Fassung gekannt haben sollte, bleibt es schwer vorstellbar, wie er sich deren strukturellen und konzeptionellen Vorgaben so weitgehend entziehen konnte. Warum sollte z.B. Neifen, bei dem fast alle Lieder über Natureingänge verfügen, dieses bei Neidhart vorhandene Element ganz getilgt haben? Wie wäre Neifens mit knappsten sprachlichen Andeutungen auskommendes Lied aus Neidharts fünfstrophiger Version herzuleiten, wo bereits eine Neidhartstrophe über annähernd so viel Wortmaterial verfügt wie der ganze Neifensche Text? Während Winterlied 8 als einziges in Neidharts Werk dem Flachsschwingen gewidmet ist, findet bei Neifen die Figur einer Flachsschwingerin an drei weiteren Stellen Erwähnung. Es dürfte sich dabei um Selbstzitate handeln, aus denen ein gewisser Dichterstolz herauszuhören ist: Disiu liet will ich der lieben singen der ich lange her gesungen hän. sie kan beidiu dehsen unde swingen.

(KLD 15,11,5)

Humorvoll bringt Neifen das Bild der Flachsschwingerin sogar mit dem eigentlichen Markenzeichen seiner Dichtung, dem roten Mund der frouwe, in Zusammenhang: si kan dehsen swingen in der mäze unde wil behüeten daz si niht bestieben läze ir röten munt ... (KLD 15,1,4) 54

65 68

Eis korrespondieren ferner die achten Zeilen: des bin ich ... gram (46,35) / ... des was si geil (47,37). Vgl. auch 46,30: die siht man NU nindert, so mans ... sack. / 47,32: ich gesach nie ... Vgl. EDMUND WLESSNER: Kommentar zu Neidharts Liedern. Leipzig 1954, S. 108 zu 47,2. BRINKMANN (S. ANM. 28), S. 93.

128

Tomas Tomasek

So fällt es schwer, sich vorzustellen, daß Neifen das Motiv der Flachsschwingerin wie eine Dichtersignatur verwendet hätte,57 wenn er die entscheidende Anregung Neidhart verdankte. Vieles deutet darauf hin, daß Neifens Lied von der Flachsschwingerin ein gänzlich eigenständiges Werk ist. Das aber zwingt dazu, sein Verhältnis zum Winterlied 8 neu zu bedenken. Könnte Neifens Fassung vielleicht der Anstoß für Neidharts Beschäftigung mit dem Flachsthema gewesen sein? Oder sind die Sänger von einem dritten, heute nicht mehr erhaltenen Lied angeregt worden? Beides ist nicht völlig auszuschließen, doch ist auch eine andere Möglichkeit denkbar.58 Fragt man nämlich, worin der gemeinsame Nenner der Versionen besteht, so ergibt sich wenig mehr an Übereinstimmungen, als daß in beiden Liedern ein Mann eine Flachsschwingerin in erotischer Absicht aufsucht, mit dem Erfolg, daß er auf dem Schwingplatz die Vorherrschaft des weiblichen Elements zu spüren bekommt. Da also Neidharts und Neifens Versionen auf gemeinsamen volksläufigen Anschauungen vom Flachsschwingen basieren,59mögen die beiden Lieder, die in Form und Aussage kaum unterschiedlicher ausfallen konnten, auch voneinander völlig unabhängige Schöpfungen sein.

57 58

59

Vgl. auch KLD 15,XXIV,4. Die Diskussion auf dem Chiemsee-Colloquium hat mich veranlaßt, meine Auffassung in diesem Punkte zu differenzieren. Eine ausschließliche Herleitung des erotischen Begegnungsmusters in beiden Liedern aus der Pastourelle wäre deshalb nicht angemessen. Dafi andererseits Neidhart und Neifen diesen literarischen Typus gekannt haben, ist kaum zu bezweifeln. Vgl. zur Problematik B R I N K M A N N (S. Anm. 28), S. 91f., 223ff.

ERNST BREMER

(Pciderborn)

Ästhetische Konvention und Geschichtserfahrung Zur historischen Semantik im Minnesang Ulrichs von Winterstetten

I In jüngeren Arbeiten zur Sozialgeschichte der Literatur ist es zur »opinio communis« geworden, daß sich Literatur von historischer Realität weder problemlos ableiten lasse, noch Literatur die Wirklichkeit ungebrochen widerspiegele oder in eine widerspruchsfreie Beziehung zu ihr gebracht werden könne. Diesen berechtigten Vorbehalten, die sich u.a. einer fortschreitenden Theoriediskussion verdanken, steht ein in der mediävistischen Praxis eher noch zunehmendes Bedürfnis nach Einbettung der Literatur, insbesondere ihrer Überlieferungsgeschichte, in historische Kontexte gegenüber. Eine Reihe von Einwänden gegenüber einer Sozialgeschichte der Literatur resultieren aus Vorbehalten, die auf literaturwissenschaftlicher Seite in der Vorstellung kulminieren, als Disziplin von anderen historischen Wissenschaften vereinnahmt und obsolet zu werden; derartige Ängste werden zudem geschürt durch die Schelte des Historikers, der die literaturwissenschaftlichen »Spekulationsruinen« allzu leicht entdeckt und die methodischen Unzulänglichkeiten bemängelt. Diese Vorbehalte scheinen dort berechtigt, wo globale und unscharfe Konzepte als sozialgeschichtlicher Interpretationsrahmen von Literatur dienen oder aber in großzügiger Raffung ganze literaturhistorische Epochen sozialgeschichtlich beschrieben werden. II Im folgenden wird der Versuch unternommen, die historische Person Ulrich von Winterstetten deutlicher als in der bisherigen Forschung zu konturieren und diese in ihren zeitgeschichtlichen Bezügen zu betrachten. Am Beispiel des sogenannten >SchwabenliedesGroßen Heidelberger Liederhandschrift< überlieferte Bezeichnung als schenk Uolrich von Winterstetten3 hat in der Vergangenheit zu vielfältigen Spekulationen über die historische Identität des Dichters geführt. Da Ulrich von Winterstetten - wie andere vor und nach ihm - urkundlich nicht als Minnesänger bezeugt ist, stellte sich der Forschung immer wieder das Problem, das archivalische Material mit ihm als Autor in Verbindung zu bringen; zudem wurden diese Quellen bisher nur punktuell ausgewertet, nie umfassend alle vorhandenen Zeugnisse hinzugezogen, und weitere blieben gänzlich unbeachtet. Nach einer erneuten Sichtung der bekannten und der Aufdeckung neuer, von der Forschung bisher nicht berücksichtigter Quellen läßt sich jetzt mit insgesamt 18 urkundlichen Zeugnissen das Leben Ulrichs von Winterstetten über einen Zeitraum von 39 Jahren im oberschwäbischen Raum verfolgen.4 Danach ist Ulrich von Winterstetten 1241 erstmals in einer Urkunde belegt, in der bereits die ökonomischen Schwierigkeiten des Reichsministerialen-Geschlechts durch Besitzveräußerungen sichtbar werden, als deren wohl bekanntester Vertreter dieser prostaufischen Familie der Reichsschenk Konrad von Winterstetten gilt, der als Erzieher Heinrichs VII. und Berater Konrads IV., aber auch als Literaturmäzen in Erscheinung tritt. Dieser Ulrich von Winterstetten tritt ab 1253 als Schenk und ab 1258 auch als Augsburger Kanoniker urkundlich in Erscheinung. Daß ein Kanoniker als Minnesänger auftreten kann, bereitet der jüngeren Forschung kaum noch Probleme, da ein Kanoniker nicht zwangsläufig auch Kleriker sein mußte; vielmehr war dieses Amt in erster Linie mit einer Pfründe verbunden. Betrachten wir die urkundlichen Belege in ihrer Gesamtheit, so zeichnet sich deutlich ab, daß die Mutmaßungen BUMKES5 über eventuelle andere Träger dieses Namens der historischen Wahrscheinlichkeit entbehren. Bumke versuchte, unseren Autor der Anonymität urkundlich nicht in Erscheinung tretender, unterster Schich2

JOACHIM B U M K E :

Ministerialität und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung. München

1976,

S. 6 5 - 6 7 . 3

4

5

Die große Heidelberger Liederhandschrift. In getreuem Textabdruck hrsg. v. FRIDRICH P F A F F . 2., verbesserte und ergänzte Auflage bearbeitet von HELLMUTH SALOWSKY mit einem Verzeichnis der Strophenanfänge und sieben Schrifttafeln. Heidelberg 1984, S. 246. Vgl. die Liste im Anhang; das urkundliche Material wird zukünftig im Rahmen der Publikation meines Habilitationsvortrages an anderer Stelle ausführlicher vorgestellt. BUMKE, Ministerialität (s. Anm. 2), S. 66.

Ästhetische Konvention und Geschichtserfahrung

131

ten der schwäbischen Ministerialität zuzuordnen, um die Identität des Minnesängers mit dem Kanoniker zu erschüttern; er übersieht, daß der soziale Abstieg der Winterstetten in Schwaben - wie ihn das urkundliche Material nachweist - die Existenz Ulrichs ohnehin in diesen sozialen Schichten wahrscheinlich macht. Das urkundliche Material bestätigt die Tendenz zu einer kontinuierlichen Verschlechterung der Besitzverhältnisse dieser Familie; Verkäufe von Gütern, die dann z.T. als Lehen wieder genommen werden, dokumentieren eine zunehmende Einschränkung ihres sozialen und ökonomischen Spielraums. Diese wiederum stehen in ursächlichem Zusammenhang mit den urkundlichen Nachweisen des Kanonikers in Augsburg und des rector ecclesiae in Biberach, da mit diesen Amtern eine Verbesserung seiner ökonomischen Situation verbunden gewesen sein dürfte. Aus den Quellen, die hier aus Platzgründen nicht im einzelnen vorgestellt werden können, wird die Verstrickung in innerschwäbische Auseinandersetzungen um Besitz und Macht sichtbar, die offenbar auch krasse Rechtsbrüche Ulrichs und seines Bruders Heinrich beinhaltet. Uber solche Rechtsverfehlungen weiß nicht nur der Annalist des Klosters Marchtal an der Donau zu berichten; in einem päpstlichen Schreiben aus dem Jahre 1253 verfügt Innozenz IV., den Abt von Kempten abzusetzen, da dieser die Burg und andere Güter seines Klosters an die Schenken Ulrich und Heinrich von Winterstetten gegen einen Jahreszins preisgegeben habe. Dies veranlaßt den Konstanzer Bischof dann zu entsprechenden Sanktionen. An dieser Stelle ist eine weitere einschränkende Bemerkung vonnöten: Es soll hier nicht versucht werden, sich dem spätstaufischen Minnesang mit einem individualpsychologisch-biographischen Ansatz zu nähern: Eine solche Betrachtungsweise würde der nicht neuen Einsicht über die »Kollektivität« des Minnesangs kaum gerecht. Die literarische Ausdrucksform bleibt eingebunden in eine Kommunikationssituation, die zum einen durch die Konventionen und Regeln des minnesängerischen Sprechens, zum anderen durch die gesellschaftliche Determination des Publikumskreises bestimmt ist. Der Versuch, Werk und Außenrealität Winterstettens aufeinander zu beziehen, setzt zunächst voraus, daß die personengeschichtlichen Daten zu der historischen Makrostruktur in Beziehung gesetzt werden. Die nachweisbaren Fakten zur Person Winterstettens fallen im wesentlichen in einen Zeitraum, der auf der Reichsebene mit dem Begriff »Interregnum« umschrieben wird. Das Charakteristikum dieser Periode, das Fehlen staatlicher Ordnungsgewalten, führt in Schwaben durch den zusätzlichen Wegfall der staufischen Herzogsgewalt ab etwa 1240 zu einem »Stadium völliger Zerrüttung«6; die Auswirkungen ähnlicher Situationen in anderen Regionen werden hier weit übertroffen. Die sozioökonomischen Rahmenbedingungen adeliger Existenz haben sich auch in Schwaben im Laufe des 13. Jahrhunderts gegenüber dem Hochmittelalter stark verändert. Von entscheidender Wirkung sind die Veränderungen der politischen Bedingungen wie sie für den Adel durch die Verfestigung bäuerlich-genossenschaftlicher und bürgerlichkommunaler Eigenständigkeit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden 6

KARL SIEGFRIED BADER: Der deutsche Südwesten in seiner territorialstaatlichen Entwicklung. 2., unveränderte Auflage. Sigmaringen 1978, S. 48.

132

Emst Bremer 7

sind. Die hauptsächlichen Ursachen für die Umschichtungs- und Neuformierungsprozesse innerhalb des Adels seit der Mitte des Jahrhunderts sind das Ende der hochmittelalterlichen agrarischen Expansionsphase, des Landausbaus im Sinne der Erschließung neuer Kulturflächen und die rasch zunehmende Bedeutung des Marktes, die zur zweiten Stadtgründungsphase führt; der Adel gerät unter sozialen Konkurrenzdruck derjenigen, die von den neuen Gegebenheiten profitieren, nämlich jene dem Geld näherstehenden Schichten der Stadtbürger und Großbauern. Diese Faktoren führen innerhalb dieser Adelsgruppen, zu denen wir Winterstetten zu rechnen haben, zur Einkunftsstagnation, die zunehmend zu einem Faktor sozialer Bedrängnis wird; hinzu tritt das Moment der generativen Blüte - schon in den frühesten Urkunden wird Ulrich zusammen mit sieben Geschwistern erwähnt -, die bei der herrschenden Konkurrenz um Dienstkarrieren und Kirchenpfründen die Versorgung jüngerer Söhne, z.B. in der Geistlichkeit, problematisiert. 8 Dies führt ebenfalls zur Aufwandsreduktion oder gar zum Verschwinden aus den Quellen; in jedem Falle zur Preisgabe der Herrenstellung und zum Verlust des sozialen Abstands zu emporsteigenden Stadtbürgern und zu Vertretern bäuerlicher Oberschichten. Nach 1240 ist zudem in den Quellen, wie S A B L O N I E R für vergleichbare Verhältnisse in der Ostschweiz nachweist,9 ein massiver und erfolgreicher kirchlicher Druck auf den ministerialen Adel festzustellen; häufig wird dieser im Rückkauf der Zehntrechte durch die Kirche spürbar; auch in dem urkundlichen Material zu Ulrich gibt es hierfür Belege. Diese Beispiele bestätigen, daß die Lebensform und damit auch die Repräsentationsmuster aufgrund des raschen und gründlichen Wandels des Ritter- und Ministerialadels seit der Mitte des Jahrhunderts beeinträchtigt werden, daß somit auch die späte Pflege höfischer Kultur nicht mehr die schichtenmäßige Heterogenisierung aufhalten kann: Elemente der inneren Kohäsion sind lediglich noch - wie wir wiederum auch bei Winterstetten beobachten können - im verwandtschaftlichen Zusammenhalt zu finden.10 III Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen wähle ich exemplarisch Winterstettens Lied X 11 als eine Verfalls- und Zeitklage, die mit der scheinbar traditionellen »Inszenierung« eines Sommerliedes beginnt: Ich sold den liehten sumer loben: des hän ich mich versümet her. daz lant ist niden und da bi oben geblüemet nach mins herzen ger. 7

KLD 59, X,l, 1-4

ROGER SABLONIER: Adel im Wandel. Eine Untersuchung zur sozialen Situation des ostschweizerischen Adels um 1300. Göttingen 1979 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 66), S. 254-259.

8

SABLONIER (S. A n m . 7), S . 2 3 9 .

9

SABLONIER (S. A n m . 7), S. 2 4 3 .

10

SABLONIER (S. A n m . 7 ) , S. 1 6 7 - 1 7 1 .

11

KLD (s. Anm. 1), 59, X.

Ästhetische

Konvention

und

133

Geschichtserfahrung

Das Lob des Sommers wird kontrastiert mit einer zunächst nicht weiter spezifizierten Zeitklage, die fast schon »Spruchcharakter«12 gewinnt: ir Swäbe, nemt die alten zuht her für, so tragt ir eren kleit. mit zühten sult ir sin gemeit.

KLD 59, X,l, 7-9

Der folgende Refrain swem ich singe, swiez erklinge, swaz ich sage, doch trage ich klage.

KLD 59, X,l-5, 10-11

scheint vordergründig nur auf das traditionelle Minne-Verhältnis von Dame und Sänger abzuheben; die vorausgehenden Zeilen der ersten Strophe sowie die nachfolgenden strophischen Inhalte legen jedoch nahe, die traditionelle Personalbindung des Minnesangs auf die mit ir Swäbe13 angesprochene Publikumsgesellschaft auszuweiten. Das formal auffallendste Charakteristikum dieses Refrains, der Dreifachreim der zweiten Zeile, ist im Kontext der Refrainkunst des 13. Jahrhunderts zu bewerten, für die Klang- und Lautspielereien, Alliterationen und Mehrfachreime charakteristisch sind. Der Ausdruck min klage14 am Beginn der zweiten bis fünften Strophe gewinnt in seiner pointierten Hervorhebung für dieses Lied eine Art Leitwortcharakter und verdeutlicht Winterstettens Tendenz zur bewußten Gestaltung respondierender Elemente auch in den strophischen Teilen des Liedes.15 Formal werden damit die Aussagen der einzelnen Strophen als um den Zentralbegriff min klage kreisende Sprechweisen erwiesen. Inhaltlich wird in der zweiten und dritten Strophe der Klage-Habitus des Sängers zur Minnethematik variiert; der Autor entfaltet traditionelle Topoi des Minnesangs: Der Frauenpreis ir minneclicher ougen schin, ir liehtevarwer roter munt KLD 59, X,2, 2-3 wird mit der ebenso konventionellen Liebesklage des Sängers - seine sende not16 verschränkt und aufeinander bezogen: 12

13 14 15

16

GEBHARD STREICHER: Minnesangs Refrain. Die Refrain-Kanzonen des Ulrich von Winterstetten. Bauformengrammatik, Aufführungsstruktur, Überlieferungsgebrauch. Göppingen 1984 (GAG 372), S. 72. KLD (s. Anm. 1), 59, X,l,7. KLD (s. Anm. 1), 59, X,2-5,1. RENATE HAUSNER: Spiel mit dem Identischen. Studien zum Refrain deutschsprachiger lyrischer Dichtimg des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Sprache - Text - Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964-1979 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg. Hrsg. von PETER K. STEIN gemeinsam mit RENATE HAUSNER. Göppingen 1980 (GAG 304), S. 281-384. S. 359 A. 167; Die Leiche und Lieder des Schenken Ulrich von Winterstetten. Hrsg. von JACOB MINOR. Wien 1882, S. XX. KLD (s. Anm. 1), 59, X,3,l.

134

Ernst Bremer

daz ist min klagendez ungemach. owe daz ich st ie gesach! KLD 59, X,3, 8-9 Winterstetten zitiert fast die Formelhaftigkeit des Minnesangs und dessen Ausrichtung an bekannten Konventionen; das triadische Schema - die Naturschilderung, die Klage über unerfüllte Liebessehnsucht, der Frauenpreis - wird eher verstärkt als zu einer Reflexion von Selbsterfahrung geöffnet; entsprechend behält er die strukturelle Dreigliedrigkeit des Strophenbaus konsequent bei und verfestigt sie. Die Pointe des Liedes folgt in der vierten Strophe: Das Sänger-Ich spielt mit der Möglichkeit, seine Klage vor dem Königsgericht anhängig zu machen und die ohnehin schon öffentliche Minnesituation einer institutionalisierten Anklage zuzuführen. Da die Minnesang-Praxis die Namensnennung der Dame verbietet, müßte sie auch vor Gericht verweigert werden, womit der spielerische Zusammenfall von Minnesang und Gerichtspraxis als Problemlösung ad absurdum geführt wird; dies geschieht, ohne Qualität und Bedeutung sowohl des Minnesangs als auch des Königsgerichts in Frage zu stellen. Das Lied endet mit der Rückkehr zur Minnethematik, in deren Horizont letztlich nur eine Lösung des Minneproblems für möglich gehalten wird. Die Bitte um lön, das Angebot der Dienstbereitschaft, das Zweifeln am Erfolg und die Vergeblichkeit der Bemühung signalisieren die Perpetuierung traditioneller Muster »seriellen Sprechens« 17 im Minnesang. Dies korrespondiert mit der regelhaften Formulierung der Anfänge der Strophen zwei bis fünf und dem Refrain, so daß die Klage jeweils am Anfang wie auch am Schluß einer Strophe als statisches Element vorgeführt wird. Minnesang als Gesellschaftskunst bewegt sich überwiegend innerhalb einer relativ schnell etablierten, engen Thematik und arbeitet mit tradierten Situationen, Motiven, Formen und Typen. Insofern diese Lyrik nur als Teilaspekt mittelalterlicher Gesellschaftskultur interpretierbar ist und sich in scheinbar großer Distanz zur historischen Realität entfaltet, stellt sich das Problem ihrer sozialhistorischen Kontextualisierung. Es kann jedoch nicht von der »schlichten Dichotomie literarische Fiktion< - >außerliterarische Realität< oder gar >Ideal< - >WirklichkeitSchenkenliedHerbstliedwol üf, läz üz die herth des erschrac diu dirne und ir geselle wert. BSM XIX,8, 1,4-6 HAUSNER vertritt die These, daß Winterstetten vor allem im >Schenkenlied< zur

Liedkunst Steinmars poetologisch habe Stellung nehmen wollen: Winterstetten werfe Steinmar vor, daß dieser das ethische Modell des konventionellen Minnedienstes nicht mehr realisiere und als Repräsentant einer an der Alltagsrealität »in ihren derbsten Ausprägungen orientierten Weltanschauung« 29 auftrete; darüberhinaus verspotte er die Vertreter der Konvention. Die urkundlichen Daten der beiden Sänger legen es für HAUSNER nahe, diese Kontroverse in den 60er Jahren des 1 3 . Jahrhunderts zu vermuten; 30 sie sei analog dem realpolitischen Machtkampf pro- und antistaufischer 27 28

Ulrichs von Winterstetten Lied XXXVIII. In: KLD (s. Anm. 1), 59, XXXVIII, Bd. I, S. 552-553. Steinmars Lied 8. In: Die Schweizer Minnesänger (BSM). Hrsg. von K A R L BARTSCH. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe FVauenfeld 1886. Darmstadt 1964 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz 7), XIX,8, S. 179-180.

29

HAUSNER (S. A n m . 15), S . 3 7 8 .

30

HAUSNER (S. A n m . 1 5 ) , S . 3 8 1 .

138

Ernst Bremer

Kräfte um die Herzogswürde in Schwaben zu deuten - und zwar als Konfrontation zweier unterschiedlicher literarischer Repräsentationssysteme. 31 Die Differenz zwischen literarischer Rolle und möglichen sozialen und politischen Abhängigkeiten vereindeutigt HAUSNER hier jedoch, indem Minnesang auf eine Form politischen Handelns in einer bestimmten historischen Situation reduziert wird; 32 zudem ist Steinmar bisher historisch keinesfalls eindeutig zu identifizieren und politisch zuzuordnen. Diese Lieder Winterstettens sind nicht mehr nur unter der Perspektive möglicher Analogie von literarischen und außerliterarischen Fakten aus der engeren Lebenssphäre des Autors zu befragen; ihr wesentlicher Bezugsrahmen ist vielmehr die Tradition des Minnesangs selbst. Weniger eine von direkter Abbildung politischer Strukturen als vielmehr die von sozial-ökonomischen Veränderungen und Konfliktkonstellationen ausgehende Betrachtung fiktionaler Literatur erscheint hier sinnvoll; denn eine solche Sichtweise steht den Handlungsmustern und Elementarformen der Literatur weitaus näher als die ohnehin häufig an der Peripherie des literarischen Textes sich befindenden Partikel der politischen Ereignisgeschichte. In zweifellos größter Distanz zur Alltagsrealität befinden sich Winterstettens konventionelle Minnelieder, die das tradierte Kommunikations- und Interaktionsschema zwischen Sänger-Ich, Dame und Publikum als ein standardisiertes System von Zeichen und Regeln kaum jemals überschreiten; diese Lieder dominieren in seinem Schaffen und zeichnen sich überwiegend durch formale Virtuosität aus; da sie inhaltlich dem schematisierten Repertoire der Topoi und Metaphern des konventionellen Minnesangs verpflichtet sind, lassen sich kaum unmittelbare Bezüge zur krisenhaften Realität der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erkennen; Lied X bietet dafür wie wir gesehen haben - zahlreiche Beispiele. In ebenfalls vielfältiger Weise bedient sich Winterstetten des formalen Typenrepertoires des vorausgehenden Minnesangs: Die Erkenntnis der jüngeren Forschung, daß Winterstettens Strophenbau formgrammatisch zu analysieren sei - ja geradezu eine »Formsyntax« aufweise revidiert die Einschätzung einer Beliebigkeit des formalen und inhaltlichen Ausdrucksrepertoires dieser Kunst. Das restaurativ gepflegte Minnelied erfahrt eine individuelle Erweiterung vor allem durch die exzessive Verwendung der zwischen- und nachstrophischen Periode. Diese Refrains, »diese überwiegend invariablen Wiederholungstexte« 33 , sind nicht als äußerliche - auch verzichtbare - Zusätze, sondern als strophenerweiternde Textformen bzw. Inhaltsperioden aufzufassen. Die Themen weisen in die Strophen hinein; der Refrain erfährt so eine inhaltliche Integration, die von thematischer Liedansage bis zur klassischen Erläuterung der Minnesituation reicht - ja im Extremfall sogar zu geistreich-parodistischer Anspielung gegen populäre Refrains in der NeidhartTradition führt; 34 damit wird der Refrain noch um Grade unmittelbarer als die Strophentexte selbst in den Kontext jener Sprechweisen eingebunden, die man als »höfisch« bezeichnet. 31

HAUSNER (S. A n m . 1 5 ) , S. 3 8 4 .

32

MÜLLER, Lachen - Spiel - Fiktion (s. Anm. 18), S. 45.

33

STREICHER (S. A n m . 1 2 ) , S. X X X V I I .

34

STREICHER (S. A n m . 1 2 ) , S. X X X V I I I .

Ästhetische

Konvention

und

Geschichtserfahrung

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Gerade auf der hier analysierten Ebene größter Distanz zur historischen Realität wird implizit ein Darstellungsprinzip sichtbar, das auf einem hohen Grad des Wissens über die künstlerischen Mittel und der Fähigkeit zu virtuosem Umgang mit ihnen basiert. Mit diesem Darstellungsprinzip wird offenbar die Intention verbunden, über die individuelle Akzentuierung und Asthetisierung des traditionellen Formenrepertoires die Verbindlichkeit eines nicht mehr ungebrochen akzeptierten Gesamtkonzepts »minne« zu erneuern. Erst die Aufgabe des idealistischen Postulats eines organischen Zusammenhangs von Form und Inhalt - wie sie C R A M E R für die Interpretation Gottfrieds von Neifen forderte 35 - wird den Blick für den Sinngehalt der Form im mittelalterlichen Verständnis öffnen; eine detaillierte Untersuchung des mittelalterlichen Formbegriffs, wie er in der lateinischsprachigen Literatur der Zeit entwickelt wird, steht bisher aus. Allerdings wird auch in der Volkssprache über die neue Erfahrung der Faszination der Kunst annähernd gleichzeitig und in räumlicher Nähe zu Winterstetten reflektiert: Mit dem Bild der sich zu Tode singenden Nachtigall, als Metapher für eine Autonomie des Poetischen, umschreibt Konrad von Würzburg um 1277 in Basel die Situation des höfisch denkenden Minnesängers. Im Prolog zu >Partonopier und MeliurSchenkenlied< Winterstettens, man schreie die Lieder des Schenken Tag und Nacht auf der Straße, 38 ihren ironisch-satirischen Sinn. Obwohl hier nach dem Vorbild Neidharts die höfische Situation ins »Dörperliche« verlegt wird, 39 läßt gerade die Behauptung eines großen Publikumerfolges auf die von Konrad von Würzburg im Nachtigallenbild gefaßte Realität schließen. Es ist festzuhalten, daß gerade die Analyse der konventionellen, scheinbar realitätsfernen Minnelieder Ulrichs von Winterstetten sichtbar werden läßt, daß der Liedvortrag nicht mehr »im Rahmen einer seit frühem und klassischem Minnesang 35

THOMAS CRAMER: SO sint doch gedanke fri. Zur Lieddichtung Burgharts von Hohenfels und Gottfrieds von Neifen. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Festschrift für P E T E R WAPNEWSKI. Hrsg. v o n RÜDIGER KROHN. M ü n c h e n 1 9 8 3 , S . 4 7 - 6 1 .

36

Konrads von Würzburg »Partonopier und Meliure danne er überquaeme mich, ez würde im doch vil herte: ich stürbe e ich verkür min reht.< der selbe ist vürbaz dan sin kneht, er wirt sin schiltgeverte. er ist sin ritter al die zit wil er in houbetsünden lit. sich, wer sich nü hab so beriht daz er der schulde unschuldic si: die wil man vünd bi drizigen dri, die Entkrist überquaeme niht. (II 17- 21)4 Ausgangspunkt der Überlegung muß die Spruchstrophe II 19 sein. Sie ist die mittlere der fünfstrophigen Spruchfolge II 17-21, die HELMUT DE BOOR in einem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahr 1960 als das »Antichristgedicht« des Wilden Alexander bezeichnet hat 5 . Die Wahl des Titels spiegelt DE BOORS Interpretation der Spruchfolge: ihn interessierte an der Auslegung der Strophen 17 und 18 in den Strophen 19-21 die sträze (II 19,10), die er für die beiden im biblischen Gleichnis gegebenen Straßen des Lebens und des Todes hielt (gemeint ist die Lehre der Bergpredigt in Mt 7,13-14), sowie der Antichrist - beides im Hinblick auf KRAUS' Textherstellung und Kommentar, die er korrigierte. Die Gewichte innerhalb der fünf Strophen scheinen mir jedoch etwas anders verteilt zu sein; der Name »Antichristgedicht« verleiht dem Text zu viel endzeitlichen Glanz: Alexander diskutiert durchaus gegenwärtige Probleme. Die beiden jungen Frauen der Bildseite, denen königlicher Stand (II 17,1), Schönheit (II 17,2) und Ausstattung (II 17,4; 18,5 und 10-12) ein gutes, normenkonformes Leben ermöglicht hätten, vertauschen den geordneten, eingegrenzten Bereich mit Wildnis, Wildheit (II 17,6), die als Prostituiertendasein gekennzeichnet sind (II 17,10-12; 18,6-7). In der Zeit, in der sie im Tal an der Wegscheide auf einen künftig kommenden Mann warten, also v o r der endgültigen Entscheidung über den letztlich einzuschlagenden Weg, suchen sie die verderbliche Gesellschaft der knehte dieses zukünftigen gesellen (II 18,3-4). Alexander deutet im Anschluß die Elemente seiner rede: Gott setzte den geistlichen und den weltlichen Stand (II 19,4-6), aber beide zogen dem Himmelreich das Tal der Sünde, die Welt, vor (II 19,7-8). Diese birgt Leben und Tod gleichermaßen (II 19,9), enthält also Ambivalenz und mithin auch einen gewissen Entscheidungsspielraum. Der Vers II 19,10 die sträze gent si beide vür wurde unterschiedlich gelesen: KRAUS übersetzte »Diese Straßen führen an ihr (der Welt) vorbei« und verstand 4 5

KLD 1, S. 7f. HELMUT DE BOOR: Das Antichristgedicht des Wilden Alexander. PBB (Tübingen) 82 (1960), S. 346-351. RUDOLF HALLER: Der Wilde Alexander. Beiträge zur Dichtungsgeschichte des XIII. Jahrhunderts. Würzburg 1935, S. 34, 95, 98 f. spricht vom >Antichrist-spruch< bzw. einer Antichrist-spruchfolge.

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beide als »die Straße des Lebens und die des Todes«; DE BOOR faßte im Gegensatz dazu si als die zwo juncvrouwen (II 19,6) auf und bezog beide auf die Straßen: »diese beiden Straßen liegen vor ihnen«; JÜRGEN BIEHL erkannte richtig die Zusammengehörigkeit von si und beide im Sinn von: »Auf dieser Straße (auf diesen Straßen) gehen sie beide voran«. 6 Der erwartete Mann wird in der nächsten Strophe als der endzeitliche Antichrist enthüllt (II 20,1-2). Die Tatsache, daß ihn alle Sünden lieben (II 20,3-4), bewirkt, daß alle Sünder, geistliche wie weltliche (II 20,5), zu seinen Anhängern zählen. 7 Alexander führt dies in der folgenden Strophe (II 21) noch deutlicher aus: Solange man einer oder mehrerer Todsünden schuldig ist, ist man Kampfgenosse des Antichrist (II 21,7-8), insbesondere dann, wenn man prahlt, unter keinen Umständen anfällig zu sein (II 21,1-6): das bedeutet, der superbia, der schlimmsten aller Todsünden zu erliegen (vermizzet sich, II 21,1), die in der mittelalterlichen Charakteristik des Antichrist sein wichtigstes Merkmal ist 8 . Dieser Typus eines Widerständlers dient Alexander implizit als Argument gegen überhöhte Hoffnungen, die angesichts der in einem Zeitraum von zehn Jahren gewachsenen Zahl von Antichrist-Gegnern aufkommen könnten (II 20,7-12). Nur ein Gegenmittel existiert: sich frei halten von der Schuld, in Todsünden befangen zu sein, denn wenn drei von dreißig Menschen dies leisteten, käme der Antichrist nicht: Der antekrist enqueme niht (II 21,9-12) lautet die Schlußfolgerung im Wortlaut der Handschrift J. KRAUS' Konjektur die Entkrist überquaeme niht schwächt die Aussage unnötig ab: tatsächlich könnte eine kleine Gruppe die Gesamtheit bewahren. 9 Die Struktur dieser Bedingung entspricht Abrahams Handel mit Gott: wenn zuerst fünfzig, dann fünfundvierzig, vierzig, dreißig, zwanzig, schließlich zehn Gerechte in Sodom und Gomorra zu finden sein sollten, würden die beiden Städte nicht zerstört 10 . Man weiß, warum die Geschichte wie ausging, und Alexanders Publikum verstand die typologisch verpackte Lehre. Vom deiktischen seht, dem ersten Wort der Spruchfolge (II 17,1), bis zur eschatologisch gefaßten und begründeten Warnung vor der Sünde reicht der Rahmen der intendierten Didaxe; aber welcher rhetorischen Mittel bedient sich Alexander, oder: was ist wilde rede? Wilde rede hat einen kern (II 19,1); Alexander ordnet sie mithin den Tropen zu, die einen Gegensatz von außen und innen bezeichnen, von Wortbedeutung und verborgenem Sinn. Eine solche Relation bestimmt im Bild der Hülle oder des Schleiers seit den Zeiten des frühen Christentums die Interpretation von Dichtung, vor al6

K L D 2 , S. 7 z u 1 9 , 1 0 . D E B O O R (S. A n m . 5 ) , S . 3 4 7 . BIEHL (S. A n m . 1 ) , S . 9 1 u n d 1 0 3 f.

7

Es handelt sich nicht um eine Anspielung auf den Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, wie ULRICH M Ü L L E R : Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen 1974 (GAG 55/56), S. 157 und 491 annimmt; vgl. S. 355 und 494 A. 4. Siehe z. B. Vom Antichrist. Eine mittelhochdeutsche Bearbeitung des Passauer Anonymus. Hrsg. von P A U L - G E R H A R D V Ö L K E R . München 1970 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 6), S. 62f., 65, 71, S. 92-95. Vgl. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Bd. 3. Bearb. von F R I E D E R SCHANZE und BURGHART WACHINGER. Tübingen 1 9 8 6 , S. 5 (ungenaue Inhaltsangabe). Gn 18,22-32. So auch DE B O O R (S. Anm. 5) S. 350.

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Wie dunkel ist wilde rede?

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12

lern aber die biblischer Texte. Die Metapher vom Kern findet sich in geistlicher Rede: In der Predigt Von driu lägen verspricht Alexanders wohl älterer Zeitgenosse Berthold von Regensburg seinen Zuhörern im Anschluß an das alttestamentliche Exempel von Gideons Kampf gegen die Philister, daß - in Anbetracht der Analogie zwischen dieser Geschichte und einer Mandel - der süeze kern ... uns kristenliuten ze teil werde, während die Juden nur die äußere Schale kennten; der Kern ist die bediutunge, die im Vorgang des bezeichnen gefunden wird. 13 Den Kern des zweiten, wichtigeren Schriftsinns erlangt man Meister Eckhart zufolge nur, indem man die Schale zerbricht 14 . Auf diese Metapher, wie sie im späteren Beispiel erscheint, spielt Alexander an, wenn er die wdrheit unverhouwen zeigen will (II 19,3). Die Methode, die den Prozeß der Sinnfindung illustrierenden Bilder nur anzudeuten, zur Hälfte unausgesprochen zu lassen, wendet Alexander hier allerdings in größerem Umfang an, als bisher wahrgenommen wurde. Er erwähnt nur den kern; schaln in II 19,2 ist eine Konjektur der Philologen seit FRIEDRICH VON DER HAGEN, die mit scult, wie die Jenaer Handschrift schreibt 15 , nichts anzufangen wußten. Scult ist jedoch eine sinnvolle Lesung, da sie in der gesamten Spruchfolge verankert ist: die beiden juncvroun werden muotwilliclich unstaete (II 17,3), und die willekür im Verfolg der sündigen Wege sollte Schamröte erregen (II 19,11-12). Der schulde unschuldic zu sein (II 21,10) kann allein die Ankunft des Antichrist aufhalten. Die 11

12

13

14

Mittelalterliche Hermeneutik. Tübingen 1980, S. 159f., 264f. HANS-JÖRG SPITZ: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 12), S. 23-37. BRINKMANN (S. Anm. 11), S. 183f. CHRISTEL MEIER: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen. FMSt 10 (1976), S. 30. SPITZ (S. Anm. 11), S. 61-67. D. W. ROBERTSON, Jr.: Some Medieval Literary Terminology, with Special Reference to Chretien de Troyes. Studies in Philology 48 (1951), S.669-692, hier S. 671-674. Angesichts dieser Metapher kann wilde rede nicht im Sinn von »unwahren, verlogenen, in Inhalt und Form >verwilderten< Geschichten« gebraucht sein, wie BRUNO BOESCH meint: Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung von der Blütezeit bis zum Meistergesang. Bern - Leipzig 1936, S. 193. Weitere Belege in CHRISTOPH GERHARDTS Besprechung von BIEHLS Dissertation: Literaturwissenschaftliches Jb. NF 12 (1971), S. 376. Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten [...] von FRANZ P F E I F F E R . Wien 1 9 6 2 . (Neudruck: Mit einem Vorwort von K U R T RUH. Berlin 1 9 6 5 [Deutsche Nachdrucke. Reihe: Texte des Mittelalters]). Bd. 1, S. 3 8 , 3 0 - 3 7 und S. 39,25FF. SPITZ (S. Anm. 11), S. 65; S. 66 folgen Alexanders Verse II 19,1-3; allerdings bleibt unerfindlich, wieso es sich zuvor um eine »über zahlreiche Strophen sich erstreckende [...] Minnehandlung« handeln soll. Die Metapher von Kern und Schale verwendet der Marner in kunsttheoretischem Verständnis: einen Katalog der Fähigkeiten eines kunstfertigen Sängers schließt er mit der Aufforderung: HENNIG BRINKMANN:

ir singer, lütert iuwern sane, als man von silber tuot daz bli. ni merkent wie her Walther sanges kerne von der schale schiet.

15

Der Marner. Hrsg. von Philipp Strauch. Straßburg 1876 (Quellen und Forschungen zur Sprachund Culturgeschichte der germanischen Völker 14), S. 140 f.: XV, 19g, Z. 19 f. Vgl. KLD 1, S. 7 Apparat; VON DER HAGEN (S. Anm. 2), Bd. 3, S. 29: »schal« und Lesarten S. 739: »der scult«. HALLER (S. Anm. 5), S. 109,26: »schäle«. BLEHL (S. Anm. 1), S. 90 interpretiert nur »schaln«.

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Rede von der scult, vom schuldhaften Verharren in der Sünde, zeigt sich als kern, als Signifikat in der wilden rede. Wilde rede erscheint mithin als nicht nur irgendwie fremdartige sondern als deutungsbedürftige Rede, deren - gern behauptete - obscuritas in der Auslegung zur Gänze erhellt wird. Alexander demonstriert, wie dies geschieht: er erzählt eine Geschichte, die er Punkt für Punkt auf ihren eigentlichen Sinn hin deutet, und dieser ist ein geistlicher und mündet in eine moral-didaktische Aufforderung. Das Verfahren ist Alexanders Publikum vertraut, bekannt wiederum aus der Bibel: Jesus erzählt Gleichnisse16, deren Auslegungen Verhaltensanweisungen implizieren. Wilde rede als eine Form des uneigentlichen Sprechens kann mithin als allegorisches Sprechen aufgefaßt werden.17 Sie zeigt sich als Element sowohl der rhetorischen als auch der hermeneutischen, oder genauer: exegetischen Allegorie.18 Die Funktion, in der Alexander den Begriff einführt, erweist in der poetischen Praxis des Spruchdichters rhetorische und hermeneutische Allegorie als zwei Aspekte des einen allegoretischen Prozesses. Dessen ästhetische Qualität beruht wesentlich auf dieser Janusköpfigkeit. Als poetologischer Begriff ist wilde allerdings in der volkssprachlichen Literatur nicht unbekannt: immer wieder begegnen wildiu maere, wilde äventiure, wildiu wort in der Reflexion der Dichter über Texte und Autoren. Unlängst hat EBERHARD NELLMANN in einer Untersuchung des Hartmannlobs und der Wolframschelte in Gottfrieds Literaturexkurs den oder die vindaere wilder maere in den Kontext zeitgenössischer Begrifflichkeit gestellt. Auf dem Hintergrund der lateinischen Poetiken und durch den Vergleich mit Parallelen in der Epik und der Spruchdichtung des 13. 16

V g l . B R I N K M A N N (S. A n m . 1 1 ) , S . 1 6 5 - 1 6 8 .

17

In seiner >Ars versificatoria< stellt Matthaeus von Vendöme in einem Beispiel die Metapher von Nuß und Schale als einen Fall der Allegorie dar (3,43): Amplius, >allegoria< est alienum eloquium, quando a verborum significatione dissidet intellectus, ut... vel sie de formoso et arrogante: De nucleo nux conqueritur: quod predicat oris Verna superficies intima nescit hyemps: per »nucem« oris verna superficies, per »nucleum« hyemps intima, id est superbia, datur intelligi. Mathei Vindocinensis, Opera. Hrsg. von FRANCO MUNARI. Bd. 3: Ars versificatoria. Rom 1988 (Storia e letteratura 171), S. 185. An anderen Stellen (1,52,44; 1,53,51; 1,55,26,28 und 37) benützt Matthaeus die Metapher zur Bezeichnung des Gegensatzes von außen und innen. Vgl. ULRICH KREWITT: Metapher und tropische Rede in der Auffassung des Mittelalters. Ratingen - Kastellaun - Wuppertal 1971 (Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 7), S. 286, Anm. 2.

18

Vgl. ERNST HELLGARDTS Beobachtung der »Identität des Begriffs vom uneigentlichen Sprechen, wie er in Rhetorik und spiritueller Bibelexegese faktisch vorliegt«, die rhetorische und hermeneutische Allegorie als »Auffassungsweisen ... des Phänomens der Möglichkeit uneigentlichen Sprechens« versteht. E. H.: Erkenntnistheoretisch-ontologische Probleme uneigentlicher Sprache in Rhetorik und Allegorese. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von WALTER HAUG. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 3), S. 25-37, hier S. 26 und 28. ROBERTSON (S. Anm. 12), S. 673. Den Abstand zwischen dichterischer Allegorese und Schriftallegorese hebt HARTMUT FREYTAG hervor: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. Bern - München 1982, S. 15; zum Begriff der Allegorie s. besonders S. 22-25, 141f. Vgl. BRINKMANN (S. Anm. 11), S. 214-226. OLIVE SAYCE: The Medieval German Lyric 1150-1300. The development of its themes and forms in their European context. Oxford 1982, S. 421.

Wie dunkel ist wilde rede?

153

Jahrhunderts gelang es ihm, »wildiu maere als Geschichten mit einem sm-Defizit«, »als Erzählstoffe, deren sin nicht aufgedeckt ist« zu erweisen 19 . Um wilde in der jeweiligen Nuance seiner Funktion zu erfassen, gilt es daher Wortfelder zu beobachten: Wirnt von Gravenberg hält die äventiure von Wigalois' Sohn für ... ze wilde ..., ze krump und ze swaere, von so wunderlicher [ge]schiht

(11629-11631),

daß er es sich nicht zutraut, diese Geschichte zu dichten; dazu brauche es jemanden, der wildiu wort künne zamen. vremdiu maere und vremde namen hat diu äventiure. (11655-11657) 20 Wilde, guot und spaehe sind die Epitheta, die Rudolf von Ems in seinem > Alexander< der Kunst Wolframs und Gottfrieds beilegt 21 : mit wilden äventiuren kund er ( = Wolfram) die kunst wol stiuren, des gap sin äventiure der kurzwile stiure. (3135-3138) Unter dem Aspekt eines durch wilde bezeichenbaren stn-Defizits sollte auch die dem Gottfriedlob folgende Überlegung Rudolfs über die Dichtkunst seiner Zeit neu bedacht werden: nach der Einleitung Richer sinne ist vil geleit an unser kunst mit wisheit. 19

(3171-3172)

EBERHARD NELLMANN: Wolfram und Kyot als vindaere wilder maere. Überlegungen zu >Tris t a n 4619-88 und >Parzival< 453,1-17. ZfdA 117 (1988), S. 31-67, hier S. 32 und 46. Wildiu maere kann jedoch auch schlicht den Stoff kennzeichnen, dessen Erzählung dem Publikum Vergnügen bereiten soll:

Ez naeht nu wilden maeren, diu freuden kunnen laerer> und diu höchgemüete bringent

20

21

leitet Wolfram das zehnte Buch des >Parzival< ein (503,1-3). Zu wilde in der Brackenseilepisode ELISABETH SCHMID: Da stuont äventiur geschriben an der strängen. Zum Verhältnis von Erzählung und Allegorie in der Brackenseilepisode von Wolframs und Albrechts >TiturelArs rhetorica< des Notker Labeo, in der dieser translata uerba et aliena in Gegensatz zu den propria uerba gestellt und dem ornatus zugerechnet hatte. 24 Im Hinblick auf Meister Alexanders Begriif der wilden rede ist dieser Bezug von alienus zu wilde allerdings problematisch; zwar läßt sich über die klassische Bestimmung der Allegorie als alieniloquium25 alienus mit wilde rede vermitteln, aber letztere gehört eben gerade nicht zum ornatus. Bei den - deutlich spärlicheren - Belegen aus der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts fällt auf, daß, abgesehen von der Bedeutung des Rätsellösens im >Wartburgkrieg< für wilden wort machen zam26, der Kontext von wilde ein geistlicher ist. Reinmar von Zweter hält die vier Evangelistensymbole für ze wilde, als daß man sie richtig deuten könne, wenn man nicht über hinreichendes Wissen verfüge:27 22

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25

26

GUSTAV EHRISMANN: Studien über Rudolf von Ems. Beiträge zur Geschichte der Rhetorik und Ethik im Mittelalter. Heidelberg 1919 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Kl. 8. Abhandlung), S. 34, Zitat Anm. 1. WALTER H A U G : Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfangen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung. Darmstadt 1985 (Germanistische Einführungen), S. 347f. Sein Kontext ist der Prolog des >PartonopierLiber interpretationis hebraicorum nominum< des Hieronymus: Alexander auferens angustiam tenebrarum. Sed hoc uiolentum. ... Alexander leuans angustiam tenebrarum33. Und darum hat Alexander sich bemüht.

31

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Hrsg. von OSWALD HOLDER-EGGER: Italienische Prophetien des 13. Jahrhunderts. I. Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 15 (1890), S. 143-178. Vgl. GERD DICKE und KLAUS GRUBMÜLLER: Die. Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1 9 8 7 (Münstersche Mittelalter-Schriften 6 0 ) , Nr. 560: Tagendstreit der Tiere. BRINKMANN (s. Anm. 11), S. 162. S. Hieronymi presbyteri opera. Pars 1,1: Opera exegetica. Turnhout 1959 (CCSL 72), S. 143,3-4 und S. 157,17. Vgl. MATTHIAS THIEL: Grundlagen und Gestalt der Hebräischkenntnisse des frühen Mittelalters. Spoleto 1973 (Biblioteca degli Studi Medievali 4), S. 19 Anm. 66 und S. 233.

ELISABETH HAGES

(Tübingen)

snel hei ghel scrygh ich dinen

namen

Zu Wizlaws Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jahrhunderts

Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags 1 steht ein Lied, das die Jenaer Liederhandschrift fol. 79 r / v als Teil eines größeren Corpus von Minneliedern und Sangsprüchen eines Autors überliefert, dessen Identität aus drei Namensnennungen in den Texten selbst hervorgeht. Diese enthalten allerdings nicht mehr als den Vornamen, wislau oder wizlau, und den Zusatz der iunghe in einem der Lieder. 2 Die lange Zeit für selbstverständlich genommene Identifizierung dieses Wizlau mit dem um 1265 geborenen Fürsten Wizlaw III. von Rügen (1302-1325) stößt in der jüngeren Forschung auf Bedenken. Nach WALLNER3 hat vor allem SEIBICKE 1978 gute Gründe gegen die Autorschaft des Fürsten geltend gemacht. Von besonderem Gewicht ist die Tatsache, daß Wizlaw neben Minnesang auch Spruchdichtung verfaßt hat, wobei er auch das panegyrische Genre nicht ausspart, man dem Fürsten insbesondere aber ein Preisgedicht auf einen Grafen Erich von Holstein-Schauenburg (?) zutrauen müßte (Spruch IX nach THOMAS/SEAGRAVE).4 Ich möchte die nach SEIBICKES Einwendungen offene Frage der historischen Identität Wizlaws im folgenden nun einmal hintanstellen, um die literarische Gestalt dieses Autors und den historischen Stellenwert seiner Kunst vor allem von einem seiner Texte aus neu in den Blick zu nehmen, ein Versuch, der mir notwendig und lohnend erscheint angesichts einer Forschungslage, die speziell zu den Texten Wizlaws kaum etwas beizutragen hat. 5 1

2

Es handelt sich um eine vollständig überarbeitete und erweiterte Fassung meines Tagungsbeitrags. Sie schien mir erforderlich, da ich inzwischen neue Erkenntnisse zum Werk des Wilden Alexander gewinnen konnte, die das Bild Alexanders, aber auch das Wizlaws wesentlich verändern. FVau Dr. Sabine Schmolinsky (Hamburg) war so liebenswürdig, mich das Manuskript ihres Beitrags zum Wilden Alexander einsehen zu lassen (im vorliegenden Band), der sich der Gestalt des Wilden Alexander allerdings - glücklicherweise - unter einem völlig anderen Gesichtspunkt nähert, so daß die beiden Beiträge sich also, wie ich hoffe, ergänzen. Spruch XI, v. 15, Lied VII, Str. 3, v. 16 und Lied IX, Str. 3, v. 10, zitiert nach: The Songs Of The Minnesinger Prince Wizlaw Of Rügen. Hrsg. von WESLEY THOMAS und BARBARA GARVEY SEAGRAVE. C h a p e l Hill 1967.

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Siehe ANTON WALLNER: Drei Spielmannsnamen. PBB 33 (1907), S. 540-546. Siehe WILFRIED SEIBICKE: wizlau diz scrip oder wer ist der Autor von J, fol. 72"-80Kindheitslied< des Wilden Alexander, Lied V nach KLD. Auch dieses Lied kennzeichnet eine strukturbildende Gegensätzlichkeit oder Gegenläufigkeit der den Text und die Melodie bestimmenden Gliederungen. In Alexanders Lied erscheinen, nach Reim und Metrum zu urteilen, die ersten vier Verse abgesetzt gegeü die letzten drei Verse der Strophe. Es ergibt sich ein Schema 4a 4a | 4b 4b | | 3c 2c 4b. Die Melodie aber verbindet die ersten drei Zeilen zu einem (unstolligen) Aufgesang (Schema a : v. 1, ß: v. 2, 7: v. 3). Der folgende Abgesang wiederholt nach einem abweichenden Melodieteil oder »Steg« v. 4) in verkürzter Form die Melodie des Aufgesangs, wobei der zusätzliche erste Takt der fünften Melodiezeile (ß1) dem zweiten Takt der nicht wiederholten ersten Melodiezeile (a) entspricht. 55 Es ergibt sich eine Entsprechung ß1: v. 5 und v. 6, 7: v. 7. 5 6 Vergleichbare Phänomene konstruktiver Inkongruenz begegnen aber auch im Leich des Wilden Alexander (Nr. VII nach KLD), wo im zweiten und zwischen dem zweiten und dritten Versikel Text- und Melodiezäsuren planmäßig gegeneinander verschoben werden, 57 sowie - auf anderer Ebene - im vierten Leich des Tannhäusers, wo die metrisch-musikalische Gliederung der inhaltlichen Ordnung zuwiderläuft, indem der wesentlich formal bestimmte zweite Hauptteil des Leichs bereits mit v. 59 einsetzt, während der entscheidende inhaltliche Einschnitt erst mit v. 63 gegeben ist, die Verschiebung der Zäsuren also sogar die Großgliederung des Stückes betrifft. Insbesondere in den beiden zuletzt genannten Fällen könnte dabei die Inkongruenz oder das Gegeneinander von Text und Melodie, Inhalt und Form symbol- oder zitathaft das allgemeine Prinzip oder Merkmal gestalteter discordia spiegeln oder vergegenwärtigen, das die Gattung des Leichs als nicht-strophische lyrische Großform in wesentlicher Weise bestimmt. 58 Daß aber auch die konstruktive »Inszenierung« einander widerstreitender Textund Melodiesymmetrien, wie sie die Strophen des >Kindheitsliedes< und des hier besprochenen Wizlaw-Liedes bestimmt, als eine Art Gattungszitat, oder genauergesagt: als Zitat leichhafter discordia zu verstehen ist, 59 könnten wohl die weiteren 55

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Der wörtliche Anklang, der sich in der melodieunterlegten ersten Strophe an dieser Stelle ergibt, da wir (v. 5): do wir (v. 1), könnte bewußt gesucht sein. Eine eingehendere Erläuterung gibt WOLFGANG MOHR: Zur Form des mittelalterlichen deutschen Strophenliedes. Fragen und Aufgaben (1953). In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hrsg. von H A N S FROMM. 5. unveränd. Aufl. Darmstadt 1972, S. 227-254, hier S. 239-245. Vgl. den Melodieabdruck bei EWALD JAMMERS: Ausgewählte Melodien des Minnesangs. Tübingen 1963, S. 281f. Eine Übersicht über die formalen Eigenschaften der verschiedenen Gruppen oder Typen mittelalterlicher Leichdichtung gibt K A R L HEINRICH BERTAU: Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs. Göttingen 1964 (Palaestra 240), S. 152-161. Andere Formen von gattungsübergreifender Leich-Rezeption stellt APFELBÖCK ZU einem Corpus sogenannter »Tertiärformen« zusammen, s. HERMANN APFELBÖCK: Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte mittelalterlicher musikalischer >discordiaSelbstrühmung
Selbstrühmung< Frauenlobs gilt als ausgeprägtestes Zeugnis dichterischen Selbstbewußtseins im deutschen Mittelalter.1 Nach der traditionellen Auffassung, die durch ETTMÜLLERS Ausgabe2 begründet wurde, ist sie eingebunden in und ausgelöst durch den wip-frouwe-Stie\t zwischen Frauenlob, Regenbogen und Rumelant. Frauenlob setzt sich gegenüber den Kontrahenten für den höheren Rang des Begriffs frouwe ein. Nach WACHINGERS radikaler Kritik an diesem editorischen Konstrukt 3 gelten mittlerweile die beiden Gruppen wip-frouwe-Streit und Polemik um die >Selbstrühmung< als getrennte Komplexe. In der neuen Frauenlob-Ausgabe4 sind die einschlägigen Strophen in einer Mischung aus der systematischen Anordnung WACHINGERS und einer noch überlieferungsnäheren Folge dargeboten. Die Strophen der Gegner sind mit aufgenommen; sie sind mit »G« als Gegenstrophen gekennzeichnet. Meine These ist: Frauenlobs >Selbstrühmung< samt den Gegenstrophen ist die persiflierende Sängerkriegsdichtung eines anderen. Ich versuche das im folgenden zu beweisen. I. Die Ausgangsstrophe »Reim ist Gleichklang zweier oder mehrerer Wörter vom letzten starktonigen Vokal an.«5 Ist auch die Konsonantengruppe vor dem betonten Vokal beteiligt, spricht man von »Rührendem Reim«.6 Der Terminus »Identischer Reim« ist gebräuchlich, wenn bei Homonymie auch Bedeutungsgleichheit vorliegt.7 Dazwischen gibt 1

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BURGHART WACHINGER: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. München 1973 (MTU 42), S. 253f. verweist auf Zeugnisse provengalischer Herkunft, macht aber zugleich auf funktionale Unterschiede aufmerksam, die die Vergleichbarkeit einschränken. LUDWIG ETTMÜLLER (Hrsg.): Heinrichs von Meissen, des Frauenlobs Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder. Quedlinburg/Leipzig 1843 (Bibliothek der gesammten deutschen NationalLiteratur 16). WACHINGER (S. Anm. 1) handelt bei Neuedition und Kommentierung der Texte S. 188-246 den wip-frouwe-Streit ab, S. 247-269 FYauenlobs >Selbstrühmung< und die Polemik dagegen. KARL STACKMANN/KARL BEHTAU (Hrsg.): Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von HELMUTH THOMAS. 2 Bde. Göttingen 1982 (Abh. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Kl., 3.Folge, 119/120). Künftig zitiert als GA (Göttinger Ausgabe). - Es geht um die Strophen V, 115-117 und 119. HELMUT TERVOOREN: Minimalmetrik zur Arbeit mit mittelhochdeutschen Texten. Göppingen 1979 (GAG 285), S. 10. Beispiel für rührenden Reim: Didö : do; vogelin : kindelin-, wishiit : gothiit. Beispiel für identischen Reim: noch : noch-, rot: not: rot.

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es ein meist vernachlässigtes Terrain, das allein mit dem mittelalterlichen Begriff »Equivoca« (von lat. aequivocatio) 8 abgedeckt werden kann. Er stammt aus dem Grammatikunterricht 9 und bedeutet dort Homonymie bei Polysemie. Genau so findet sich der Begriff auch in lateinischen Poetiken verwendet. 10 Wenn Meistersinger ein Lied ein equivoca überschreiben, meinen sie denselben Sachverhalt. In der Nürnberger Tabulatur allerdings deckt das Equivoca-Verbot den rührenden Reim insgesamt ab. 11 Wie weit er wirklich im Mittelalter verboten war, bzw. welche Spielarten unter welchen Umständen erlaubt waren, darüber gibt es bis heute keine befriedigenden Untersuchungen. WILHELM GRIMMS Studie über den rührenden Reim ist in diesem Punkt überholungsbedürftig. 12 Eine weitgehend auf die epische Dichtung beschränkte Untersuchung durch KARL VON KRAUS13 gibt es aus unserem Jahrhundert. Schließlich hat sich TSCHIRCH14 über Equivoca-Reime und andere »colores rhetorici« geäußert. Sonst ist man, will man etwas über den rührenden Reim erfahren, auf vereinzelte Beobachtungen in Literatur und Ausgaben angewiesen. GRIMM hat seinem Beitrag eine enorm fleißige Materialsammlung beigegeben, die ich ausgewertet und ausgeweitet habe, um seine Schlußfolgerungen zu überprüfen und zu differenzieren. Er selbst ordnet seine Belege nach der Zahl der Reimklangwiederholungen, weil er zu beobachten glaubt, daß bei häufigerer Wiederholung auch sorgloser mit dem rührenden Reim umgegangen werde. Doch die Durchsicht seines Materials führt zu anderen Ergebnissen. Unabhängig von der Zahl der Wiederholungen eines Reimklangs nämlich gehören - abgesehen von wenigen Ausnahmen alle rührenden Reime folgenden Sonderfällen an: 8 9 10

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Beispiel für Equivoca-Reim: bluot (flos) : bhiot (sanguis). Vgl. etwa die >Equivoca< des Johannes de Garlandia. Dazu FRANZ J O S E F WORSTBROCK in 2 VL, Bd. 4, Sp. 613. Z.B. Johannes de Garlandia, Parisiana Poetria, S. 176, Z. 878f. The Parisiana Poetria of John of Garland. Hrsg. von TRAUGOTT LAWLER. With Introduction, Translation, and Notes. New Häven - London 1974, und Nicolaus von Dybin, I trattati medievali di ritmica latina. Hrsg. von GIOVANNI M A R I . Milano 1899 (Memorie del R. Istituto Lombardo di scienze e lettere 20), S. 419, 477f, 485. Die meistersingerischen Tabulaturen der verschiedenen Orte verhalten sich sowohl in ihrer Diktion als auch in den beschriebenen Sachverhalten nicht einheitlich. In Nürnberg sind die ebenfalls vorkommenden riereten reim nach den beigegebenen Beispielen etwas anderes, was ich aber nicht sicher deuten kann. Puschman kennt letzteren Begriff nicht, meint jedoch mit Equivoca eindeutig homonyme Reimworte mit und ohne Bedeutungsunterschied, von denen nach seiner ausdrücklichen Bezeugung nur letztere, also die identischen Reime, verboten sind. Die Augsburger Tabulatur kennt und verbietet nur rierete reimen, sie erklärt allerdings diesen Terminus, wie die meisten anderen, nicht. Keinesfalls kann man diese Gegensätze unreflektiert bis ins 13./14. Jahrhundert zurückverlegen, aber sie dokumentieren eine uneinheitliche Praxis, die sicher älter ist als die Niederschrift. WILHELM GRIMM: Zur Geschichte des Reims. In: W . G., Kleinere Schriften. Hrsg. von GUSTAV HINRICHS. Bd. 4. Gütersloh 1857, S. 125-341. GRIMM differenziert nicht zwischen dem lässigen und dem bewußten Gebrauch von rührenden und vor allem Equivoka-Reimen, und man täuscht sich so über die Häufigkeit des ersteren. CARL VON KRAUS: Der rührende Reim im Mittelhochdeutschen. ZfdA 56 (1919), S. 1-76. F R I T Z TSCHIRCH: Colores Rhetorici im >Ackermann aus Böhmen< (Aequivoca, Synonyma, Figurae etymologicae und Reimformeln). In: Literatur und Sprache im Europäischen Mittelalter. Fs. Karl Langosch. Hrsg. von A. ÖNNERFORS u.a. Darmstadt 1973, S. 3 6 4 - 3 9 7 .

Abgefeimte Kunst: Prauenlobs >Selbstrühmung
Selbstrühmung< enthalten denselben Fehler. Selbst wenn man den oder die Verfasser für Stümper zu halten bereit ist, scheint mir schon aus statistischen Gründen ein Zufall ausgeschlossen. Die Antwortstrophen beziehen sich nicht nur inhaltlich auf die angegriffene Strophe, sie ahmen den dort entdeckten Fehler nach. 17

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Zusammengestellt bei EVA KIEPE-WILLMS: Die Spruchdichtungen Muskatbluts. Vorstudien zu einer Ausgabe. München 1976 (MTU 58), S. 254 Anm.20. Sofern man das auf die Endreime beschränkt. Anreimverhältnisse behandle ich in: Variation Imitation - Derivation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger. Tübingen 1993 (FYühe Neuzeit 14), insbesondere S. 14f. Auch das ETTMÜLLER-Korpus ist bis auf zwei weitere Fälle frei von rührenden Endreimen. In einem Fall, S. 249, hat er identischen Reim durch fehlerhafte Konjektur erst hergestellt, im anderen handelt es sich um ein anonymes Lied, das er zugeschrieben hatte und das von HELMUTH THOMAS: Untersuchungen zur Überlieferung der Spruchdichtung Frauenlobs. Leipzig 1939 (Palaestra 217), S. 89 Anm.186, aus anderen Gründen wieder ausgeschieden worden ist.

Abgefeimte Kunst: Frauenlobs >Selbstrühmung
Selbstrühmung< ist also mindestens so alt wie die Antwortstrophen. Die Möglichkeit einer sekundären Änderung oder Verderbnis ist daher wohl auszuschließen. Ein formaler Akrobat wie Frauenlob kann einen solchen Elementarfehler normalerweise nicht begehen. Betrachtet man die >Selbstrühmung< - wie übrigens relativ selten geschehen - als Ausdruck von Größenwahn, so könnte man den Fehler vielleicht als Freudsche Fehlleistung grandiosen Ausmaßes verstehen. Aber das sind Spontanleistungen. Jedes Wiederanhören oder Wiederansehen hätte den Irrtum korrigieren lassen müssen. Daß die >Selbstrühmung< einen solchen Fehler enthalten könnte, ist so unwahrscheinlich wie die Vorstellung, Bach habe ausgerechnet in der >Kunst der Fuge< das Thema in Quintparallelen geführt. Damit bleibt allein die dritte der erwähnten Möglichkeiten: die Strophe stammt von einem andern. Natürlich könnte man ihm ein Versehen anlasten, wenn er ein besonders wenig qualifizierter Dichter war. Aber alle sonstigen Züge - so außergewöhnlich sie auch sein mögen - machen wahrlich nicht den Eindruck eines Dilettanten, der da am Werk war, sondern den eines Parodisten von Rang und fiktionaler Bosheit. Nur ein solcher - scheint mir - konnte die raffinierte Verquickung von Mimikri, schiefen Bildern und Kunstfehlern erfinden.19 Wie wird Frauenlob in der Strophe parodiert? »Frauenlob« gebraucht im Zusammenhang mit dem Bild vom Kunst-Koch das Wort veim. Nach STACKMANN 2 0 kommt das Wort sonst nicht mehr bei Frauenlob vor. Er gebraucht jedoch das Wort veimen in Zusammenhang mit dem überschwenglichen Lob auf Konrads Dichtkunst: luter golt... was al sin blut geveimt uflob (GA VIII,26,11). Das heißt nach WACHINGER: »Reines Gold war seine Blüte, geläutert/ abgeschäumt auf Lob hin«21 - also so, daß es Lob verdient. Einer Travestie des Bildes vom Tiegel, in dem Gold geläutert wird, also haben wir kezzels grund zu verdanken, aus dem freilich vom Kunstkoch nicht Gold-, sondern Suppen- oder Eintopfkunst ausgeschenkt wird. Es ist wohl kein 19

Ich kann aus Platzgründen die in Frage stehenden Strophen hier nicht erneut abdrucken, möchte jedoch wegen der schwierigen Verständlichkeit wenigstens durch eine Übersetzung meine Interpretation belegen, die den Vorarbeiten von WACHINGER und STACKMANN weitgehend verpflichtet ist. >Selbstrühmung< (GA V, 115): »Was Reinmar und der von Eschenbach je sangen, was der von der Vogelweide je sprach - mit vergoldetem Kleid vergolde ich, Frauenlob, ihren Gesang, wie ihr wissen sollt. Sie haben beim Singen vom Schaum geschöpft, den Grund haben sie zurückgelassen. Meine Kunst kommt vom Kesselgrund - so spreche ich. Ich mache bekannt in Wort und Weise und ohne den Anflug einer Schmähung: man sollte meinen Singeschrein [mich] herrlich krönen. Die bisherigen Sänger sind den schmalen Pfad gegangen, neben der Straße der reichen Kunst. Über alle, die je bis heute sangen, bin ich Meister. Wie faule Stümpfe sind sie gegen lebendiges Holz. Ich trage das Joch der Kunstfertigkeit [KARL STACKMANN, Wörterbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. Göttingen 1990 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Klasse. 3. Folge 186), S. 177: »ich bin ganz dem Gebot erhabener Gedanken unterworfen.«], ja ich bin geradezu ein Kunstkoch. Meine Worte, meine Weisen verließen nie das Mittelmaß der Vernunft.« »Mittelmaß« ist keine Übersetzung von saze, sondern der Versuch, ein mittelhochdeutsches Wortspiel durch ein neuhochdeutsches nachzuahmen. Vgl. dazu unten.

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STACKMANN, W ö r t e r b u c h (s. A n m . 1 9 ) , S. 4 0 7 .

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STACKMANN, Wörterbuch (s. Anm. 19): »gemeint: das Gold, mit dem hier die Blüte der Dichtkunst Konrads verglichen wird, war geläutert, so daß es Lobpreis verdiente«.

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Zufall, daß der Nachruf auf Konrad von Würzburg und die >Selbstrühmung< in Zusammenhang stehen. Das hohe Lob auf Konrad, der Frauenlobs Vorbild im Blümen war, ist selbst zugleich ein Paradebeispiel der vom Imitator angegriffenen geblümten Kunst. Es ist nicht das einzige Bild, das »Frauenlob« mißglückt ist. Das nächste: sie hän gevarn den smalen stig bi künsterichen sträzen ( V . 1 2 ) . WACHINGER hat darauf hingewiesen, daß hohe Kunst in den lateinischen Poetiken der Zeit nicht auf der breiten Straße (strata), sondern viel eher auf smalem stig (limes) zu finden ist. 22 Auch in einer Gegenstrophe taucht das Bild von der künste pfad auf, es ist auch volkssprachig vertraut. Das Bild ist also wohl verkehrt worden, um das Rollen-Ich noch weiter zu entlarven. Indem »Frauenlob« sich auf der Straße fortbewegt, meint er, künsterich zu sein, ohne überhaupt zu merken, wie sehr er die Kunst dabei verfehlt, deren Pfad andere verfolgt haben. Auch das vergölte kleid könnte anders gemeint sein, als es zunächst klingt. Frauenlob selbst gebraucht das Wort vergulden mit Sicherheit positiv. Doch der anonyme Verfasser der Gegenstrophe V,121G wird vom Überguide, der Vergoldung, getrogen und hält kunterfeit, Falschgold für echt. In diesem Sinne gemeint hat das die Strophe vielleicht, so wie sie in C steht, wenn dort von zoubergold - Scheingold - die Rede ist. 23 Nun wäre es verführerisch, nach der Umwertung der Strophe diese Konjektur zurückzunehmen und als weiteren schlagenden Beweis für unsere Interpretation der Stelle anzuführen. Mich hat jedoch WACHINGERS Argument überzeugt, daß die Antwortstrophe die Konjektur fordert. Außerdem ist vergulden (wie es der sonstigen Machart des Textes entspricht) zweideutig, zoubergold eindeutig. So hält C in seiner Lesart eine verdeutlichende Redaktion fest, der es im übrigen nicht anstößig ist, daß die bei Frauenlob geregelt auftaktlose 4. Stollenzeile dadurch auftaktig wird. Meine Neubewertung vermag der handschriftliche Befund gleichwohl zu stützen, indem er ein entsprechendes zeitgenössisches Verständnis belegt.24 Ohne mir bekanntes Vorbild ist die Formulierung der sinne trage ich ouch ein joch, von der ich mir zumindest vorstellen kann, daß sie doppelsinnig gemeint ist. Mit Sicherheit möchte ich einen solchen Doppelsinn für säze annehmen, der durch die Wörterbücher ausreichend bezeugt ist (nämlich Maß und Versteck). Es heißt 22

»Der Gegensatz smaler stic - straze bezieht sich nicht auf die Zahl derer, die den einen oder den anderen Weg einschlagen; denn auf den künstenrichen strazen glaubt FYauenlob selbst zu gehen. Mit diesem Bildgebrauch steht er im Gegensatz zu den lateinischen Poetiken, die das Bild von den zwei Wegen der Dichtkunst fast immer so gebrauchen, das semita oder limes für kunstvollere, via oder strata für die einfachere und daher öfter benutzte Möglichkeit steht.« WACHINGER (S. Anm. 1), S. 250f. zur Stelle, mit Nachweisungen in Anm. 19.

23

Handschriftlich zovergoltem von WACHINGER (S. Anm. 1) so verstanden; s. aber Anm. 24. In diesem Fall bin ich nicht sicher, ob die Graphie der Handschrift das Erschlossene deckt. Möglicherweise hat die Schreibung mit zovergoltem in C einen anderen Sinn, als WACHINGER und STACKMANN annehmen. Wenn nämlich zo einfach Graphie für »so« ist (Hinweis von Gisela Kornrumpf), ist nichts weiter geschehen, als daß der Auftakt mechanisch durch ein Füllwort hergestellt wurde. Bei Frauenlob ist diese Zeile geregelt auftaktlos. Auch im 2. Stollen ist an der entsprechenden Stelle Auftakt hergestellt. Die Veränderung wäre in einer vor C liegenden Stufe anzusetzen, da der Schreiber von C derlei Tendenzen nicht kennt. Ein Beweis für autorfremde Verfasserschaft ist es dagegen sicher nicht. Zwei der Gegenstrophen sind korrekt gebaut; auch Nachahmer waren über den Gebrauch informiert.

24

Abgefeimte Kunst: Frauenlobs >Selbstrühmung
Wartburgkrieges< schon zum Kanon der Lyriker. Schon Hermann Damen zählt in einer Revue verstorbener Sänger mit Selbstverständlichkeit auch Wolfram und Klingsor auf. Doch macht einer der Antwortenden »Frauenlob« darauf aufmerksam, daß man nicht einfach von Reinmar sprechen könne, wo es doch zwei Reinmare (den Alten und den von Zweter) gebe. So ist die >Selbstrühmung< nicht nur überheblich, sondern auch entlarvend konzipiert. Das Rollen-Ich vergreift sich in Reimtechnik, Bildlichkeit und Fachwissen. Wenn ich Frauenlob die >Selbstrühmung< abspreche, so zunächst aus Feststellung eines Fehlers. Aber die Interpretation rettet sogar die Strophe. Die Fehler und schiefen Bilder sind zwar solche. Aber vom Kopf auf die Füße gestellt, wird der Text als Persiflage nämlich - ein sinnvolles Stück Literatur von parodistischem Rang.

II. Konsequenzen für die Beurteilung der Antwortstropen Die Antwortstrophen sind kenntlich durch teilweise unterschiedliche, jedoch stets deutliche intertextuelle Bezüge; alle drei zitieren nicht nur die >SelbstrühmungSelbstrühmung< zitieren, und das sind die Strophen 116G, 117G und 119G. Über 118G, die W A C H I N G E R zum Streit rechnet, sagt er gleichwohl, ihr fehle »jede individuelle Spitze«. Nur »die Zurückweisung des Sängerhochmuts und der zweimalige Hinweis auf die alten Meister« geben ihm die Uberzeugung, es könne diese Strophe unmöglich ohne Bezug zur »allgemein berühmten« >Selbstrühmung< gedichtet sein.25 Zumindest ist die Strophe keine unmittelbare Antwort auf die >SelbstrühmungSelbstriihmung< und zwei Antwortstrophen - im Zusammenhang in der >Manessischen Handschrift< C überliefert sind, während 119, deren Zusammenhang unübersehbar ist, in der >Jenaer Liederhandschrift< J - steht. Auch eine relative Chronologie ist für die Reihenfolge der Antworten aus dem Text selbst nicht zu gewinnen, denn es fehlen Bezüge untereinander. Ich bespreche sie daher in der Reihenfolge der Ausgabe. In C ist Antwort 1 (GA V,116G) Regenbogen zugewiesen.26 Dem Redaktor ist also klar, daß trotz Strophenform und Inserierung ins Frauenlob-Korpus Frauenlob 25

W A C H I N G E R (S. A n m . 1 ) , S. 2 6 9 .

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Übersetzung von Antwort 1 (GA V,116G): »Maulheld, Deppsepp [giemolf als Worterweiterung aus gief verstanden; WACHINGER: »Gähnwolf« ist ebenso möglich], Narr, Idiot, schweige von vergangener Kunst. Mein Mund widerspricht dir, meine Sympathie versage ich dir. Du behauptest, mit vergoldetem Gewand den Gesang der Meister zu vergolden, die doch auf dem Feld der Kunst die Rosen der kunstreichsten Inventionen gepflückt haben und das noch tun. Für sie alle werde ich in die Schranken steigen: deine Kunst wird stolpern, deinen Einfallskessel werde ich dir schon gravieren. Deine Kunst scheint mir mehr Brennessel als veilchenblaue Meisterschaft. Steige du vom Kunstthron, auf dem sie zu Recht saßen. Ich trete als ihr aller Verteidiger an. Ob du's glaubst oder nicht: ich spiele für sie alle Herold. Dich wird mein Lied haarscharf treffen, denn dein Prahlen verdrießt mich. Meine Kunst wird dir durch den Kessel sausen. Lassen auch

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zumindest nicht als sprechende bzw. singende Rolle gemeint sein kann. Auch ohne Überschrift oder Anrede wäre klar, worauf sich die Strophe bezieht. Die fast wörtlichen Zitate V,4/5 und zweimaliges Aufnehmen des Bildes vom kezzel sind eindeutig. Mit den Zitaten der angegriffenen Strophe hat es sein Bewenden nicht. Aufschlußreich ist vor allem die Berufung auf violriche Meisterschaft, mit der mit den eigenen Worten des Dichters Konrad über Frauenlob gestellt wird. Auch die Aufnahme des Wortes durchgraben, von Frauenlob in recht dunklem Zusammenhang eingesetzt, könnte bewußt polemisch aufgenommen worden sein. Parodie dunkler, kaum verständlicher Worte sind die einleitenden Anreden, die versuchsweise übersetzt sind. ETTMÜLLER und WACHINGER haben weitere Vorschläge gemacht. Auffällig ist, daß diese Strophe Auftakte in Z. 4 und 10, sowie in den Zäsuren von 5 und 11 setzt, die normalerweise geregelt auftaktlos sind. Auch Antwort 2 (117G) gehört nach der Handschrift Regenbogen.27 Sie arbeitet mit vergleichbaren Mitteln, bezieht sich sowohl auf die >Selbstrühmung< wie auf weitere Strophen. Gleich die 1. Zeile parodiert Frauenlobisches Dunkelreden durch Aufnehmen von kritisierten Wendungen, die in fast sinnlosem Gestammel untergehen. Prompt folgt der Ruf nach dem Dolmetscher. Dann kommt es zum Frontalangriff, bei dem lichte kunst wohl Wortspiel mit Hechte kunst ist. 28 Die von »Frauenlob« berufenen Meister werden nun gegen ihn ausgespielt. Daß es zwei Reinmare gibt, reibt »Regenbogen« ihm dabei noch unter die Nase. Der entscheidende Vorwurf jedoch ist der des rüemens in der Schlußzeile. Zusätzlich ahmt »Regenbogen« höhnisch den Reimfehler der Abgesangstirade nach: hat steht zweimal im Reim. Auffallig erscheint noch die merkwürdige, unvollständige Fluch- oder Beteuerungsformel (ja, sam mir min houbet)-, ich werde darauf zurückkommen. Ohne Autorbeischrift muß die 3. Antwort (GA V,119G) auskommen, die in J steht. 29 Sie spricht Heinrich mit Namen an, und rekurriert sogleich, den Namen

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Tote und andere Lebende dich unbehelligt, so versuche erst einmal, von meiner Fessel frei zu werden [oder: mein Rätsel zu lösen].« Die beiden alternativen Übersetzungsmöglichkeiten für die letzte Zeile nach WACHINGER (S. Anm. 1), S. 263. Die eingeklammerte Übersetzung bezöge sich auf eine folgende (verlorene) Rätselstrophe. Übersetzung von Antwort 2 (GA V,117G): »Waagsims und Bimsstein-Kunst - nimm's doch und gimmer's. Dolmetscher her - kannst du uns das übersetzen? [zu Frauenlob:] Versuche nicht, uns Sauermilch auszuschenken! Deine Sprüche sind mir wie Wind, der durch die Wolken fährt. Deine Leichtgewichtkunst läßt erst ermessen, was vorher Meister sangen. Herr Walther, zwei Reinmare, Wolfram: der Baum der Kunst belaubt sich noch aus ihrem Saft. Ja, daß mich doch ... Ihre Wurzelkraft hat Lob erworben. Wer ihnen die abspricht, der rufe hier; ich werde ihm antworten. An Ort und Stelle wird seine Aussage widerlegt, damit er sein Prahlen völlig läßt, der gar so viel herumgewölkt hat. Sein Gesang steht da, unförmig wie Kleider ohne Taille; die Fäden grinsen durch die Naht. Laß, Einfältiger, dein Rühmen, und geh spielen mit den Kindern!« Es dürfte sich dabei um eine Anspielung auf Frauenlobs mitteldeutsche Sprache handeln: THOMAS (s. Anm.18), S. 179, belegt die Monophthongierung von liechtl Übersetzung von Antwort 3 (GA V,119G): »He, Heinrich! Frauenlob war vor dir da. Es >schäumte< schön auf in deinem Gesang, Walther. Der goldene Schmuck zum Lob der Flauen aber war Reinmar zu seiner Zeit. Paß auf, es wird die Stange des Gesangs gegen dich zu Feld getragen, bevor dein Rühmen die Meister herabsetzt. Deines Mundes Glockenschwengel läutet Sturm zu ihrem Schaden. Gott sei ihnen gnädig, sie selbst können sich ja nicht mehr wehren. Ihr Gesang ist überall eingesehener, als es deiner je sein wird. Das Geschrei macht dir nur Schande.

Abgefeimte Kunst: Frauenlobs >Selbstrühmung
Selbstrühmung< finden sich Reflexe in dieser 3. Antwort: V.17 reagiert auf die Forderung nach Krönung, und in V.13 wird wie in V.10 der

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Dein Unsinn schenkt dir mit seinen Albernheiten nichts als Narrenwein ein. Die Alten haben die FYauen besser mit Gesang gelobt, und das ist ganz objektiv gesprochen. Matt war dein Lob im Vergleich zu ihrem. Ihres war krönungswürdiger Eds deines, merk es dir. Mit ihrem Gesang haben sie im Ehrenhof dem Frauenlob überhaupt erst den Sitz bereitet!« GA VI,12 Ez jehen die sehenes blinden, die höchsten meister sin gewesen, an kunst, an lesen, nieman müge in ir sinnes wirze jesen: die sint betrogen. Prüft regen mit den winden: die han hiute also groze kraß von gottes haß als über zwei tusent jare.

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>Selbstrühmung< Objektivität beschworen. Außerdem leidet auch diese Strophe unter dem gleichen technischen Fehler wie Antwort 2: im Abgesang wird das Reimwort baz zweimal eingesetzt.

III. Die Frage nach der Autorschaft Die >Selbstrühmung< ist ein Frauenlob in den Mund gelegter Text. Wer hat ihn und die Antworten gedichtet und was hat die Strophen ausgelöst? Beginnen wir mit der ersten Frage: Wer - und wir müssen die Frage gleich differenzieren: war es denn einer oder waren es mehrere? Nach den Handschriften ist vorausgesetzt, daß die >Selbstrühmung< ein Text Frauenlobs sei, die Antwortstrophe in J von einem nicht genannten Gegner - ETTMÜLLER wies sie Rumelant zu - , die beiden in C sind Regenbogen zugeordnet. Wenn die >Selbstrühmung< eine Parodie ist, dann kann die Antwort nur dann im Ernst von einem Gegner verfaßt sein, wenn er sie für echt hielt. Das ist schwer vorstellbar: So wenig wir über Rezeptionsbedingungen im zeitgenössischen Umgang mit der Sangspruchdichtung wissen, so ist doch nicht eben wahrscheinlich, daß man ein solches Gedicht so glaubwürdig als eines von Frauenlob in Umlauf setzen konnte, daß Kollegen wie Regenbogen oder Rumelant, die sich nach unseren spärlichen Kenntnissen oft nicht weit von Frauenlob an niederdeutschen Fürstenhöfen aufhielten 31 , auf

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»Es sagen die Blindsichtigen, die größten Meister gehörten der Vergangenheit an. Was Kunst und Wissen angehe, könne niemand [mehr] in der Würze ihres Geistes sprudeln. Die täuschen sich. Betrachtet Regen und die Stürme: die haben durch Gottes Gesetz heute ebenso grofie Kraft wie schon zweitausend Jahre lang.« (Übers.: EVA und HANSJÜRGEN K I E P E [Hrsg.]: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge. München 1972 [Epochen der deutschen Lyrik, hrsg. von WALTHER KILLY, Bd. II = dtv Wissenschaftliche Reihe 4016]. Die Strophe spielt offensichtlich zwei natürliche Vorgänge gegeneinander aus. Wenn die Beziehung zum Bierbrauen bei jesen richtig ist, muß damit auf die Einmaligkeit des Vorgangs angespielt sein. Ist die Gärung einmal vollzogen, kann sie nicht wiederholt werden. Dagegen wird die ewig gleichbleibende Kraft der Naturgewalten ausgespielt und ausdrücklich auf die Garantie dieses Zustandes durch die göttliche Allmacht verwiesen. Nicht in der Bildlichkeit, jedoch im Argumentationsgang gleicht die Haltung Frauenlobs der wesentlich jüngeren Stellungnahme Folz' im Tönestreit, die sich gerafft so darstellt: Wie könnte der Heilige Geist zulassen, daß die dichterische Schöpferkraft nicht stets gleichbleibt? Vgl. dazu FRIEDER SCHANZE: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983/84 (MTU 82/83), Bd. 1, S. 336f. die Strophe VI,12 könnte uns vielleicht als »Ersatz« für die >Selbstrühmung< dienen. Sie dokumentiert ein wesentlich anderes Selbstbewußtsein, das sich von Stellungnahmen an anderer Stelle weniger kraß unterscheidet. Auf den Gegensatz der >Selbstrühmung< zum Lob Konrads von Würzburg weist hin K A R L STACKMANN: Frauenlob und Wolfram von Eschenbach. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Fs. Werner Schröder. Hrsg. von K U R T GÄRTNER und JOACHIM HEINZLE. Tübingen 1989, S. 75-84, hier S. 79: »Zum einen hat mich nachdenklich gestimmt, daß derselbe Frauenlob, der in der >Selbstrühmung< in scheinbar grotesker Selbstüberschätzung sagt: Swer ie gesang und singet noch ..., so bin ichz doch ir meister noch, eine Totenklage auf Konrad von Würzburg verfaßt hat, die nach der andern Seite mit Superlativen nicht spart, ja geradezu als Dementi der >Selbstrühmung< gelesen werden kann.« Ausdrücklich sei aber noch einmal darauf verwiesen, daß nicht etwa die »Anstößigkeit« der >Selbstrühmung< der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist. Vgl. dazu noch unten.

Abgefeimte Kunst: Frauenlobs >Selbsträhmung
Selbstrühmung< aus einer Hand stammt und einen Sängerkrieg fingiert, der noch zu Lebzeiten Frauenlobs diesen parodierte. Diese Uberzeugung läßt sich vielleicht sogar so weit aus den Texten begründen, daß sie Wahrscheinlichkeit gewinnt. In ihnen nämlich offenbaren sich intertextuelle Strukturen, die durch Annahme einheitlicher Entstehung am überzeugendsten gedeutet sind. Wie wir sahen, sind alle dadurch geprägt, daß sie einerseits auf die >SelbstrühmungSelbstrühmungSelbstrühmung< und Antwort 2 der fehlerhafte Abgesangsreim. Wenn man hier nicht mit einem Autor rechnet, so müßte zumindest eine perfekte Abstimmung der Autoren vorliegen. Es gibt allerdings - wie man nicht übersehen darf - zwei Argumente gegen die Vermutung, der Autor von Antwort 1 sei mit dem der beiden anderen Antworten identisch. Sie sollen nicht übergangen werden, da sie nicht auszuräumen oder umzudeuten sind. Da ich gleichwohl die Pro-Argumente für stärker halte, werde ich danach in meinem Argumentationsgang fortfahren. Eines der beiden Gegenargumente ist das abweichende Strophenschema der 1. Antwort, bei der, anders als bei der >SelbstrühmungSelbstrühmung< verantwortlich sein? Vermutlich ist der ganze Kampf bereits zu Lebzeiten Frauenlobs entstanden. Auf einem Toten vermittels dieser Art Kunst herumzutrampeln, scheint nicht nur für uns sinnlos, sie widerspräche auch dem geringen Vergleichsmaterial, das ich beibringen kann. Alle älteren Polemiken, die W A C H I N 32

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Freilich wird man auch bedenken müssen, daß im Mittelalter eine hohe Bereitschaft bestand, auf »Fälschungen« - aus welchen Gründen auch immer - so zu reagieren, als seien sie echt. Zum Thema vergleiche man jetzt den MGH-Kongrefibericht: Fälschung im Mittelalter. Hrsg. von H O R S T FUHRMANN. 5 Bde. Hannover 1988ff. (Monumenta Germaniae Histórica. Schriften 33,1-V). Man kann leider auch nicht etwa eine Hyperkorrektur des Schreibers ansetzen. Jedenfalls habe ich keine offensichtliche Möglichkeit gefunden, wie durch Korrektur eines Reimworts identischer Reim herzustellen sei. Erschwert wird die Beurteilung noch durch den mechanischen Defekt, den J zu Beginn des Langen Tons aufweist. Es bleibt Spekulation, zu vermuten, hier habe die >Selbstrflhmung< Platz gefunden.

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GER behandelt, gelten offenbar Lebenden, sieht man vom >Wartburgkrieg« ab, der aber auf einer anderen Linie liegt. Sind Dichterkollegen verstorben, dann erhalten sie einen ehrenden Nachruf, wie Walther ihn Reinmar nicht versagt, wenngleich dabei die alte Fehde nicht unerwähnt bleibt. Ganz abrupt ist der Wechsel in der Haltung Rumelants gegen den Marner zu spüren. Er polemisiert mehrmals gegen den Älteren, verliert dann aber im Nachruf auf den Ermordeten kein Wort über die Fehde, sondern rühmt allein seine hohe Kunst. Als Basis für Extrapolationen ist das sicher nicht sehr tragfähig, aber wir haben nicht mehr, und andererseits wüßte ich keine Belegstelle und keinen anderswoher ableitbaren Grund, die für eine andere Interpretation sprechen. 35 So ist wohl auch anzunehmen, daß die >Selbstrühmung< und die Gegenstrophen zu einheitlicher Aufführung, vielleicht auch nur zu gemeinsamer schriftlicher Verbreitung konzipiert sind. Dabei ist nur die >Selbstrühmung< als Einleitung denkbar. ETTMÜLLER hatte den ganzen Strophenkomplex ja als Teil des wip-frouwe-Streits begriffen. Antwort 2 galt ihm als Überleitung und Provokation der >SelbstrühmungSelbstruhmung< in F fehlt, könnte man freilich auch als Argument gegen die Echtheit einsetzen: Als Handschrift der Frauenlobschule habe sie den als Unterschiebung bekannten >SelbstrühmungsSelbstrühmung
Selbstrühmung< je vermöchte. Die Strophen Damens haben nicht bei Frauenlob den, wie auch immer zu wertenden, Anfall verbaler Hybris ausgelöst, sondern vielmehr dem Verfasser die entscheidende Anregung zu seinem literarischen Spiel gegeben. Dieser Verfasser war dann wohl Hermann Damen nicht. Zwischen 1287, dem Todesjahr Konrads von Würzburg, und 1318, dem Todesjahr Frauenlobs, muß nach unseren Überlegungen der >SelbstrühmungsSelbstrühmungSelbstrühmung< und Gegenstrophen schließlich auch mit Strophen des wip-frouwe-Streits, auch wenn - wie betont - kein notwendiger Bezug festzumachen ist. Dazu muß ich jedoch noch weiter ausholen.

IV. Die >Selbstrühmung< im Rahmen der Spruchdichterpolemik WACHINGER hat ETTMÜLLERS Konstrukt aus wip-frouwe- Streit und >Selbstriihmung< getrennt und zurückgestutzt. Trotz der Trennung kann die Umwertung des einen Komplexes nicht ohne Auswirkung auf den anderen bleiben. Der wip-frouweStreit ist in den Handschriften noch zerrissener überliefert als der Streit um die >SelbstrühmungSelbstrühmungsSelbstrühmung
Wartburgkriege Die exklusive Stellung, die der wip-frouwe-Streit dadurch bei angenommener Echtheit gewönne, muß zu einer neuen Überprüfung auch seiner Stellung führen. Möglicherweise ist auch er ein Stück Musiktheater, kein realer Sängerkrieg. Ob deswegen alle bei WACHINGER einbezogenen Strophen Prauenlob abgesprochen werden müssen, ist eine weitere, unabhängig zu prüfende Frage. Die >Selbstrühmung< hat das Bild Frauenlobs in Ergänzung seiner oft bis zur Unverständlichkeit geblümten Sprache, sowie seiner elaborierten metrischen und musikalischen Formen entscheidend geprägt. Wilde Empörung war jedoch nur ausnahmsweise die Reaktion. Die meisten Interpreten haben Diskrepanzen der >Selbstrühmung< zum übrigen Werk durchaus registriert und entweder mit einem gewissen Kopfschütteln zur Kenntnis genommen oder sie als literarischen Streit zu entschärfen versucht. Die zweite Erklärung ist zuletzt von KIEPE-WILLMS und STACKMANN - noch ohne Zweifel an der Verfasserschaft - gut fundiert worden. An der Echtheit gezweifelt haben bisher nur - wenn ich recht sehe - JANTZEN und BERTAU. JANTZEN sprach bereits die Vermutung aus, ein weiterer Autor habe das ganze aufgezeichnet und nennt als entscheidenden Punkt: einem von »seiner Unübertrefflichkeit so ganz eingenommenen Manne möchte ich nicht eine so gröbliche Verhöhnung und so schmähliche Erniedrigung seiner selbst zutrauen«. 52 Vielleicht hätte er seine Meinung, die wir jetzt verstehen, begründen sollen. BERTAU beschäftigte sich nicht mit der >SelbstrühmungSelbstrühmungSelbstrühmung< nicht diskutiert, aber offenbar vorausgesetzt wird. BERTAU (S. Anm. 45), S. 231. Ich bin zwar mit BERTAU bezüglich des zu konstatierenden Sachverhalts einig, dagegen aber nicht bereit, seine Wertung zu übernehmen. Dichterpolemik als Ausdruck von Kleingeisterei zu werten, auch wenn sie in der hier geübten subversiven Art stattfindet, geht wohl für das Mittelalter nicht an. Die Polemik ermöglicht gleichwohl eine partielle Verständigung über ästhetische Wertung zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Interpreten. Ich nenne folgendes Beispiel: der wage simz für >Waagschale< ist uns eine offenbar ebenso wie dem mittelalterlichen Kritiker nicht nur fremde, sondern auch schwer in ihrer Funktion einsichtig zu machende Bildverrätselung. Die bereits dargestellte Polemik enthüllt, was auch für uns die naheliegendste Erklärung ist: es geht offenbar einzig um den Einsatz eines gesuchten Reims, der nicht einmal von Frauenlob selbst stammt. Bei der Entscheidung über die Wertung ais (mißglückte) einfache Übernahme oder manieristisch transformiertes huldigendes Zitat läßt uns der mittelalterliche Kritiker bereits wieder allein. - Ein generelles Verdikt über

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Die Polemik um die >Selbstrühmung< steht in der Tradition der Spruchdichterpolemik des 13. Jahrhunderts. Sie ist, wie vorher schon der >Wartburgkriege fiktiv. Nichts deutet jedoch darauf hin, daß wir nun auch ältere Fehden umwerten müssen. Wie sich diese Fehden immanent im Textsystem der Sangspruchdichtung entwickeln konnten, kann ich hier nicht untersuchen. Uber den >Wartburgkrieg< schrieb WACHINGER: »Sieger im Wettstreit ist also Walther von der Vogelweide, der größte gerade Spruchdichter des Mittelalters, und durch ihn Hermann von Thüringen, der größte Gönner der mhd. Literatur. Beide sind [...] zur Zeit der Entstehung des Ur>Fürstenlobs< seit mehr als einem Menschenalter tot.« 54 Hier freilich geht es um lebende Spruchdichter, und es fällt nicht der Name eines einzigen Gönners. Mehr noch als das Publikum des >Wartburgkriegs< ist man also inzwischen bereit, sich auf Interna der Sangspruchdichtung einzulassen. Ich kann mir das nur so erklären, daß Kunst an bestimmten norddeutschen Fürstenhöfen mittlerweile einen so hohen Rang hat, daß es den Dichtern möglich ist, ihr Publikum fast beliebig weit in ihre Sphäre zu entführen. Anders gesagt, der Name des Mäzens wird allein schon durch die Anwesenheit des Künstlers so getiuret, daß man bereit ist, die schwer verständliche geblümte Rhetorik, die mit verborgenen Reimen geschmückten Töne, und schließlich sogar die realen oder fiktiven Sängerauseinandersetzungen mitzuvollziehen. Wie dicht das Geflecht der kunstsinnigen Höfe in Norddeutschland am Ende des 13. Jahrhunderts und um 1300 war, kann eine Aufzählung der ehrenden Erwähnungen der Dichter Meißner, Hermann Damen, Rumelant, Frauenlob und Regenbogen belegen, was natürlich nicht gleichbedeutend mit einem Aufenthalt am jeweiligen Hof ist: Meißner: Otto IV. und Otto V. sowie Albrecht III. von Brandenburg. Hermann Damen: Adolf von Segeberg; Heinrich I. von Holstein; Johann II. von Gristow (bei Greifswald); [Waldemar IV.?] von Schleswig; [Otto III.] von Ravensberg (in Westfalen). Rumelant: Albrecht I. von Braunschweig; Günzelin III. von Schwerin; Zabel von Riddagesdorf; Zabel von Plawe (beide in Mecklenburg); Barnim I. von Stettin und Pommern; Erich VIII. Menved von Dänemark. Frauenlob: Waldemar von Brandenburg; ebenfalls Erich VIII. von Dänemark; Giselbert, Erzbischof von Bremen; ebenfalls Otto III. von Ravensberg; Gerhard von Hoya; Wizlav III. von Rügen; Heinrich I. oder II. von Mecklenburg; Otto II. von Oldenburg. Regenbogen: Waldemar von Brandenburg; Otto von Brandenburg; Waldemar IV. von Schleswig. Beim Rostocker Ritterfest von 1311 waren sowohl Frauenlob wie Regenbogen anwesend. Ich erwähne noch den Goldener, der als einzigen Gönner ebenfalls Wizlav III. von Rügen preist und den Dichter Wizlav - wohl nicht mit dem Fürsten identisch - der gleichfalls Heinrich I. oder Erich von Holstein lobt. 55

Frauenlob, dessen hoher dichterischer Rang ja durch Zeitgenossen und Spätere über die Maßen dicht bezeugt ist, kann durch diese Feststellung freilich keinesfalls impliziert werden. 54

WACHINGER (s. A N M . 1 ) , S . 6 4 .

55

Alle Gönnernennungen außer die Regenbogens entnehme ich den Gönnerzeugnissen bei JOACHIM BUMKE: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300. München 1979, und zwar den Nrn. 144,145,147,149,150,162,164-171, 174, 176-178, 180, 181. Die Belege für Regenbogen bei SCHANZE in 2 VL, Bd.7, Sp. 1077-1088. Noch ohne Kenntnis der Regenbogen-Belege schreibt BUMKE, S. 282: »Am Ende des 13. Jahrhunderts oder am Anfang des 14. sind augenscheinlich im äußersten Norden, in Mecklenburg,

Abgefeimte Kunst: Frauerüobs >Selbstrühmung
Amores< und vor allem die provengalische Alba bei der Genese des Tageliedes Pate gestanden haben, 2 während die einst so strittige Frage nach dem Protos Heuretes der Gattung mehr oder weniger stillschweigend ausgeklammert wird. 3 Nichts aber wäre fataler, als daraus den Schluß ziehen zu wollen, alle Probleme seien gelöst oder ließen sich nach der Devise: »Augen zu und mittendurch« dadurch aus der Welt schaffen, daß man sie nur hartnäckig genug ignoriert. Denn bei ganz unvoreingenommener Durchsicht der Tageliedsammlungen von SABINE FREUND und RENATE HAUSNER4 verfestigt sich zunächst einmal der Leseeindruck, daß W o l f r a m auch hier wie in der Epik vorbildgebend gewirkt hat, wie dies denn auch HELMUT DE BOOR bestätigt: »Seine eigene lyrische Möglichkeit hat der Epiker Wolfram im Tagelied gefunden«, vier Zeilen später nennt er ihn sogar »de(n) eigentliche(n) Schöpfer des deutschen Tageliedes« 5 . Zu ganz anderen Ergebnissen kommt indes KARL BERTAU in sei1

Vgl. dazu etwa P E T E R WAPNEWSKI: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition, Kommentar, Interpretation. München 1972, S. 245-258, und die Entgegnung ALOIS WOLFS: Variation und Integration. Beobachtungen zu mittelhochdeutschen Tageliedern. Darmstadt 1976 (Impulse der Forschung 29), S. 117-152. 2 So ULRICH MÜLLER: Ovids >Amores< - alba - tageliet. Typ und Gegentyp des >Tageliedes< in der Liebesdichtung der Antike und des Mittelalters (1971). In: HANS FROMM (Hrsg.): Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Bd. II. Darmstadt 1985 (WdF 608), S. 362-400; 2 ULRICH MÜLLER: Tagelied (mhd.). In: RL 4 (1984), S. 344-350. 3 MÜLLER (s. Anm. 2), S. 3 4 7 . - Vgl. auch die vorsichtige Formulierung bei SILVIA RANAWAKE: Otto von Botenlauben. In: 2VL 7 ( 1 9 8 9 ) , Sp. 211: »Inhaltlich und formal stehen zeitgenössische Tagelieder des Markgrafen von Hohenburg und Wolframs von Eschenbach nahe«. 4 Deutsche Tagelieder. Von den Anfangen der Überlieferung bis zum 15. Jahrhundert. Nach dem Plan H U G O S T O P P s f hrsg. von SABINE FREUND. Heidelberg 1 9 8 3 (Quellen zur deutschen Sprach- und Literaturgeschichte 2); Owe do tagte ez. Tagelieder und motiwerwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bd. 1. Hrsg. von RENATE HAUSNER. Göppingen 1 9 8 3 (GAG 204). 5 HELMUT DE B O O R : Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1 1 7 0 - 1 2 5 0 . 1 0 . Auflage, bearbeitet von URSULA HENNING. München 1 9 7 9 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von HELMUT DE BooRf und RICHARD NEWALDI, Bd. 2 ) , S. 3 1 1 . - Vgl. auch JOACHIM BUMKE: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1 9 9 0 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Bd. 2. [dtv 4552]), S. 163: »Wolfram scheint der erste gewesen zu sein, der in Deutschland Wächter-Tagelieder nach dem Vorbild der provenzalischen Alba gedichtet hat.«

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ner Literaturgeschichte: »Wolframs Lieder sind in seiner Zeit kaum angekommen; Beifall suchten sie ohnehin nicht«.6 Diese Ansicht wird von ULRICH KNOOP weitgehend bestätigt, vermag er doch »bei gleichzeitig h o h e r Binnenkongruenz« nur eine »geringe Kongruenz zu den übrigen Tageliedern« festzustellen7, was im Klartext bedeutet, daß Wolframs Lieder zwar untereinander zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen, im Rahmen der Gattung jedoch singulär bleiben. Allerdings sind alphabetisch geordnete Wortlisten, Häufigkeitsstatistiken und daraus berechnete prozentuale Abweichungen wohl auch nicht das richtige Mittel, die Besonderheit dichterischer Texte zu erfassen, zumal dann, wenn weder kontrastive sprachliche Äußerungen zum Vergleich herangezogen noch die Existenz literarischer Abhängigkeiten, Gattungsspezifika und vorgeformter rhetorischer Stilisierungsmuster einkalkuliert werden. Trotzdem: die Divergenz der Urteile macht eine neuerliche Durchsicht der Texte unumgänglich, und weil es zu den Eigenheiten der Gattung »Tagelied« gehört, daß sie sich mit dem Verhalten der Liebenden unmittelbar vor ihrer Trennung am Morgen befaßt, geschieht dies mit Blick auf die jeweils gewählte Gesprächskonstellation.8 Da sowohl Wolfram von Eschenbach als auch Otto von Botenlauben als normsetzend für die weitere Entwicklung der Gattung angesehen werden, sind ihre Lieder zunächst und unabhängig voneinander zu betrachten, bevor dann im nächsten Schritt geprüft werden kann, ob sich die bei ihnen nachgewiesenen Kommunikationssituationen auch bei anderen Autoren wiederfinden. Das bedeutet, daß die seit dem 13. Jahrhundert übliche personelle Standardausstattung des Tageliedes (Dame, Ritter, Wächter) und die damit verbundene Interessenlage (der Wächter als Ansprechpartner des Liebespaares) mathematisch-logisch bereits sechzehn verschiedene Grundtypen von Gesprächskonstellationen möglich machen, die auch miteinander beliebig kombinierbar sind: 1. Wächter spricht zu Dame und/oder Ritter; Dame zu Ritter und/oder Wächter; Ritter zu Dame und/oder Wächter: eine verbale Entgegnung erfolgt nicht. 2. Dialog zwischen Wächter, Dame und/oder Ritter; zwischen Dame und Ritter. 3. Jeder der Beteiligten monologisiert für sich über die konkrete Situation, ohne daß die beiden anderen darauf sprachlich reagieren. Indes: vor der Analyse der Texte ist es notwendig, sich erst einmal über den Begriff »Tagelied« zu verständigen. Denn während ULRICH KNOOP in seiner Untersuchung von 4 8 Liedern ausgeht,9 verzeichnet SABINE FREUND 104, RENATE HAUSNER 107, und ULRICH MÜLLER spricht von »sicherlich weit über 1 0 0 « 1 0 , an anderer Stelle 6

KARL BERTAU:

Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. I: 800-1197. München 1972,

S. 760. 7

8

9 10

ULRICH K N O O P : Das mittelhochdeutsche Tagelied. Inhaltsanalyse und literarhistorische Untersuchungen. Marburg 1976 (Marburger Beiträge zur Germanistik 52), S. 155. Der zunächst lohnend erscheinende Versuch, die Gesprächskonstellationen im Tagelied mit Hilfe der Sprechakttheorie zu analysieren, erwies sich alsbald als unergiebig, da häufig keine echten Sprechakte vorliegen. K N O O P (S. A n m . 7 ) , S . 6 1 f . M Ü L L E R (S. A n m . 2 ) , S . 3 4 6 .

Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram

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sogar von »weit über zweihundert Tagelieder(n)« . Ein sauberer Gattungsbegriff ist daher geboten, und so werden bei den nachfolgenden Überlegungen nur solche Fälle berücksichtigt, bei denen a. die Trennung der Liebenden nach gemeinsam und heimlich verbrachter Nacht thematisiert wird, b. die erzählte Zeit durch Textelemente eindeutig als Tagesanbruch ausgewiesen ist, c. das Personal aus mindestens zwei Personen besteht, und d. als Ort der Handlung der Lebensraum der Dame, in erster Linie ihre Kemenate, erscheint.12 Auf diese Weise sind Serena und Pastourelle ebenso ausgeklammert wie die monologische Reflexion über zu erwartende oder genossene Liebesfreuden; Parodien hingegen werden an geeigneter Stelle zur Überprüfung der Ergebnisse einbezogen, bestätigen sich doch gerade an ihnen Textelemente als gattungskonstitutiv. Deshalb sind Tagelieder und Tagelied-Parodien in ihren Gesprächs k o n s t e i l a t i o n e n identisch, unbeschadet der konkreten Inhalte. Weil es aber dabei vor allem um die Frage geht, ob und inwieweit Wolfram die weitere Entwicklung der Gattung beeinflußte, wird der Untersuchungszeitraum durch seine Lieder und die Ottos von Botenlauben auf der einen und Oswalds von Wolkenstein und die Texte im >Liederbuch< der Klara Hätzlerin auf der anderen Seite begrenzt. In Lied III Ottos von Botenlauben (Singet, vogel, singet miner frouwen, der ich sanc)13 verkündet ein Wächter den anbrechenden Morgen, nachdem er zuvor über die Gründe seiner Loyalität gegenüber dem Paar und besonders der Dame reflektiert hat. Wechselweise wendet er sich dabei an den Mann und an die Frau. Auf ihn reagiert der Ritter, ohne jedoch direkt auf seine Worte einzugehen: vorwurfsvoll hält er der Dame vor, ihn nicht früher geweckt zu haben, so daß er sie nun sofort und in größter Eile verlassen müsse. Damit sind hier zwei Gesprächskonstellationen miteinander verbunden: zunächst die Anrede des Wächters an das Liebespaar und sodann die im Gespräch mit der Dame erfolgende Reaktion des Mannes, die jedoch keine direkte Antwort an den Wächter darstellt. Lied XIII desselben Autors (KLD S. 314f.: Wie sol ich den ritter nü gescheiden) beginnt ebenfalls mit einem Weckruf des Wächters, der in Sorge um das Wohl des Mannes diesen zum Aufbruch mahnt. Diesmal aber reagiert die Dame: mit ausdrücklichem Bezug auf die Warnung drängt auch sie auf Abschied, nicht ohne dabei den Anbruch des Tages zu beklagen. Ihr antwortet direkt der Ritter und er versucht, die Trennung noch weiter hinauszuschieben, was ein erneutes Drängen der Frau nach Aufbruch auslöst. Wieder sind hier zwei Gesprächkonstellationen hintereinander ge11

ULRICH MÜLLER: Die mittelhochdeutsche Lyrik. In: HEINZ BERGNER (Hrsg.): Lyrik des Mittelalters H. Probleme und Interpretationen. Stuttgart 1983 (Reclains Universal-Bibliothek 7897), S. 7-227. Zitat S. 93.

12

So auch MÜLLER (S. Anm. 2), S. 345.

13

Text und Zählung der Lieder nach: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hrsg. von CARL VON KRAUS. Bd. I: Text. 2. Auflage, durchgesehen von GISELA KORNRUMPF. Tübingen

1978, S. 307f. - Künftig zitiert: KLD S.

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schaltet: auf die an den Mann gerichtete Warnung des Wächters folgt ein Dialog zwischen Ritter und Dame. Die Lieder IX+IV (KLD S. 309f.: Wahter, ich bin komen üf gnade her ze dir) und XIV (KLD S. 316: Kumt er der mir da komen sol) bleiben unberücksichtigt, weil in ihnen das Kriterium der Zeit (Anbruch des Tages) nicht erfüllt ist. Von Wolfram von Eschenbach14 sind bekanntlich vier echte Tagelieder und ein Gegentypus 15 (Lied IV: Der helden minne, MF S. 441 [5,34-6,10]) überliefert. 16 In Lied I (MF S. 436f. [3,1-32]: Den morgenblic) beklagt eine Frau, nachdem sie den Ruf des Wächters gehört und sich von seiner Richtigkeit überzeugt hat, den Anbruch des Tages. Auf die zunehmende Helligkeit und die somit immer größer werdende Gefahr der Entdeckung reagiert das Paar mit verstärkter Nähe (von der Frau auch wörtlich so zum Ausdruck gebracht) und einer neuerlichen, letzten Liebesvereinigung. Damit liegen auch hier zwei unterschiedliche Gesprächskonstellationen vor: die monologische Klage der Frau und ihre einseitige Liebesversicherung gegenüber dem Mann. Alle anderen Handlungselemente sind nonverbal. In Lied II (MF S. 347-349 [4,8-5,15]: Sine kläwen) tritt der Wächter nun selbst sprechend in Aktion. Ohne sich direkt an das Liebespaar zu wenden, mahnt er zum Abschied und verspricht, den Mann aufgrund seiner charakterlichen Vorzüge heil aus der Burg hinauszugeleiten. Ihm entgegnet die Dame mit dem Vorwurf der untriuwe, weil für sie die Trennung von dem Geliebten nur Leid mit sich bringe, eine Beschuldigung, gegen die sich der Wächter verwahrt; gleichzeitig wiederholt er seine Forderung nach sofortigem Aufbruch des Mannes. Die Dame verlegt sich aufs Bitten, aber das immer stärker werdende Tageslicht läßt sich nunmehr nicht länger ignorieren. Wiederum vollzieht sich der Abschied in einer letzten Liebesvereinigung. Auf den personenunspezifischen Ruf des Wächters folgt somit hier ein Dialog zwischen Dame und Wächter, während der Ritter gesprächsweise nicht in Aktion tritt. Die Reaktion des Paares auf den Anbruch des Tages ist erneut nonverbal. Wolframs nächstes Tagelied (MF S. 442f. [6,10-54]: Von der zinnen) ist weitgehend geprägt von einem trotz direkter Anreden nicht unmittelbar personenbezogenen Monolog des Wächters, in dem dieser über sein Berufsethos reflektiert. Sein Warnruf ist für den Mann der Anlaß, sich von der Dame zu verabschieden, was auch hier verbal und nonverbal (in Form der Liebesvereinigung) erfolgt. Als besonderes Charakteristikum hat für dieses Lied zu gelten, daß alle Gesprächskonstellationen monologischer Art sind (Wächter; Ritter). Lied VII (MF S. 445-447 [7,41-9,3]: Ez ist nu tac) ist im Gegensatz dazu geprägt von der Verbindung von monologischer und dialogischer Struktur. Auf den Weckruf 14

Text und Zählung der Lieder nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgab e n v o n K A R L LACHMANN u n d MORIZ H A U P T , FRIEDRICH V O G T u n d C A R L VON K R A U S

15 16

bearbeitet von H U G O M O S E R und H E L M U T TERVOOREN. Bd. I: Texte. 3 8 . , erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und das Kremsmünsterer EYagment. Stuttgart 1 9 8 8 , S. 4 3 6 - 4 5 1 . - Künftig zitiert: MF S. (in eckigen Klammern die Zählung nach der Editio princeps K A R L LACHMANNS von 1 8 3 3 ) . Begriff nach M Ü L L E R (S. Anm. 2), S. 370. Darüber besteht weitgehend Forschungskonsens, vgl. etwa W A P N E W S K I (S. Anm. 1). - Anders nur V O L K E R MERTENS: Dienstminne, Tageliederotik und Eheliebe in den Liedern Wolframs von Eschenbach. Euph. 77 (1983), S. 233-246.

Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram

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des Wächters reagiert die Frau zunächst mit einer Klage über die bevorstehende Trennung, danach mit der Umarmung des Geliebten. Auf diese Weise sanft geweckt, beklagt auch er die Kürze der Nacht und mit ihr das Ende ihrer Freuden, bevor sich das Paar wiederum einer letzten Liebesvereinigung hingibt. Wechselseitig nehmen sie sodann Abschied voneinander. Damit sind zum ersten Mal mehr als zwei Gesprächskonstellationen miteinander verbunden, wenngleich auf recht einfache Weise, indem das eine Element, der Monolog, für alle Akteure in Anspruch genommen und entsprechend oft multipliziert wird (Wächter; Dame; Ritter). Ihm schließt sich dann ein echter Dialog zwischen Dame und Ritter an, so daß zwar vier unterschiedliche Gesprächskonstellationen, aber eigentlich nur zwei verschiedene kommunikative Grundmuster (Monolog, Dialog) vorliegen. Eine erste Zwischenbilanz zeigt, daß Wolfram die in dem Dreier-Spektrum Dame - Ritter - Wächter möglichen Gesprächskonstellationen in recht hohem Maße ausschöpft. In nur vier Liedern sind sämtliche personellen Varianten vertreten, er verwendet außerdem nebeneinander Monologe und Dialoge, die er zudem noch miteinander kombiniert. Hinzukommt die enge Verbindung von verbalem und nonverbalem Verhalten. Relativ selten ist die personengerichtete Ansprache, auf die keine Antwort erfolgt (lediglich in Lied I vertreten). Von Otto von Botenlauben sind insgesamt nur zwei Tagelieder direkt mit Wolfram vergleichbar. Dennoch fällt auf, daß er bei seiner Auswahl der Gesprächspartner und damit zwangsläufig auch in den Gesprächskonstellationen erheblich invariabler ist: in beiden Liedern ist die komplette PersonenTrias auch verbal vertreten und wird nicht nur stillschweigend vorausgesetzt (so bei Wolfram in den Liedern II und V). Monologe fehlen völlig, Dialoge sind gegenüber einseitigen, personengebundenen Ansprachen, die somit auch die am häufigsten verwendeten Gespächskonstellationen ausmachen, deutlich unterrepräsentiert. Von diesem Ergebnis aus wird es möglich, die restlichen Tagelieder im Untersuchungszeitraum zu erfassen. Grundlage sind dabei die Textsammlungen von S A B I N E F R E U N D und R E N A T E H A U S N E R , ZU denen jedoch anzumerken ist, daß nicht jedes dort abgedruckte Lied auch wirklich den eingangs formulierten Gattungskriterien entspricht. Schon bei flüchtiger Durchsicht wird erkennbar, daß vom Beginn des 13. bis zum 15. Jahrhundert die einmal eingeführten personellen und kommunikativen Konstellationen weitgehend gleichbleiben. Dabei werden nicht einmal alle denkbaren Varianten auch tatsächlich sprachlich realisiert. Eine Entscheidung, ob Wolfram oder Otto von Botenlauben stärker normbildend gewirkt hat, ist nicht möglich, denn während die größere Vielfalt der verwendeten Kommunikationsmuster, die personelle Disposition und die Verbindung von Monologen, Dialogen und unbeantwortet bleibenden Ansprachen eindeutig auf Wolfram als Vorbild verweisen, deutet die Häufigkeit einseitiger Anreden auf Kosten echter Dialoge eher auf Otto von Botenlauben hin; zum Teil scheint es, als seien dialogische Strukturen, wie sie Wolfram gebraucht, wieder in ihre Einzelbestandteile aufgelöst und diese dann additiv aneinandergereiht worden, so etwa bei Bruno von Homberg (Lied III, KLD S. 24) oder dem Burggrafen von Lienz (Lied II, KLD S. 25lf.). Damit läßt sich zwar ein deutlicher Traditionszusammenhang innerhalb der Gattung begründen, nicht aber dessen mo-

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nokausale Ableitung von einem einzelnen Autor. Im Umkehrschluß heißt das aber auch, daß die Aussage, Wolframs Lyrik habe überhaupt keine Auswirkung gehabt, für das Tagelied der Korrektur bedarf, und das nicht nur aufgrund der realisierten Gesprächskonstellationen, sondern auch in der Verbindung von Abschiedssituation und Liebesvereinigung (so z.B. bei Ulrich von Winterstetten, Wenzel von Böhmen oder Ulrich von Lichtenstein). Abweichungen von dem bisher skizzierten Typus des Tageliedes kommen vor, sind aber relativ selten. Meist resultieren sie aus einer einfachen Erweiterung des Basismodells im personellen Bereich, was auch erklärt, wieso sich die Gesprächskonstellationen allen Variationen zum TVotz nicht grundlegend verändern. Das ist etwa an Lied XXIX Ulrichs von Winterstetten (KLD S. 543: Verholniu minne sanfte tuot) zu beobachten, in dem eine Zofe zusätzlich zum Wächter als Figur des Textes in Erscheinung tritt. Aber die in der Aufstockung des Personals liegenden Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft: die Gesprächskonstellationen bleiben gleich, weil die Zofe nur als Sprachrohr des Wächters fungiert; schließlich ist es weder gestattet noch schicklich, daß dieser selbst das Schlafzimmer einer Dame betritt, noch dazu während des Dienstes. Daher soll die Einbeziehung der Zofe wohl eher die Glaubwürdigkeit des Textes stützen als traditionelle Muster modifizieren. Auf die realisierten Gesprächskonstellationen wirkt sich die Vermehrung des lyrischen Personals somit allein quantitativ aus: durch den Weckruf des Wächters (monologisch) beunruhigt, drängt die Zofe, die Warnung repetierend, das Liebespaar zum Abschied, worauf zunächst die Dame und dann der Ritter mit einer entsprechenden Klage reagieren, beide ebenfalls monologisch. Auch mit der Einführung eines zusätzlichen Sprechers, der aus seiner Sicht die Ereignisse schildert, ist nur scheinbar eine neue Ausgangslage geschaffen. Denn wenn dieser lediglich über die Trennungssituation am Morgen räsonniert, sind die Voraussetzungen für die Zugehörigkeit des Textes zur Gattung »Tagelied« nicht gegeben, weil weder die zeitliche Eingrenzung noch die unmittelbare Präsenz der Beteiligten beibehalten ist. Fungiert indes der Sprecher selbst auf der Figurenebene wie etwa bei von Wissenlo in Lied III (KLD S. 594f.: Man sol nu singen gen dem tage), wo der Wächter, der das Liebespaar warnt, schließlich auch dessen Reaktionen in direkter Rede wiedergibt, oder in dem umfangreichen Tagelied Günthers von dem Vorste (Lied V, KLD S. 133-139: Nu her, ob ieman kan verneme), in dem ein Sprecher Anfangs- und Schlußteil erzählerisch gestaltet, während im Mittelteil das Liebespaar selbst zu Wort kommt, so ist der Grundtypus nur amplifizierend modifiziert, wenn z.B. in dem zuletztgenannten Text die Rede des Sprechers ein komplettes Tagelied mit dialogischen (Dame-Ritter) und appellativen, d.h. personenbezogenen, verbal aber unbeantwortet bleibenden Elementen umrahmt. Eine weitere Veränderung des Tageliedmusters besteht in der Kombination mit gattungsfremden Bestandteilen. Freilich ist auch davon der Grundtypus kaum betroffen, da es sich immer nur um Ergänzung, um Agglutinierung zusätzlicher Komponenten an einen unverändert bleibenden Tagelied-Kern handelt. Das ist etwa in Lied XXXVI Ulrichs von Lichtenstein (KLD S. 468f.: Got willekomen, herre) der Fall. Hier sind gleich zwei Modifikationen zu beobachten: zum einen wird auf der

Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram

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Figurenebene der Wächter gegen eine Zofe ausgetauscht, zum anderen dem eigentlichen Tagelied, d.h. der Trennung des Paares bei Anbruch des Tages, ein Dialog zwischen Dame und Ritter vorgeschaltet, in dem beide ihre Vorfreude auf die kommende Nacht zum Ausdruck bringen. Zu Recht klassifiziert daher RENATE HAUSNER den Text als Verbindung von Serena und Tagelied.17 Trotzdem ändert sich dadurch an den Gesprächskonstellationen nichts: die Serena dient als Vorspann, und der Verzicht auf den Wächter zugunsten einer dienstbereiten Zofe führt lediglich zu einer Umbesetzung der Rollen, läßt aber deren Funktion im Text unangetastet. In Lied I des Burggrafen von Lienz (KLD S. 250f: Ez gienc ein juncfrou minneclich) sind gar drei lyrische Gattungen miteinander kombiniert: Serena, Tagelied und Kreuzlied. Das erfordert zwar eine Aufstockung des Personals, zwingt aber nicht zu grundlegender Umgestaltung: die Serena ist zeitlich und logisch korrekt der Tageliedsituation vorgeschaltet, die Abschiedsstrophe eines Sprecher-Ichs wegen Teilnahme am Kreuzzug schließt sich bezugslos an, so daß als einziges Verbindungsstück zu dem im Textzentrum angesiedelten Tagelied die bevorstehende Trennung fungiert. Immerhin aber führt eine solche Schwellform nahezu zwangsläufig zu einer relativ großen Vielfalt von Gesprächskonstellationen, wobei sich einseitige, personenbezogene Ansprachen (Zofe-Wächter; Dame-Ritter), Dialoge (Wächter-Ritter) und Monologe (Wächter; Sprecher) abwechseln. In der Tagelied-Parodie bleibt ebenfalls der Grundtypus gleich. Das muß auch so sein, da die Nähe zum Ausgangsobjekt den Wiedererkennungswert steigert und somit den Erfolg der Parodie sichert. Ein Beispiel dafür findet sich wiederum bei Ulrich von Lichtenstein, und zwar in Lied XL (KLD S. 473f.: Ein schceniu maget), in dem der Ritter den Zeitpunkt des Aufbruchs verpaßt und deshalb den Tag über in der Kemenate der Dame versteckt gehalten werden muß. Das ist nun genau die Situation, die in allen anderen Tageliedern als Schreckgespenst im Hintergrund steht, doch bei Ulrich resultiert aus ihr nicht Entdeckung, Kummer und Leid, sondern gesteigertes Liebesglück, weil sich das Beisammensein des Paares ganz einfach um einen Tag und eine weitere Nacht verlängert. In den Gesprächskonstellationen schlagen sich diese Veränderungen jedoch nicht nieder, sieht man davon ab, daß wie schon mehrfach auf der Figurenebene der Wächter durch eine Zofe ersetzt ist, ohne daß sich daraus Konsequenzen für die Textstruktur ergäben. Gleiches gilt für das >Kchühorn< des Mönchs von Salzburg, 18 das deswegen kein »Tagelied« im eigentlichen Sinne ist, weil die zeitlichen Rahmenbedingungen andere sind. Aber die Verlegung der Handlung in die frühen Nachmittagsstunden ist ebenso Element der Parodie wie die Transponierung des Personals in das bäuerliche Umfeld, ohne daß sich aber auch hier durch die Umbesetzung der Rollen die Gesprächskonstellationen änderten. Die Synopse der bisher betrachteten Texte zeigt, daß die Grundmuster trotz gewisser Variationen auf der Handlungs- und der Figurenebene insgesamt gleichbleiben. Das gilt auch für die relativ große Zahl von Tageliedern im >Liederbuch< 17

HAUSNER (S. A n m . 4 ) , S. 95.

18

Text: Die Mondsee-Wiener Liederhandschrift und der Mönch von Salzburg. Eine Untersuchung zur'Litteratur- und Musikgeschichte nebst den zugehörigen Texten aus der Handschrift und mit Anmerkungen von F . A R N O L D MAYER und HEINRICH RIETSCH. Berlin 1 8 9 6 , Nr. 13, S . 2 3 1 234.

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Hans-Joachim Behr

der Klara Hätzlerin. Obwohl dort alle Gespächskonstellationen vertreten sind und dialogische Strukturen vergleichsweise häufig vorkommen, besteht kein prinzipieller Unterschied zu früheren Liedern. Hat sich damit der Untersuchungsansatz als zu formalistisch und ungeeignet zur Beschreibung innerliterarischer Strukturen selbst widerlegt? Das wäre der Fall, gäbe es nicht doch eine Ausnahme von der bisher beobachteten Gattungsstereotypie: Oswald von Wolkenstein. Von ihm sind sieben Tagelieder erhalten, wobei der Text KL 48 (Stand auff, Maredel)19 insofern einen Sonderfall darstellt, als nicht nur das Personal der bäuerlichen Sphäre angehört, sondern in der Gestalt der Bäuerin auch Weck- und Auoie-Instanz zusammenfallen. Damit ist die »klassische« Tagelied-Situation (der Wächter bzw. eine an seine Stelle tretende Vertraute unterstützt die Liebe des Paares gegenüber einer ihr feindlichen Gesellschaft) aufgehoben. Ahnliches zeigt sich an den Gesprächskonstellationen. Ohne dogmatisch zu sein (so beläßt etwa Lied KL 16 den Wächter in seiner nunmehr seit Jahrhunderten angestammten Position), reduziert Oswald Personal und Gesprächskonstellationen drastisch: wie im Frühen Minnesang (Dietmar von Eist, Lied XIII, MF S. 66) sind es Naturphänomene, die den Anbruch des Tages verkünden (z.B. KL 20: Vogelgezwitscher und Ostwind), während sich das Mitteilungsinteresse auf die Unterhaltung zwischen den Liebenden beschränkt. Wie vorher bei Wolfram wird damit der Dialog erstmals wieder zur dominierenden Gesprächsform; Monologe und einseitige, unbeantwortet bleibende Ansprachen (die es nichtsdestoweniger gibt) treten zurück, vor allem dann, wenn es sich wie im Falle des Wächters oder der Zofe nur um mittelbar Beteiligte handelt. Auf diese Weise konzentriert sich die Darstellung des Textes allein auf das Liebespaar, dessen Situation zwischen dem Glück der vergangenen Nacht und dem Leid der bevorstehenden Trennung ausgeleuchtet und im Gespräch ausbalanciert wird, weil beide Phasen aufeinander bezogen sind und die eine ohne die andere undenkbar erscheint. Die Analyse der im Tagelied vom Beginn des 13. Jahrhunderts bis zu Oswald von Wolkenstein realisierten Gesprächskonstellationen macht deutlich, daß die Gattungsvorgaben selbst über einen so langen Zeitraum hinweg nahezu konstant bleiben. Allenfalls auf der Figurenebene lassen sich durch Vermehrung des Personals, dessen soziale Umschichtung in den ländlich-bäuerlichen Bereich oder die zusätzliche Perspektive eines Berichterstatters Modifikationen erkennen, die aber letztlich nur Oberflächenvarianten hervorbringen. Daß Wolfram auf die Entwicklung des Tageliedes keinen Einfluß genommen haben soll, erscheint angesichts der Ubereinstimmungen in den Gesprächskonstellationen unwahrscheinlich; allerdings ist zuzugeben, daß die von ihm im Dialog gesehenen Möglichkeiten dann erst von Oswald von Wolkenstein erkannt und konsequent genutzt werden. Auf die Beliebtheit der Gattung wirkte sich ihre Stereotypie offensichtlich nicht negativ aus, vermutlich deshalb, weil an ihr als der Klage über die Trennung nach nächtlichem Liebesglück sämtliche Minnekonzeptionen partizieren konnten. 19

Text und Zählung der Lieder nach: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Unter Mitwirkung von WALTER W E I S S und NORBERT W O L F hrsg. von KARL K U R T KLEIN. Musikanhang von WALTER SALMEN. 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage von HANS M O S E R , NORBERT R . W O L F und NOTBURGA W O L F . Tübingen 1 9 8 7 (ATB 5 5 ) . Hier S . 1 5 3 - 1 5 5 . - Künftig zitiert: KL (Nr.).

DAGMAR HIRSCHBERG (München)

dy trumpet

( M R 15)

Ein Tagelied-Experiment des Mönchs von Salzburg

Seit Wolfram sein exzeptionelles Tageliedcorpus geschaffen hat, erscheinen Tagelieder in der weiteren Entwicklung des Liedtyps immer wieder als aufeinander bezogene Lieder in einem Corpus. Auch der Mönch von Salzburg hat seine fünf weltlichen Tagelieder, die vier unterschiedliche Tageliedsituationen in jeweils andere sehr komplexe Zusammenhänge weiterführen, aufeinanderhin komponiert, und die Mondsee-Wiener Liederhandschrift macht die Tagelieder in ihrer Uberlieferung am Beginn der weltlichen Lieder des Mönchs als Gruppe eindeutig kenntlich. Allein schon die Bezeichnungen in den Bei- bzw. Überschriften weisen die fünf Lieder als Variationen des Tageliedtypus aus: Das nachthorn (MR 11), Das taghorn (MR 12), Das kchühorn (MR 13), Ain enpfahen (MR 14) und dy trumpet (MR 15). Bedeutung hat diese sehr sorgfältige Aufzeichnung der Lieder jedoch vor allem als erste Verschriftlichung von Mehrstimmigkeit im deutschen Lied.1 Vier der Lieder sind zweistimmig notiert. Im nachthorn und taghorn werden die Ich-Rollenmonologe der Singstimme jeweils durch eine untergeordnete, wahrscheinlich instrumental besetzte Bordunstimme begleitet. In Ain enpfahen und der trumpet finden sich, und das ist ein absolutes Novum, zwei gleichberechtigte Singstimmen. Dabei führen in Ain enpfahen die beiden Stimmen sy und er mit Frage und Antwort, mit Pausen und gleichzeitigem Sprechen einen wirklichen Dialog m i t e i n a n d e r . HANS GANSER, d e m ich bei der Beschreibung der musikalischen

Seite der Lieder folge, sieht für diese »Form des zweistimmigen Dialogliedes«, welche in einigen (Tage-)Liedern Oswalds von Wolkenstein wiederaufgenommen wird, weder in Deutschland noch Frankreich ein Vorbild und hält sie für eine aus dem Tagelieddialog entwickelte Schöpfung des Mönchs von Salzburg.2 1

Vgl. dazu F R A N Z V. SPECHTLER: Mittelalterliche Liedforschung. Aufzeichnungs- und Aufführungsform der Lieder des Mönchs von Salzburg. Jahrb. der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 1 (1980/81), S . 175-184, hier S. 182f. und F R A N Z V. SPECHTLER: Lyrik des Spätmittelalters. Typen und Varianten. Literaturwiss. Jahrb. N.F. 22 (1981), S. 53-69, hier S. 66ff. Vgl. zur Mondsee-Wiener Liederhandschrift (D) und insbesondre der 7. Schreiberhand, die das Tageliedcorpus aufgezeichnet hat, zuletzt: BURGHART WACHINGER: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter. Tübingen 1989 (Hermea N.F. 57), S. 108ff. Welcher Glücksfall die überlieferte Mehrstimmigkeit ist, belegt die nochmalige Aufzeichnung des nachthorns durch die 8. Schreiberhand in Hs. D (fol. 245Y-246r), in der es offensichtlich aufgrund von Vorlagenwechsel - als einstimmiges Lied erscheint (WACHINGER S. 112 sowie 115 u. Anm. 8). Ebenso werden in der Kolmarer Liederhandschrift nachthorn und taghorn nur einstimmig notiert, letzteres findet sich einstimmig auch in der Hs. der Vatikanischen Bibliothek sowie in der Sterzinger Miscelaneenhandschrift ( H A N S GANSER: Die mehrstimmigen Lieder des Mönchs von Salzburg. München 1980 [Masch. Magisterarb.], S. 26f.).

2

G A N S E R (S. A n m . 1 ) , S . 3 0 .

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Dagmar Hirschberg

Die eindrücklichste Präsentation der fünf Lieder in Hs. D weist die trumpet auf. Unter der Überschrift, auf die ich später eingehe: Das haist dy trumpet und ist auch gut zu blasen findet sich auf einem Blatt (188v) die erste Stimme verzeichnet, in welcher er und sy - nacheinander - miteinander sprechen. Die Verteilung der Redeanteile auf die Dialogpartner wird dabei durch Noten wie Text, die schwarz für »ihn« und rot für »sie« geschrieben sind, zweifelsfrei kenntlich gemacht, dazu durch die Beischrift am Rand: Das swarcz ist er das rot ist sy eigens noch angezeigt. Auf dem gegenüberliegenden Blatt (189r) sind unter der Rubrik: das ist der wachter darzu Melodie und Text der zweiten Stimme notiert sowie der ebenfalls unterschieden rot und schwarz geschriebene Text der zwei weiteren Strophen der ersten Stimme. 3 Die Zweistimmigkeit der trumpet ist gegenüber Ain enpfahen insofern noch komplexer angelegt, als der Dialog zwischen dem Liebespaar einerseits und zwischen diesem und der Wächterstimme andererseits statthat. Dabei singt der Wächter zu den drei verschiedenen Strophen des Paares jeweils seine eine Strophe. Im Anhang 4 habe ich deshalb die Wächter-Strophe, um die intendierte musikalische Realisierung nachvollziehbar zu machen, als IV. Strophe jeweils neben den drei Strophen der ersten Stimme aufgeführt. 5 Ich betrachte den Liedeinsatz und die erste Strophe: Die Konstellation von Wächter und Liebespaar ist die klassische Tageliedkonstellation. Und der Redeeinsatz des Wächters Ich wil euch warnen zwar (IV,1), der immer der Rede des Paares vorangeht, ist der klassische Einsatz eines Wächtertageliedes. Das nächtliche Einlaßbegehren des Mannes (1,2) ist Signal für den Liedtyp der Serena, der gegentypischen Variante des Tagelied-Normaltypus. Während der Normaltypus unter der Zeitdominante des frühen Morgens steht [gen tage), der leidvollen Abschied und Trennung bedeutet, steht die Serena unter der Zeitdominante des Abends (prov. sers) bzw. der beginnenden Nacht, die als Ansage bevorstehender Liebeserfüllung positiv besetzt sind. Am Bedeutungskern des erfreuenden Abends richten sich eine Reihe unterschiedlicher gegentypischer Situationen aus. Der trumpet - wie auch Ain enpfahen oder Bodenloubens Wahter, ich bin komen (KLD 41. IX. IV) - liegt die Situation des abendlichen oder nächtlichen Empfangs des Liebhabers nach längerer 3

4

»Aufzeichnungsform und Auffiihrungsform haben bei diesem Lied in der Mondsee-Wiener Liederhandschrift eine Korrespondenz gefunden, die für das deutschsprachige Lied des Mittelalters nur selten so deutlich zu beobachten ist.« (SPECHTLER, Liedforschung [s. Anm. 1], S. 184). Nach der Ausgabe: Der Mönch von Salzburg, ich bin du und du bist ich. Lieder des Mittelalters. Auswahl, Texte, Worterklärungen F R A N Z V. SPECHTLER, Übersetzungen MICHAEL K O R T H , Übertragung und Rhythmisierung der Melodien JOHANNES HEIMRATH und MICHAEL K O R T H , Kunstgeschichtliche Erläuterungen N O R B E R T O T T . München 1980, S . 36ff., zitiere ich Melodie und Text. Ich habe ihn - auch unter Rückbezug auf die Ausgabe: F . A R N O L D M A Y E R u n d HEINRICH RIETSCH: D i e M o n d s e e - W i e n e r L i e d e r h a n d s c h r i f t u n d d e r M ö n c h v o n S a l z b u r g .

5

Berlin 1896, S. 236ff. - sparsam mit Satzzeichen versehen. In der Wächter-Strophe sucht die Anordnung der Verszeilen die Entsprechungen zur ersten Stimme zu berücksichtigen. - Die einzige mir bekannte Schallplatten-Aufnahme der ersten Strophe der trumpet liegt in der Einrichtung von Cesar Bresgen vor: Der Mönch von Salzburg: Geistliche und weltliche Lieder. HELP Austria Records, Klagenfurt. (9020 Klagenfurt, Johann Schaschl-Weg 9). HAS 174. Die Parallelüberlieferung von Ain enpfahen und der trumpet findet sich zweistimmig in der 1870 verbrannten Straßburger Handschrift Bibliothèque municipale ms. 2 2 2 C . 2 2 . ( G A N S E R [S. Anm. 1], S. 33, 45 und 50f.).

dy trumpet (MR 15)

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Abwesenheit zugrunde. Deshalb muß sich die Frau zunächst der Basis der Beziehung erneut versichern. Der Mann weiß diesem Nachhaken in der Haltung des Minnedieners vorbildlich zu entsprechen (1,4/5 u. 6/7). Nachdem die Tageliedsituation geklärt und mit der Konstellation der drei Tageliedrollen auch deren bekanntes Profil gesichert ist, nimmt der Dialog eine überraschende Wendung. Gegen die Nachtsituation, die sich gerade entfalten könnte, versucht die Frau, den Empfang in eine dafür ganz ungewöhnliche Tageszeit zu verlegen: Kum an sorgen zu mir morgen (1,8). Wie der weitere Gesprächsverlauf zeigt, wählen beide - der Mann den Schutz der Dunkelheit, die Frau den Empfang bei Tageslicht - aus Furcht vor dem Gerede der Klaffer (1,11). Von den Intrigen dieser gesellschaftlichen Gruppe sind die Strategien des Paares bestimmt. Angesichts der von den Klaffern ausgehenden Gefahr wird der Unterschied zwischen Tag und Nacht, der für das Tagelied konstitutiv ist, nivelliert; jeder Zeitpunkt eines Treffens erweist sich als gleichermaßen gefährdet. Der Dialog vermag das Klaffer-Thema noch einmal zurückzudrängen, um die Situation ebenso formelhaft allgemein wie programmatisch als Minnesituation zu definieren: Das Minnebekenntnis des Mannes (1,15) wird der Frau zur Ermahnung, an dieser Lebensform festzuhalten, als deren Bedingung abschließend die Qualität stät genannt wird (1,20). Ich schiebe einen Exkurs zur Rolle der Klaffer ein: Diejenigen, die dem Minnepaar feindlich gegenüberstehen, wie merktBre, mdcere oder lügen&re, werden ab dem 14. Jahrhundert immer häufiger durch die klaffer abgelöst. Im Werk des Mönchs erfahren sie eine geradezu monströse Konkretisierung. Sie ist außer für die trumpet vor allem für die Lieder MR 24, 25, 34, 55 und 59 bestimmend, aus denen sich u.a. folgende Merkmale zusammentragen lassen. Letztlich sind die Klaffer nur mit dem Teufel vergleichbar, sie sind von ihm als seine Werkzeuge eingesetzt (MR 20,8ff.)6 und werden auch am Ende an seinem Angelhaken zappeln (MR 25,20; 59,18). In heilsgeschichtlicher Perspektive finden wir sie an der Seite Judas (MR 25,19; 59,9). Ja, sie übertreffen den Teufel noch an Arglist und Bosheit mit ihrer zum Verbrechen anstiftenden Rede, die wie ein Mörderdolch scharf geschliffen ist (MR 34,6ff. u. 18f.). Es geht dieser Gegenwelt dabei nicht nur um die Zerstörung von Minnebeziehungen oder den Ruin gesellschaftlichen Ansehens (MR 19,35ff.; 20,10f.; 23,7ff.; 44,112; 45,19f.; 55,10f.), die verbrecherischen Intentionen zielen über den Minnebereich hinaus (MR 59,20 u. 25) auf die Verstrickung aller Menschen in Sünde (MR 34,3ff.). Vor den Klaffern gibt es keinen Schutz, außer: (...) all gesellen guet dy sprechent: tracz, dw pöser swacz! (MR 34,12ff.) Wenn also den höfischen Werten verpflichtete Freunde und insbesondre Liebende (vgl. MR 55,5) zusammenstehen, wenn sie den Lästermäulern den Untergang wünschen und sie verfluchen (MR 34,25ff.), werden diese gleichsam magisch gebannt. Wie Popanze, die sich scheinhaft aufgebläht haben, fallen sie, sobald sie identifiziert 6

Mit Ausnahme der Versangaben der trumpet beziehen sich alle weiteren Versangaben auf die A u s g a b e v o n MAYER/RIETSCH (S. A n m . 4 ) .

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und gestellt werden, kraftlos in sich zusammen: So wurd der klaffer plaich vnd gel,/ den ein gesell dersweiget so snell; (MR 34,15f.), d.h. der Böse erbleicht wie der Verbrecher, wenn der Scherge sich nähert, 7 zeigt sich in der Farbe des Teufels und des Todes. Im Zusammenhang mit dem Untergang der Kläffer wird immer wieder auch der Aspekt einer - gerichtlichen - Bestrafung angedeutet: Der Klaffer wird sich in seinem eigenen Strick fangen, einer peinlichen Strafe verfallen (MR 24,15ff.); ihm wird die spiegelnde Strafe der Spaltung seiner Zunge gewünscht (MR20,13); er soll schamrot wie ein Dieb vom Schergen abgeführt (MR 59,23f.) und seine Haut soll auf einer Glut verbrannt werden (MR 55,40): wer weih vnd priester schendet des leben pösleichen endet in iämerleichem vngefell. (MR 59,25ff.) Ich komme zur Strophe des Wächters, der IV. Strophe: Der Wächter dieses Liedes steht ausschließlich auf der Seite des Paares. Angelpunkt seiner beschützenden Tätigkeit ist allein die Bedrohung durch die Klaffer. Das Aktivwerden der Minnegegner ist gelegentlich auch früher im Minnesang schon als willkommenes Anzeichen des Minneerfolgs gewertet worden (etwa in Hausens Lied MF 43,28). Ebenso werden die Klaffer beim Mönch zum Beweis dafür, daß sälikait (IV,5) in einer Beziehung erreicht ist. Wie gefährlich sie sind, zeigt das gewandelte Motiv der huote an. Kommt ihr, die zum Schutz der Dame eingesetzt ist, auch Instanzfunktion zu, muß sich umgekehrt nun das Paar, weil die Klaffer keinerlei Anteil an der Norm mehr haben, vor ihnen hüten (vgl. IV,8). Der Vergleich ihrer Intentionen mit dem Schlangenbiß bezieht sich auf das Gift ihrer Lügenrede und erlaubt alle Assoziationen der Verführung zum Bösen, zum Sündenfall, wie sie mit dem Teufel verbunden sind. Die weiteren Merkmale der Identifizierung zeigen, wie die Welt der Klaffer negativ gegenbildlich aus der Welt, in der gesellschaftskonstitutive (Minne-)Werte Geltung haben, abgeleitet ist. Wenn der Lästerer an sein Ziel kommt, wird das mit dem Minnewort gelingen bezeichnet, nur daß es der falsch ist, der dieses darum pervertierte Ergebnis zeitigt (vgl. IV,12), und statt den Erfolg verschwiegen zu bewahren, posaunt der giftig klaffer (IV,11) in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit ihn hinaus: in schrill mißtönendem Eselsgesang (IV, 14). Analog zur Wertwelt der hohen Minne hat auch die Gegenwelt einen hohen Anspruch (hohen swank IV, 16). Doch ebenso wie ihr gesellschaftliches Ansehen ohne Bestand ist (IV,15), wird auch ihre freude (vgl. IV,20), der Inbegriff höfischer Identität, als fälschlich okkupiert entlarvt, resultiert sie doch aus einem Programm totaler Wert verkehrung: das er wolt das mänklich wer / pös und aller tugent ler / als er ist, (IV,17ff.). Das Arrangement der zwei gleichzeitigen Singstimmen legt den Vergleich ihrer Positionen nahe. Im Zusammenspiel von Strophe I und IV sind sie noch relativ weit voneinander entfernt. Akzentuiert und nicht nur im Redeeinsatz ist der Vorlauf des 7

slüege ein diep al eine ein her / gein dem Schergen hat er deheine wer: / als er den von verren siht, / zehant erlischet im daz lieht, / sin rötiu varwe wirt im gel; (>HelmbrechtWeltgewandten Bösewichtern< des Heinrich Kaufringer das Trachten der Schelk und lächer (v. 1), die sich zwar ein Scheinansehen zu geben vermögen, im Grunde aber voll untrew und falscher ler (30) sind, auf bösen alevanz (58) zurück. Vgl. etwa auch »Der verklagte Bauerc v. 699, 703 u. 707. (Heinrich Kaufringer: Werke. Hg. von PAUL SAPPLER. Tübingen 1972, S. 237ff. u. S. 22ff.). Vgl. zu den folgenden Ausführungen im HRG die Artikel: Schmähen und Schelten (IV, Sp. 145lff.), Gerüfte (I, 1584ff.), Acht (I, 25ff.), Glocke (I,1706ff.).

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Ächtung, die das Gericht aussprechen soll (acht sy 111,13). Der Geächtete ist rechtlos der Verfolgung der gesamten Rechtsgemeinschaft preisgegeben, die aufgerufen ist, ihn unschädlich zu machen. Die Rechtloserklärung wird durch das Hinausjagen aus dem Tor vollzogen (111,16). Da die Attacken der verleumderischen Schwätzer, wie der Dialog des Paares ergeben hat, letztlich auf die gesamte Rechts- und Friedensordnung zielen, kann die Gemeinschaft nur durch die vollständige Eliminierung der Missetäter wieder geheilt werden. Die Liebenden sind durch ihre neu durch stätikhait befestigte Gemeinschaft befähigt, für diesen Prozeß der Wiederherstellung von Recht einzustehen, den sie initiiert haben und den sie repräsentieren. Die Sturmglocke mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm (platz rumor 111,15), ruft nicht nur alle, die verpflichtet sind, dem Gerüfte Folge zu leisten, sie macht auch die Ausstoßung der Friedlosen rechtswirksam und verkündet weithin, daß sich die Gemeinschaft gegen Unrecht behauptet und dabei alles rechtens zugeht. In der dritten Strope gehen sy und er dem Wächter dezidiert voraus: Erst merk ich (111,4) - merket (IV,12); Menklich (111,12) - mänklich (IV,18). Sie handeln nun (uns bereits in 111,1) als die Einheit, als die er sie immer schon anspricht (euch, yr). Wohin sich die Gewichte letztlich verschoben haben, wird allein schon durch die Lautstärke angezeigt. Das Gerüfte und die große Glocke machen dem mit seinem esel sank prangenden Klaffer den Garaus. Denn wer lauter ist, hat mehr Recht. 11 Die Liebenden bewegen sich nun durchgehend auf der Höhe des Wächter-Urteils. Die einzige Reimbindung zwischen den sonst nur in sich durchgereimten Strophen findet sich in den Versen 17 und 18 der dritten und vierten Strophe. Hier, wo es nun mit den Klaffern endgültig aus und vorbei ist - bis sie im nächsten Lied wie die bestraften sprenzeleere Neidharts dann wieder gebraucht werden - , macht der Gleichklang der vier Reime hörbar, daß alle Differenzen zwischen den Stimmen aufgehoben sind. 12 Ich gehe noch einmal speziell auf den Tagelied-Bezug der trumpet ein: Der Mönch bedient sich einleitend einer Tageliedsituation, die er tageliedunspezifisch weiterentwickelt. So wird die nachts (1,2) einsetzende Handlung in ein durch die imperativen Wortgesten evoziertes Rechtsverfahren überführt, das natürlich nur bei hellem Tageslicht denkbar ist, und so weitet sich der Tageliedraum des haimlich / an schallen zum Zetergeschrei der Geschädigten und zum Lärmen der großen Gerichtsglocke, welche in einem Lied, das als Tagelied angefangen hat, vor dem Mönch noch nicht zu hören waren. Durchgehend Tageliedkontur hat die trumpet auf der Ebene der Rollenkonstellation und insbesondre durch die Wächter-Figur, welche wie keine andere den Liedtyp repräsentiert. Obgleich sy und er als Minnerollen so blaß bleiben wie das Formelgut der hohen Minne, mit dem sie hantieren, stehen sie für die erfüllte 11

12

Ausführlich dokumentiert bei S A B I N E ¿ A K : Musik als »Ehr und Zier« im mittelalterlichen Reich. Studien zur Musik im höfischen Leben, Recht und Zeremoniell. Neuss 1979. Meine Argumentation zum unterschiedlichen Zusammenspiel der Strophen des Paares und der Wächter-Strophe verstehe ich als Widerlegung der Deutung R E N A T E H A U S N E R S , für die »durch die kontinuierlich simultane Darbietung des Wächterparts der Mangel an dialogischen Bezugnahmen zwischen dem Liebespaar einerseits und der Wächterfigur andererseits sinnfällig zum Ausdruck gebracht« wird. (RENATE HAUSNER: Thesen zur Funktion frühester weltlicher Polyphonie im deutschsprachigen Raum [Oswald von Wolkenstein, Mönch von Salzburg], Jahrb. der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft. 3 [1984/85], S. 45-78, hier S. 76).

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Tageliedminne. Dabei ist es nicht die Trennung, die ihnen zum Anlaß wird, sich des Wertes ihrer Minne zu versichern, sondern das - klafferbedingte - Getrenntsein (gelük 11,16, sälikait 111,20 und immer IV,5). Die Minneeinheit des Tageliedpaares wird in der dritten Strophe umfunktioniert zur Einstimmigkeit, die bis heute Rechtsakten eine besonders hohe Wirksamkeit sichert. Der Wächter des Liedes hat ganz dieselben Merkmale: zu warnen, zu raten und zu lehren, so wie Wolfam sie entwickelt hat, die sich aber auf eine gewandelte Aufgabe beziehen. Wenn der Wächter ganz absorbiert ist von der Entfaltung der negativen Totalität der Gegenwelt, liegt vom Tagelied her gesehen allein schon in dieser rollenspezifischen Präsentation eine Aussage: Die Klaffer haben als Personifizierung der gesellschaftlichen Minnefeindlichkeit jeden positiven Gesellschaftsaspekt, den die traditionelle Wächter-Figur als berechtigten Anspruch den Liebenden gegenüber immer auch zur Geltung gebracht hat, aufgezehrt. Wenn man freilich dezidiert von der angespielten Serena-Situation ausgeht, zeigt sich deren Wächter wegen ihrer ganz unproblematischen Tageszeit relativ beschäftigungslos, ihm obliegt allenfalls, den zurückkehrenden Liebhaber zu empfangen und zu prüfen, was in der trumpet von der Frau selbst übernommen wird. Diese Figur wäre daher für einen Funktionswandel zur ausschließlichen Warnung vor den Ubergriffen einer feindlichen Außenwelt, besonders verfügbar. Die innovative Leistung des Mönchs in seinem Wächtertagelied liegt vor allem in der musikalischen Inszenierung, der Gestaltung einer bühnenhaften Tageliedszene.13 In dieser Inszenierung der Tageliedrollen ist das Tagelied strukturell in der trumpet präsent. Musikalisch ist Einstimmigkeit für das Paar mit der Konzeption der ersten Stimme schon vorgegeben. Die Inszenierung setzt jedoch vor allem an der Rolle des Wächters an. Seine Tageliedrolle wird zur eigenständigen Liedrolle, und indem ihn der Mönch seine Strophe - das sicher auffälligste Phänomen der Aufführung - dreimal identisch wiederholen läßt, wird das Rollenprofil der Figur in bisher unerhörter Weise zur Geltung gebracht: Der Wächter ist eine statische Figur, die stereotyp immer nur dasselbe sagen kann und sagen muß. Und doch verändert sich durch den wechselnden Kontext diese immer gleiche Strophe auch. Zuerst wird in ihr der Klaffer aufgebaut und gleichsam in den Vordergrund der Bühne geschoben, bis das Paar einfach nicht mehr um ihn herumkommt und auch nach vorn treten und in die Auseinandersetzung mit ihm eintreten muß. In deren Verlauf erleidet dann der Wächter, der immer nur Situationsanalyse betreiben und diese als Bewährungsaufgabe an das Paar herantragen kann, auch beim Mönch sein Tageliedschicksal, daß er nämlich von den Liebenden zurückgelassen wird und wieder in den Hintergrund treten muß. Nur sie können ihrer Liebe gemäß handeln, und so überholen sie ab Erst merk ich den alefancz denjenigen, der immer noch sein merket singt, durch den Prozeß, den sie den Klaffern bereiten, so gründlich, wie es dem Wächter in seiner Geschichte noch kaum je geschehen ist, und eigentlich müßte er abtreten, doch das verhindert die Liedrolle. Auf der Tageliedbühne entfaltet sich zwischen den Minnerollen kein Tageliedgeschehen. Es werden vielmehr nacheinander diese Riesenwelten aufgebaut, die sich auf 13

V g l . G A N S E R (S. A n m . 1 ) , S . 3 1 .

dy trumpet (MR 15)

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der einen Seite der inordinatio und auf der anderen der Ordnungskraft der Minne verdanken, die sich bedingen und die sich dichotomisch gegenüberstehen. Dabei macht die Inszenierung ganz deutlich, wie von der Klafferwelt der weite Radius vorgegeben ist, den die Liebenden, wenn sie sich zur Wehr setzen wollen, ausschreiten müssen, um mit ihrer Minnegemeinschaft eine ebenso globale und verabsolutierte rechtsförmige Friedensgemeinschaft zu etablieren. Es gibt in diesem Lied keine positive Gesellschaft, bevor sie nicht vom Paar im Liedvorgang geschaffen wird. Letzten Endes fügt sich die trumpet mit ihrer Klafferthematik in die übergreifende Frage, was die Minne - noch - zu leisten vermag. Und letztlich vermag sie, die eine so schwere gesellschaftliche Krise bewältigt und die es dabei mit dem von Sünde gezeichneten absolut Bösen so erfolgreich aufnimmt, sehr viel. Der Ansatz vom Tagelied aus ist nur eine Möglichkeit, wie der Mönch diesen Erweis erbringt. Wie das Tagelied in die trumpet hineinführt, steigen sy und er mit einem Tageliedabschied auch wieder aus dem Lied heraus (111,18-20). Damit wird im Grunde auch der Lied typ, der diese spezielle Inszenierung funktional ermöglicht, verabschiedet. Einheit, wie sie dieses Paar bewährt hat, ist untrennbare, erfüllte Einheit (sälikait 111,20), ist auf eine Tageliedbewährung im Abschied nicht mehr angewiesen und von keiner Trennung tangierbar. Das Wünschen einer »Guten Nacht« (111,19) ist dann auch kein Tageliedwunsch mehr, sondern der Brückenschlag zum nachthom (MR 11,lf.), um die trumpet so ins Corpus zurückzubinden. In der Deutung der Uberschrift: Das haist dy trumpet und ist auch gut zu blasen schließe ich mich bei deren zweitem Teil: und ist auch gut zu blasen der Auffassung HANS GANSERS an. Er versteht ihn nicht als Hinweis auf die instrumentale Ausführung des Liedsatzes durch eine Trompete, wie in der Forschung immer wieder erwogen worden ist; der Satz zeige vielmehr selbst »typisch instrumentale, genauer gesagt bläserhafte Züge. Dafür sprechen die charakteristischen Quart-, Quint- und Oktavsprünge [...] sowie die ganz typischen Tonrepetitionen und das Verweilen auf stationären Klängen [...].«14 Mit dem ersten Teil der Uberschrift: Das haist dy trumpet setzt sich das Lied von den drei anderen Liedern des Corpus ab, die das »Horn« in ihrer Bezeichnung haben. Während dieses eindeutig dem Tagelied-Wächter zugeordnet ist und seine Rolle in den Liedern repräsentieren soll, ist die Trompete in andere Kontexte eingebunden: Mit ihrem durchdringend hellen weithin vernehmbaren Klang fungiert sie bei allen Arten von Repräsentation, wird sie als furchteinflößendes Instrument und Signalinstrument vor allem im Krieg eingesetzt sowie zusammen mit der Glocke in rechtlichen Vollzügen als akustische Bestätigung dafür, daß in aller Öffentlichkeit Recht geschieht. 15 Das Lied des Mönchs, das den Klaffern den Krieg erklärt und sie in einem Rechtsakt besiegt, haist - konkretisierend - also wahrhaftig: dy trumpetl

14 15

GANSER (S. Anm. 1), S. 40ff., Zitat S. 39. Zahlreiche Belege bei ¿AK (s. Anm. 11), zur Verbindung von Trompete und Glocke insbes. S. 37ff.

Dagmar

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Hirschberg

dy trumpet (MR 15)

213

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dy trumpet. Reproduziert nach: Der Mönch von Salzburg, ich bin du und du bist ich. Lieder des Mittelalters. Auswahl, Texte, Worterklärungen FRANZ V. SPECHTLER. Übersetzungen MICHAEL KORTH. Ü b e r t r a g u n g u n d R h y t h m i s i e r u n g der Melodie JOHANNES HEIMRATH und M I -

CHAEL KORTH. Kunstgeschichtliche Erläuterungen NORBERT OTT. München: Heimeran 1980.

214

Dagmar Hirschberg

Das haist dy trumpet und ist auch gut zu blasen

das swarcz ist er das rot ist sy I Er Hör, libste frau, mich deinen knecht! Sy Was bedeutt des nachts das lang geprech Er Nicht anders, frau, denn eytel gut. Sy Sag an, was dir sey zu mut! 5 Er 0 wy we mir meiden tut. Sy Wahin sent sich dein begir? Er Herczenlibste frau, zu dir. Sy Kum an sorgen zu mir morgen! Er Frau, ich enmag. 10 Sy Was gewirt dir pey dem tag? Er Pöser falscher klaffer sag. Sy Dy besorg pey nacht vil mer. Er Ich pin haimlich kumen her. Sy Sag an schallen dein gevallen! 15 Er Ich han von dir lib und laid. Sy Hast du das an underschaid? Er Laid tut we lib frewet mich. Sy Darnach wiss zu halden dich! Er O wy geren ich das tat! 20 Sy Pis vor allen dingen stät!

das ist der wachter darzu IV Ich wil euch warnen zwar ane var als ich sol, / wann ich gan euch paiden gutes wol. mensch an sorg der hat nicht eer: yr sült euch besorgen ser! 5 sälikait hat klaffer mer denn unsäld wy man es kchert. wa das lib des liben gert, das hüt sich vor in,/ wenn ir pöser falscher sin/ 10 heket als dy slang./ merket wy ain giftig klaffer prang, so ym falsch gelingt,/ er singt/ esel sank! 15 wy das doch sein er ist krank, sein gedank hat doch hohen swank, das er wolt das mänklich wer pös und aller tugent 1er als er ist: 20 des freut sich sein falscher list.

dy trumpet (MR 15)

Er In stätikhait so pin ich dein. Sy Liber möcht auf erd mir nichts gesein.

5

10

15

20

Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy

Doch ist mir trost gar chlain be Etlich seich mir das erwert. Warumb pist du mir so hert? Du rümst dich von mir zu vil. Nain ich, herczen traut gespil. Ich mus warnen auf erarnen. Wy, wa und wenn? Wenst du das ich dir sy nenn? Ydoch ich dy Schelk erkenn. So vermeid dy falschen wicht! Lug mag ich verpiten nicht. Pös gesellen freud hinvellen. An all schuld ich kumer leid. Das gelük wil haben neid. So wil ich es wegen ring. Mich nert auch der selb geding. Des pin ich in herczen fro. Pist du stet ich pin also.

215

IV Ich wil euch warnen zwar sme var als ich sol,/ wann ich gan euch paiden gutes wol. mensch an sorg der hat nicht eer: yr sült euch besorgen ser! 5 sälikait hat klaffer mer denn unsäld wy man es kchert. wa das lib des liben gert, das hüt sich vor in,/ wenn ir pöser falscher sin/ 10 heket als dy slang./ merket wy ain giftig klaffer prang, so ym falsch gelingt,/ er singt/ esel sank! 15 wy das doch sein er ist krank, sein gedank hat doch hohen swank, das er wolt das mänklich wer pös und aller tugent 1er als er ist: 20 des freut sich sein falscher list.

216

Dagmar

IV Ich wil euch warnen zwar ane var als ich sol,/ wann ich gan euch paiden gutes wol. Gelaub yn nymer me so gancz! mensch an sorg der hat nicht eer: Erst merk ich den alefancz! yr sült euch besorgen ser! Frau, sy suchent pubenschancz. 5 sälikait hat klaffer mer Yn ist y mit laster wol. denn unsäld wy man es kchert. Sy sint aller schänden vol. wa das lib des liben gert, Pfuch der iungen falschen zungen! das hüt sich vor in,/ wenn ir Vaig ist yr leib. pöser falscher sin/ Ungelük yr säld vertreib! 10 heket als dy Amen, herczenlibstes weib! slang./ Menklich schrey das man sy pann! merket wy ain giftig klaffer prang, Smäch sy acht sy in der schrann! so im falsch gelingt,/ er singt/ Man sol zaigen auf dy vaigen! esel sank! Stürmen glokken, platz rumor! 15 wy das doch sein er ist krank, Mit yn aus für alle tor! sein gedank hat doch hohen swank, Das sy nyman yrren mer! das er wolt das mänklich wer Traut gesell, von hynne ker! pös und aller tugent 1er Wünsch mir gut nacht, fr au gemait! als er ist: Ich wünsch dir all sälikait. 20 des freut sich sein falscher list.

III Er Man wolt uns zwar verwerren gar. Sy Des hab ich kundlich genommen war.

5

10

15

20

Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy Er Sy

Hirschberg

JENS HAUSTEIN ( J e n a )

Walther in k

»Einmal im Jahre«, so fordert Hans Sachs in Richard Wagners >Meistersingern von Nürnbergs solle man »die Regeln« - gemeint sind die Regeln, nach denen ein Meisterlied abgefaßt zu sein hat - darauf hin prüfen, »ob in der Gewohnheit trägem Gleise / ihr' Kraft und Leben nicht sich verlier'«. Allerdings sollten dies nicht die Meistersinger selbst tun. Denn »ob ihr [die Meistersinger] der Natur noch seid auf rechter Spur, / das sagt euch nur, / wer nichts weiß von der Tabulatur.« 1 »Wer nichts weiß von der Tabulatur« - damit meint Sachs hier das »Volk«, das in der großen Schlußszene in Sachs sein Dichterideal verkörpert sieht, damit ist aber auch der unmittelbar an den Sachsschen Vorschlag auftretende Walther von Stolzing charakterisiert. Denn dieser hat tatsächlich keinerlei genauere Kenntnis der leges tabulaturae, meint freilich, sein eigenes Dichten sei über den herzbewegenden Anlaß seiner Liebe zu Eva hinaus durch die Schulung an einem Meistervorbild geadelt: »Am stillen Herd in Winterszeit, - / wann Burg und Hof mir eingeschneit, - / [...] ein altes Buch, vom Ahn vermacht, / gab das mir oft zu lesen: / Herr Walther von der Vogelweid', / der ist mein Meister gewesen.« Darauf Hans Sachs: »Ein guter Meister!« Dann Beckmesser: »Doch lang schon tot«. 2 Der Ausgang des dann anhebenden Sängerwettstreits ist bekannt: Mit Hilfe eines Sachsschen Schnellkurses in Meisterregeln, aber vor allem aufgrund eigener Begabung sowie des blamablen Versagens Beckmessers gewinnt Walther den Sängerpreis, die Hand Evas, muß sich freilich am Ende von Sachs Verachtung der Meister und ihrer Kunst vorwerfen lassen, der er doch sein Lebensglück verdankt. *

Die Wagnersche Figur des Hans Sachs ist im Hinblick auf ihr Dichtungsverständnis nicht so anachronistisch, wie man im ersten Augenblick vielleicht meinen könnte, 3 freilich in dem von ihr angestrebten Ausgleich von Natur und Kunst profilierter als ihr historisches Vorbild. Und noch in einem anderen Punkte ist Wagners Sicht nicht falsch und sogar äußerst geschickt in Handlung umgesetzt: im Verhältnis der Mei1

Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg. Texte, Materialien, Kommentare. Hrsg. von ATTILA CSAMPAI u n d DIETMAR HOLLAND. R e i n b e k 1981, S. 55.

2 3

Ebd. S. 57f. Sachsens Dichtungsverständnis verdient eine eigene Abhandlung; ich verweise nur auf das frühe Sachssche Lied >Ich / lob ein prünlein küle< (1517) in: The Early Meisterlieder of Hans Sachs. Hrsg. von FRANCES H. ELLIS. Bloomington 1974, S. 170f. (Nr. 35); vgl. auch Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von HORST BRUNNER und BURGHART WACHINGER. Tübingen 1986ff., Bd. 9, 2 S/55b. Zu Wagners Kenntnis von Sachsens Wetk s. CURT MEY: Der Meistergesang in Geschichte und Kunst. Leipzig 2 1901 und HORST BRUNNER: Spießbürgerechaft und produktiver Volksgeist. Gervinus und die Entstehung der »Meistersinger«. Bayreuther Festspiele 1982, Programmheft 4, S. 19-34.

218

Jens Haustein

stersinger - Sachs hier, bei Wagner, ausgenommen - zu Walther von der Vogelweide. Zwar gilt dieser im 15. und 16. Jahrhundert in den Katalogen oder auch der Literaturgeschichtsschreibung der Meistersinger als einer der Traditionsbegründer, aber unter den zwölf Gründerheroen keineswegs als ein besonders Hervorragender,4 und in der Literaturproduktion des schulmäßig organisierten Meistergesangs spielt sein Vorbild schon gar keine erkennbare Rolle. - Sachs: »Ein guter Meister!« Beckmesser: »Doch lang schon tot«. Die Überlieferung zeichnet ein vergleichbares Bild. Walther-Strophen, die als authentisch gelten können, sind nur in einer der Meistersingerhandschriften überliefert - in der Kolmarer.5 Von den mehr als 20 Spruchtönen Walthers sind im Meistergesang nur drei erhalten - der König-Friedrichs-Ton als Gespaltene Weise, der Wiener Hofton als Hof- oder Wendelweise und der Ottenton als Feine Weise. Und nur zu zwei authentischen Tönen sind Melodien (in Meistersingerhandschriften) aufgezeichnet worden: zum Wiener Hofton und zum Ottenton.6 Zugeschrieben sind Walther im Meistergesang ganze drei Töne: die zumeist Wolfram gehörende Goldene Weise7, der Lange Ton8 und der Kreuzton9. Nur um die Proportionen deutlich zu machen, führe ich zwei jüngere Beispiele an: Von Marners sieben Spruchtönen - vermutlich sind es sechs, eventuell sogar nur fünf10 - wurden drei Töne im Meistergesang verwendet, außerdem sind ihm acht zugeschrieben worden. Bei Frauenlob stehen den zehn alten Tönen sogar 23 jüngere Töne gegenüber. 4

5

6

7 8

9

10

Vgl. etwa Adam Puschmans >Schulkunst< in: Meistersang. Meisterlieder und Singschulzeugnisse. Hrsg. von B E B T NAGEL. Stuttgart 1977, S. 129 oder auch die beiden Kataloge von Nachtigall und Folz in: H O R S T BRUNNER: Dichter ohne Werk. In: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Fs. Kurt Ruh. Hrsg. von KONRAD K U N Z E u.a. Tübingen 1989, bes. S. 27. Die Meistersinger-Kataloge stehen in dieser Hinsicht offenbar in älterer Tradition, da auch in den Katalogen und Auflistungen Lupoid Hornburgs und Hermann Damens Waither nur ein Autor unter anderen ist; vgl. dazu NIKOLAUS HENKEL: Die zwölf alten Meister. Beobachtungen zur Entstehung des Katalogs. PBB 109 (1987), S. 375-389 und HUSMANN (S. Anm. 20), S. 241f. Wenn einer der zwölf besonders hervorgehoben wird, dann ist es Frauenlob (z.B. Johannes Spreng >Die zwelff Maister inn Augspurg*, Str. 1, in: NAGEL, S. 139f.). Offenbar liegen die Verhältnisse in den auf den Minnesang rekurrierenden Katalogstrophen anders (etwa Marner XIV, 18); dort ist Walther der erste der Meister. Diese als Meistersingerhandschrift zu bezeichnen, ist freilich nicht ganz unproblematisch, wohl aber doch durch den Charakter des größten Teils der Texte zu rechtfertigen; vgl. dazu B U R G 2 HART WACHINGER: Kolmarer Liederhandschrift. In: VL 5 ( 1 9 8 5 ) , bes. Sp. 36f. In k ist keine Melodie zur Gespaltenen Weise notiert, obwohl Notenlinien vorhanden sind. Zu den Melodien der Waither zugeschriebenen Töne s. HORST BRUNNER in: Waither von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Hrsg. von H O R S T BRUNNER, ULRICH MÜLLER, FRANZ V I K T O R SPECHTLER. Göppingen 1977 (Litterae 7), S. 59*ff. Vgl. Repertorium (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 488-491; der Ton wird auch Übergoldete Weise genannt. Vgl. BRUNNER in: Walther (s. Anm. 6), S. 67*; Repertorium (s. Anm. 3), Bd. 9, S. 118 (Lied von Hans Sachs vom 26.6.1529). Vgl. BRUNNER in: Waither (s. Anm. 6), S. 68*; Repertorium (s. Anm. 3), Bd. 9, S. 128 (Lied von Hans Sachs vom 1.1.1530). Vgl. ferner HORST BRUNNER: Die alten Meister. München 1975 (MTU 54), bes. S. 191f., 196f., 291-294 u. Reg. Zu den Melodien auch SIEGFRIED BEYSCHLAG: Formverwandlung in Walthers Spruchdichtung [...]. In: Fs. Hans Eggers. Hrsg. von H E R B E R T BACKES (PBB 94, 1972), S. 72&-744, bes. S. 730ff. Vgl. dazu JENS HAUSTEIN: Marner-Studien. Tübingen 1 9 9 5 (MTU 1 0 9 ) , S. 1 6 6 - 1 6 9 .

Walther in k

219

Es bestand also unter den Meistersingern offenbar kein besonderes Interesse an alten Walther-Strophen oder daran, in seinen Tönen zu dichten, oder gar eigene Töne dem alten Meister zuzuschreiben. Mit der nötigen Vorsicht wird man wohl einige Gründe für dieses Desinteresse an einem Autor, der uns als einer der bedeutendsten Lyriker gilt, angeben können. Einer, auf den HORST BRUNNER hingewiesen hat, ist ein formaler. Viele Walther-Töne werden den Meistersingern schlicht zu einfach und zu kurz gewesen sein - von den Frauenlob-Tönen ist bezeichnenderweise der Kurze Ton nicht weiter verwendet worden. 11 Außerdem weisen eine Reihe von ihnen nicht die für den Meistergesang obligatorische Kanzonenform auf. 12 Aber auch für eine inhaltliche Auseinandersetzung, für ein Fortdichten einer alten Strophe zu einem Lied, boten sich kaum Anknüpfungspunkte. Bekanntlich gibt es von Walther vergleichsweise wenige geistliche Strophen - von den geistlichen Marner-Strophen sind beispielsweise im Gegensatz zu seinen weltlichen beinahe alle weiter verwendet worden - und auch Walthers aktuell-politische Reichs- oder Anti-Papst-Strophen konnten nicht das ja allenfalls auf Probleme des Stadtregiments gerichtete öffentliche Interesse der Meistersinger erringen. Als dritter Grund dürfte hinzutreten, daß das Stilideal der Lyrik des 14. und frühen 15. Jahrhunderts durch das Vorbild Frauenlobs, seiner Jünger und auch seiner Gegner geprägt war und dieses bis in den Meistergesang gewirkt haben wird. Vor der Folie Frauenlobscher Dichtungen mußten die Walthers dann in der Tat als stilistisch überholt erscheinen.13 Bei dieser Walther-Abstinenz der Meistersinger ist es für unsere Einsicht in den Entwicklungsgang mittelalterlicher Lyrik, den literarisch produktiven Umgang der Meister des 14. und 15. Jahrhunderts mit der Tradition des 13., um so aufschlußreicher, sich mit dem einzigen Beispiel dafür, daß doch einmal Dichtungen Walthers aufgenommen, zu Liedern erweitert und ihm zudem jüngere Meisterlieder zugeschrieben wurden, zu beschäftigen - mit dem Walther-Corpus der Handschrift k. Es besteht aus insgesamt 35 Strophen in drei Tönen. 14 Der erste Ton, Waithers König-Friedrichs-Ton, umfaßt wohl vier alte und fünf jüngere Strophen; der zweite, der Wiener Hofton, ein jüngeres, fünfstrophiges Marienlied; der letzte der drei Töne, auf den ich zunächst eingehen werde, ist die von den Meistern so genannte Goldene Weise; sie besteht aus 21 Strophen. 15 Den Ton eröffnet ein zwölfstrophiges Lied, das, wie ich für sehr wahrscheinlich halte, aus einem ursprünglich dreistrophigen, an Gott und die Trinität gerichteten Gebetslied (Str. 1-3), einem sechsstrophigen Marienpreis (Str. 4-9) sowie einem dreistrophigen Gottes- bzw. Trinitätslob (Str. 10-12) entstanden ist. 16 Strophe 7-9 11

V g l . B R U N N E R (S. A n m . 9 ) , S . 7 u n d A n m . 2 3 .

12

BRUNNER, ebd.

13

Dazu HAUSTEIN (S. Anm. 10), S. 250-253. Vgl. dazu Meisterlieder der Kolmarer Handschrift. Hrsg. von K A R L B A R T S C H . Stuttgart 1862 (BLV 68), Nr. 83-85 (S. 74f.). Die Texte sind über das in Anm. 6 genannte Faksimile zugänglich. Es ist mehrfach versucht worden, die in k erhaltene Melodie als echte Walther-Melodie zu erweisen. Da sie zu keinem der Spruchtöne paßt, ist sie sogar Minneliedern (L 96,29 und L 88,9) unterlegt worden. Daß dies aus mehreren Gründen nicht angeht, hat BRUNNER, Walther (s. Anm. 6), S. 65*-67* gezeigt. Vgl. dazu Repertorium (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 488f. ^WaltV/ 24/2a).

14

16

16

220

Jens Haustein

zeigen in ihrer Metaphorik deutliche Anleihen bei Frauenlobs >MarienleicheinfacheMarienleich< zeigen. Wolframsche Töne gehen dem Walther-Corpus voran und folgen ihm; das Walther-Corpus könnte also in das Wolframs »eingeschoben« sein; vgl. dazu weiter HEINRICH H U S M A N N : Aufbau und Entstehung des cgm 4997 (Kolmarer Liederhandschrift). DVjs 34 (i960), S. 189-243, bes. S. 232f.

Walther in k

221

zum andern darin, daß ihm ein Lied nachgestellt ist, in dem menschliche Falschheit als innerweltliche Nachfolgerin des betrügerischen Schlangenwortes im Paradies erscheint. Der Redaktor dokumentiert also in seinem Ordnungsbemühen ein reflektiertes Verständnis der untriuwe, die über die Frage hinaus, welche Bedeutung ihr für das Leben der Menschen in der Welt zukommt, vor allem mit Blick auf die Heilsgeschichte und die Frage nach dem Heil jedes einzelnen gesehen wird.

*

Der zweite der drei Töne umfaßt ein fünfstrophiges Marienlob in Form einer Auflistung v.a. alttestamentlicher Mariensiglen. Er ist metrisch mit Walthers Wiener Hofton21 identisch und scheint bei den Meistersingern unter dem Namen Hof- oder Wendelweise nur im 15. Jahrhundert verwendet worden zu sein. Uberliefert ist er jedenfalls nur in k, im Cgm 1019 (von 1455/60) - übrigens auch hier mit Strophen geistlicher Thematik in fast ausschließlich weltlicher Umgebung22 - sowie in einer von k indirekt abhängigen Handschrift.23 Einen Grund, warum der Ton Walthers in dieser Weise weitergelebt hat, vermag ich nicht zu erkennen. Der Hinweis auf die deutlich religiöse Färbung des Wiener Hoftons wird zur Erklärung kaum hinreichen. Verunklärt wird die Sachlage auch dadurch, daß der Ton in der meisterlichen Tradition des 13. Jahrhunderts verwendet wurde (Hardegger, Schulmeister von Esslingen), die Zuschreibung also nicht unmittelbar auf Walthersche Dichtungen zurückgehen muß. Aber über die Position des Tons innerhalb des Walther-Corpus wird man eine Vermutung anstellen dürfen. FRIEDER SCHANZE hat nämlich beobachtet, daß es in k mehrere Fälle gibt, in denen sich die Kenntnis des Redaktors vom unterschiedlichen Alter der Lieder in einer chronologischen Ordnung des jeweiligen Tons niedergeschlagen hat. 24 Und auch hier, im Walther-Corpus, scheint mir der Redaktor so verfahren zu sein. Unsere durch eine ganze Reihe von Zeugnissen gestützte Kenntnis von der Authentizität Waltherscher Strophen und Töne besagt ja: Der erste Ton ist alt und bietet nachweisbar ältere Strophen, der zweite ist ebenfalls authentisch, enthält aber keine Strophen des 13. Jahrhunderts, der dritte Ton ist weder alt, noch hat er Walther-Strophen. Und genau dieser Kenntnisstand entspricht also offenbar dem des Redaktors, der sein Wissen vom unterschiedlichen Alter der Töne in einer hierarchisierenden Anordnung des Walther-Corpus abbilden wollte.25 21 22

23

Literatur zum Ton und v.a. zur Melodie bei BRUNNER, Walther (s. Anm. 6), S. 65*. 2 FRIEDER SCHANZE: Meisterliederhandschriften. In: VL 6 (1987), Sp. 348 und FRIEDER SCHANZE: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983/1984 (MTU 82/83), Bd. 2, S. 135f. Dazu BRUNNER, Walther (s. Anm. 6), S. 62* mit weiterer Literatur; sowie Repertorium (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 471f.

24

SCHANZE (S. A n m . 2 2 ) , B d . 1, S. 72.

25

Auch aus diesem Grunde würde ich übrigens jedem Versuch, die Melodie der Goldenen Weise als echt zu erweisen, skeptisch gegenüberstehen.

222

Jena Haustein *

Die Gespaltene Weise, Walthers König-Friedrichs-Ton, verdankt ihren Namen der Form ABA. Die drei k-Lieder26 bestehen aus insgesamt neun Strophen: aus den nur hier überlieferten fünf wohl jüngeren Strophen 27 sowie drei auch aus dem 13. Jahrhundert erhaltenen Walther-Strophen und einer Strophe des Schulmeisters von Esslingen. Die beiden ersten alten - L 26,3 und L 30,9 - sind mehrfach überliefert: L 26,3 außer in k in A, B, C, Z (Münstersches Fragment) und w (Heiligenstädter Fragment), L 30,9 in B, C, Z und o (Berlin, mgf 284). Sie sind also, wenn man sich auf eine solch breite Zuweisung durch die Handschriften verlassen will, von Walther. Gegen ihre Authentizität wurden bislang auch keine Bedenken erhoben. Anders steht dies mit L 30,19. Nicht nur, daß die Strophe außer in k nur in B überliefert ist, der Spruch hat auch - wie CARL VON KRAUS meinte - »wenig Gedanken bei viel Worten« 28 , sei überhaupt in vielem »reichlich ungeschickt und unklar«. Diesem literarästhet i s c h e n U r t e i l v o n C A R L VON KRAUS s t e h t d a s FRIEDRICH MAURERS e n t g e g e n ,

das stärker auf die Bauweise der Strophe gegründet ist. MAURER beurteilt L 30,19 in dieser Hinsicht als »untadelig« und damit als echt29 - eine Auffassung, der sich HALBACH bestätigend angeschlossen hat. 30 MAURERS konzentrierter Blick auf die Bauweise prädisponiert auch sein Urteil über die literarische Qualität und gedankliche Stringenz der Strophe; er beurteilt sie - zusammen mit den anderen »echten« - als »wundervoll sprachlich gefugt und gedanklich klar gegliedert« (S. 86). 31 Um in der leidigen Echtheitsfrage Stellung zu beziehen: Weder glaube ich, daß man mit literarästhetischen Gründen die >Echtheit< einer Strophe beweisen kann dies grundsätzlich nicht - noch auch ihre >UnechtheitKaiserchronikWälschen GastRitter Ulrich< (BÖHME [S. Anm. 4], Nr. 13a) und der des überaus weitverbreiteten >Bremberger< (BÖHME Nr. 23a). 23 Die Verse sind meist vierhebig mit Auftakt, das erste Verspaar hat männlich volle, das zweite klingende Kadenz. Allerdings ist die Aufzeichnung des Textes insgesamt formal so verwildert, daß ein sehr widersprüchlicher Eindruck entsteht, da die recht aufwendige metrische Struktur scharf mit der tatsächlichen Durchführung kontrastiert: Stellenweise scheint der Text in Prosa überzugehen und ist dann wohl kaum mehr singbar, so in den Versen 1 und 2 von Strophe VI und den Versen 3 und 4 von Strophe VIII, ähnlich auch in XII,2; XIV,1. Der Satzbau ist durchweg einfach, in der Regel entspricht - auch in den Passagen mit wörtlicher Rede - ein Vers einem Hauptsatz. In den Strophen I-XXVIII gibt der Dichter keine Hinweise auf seine Person oder Stellung, es wird aber deutlich, daß er aus eigenem Erleben berichtet, da z.B. die Absichten des Königs oder Pläne der Gegner in wörtlicher Rede gehalten sind oder von den Sorgen und Tränen der Königin Kunde gegeben wird. Mit dem Tod des Königs verliert der Hofdichter seine Autorität, es wird notwendig, für sich zu werben - dazu muß nun auch der Name genannt werden. 21

LEXER (S. A n m . 7 ) , B d . II, Sp. 4 8 1 .

22

Nhd. würde man wohl sagen: »jemanden die Pest an den Hals wünschen«. Die Aufzeichnimg des »Ritter Ulrich< ist jünger als die des Dompnig-Liedes, es wurde erstmals 1555 in Nürnberg gedruckt, vgl. BÖHME (S. Anm. 4), S. 58. Das Lied ist ebenfalls paargereimt, die Verse sind meist vierhebig, allerdings wird die beschwerte Hebung im letzten Takt des jeweils zweiten Verspaares nicht in allen Strophen durchgeführt. Das >HerzmäreBremberger-Lied< erzählt. Seine Hauptblütezeit scheint im 16. Jahrhundert gleichermaßen in Ober- und Niederdeutschland gewesen zu sein, eine »Volksmelodie aus dem 16. Jahrhundert hat sich leider nicht erhalten«, vgl.

23

BÖHME S . 9 2 .

269

Leonhard Assenheimer und Heinz Dompnig

Das Dompnig-Lied enthält ebenfalls stereotype Elemente historischer Lieder, so vor allem mit der Suggestivfrage des Anfangsverses (Willst du/ wollt ihr ein neues Lied/ Gedicht/ eine neue Geschichte hören? 24 ). Aber auch das Reimpaar gedieht/ (aus)-gericht ist für dieses Genre nicht eben originell25. Weitere stereotype Wendungen mit Sprichwortcharakter sind auch »es kann und darf nicht anders sein« (IX,2; XI,2); »bis an den dritten Tag« (XII,1). Die drei Schlußverse in Strophe XIV erscheinen in veränderter Reihenfolge auch in einem anderen Lied (BÖHME [s. Anm. 4], Nr. 89, >Die junge MarkgräfinVom Zittauer KuhraubDompnig< (s.o. S. 261) genannten stilistischen Entsprechungen mit LILIENCRON (S. Anm. 1), Nr. 118 »Hammen von Reistett< und Nr. 123b »Von Niclas Muffels Tod< sollen nicht unerwähnt bleiben. Allerdings sind beide Lieder wesentlich älter (Ereignisse von 1466 bzw. 1469) und stammen aus dem oberdeutschen Raum (Ulm bzw. Nürnberg). LILIENCRON (S. Anm. 1 ) , Nr. 1 9 1 . 2 1 Strophen mit je vier Versen, paargereimt, 4 - 5 Hebungen, beschwerte Hebung im zweiten Verspaar, wörtliche Rede in Strophe V, VIII, XI, XV, XVI. Die Handlung wird ihrer zeitlichen Reihenfolge nach in einfachen Sätzen berichtet, und zwar zunächst die Aktivitäten der Görlitzer, dann die der Zittauer: An einem dinstag das geschach daz man die Görlitzen aufziehen sach. An einer mittwoch das geschach da man die Sitter aufziehen sach,

(II,lf.) bzw.

(XVI,lf.).

270

Gunhild Roth

Wolt ir hören ein neu gedieht Annales FYobeniiAnnales FrobeniiEidPalästinaliedLivländische ReimchronikRolandsliedIdsteiner Sprüchereine wipreine frouwe< in der Lyrik des 13.Jahrhunderts dargestellt an C. v. KRAUS (Hg.) »Deutsche Liederdichter des 13.Jahrhunderts« (GRESCHNER). Für die freundliche Genehmigung, aus den Ergebnissen dieser Arbeit zu zitieren, sei auch hier gedankt. 1 Belege z.B. bei ULRICH MÜLLER: Kreuzzugsdichtung. Tübingen 1969: jeweils Nr. 72: 167,18; Nr. 67:1,3; Nr. 71: IV,8; Nr. 79: 540; Nr. 27:1,2; Nr. 29:11,5. 2

3

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MÜLLER K r e u z z u g s d i c h t u n g : N r . 13: 77.

FRIEDRICH MAURER: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12.Jahrhunderts. 3 Bände. Tübingen 1965: Nr. 2: 2,1. In der Lyrik des 13. Jahrhunderts liegen jeweils 90 und 18 Belege vor (GRESCHNER [S. Anm. *], s y s t e m a t i s c h e E p i t h e t a r L i s t e n S. 120-170; »rein« S. 146-151).

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Richard F.M. Byrn

Gebrauch des Worts »pure« in nicht-sakralen Kontexten zu verdächtigen ist. Ganze Generationen von D'Oyley Carte-Operettenbesuchern kennen z.B. die Gestalt des angeberischen jungen Ästheten, der liebevoll eine Lilie »in his medieval hand« hält, und der meint, daß der Vorbeiziehende von ihm sagt: »If he's content with a vegetable love which would certainly not suit me, Why, what a most particularly pure young man this pure young man must be!«5 Im Deutschen ist es wohl kaum anders mit dem Wort »rein«. W A H R I G S Deutsches Wörterbuch (1980) führt noch als »sprichwörtlich« das Pauluswort an: »Dem Reinen ist alles rein«. D U D E N S Stilwörterbuch vom Jahre 1956 erwähnt diesen Gebrauch ebenfalls noch, aber nur als »biblisch«, und in der Ausgabe von 1970 erscheint er leicht abgewandelt: »Redensart: dem Reinen ist alles rein«. In D U D E N S Großem Wörterbuch der deutschen Sprache (1980) ist dagegen gar keine etwaige Anwendung auf Menschen bezeugt. Hier wird einzig unter »Magd« der Beleg »Maria, die reine Magd (christliche Religion)« angeführt. In vollem Gegensatz dazu wird das Wort reine in der mittelhochdeutschen Dichtersprache an angemessener Stelle auf Menschen bezogen, und es hört sich nicht ironisch an. Wie ist es nun in den verschiedenen Kontexten zu verstehen? In diesem Beitrag werden einige Lösungen aus der Sicht des Englischsprechenden geboten, mit Ubersetzungsvorschlägen.

Methodik Um sich des Ausmaßes der Nuancen des Begriffs »rein« zu vergegenwärtigen, muß man sich an G R I M M S Deutsches Wörterbuch wenden. Bald stellt sich aber heraus, daß im Artikel über das Adjektiv/Adverb »rein« die Begriffsbestimmungen so weitläufig subtil differenziert sind, mit einer Fülle von Belegen aus verschiedenen Jahrhunderten, daß im Hinblick auf unsere Untersuchung gewisse Vorbehalte unweigerlich auftreten. Der Artikel erstreckt sich über 19 Spalten, mit zehn Hauptparagraphen, wobei allein §1: »rein im eigentlichen sinne von körperlichem« siebenfach unterteilt, und §2: »besondere beispiele freierer anwendung von l,a und b« zehnfach unterteilt wird, mit zwei weiteren Nebenparagraphen zum technischen und symbolischen Gebrauch des Worts jeweils dreifach untergliedert. Und bei diesem Reichtum von Nuancen will es nicht sofort einleuchten, warum der Goethe-Beleg: »an dem reinsten frühlingsmorgen« unter den Begriffsbestimmungen »1 a) 7): im eigentlichen sinne von körperlichem, frei von fremdartiger beimischung [...] freier gewendet« gereiht wird, und nicht etwa unter: »2 c) vom licht, den färben, den tönen, dem geruch: unvermischt, ungetrübt, von einfacher Wesenheit.« Ähnliche Bedenken tauchen bei der Interpretation von Stellen aus der mittelalterlichen Dichtung auf, wie etwa bei der Aufführung zweier Belege in der gleichen Spalte »1 a) a): rein im eigentlichen sinne von körperlichem [...] reines wasser«, von denen der eine, aus dem >Iwein< stammend, nicht anzufechten ist: kalt unde vil reine /ist der selbe brunne (568); der andere aber, welcher der Schluß von Walthers erstem Preislied ist, überzeugt nicht: 5

W . S. GILBERT, >Patience, or Bunthorpe's Bridefrei von fremdartigem, das entweder auf der Oberfläche haftet oder dem stoffe beigemischt ist, die eigenart trübendungetrübt, hell, klarPhysiologus< 69,1 (Engl.: in the pure water). Gold: wie zierliche dei gadem elliu den ze minnen /mit dem reinen golde sint gemuoset unde gesmelzet, MRD: 14. >Vom Himmelreich< 7,11 (Engl.: with pure gold). Ein drittes »Konkretum« - reine Salbe - kann auch als »pure« bezeichnet werden, da aber in diesem Beispiel reine adverbial benutzt wird, ziehen wir »untouched« vor: Salbe: ave daz wip, di du sihest unde si sundich haizest, /diu brahte ir salben reine gehalden. /si salbete mine fuoze, MRD: 41. Frau Ava, >Leben Jesu< 84,3 (Engl.: her ointment, kept untouched). Auch als konkret betrachten wir Walthers stinkenden Atem. Nachdem dieser - und dazu sein Singen - dank des Königs Gunst wieder gereinigt wurde, sind Atem und Sang auf Englisch als »made sweet again« zu bezeichnen: Atem: ich was so voller scheltens daz min atem stanc: /daz hat der künec gemachet reine, und dar zuo minen sanc. ( M A U P 11,10) (L 29,3) (Engl.: made ... my breath sweet). 12

Die private Belegsammlung ist nach grammatikalischer Funktion aufgegliedert: Adjektiv/Adverb: reine; unreine; Substantiv: reine, reinecheit; unreine; Verbum: reinen. Insgesamt liegen aus MRD über 100 Belege vor. Der Befund GAUPPS: »Mhd. reine spielt bis etwa 1220 kaum eine Rolle und wird erst um 1250 beliebt« (OTTO GAUPP: Zur Geschichte des Worts »rein« Diss.Tübingen 1920, zitiert in FRIEDRICH KLUGE: Etymologisches Wörterbuch. 19.Aufl. Berlin 1963, S. 593) ist freilich als relativierendes Ergebnis zu verstehen, aber angesichts des für diesen Beitrag gesammelten Materials kann es auch nur so verstanden werden.

Zum Begriffsfeld »rein« im religiösen Lied

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Die Anwendung des Worts in den folgenden drei Kontexten ist ein unstrittiges Beispiel des bei G R I M M § 2 k definierten Begriffs: »symbolisch rein, besonders nach rituellen Satzungen, im gegensatz zu unrein, dessen berührung befleckt, so häufig in der deutschen bibelübersetzung, in bezug auf das jüdische ritualgesetz.« Die entsprechende adjektivische Wendung im Englischen ist: »unclean« oder »impure«, und das Verbum: »to purify« oder »to cleanse«: Tempel: er sprach, daz iz ware ein hol der scachasre. / du hiez er iz reinen, MRD: 41. Frau Ava, >Leben Jesu< 110,5 (Engl.: He then commanded it be purified). Vogel: Diu Fulica ist ein unreiner vogel, si ist ze frume niht ze loben. /dem vogel der ist gelich, der enwedir ist geloubich noch ungeloubich. MRD: 4. >Physiologus< 51,1 (ähnlich: der Caradrius 168,1) (Engl.: an unclean bird) Ahnlich: MRD: 28. >Vom himmlischen Jerusalem< 14 Faß: Der tievel nimet die sele, vil lute ruofet siu mere: /»so we mir, daz ich ie besaz diz vil unreine vaz. /nu hastu mich verraten, joch was ich gotes atem, MRD: 33. >Visio S.Pauli< 3 (Engl.: this most unclean vessel). In den Belegen den lichnamen reine und daz here lant vil reine kann reine unmöglich mit »pure« übersetzt werden: hier sind wir unausweichlich auf das Vokabular des Sakralen angewiesen - englisch »sacred« oder »holy«: Leichnam: do cham der engel von himele, / er prahte da zesamene / den lichnamen reine, ¡daz heilige gepeine. MRD: 47. >Legende von der hl. Juliana< 49,9 (Engl.: her sacred body). Das Heilige Land: ez ist wol kunt uns allen /wie jamerlich ez stät, /daz here lant vil reine (L 78,12) / gar helfelos und eine, /Jerusalem, nu weine, /wie din vergezzen ist! M A U R 3: 4,9 Waither, >Kreuzlied< (Engl.: that noble land most holy). Schließlich fallt in diese Gruppe aus dem Minnesang auch das poetische Bild für die Minnedame, das Ulrich von Winterstetten mehrmals, aber auch der Schenk von Limburg, Reinmar von Brennenberg und Wenzel von Böhmen gebrauchen: reine fruht. Hier besteht das Übersetzerproblem eher im Bild der »Frucht« als im Adjektiv »rein«; es ist wohl dem Epitheton für Marias heiliges Kind nachgeformt, also verstehen wir das Bild im Sinne von »pure creature.« Wenn da eine Genitivbildung denkbar ist, dann »creature of purity«: reine Frucht: Minne, nu scheide /mich von sender arebeit /die min herze treit. /ach, reine fruht, daz verkere! /wiplich zuht an mir ere! KLD: 59.Uolrich von Winterstetten, Lied I: 3,6 (Engl.: pure creature).

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Gruppe b: Abstrakta Unter den »Abstrakta« führen wir an erster Stelle eine Reihe von Belegen aus Heinrich von Melk und aus dem Armen Hartmann an; zunächst drei Substantive: reinecheit einmal im Sinne von »Keuschheit« und ein anderes Mal als Epitheton für das Christentum; dann das Substantiv unreine, das die verwerfliche Lebensweise der jungen Maria Egiptiaca bezeichnet; hier ist es entweder als Synonym für »Unkeuschheit« zu verstehen oder als affektbeladene Mißbilligung, etwa »Sauerei«: als Übersetzung ziehen wir letztere vor: »filthiness«.13 Falls aber hier dieses Substantiv den affektiv relativ neutralen Sinn »Unkeuschheit« hat, dann müssen wir bemerken, daß als Synonym für unreine weder bei BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE noch bei LEXER »Unkeuschheit« steht. 14 Keuschheit und Heiligkeit: bediu, unzuht und heilicheit, unchiusce unt reinecheit, ¡die sint niht wol ensamt. MRD: 52. Heinrich von Melk, >Von dem gemeinem Leben< 5,21 (Engl.: immorality and holiness, unchastity and purity). Christentum: des hilfit in di reinicheit der heiligen cristenheit, /di da wol gefundit stetit an des heiligen Cristes uiarheit. MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 191,9 (Engl.: the purity of holy Christianity). Lebensweise: In sweleche stat, so si quam, selbe bat si diu man ¡der unreinen jure di man heizet hure. /mit ir was die hur also groz, biz is di jungelinge verdroz, daz si mit ir heten diheine gemeine durh ir unreine. MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< (von Maria Egiptiaca) 135,2 (Engl.: that filthy way of life called whoring ... because of her filthiness). Auch Walther gebraucht den Begriff unreine - um sich selbst zu beschreiben. In diesem Kontext verstehen wir das Wort etwas allgemeiner als beim Armen Hartmann: also »sinfulness«: Sündhaftigkeit: Mach e mich reine, e min unreine /versenke mich in daz verlorne tal. MAUR 6: 4,5 (L 123,39) (Engl.: Cleanse me first, before my sinfulness drags me to perdition). Nun weitere drei Belege des Adjektivs im Negativen, »unrein«: Geist der Unreinheit: unde waren ouch coucheieren, daz konde si wol geleren /Crist ir meister: mit dem unreinen geiste /waren si al besezzen: MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 83,6 (Engl.: with the spirit of uncleanness). 13

14

Dieses englische Wort läßt sofort an das mittelenglische Gedicht >Purety< (auch >Cleannesse< genannt) denken, das gerade unseren Stoff behandelt, und wo das Gegenteil von purety vornehmlich als »fylthe« bezeichnet wird. In der mittelenglischen Tradition war eben »cleannesse« ein Attribut der Gottheit. BMZ: unreine stf.: Unreinheit, mit einem Beleg aus >BarlaamRede vom Glauben< 112,5 (ähnlich 176,6) (Engl.: sins of impurity). Die Messe: swenne der briester so missevert, ¡so sprechent si, sin misse si unreine. MRD: 52. Heinrich von Melk, >Priesterleben< 13,4f (Engl.: his Mass is impure). Nun eine Reihe von Belegen im Positiven (Adjektiv und Verbum): Opfer/Messe: Also brenget di prister, vater unde meister, /daz opfer also reine vor di werlt algemeine / daz Crist selbe brahte MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 67,1 (ähnlich 74,1) (Engl.: the sacrifice so pure). Gemeinschaft des Hl. Geists: Ich gloube an den heiligen geist der gelibhaftegit aller meist, /geheiligit unde gereinet, swa so er mite gemeinet, /wände sin gemeine diu ist also reine. MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 97,1 (Engl.: sanctified and purified ... for his fellowship is so pure). Gedanken: du habis ni so reinen gedanc, claffis du fila, er wird cranc. (Gregorius) MRD: 2. >Idsteiner Sprüche der Väter< 2,2 (Engl.: thoughts so pure). Gewissen: So chumt uns daz gewizzede, daz temperot unser nezzene, /swa si von gote geflozen ist: vil wol gerainet si Crist. MRD: 41. Frau Ava, >Leben Jesu< 21,3 (Engl.: Christ purifies it completely). Herz: so beginnen wir in minnen mit liehteme sinne; /so haben wir daz lutere gewizede, daz ist daz reine herze. MRD: 41. Frau Ava, >Leben Jesu< 219,3 (Engl.: that is to say a pure heart). Lohn der Minne: Wil iemen nach eren die zit wol vertriben, /ze seslden sich keren, bi fröiden beliben, /der diene ze flize mit triuwen vil schöne /nach der minne lone: der ist süeze, reine, /vil guot und aleine den guoten gemeine. KLD: 58. Uolrich von Lichtenstein XVI,1,1 (Engl.: for love's reward is sweet, pure). Aus den mehr als 40 Belegen von reine bei Walther listen wir nur noch folgende fünf auf: Rot und Weiß: Got hat ir wengel hohen fliz, /er streich so tiure varwe dar, reine rot, so reine wiz, / hie roeseloht, dort liljenvar.

/so

MAUL 66:3,1 (L 53,37) (Engl.: so pure a red, so pure a white).

Minne: Tugent und reine minne, lant, da ist wünne vil.

/swer die suochen wil, /der sol komen in unser

MAUL 49:5,5 (L 57,11) (Engl.: pure love).

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Lehre und Werke: nu seht ir was der pfaffen were und was ir lere st. / E do was ir lere bi den werken reine, / n u sint si aber anders so gemeine, MAUP 10:13,4 (L 34,27) (Engl.: their teaching and their works were once beyond reproach). Weibliche Weisheit: Ja hat dich vil wol behuot /der vil reine wibes list ¡der guot wip behüeten sol. MAUL 52:4,1 (L 97,27) (Engl.: woman's pure guileless wisdom). Sitten: waz ist den fröiden ouch gelich, /da liebez herze in triuwen stat, /in schoene, in kitische, in reinen siten? MAUL 74:3,7 (L 93,3) (Engl.: faultless manners).

Diesen Liedbeispielen fügen wir schließlich zwei Belege aus der erzählenden Dichtung hinzu: Wörter: Wie lüter und wie reine /siniu cristallinen wörtelin /beidiu sint und iemer müezen sin. Gottfried, >Tristan< 4628f. (Engl.: his simple words - how crystal clear and pure they are and ever shall remain!). Reime: Von Veldeke der wise man / der reiner rime aller erst began. Rudolf von Ems (zit. in MRD Bd I, S. 3) (Eng: pure rhymes). Mit Ausnahme von Walthers »Lehre und Werke« und »reine Sitten« schlagen wir bei allen diesen Belegen im Positiven keine andere Ubersetzung als »pure« vor. Gruppe c: Gott, Christus, S. Maria; Frauengestalten aus Bibel und Legende; die Minnedame Belege für Gott-Vater 15 , Christus und die Hl. Maria wie auch für reine wibe gibt es viele. Von diesen führen wir nur wenige repräsentative Belege an. Dafür geben wir eine ganze Strophe aus Reinmar dem Fiedler, wo die Sancta Maria und reine wibe nebeneinander gepriesen werden, mit gereimtem Nachdichtungsversuch: Gott: so sprichet ouch Zacharias in dem geslahte Davidis: reine daz horn unsirs heiles;« (Einhorn) MRD: 4. >Physiologus< 30,5 (Engl.: God most pure).

/»irchuchet got der

Christus u. Menscheit: Hie liez er sich reine toufen, / daz der mensch reine si. MAUR 2: 3,lf. (L 15,13) Walther, >Palästina-Lied< (Engl.: Here, pure man, he was baptised so that mankind, too, might be pure). S. Maria: Nu biut für uns dine hende, /reiniu muoter unde maget /dime sun, ... Hawart (MÜLLER 75) IV,1 (Engl.: pure mother and maid). 15

G R I M M : »reiner got, dem mittelalter geläufig, klingt uns fremdartig« (Deutsches Wörterbuch VIII, Sp. 695). Einen Beleg etwa der reine geist fanden wir nicht.

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S. Maria und reiniu wip: KLD: 45. Reimar der Fiedler 111,2, Iff. Daz erste wip dem ersten man den ersten schaden riet, da von got vil menege sele von dem paradise schiet. dirr itewiz der wirret guoten reinen wiben niht. wip unde wip, gelicher name, vil ungelichez leben, der werlde heil uns einiu nam, daz habt uns einiu wider geben, ein engel unde ein reine wip sint wol in einer pfliht. vil reiniu muoter unde magt, diu uns von Even stricke nam, din wirdikeit behüete uns noch diu reinen wip. so gewinnet wegescheiden hie der zweier lip; die guoten dort, die übelen hie, die sint den beiden gram. The first harm to the first man by the first woman was done, and thus for so many souls Heaven's exile was begun, but chaste good women never need be troubled by this shame. Woman, yes, and woman - selfsame name but a different way: the one restored Salvation which the other had tempted away; Angels and chaste women are in truth both one and the same. From Eve's toils you rescued us, purest Mother and Maid; may your great virtue save all chaste women for us still; thus they will ever learn their separate ways to fulfil: the good there, the wicked here, whilst Sin is being repaid. S. Maria und S. Elisabeth: in ein hus da inne was daz wip Zacharias. /da woneten di guoten, di reinisten muoter, /unze got wolde, daz Elizabet gebern solde. MRD: 40. Frau Ava, >Johannes< 10,5 (Engl.: the purest of mothers). Aus letzterem fällt liebenswürdig auf, daß die für die S. Maria sonst normative Bezeichnung »reine Mutter« auch auf die hl. Elisabeth bezogen wird. In dieser dritten Gruppe wird auch das >PhysiologusPhysiologus< 28,3 (Engl.: the pure virgin). Maria Magdalena: Do irskein der unser herro Me Magdalene, /der grozen sundarei ime mit ir drenen /twuoc sine vuz wurden iro verlazen /di manege misse, di su gefrumet hada /mit werltic minne, er hiz si wesen reine. MRD: 25. >Friedberger Christ< 20 (Engl.: he commanded her to be chaste). Maria Magdalena: Lob dir herre heiliger Crist daz du also gnRede vom Glauben< 122,1 (Engl.: then you purified her from them).

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Maria Egiptiaca: Diz tete got alliz ze eren sinen dieneren, /... der begunde si da reinen /von aller ire missetat, ire sele der wart gut rat: MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 139,1 (Engl.: there he purified her). Von den folgenden zwei Belegen zur Minnedame ist der aus dem Lied Reinmars von Brennenberg bei allem Glanz doch konventionell; der Neidhartsche dient zum Kontrast: Minnedame: si reine, bezzer danne guot, /si sundertrût, si mannes zart, si kröne ob allen frouwen, KLD: 44.Reimar von Brennenberg IV,7,5f. (Engl.: pure as she is, better than good). Minnedame/Frau Welt: si lit in einer lachen, /daz si niemen âne got /reine kan gemachen. Neidhart WL 28,V,5 (Engl.: from which God alone can purify her). Bei den Belegen in dieser dritten Gruppe gilt das Übersetzerproblem vor allem der Wahl zwischen »pure« und »chaste«. Für die Gottheit und für die S. Maria ist »pure« selbstverständlich, da diese ja von vornherein Inbegriff der Reinheit sind, aber bei anderen Frauen ziehen wir den wohl veraltet wirkenden, etwas unbequemen Begriff »chaste« vor, wobei im Englischen wie im Deutschen unklar bleibt, ob die Bezeichnung »chaste«/»keusch« wörtlich: »ohne sexuelle Erfahrung« zu verstehen ist, oder im allgemeineren Sinne des »Vernünftighandelns« - etwa im Sinne B E N E C K E MÜLLER-ZARNCKEs Erklärung für mhd. kiusche, wo an erster Stelle steht: »vernünftiger Überlegung, nicht blindem triebe folgend; in der älteren spräche bezieht sich kiusche keineswegs ausschließlich auf den geschlechtstrieb. a) enthaltsam, der nicht heiratet ist kiusche. b) ruhig, sanftmütig.« Ohne Kommentar gibt Lexer als erste Begriffsbestimmung für kiusche: »keusch, rein, unschuldig, sittsam, schamhaft.« subsection*Gruppe d: Andere Menschen/Männer Das gleiche Übersetzer- bzw. Interpretationsproblem zeigt sich in der vierten Gruppe bei der Bezeichnung reine für Männer. Daß es doch wörtlich im Sinne des religiösen casiiias-Gelübdes verstanden werden kann, sieht man aus den Belegen, wo reine und kiusche als Doppelbezeichnung vorkommen, und auch als positiven Gegenwert zum eindeutig negativen Begriff der unreine.16 Die Deutung des Begriffs »rein« = »jungfräulich« wird bei G R I M M § 3 b) behandelt: »rein in bezug auf das geschlechtliche leben, in reichster entfaltung. häufig rein und keusch verbunden. [...] rein im sinne von jungfräulich, [ . . . ] « G R I M M S erster Beleg dafür ist die zuversichtliche Behauptung des Mädchens im »Armen Heinriche ich wil mich alsus reine /antwürten in gotes gewalt (698f). 16

Ubersetzung von Hartmann Dem kriuze zimt wol reiner muot und kiusche site: »Dem Kreuz ist zu Recht makellose Gesinnung angemessen und lauteres Verhalten«, ist höchst relevant [s.o. S. 84]. Hier ist wohl neuhochdeutsch »keusch« nicht akzeptabel. Englisch schlagen wir dagegen vor: »The Cross requires a pure heart and chaste behaviour«. CHRISTA O R T M A N N S

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Als Parallelbeleg dazu führen wir Heinrich von Melks Beschreibung des Hl. Paulus an: S. Paulus: zwar er was ein reine maget MRD: 52. Heinrich von Melk, >Priesterleben< 8,11 (Engl.: he was indeed a pure virgin). Frau Avas Beschreibung des Hl. Joseph ist auch sehr wahrscheinlich im gleichen Sinn zu verstehen. Wo wir aber die Paulus-Beschreibung direkt übersetzen: »he was indeed a pure virgin«, lassen wir die Joseph-Beschreibung im allgemeineren Sinn verstehen: »free of sin«. S. Joseph: Gabriel der angelus der erscein in dem hus. /Do hete got einen alten vil reinen gehalten, ¡ze helfen der magede, MRD: 41. Frau Ava, >Leben Jesu< 2,5 (Engl.: There God had kept an old man quite free of sin). Für den Teufel als »unreiner Mist« und für die Reinen im Sinne von: »die Heiligen«, führen wir Belege jeweils aus der >Legende von der hl. Juliana< und aus dem >Himmlischen Jerusalem< an: Der Teufel: si sprach: »daz dir we werde, /du unreiner mist, /wie mannichfalt tin gewalt ist.« MRD: 47. >Legende von der hl. Juliana< 23,8 (Engl.: you filthy scum). Die Heiligen: Nu sule wir beginnen ... ein rede diuten jouch besten von dere himeliscen Jerusalem, /diu gezimberet ist den reinen uz den lemtigen steinen, /die Johannes sah, ... MRD: 28. >Vom himmlischen Jerusalem< 1 (Engl.: for the Saints). Für die Verbindung »keusch und rein« geben wir vier Belege: Der keusche Mensch: Reines menscen cusce muot swiginde seidin ubil duot. (Gregorius) MRD: 2. >Idsteiner Sprüche der Väter< 2,1 (Engl.: a pure man's chaste spirit). Der demütige Mensch: Der selbe stain [Calcedonius] pizeichinot, swer sin herze unte sin muot /unte alle sine liste ze gote cheret faste. ... /der ist tunchel inme hus, swen er aver chumet uz, ... /diu werlt sihit algemeine, ob er chiusce ist unt reine. MRD: 28. >Vom himmlischen Jerusalem< 13 (Engl.: if he is chaste and pure). Der Laie: ja sol er den lip twingen, /daz er werde chiusc unt reine. MRD: 52. Heinrich von Melk, >Priesterleben< 17,16f. (Engl.: chaste and pure). Kreuzfahrer: si waren helde uil gvot, /der keiser was mit in wol behuot. /si waren kuske unt reine. (MÜLLER 13), >Rolandslied< 75f. (Engl.: they were chaste and pure).

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Zum Schluß drei Belege zum sündigen Menschen aus Frau Ava und dem Armen Hartmann: Der sündige Mensch: sinen besemen sol er bringen, /damite er sich reine. MRD: 43. Frau Ava, >Jüngstes Gerichte 23,2f. (Engl.: with which to purify himself). Der sündige Mensch: wände di heiligen gotis wort /di machent uns gote gemeine von unsen sunden reine. MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 68,2 (Engl.: cleanse us of our sins). Der sündige Mensch: du bist dem menscen freislich unde nimes ime den ewigen lip. /mit den du gemeinis, ingegen got du si unreinis. MRD: 46. Armer Hartmann, >Rede vom Glauben< 152,3 (Engl.: towards God you are impure). Daß das Wort reine nicht immer vorkommt, wo man es eventuell erwartet hätte, soll schließlich auch bemerkt werden. Es kommt schon in den beiden Mariensequenzen >aus Muri< und >aus St. Lambrecht und im >Arnsteiner Marienleich< vor, dagegen weder im >Vorauer Marienloh noch im >Melker MarienliedLied von Christi Geburt< wird die Sancta Maria nur als die maget vröne bezeichnet. Fazit: Englische Übersetzungsvorschläge: (Adj./Adv.) reine: pure, holy, sacred, chaste, free from sin, beyond reproach; untouched, sweet;17 unreine: unclean, impure, filthy. (Subst.) reine, reinecheit: purity, chastity, cleanness; die reinen (im Himmel): the saints. unreine: impurity, uncleanness, filthiness. (Verb.) reinen: purify, cleanse. Schlüsse Gibt es nun in diesen Liedern Beispiele, wo reine ironisch gebraucht wird? Dem kargen Gregorius-Spruch aus der Idsteiner Sammlung haftet sicher ein Hauch von Ironie an: Reines menscen cusce muot swiginde seidin ubil duot. du habis ni so reinen gedanc, claffis du fila, er wird cranc. Aber sonst fanden wir beinahe kein anderes Beispiel. - Hätte nur die hl. Juliana den Dämonen »du reiner Mist« (statt »unreiner Mist«) angeschrieen, dann hätten wir es - aber der Dichter ließ sie eben nicht so sprechen: es wäre sicher ein Stilbruch gewesen. Einen eigenen Beleg für BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE katzenreine oder 17

In diesen Belegen also nicht: clean, clear. (Und hier auch nicht: perfect, spotless - obwohl diese beiden Begriffe in angemessenem Kontext sicher richtig sind.)

Zum Begriffsfeld »rein« im religiösen Lied

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tötunreine fanden wir nicht; auch nicht etwa den Ausdruck diu reine mines herzen,16 was ein Wortspiel mit französisch »la reine de mon coeur« nahegelegt hätte. 19 Bei Neidhart gibt es das einzige eindeutige Beispiel von Ironie, das wir kennen: Im Gegensatz zu Walther, der das Wort relativ häufig und immer in vollem Ernst (und mit ganz besonderer Beschwingtheit im >LeichWerltsüeze-Lied< lautet: Miner vrouwen ère diust an allen liden lam unde strüchet sêre. sist gevallen, daz siz überwinden nimmer mac. si lit in einer lachen, daz si niemen âne got reine kan gemachen. si gewinnet nimmer mère rehten süezen smac.21 Diese scherzhafte Wendung kommt in einem eher weltlichen Lied vor: wir kennen ähnliches nicht in religiösen Liedern im engeren Sinne. Dieses allgemeine Fehlen von Ironie, und auch die Tatsache, daß Walther Reinmar vor allem preist, weil er das Lied so wol dir wip, wie reine ein nam! dichtete, lassen erkennen, daß das Epitheton reine für Frauen grundernst gemeint war. Walthers zweimal gebrauchte Anrede: ir reinen wip, ir werden man setzt sozusagen den Ton für die Geschlechter an. Wenn man sich nun die Begriffserklärungen für reine (Adj. und Adv.) bei BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE und bei LEXER näher ansieht, so fällt auf: erstens, daß bei BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE die Nuance »keusch« - ob wörtlich oder übertragen - fehlt: »reine: rein, klar [mit fünf Belegen aus >IweinWigaloisMelker Marienleich< ein Beweis dafür wäre, daß in diesen Gegenden zu diesem Zeitpunkt das Wort reine tatsächlich nur »sauber« bedeutete. Immerhin wollen wir den übertragenen Sinn dieses Worts in den Liedtexten des hohen Mittelalters unterstreichen. GRIMM notierte zwar: »die Übertragung auf das unsinnliche gebiet ist schon zur zeit unserer ältesten Zeugnisse vollzogen«, ohne aber irgendwie anzudeuten, daß dieser übertragene Sinn im Mittelalter eigentlich der Vorherrschende sein könnte. Zum Begriffsfeld »rein« läßt sich nun folgende These formulieren: Während es bei Begriffsbestimmungen in Wörterbüchern normal ist, vom wörtlichen Sinn zum übertragenen zu gehen, ist die Richtigkeit dieses Verfahrens beim mittelalterlichen Gebrauch von reine zu bezweifeln.26 Aufgrund der vorgeführten Lied-Belege gehört der Begriff zunächst in die Sphäre des Glaubens, des Symbolischen und des Sittlichen, und nur selten in die Sphäre des »Körperlichen«, es sei denn im wörtlichen Sinne von »keusch«. Selbst wo wir mit Gegenständlichem zu tun haben also - mit Wasser, Gold, Salbe, Tempel, Vögeln, dem Atem oder dem Leichnam - scheint das Symbolische bzw. der geistige Sinn durch. In diesem Begriff der reine spiegelt sich die mittelalterliche Grundauffassung von körperlichen Dingen als eines Gleichnisses wider. Ahnlich wie vrone oder heilec versteht man daher reine in diesen Texten besser umgekehrt, als abstrakten Wert, der erst dann gelegentlich im Sinne »frei von Schmutz« oder »sauber« gebraucht wird.

24 25

So GRIMM und auch KLUGE, Etymologisches Wörterbuch 19. Aufl. Berlin 1963, S. 593. In althochdeutscher Dichtung dagegen gibt es das einwandfreie doppelte Beispiel: Yrfurbent

sie iz reino

26

joh harto filu kleino, / selb so man thuruh not

sinaz kom reinot. Otfrid,

»Evangelienbuch< I, 27f. Dieser Gedankengang ist schon am Beispiel des Worts »süß« von FRIEDRICH OHLY eingehend vollzogen worden, vor allem in »Geistige Süße bei Otfried« (1969), abgedruckt in F.O., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschimg. Darmstadt 1977, S. 93-127.

RUTH MEYER (Augsburg)

Die >St. Katharinentaler Liedersammlung< Zu Gehalt und Funktion einer bislang unbeachteten Sammlung geistlicher Lieder des 15. Jahrhunderts

Im Dominikanerinnenkloster St. Katharinental (bei Dießenhofen, Kanton Thurgau, Schweiz) wurde nach 1424 eine zweiteilige Liedersammlung aufgezeichnet, die ein bemerkenswertes Zeugnis für die Uberlieferung geistlichen Liedgutes im 15. Jahrhundert ist. 1 Sie befindet sich in einer Handschrift, die heute unter der Signatur Y 74 in der Thurgauischen Kantonsbibliothek in Frauenfeld aufbewahrt wird 2 und die der Forschung bislang nur als ältester Textzeuge des >St. Katharinentaler Schwesternbuches< bekannt war. 3 Weitgehend unbeachtet blieb, daß die Schreiberin der Nonnenviten im Anschluß daran die Texte von neunzehn Liedern eintrug, 4 darunter zwei Marienlieder, 5 zwei Lieder in Albrecht Leschs Ton des >Kurzen ReihenEs kommt ein schiff geladene 7 Einen besonderen Schwerpunkt dieses er1

Eine Edition der Sammlung erscheint demnächst in der PBB. Zitiert wird nach der dort verwendeten Zählung: A bzw. B kennzeichnen die beiden Teile der Sammlung, die darauf folgende arabische Ziffer bezeichnet das jeweilige Lied. Die Strophen jedes Liedes haben eine eigene Verszählung. 2 Die Hs. ist ausführlich beschrieben in: RUTH MEYER: Das >St. Katharinentaler SchwesternbuchDießenhofener SchwesternbuchDießenhofener Schwesternbuch< ist irreführend, da das Kloster St. Katharinental nicht in, sondern bei dem Ort Dießenhofen liegt. 4 Ein Hinweis auf die Liedersammlung findet sich in A R N O BORST: Mönche am Bodensee. Sigmaringen 1978, S. 521 (zu Abb. 66, die das erste Blatt der Hs. Y 74 zeigt). 5 Das Lied >Maria du bis gegruetzt< (AI) wurde nach der Hs. Nürnberg Stadtbibliothek Cod. Cent. IV, 82, BLL. 2 4 - 2 6 ediert von KARL BARTSCH: Die Erlösung. Quedlinburg/Leipzig 1858, Nr. XXVI, S. 2 9 8 - 3 0 0 . »Marien Rosenkranz« ( A 2 ) ist nach der Hs. Nürnberg Stadtbibliothek Cod. Cent. VI, 4 3 ebenfalls dort abgedruckt (Nr. XVIII, S. 2 7 9 - 2 8 4 ) . Das Lied beginnt in der Nürnberger Hs. mit der Verszeile >Juncfrowe aller cristen trosU. 6 Es handelt sich um die beiden Lieder > Vernempt ir armen vber al< (hrsg. von J. WOLF: Deutsche Lieder des 15. Jahrhunderts. In: FS. Rochus von Liliencron. Leipzig 1912, bes. S. 407f.) und > Wol vff in geist hin vber mer< (hrsg. von THOMAS CRAMER: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. München 1985, Bd. 4, S. 126ff.) Vgl. dazu RSM. Katalog der Texte. Älterer Teil G - P . Hrsg. von H O R S T BRUNNER, BURGHART WACHINGER u.a. Tübingen 1988, Bd. 4, Sp. 246f. ('Lesch/lO/la: >Wol vff im geist hin vber mer Vernempt ir armen vberalEs kommt ein schiff geladen«. In: Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 6 0 0 . Todestag. Hrsg. von E P H R E M M. FILTHAUT. Essen 1961, S. 7 7 - 9 2 . Ergänzend dazu vgl. BURGHART WACHINGER, >Es kommt ein schiff geladenMaria dost ein süßer namEs kommt ein Schiff geladen< z.B. ist zwar mit großer Wahrscheinlichkeit in dominikanischen Kreisen entstanden, es findet sich aber seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch in Textzeugen aus weltlichem Besitz. Ungewöhnlich an der >St. Katharinentaler Liedersammlung< ist die gemeinsame Überlieferung von vorwiegend in südwestdeutschen Frauenklöstern tradiertem mystischen Liedgut mit geistlichen Liedern der Meistersangtradition, wie die beiden Lieder in Albrecht Leschs Ton oder Ps.-Reinmars Marienpreis. In städtischem Umfeld entstanden, wurden diese Meisterlieder möglicherweise gerade in Dominikanerinnenklöstern wie etwa Nürnberg und Colmar rezipiert, die sich in Zentren des Meistersangs befanden. Die gebildeten Schwestern waren offenbar ein geeignetes Publi8

9

Es handelt sich um die Verse >Wer nu sin leben welle bewarnEs kommt ein Schiff geladen«, vgl. Anm. 7. Die Hs. aus Unterlinden enthält das mystische Lied > Wer nu welle sin leben bewarnEs kommt ein Schiff geladen« stammt aus dem Kloster Inzigkofen, vgl. Anm. 8. Zu den Beziehungen dieses Klosters zu den reformierten Dominikanerinnenkonventen vgl. SIEGFRIED RINGLER: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien. München 1980 (MTU 72), S. 39.

Die >St. Katharinentaler Liedersammlung
St. Katharinentaler Schwesternbuches< ebenso zeigt16 wie an den zwei Marienliedern des ersten Teils der >St. Katharinentaler Liedersammlung^ die bislang nur aus Handschriften des Nürnberger Katharinenklosters bekannt waren. Die Herkunft eines Großteils der Lieder der >St. Katharinentaler Liedersammlung< bleibt allerdings im dunkeln. In einer Strophe des mystischen Liedes >Ze einem mal da blikt ich in< wird ausdrücklich der Rhein genannt, wenn es darin heißt: Jch sach swenken einen visch / vss dem Rin vss griessen. / Do er nit moht fiiessen, / do ward er vnfrisch. / Schnei jlt er wider in / jn des wäges sweb / do vand er fryes leben / fröd sunder pin. (A 10 II,lff.) Leider lassen aber die sprachlichen Merkmale dieses Liedes keinen Schluß darauf zu, wo am Rhein es entstanden sein könnte. Ähnlich ist es mit den meisten Liedern der Sammlung; nur in einem Fall findet sich mit entboben (A 12 1,6) für »oberhalb« eine eindeutig mitteldeutsche Wortform, die möglicherweise Relikt der ursprünglichen Schreibart ist. Die Frage nach der Gebrauchsfunktion der Liedtexte der >St. Katharinentaler Liedersammlung< läßt sich ebenfalls kaum befriedigend beantworten. Es gibt in der Handschrift keinen eindeutigen Hinweis darauf, ob die Texte z.B. dem gemeinschaftlichen Gesang außerhalb der liturgischen Feiern dienten, also »Konvertikellieder« waren, wie sie J O H A N N E S J A N O T A bezeichnet hat. 17 Die Liedersammlung enthält zwar keine Melodien, das muß aber nicht bedeuten, daß die Melodien zur Zeit der Aufzeichnung der Texte nicht mehr in Gebrauch oder gar verlorengegangen waren. Vielmehr ist das Fehlen der Melodien für die Liedüberlieferung im 15. Jahrhundert der Regelfall. Ebenso häufig ist zu beobachten, daß in den mittelalterlichen Handschriften die Liedanfänge, Strophen und Verszeilen kaum voneinander abgegrenzt werden, wie es vor allem für die erste Schreiberin kennzeichnend ist. Bei den von ihr abgeschriebenen, inhaltlich und sprachlich anspruchsvollen mystischen Reimversen finden sich jedoch Hinweise darauf, daß die Schreiberin die ursprüngliche Strophenform nicht mehr erkannt hat: Zeilen wurden ausgelassen und Reimwörter sind verderbt. 18 Möglicherweise diente die >St. Katharinentaler Liedersammlung< also nurmehr als Lesetext für die private Frömmigkeit. Der spezifischen Spiritualität in den Dominikanerinnenklöstern entstammt mit den mystischen Liedern ein Liedtyp, der bislang nur selten Gegenstand der Liedforschung war.19 Die verhältnismäßig kleine Anzahl bekannter Texte erfährt mit den in 18

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V g l . MEYER ( A n m . 2), S. 42-52.

Vgl. JOHANNES JANOTA: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968 (MTU 23), S. 271. Vgl. die Lieder A 4 111,3 u. 8; A 10 1,7; A 111,7 u. A 19 111,7. Zu diesem Liedtyp vgl. die Arbeiten von KURT RUH, Textkritik zum Mystikerlied >Granum sinapisSt. Katharinentaler Schwesternbuch< gehört -, sondern eben auch in Liedern. Dabei fällt auf, daß in den Versen eine relativ kleine Anzahl feststehender Begriffe, Redewendungen und formelhafter Aussagen verwendet wird, die nur immer wieder neu miteinander kombiniert werden. Dazu gehört beispielsweise der Begriff des Zedic-werdens, aber auch ein Begriffspaar wie iht / niht, das sich z.B. schon bei Mechthild von Magdeburg in den Versen du solt minnen das niht, du solt vliehen das iht findet25 und das auch in zwei Liedern der >St. Katharinentaler Liedersammlung< verwendet wird.26 Da die mystischen Lieder meist aus einfachen, drei- oder vierhebigen, teils stollig gebauten Strophen bestehen und inhaltlich nur wenige Themen variieren, lassen sich aus diesem formelhaften Wortmaterial leicht immer wieder neue Verse und Lieder bilden. So findet sich z.B. die 12. u. 13. Strophe des Liedes >Min mût ist mir ze schw&re< (WKL II, Nr. 851)27 gleichlautend als 4. Strophe in einem thematisch verwandten, textlich aber ganz ei-

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sprichet vom Wesen bloss. Beobachtungen zur Lyrik der deutschen Mystik. ZfdPh 113 (1994), Sonderheft Mystik, S. 63-82. Vgl. RUH, Mystische Spekulation (wie Anm. 9), S. 229. Vgl. ebd., S. 212. Vgl. ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 226. Vgl. dazu z.B. die Stellenbelege bei RUH, Mystische Spekulation (wie Anm. 9), S. 219ff. und bei J O H A N N E S GEMKE: Der Geyst hayt mych vergeystet. Ein geistliches Lied aus dem Kölner Raum. In: Beiträge zur weltlichen und geistlichen Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. Würzburger Colloquium 1970. Hrsg. von K U R T R U H U. W E R N E R SCHRÖDER. Berlin 1973, S . 231-244, bes. 242ff. Vgl. Mechthild von Magdeburg, >Das fließende Licht der GottheitSt. Katharinentaler

Liedersammlung

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genständigen Lied, das mit den Versen > Wend ir hören singen / was mir ist worden kund< (WKL II, Nr. 857) beginnt. Wie komplex die Textgeschichte des mystischen Liedgutes sein kann, zeigt sich an dem in WACKERNAGELS Sammlung abgedruckten Lied >Ich solt mich selber laßem (WKL II, Nr. 476). Es wurde auf die Melodie des mystischen Liedes >Wir sullen lernen sterben / und aigen willen lon< gedichtet, 28 das in zwei Fassungen erhalten geblieben ist. 29 Die Nachdichtung war offenbar noch beliebter, denn >Ich solt mich selber lassen< ist uns in vier verschiedenen Fassungen überliefert, 30 bei denen Strophenbestand und -abfolge erheblich variieren:31 Die dritte Strophe wurde z.B. auch als Repeticio verwendet,32 neue Strophen kamen hinzu, 33 andere wurden weggelassen.34 Auch der Wortlaut einzelner Verse änderte sich im Laufe der Tradierung 35 und Schlüsselbegriffe wurden sogar unter Störung des Reimschemas ausgetauscht. 36 Diese für Um- und Weiterdichtungen grundlegende textgeschichtliche Offenheit macht es so schwierig, die erhaltengebliebenen mystischen Lieder in ihrem jeweils spezifischen Gehalt zu erfassen und ihre Textgenese zu klären. Sie sind aber gerade in ihrer Ähnlichkeit wichtige Zeugnisse der Rezeption pseudo-dionysischen und besonders Eckhartschen Gedankengutes, wie es in popularisierter Form auch in Mosaiktraktaten und Sentenzensammlungen aufscheint. Die Lieder lassen erahnen, auf welch eingängige und selbstverständliche Weise dieses Gedankengut in den Frauenklöstern präsent war. Direkte Quellen lassen sich kaum nachweisen - und es muß dahingestellt bleiben, inwieweit die Verfasserin solcher Verse die komplexen theologischen und anthropologischen Grundlagen der Eckhartschen Lehren noch verstanden hat. 37 In der >St. Katharinentaler Liedersammlung< gibt es z.B. Verse, die eine Freude am Umgang mit Metaphern und Binnenreimen 28 29

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Vgl. die Angabe WACKERNAGELS bei WKL II, Nr. 477. Die Vorlage ist abgedruckt in: ELEONORE BENARY: Liedformen der deutschen Mystik im 14. und 15. Jahrhundert. Diss. Greifswald 1936, S. 88f. Eine zweite Fassung des Liedes beginnt mit den Versen >Kinder lernent sterben / und vwern aygen willen lon< (vgl. WKL II, Nr. 855). Vgl. BARTSCH, Quellenkunde (wie Anm. 8) Nr. 6 (S. 324f.) und WKL II, Nr. 476-478. Eine Untersuchung der Textgeschichte steht aus. Ein Vergleich ergibt folgendes Bild: WKL II, Nr. 476 Str. 1 = Nr. 477 Str. 1 = Nr. 478 Str. 1 = BARTSCH Z. 1-4; 2 = 2 = 2 = Z. 5-8; 3 = 3 = 3 = R e p e t i c i o Z. 9 - 1 2 , 2 1 , 3 0 u. 39; 4 = 8 = -

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= Z. 22-25; 5 = - = 6 = Z. 26-29; 6 = 6 = 4 = Z. 13-16; 7 = 7 = 5 = Z. 17-20; Nr. 477 Str. 4 = Nr. 478 Str. 7 = BARTSCH Z. 31-34; 5 = 8 = Z. 35-38. Eigenständig sind jeweils Nr. 477 Str. 9 u. 10 und Nr. 478 Str. 9-16. Vgl. BARTSCH, Quellenkunde Z. 9-12 und den Vermerk WACKERNAGELS zum Textzeugen A von WKL II Nr. 476. Im Vergleich zu Nr. 476 sind in Nr. 477 Str. 9 u. 10 und in Nr. 478 Str. 9-16 hinzugekommen. Von WKL II, Nr. 476 fehlen z.B. in Nr. 477 die Strophen 4 und 5. Es variieren vor allem Textteile, die nicht durch den Reim gebunden sind, vgl. z.B. den Wortlaut der 5. Strophe von Nr. 476 mit der entsprechenden 6. Strophe in Nr. 478 bzw. BARTSCH, Z. 26-29.

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Die Schlußzeile von Nr. 478 Str. 6 und BARTSCH (Z. 29) lautet: so möcht ich wesen fry. Ursprünglich hieß die Zeile wohl: so möcht ich ledig sin (vgl. Nr. 476 Str. 5), denn dies reimt sich auf die vorausgehende Zeile ich fall als wieder jn. Ledic-sin und wesen fry sind Schlüsselbegriffe der mystischen Lieder und meinen beide den Vorgang der Loslösung von allem Geschaffenen (s.u.). Wie KURT RUH gezeigt hat, ist das in einigen Liedern nicht der Fall, vgl. Mystische Spekulation (wie Anm. 9), S. 219.

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erkennen lassen, deren tatsächlicher Inhalt für den heutigen Leser aber nur schwer zugänglich ist. So heißt es in Lied A 10 (Beispiel II: III,9ff.) über die göttliche Macht und ihre unbeschränkte Verfügungsgewalt über die Seele des Mystikers: Send mich, lern mich, wie du wilt, / din vermugent in mir spilt, / diner kunst ich lache, / diner gunst ich wache, / hohes, nahes ich. Inhaltlich kreisen die Texte meist um das Thema der Abkehr von der Welt und von allem Geschaffenen. Der dazu erforderliche Ablösungsprozeß ist Teil des Weges zur unio mystica und wird als ledic-Werden bezeichnet. In der mystagogischen Prosa findet sich immer wieder die Forderung, den Aufstiegs zu Gott mit der via purgativa, der Ent-Ledigung von allem Anhaften an die Schöpfung und an die geschaffene, materielle Welt zu beginnen. 38 Dazu muß der Mensch vor allem seinen Eigenwillen aufgeben, 39 aber auch alles Hoffen und alle Erwartungen. Er muß arm werden, nicht nur an Besitz, sondern auch an Erinnerungen und an durch den Erkenntnisprozeß gewonnenen Bildern in der Seele, die in der Scholastik phantasmata genannt werden. 40 In den mystischen Liedern findet sich die Forderung des bildlos-41 oder ledic- Werdens immer wieder.42 Dieses ledic-Werden, das beispielsweise mit den Verszeilen Ach ledig sin ist also vin, des länd vch nit verdrossen (A 4 II,7fF.) empfohlen wird, ist notwendig, um einen Zustand zu erreichen, der in demselben Lied als armüt des geistes (A 4 111,11) bezeichnet wird. 43 Gemeint ist damit wohl eine innere Leere und Losgelöstheit von allem irdisch Vergänglichen und seiner anderhait (A 3 IV,7). Diese anderhait, die Unterschiedlichkeit des Einzelnen, findet sich nur in der in Materie ausgeformten Schöpfung, deren vanitas dem Mystiker vor Augen steht. 44 In Gott selbst, dem Ewigen und Unvergänglichen, ist kein Anderssein, da er auch als der Dreieinige immer er selbst ist. Der Mystiker strebt daher danach, die anderhait des Geschöpflichen zu überwinden, um das Einzigsein Gottes erfassen zu können. 45 Gelingt dies, dann kann Gott in der Seele wirken und sich die unio mystica ereignen. Das Erlebnis der Gottesbegegnung in der unio mystica wird als Begegnung mit dem Ganz-Anderen erfahren. Es ist dies ein bestürzendes, alle Werte und Erfahrungen umstürzendes, ja diese negierendes Erlebnis, das sich der adäquaten Versprachli38

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Vgl. dazu z.B. KURT RUH: Geschichte der abendländischen Mystik. Erster Band: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. München 1990, S. 53ff. Vgl. z.B. BENARY (wie Anm. 29), S. 88f., WKL II, Nr. 855 u. WKL II, Nr. 476 Str. 3. Vgl. dazu JOSEF DE VRIES: Grundbegriffe der Scholastik. Darmstadt 1983, S. 5ff. (Artikel >Abstraktion Nr. 12 u. 20f.). Zum bildlos-Werden vgl. W K L II, Nr. 463 Str. 3; WKL II, Nr. 464 Str. 4 u. 8; WKL II, Nr. 472 Str. 2 und W K L II, Nr. 474. Zum Begriff des ledic-Werdens vgl. in der >St. Katharinentaler Sammlung< die Lieder A 4 11,7 u. 111,7; A 5 111,4; A 13 V,3; A 19 111,1, sowie WKL II, Nr. 463 Str. 2; 467 Str. 1 und JOSEF QUINT: Neue Funde zur handschriftlichen Überlieferung Meister Eckharts. P B B (Tü) 82 (1960), S. 352-384, hier S. 372f. Zur armüt des geistes vgl. auch BARTSCH, Quellenkunde (wie Anm. 8), Nr. 1 (S. 316,35) u. Nr. 4 (S. 322, passim). Vgl. dazu WKL II Nr. 856 und in der >St. Katharinentaler Liedersammlung« das Lied > Was tms die zit geben mag< (A 7). Vgl. WKL II Nr. 457 und BARTSCH, Quellenkunde (wie Anm. 8), S. 317,15f. u. 33, sowie S. 323,3f. u. 30.

Die >St. Katharinentaler

Liedersammlung

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chung entzieht. In den mystischen Liedern wird dieser Zustand der Vollkommenheit im Gegensatz zu dem der purgatio kaum thematisiert. 46 Das in der >St. Katharinentaler Liedersammlung< enthaltene, bislang unbekannte Lied mit der Anfangszeile >Wen du minn hat erlühU (A 11, vgl. Beispiel I) ist einer der seltenen Fälle, in denen in der Tradition der theologia negativa versucht wird, den Zustand eines Menschen zu umschreiben, der diese höchste Stufe des mystischen Weges erreicht hat. Es werden dabei die aus den Prosawerken bekannten Merkmale der unio mystica erwähnt: Der Mensch ist vollkommen gelassen (Wen du minn hat erlüht, dem ist ein sterben als ein leben I,lf.) 47 und sein Erkenntnisvermögen ist geblendet von der Überfülle des göttlichen Lichtes (su sint von liehte worden liehtlos II,5). 48 Das Selbst solcher Menschen ist zunichte geworden (ir iht ist worden gar ze niht II,6) 49 und das gewohnte Erkennen ist ausgelöscht (irs bekennens ist nüt me 111,4). Sie sind verwildet und verwundet50 (111,3) und in dunsterkeit verduht51 (1,6). Schon diese wenigen Zitate zeigen, wie sehr die mystischen Lieder aus dem selbstverständlichen Umgang mit der Begrifflichkeit und dem Inhalt der mystischen Prosawerke leben. Das in den mystischen Liedern der >St. Katharinentaler Sammlung< verwendete Bildmaterial beschränkt sich vorwiegend auf traditionelle Metaphern. Gott wird wie in der pseudo-dionysischen Tradition als grundlose(s) niht (A 4 111,9) bezeichnet,52 als grundlos mer (A 7 111,5), aus dem die Schöpfung hervorging und in das alle Geschöpfe wieder zurückkehren sollen (A 7 III,8f.). 53 Die Seele des Mystikers ist von Syon ein tohter zart (A 13 1,1),54 die sich für ihr asketisches Leben Christus zum Vorbild nimmt (A 45 III,6ff. u. A 8 1,2). Ihre Suche nach Gott wird in zwei Liedern der >St. Katharinentaler Liedersammlung< als Jagd nach einem edeln wild dargestellt (A 3 u. A 8), ein Bild, das sich zwar in der geistlichen Prosa mehrfach 46

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Zu den wenigen Beispielen gehören die Lieder bei BARTSCH (Quellenkunde) abgedruckten Lieder Nr. 5 (S. 323f.) und 9 (328f.). Zur Gelassenheit vgl. WKL II, 463 Str. 3; BARTSCH, Quellenkunde (wie Anm. 8), Nr. 13 S. 3 3 3 , 2 6 u n d JOSTES ( w i e A n m . 2 6 ) , N r . 5 1 (S. 5 3 , 1 9 ) .

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Zur dionysischen Tradition der mystischen Erkenntnis als Dunkelheit (catigo) vgl. RUH, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 38), S. 59ff. Vgl. dazu Heinrich Seuse, Deutsche Schriften. Hrsg. von KARL BIHLMEYER. Stuttgart 1907, ( = S e u s e D W ) S. 1 6 4 , 1 1 ; 166,6; 1 6 8 , 1 3 u . ö . u n d W K L II, N r . 4 6 3 .

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Zum Begriff verwildet vgl. das Lied >Min geist hat sich verwildet< (BARTSCH, Quellenkünde, S. 328f.). Zum Begriff der dunsterkeit als Gottesbegriff in der ps.-dionysischen Tradition vgl. Seuse DW (wie Anm. 49), S. 187,17f. u. 189,23. In den mystischen Liedern ist diese Ausdrucksweise häufiger belegt, vgl. QUINT (wie Anm. 42), S. 374 u. RUH, Seuse (wie Anm. 19), Nr. 19 u. 25,63 (S. 202). So auch in WKL II, Nr. 472 (Str. 1 u. 3). Zum Begriff vgl. die Belege bei GRETE LÜERS: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. M ü n c h e n 1 9 2 6 , S. 232FF.

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Zum platonischen Modell des Ausfließens aller Geschöpfe aus Gott (emanatio) und ihrer reductio vgl. LÜERS (wie Anm. 52), S. 278ff. u. RUH, Abendländische Mystik (s. Anm. 38), S. 195ff. sowie ETIENNE GILSON / PHILOTHEUS BÖHMER (Hrsgg.): Christliche Philosophie von ihren Anfängen bis Nikolaus von Cues. Paderborn 3 1954, passim. Vgl. dazu Lamprecht von Regensburg, »Tochter SyonZe einem mäl do blikt ich jn< (A 10 vgl. Beispiel II) ist im Vergleich mit den schon bekannten mystischen Liedern ein eher seltenes Beispiel anspruchsvollerer Darbietung der üblichen Thematik. Ich möchte es dennoch stellvertretend für alle anderen hier ein wenig genauer vorstellen, damit das Dargelegte anschaulicher wird. Zu Beginn des Liedes wird der Vorgang der Kontemplation umschrieben, wenn es heißt: Ze einem mäl do blikt ich jn, / jeh begunde trachten / nach der vinen sache, / der ich eigen bin. (I,lff.). Das lyrische Ich erzählt dann, dabei dabei in Verzückung geraten zu sein (do ward mir verklärt der sin 1,5). Es empfängt eine Audition, die die Abkehr von allen phantasmata als einzigen Weg empfiehlt: Betrtb dich nit mit bilden me. / Nim dich ist, als du bist e, / jn dem ist blib. (I,9ff.) Diese Audition stammt, wie sich aus den darauf folgenden Strophen ergibt, von der götlich maht (R,l), die sich dem lyrischen Ich in dem auf den ersten Blick ungewöhnlichen Bild einer sacherin (111,1) (Säerin) darstellt. Aus dem Neuen Testament wird dem Verfasser oder der Verfasserin dieser Strophen das Bild des Sämannes wohl vertraut gewesen sein, der das Gotteswort gleich Samenkörnern ausstreut, die auf unterschiedlich guten Boden fallen und verschieden reiche Frucht bringen.57 Die Verwendung der weiblichen Form des Bildes als >Säerin< erklärt sich wohl daraus, daß nicht - wie in dem Gleichnis Jesu - der Messias gemeint ist, sondern die götlich maht.5S Diese überströmende Schöpferkraft des allmächtigen Gottes streut das Seiende im Vorgang der emanatio gleich den Samenkörnern verschwenderisch und scheinbar ziellos aus. Der Mensch kann nach neuplatonischer Lehre als Teil dieser Schöpfung nur dann zu Gott zurückfinden, wenn er sich von den geschaffenen, materiellen Dingen abwendet und sich Gottes Wirken ganz überläßt. So heißt es folgerichtig in der Repeticio des Liedes: Jch wil götlich maht / minnen sunder widerbräht / Jch wil si nit straffen. / Ich wil mich 55

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Zur Jagdmetaphorik vgl. die Belegstellen bei JÜRGEN W . EINHORN: Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. München 1976 (Münstersche Mittelalterschriften Bd. 13), S. 215ff. Auch Meister Eckhart verwendet das Jagdmotiv immer wieder in seinen Predigten (Deutsche Werke. Hrsg. von J O S E F Q U I N T , Stuttgart 1958-63 u. 1971-76, Bd. 1, Predigt 13, S. 218,9-219,4; Bd. 3, Predigt 60, S. 13,1-5 u.ö.) und in den >Reden der Unterweisung< (vgl. DW, Bd. 5, S. 200,5-6). Vgl. M E Y E R (wie Anm. 2 ) Kommentar zu Vita 4 1 , Z. 7 3 und RINGLER (wie Anm. 1 5 ) , S . 2 7 5 . Vgl. Mk 4,lff. In der Schule von Chartres gibt es den Begriff der natura creatrix als Adaptation der plotinischen Weltseelenlehre, vgl. Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. II Teil 2a. Hrsg. von LEO SCHEFFCZYK, Freiburg - Basel - Wien 1963, S. 69. Eine solche Vorstellung ist heterodox und wurde in der Hochscholastik allgemein abgelehnt. Dort galt vielmehr der Satz Deus est natura scilicet non creata, sed creatrix, wie ihn Augustinus in De Trin. XV 29 formulierte.

Die >St. Katharinentaler Liedersammlung

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ir lassen, / du mich hat gesacht. (R,lff.). Erreicht der Mensch die vollkommene Gelassenheit, so kann er sich ganz dem Tun Gottes überlassen und sich daran freuen. 59 Versucht er aber, sich der Macht Gottes zu entziehen, so gleicht er einem Fisch, der, statt im lebenspendenden Wasser zu schwimmen, am trockenen Ufer zappelt und zugrunde zu gehen droht. 60 In diesem Lied werden also zwei konträre Handlungsweisen einander deutlich gegenübergestellt: Derjenige, der sich bemüht ledic zu werden und sich dem Wirken Gottes überläßt, gelangt schließlich zur unio mystica. Wer das nicht tut, leidet existenziell an der Entfremdung von Gott. Daraus folgt der eindringlich formulierte Rat: Uberlaßt euch dem Willen Gottes. Das lyrische Ich übernimmt dabei wie in zahlreichen Liedern die Rolle des erfahrenen Mystikers, dessen Erleben exemplarisch und dessen Verhalten nachahmenswert ist. 61 Es stellt sich die Frage, aus welchen Motiven heraus die mystischen Lieder im 15. Jahrhundert abgeschrieben und gesammelt wurde. Wie gezeigt, ist ihr Entstehen eng mit der Entstehung der mystischen und mystagogischen Prosa des 14. Jahrhunderts verknüpft. 62 Verfasser und Publikum gehörten demselben exklusiven Kreis an, der sich mit den hohen fragen der spekulativen Theologie befaßte. 63 Und es scheint kein Zufall, daß gerade in dem um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Dominikanerinnenkloster Engelthal entstandene »Büchlein von der Gnaden Uberlast< berichtet wird, wie eine sterbende Schwester ein mystisches Lied singt. 64 Mezzi Sidwibrin, Nonne zu Töß, singt öfter während der Arbeit süssy liedly von ünserm herren.65 Ihre Biographin zitiert eines ihrer Lieder, das wie die zahlreichen mystischen Lieder die Vorzüge der Gottesliebe preist. 66 Ob solche Berichte ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, muß offen bleiben. Diese Zeugnisse aus den Schwesternbüchern sind aber Hinweise auf eine offenbar besonders intensive Rezeption des mystischen Liedgutes bei den Dominikanerinnen. Auch hundert Jahre später sind diese Lieder vor allem in dominikanischen Frauenklöstern verbreitet. Das Entstehen der >St. Katharinentaler Liedersammlung< dürfte dabei mit der Erneuerung des Ordenslebens im 15. Jahrhundert in Zusammenhang stehen. Im Zuge der Rückbesinnung auf die 59

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Send mich, lern mich wie du wilt, / din vermugent in mir spilt, / diner kunst ich lache, / diner gunst ich wache, / hohes nahes ich (III,9FF.). Jch sach swenken einen visch / vss dem Rin vss griessen. / Do er nit moht fliessen, / do ward er vnfrisch (II,lff.). Vgl. WKL II, Nr. 461, 463, 465, 467, 476-478,851, 857, BARTSCH, Quellenkunde (wie Anm. 8), Nr. 5 (S. 323f.) u. 9 (S. 328f.). Vgl. die direkte Bezugnahme auf Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart in dem Lied >Ich will üch sagen mere< (AUGUSTE JUNDT: Histoire du panthéisme populaire au moyen âge et au seizième siècle. Paris 1875, Nachdruck Frankfurt a.M. 1964, S. 281f.). Ein gutes Beispiel ist das >Gedicht und die Glosse vom Überschall Wises hertz, fluch die minne / die mit laid mus zergan< S. 29,15-20.

304

Ruth Meyer

dominikanische Blütezeit des 14. Jahrhunderts werden die Schriften Eckharts, Seuses und Taulers wieder rezipiert, die in den Dominikanerinnenklöstern entstandenen Viten- und Offenbarungsschriften erneut gelesen und im Orden verbreitet - und damit finden auch die mystischen Lieder wieder Interesse.67 Die in eingängigen Versen geforderte Abkehr von den zeitlichen Gütern, die darin zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung der Armut und des kontemplativen Lebens, all das sind wesentliche Anliegen der Ordensreform, die den Liedern neue Aktualität geben. Daher werden sie in den Klöstern wieder gelesen und gesungen, wie ein Schreibereintrag in einer Inzigkofener Handschrift zeigt. Dort heißt es im Anschluß an ein mystisches Lied: Wer das singt oder lies oder höre singan oder lesen der gedenk umb gottes willan des schribars und och des angebars des lidas (WKL II, S. 661). Die Lieder dienten also im 15. Jahrhundert sowohl einer klösterlichen Gemeinschaft als Erbauungstexte, sie waren aber offenbar auch Teil der Privatfrömmigkeit. Da diese Lieder keinen festen liturgischen Bezug haben, konnten sie wohl das ganze Kirchenjahr über in Gebrauch sein. Einen eindeutigen liturgischen Bezug hat hingegen das bis heute gebräuchliche Lied >Es kommt ein Schiff geladene In der älteren Forschung wurde in Erwägung gezogen, ob es sich nicht auch in diesem Fall ursprünglich um ein mystisches Lied handelte, das »den Weg zur unio mystica oder die Vereinigung selbst« besingt. 68 Die darin verwendete Schiffs-Metapher ist als Bild für die menschliche Seele durchaus aus mystischen Liedern bekannt 69 und findet sich auch in der Prosa. 70 Die >St. Katharinentaler Liedersammlung< bietet mit einer bislang unbekannten Fassung des Liedes wichtige Hinweise auf seine Verwendung. Dazu ist aber notwendig, kurz auf die Uberlieferung dieses Liedes in den anderen mittelalterlichen Textzeugen einzugehen. Das Lied findet sich außer in Y 74 noch in fünf weiteren Handschriften, und zwar zwei oberdeutschen und drei niederdeutschen. Dabei fallt auf, daß die ältesten Textzeugen ausschließlich aus oberdeutschen Frauenklöstern stammen, die der Reformbewegung verpflichtet waren, nämlich St. Nikolaus in undis, Unterlinden und Inzigkofen. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts ist das Lied im >Werdener Liederb u c h dann auch für den niederdeutschen Sprachraum überliefert. Das Lied wurde um 1600 durch den Handschriftensammler Friedrich Sudermann Johannes Tauler zugeschrieben. Er berief sich mit dieser Zuweisung auf den bislang ältesten bekannten Textzeugen, der mit großer Wahrscheinlichkeit um 1450 in St. Nikolaus in undis geschrieben wurde. Weil eine Schwester Taulers in diesem Kloster Nonne war, nahm MARIA E. BECKER an, diese Handschrift sei autornah und es sei eine mystische Deutung der Verse anzunehmen. Diese ohnehin nur schwer beweisbare Annahme BECKERS wird mit der Entdeckung der >St. Katharinentaler Liedersammlung< noch unwahrscheinlicher, da sie schon in den 30er Jahren entstanden sein muß. Der in ihr enthaltene Text des Liedes dürfte somit die älteste erhaltene Fassung sein. Sie ist nun für die Textgeschichte von besonderer Bedeutung, denn in ihr stehen 67 68

69 70

Zur Überlieferung der Lieder vgl. RUH, Mystische Spekulation (wie Anm. 8), S. 211. Vgl. BECKER (wie Anm. 7), S. 89. Diese Forschungsmeinung wurde schon im Verfasserlexikonartikel von WACHINGER zurückgewiesen, vgl. (wie Anm. 7), Sp. 627f. Vgl. z.B. WKL II, Nr. 642 und das Lied A 3 der >St. Katharinentaler Liedersammlung^ Vgl. z.B. Tauler, zitiert bei BECKER (wie Anm. 7), S. 89.

Die >St. Katharinentaler Liedersammlung
Werdener Liederbuches< nur vermutet werden konnte. Es handelt sich um die Verse: Maria, edler rose, sälig m&ssist sin, / du schöner zitlose, / mach vns von sünden fri (A 16 R,lff.), die fast gleichlautend als dritte Strophe in der um 1470-80 entstandenen Inzigkofener Handschrift überliefert sind. Wie sehr die Katharinentaler Fassung dem offenbar auch später noch gebräuchlichen Text entspricht, zeigt sich daran, daß sich bis auf drei Strophen alle Verse in den anderen Handschriften finden. Die Inzigkofener Fassung enthält (mit dem >RefrainWerdener Liederbuchs Nur die Strophen fünf, acht und zehn der Katharinentaler Fassung waren bislang völlig unbekannt. Und gerade sie legen den Schluß nahe, daß dies Lied nicht wie heute im Advent, sondern zu Weihnachten erklungen sein dürfte, denn sie sind alle dem Jesuskind gewidmet und nehmen das Glaubensgeheimnis der Inkarnation in den Blick. Strophe 5 lautet: Nv ist vns geborn ein vbers&sse lust, / got ist mentsch worden, die minn, die gab den gunst. Die 8. Strophe charakterisiert die Liebenswürdigkeit des Jesuskindes, wie sie auch in den Offenbarungstexten der Zeit zum Ausdruck kommt. Dort heißt es: Die minn het es (das kindli) betöwet. / Als ein rösli / het es zwei spilende bgli vnd ein rotes mündli. Die letzte, 10. Strophe rekurriert auf die Beweggründe der Inkarnation des Sohnes: Er ist drumb mentsch worden, / das er vns heilen wil / von allen sünden horden. Er ist der minnen spil. >Es kommt ein Schiff geladen< ist also ein Weihnachtslied, das wohl der in den Dominikanerinnenklöstern besonders gepflegten Andacht zum Jesuskind entstammt. 71 Diese Gebrauchsfunktion bestätigt auch die Mitüberlieferung, denn auf dieses Lied folgen die zwei weihnachtlichen Lieder im Ton Albrecht Leschs. Alle drei Lieder bilden also einen eigenständigen Block inmitten der mystischen Lieder. Diese Gruppe weihnachtlicher Lieder, das mystische Liedgut und die zahlreichen Marienlieder der >Katharinenaler Liedersammlung< sind Dokumente einer lebendigen Liedtradition in den reformierten Dominikanerinnenklöstern des 15. Jahrhunderts. Diese bis in die Blütezeit des 14. Jahrhunderts zurückreichende Tradition sollte nicht länger außer acht gelassen werden, wenn es um die Erforschung der Literatur und ihrer Spiritualität aus diesen Klöstern geht. So dürften gerade die zahlreichen, in dieser Sammlung erstmals überlieferten Texte eine nicht unwichtige Quelle für weitere lohnende Studien zu Uberlieferung, Gestalt und Funktion geistlichen Liedgutes im Spätmittelalter sein.

71

Vgl. zu dieser Andacht

RINGLER

(wie Anm. 15), S. 187ff. u.ö.

Beispiel I: A 11) 133b Wen du minn hat erlüht, dem ist ein sterben als ein leben. Sü sint frödenrich fürduht, in gar verwenti, wenn für sü leben. Sü bliken, sü florierent sich darinn, sü sint verduht in dunsterkeit.


Die verduhten sint verflossen. Nv merkent, das si nüt ensint in creaturen vnuerdrossen. Die gar verkl&rte wont in by. Sü sint von liehte liehtlos. Ir iht ist worden gar ze niht, also stand si ir selbs bloss. Jr selbheit ist gar verswunden, [134a] daruff enblickent sü nit me. Sü sind verwildet vnd verwundet, irs bekennens ist nüt me, won vff ein vngetrütes vin. Der si daran mag geletzen, der halt vff die natur sin.

Beispiel II: A 10) 132 a -133 b Ze einem mal do blikt ich jn, jch begunde trachten nach der vinen sache, der ich eigen bin. Do ward mir verklärt der sin. Dü [132b] mich hat gesachet, du sprach zu mir +72: >Aht du min, so aht ich din. Betrüb dich nit mit bilden me. Nim dich ist, als du bist e, jn dem ist blib. Die sich ist vermident, die geberent sich we.
St. Katharinentaler

Repeticio

Jch wil gbtlich maht minnen sunder widerbräht. Jch wil si nit straffen. Ich wil mich ir lassen, du mich hat gesacht.

Jch sach swenken einen visch vss dem Rin vss griessen. Do er nit moht fliessen, do ward er vnfrisch.

II

Schnei jlt er 73 [133 a] wider in

5

jn des wages sweb, da vand er fryes leben, fröd sunder pin. Blik ich vss der gotheit clär, war ich ker, aid war ich var, da gebirt sich achtzen süsten vnd krachen, jch kum wider dar. Repeticio74

74

jüt/F. R fehlt F, vgl. R,l.

10

Jch wil got

Jch sach mich du sacherin in ir wirre dräyen müsseklich spreyen, leben clären sin. Do gedaht ich >Bir nv, niena du mich s&yest, du solt mich öch m¥. Jch wil iuesen din. Send mich, lern mich wie du wilt, din vermugent in mir spilt, diner kunst ich lache, [133b] diner gunst ich wache, hohes nahes ich.
Hortulus animae< aufgenommen hat, nicht als Lied gelten. 4 Die beiden anderen sind die angeblichen Lieder >Lieben und leiden< (Nr. 1335) und >Laß dir die weit so lieb nicht sein< (Nr. 1336). Geht man nach WACKERNAGELS Edition, sind sie nach dem Strophigkeits-Kriterium als Lieder zu beurteilen; das eine besteht demnach aus sieben Strophen, das andere aus 16. Merkwürdig ist 1

2

3 4

Zur bibliographischen Lage s. JOACHIM KNAPE / DIETER WUTTKE: Sebastian-BrantBibliographie: Forschungsliteratur von 1800 bis 1985. Tübingen 1990, S.199-214. HUGO KUHN: Entwürfe einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980. Wie etwa bei der >FreiheitstafelHortulus animaeHortulus animaeHortulusNarrenschiffsHortulus animaeQuem terra pontus, aethera< (Bl. A4), >Ave maris stella< (Bl. D7 b ), >Magnifikat< (Bl. D8), >Alma redemptoris mater< (Bl. D8 b ), >Salve regina misericordiae< (Bl. E5), >Regina coeli, laetare< (Bl. F4). 9 Brant verzichtet bei diesen Texten auf den bei ihm zu findenden Druck in abgesetzten Versen, womit ihr Prosacharakter unterstrichen wird. 5

Anm. 4 ) hat dies auch in anderen unbegründeten Fällen getan. Vgl. J O H A N Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968 (MTU 23), S. 38. Siehe Heinrich Seuse: Der ewigen Weisheit Betbüchlin. Basel, Jakob von Pforzheim für Marx Werdemüller, 1518. Ex.Basel: E.X. 66. WACKERNAGEL (S.

NES JANOTA:

6

7

OLDENBOURG (S. A n m . 4 ) L 9 .

8

Titel: Ortulus anime Der seien gärtlin wurde ich gnent Von dem latein man mich noch kent Zu Straßburg in seym vatterlant Hat mich Sebastianxis Brant Besehenn vnnd vast corrigiert Zu tütschem ouch vil transferiert Mich druckt iohannes wähinger Der hat erlangt durch groß beger Den Kristenn menschen zC andacht Vonn Rdmscher königklicher macht Mich niemans soll by pen vast hoch In dry Joren ym druckenn noch Was man in mich s> hie in zyt Dz selb man dort mit freyden schnyt Do wirt der somen reht auffgan wer mich recht pflantzt dem würt der lan.

9

Zitiert nach dem Ex. St. Gallen, Stiftsbibliothek: Inkunabel 767. Vgl. M. A. VON ROTEN: Die Marienverehrung bei den oberrheinischen Frühhumanisten. Diss. (masch.) Fribourg 1940, S. 33. Brants Rolle bei der Herausgabe des lateinischen Straßburger >HortulusHortulus< auftauchende >Stabat mater< (Anhang Nr. 5), das wir gewiß Brant zuschreiben dürfen. Insgesamt also beschränkt sich das Korpus der Brant-Lieder auf sechs geistliche Liedtexte. Sie sind in der Reihenfolge ihrer mutmaßlichen Entstehung im Anhang mitgeteilt. 2. Charakteristik der Lieder Brants Abgesehen vom Fronleichnamshymnus >Pange lingua< (Anhang Nr. 2) hat Brant beim Lied offenkundig vor allem das Marienlied mit Mariengruß, Marienlob und Rosenkranzthematik gepflegt. Bis auf einen Fall hat er dabei Vorlagen berühmter lateinischer Liedtexte bearbeitet. Eigene allein deutschsprachige Lieder hat Brant nach derzeitigem Kenntnisstand nicht geschaffen. Im Fall des >Ave praeclara< (Nr. 3) ist Brant peinlich genau bemüht, eine nach der alten Melodie sangbare deutsche Interlinearversion zu gewinnen.12 Dementsprechend tritt der Text in der Uberlieferung auch immer der Melodienotation unterlegt auf. Das Sangbarkeitspostulat dominiert dergestalt, daß für die Bearbeitung allein die Silbenzahl des lateinischen Originals maßgeblich ist. 13 Auf diese Weise konserviert er zugleich das bei der Sequenz übliche syllabische Deklamationsprinzip. Dagegen werden mangelnder Satzfluß, Latinismen (saporem vitae: den geschmack lebens 8,9) sowie der Umstand in Kauf genommen, daß sich bei der poetischen Verknappung der Sinn bisweilen nur vom Original her erschließt.14 Zweifel am Liedcharakter dieser Bearbeitung, wie sie sich bei J A N O T A andeuten, sehen zu sehr von Brants klarer 10

JANOTA (S. A n m . 5 ) , S. 39f.

11

Vgl. PETER OCHSENBEIN: »Hortulus animaeAve praeclara< einen frühen, noch ungelenken Übersetzungsversuch Brants sieht. (FRIEDRICH ZARNCKE: Sebastian Brants Narrenschiff. Leipzig 1854, S. XXXIV.) PFLEGER versucht Brant insofern mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als sie Brant in eine Linie mit der frühen Sequenztradition stellt,

312

Joachim Knape 15

Lied-Intention ab. Die Einzelversikel sind gereimt, allerdings nach einfachen Schemata ausschließlich auf der Basis von Paarreim und gehäuftem Reim (Dreireim, Vierreim usw.). Mit gleichgerichteter Intention hat Brant auch die Sequenz »Verbum bonum< (Nr. 4) bearbeitet. Wiederum unterlegt er seinen deutschen Text der alten Melodie. 16 Es gelingt Brant aber darüber hinaus auch, die in diesem Fall klarer zutage liegenden äußeren Formprinzipien zu berücksichtigen. 17 Er sucht für jeden Vers 8-Silbigkeit herzustellen, schließt ihn nach dem Vorbild des zweisilbigen Reims im lat. Original mit zweisilbigen Kadenzen (weiblich oder männlich voll) ab und übernimmt streng das für die Doppelversikel geltende Reimschema von jeweils Dreireim plus Kornreim (aaab cccb). Er geht hier sogar noch weiter als die Quelle und reimt alle sechs Körner. Brants Übersetzung des >Stabat mater< (Nr. 5) sah HOFFMANN VON FALLERSLEBEN, ohne Brants Autorschaft in Betracht zu ziehen, mit einiger Übertreibung »als die erste gelungene dieses berühmten Liedes« an. 18 Aufgrund der Einfügung in den für die meditative Frömmigkeitsübung gedachten >Hortulus animae< findet sich keine Melodieangabe, aber der Text ist wie beim >Verbum bonum< nach dem lateinischen Vorbild sangbar gehalten. Die Äquivalenz der Gesamtsilbenzahlen ist bei den einzelnen Strophen unterschiedlich genau, allerdings gilt wiederum 8-Silbigkeit pro Vers als Orientierungsmaß. Wie im vorangehenden Fall wird das Reimschema genau übernommen und die Doppelversikel mit Schweifreim (sog. Stabat mater-Strophe) gebunden (aab ccb). Wiederum ist weitgehende Inhaltstreue erreicht. Den 10 Doppelversikeln fügt Brant im Druck noch zwei abschließende überlange Zusatzverse an. Das 50-strophige >Ave salve< (Nr. 1), eine Bearbeitung des >Crinale< von Konrad von Haimburg gehört in die Tradition der »Mariengruß«-Dichtungen. 19 Brant lag keine eigene Melodie vor. Auf Veranlassung des Kartäusers Ludwig Moser wurde darum bei der Drucklegung des Liedes als Melodieangabe in den Titel gedruckt, man möge doch diesen Rosenkranz singen noch der noten wyse, als der Sequentz lutet Salue mater salvatoris, d.h. nach einer beliebten Sequenz, die u.a. auch schon der Mönch von Salzburg (G 7) bearbeitet hatte. 20 Wie sehr Brant an der Sangbarkeit die auch nur nach Silben regulierte und Reime hintanstellte: »Für Sebastian Brants Dichtung war wohl nur die Silbenzahl der lateinischen Vorlage maßgebend; sie kennzeichnet die Textgestaltung der Gregorianischen Parodie, so wie sie in ihren ältesten gedruckten Denkmälern auftritt und um die Mitte des 16. Jhs. aus der Gesangbuchliteratur wieder verschwindet, um lebendigeren und anspruchsloseren Fassungen Platz zu machen.« P F L E G E R (s. Anm. 13), S. 43. 15

JANOTA ( s . A n m . 5 ) , S . 2 5 1 .

16

Die Melodie entspricht ziemlich genau derjenigen aus dem 1 2 . Jh., die B A U M K E R abdruckt. WILHELM B A U M K E R : Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen. 2 . Bd. FVeiburg 1 8 8 3 , S. 1 0 6 . Einen alten zweistimmigen Satz druckt FRIEDRICH GENNRICH: Grundriß einer Formenlehre des mittelalterlichen Liedes. Halle 1 9 3 2 , S. 128FF. Zur Form des lat. Textes siehe GENNRICH (S. Anm. 16), S. 130.

17 18

19

20

HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN: Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf

Luthers Zeit. Breslau 1832, S. 181. P E T E R A P P E L H A N S : Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Mariendichtung. Heidelberg 1970 (Germanische Bibliothek. 3. Reihe), Nr. 22; BURGHART WACHINGER: Mariengrüße. In: 2 Verfasserlexikon 6 ( 1 9 8 7 ) , Sp. 1 - 7 , hier Sp. 7. Lat. Text: Analecta hymnica 54, S. 383-386.

Sebastian Brant als Lieddichter

313

des Liedes lag, zeigt sich nun darin, daß er nicht seiner Quelle, sondern dem Formschema dieser Sequenz folgt. Brant übernimmt vom >Crinale< die 50-Strophigkeit, die stropheneinleitenden lateinischen Anrufungen (10 x Ave, 10 x Salve, 10 x Gaude, 10 x Vale und 10 x O Maria) sowie die wesentlichen Inhalte. Aber er übernimmt natürlich nicht das fünfzeilige Strophenschema mit Vierreim plus Waise (aaaab). Dagegen hatte sich Heinrich Laufenberg bei seiner 1415 entstandenen Bearbeitung genau an das fünfzeilige >CrinaleSaIve mater salvatoris< orientieren. Er übernimmt von ihr auch das Reimschema mit Doppelversikeln und Schweifreim (aab ccb) sehr genau, variiert aber bei den Kadenzen großzügig und läßt bisweilen Zeilensprünge zu. Die Bilderfülle und den poetischen Reichtum der Vorlage vermochte Brant im Deutschen gekonnt zu vermitteln. Der >Rosenkranz< (Nr. 6) ist die deutsche Bearbeitung einer eigenen, aus sapphischen Strophen gebildeten lateinischen Dichtung Brants. Das Strophenmaß hat Brant in der Überschrift seiner lateinischen Version eigens hervorgehoben. Zweifellos orientierte sich Brant hinsichtlich der Strophenzahl an der Rosenkranz- und marianischen Grußpsalter-Tradition, 22 etwa am >Crinale< Konrads von Haimburg, dessen Ubersetzung (d. h. >Ave salve< = Nr. 1) er den Titel Sant Bernharts Rosenkrantz gegeben hatte. In Analogie zu den 50 Perlen eines Rosenkranzes haben diese Lieder in ihrer lateinischen Fassung 50 Strophen. Inhaltlich unterscheiden sie sich jedoch grundlegend. Das >Crinale< Konrads von Haimburg ist seinem Charakter nach ein marianischer Lobgesang, arbeitet mit einer Fülle poetischer Bilder und versteht sich vom freudenreichen Rosenkranz her. Brants >Rosarium< ist dagegen ein kurzgefaßter narrativer Abriß des Lebens Jesu mit Betonung der Passion. Der schmerzhafte Rosenkranz ist hier der Bezugspunkt. Im lateinischen Text weist die Uberschrift auf die fünf, das Herz Mariae durchbohrenden Schmerzens-Schwerter hin (quinqué gladii virginis), und auch im Druck der deutschen Fassung von 1518 ist ein entsprechend drastischer Holzschnitt der Mater dolorosa vorangestellt. Im poetischen Charakter unterscheiden sich beide Lieder gleichfalls deutlich. Von der Fülle bildhafter Rede im >Ave salve< ist hier nichts mehr zu verspüren. Obwohl sich Brant im >Rosenkranz< am Anfang und Schluß durchaus noch um einen gewissen hymnischen Anflug bemüht, herrscht doch insgesamt seine vertraute didaktisch dozierende Trockenheit. Auch bei der Versifikation findet Brant zu den ihm vertrauten Formen des strengen Knittelverses zurück. Seine deutsche Version ist völlig regelmäßig geformt aus vierzeiligen Strophen mit den üblichen Reimpaaren (8silbig, durchgängig männliche Kadenz). Immerhin weist das Lied aber doch eine formale Besonderheit auf: die Strophenanfänge ergeben das Akrostichon Sebastian Brant von Straszburg doctor in beiden rechten, d. Die Ortsangabe Straszburg ist ein Datierungshinweis auf die Zeit nach 1501. Unwahrscheinlich ist, daß Brant gegen die Vorlage noch eine 51. deutsche Strophe hinzugefügt hat, die das Akrostichon um ein funktionsloses »d« erweitert.

21

WACKERNAGEL (S. A n m . 4 ) , N r . 7 2 7 .

22

K A R L J O S E P H KLINKHAMMER:

Sp. 42-50, hier Sp. 44 und 46.

Marienpsalter und Rosenkranz. In: 2Verfasserlexikon

6 (1987),

314

Joachim Knape

Das Akrostichon scheint nicht erkannt worden zu sein; die metrisch holprige Zusatzstrophe greift das Reimschema der 50. Strophe unverändert auf. Bleiben noch einige Bemerkungen zum Fronleichnamshymnus >Pange lingua< (Nr. 2). Brant hat auch hier ausgeführt, was er laut Überschrift der Hs. ausdrücklich als Ubersetzungsabsicht angibt: ex Latino in idioma vulgare sub congruis

rythmis

traductus. Die einzelnen Strophen sind wiederum silbenäquivalent ins Deutsche gebracht, damit Sangbarkeit nach der ursprünglichen Melodie gewahrt bleibt. Aufgrund der Reime hatte sich Priebsch bei seinem Abdruck des Liedes für 8-zeilige Strophen mit einem recht komplizierten Reimschema (aababccb) entschieden, für das sich ein bei Brant keineswegs alltägliches metrisches Schema der folgenden Art ergibt:23 4a m/w 4a m/w 7b m 8a m/w 8b m 4c w 4c w 8b m (die Zahlen geben die Silbenzahl an) Man kann aber ohne weiteres auch eine dem lateinischen Original näher stehende 6-Zeiligkeit herstellen.24 Dann ergäben sich in den Versen 1 (der beiden ersten Strophen) und 5 (aller Strophen) Binnenreime, was das Lied für Brants Verhältnisse nicht minder anspruchsvoll machen würde.

3. Sitz im Leben Wenn wir uns wenigstens näherungsweise Klarheit über den Gebrauchszusammenhang verschaffen wollen, in dem Brants Lieder stehen, sind wir gezwungen, von den Texten selbst und von den Uberlieferungsverhältnissen auszugehen. Die Texte verweisen uns ins religiöse Leben, vor allem in den Bereich der Marienverehrung. Für ihren Gebrauch läßt sich der jeweils in Frage kommende genaue Platz im Kirchenjahr nur näherungsweise angeben.25 Das Lied >Pange lingua< (Nr. 2) ist dem Fronleichnamsfest zuzuordnen, das >Ave praeclara< (Nr. 3) dem Fest Mariae Himmelfahrt26 und das >Stabat mater< (Nr. 5) sowie der >Rosenkranz< (Nr. 6) der Fasten- und Passionszeit. 23

24 25 26

PRIEBSCH hat bei seinem Abdruck die Versaufteilung der 5. Strophe nicht richtiggestellt (bei ihm müssen v. 1 zweigeteilt und die w . 4-5 als ein Vers gelesen werden). ROBERT PRIEBSCH: Deutsche Handschriften in England. 1. Bd. Erlangen 1896, S. 7. Ich habe mich für diese Version entschieden (vgl. Anhang Nr. 2). Zur Problematik einer genauen Zuordnung der Marienlieder siehe JANOTA (S. Anm. 4), S. 216. WALTHER LIPPHARDT: Ave praeclara maris Stella (deutsch). In: 2Verfasserlexikon 1 (1978), S. 5 6 8 - 5 7 0 , hier S p . 5 6 8 .

Sebastian Brant als Lieddichter

315

Die handschriftliche Überlieferung führt uns in die klösterliche Gemeinschaft der Basler Kartause und die Drucküberlieferung zur Gebets- und Frömmigkeitsliteratur. Fast alle Hss. mit Brant-Liedern aus der Zeit zwischen 1490 und 1525 gehören zum Basier Kartäuserkloster. Mittelpunkt eines religiös, vor allem marianisch gestimmten Freundeskreises war hier Heynlin von Stein. Dieser hielt keine Predigt, ohne ein oder mehrere Male das >Ave Maria< zu sprechen oder die Gottesmutter anzurufen; 27 seine letzte Predigt am 2.2.1496 war eine Marienpredigt. 28 Der Kartäuser-Chronist Georgius Carpentarius bestätigt 1526 Brants enges Verhältnis zu Heynlin, wenn er über Heynlin sagt: domui conciliavit amicos et fautores, nempe dominum Sebastianeum Brant, qui in gratiam ipsius multa carmina devota composuit.29 Damit sind vermutlich jene geistlichen Dichtungen gemeint, die Brant 1494 unter dem Titel >Carmina in laudem Mariae< bei Bergmann von Olpe drucken ließ. Zwischen 1490 und 1494 hat Brant in der mit marianischer Literatur reich bestückten Kartäuser-Bibliothek einschlägige Werke entliehen, z.B. ein Buch de laudibus beatae Mariae virginis.30 In dem bis zur Reformation zwischen Dominikanern und Franziskanern aggressiv geführten Streit um die Lehre von der unbefleckten Empfängnis wußte sich Brant mit der Kartause als Verteidiger der Immaculata conceptio einig. Hier trat auch Ludwig Moser, ehemaliger Prior der Kartause Ittingen, hervor. In einer von ihm angelegten Basler Sammelhandschrift (A IX 27) mit historischen, legendarischen und theologischen Texten findet sich Brants Autograph des deutschen >Ave salve< (Nr. 1) mit Gebeten und weiteren deutschen Sequenz-Ubersetzungen eingebunden. 31 Ob sich daraus auf eine Auftragsarbeit Brants schließen läßt oder ob man von einer Freundesgabe ausgehen muß, bleibt ungewiß.32 Auf jeden Fall hat Moser das Manuskript korrigiert und den Liedtext dann 1497 mit einigen Traktaten drucken lassen und damit ins Umfeld der religiösen Leseliteratur gestellt. Hierzu fügt sich Brants >Stabat mater< (Nr. 5) aus dem >Hortulus animaeVerbum bonum< (Nr. 4) im >Hortulus< und der >Rosenkranz< (Nr. 6) in der Seuse-Ausgabe von 1518. Auch die Basler Hs. des Hymnus >Pange lingua< (Nr. 2) und die B-Überlieferung des >Ave praeclara< stehen in den überliefernden Handschriften mit lateinischen religiösen Traktaten, deutschen 27

M. HOSSFELD: Heynlin von Stein. Basler Zs. f. Gesch. u. Altertumskd. 7 (1907), S. 341ff.

28

HOSSFELD (S. A n m . 2 7 ) , S. 3 3 3 .

29

Die Chroniken des Karthäuser Klosters in Klein-Basel 1401-1532. II. Continuatio chronicorum Carthusiae in Basilea minori, auctore fratre Georgio Carpentarii de Brugg ... 1480-1526. In: B a s l e r C h r o n i k e n . Hrsg. v o n WILHELM VISCHER, ALFRED STERN, B d . 1. L e i p z i g 1872, S.

307-356, hier S. 34; vgl. v. ROTEN (S. Anm. 9), S. 23. 30

v . ROTEN (S. A n m . 9), S. 25.

31

GUSTAV BINZ: Die deutschen Handschriften der Oeffentlichen Bibliothek der Universität Basel. 1. Bd. Basel 1907, S. 133-139.

32

S o s i e h t e s v . ROTEN (S. A n m . 9 ) , S. 30.

33

W. IRTENKAUF: Stabat mater dolorosa. In: LThK 9 (1964), Sp. 1000f.; vgl. JANOTA (S. Anm. 5), S. 217f.

316

Joachim Knape 34

Predigten sowie deutschen und lateinischen Verstexten zusammen. Der Schreiber der Berliner >Pange linguaSmedtstetter-Marienklage< an (Bl. l r -9 r ). 3 5 Spätestens seit JANOTAS >Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter herrscht Klarheit, daß derartige deutsche Lieder praktisch nie offizielle liturgische Funktion gewinnen konnten, sondern als Bestandteil »privater Kultakte« zu verstehen sind.36 Das bedeutet etwa im Fall des >Verbum bonumAve praeclara< in einem Ordinarium der Kartause von 1496. Die Hs. enthält liturgische Vorschriften für die verschiedenen Mitgliedergruppen der Kartause (Priester, Diakone, Subdiakone und Kirchendiener): Ordinarium pro officiis hebdomadalibus sacerdotis, diaconi et subdiaconi et nonnullis occurentibus circa festa super annum atque pro officio sacristae Cartusiae Basiliensis.38 Zwischen den auf diese Überschrift folgenden lateinischen Texten findet sich eine deutsche Ansprache mit Bitte um Gebetsbeistand an die im Kapitel versammelten Laienbrüder, ein kurzes lat. Regelwerk über die Akzentuierung beim Evangelien- und Epistelvortrag (De accentuatione evangeliorum et Epistolarum notandae sunt aliqua regula pro juuenibus), an das sich ein ausführliches Beispiel mit Melodienotation anschließt, und eben auch Brants deutsches >Ave praeclaraVerbum bonumAve praeclaraNew Gesangbüchlin< von 1537] aufgenommen haben.«42 Bemerkenswerte Gebrauchsspuren für die Verwendung der Lied-Einblattdrucke finden sich im St. Galler Codex 546. Der St. Galler Konventuale und secundus cantor Joachim Cuontz (fl515) erarbeitete mit dem Band, so P E T E R OCHSENBEIN, »eine voluminöse Tropen- und Sequenzsammlung«, die mit Melodienotationen versehen ist. »Dem Gesangsrepertorium (mit Ordinarium missae [fol. 30r-83r] und Sequentiarium [fol. 83v-405r]) sind mehrere ebenfalls von Joachim Cuontz geschriebene Lagen und Einzelblätter vorgeheftet, welche die Sammlung mit weiteren Hymnen, Sequenzen, Tropen und Antiphonen ergänzen sollen.« Unter diesen befinden sich auch die zwei um 1500 in Basel bzw. Pforzheim entstandenen Einblattdrucke mit den zwei Mariensequenzen >Verbum bonum< (eingeklebt auf Bl. l v ) und >Ave praeclara< (eingeklebt auf Bl. 29r) von Sebastian Brant. Der Codex hat, so OCHSENBEIN, einerseits »lediglich Entwurf- und Vorlagencharakter«, hinzu kam aber wohl auch, »wie zahlreiche Einträge belegen«, daß er »zeitweise in der Liturgie Verwendung fand«. Einen kleinen Hinweis jedoch, »daß aus diesem Band deutschsprachige Übertragungen tatsächlich gesungen wurden, gibt der in das Sequentiar miteingeheftete Einblattdruck der Sequenz >Ave praeclaraAve praeclaraPange lingua< 40

41

Zitiert nach OTTO CLEMEN: Bibliographica zur Reformationsgeschichte. V. Ein Ginblattdruck von Adam Petri Basel. Zentralbl. f. Bibliothekswesen 23 (1906), S. 232-244, hier S. 243. Zu der Anspielung auf den Johanniter siehe ebd. S. 244. WACKERNAGEL (S. Anm. 4), Nr. 861; Nachweis der Abhängigkeit bei CLEMEN (S. Anm. 40),

S. 244. 42

HOFFMANN VON FALLERSLEBEN (S. A n m . 1 4 ) , S. 2 8 6 .

43

PETER OCHSENBEIN: Notker Balbulus deutsch. In: Verborum Amor. Festschrift Sonderegger. H r s g . v o n HEINZ BURGER, ALOIS MARIA HAAS, PETER VON MATT. B e r l i n - N e w Y o r k 1992,

S. 214-237.

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Joachim Knape

und >Stabat mater< fanden auch noch im 17. Jahrhundert Eingang in katholische Gesangbücher. 44 4. Literarhistorische Einordnung der Lieder Brants Eine literarhistorische Würdigung der Lieder Brants muß unter den beiden Perspektiven der allgemeinen Liedgeschichte und der Brant-Forschung zugleich erfolgen. Bezeichnend für die bisherige Sicht Brants als Lieddichter ist, daß HENNIG BRINKMANN in seiner Untersuchung der verschiedenen deutschen >Ave praeclaraNarrenschiff< Brants ausführlicher abgehandelt wird.46 Die Gründe für diese einschränkende Betrachtungsweise liegen auf der Hand. Zum einen ist Brant bislang als Lieddichter nicht im Bewußtsein präsent, zum anderen gilt er als »Humanist« und >NarrenschiffAve salve< (Laufenberg: WK 727), >Pange lingua< (Mönch: G 40), >Ave praeclara< (Mönch: G 6; Laufenberg: WK 763), >Verbum bonum< (Mönch: G 18; Laufenberg: WK 782) und >Stabat mater< (Mönch: G 16)48. Lieder Heinrich Laufenbergs hat Brant offenbar gekannt, im Fall des >Ave praeclara< sind entsprechende 44 45

Anm. 14), S. 285, 332 und 350f. Ave praeclara maris Stella in deutscher Wiedergabe. Zur Geschichte einer Rezeption. In: Studien z. dt. Lit. u. Sprache d. Mittelalters. Fs. Hugo Moser. Hrsg. v. H O F F M A N N VON FALLERSLEBEN (S.

HENNIG BRINKMANN:

W E R N E R B E S C H , G Ü N T H E R JUNGBLUTH, G Ü N T H E R MEISSBURGER, E B E R H A R D N E L L M A N N . 46

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48

Berlin 1974, S. 8-30, hier S. 30. H A N S - G E O R G K E M P E R : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 1. Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit. Tübingen 1987, S. 74-85. Wobei man natürlich im Falle Brants nicht so weit gehen kann wie bei Heinrich Laufenberg, für den Burghart Wachinger ein »>Rezeptionsprogramm< der Mönch-Tradition« konstatiert. B U R G H A R D WACHINGER: Notizen zu den Liedern Heinrich Laufenbergs. In: Medium aevum deutsch. Festschrift Kurt Ruh. Hrsg. v. DIETRICH H U S C H E N B E T T , K L A U S M A T Z E L , G E O R G S T E E R , N O R B E R T W A G N E R . Tübingen 1979, S . 349-385, hier S . 377. Gisela Kornrumpf sieht eine gewisse Abhängigkeit der 1. Strophe des >Stabat mater< Brants vom Mönch (Cgm 715 - Spechtler G 16). Ihrer Meinung nach berühren sich beide »wohl enger, als die formgerechte Übersetzung derselben Vorlage es ohnehin mit sich bringen mußte« (briefliche Mitteilung). Zur Mönch-Überlieferung mit Zweifeln an der Verfasserschaft siehe B U R G H A R T

Sebastian Brant als

Lieddichter

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Anleihen unverkennbar. Hinsichtlich Formstrenge und sprachlicher Gewandtheit bei den Bearbeitungen der lateinischen Vorbilder steht Brant keineswegs immer hinter seinen Vorgängern zurück. Man wird Brant insgesamt in der Kontinuität bestimmter spätmitttelalterlich religiöser Kommunikationssituationen sehen können. Was den Gebrauchszusammenhang betrifft, gibt es gewisse Analogien zwischen der Situierung mancher geistlicher Lieder des Mönchs von Salzburg und derjenigen Brants, was gestattet, in beiden Fällen mit JANOTA von religiösen Gemeinschaftsliedern zu sprechen.49 Abschließend einige wenige Bemerkungen zur Stellung der Lieder in Brants Oevre. Seine zahlreichen deutschen Dichtungen sind in aller Regel gekennzeichnet von formaler Monotonie, bei der sich zudem nie wirkliche Glätte eines alternierenden Maßes einstellt. Das hängt damit zusammen, daß Brant ganz dem strengen Knittelvers und damit einer Metrik verpflichtet ist, die nach Silben zählt und nach Reimen bindet 50 , aber sie ist nicht silbenwägend, d.h., es kommt trotz sich üblicherweise einstellender Vierhebigkeit nicht zu streng regelmäßiger Alternation. Ulrich Huttens Lob, Brant habe den Jambus in die deutsche Dichtung eingeführt, hält keiner Prüfung stand. 51 So gut wie nie tauchen anspruchsvolle Strophenformen auf, es herrschen Paarreim oder gegebenenfalls noch gehäufter Reim. Nimmt man seine spröde Art didaktisierenden Sprechens hinzu, dann kommt Brant bei einem Vergleich mit den Dichtern der mittelhochdeutschen Periode leicht ins Hintertreffen. Angesichts dessen sind seine deutschen Lieder geradezu herausragende dichterische Leistungen. Wir treffen hier auf eine sonst bei Brant nicht feststellbare Formenvielfalt und auf einen durch die Vorlagen stimulierten Formanspruch, die jedes Lied zu einem poetischen Individuum machen. Im Einzelfall findet sich eine kraftvolle poetische Sprache und immer äußerste Formstrenge. Brants Lieder zählen daher zu seinen besten deutschen Dichtungen.

Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter. Tübingen 1989, S. 26-29. Vgl. zum Mönch JANOTA (S. Anm. 5), S. 255 und 260f. sowie F R A N Z V I C T O R SPECHTLER: Beiträge zum deutschen geistlichen Lied des Mittelalters. ZfdPh 90 (1971) Sonderheft, S. 169190. CHRISTIAN WAGENKNECHT: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München 1 9 8 1 , S. 27. Siehe dazu JOACHIM K N A P E : Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants (1457-1521). Baden-Baden 1992 (Saecvla Spiritalia 23), S. 359f. WACHINGER:

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Anhang 1. Ave salve gaude vale (dt. ca. 1490-96) 52 Vorlage: >Crinale B.M.V.< des Konrad von Haimburg (fl360);53 ed. Analecta hymnica 3, 22-25.84 Überlieferung: A. Handschriftlich als Autograph Brants im Basler Cod. A IX 27, Bll. 195r-202v von ca. 1490;55 Titel: Sant Bernharts rosen krentzelin. b. Gedruckt als drittes Stück nach dem >Curß vom sacrament< und der »Vßlegung des Gloria patri< im Anhang von Ludwig Moser: Der guldin Spiegel des Sunders. Basel, Johann Amerbach, 1497, Bll. eiija-elOa.66 Titel: Sant Bernharts Rosenkrantz den er selbs vom heiligen geist gelert der heiligen iungfrowen maria gotts muter ze lob vfi der heiligen geschrifft gedichtet hat. Den mag man singen noch der noten wyse / als der Sequentz tutet / Salve Mater Salvatoris.57 Moser gibt im Titel also einen klaren Melodie-Hinweis. (= WACKERNAGEL: KL II, Nr. 1074, hier irrtümlich Ludwig Moser zugeschrieben.)58 Die überlieferten Fassungen A und b weichen in verschiedenen Strophen beträchtlich voneinander ab. 59 Text nach A: Ave salve gaude vale, O Maria, uß dem tale der zytlosen ich nit flieht jetz ein Krentzelin von rosen sunder bluomen gantz on mosen hab ich geistlich dir gedieht. 52

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Ave jungfrow, spons und dohter ußerwelte gottes muotter, fürsehen von ewikeit, durch propheten und wissagen vorgeseit vor altten tagen hat dich got jm selb bereit.

Die Datierung schwankt. WILHELMI datiert die früheste hsl. Überlieferung auf ca. 1490 ( T H O MAS WLLHELMI: Sebastian Brant. Bibliographie. Bern u.a. 1990 (Arbeiten z. mittleren dt. Lit. 18/3), Nr. 4); SCHMIDT um 1496 ( C . SCHMIDT: Histoire littéraire de L'Alsace à la fin du X V E et au commencement du X V I E siècle. Bd. 1. Paris 1879, S. 349f.). Zu Brants Zeit falschlich St. Bernhard zugewiesen. Vgl. zum Text: F R A N Z J O S E F WORSTBROCK: Konrad von Haimburg. In: 2Verfasserlexikon 5 ( 1 9 8 5 ) , Sp. 1 8 2 - 1 8 9 , hier Sp. 186. WILHELMI (s. Anm. 52) Nr. 4; vgl. WORSTBROCK (S. Anm. 54), Sp. 187; abgedruckt mit den handschriftlichen Korrekuren Ludwig Mosers und den Varianten des späteren Druckes (= b) bei K. SCHMIDT: Einige deutsche Gedichte von Sebastian Brant. In: Alsatia 1873-1874. Hrsg. V. A. STÖBER. Colmar 1875, s. S. 45-60. WILHELMI (S. A n m . 5 2 ) , N r . 4 5 0 ; v g l . WORSTBROCK (s. A n m . 5 4 ) , S p . 1 8 7 .

Ex. Basel: F. X 1. Unter dem Namen Ludwig Mosers auch noch bei APPELHANS (S. Anm. 19), Nr. 22, S. 40f. Vgl. die Fußnoten bei SCHMIDT (S. Anm. 55) und den synoptischen Abdruck der Fassungen bei M A R Y A. R A J E W S K I : Sebastian Brant. Studies in Religious Aspects of His Life and Works. Diss. Washington 1944, S. 165-176.

Sebastian Brant als Lieddichter 3

Ave rosa ußerkoren von der kynnig staun geboren über alle hymel gesetzt, durch alle weit wytt ußgespreitte biß unser schyrm, schatt, geleitte das der vygend uns nit letz.

11 Salve schöne Veldes bluome die mit hohem schyn und ruome uffgast so gar wunderlich, wer dir dyent din gnad enpfindet, hunig sieße gab der fyndet die jm blibet ewigklich.

4

Ave o der gotheit hymel, des paradyß wollust zymel. sal der höhsten maiestet, der tryfaltikeit ein tempel aller tugent ein exempel, o schryn gots, schloßkammer, bett.

12 Salve liehter regenbogen gantz voll färbe hoch gebogen, luhtest schon gen vesperzit, dan erglest die sunn der eren, bist ein zeichen gotts des herren der sin fryden durch dich gytt.

5

Ave du gemahel siesse durch den engel bist gegriesset, durch gott vatter überschätt, hast das wort, ein jungfrow swanger, durch den heiigen geist entpfangen das dir gott gesendet hett.

13 Salve o du füren süle und du wolck mit zeychen vile der uns duot den weg bekant. von den bösen durch die wyeste, für uns, mutter aller syeste, in das globte vatterlant.

6

Ave jungfrow die doch kyndet hat, der bosch was angezyndet brandt doch nit in Synay, du entflambte von gots fyre, durch din fürbitt, hilff und styre mach uns aller Sünden fry

14 Salve ruot von Jeses somen die uns bringt den schönen bluomen der syn rouch in hymel gytt, der dich zyeret, jungfrow werde, und gibt sießen gsmack der erden, macht uns aller sünden qwitt.

7

Ave muoter Salomonis würdig des hymelschen lones treift krön, zepter ewiklich din sun ert mit schönen goben inn des hymels tron do oben o Kynngin der eren dich.

15 Salve muotter ußerkosen in der weder lasters mosen noch das joch der sünden hafft das von Eva dich beleyde, sunder hast mit großer freyden geboren durch gottes krafit.

8

Ave tal und brunn der garten noch dem durstet und duot warten das ruwig hertz yemertol, wesch uns von dem mos der Sünden Das wir hymeltrank befunden, O wynschenkin gnaden vol.

16 Salve dyenerin des herren die in demuot dett erneren mit jr brüst den woren gott, mach uns zuo dem lieht inkeren do du schynst in großen eren bi dem kynnig Sabaoth.

9

Ave liehter stern des meres ufi dem spryfit die sunn der eren das lieht der gerehtikeit, durch den berg bistu bezeichet von dem wart der steyn gereichet der on hend ward ußbereit.

17 Salve jungfrow ußerlesen die ein muotter bist gewesen eins kindes so wunderlich, des allein den pryß du fierest, darumb billich du regnierest inn des höhsten gottes rieh.

10 Ave schynbar gottes arcke die erglestend also starcke schyn des tages übertrifft du ein hofnung unser jugent sich am, muotter aller tugent, das die gantz weit zuo dir ruofft.

18 Salve muoter hohes stammens, o kynngin eins edlen nammens, myttdeil uns von mylter hend, das wir din kynt allzit loben umb syn gnadenrichen goben in dem tal unsers eilend.

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Joachim

19 Salve die vast guot zuo grießen, die zuo gdencken ist gar sieße, gyht groß freid wer sie betraht, wer die sieße muotter nahet, mit syn armen dich umbfahet, den hast du bald seilig gmaht.

27 Gaude mit Sternen gezieret, mit der sunnen schyn umbfieret, under dir der mon duot stau, allzit blibstu unverseret, hast umbgeben und umbgöret, jungfrow muoter, eynen man.

20 Salve Spiegel aller tugent, biß in anfehtender jugent schirm und schilt mir vor dem leid, hilff den argen vindt vertriben, das ich noch mym tod mög bliben by dir in des hymels freid.

28 Gaude schuol der zuoht und eren glos des gsatz, ein brunn der leren, vaß hymelscher ärtzeny wellest uns von schuld erneren, so die dorn der sünd verseren loß din hilff uns wonen by.

21 Gaude fröw dich diner sieße, so das hertz dich reht duot grießen so zerflüßet es von freid, wann es diner gnaden ahtet und din lylien gsmack betrahtet, lebt es fry on alles leid.

29 Gaude jungfrow sieß on ende, schaff uns noch disem eilende so das leben uns entwich das wir, die dir freid ietz sagen, mit dir ewig freid duont tragen, in der höh des hymels rieh.

22 Gaude fröw dich edler throne den mit helffenbein so schone gott hat selber zuobereit und mit synem gold gezieret, das darinn sitzt und regieret got der sun in ewigkeit.

30 Gaude dann got by dir blibet, ewiklich freid mit dir tribet und din freid ist by jm gantz, durch den bitt ich dich, jungfrowen, wellst myn blyndes hertz beschowen mit dins angesiehtes glantz.

23 Gaude ampel die mit truwen hat der weit zuo lieht gebuwen gott, domit man suoch den weg der uns füret zuo dem leben, und ein nuwes lieht uns geben das nieman verlöschen mög.

31 Vale blügend und luftliche, vor dym uffgang liehtes riche, im uffgang gantz schön du bist, die keyn kelt ie hat erfröret noch keyne sündenmas versöret, o vyol dem nüt gebrüst.

24 Gaude höhste creature, wore muoter, jungfrow pure, der geben ist on gebrest das widernatürlich wesen, gschöpfde und muoter bist gewesen, den schöppfer geboren hest.

32 Vale du gedörte ruote Aaron, durch wunders bluote wurtzelst du, grien ast und bluom uß der springt die schöne fruochte die uns mit voller genuohte bringt des mandels süßen ruom.

25 Gaude fruchtbar und erlühtet die der tow nit hat gefühtet do das feil genetzet wart das der kynnig jung anstreyffet und in lambes woll sich sleyffet der eynig sun gottes zart.

33 Vale, von gold eymer rote in dem lyt das hymelbrote und die wore engelspys, die do gibt ein freid dem hertzen und macht das wir gar on smertzen leben all im paradiß

26 Gaude o freid aller lieben heyligen, die in freid sich üben, durch dich fröwt der kynnig sich, die gerechten all dich eren, dich lobt in der engel chören das geseng so mynneclich.

34 Vale du räb die gepflantzet hat der vatter und umbschantzet mit dem wort der ewigkeit, als du jungfrow hast entpfangen und von Zypern ist uffgangen der trybel der uns erfreyt.

Knape

Sebastian Brant als

Lieddichter

35 Vale du schon, rote und wunne morgenröt der woren sunne die all stund uns ist bereit wellest unser hertz erlühten und mit tow der gnaden fühten, baisam aller süßikeit.

43 O Maria, port beslossen, von der kynnig stamm entsprossen, für uns, frow, mit diner krafft in das paradiß so zarte du gantz wol besloßner garte, anfang aller jungfrowschafft.

36 Vale aller wollust throne den gebuwen hat so schone die hant gottes meisterlich, durch den vinger gots gezieret bistu kammer kusch polieret crist din gmahel wunneclich.

44 O Maria, bächer sieße do der hunnig uß duot fließen, gott der vatter dich erweit das du würst syns sunes muoter, der durch dich würd unser Bruoder und die gnad gantz zuo dir stelt.

37 Vale fürsprechrin für siehte, o Abigayl beriehte, du eyniger trost ußerkorn Ruth die betten kan mit ziehten, Sunamitis die erdiehten und begieten kan den zorn.

45 O Maria gülden ruote durch die Assuerus der guote abloßt synen grymmen zorn, du begüttest uns den herren das er unser wund tuog neren, das wir werden nit verlorn.

38 Vale Judith starck und schöne, dött des todes fürsten höne, lydig uns von synem bandt, Hester, wellst uns armen fieren von des grymmen todes türen, henck Ammon mit diner handt.

46 O Maria, du turn mylte, wolbereit mit tusent sehylte hat her David dich geziert, in den hymel hoch gesetzet, durch dich werd der vyndt geletzet der zu Sünden uns stäts fiert.

39 Vale nun und ewiklichen, so din lob wir nit verliehen und ußsprechen mögen gar, wellst doch nemen für ein goben unser kleyn swach blödes loben das dir dudt menschliche schar.

47 O Maria, leyter hohe mach uns zu dem hymel nohen von der tieff dis jomertal, do wir lygen swär gefangen, das gesellschaft wir erlangen durch dich in der engel zal.

40 Vale jungfrow, zuo dir schrygen ich bin diener, o Marien, mit dem ast dynr miltekeit wellst mich vor dem tod gefrygen, mach zuor rechten handt uffstygen do ich blib inn ewigkeit

48 O du sieße spons Maria die die hymelsch jerarchia lobt mit gsang und freiden groß, hör uns, muotter, die do sygen zuo dir betten, ruoffen schrygen, in dem eilend uns nit loß.

41 O Maria, sieß der bluomen myrtus schön, höh zederboumen und der pomerantzen krafft, du wol ryechend appothecken wellst dyn salben uns ußstrecken, o keyller mit wyn behafft.

49 O Maria, sygest on we, von mir armen nym dis ave und dis krentzlin miltteclich, du der hymel kynnigynnen, wellst mir, das ich dich lob, gynnen nun und harnoch ewiclich.

42 O Maria, bluom der rosen, zymmet, ölboum, ußerkosen, nardispicat, zypreß fry, myrrh und wyhrouch und palmarum übertriffstu fistularum cafy und all specery.

50 O Maria, trost der armen, mach gott vatter sich erbarmen über uns mit sun und geyst, das noch unserm letzsten scheyden er uns näm zuo synen freyden, hilff uns muotter allermeyst. Amen.

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Joachim Knape

2. Pange lingua (dt. ca. 1491) Vorlage: Wahrscheinlich von Thomas von Aquin für das 1264 eingeführte Fronleichnamsfest verfaßter Hymnus; ed. Analecta hymnica 50, 586f.

Überlieferung: A. Handschriftlich im Berliner Ms. germ. quart. 636, B1.10 v -ll r , lt. Schreibervermerk von 1491;®° B. Handschriftlich im Basler Cod. A XI 82, Bl. 50r, aus der Zeit um 1500." Die Überschrift läßt keinen Zweifel, daß Brant bei der Bearbeitung Sangbarkeit herstellen wollte: Hymnus Pange lingua de Corpore Christi ex Latino in idioma vulgare sub congruis rythmis per Sebastianvm Brant traductus\ c. Gedruckt in >Uslegunge der hymbs nach der zitt des gantzen iaresGeistliche Lieder und Psalmen der alten Apostolischen rechtGesangbuch< hrsg. v. HOFFMANN VON FALLERSLEBEN (S. Anm. 6 6 ) , Nr. 4 7 und bei P F L E G E R (S. A n m . 1 3 ) , S. 6 2 - 7 7 . WILHELMI (S. A n m . 5 2 ) , N r . 5 8 8 .

Sebastian Brant als Lieddichter zu dem nahen / empfahen / wir den bhalter vff dem alter / in wein vnd brots gestalt. Von dir vß gat das wäre hymel brot / das vor ee den waren sfinen abrahe / von hymel kam / die groß wunder nam / was das bedeüt mögen heüt / wir armen leüt / schawen schon all decküng on / hilff iungkfraw patron / das wir zü dem brot hymels wirdigklich gan. 6

Mach so wir messen / den brunnen süssen / der von dem völß fliessen / inn der wüsten mit dem glauben zieren / begürt vnser nieren / geweschen in dem mer / den schlangen vß er / am kreütz hangen speculieren. Mach das wir bloß nahen / in thieres heüt gahen / entpfahen das worte / das man horte

327 im bosch vnuerzeret / da du müter mit schäm / inn flam gemeret vnuerseret / in eren trügst den heren. Hör vns nun / dann dein sün dir nüt versagt was du wilt thün. Laß vns nit / Jesu mach quit von sünd für die dein müter bit. Schaff vns den brunnen der güte / mit reinem gmüte vnd äugen anschawen iungkfrawen. So wir den schlinden entpfinden / der weißheit vns bereit den gschmack lebens vnd Seligkeit. Den glaub mit wercken stercken vnd zieren / vnß zü füren / zü selgem end behend / nach disem eilend vns werd geben / das wir schweben by dir vnd leben.

4. Verbum bonum (dt. um 1500) Vorlage: Anonyme aus nur drei Doppelversikeln bestehende Sequenz mit gleichgebauten liedmäßigen Hymnenstrophen, Frankreich Ende 11. Jh.; ed. Analecta hymnica 54, S. 342.

Überlieferung: a. Gedruckt als Folio-Einblattdruck mit Melodienotation: Verbum bonum getütst durch Sebastianum Brant. Pforzheim, Thomas Anshelm, ca. 1506;77 Ex. St. Gallen, Stiftsbibliothek: 77

Datierung aufgrund buchkundlicher Merkmale bei H. ALBERTS: Reuchlins Drucker, Thomas Anshelm. Mit besonderer Berücksichtigung seiner Pforzheimer Presse. In: Johannes Reuchlin 1455-1522. Hrsg. v. MANFRED KREBS. Pforzheim 1955, S. 205-265, hier S. 246, Nr. 27.

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Joachim Knape

Cod. 546; linksseitig defekt, mit Textverlust. Ex. Ratsschulbibliothek Zwickau: 65.7.12.(II) 78 und Heidelberg.79 b. Gedruckt im >Hortulus animaeHortulus animaeHortulusHortulusHortulus animaeHortulusHortulusHortulusStabat mater< noch nicht. V O N R O T E N (S. Anm. 9 ) , S. 35 Anm. 40. Der Text ist auch in Wähingers >HortulusHortulus< von 1 5 1 8 ab, der auf Bl. CXXI einer »Salus animeVerbleib unbekanntGottlob!< seufzte Kerner, >haben Sie immer nur recht viel zu thun!< Diese warme Theilnahme für sein gewerbliches Gedeihen nahm der Mann mit gerührter Dankbarkeit auf.« Zitiert nach H A N S W I D M A N N : Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen. Hamburg 1965, Bd. II, S. 357. Dreißig Volkslieder aus den ersten Pressen der Apiarius. In Faksimiledruck herausgegeben mit einer Einleitung und Bibliographie von D R . H A N S BLOESCH. Bern 1937. E R N S T PHILIPP GOLDSCHMIDT: Medieval Texts and Their First Appearance in Print. London 1943, S. 13.

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John L. Flood 32

ich, möcht ich auch ein truckerherr werden. Und über einen Zeitgenossen schreibt Platter: do was Ruprecht Winter, des oporini schwager, der hat ein Jrowen, die wolt auch gären ein trukerherren frow gsin, gsach wie die trukerherren wiber so ein pracht triben, an welchen inen gar nütz brast, dan sy hat gutz gnug, mutz nur zuvill.33 So war es wohl ein Glück für den kostenbewußten Drucker, daß die Käufer die Melodien schon kannten, auf die die Lieder zu singen waren. Wohl mehr als 95 Prozent der Lieddrucke enthalten keine Noten; im Sammelband der British Library haben nur zwei Lieder Noten (Nr. 29 und 48). Das bedeutete eine große Ersparnis, denn der Musikdruck war umständlich und daher teuer. Man konnte die Melodie im Holzschnittverfahren wiedergeben - ein schönes Beispiel dafür findet sich im Nürnberger Kartenspiel Hans Rumpolts aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, von dem das Britische Museum ein Exemplar besitzt 34 - , aber der Nachteil davon war, daß der Holzstock selbstverständlich nur für eine Melodie verwendet werden konnte. Der Notensatz war dagegen flexibler, aber auch umständlicher, und erforderte Setzer mit großem Können. Es gab verschiedene Techniken. Nach der einen druckte man im ersten Arbeitsgang die Notenlinien, in einem zweiten die Noten selber, und in einem dritten Arbeitsgang unterlegte man den Noten den Text. Insofern die kleinen Liedheftchen überhaupt Noten brachten, war es so, daß man zumeist Notentypen verwendete, bei denen eine einzelne Note gleich mit den dazugehörigen Notenlinien gegossen war. Diese konnten beliebig zusammengesetzt werden, sie hatten aber den Nachteil, daß man die Brüche in den Notenlinien sieht. 35 Der Hauptnachteil für den Kleindrucker war, daß die Notentypen sehr teuer waren. Einem drucktechnischen Handbuch des 18. Jahrhunderts zufolge kostete ein Zentner Notensatz zwei-, drei-, gar viermal soviel wie ein Zentner Buchstabensatz, und im 16. Jahrhundert dürfte es kaum anders gewesen sein.36 Hinzu kam, daß das Arbeitstempo eines Notensetzers wesentlich langsamer war als bei einem, der gewöhnlichen Text setzte. Die Liederdrucker der Reformationszeit waren meist wenig kapitalkräftig; so scheuten die meisten von ihnen die Anschaffung des teuren Notensatzes und damit sparten sie auch die höheren Lohnsätze und das langsamere Arbeitstempo der Notensetzer. Es ist übrigens noch nicht erforscht, wie weit der Notensatz bei den Liederdruckern tatsächlich vorhanden war. In Nürnberg besaß ihn neben dem bereits erwähnten Valentin Neuber auf alle Falle Jobst Gutknecht. Selbst Drucker wie Apiarius, der vor seiner Ubersiedlung nach Bern in Straßburg zahlreiche Musikdrucke herausgebracht hatte, verzichtete beim Lieddruck auf den Notensatz. Die Beliebtheit vieler Texte, der niedrige Preis des einzelnen Druckes und eine vergleichsweise effektive Verbreitung, indem die Ware unmittelbar an den Käufer 32

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H. B o o s : Thomas und Felix Platter. Zur Sittengeschichte des XVI. Jahrhunderts. Leipzig 1878, S. 88. B o o s (s. Anm. 32), S. 88. Dazu s. CLIFFORD ARMSTRONG: Sixteenth-century German playing-cards. A little-known source of German songs. Early Music 5 (1977), S. 209-217. Allgemein zu diesem Thema s. AKE DAVIDSSON: Bibliographie zur Geschichte des Musikdrucks. Uppsala 1965. Praktisches Handbuch der Buchdruckerkunst für Anfänger von CHRISTIAN GOTTLOB TÄUBEL. L e i p z i g 1791. N a c h d r u c k . Hrsg. v o n MARTIN BOGHARDT, FRANS A . JANSSEN u n d WALTER

WILKES. Darmstadt 1982, 1. Teil, S. 163-164.

Das Lied im Verlagsprogramm deutscher Drucker des 16. Jahrhunderts

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herangetragen wurde (im Gegensatz zum Buchverkauf der stationär oder über Buchmessen erfolgte), führen zu einem relativ hohen Absatz. Hier haben wir gewiß den Beginn des Impulsivkaufs zu erblicken. Das Geschäft mit Lieddrucken konnte für den Drucker durchaus einträglichen Gewinn bringen, obwohl keiner dabei reich wurde. Möglicherweise wurden die kleinen Lieddrucke mit vier bzw. acht Blättern gewissermaßen als »Lückenbüßer« aufgelegt in Zeiten, in denen das Geschäft flau war, damit man eines bescheidenen aber regelmäßigen Einkommens sicher sein konnte. Ein solches Heft hätte man am einem Tag setzen und abziehen können. Uber die Auflagenhöhe dieser Drucke sind wir schlecht informiert. Die Hefte mit vier Blättern wurden möglicherweise paarweise gedruckt, um so den ganzen Bogen auszufüllen. Auf diese Weise hatte man bei fünfhundert Abzügen gleich tausend Hefte verkaufsbereit. Die Lieder wurden nicht nur am Druckort selbst verkauft, sondern auch über Kolporteure andernorts vertrieben, wobei die Verbreitung keineswegs nur auf die städtische Gesellschaft beschränkt blieb.37 So kamen fliegende Buchhändler aus Augsburg in die Städte und Dörfer Tirols. 38 Die Kolporteure sangen die Lieder auf Marktplätzen und Kirchweihen oder in Gasthäusern und verkauften sie an der Haustür. Die gereimten Titel mancher Lieder eigneten sich gut zum Vorsingen durch den Kolporteur. In dieser Aufführungspraxis sieht PETZOLDT wohl mit Recht einen direkten Vorläufer des Bänkelsangs.39 Genauso wie die gereimten Titel ein werbewirksames Mittel waren, so taten die Drucker auch sonst ihr Bestes, um ihre Ware anzupreisen. Deshalb versäumten sie selten die Gelegenheit, die »Neuheit« oder die »Schönheit« des jeweiligen Liedes hervorzuheben, und damit die Titel nicht so eintönig ausfielen, entwickelten sie ein reiches Repertoire an Variationen. Eine Analyse der Titel eines kleinen Corpus von ca. 180 Liederdrucken, bestehend aus dem Sammelband C.175.i.31. der British Library, weiteren 80 Liederdrucken dort und den 30 von BLOESCH herausgegebenen Apiarius-Liedern, ergibt folgendes Bild: 74 mal wird die »Schönheit«, 36 mal die »Hüpschheit« (besonders häufig in den Apiarius-Liedern) - zusammen also 110 mal die Schönheit bzw. die Hübschheit betont - , und 90 mal die »Neuheit«.40 Nur zwei Lieder werden als »kurtzweylig« bezeichnet und lediglich vier Titel enthalten kein Adjektiv. Aber die Begriffe »schön« und »neu« erscheinen in vielfältiger Kombination, mal mit »geistlich«, »tröstlich«, »christlich«, mal mit dem Substantiv »Lied« im Singular oder im Plural oder mit »Gesang«, »Lobgesang« und anderen Bezeichnungen, so daß die Titel irgendwie immer anders ausfallen. Auch die Holzschnitte und die Zierleisten tragen dazu bei, jedem Titel ein anderes Aussehen zu verleihen, auch wenn die gleichen Bilder und Zierstücke immer wieder Verwendung finden. Die 37 38 39 40

Entgegen KRAUS (S. Anm. 3), S. 16. Dazu s. JOHN L. FLOOD: Umstürzler in den Alpen. Daphnis 20 (1991), S. 231-263. Dazu s. LEANDER PETZOLDT: Bänkelsang. Stuttgart 1974 (Sammlung Metzler 130), S. 9. Gin ähnliches Bild zeigen auch die Titel der verhältnismäßig wenigen englischen Lieddrucke der Zeit bis 1640. Von den 42 »ballads« und »songs«, die im Short-Title Catalogue of Books Printed in England, Scotland and Ireland and of English Books Printed Abroad 1475-1640. First compiled by A. W. POLLARD and G. R. REDGRAVE. Second edition, revised and enlarged [...]. London 1976-91, verzeichnet sind, werden nicht weniger als 30 als »new« bezeichnet und 12 als »pleasant«.

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John L. Flood

Frische der Ware wird auch suggeriert durch das häufige Fehlen des Druckjahrs. Im 16. Jahrhundert war man, soviel ich weiß, noch nicht auf den Gedanken gekommen, wie bei den späteren Volksbüchern schlicht »Gedruckt in diesem Jahr« darauf zu drucken. Nur knapp 16 Prozent der Lieddrucke in der British Library verraten ihr Erscheinungsjahr, und darunter findet sich nur ein einziger Druck aus Augsburg (aus dem Jahre 1572). 83 Prozent von Thiebolt Bergers Straßburger Lieddrucken, vor allem die geistlichen, sind ohne Jahresangabe erschienen. Ein weiteres Moment, das sowohl der Monotonie entgegenwirkte als auch die Vertrautheit suggerierte, war die Tonangabe auf dem Titelblatt. Ein Hauptmerkmal des musikalischen Klimas der Zeit war eben das Vorhandensein eines großen Repertoires von bekannten Melodien.41 Daß die meisten Lieder auf bekannte Melodien gesungen werden konnten, kam, wie wir schon sahen, den Interessen der Drucker insofern entgegen, als sie auf den umständlichen und kostspieligen Notensatz verzichten konnten. Eine Analyse des Londoner Sammelbandes ergibt folgendes: Die 72 Drucke enthalten 153 strophische Texte (nebst zwei Reimpaarsprüchen). In einigen Fällen (lh, lj, lk, lu, 13,14a, 18a, 19b, 19d, 21c, 22, 23a, 23b, 26, 30a, 47a, 47b, 47c, 47c, 49a, 52c, 56a, 57, 65b, 65c, 72f, 72g, 72h, 72i) wird der Ton nicht bezeichnet. Gelegentlich werden Alternativmelodien vorgeschlagen (Nr. 5, 21b, 48, 50a, 58). Eine neue Melodie mit Noten haben Nr. 3 und 29. Insgesamt werden zweiundneunzig Töne und Melodien genannt. 42 Es fallt auf, wie oft der Herzog Ernst-Ton (5 mal) und >Aus tiefer Not< (6 mal) vorkommen. 41

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Auch diese Tradition setzt sich im Bänkelsang fort. PETZOLDT (S. Anm. 39), S. 54, erwähnt, wie im Dritten Reich die bei Bänkelsängern beliebte, volkstümliche Melodie >Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen< für das Horst-Wessel-Lied übernommen wurde. Es sind: Inventor rutuli (la); Urbs beata Jerusalem (lb); Rex sanctorum (lc); Crux fidelis (ld); Quem terra pontis ethera (le); Conditor alme siderum (lf); Iste Confessor (lg); Gloria laus et honor (Ii); >Auf die weise ... des verlornen Sons< (11); Exultet celum laudibus (Im); Vexilla regis prodeunt (In, 45b); Festum nunc celebre (lo); Entlaubt ist vns der walde (lp, 65a, 72j); Wider alle falsche Secten (?) (lq); Nach grüner färb mein Hertz verlangt (lr); Elendt hat mich vmbfangen (ls); Ein weiblich bildt / mein hertz bezwungen hat (lt); Hertzog Ernst (2, [des Berners thon] 16, 20, 27b, 54); Ich stund an einem Morgen / heymlich an eim orth (3, 4a, 71); Von edler art (4b, 61b) (offenbar verschieden von 46, 59a); Gott grüß dich Bruder Veyte / wo hast du willen hin (5); Lobt Gott jhr frommen Christen / Frewt euch vnd jubilirt (5, 6); Beschaffen Glück ist unversaumbt (7, 10b); Kumpt her zu mir spricht Gottes Son (8); So weiß ich eins das mich erfrewt / das plümblein auff breyter Heyde (9); Nach willen dein / ich (10a); Danheusers thon (11); Der Thöricht spricht es ist kein Gott (12, 53a); Es taget vor den Osten / Der Mon scheint vberal (14b); Lieblich hat sich gesellet (14c); Es wonet lieb bey liebe / darzu groß Hertzenleid (15a, 59b, 60); Ob ich gleich arm vnd elend bin (15b); Nun frewt euch lieben Christen gemein (18b, 34a, 66b); »Wie man vmb krentz singt< (19a); Heint hebt sich ein abent tantz (19c); Von Toll (21a); In des Passion uieyß (21b); Es seind doch sälig alle die (21b); In Meyster Popo thon (21d); Warum betrübstu dich mein Hertz (23c, 68a); Tagweyß des frölins jm holen steyn (24); Ir lieben Christen frewt euch nun (25); >wie S. Jacobs lied< (27a); Im Hofthon des Schillers (28); Aus hertem wee klagt sich ein Held (30b); >In frischer Melodey* (31); Es fleugt ein Vögelein leyse (32a); Was viöll wir aber heben an (32b); Mag ich vnglück nit widerstahn (33a, 72s); So wolt ich gern singen (33b); Hilff Gott dass mir gelinge (33c); Ich ruff zu dir Herr Jhesu Christ (34b); Im Thon des Vater vnsers (35); Patris sapientia (36); Im langen regenbogenton (38, 64); Der morgen Stern hat sich geschwungen (39a); Es wolt ein Maydlein Wasser holen (39b); In Maria Psalter weiß (40); In dess Römers gesang weiß (41a); Christum wir sollen loben schon (41b); Es geht ein frischer Summer daher / Ja wölt jr hören newe mär

Das Lied im Verlagsprogramm deutscher Drucker des 16.

Jahrhunderts

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Die ältere Forschung hat die Lieddrucke gewissermaßen allzusehr als bloße »Behälter« für Lieder betrachtet. Was zu wenig beachtet wurde, ist der Warencharakter dieser Lieder. Im 16. Jahrhundert war das Feilbieten von Literatur j a im wesentlichen etwas ganz Neues. Die quantitative Bedeutung des Lieddrucks und besonders die Art der Distribution durch Kolporteure macht den Warencharakter dieser Literaturform besonders augenfällig. Der niedrige Preis schuf einen neuen, wachsenden Markt, den der Buchführer versorgte. Dieser war eben auf den Umsatz der Ware für seinen Lebensunterhalt angewiesen. Wie P E T Z O L D T sehr richtig betont hat, besitzt der Lieddruck für uns also kulturgeschichtliches wie auch literaturgeschichtliches Interesse, zumal mit einer gewissen Wechselwirkung zwischen der literatursoziologischen Situation und der Textgestalt gerechnet werden kann. Der Warencharakter, wie er in den Produktionsbedingungen, Verkaufspraktiken und Werbetechniken zum Ausdruck kommt, erlaubt die Annahme eines besonders ausgeprägten Konsumverhältnisses des Publikums zum Lied als einem mitbestimmenden Nexus zwischen Text und Rezipienten. Es liegt nahe, Konzessionen an den Publikumsgeschmack bzw. eine Rückwirkung der Publikumserwartung auf die Textgestaltung anzunehmen. Der materielle Gebrauchswert des Lieddruckes war gering, doch hatte er einen i d e e l l e n Gebrauchswert, der sich aus dem Bedürfnis nach Belehrung, Unterhaltung, Information beim Publikum ergibt, das durch Aufführung und Textbeleg befriedigt wird. Produktion und Distribution der Lieddrucke sind Ausdruck des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems, das sich in dieser Zeit entwickelt und in dem Unternehmergeist und kalkuliertes Risiko Erfolgschancen versprachen, was als Motivation auch im literarischen Bereich zurückgewirkt haben mag. Der Buchdruck war eben als formative Kraft wirksam: er fusionierte eine alte Tradition - das Singen von Liedern auf alte Melodien - mit einer neuen Form, der wohlfeilen Flugschrift. 43 Neuerdings hat auch INGEBORG SPRIEWALD die Bedeutung des Buchdrucks als formative Kraft hervorgehoben: sie hat dargelegt, wie die »Mehrgleisigkeit der Rezeptionsformen«, worunter u.a. die Vielfalt der Überlieferungsträger - Einblattdruck,

(42); Im bewerten thon Hans Sachssen (43); 0 mensch bewein dein sünde groß (44a); In dem langen Hoff thon Jörg Schillers (44b) (vgl. 28); Ach lieb mit leydt (44c); Wer Gott nicht mit ms diese zeit (45a, 67a); Maria zart / von edler art (46, 59a); Es spricht der vnweisen mund wol (48,63a, 63b); Auß tieffer not schrey ich zu dir (48, 52b, 53b, 61a, 62, 66a); Do Jhesus an dem Creutze stundt (49b); Jesus ist ein süsser Nam (50a); O Herre Gott ich rüff (50a); Christ der du bist der helle Tag (50b); Ich ging eins mals spazieren (51); Wo Got der HERR nit bey ms hellt (52a, 67b); Es warb ein Knab nach Ritterlichen dingen (55); In natali Domini (56b); Die Sun die steht am höchsten (58); Ich stund an einem morgen (58); Ach Gott von Hymmel syh darein (63a, 63b); Herr Gott Vater im Himelreich (67c); Vt integer vitae (68b); Frisch auffjhr Landßknecht alle (70a); >Im thon / wie der 13. Psalm< (70b); Wol a u f f j r Reytters knaben (72a); Zart schöne fraw (72b, 72q); Wol dem der in Gottes Jorchte steht (72c, 72e); Mein seel erhebt den Herren mein (72d, 721, 72p (vgl. Nr. 40 ?); Mich rewt vnd klag (72k); Mein fleyß vnd müh (72m, 72n, 72o); Was wirt es doch (72r); Von deinet wegen bin jch hie (72t). 43

Siehe KYLE C. SESSIONS: Song pamphlets: Media changeover in sixteenth-century publicization. In: GERALD P . TYSON u n d SYLVIA S. WAGONHEIM (Hrsg.): P r i n t a n d C u l t u r e in t h e

Renaissance. Newark - London - Toronto 1986, S. 110-119, hier S. 117f.

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Liedheft, Folioausgabe usw. - zu verstehen ist, eine überzeugende Erklärung z. B. für die Mehrfachbearbeitung eines Stoffes durch Hans Sachs abgibt. 44 Hier breche ich ab. Worum es mir ging, ist, darauf hinzuweisen, daß es nicht möglich ist, gültige Aussagen über Bedeutung und Funktion des Liedes im 16. Jahrhundert zu machen, solange das Primärmaterial, die Lieddrucke, noch nicht bibliographisch erfaßt und ausgewertet ist. Es geht nicht nur darum, zu fragen, von wem wo und wann Lieder gedruckt wurden, sondern auch darum, zu ermitteln, w e l c h e Lieder von wem wo und wann gedruckt wurden und Rezeptionsgeschichtliches herauszuarbeiten. Die Vervielfältigung durch den Buchdruck markiert einen bedeutenden Einschnitt auch in der Geschichte des Liedes, und noch wissen wir viel zu wenig darüber.

44

SPRIEWALD (S. Anm. 25), S. 126. Wechselwirkungen zwischen Buchdruck und Text sind natürlich nicht auf das Lied beschränkt. Auch sind sie nicht nur für den deutschen Sprachraum gültig: siehe z.B. T. H. HOWARD-HILL: The evolution of the form of plays in English during the Renaissance. Renaissance Quarterly 43,1 (1990), S. 112-145.