Internationale Beziehungen: Grundkonzepte, Theorien und Problemfelder 9783110589207, 9783110587388

Das vorliegende Werk bietet eine Einführung in die wichtigsten Theorien internationaler Beziehungen und in analytische G

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Internationale Beziehungen: Grundkonzepte, Theorien und Problemfelder
 9783110589207, 9783110587388

Table of contents :
Vorwort Zur Vierten Auflage
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Wissenschaft Und Theorien Internationaler Beziehungen
2. Problemfelder Der Internationalen Politik
3. Die Außenpolitik Der Bundesrepublik Deutschland
4. Die Außenpolitik Der Usa: Zwischen Hegemonie Und Multilateralismus
5. Europa Nach Dem Ende Des Ost-West-Konflikts
6. Regionale Integration: Die Europäische Union
7. Global Governance: Die Vereinten Nationen Und Internationale Ngos
A.Studienpraktische Hinweise Und Nützliche Quellen Für Recherchen
Personen- Und Sachregister

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Christiane Lemke Internationale Beziehungen

Christiane Lemke

Internationale Beziehungen | Grundkonzepte, Theorien und Problemfelder 4., überarbeitete und ergänzte Auflage

ISBN 978-3-11-058738-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058920-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058958-0 Library of Congress Control Number: 2018952436 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Maxger/iStock/Getty Images Plus Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort zur vierten Auflage Bei ihrem Treffen zur Gründung der Vereinten Nationen vor nunmehr 73 Jahren hät­ ten sich die Staats- und Regierungschefs der versammelten 46 Länder kaum vorstel­ len können, wie sehr sich die Welt im 21. Jahrhundert von der politischen Situation unterscheiden würde, in der sie ihrerzeit lebten. Noch während der Gründungsver­ sammlung, die vom 25. April bis zum 26. Juni 1945 in San Francisco stattfand, kapitu­ lierte das nationalsozialistische Deutschland und die Alliierten trafen Vorbereitungen für die Neuordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die USA, die Sowjetuni­ on, Großbritannien, China sowie Frankreich sollten zukünftig gemeinsam den Welt­ frieden sichern, so sieht es die im Oktober 1945 in Kraft getretene UN-Charta vor. Sie wurde zunächst von 50 Staaten unterzeichnet. Drei Jahre später verabschiedeten die Vereinten Nationen unter dem Eindruck der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In diesem Dokument wurde erstmals die globale, universale Gültigkeit der Menschenrechtsnorm von einer internationalen Organisation festgelegt. Der hoffnungsvolle Neuanfang einer internationalen Friedensordnung zerschlug sich jedoch bald. Die divergierenden Interessen der Großmächte durchkreuzten die visionären Vorstellungen einer gemeinsamen, friedlichen Gestaltung der Weltpolitik. Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion führte zur ideologischen Spal­ tung der Welt; auch der Nahostkonflikt forderte seinen Tribut und ist bis heute nicht gelöst. Zwar konnten im Zuge der Entkolonialisierung Afrikas und Asiens immer mehr Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen werden, die Machtinteressen der ri­ valisierenden Großmächte standen sich jedoch unversöhnlich gegenüber und führten immer wieder zu gewalttätigen Konflikten. Selbst nach dem Ende des Kalten Kriegs mit dem Fall der Mauer 1989/90 bleiben gegensätzliche Interessen prägend für die inter­ nationale Politik, wie beispielsweise der andauernde Syrien-Krieg zeigt. Dabei sind heute in den Vereinten Nationen mit ihren 193 Mitgliedstaaten nahezu alle Länder der Welt vertreten und auch das Aufgabenspektrum hat sich deutlich erweitert: von der Sicherheitspolitik über Entwicklungspolitik bis zur Klima- und Umweltpolitik. So bestehen trotz des Vorhandenseins einer weltumspannenden internationalen Organi­ sation immer noch ungelöste Probleme. Die internationale Politik sieht sich angesichts der komplexen Weltlage heute mit grundsätzlichen Fragen konfrontiert: Wie kann internationale Politik gestaltet wer­ den, damit die Beziehungen zwischen den Staaten friedlicher und die Situation inner­ halb der Länder für die Bevölkerung gerechter und menschenwürdiger werden? Wel­ che Rolle können internationale Organisationen und nicht staatliche Organisationen spielen? Was leistet die Wissenschaft zur Erklärung der neuen globalen Konstellation nach dem Ende des Ost-West-Konflikts? Das klassische Verständnis von internationaler Politik beruhte auf der Analyse der Beziehungen zwischen souveränen Staaten, die, von nationalen Interessen gelei­ https://doi.org/10.1515/9783110589207-201

VI | Vorwort zur vierten Auflage

tet, das Feld der internationalen Beziehungen prägten. Heute gelten in den internatio­ nalen Beziehungen jedoch auch internationale Normen und Regeln, die, wie z. B. die Menschenrechtsnorm oder die Norm der Nachhaltigkeit, universale Gültigkeit bean­ spruchen. Ob diese Normen eingehalten werden, hängt jedoch zum einen vom politi­ schen Willen der Staaten und zum anderen von ihren institutionellen Voraussetzun­ gen ab. Beispielsweise wächst heute weltweit das Bewusstsein für die Bedeutung der Menschenrechte und das „Recht, Rechte zu haben“ (Hannah Arendt). Verletzungen der Menschenrechte als Folge von Machtinteressen und Religionskämpfen, sexuelle Gewalt als Kriegsstrategie sowie gewalttätige innerstaatliche Konflikte mit gravieren­ den Folgen für die Zivilbevölkerung werden heute aufgrund der größeren internatio­ nalen Aufmerksamkeit schärfer wahrgenommen. Eine Reihe von internationalen Or­ ganisationen fordern die Verpflichtung von Regierungen und Staaten ein, die Rechte bedrängter und in ihrer Existenz gefährdeter Menschen zu wahren und sie zu schüt­ zen. Zugleich wehren sich Staaten gegen ein Eingreifen der internationalen Gemein­ schaft in die „inneren“ Angelegenheiten, sodass der Durchsetzung universaler Men­ schenrechte immer wieder Grenzen gesetzt sind. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen sehen sich daher nicht nur mit einer zunehmend komplexer werdenden Welt konfrontiert. Auch der Erwar­ tungsdruck der internationalen Gemeinschaft nimmt zu, nicht nur nationalen Inter­ essen zu folgen, sondern auch globale Verantwortung zu übernehmen, Gestaltungs­ funktionen auszuüben und allgemein verbindliche Normen umzusetzen. Diese globa­ le Konstellation ist nicht zuletzt auf ein sich wandelndes Akteursfeld zurückzuführen. So haben die Zahl und der Einfluss neuer Akteure in der internationalen Politik stetig zugenommen. Bei Menschenrechtsfragen, in der Entwicklungspolitik oder beim inter­ nationalen Klimaschutz sind inzwischen nicht mehr nur staatliche Vertreter und inter­ nationale Organisationen unter dem Dach der Vereinten Nationen tätig. Vielmehr ist eine Vielzahl transnationaler und zivilgesellschaftlicher Akteure daran beteiligt, po­ litische und soziale Veränderungen herbeizuführen. Sie nutzen neue Foren globaler Kommunikation und soziale Netzwerke und beschleunigen damit die Transformation von klassischen Formen der internationalen Beziehungen. Die wachsende Bedeutung von nicht staatlichen Organisationen, die sich als Teil einer global civil society verste­ hen, ist einerseits eine ermutigende Entwicklung für eine stärker „von unten“, d. h. von der Bevölkerung, beeinflusste gestaltende Politik. Andererseits bleibt die Frage bestehen, wie die zivilgesellschaftlichen Gruppen legitimiert sind und welchen Ein­ fluss sie überhaupt auf die Normeinhaltung und politische Veränderungen haben kön­ nen. Die neue globale Konstellation und die strukturellen Veränderungen in der in­ ternationalen Politik finden ihren Niederschlag in der wissenschaftlichen Beschäf­ tigung mit den internationalen Beziehungen. Während ältere Theorien der interna­ tionalen Beziehungen noch von einem relativ klar umrissenen Begriff der interna­ tionalen Politik ausgehen konnten, der auf der Basis der nationalen Interessen von Staaten entwickelt wurde, erfordern die heutigen globalen Transformationen neue

Vorwort zur vierten Auflage |

VII

Theorieansätze und Betrachtungsweisen. Die wissenschaftliche Debatte zwischen „Rationalisten“ und „Konstruktivisten“, Kontroversen über machtpolitisch geleite­ te Interessen einerseits, durch Normen und Werte gestaltete internationale Bezie­ hungen andererseits zeigen, dass die Konzentration auf die klassische Staatenwelt abgelöst wird durch wissenschaftlich differenziertere Analysen und Problemstellun­ gen. Das Wechselspiel von normativen Regeln und machtpolitischen Konstellationen steht dabei vielfach im Zentrum der theoretischen Debatten wie auch der konkreten Weltpolitik. Die vorliegende Einführung geht von einem Begriff internationaler Politik aus, in dem die internationalen Beziehungen ein vielschichtiges Interaktionsmuster bil­ den, welches von einer Vielzahl internationaler Akteure auf verschiedenen Ebenen gestaltet wird. Im ersten Teil der Einführung werden die wichtigsten Begriffe, Theo­ rieansätze und Deutungsmuster internationaler Beziehungen dargestellt. Daran an­ schließend werden drei große Problemfelder behandelt: die internationalen Wirt­ schafts- und Handelsbeziehungen einschließlich der internationalen Umweltpolitik, die Sicherheitspolitik sowie die Normbildung im Bereich der Menschenrechte. Das klassische Feld der Außenpolitik als Teilgebiet der internationalen Beziehungen wird am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Staaten behandelt. Zwei gesonderte Kapitel thematisieren dann die Veränderungen in Europa im Zuge der Demokratisierung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und die Ausgestaltung der Europäischen Union. Schließlich werden die Vereinten Nationen als wichtigste internationale Organisation sowie die Rolle von internationalen nicht staatlichen Organisationen betrachtet, die einen wachsenden Einfluss in der internationalen Po­ litik erlangt haben. Dieser Aufbau folgt einer Logik, die internationale Beziehungen als Geflecht von Aktionen und Akteuren begreift und die dem Staat als klassischem Akteur auf der internationalen Bühne eine wichtige, aber zugleich veränderte Rolle zuschreibt. Die vierte Auflage des Buches ist gründlich überarbeitet und ergänzt worden. Dabei sind neuere Entwicklungen aufgenommen und aktuelle Forschungsergebnisse über die internationalen Beziehungen berücksichtigt worden, die auf die veränderten Entwicklungstendenzen in der Weltpolitik Bezug nehmen. Ziel ist es, eine Einführung in die wichtigsten Grundkonzepte, Theorien und Problemfelder der internationalen Beziehungen zu geben und zu weiterführender Forschung anzuregen. Konzeptionell wird dabei ein globalistischer Ansatz zugrunde gelegt, d. h. die Themen werden nicht aus der Perspektive eines einzelnen Landes heraus, sondern von einem globalen Standpunkt aus betrachtet. Die Einführung basiert auf langjähriger Lehr- und Forschungstätigkeit an der Leibniz Universität Hannover. Besonderer Dank gilt darüber hinaus den Kollegin­ nen und Kollegen an der New York University und der University of North Carolina at Chapel Hill für Gastfreundschaft und wissenschaftlichen Austausch. Jakob Wie­ dekind übernahm die kritische Lesung des Gesamtmanuskripts und ich danke ihm für wesentliche Hinweise, Ergänzungen und gründliche Korrektur. Dank auch an

VIII | Vorwort zur vierten Auflage

Nina Wüstemann für ihre anregenden Vorschläge bei der Erstellung der Neuauflage. Die wissenschaftliche Gesamtverantwortung liegt selbstverständlich allein bei der Verfasserin. Hannover im Juni 2018

Inhalt Vorwort zur vierten Auflage | V Abkürzungsverzeichnis | XIII Abbildungsverzeichnis | XV Tabellenverzeichnis | XVII 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7 1.6 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen | 1 Zur Geschichte der Wissenschaft | 1 Was heißt Theorie der Internationalen Beziehungen? | 4 Grundbegriffe: Akteur und internationales System | 6 Der Machtbegriff in den internationalen Beziehungen | 10 Theorierichtungen in der Analyse der Internationalen Beziehungen | 14 Theoretische Vorläufer | 14 Realismus und Neo-Realismus | 16 Interdependenztheorie und Regimeforschung | 22 Liberaler Institutionalismus | 25 Weltsystemtheorien und Globalisierung | 28 Postmoderne und Konstruktivismus | 33 Gender-Ansätze in internationalen Beziehungen | 37 Zusammenfassender Überblick über die Theorien | 43 Problemfelder der internationalen Politik | 49 Globalisierung und Weltwirtschaftssystem | 49 Weltmarkt und Handelssystem | 51 Weltwirtschaft und Weltarmut: Probleme der Entwicklungspolitik | 59 Grenzen des Wachstums: Internationale Umwelt- und Klimapolitik | 70 Problembeispiel Klimawandel: Tuvalu – eine versinkende Nation | 77 Konflikte, Krisen, Kriege: Internationale Politik als Sicherheitspolitik | 81 Krieg und Frieden in der internationalen Politik | 81 Enger und weiter Sicherheitsbegriff | 90 Internationaler Terrorismus | 96 Problembeispiel: Ethnische Konflikte und Staatszerfall | 99

X | Inhalt

2.3 2.3.1 2.3.2 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Internationale Normen | 103 Menschenrechte: Das Recht, Rechte zu haben | 104 Problembeispiel: Internationales Flüchtlingsregime | 110 Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland | 116 Grundkonzepte: Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik | 116 Die Außenpolitik der Bundesrepublik | 122 Historische und institutionelle Rahmenbedingungen | 122 Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik: Beispiel Ostpolitik | 127 Neue deutsche Außenpolitik: Kontinuität und Wandel seit der deutschen Einheit | 130 Die Außenpolitik der USA: Zwischen Hegemonie und Multilateralismus | 138 Historische Besonderheiten, Leitbilder und nationales Interesse | 139 Außenpolitische Entscheidungsprozesse | 146 Verfassungsrechtliche Grundlagen | 146 Institutionelle Strukturen und gesellschaftliche Einflüsse | 148 Außenpolitische Grundorientierungen | 151 Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts | 152 Neuorientierung nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 | 155 Präsidentschaft Barack Obama: Neuer Internationalismus | 159 Präsidentschaft Donald Trump: „America First“ | 165

5.3 5.3.1 5.3.2 5.4

Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts | 173 Transformation Mittel- und Osteuropas | 173 Der Umbruch 1989/90 | 176 Besonderheiten der mittel- und osteuropäischen Demokratisierung | 181 Demokratisierung: Normdiffusion und Konsolidierung | 186 Prozesse und Probleme der Normdiffusion | 187 Normenkonflikte: Fallbeispiel Ukraine | 189 Russland und Europa | 190

6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2

Regionale Integration: Die Europäische Union | 195 Entwicklung der europäischen Integration | 196 Theorien und Leitbilder der europäischen Integration | 202 Integrationstheorien: Europa als supranationale Organisation | 203 Intergouvernementalisten: Europa als „Staatenbund“ | 205

5 5.1 5.2 5.2.1

Inhalt | XI

6.2.3 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.2 A A.1 A.1.1 A.1.2 A.1.3 A.2 A.2.1 A.2.2

Integration als dynamischer Mehrebenen-Prozess: Neuere Erklärungsansätze | 207 Die Institutionen der EU | 210 Regieren in der EU | 215 Economic Governance: Wirtschafts- und Währungsunion | 217 Die Außenbeziehungen der EU | 221 Europäische Integrations-, Migrations- und Asylpolitik | 224 Probleme und Perspektiven der EU | 227 Brexit | 229 Euroskeptizismus, Populismus und „Backlash“ | 232 Zukünftige Erweiterungen | 234 Global Governance: Die Vereinten Nationen und internationale NGOs | 239 Die Vereinten Nationen | 240 Geschichte und Bedeutung der Vereinten Nationen | 244 Die Organe der Vereinten Nationen | 248 Reformbedarf der Vereinten Nationen | 249 Mittel der Friedenssicherung durch die UN | 254 Stärkung des internationalen Rechts | 259 Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) | 262 Studienpraktische Hinweise und nützliche Quellen für Recherchen | 268 Printmedien | 268 Zeitschriften | 268 Jahrbücher | 269 Handbücher und Lexika | 269 Internet | 270 International Governmental Organizations/Internationale Organisationen | 270 Internationale Non-Governmental Organizations (INGOs) | 272

Personen- und Sachregister | 273

Abkürzungsverzeichnis APEC ASEAN ATTAC BRD BSP CIA DDR EFTA EG EGKS EURATOM EU EZB FAO GASP GATT GDI GTZ HDI IFOR/SFOR IGH ICC INGO IMF KSZE NAFTA NATO NGO NPT OECD OSZE PfP RGW UN UNDP UNEP UNESCO UNHCR

Asiatic-Pacific Economic Cooperation/Asiatisch-Pazifische Wirtschaftskooperation Association of South East Asian Nations/Zusammenschluss südost-asiatischer Staaten Association pour une Taxation des Transactions financières pour l’Aide aux citoyens Bundesrepublik Deutschland Bruttosozialprodukt Central Intelligence Agency Deutsche Demokratische Republik European Free Trade Association/Europäische Freihandelszone Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Atombehörde European Union/Europäische Union Europäische Zentralbank Food and Agriculture Organization of the United Nations/Ernährungs- und Landwirt­ schaftsorganisation der Vereinten Nationen Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der EU) General Agreement on Tariffs and Trade/Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen Gender Development Index Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Human Development Index Implementation Force/Stabilization Force (der UN) Internationaler Gerichtshof International Criminal Court/Internationaler Strafgerichtshof International Governmental Organization/Internationale (Regierungs-)Organisation International Monetary Fund/Internationaler Währungsfond (IWF) Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa North American Free Trade Agreement/Nordamerikanisches Freihandelsabkommen North Atlantic Treaty Organization/Nordatlantische Verteidigungsorganisation Non-Governmental Organization/Nichtregierungsorganisation Non-Proliferation Treaty/Nichtverbreitungsvertrag (Atomwaffen) Organization for Economic Cooperation and Development/Organisation für wirtschaft­ liche Zusammenarbeit und Entwicklung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Partnership for Peace/Partnerschaft für den Frieden Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe United Nations/Vereinte Nationen United Nations Development Programme/Entwicklungsprogramm der Vereinten Natio­ nen United Nations Environmental Programme/Umweltprogramm der Vereinten Nationen United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization/Organisation der Ver­ einten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur United Nations High Commissioner for Refugees/Hochkommissariat für Flüchtlings­ wesen der Vereinten Nationen

https://doi.org/10.1515/9783110589207-202

XIV | Abkürzungsverzeichnis

WEU WID WHO WTO WWU

Western European Union/Westeuropäische Union Women in Development/Frauen in der Entwicklungspolitik World Health Organization/Weltgesundheitsorganisation World Trade Organization/Welthandelsorganisation Wirtschafts- und Währungsunion

Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1

Geschlechterverhältnisse und globale Politik | 38

Abb. 2.1

Vergleich der CO2 -Emissionen pro Kopf 1990 und 2014 | 74

Abb. 6.1

Das Mehrebenensystem der EU | 217

Abb. 7.1

Internationale Friedenseinsätze der UN | 256

https://doi.org/10.1515/9783110589207-203

Tabellenverzeichnis Tab. 1.1

Theorien Internationaler Beziehungen | 44

Tab. 2.1 Tab. 2.2 Tab. 2.3 Tab. 2.4

Länder der Welt nach Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2016 | 51 Fortschritte durch die Millennium Development Goals 2015 | 69 Die wichtigsten Exporteure und Importeure schwerer Waffen, 2012–2016 | 92 Vergleich der CO2 -Emissionen pro Kopf 1990 und 2014 | 112

Tab. 3.1

Die größten Handelspartner Deutschlands 2015 | 133

Tab. 6.1

Theorien und Modelle der europäischen Integration | 209

https://doi.org/10.1515/9783110589207-204

1 Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen 1.1 Zur Geschichte der Wissenschaft Im Gegensatz zum Fachgebiet der Politischen Theorie wird die wissenschaftliche Be­ schäftigung mit den internationalen Beziehungen meist als relativ junger Zweig der Politikwissenschaft gesehen. Die Auseinandersetzung mit Grundfragen internationa­ ler Beziehungen setzte jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und wurde, vor dem Hintergrund der verheerenden Zerstörungen und traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, vor allem als Friedenserforschung verstanden. Bereits während der Pariser Friedenskonferenz im Jahr 1919 vereinbarten die Teilnehmer die Gründung wissenschaftlicher Institute zur genaueren Erforschung von Kriegsursachen und die Vermeidung gewaltsamer Auseinandersetzungen durch Diplomatie, zwischenstaatli­ che Vereinbarungen und geschicktes Staatshandeln. An mehreren Universitäten, vor allem in den USA und Großbritannien, wurden in der Folgezeit Forschungseinheiten für internationale Politik eingerichtet, die sich, oft als Teilgebiet von oder in Über­ schneidung mit historischer, staats- und rechtswissenschaftlicher Forschung, der ge­ naueren Analyse von Themen wie Friedenserhaltung und Sicherheitspolitik widmen sollten. Deshalb wird das Lehrgebiet der internationalen Beziehungen auch als „ein Kind des 1. Weltkriegs“ bezeichnet (vgl. Meyers 1994: 230). Dabei basierte die For­ schung im Kern auf zwei Traditionen, dem Völkerrecht und der Diplomatiegeschichte. Noch heute stellt an vielen europäischen Universitäten das Völkerrecht bzw. das inter­ nationale Recht (International Law) einen Schwerpunkt der Forschung und Lehre im Bereich der Internationalen Beziehungen dar und auch die Diplomatiegeschichte ist weit verbreitet. Die deutliche Zunahme der Anzahl neuer Forschungsinstitute und universitärer Einrichtungen in vielen europäischen Ländern nach 1945 lassen sich vor allem auf die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen zurückführen. Die Ausbildung von außenpolitischen Fach- und Führungskräften wurde professionalisiert und hier übernahmen die Hochschulen eine wichtige Funktion. Dies gilt besonders für den an­ gelsächsischen Raum, aber auch für andere westeuropäische Länder, wie z. B. Frank­ reich und Schweden. Die Verwissenschaftlichung der Ausbildung führte dazu, dass herkömmliche völkerrechtliche, staatswissenschaftliche oder diplomatiegeschichtli­ che Erklärungsansätze durch sozialwissenschaftlich fundierte Theorien ergänzt wur­ den, um die komplexer werdenden Strukturen und Probleme der Weltpolitik adäqua­ ter analysieren zu können. Internationale Politik profilierte sich als ein Schwerpunkt der akademischen Ausbildung und sie wurde nunmehr vor allem in der Politikwissen­ schaft verortet.

https://doi.org/10.1515/9783110589207-001

2 | 1 Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen

In Deutschland erfolgte diese Entwicklung mit erheblicher Zeitverzögerung. Ei­ ne erste, allerdings nur kurze, Phase wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Pro­ blemen der internationalen Politik hatte bereits in der Weimarer Republik stattgefun­ den. Die während der 1920er-Jahre gegründete Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) in Berlin übernahm dabei eine Leitfunktion. Die nationalsozialistische Machtüber­ nahme 1933 unterbrach diese erste Phase wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit internationaler Politik, da Hochschulen „gleichgeschaltet“, kritische Forscher aus­ geschlossen und die Ausbildung der nationalsozialistischen Ideologie untergeordnet wurden. Durch die erzwungene Emigration oder Ermordung jüdischer Wissenschaft­ ler entstand ein intellektuelles Vakuum, das von der jähen Unterbrechung intellek­ tueller Traditionen und forschender Diskurse gekennzeichnet war. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich Deutschland nur langsam als Mitglied der internationalen Staa­ tengemeinschaft wieder etablieren und musste seine akademische Forschungstradi­ tion erst wieder neu entwickeln. Die Rahmenbedingungen für die wissenschaftliche Entwicklung im Fachgebiet waren zunächst nicht förderlich. Internationale Politik besaß zum einen als Politikund Handlungsfeld während der Nachkriegszeit nur eine untergeordnete Bedeutung, denn die Bundesrepublik war aufgrund der zunächst eingeschränkten staatlichen Souveränität durch Alliiertenvorbehalt und die internationale Diskreditierung durch die nationalsozialistische Herrschaft nur ein marginaler Akteur in der internationa­ len Politik. Hinzu kam die Teilung Deutschlands mit der Polarisierung von West und Ost im Zuge der Systemauseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die für die deutsche Außenpolitik einen en­ gen Handlungsrahmen setzte; die deutsche Frage beherrschte daher die Tagespolitik. Zum anderen musste das Fach einer modernen Politikwissenschaft überhaupt erst aufgebaut werden, da die Staats- und Völkerrechtslehre, sofern sie in den 1930er-Jah­ ren fortgeführt wurde, in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt und dadurch diskreditiert worden war. Die verbliebenen, rudimentären Wissensgebiete wurden in der sich erneuernden, sozialwissenschaftlich ausgerichteten Politischen Wissenschaft verankert. Dabei spielten auch zurückgekehrte Emigranten im Fach ei­ ne Rolle wie beispielsweise T. W. Adorno in Frankfurt, Ossip K. Flechtheim und Ernst Fraenkel in Berlin sowie Siegfried Landshut in Hamburg. Nachhaltig durch englisch­ sprachige Forschungsarbeiten beeinflusst, kann dann von einem eigenständigen Aufbau des Lehr- und Forschungsbereichs der Internationalen Beziehungen in der Politikwissenschaft erst seit Ende der 1960er-Jahre gesprochen werden. Institutionell etablierte sich dieser Bereich als integraler Bestandteil der Politikwissenschaft; eine eigenständige fachliche und institutionelle Verankerung, wie sie teilweise in den USA und Großbritannien gepflegt wird, hat sich an den Universitäten der Bundesrepublik nicht durchsetzen können. Seit Anfang der 1970er-Jahre fächerte sich das Feld der Internationalen Beziehun­ gen unter dem Einfluss pluraler wissenschaftlicher Ansätze stark auf. In dieser Zeit wurden auch eine Reihe von Instituten und Organisationen ins Leben gerufen, wie

1.1 Zur Geschichte der Wissenschaft

| 3

beispielsweise die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen (heute in Ber­ lin), die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, und die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Innerhalb der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) bildete sich schließlich auch eine Sektion Internationale Poli­ tik, die sich dem Wissenschaftsdiskurs und der Nachwuchsförderung widmete (vgl. z. B. Meyers 1994). Noch bis in die 1970er-Jahre hinein blieb die Disziplin der Interna­ tionalen Beziehungen nach einem Wort des in Harvard lehrenden Politologen Stanley Hoffmann allerdings „eine amerikanische Sozialwissenschaft“ (Hoffmann 1975: 39). Im Bereich der Theoriebildung wurden die „großen Debatten“ in der Bundesrepublik zunächst von der angelsächsischen Literatur angestoßen (vgl. Krell/Schlotter 2018; Schmidt 2002). Die wesentlich breiter gefächerte Forschungslandschaft in Großbritan­ nien und in den USA fungierte als Referenzrahmen und Impulsgeberin für Neuerun­ gen im Feld. Beispielsweise wurde die Diskussion um die Bedeutung von „gender“ (Geschlechterverhältnisse) zuerst in Großbritannien, den USA und Kanada geführt, bevor sie schließlich in Deutschland aufgenommen wurde. Auch der inzwischen breit aufgefächerte Konstruktivismus in der Analyse Internationaler Beziehungen hatte zu­ nächst seinen Ursprung im angelsächsischen Raum, bevor er in Deutschland, vor al­ lem unter dem Eindruck der Kommunikations- und Diskurstheorie der politischen Philosophie von Jürgen Habermas, weiterentwickelt wurde. Noch immer ist die angelsächsische Forschung im Fachgebiet hoch relevant, aber die Forschungssituation hat sich gewandelt. Der in Berlin lehrende Politikwissen­ schaftler Michael Zürn hebt beispielsweise hervor, dass die deutsche Forschung in den Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts deutliche Fortschritte gemacht ha­ be (vgl. Zürn 2003). Sie habe innerhalb der Politik- und Sozialwissenschaft insgesamt an Bedeutung gewonnen und sich durch eigene Beiträge zur theoretischen Entwick­ lung der Disziplin gegenüber der angelsächsischen Forschung emanzipiert. Dennoch spielt der englischsprachige Wissenschaftsdiskurs gerade in diesem Teilbereich der Politikwissenschaft nach wie vor eine herausragende Rolle. In der Theorieentwick­ lung sowie in der empirischen Forschung bildeten sich in der deutschen Forschung aber eigenständige Forschungsansätze heraus, teilweise gefördert von neuen For­ schungszentren, die dem Feld im internationalen Vergleich ein eigenes Profil verlei­ hen. Dies gilt beispielsweise für die Friedens- und Konfliktforschung, die Erforschung der europäischen Integration sowie die Forschung über internationale Organisatio­ nen und Normen in der transnationalen Politik (vgl. Schimmelfennig 2017). Gerade die sozialkonstruktivistischen Ansätze gehören inzwischen auch in Deutschland zu den einflussreichsten neueren Theoriekonzepten. Die Begriffe „internationale Beziehungen“ und „internationale Politik“, die von einigen Autoren sinngleich verwendet werden, sollten als Charakterisierung für den Forschungsgegenstand zunächst differenziert werden. Der Begriff der internationalen Politik bezieht sich auf die Interaktionsprozesse, die zwischen mindestens zwei (i. d. R. staatlichen, gelegentlich auch sonstigen den Status eines Völkerrechts­

4 | 1 Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen

subjekts beanspruchenden) Akteuren in deren internationaler Umgebung stattfinden. Die Unter­ suchung der internationalen Politik begreift die einzelnen Handlungen jeder dieser Akteure al­ lein als (Teil-)Aspekte eines größeren Aktionsmusters, das über den definierbaren Zeitraum hin­ weg durch regelmäßig sich wiederholende oder zumindest den Grundzügen nach vergleichbare Akteurshandlungen konstituiert wird und häufig durch ein Aktions-Reaktions-Schema geprägt ist. Entscheidendes Kriterium für die Subsumtion von Akteurshandlungen unter dem Begriff der internationalen Politik ist deren Orientierung auf einen wie auch immer definierten politischen Gehalt. (Meyers 1994: 227).

Der Begriff „internationale Politik“ bezeichnet daher meist intentionales, von Inter­ essen gesteuertes politisches Handeln, etwa im Rahmen der Außenpolitik eines Lan­ des gegenüber anderen Staaten oder gegenüber internationalen Organisationen. Der Begriff „internationale Beziehungen“ ist demgegenüber im Allgemeinen meist weiter gefasst: „Er bezieht sich auf alle grenzüberschreitenden Aktionen und Interaktionen, die zwischen unterschiedlichen internationalen Akteuren, seien es nun internationa­ le Organisationen, Staaten, gesellschaftliche Gruppierungen, Individuen oder juristi­ sche Personen, stattfinden können. Außerdem erstreckt er sich auf die Interaktions­ muster, die aus derartigen Interaktionen über einen bestimmten Zeitraum hinweg ent­ stehen.“ (Meyers 1994: 228). Internationale Beziehungen stellen nach dieser Begriffsdefinition also ein Be­ ziehungsgeflecht aller grenzüberschreitenden Interaktionen dar. Der weiter gefasste Begriff der Internationalen Beziehungen nimmt also nicht nur das zwischenstaat­ liche Handeln in den Blick, sondern eröffnet auch ein breiteres Spektrum von Un­ tersuchungsfeldern für die Analyse. Dazu gehören beispielsweise gesellschaftliche Akteure, die keinen völkerrechtlichen Status besitzen und solche, die über national­ staatliche Grenzen hinweg tätig sind, wie die in jüngerer Zeit wichtiger gewordenen nicht staatlichen, internationalen Organisationen (NGOs oder Non-Governmental Organizations). Darüber hinaus werden neben den nationalen Interessen und den Staaten auch international gültige Normen, Werte und politische Ideen mit einbe­ zogen. In Anlehnung an den im englischsprachigen Raum verbreiteten Terminus „International Relations“ ist es daher auch in der deutschsprachigen Literatur üblich geworden, den Begriff internationale Beziehungen für die Analyse internationaler politischer Probleme, Strukturen und Interaktionsformen zu verwenden.

1.2 Was heißt Theorie der Internationalen Beziehungen? Theorien dienen in der Regel als analytischer Bezugsrahmen für wissenschaftliche Untersuchungen. Sie folgen bestimmten Erkenntnisinteressen, die nach dem aktuel­ len Wissenschaftsverständnis reflektiert und offen gelegt werden sollen. Wird keine geschlossene Theorie verwendet, so können theoretische Ansätze und Modelle her­ angezogen werden, um eine Untersuchung durchzuführen. Allgemein wird in den So­ zialwissenschaften davon ausgegangen, dass wissenschaftliche Untersuchungen, die

1.2 Was heißt Theorie der Internationalen Beziehungen? | 5

von Theorien geleitet werden, nicht nur neue wissenschaftliche Erkenntnisse produ­ zieren, sondern auch eine Orientierung in der Welt ermöglichen, Handlungsalterna­ tiven aufzeigen und gegebenenfalls eine Grundlage für politisches Handeln bilden. Hierfür ist es entscheidend, dass Fragestellung und Politikbegriff präzise entwickelt und kritisch reflektiert werden. Gegenüber „großen Theorien“ oder sogenannten Me­ ta-Erzählungen ist in der Sozialwissenschaft dabei oft eine größere Zurückhaltung festzustellen. Inzwischen bevorzugt sind Theorien mittlerer Reichweite, die ein be­ stimmtes Problem, einen Teilausschnitt internationaler Beziehungen oder eine spezi­ fische Fragestellung erfassen sollen und nicht versuchen, das System als Ganzes zu erklären. Die Theoriebildung im Feld der Internationalen Beziehungen erfüllt meist mehre­ re Funktionen – wie in der Sozialwissenschaft generell üblich. Zu ihrer heuristischen Funktion gehört, dass die Komplexität der Realität reduziert und die Vielfalt der Evi­ denz nach Relevanzkriterien hierarchisiert wird. Dies geschieht in der Regel dadurch, dass die Bedeutung einer zentralen Forschungsfragestellung entwickelt und daraus verschiedene Teilfragen abgeleitet werden. Eine weitere Aufgabe der Theoriebildung ist die operative Funktion, d. h. sie soll forschungsanleitend und in einem Forschungs­ prozess umsetzbar sein. Je komplexer die Theorie, desto schwieriger kann es werden, die einzelnen Forschungsschritte zu operationalisieren. Die Eingangsqualifikationen für den Nachvollzug der Theoriebildung werden durch sehr komplexe Theorieansät­ ze oder spezialisierte Forschungsmethoden relativ hoch angesetzt; für diesen Fall ist eine entsprechende Qualifizierungs- bzw. Ausbildungsphase in der Methodik der Un­ tersuchung vorzusehen. Eine weitere Funktion kann im begründenden Charakter von Theorie bestehen. Dabei ist der Kontext entscheidend, in dem diese Funktion ausgeübt wird. Gutes wissenschaftliches Arbeiten hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit For­ schung unabhängig von politischer Einflussnahme durchgeführt werden kann und der rahmengebende Aspekt von Theoriebildung reflektiert wird. Gerade in den Internationalen Beziehungen wird darüber hinaus häufig ange­ strebt, politische Entscheidungen vorzubereiten oder kritisch zu begleiten. Daher soll­ te abschließend die kritische Funktion von Theoriebildung erwähnt werden. Im Unter­ schied zum Alltagsgeschäft der Politik sollen Theorien dazu beitragen Zusammenhän­ ge aufzuzeigen, Hintergründe zu analysieren und alternative Entscheidungsoptionen zu erörtern. Insofern können Theorien im Schnittbereich zur Praxis auch Perspektiven zur Veränderung gesellschaftlicher Zustände aufzeigen. Als Teilbereich der Politischen Wissenschaft arbeiten Studien über internationa­ le Beziehungen in der Regel mit sozialwissenschaftlichen Methoden, die in einem For­ schungsdesign eingeschlossen werden (vgl. z. B. Gschwend/Schimmelfennig 2007). Empirische Forschungsmethoden in der internationalen Politik unterscheiden sich grob in quantitative und qualitative Methoden. Soll ein größerer Datensatz zur Ana­ lyse eines Problems herangezogen werden oder sind sozialstatistische Analysen er­ forderlich, so werden in der Regel quantitative Methoden verwandt. Unter den qua­ litativen Methoden haben sich im Bereich der Analyse Internationaler Beziehungen

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vor allem Interviews, Diskurs- und Inhaltsanalysen sowie Fallstudien sehr bewährt, die auch mit quantitativen Methoden kombiniert werden können. Insgesamt ist zu be­ tonen, dass sich qualitative und quantitative Methoden trotz ihrer inhärenten Unter­ schiede nicht zwingend als Kontrahenten gegenseitig ausschließen, sondern durch­ aus Synergiepotenzial in ihrer Kombination zu finden ist. Welche Methoden ange­ wandt werden, hängt zum einen vom theoretischen Rahmen ab, der zugrunde gelegt wird, und zum anderen von der Ausrichtung der Fragestellung. So kann eine Untersu­ chung beispielsweise methodisch komparativ angelegt sein oder auf einer Einzelfall­ studie beruhen. Sie kann Entwicklungen über einen längeren Zeitraum verfolgen oder eine zeitliche Momentaufnahme liefern. Jedes Forschungsverfahren schließt eine Me­ thodik ein. Die Methode sollte ebenso dargestellt werden wie der größere theoretische Zusammenhang, in dem das Problem steht.

1.3 Grundbegriffe: Akteur und internationales System Für die Analyse der Internationalen Beziehungen hat sich der Dualismus von Akteur und System als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Diese Unterscheidung bildet ei­ nen analytischen Bezugsrahmen neuerer Theorien Internationaler Beziehungen (vgl. Kegley/Blanton 2016). Der Begriff Akteur kann sich in der internationalen Politik auf Staaten, gesellschaftliche und nicht staatliche Organisationen sowie auf Entschei­ dungsträger, also Individuen beziehen, die im internationalen Raum agieren. Werden internationale Beziehungen als soziale Interaktion verstanden, dann können sie, ähnlich wie soziales Handeln in anderen Bereichen, als Beziehungsverhältnis mit konkret handelnden Akteuren analysiert werden. Mit der Fokussierung von Akteuren wird dem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse im Feld der Internationalen Beziehungen Rechnung getragen, Handlungen, Interessen und Normen in der inter­ nationalen Politik besser verstehen zu können. Die Frage, welcher Akteur bzw. welche Akteure als analytisch relevant gelten, wird von theoretischen Vorannahmen bestimmt. So betrachten neo-realistische oder inter­ governmentalistische Theorieansätze die Nationalstaaten als zentrale Akteure, wäh­ rend der liberale Institutionalismus diese rein zwischenstaatliche Ebene verlässt und von einer Pluralität der Akteure ausgeht. Diesem Herangehen kann die Auffassung zugrunde liegen, dass internationales Verhalten durch einflussreiche Interessengrup­ pen bestimmt wird, oder dass es als Prozess des Lernens im Rahmen von interna­ tionalen Organisationen zu begreifen ist. Im Sozialkonstruktivismus wiederum wird beispielsweise bei der Frage von Menschenrechten eine Vielzahl von Akteuren ein­ bezogen und die Umsetzung und Einhaltung von Normen als zentrales Akteursver­ halten begriffen. In einigen Theorien herrscht die Annahme vor, dass Akteure ratio­ nal und zweckgebunden handeln, wobei als Zweck der eigene Nutzen, etwa bei der Gewährleistung von Sicherheit eines Landes, angenommen wird. Diese rationalisti­ sche, auf Kosten-Nutzen-Erwägungen beruhende Annahme wird insbesondere von

1.3 Grundbegriffe: Akteur und internationales System |

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Rational-Choice-Ansätzen vertreten. Andere Theorien wiederum nehmen an, dass die Akteure von Werten und Normen geleitet werden und daher ihre Identität eine zen­ trale Rolle spielt. In der Sozialkonstruktivismus-Rationalismus-Debatte werden diese beiden Ansätze oft als sich gegenseitig ausschließende Modelle begriffen. Mit dem Wandel des Menschenbildes und unter dem Einfluss sozialwissenschaftlicher Theori­ en und Methoden wird allerdings in der Regel eine differenziertere, kontextbezogene Sicht auf die Akteurs-Ebene der internationalen Politik präferiert und neuere Unter­ suchungen sind bestrebt, diese beiden Sichtweisen miteinander zu verbinden (vgl. Krell/Schlotter 2018). Politisches Handeln kann danach sowohl auf Werte basiertem Handeln beruhen als auch rationales Kalkül beinhalten. Akteure sind als soziale Einheiten, Gruppen oder Organisationen in eine konkrete Umgebung eingebunden und damit Teil eines größeren politischen Umfelds. Genera­ lisierende Aussagen über die allgemeine Natur von Menschen, die jenseits von Raum, Zeit, kulturellem und regionalem Kontext gültig sein sollen, gelten heute als unzurei­ chend und sollten wissenschaftlich hinterfragt werden. Neuere Ansätze legen bei der Analyse von Akteuren mehr Gewicht auf differenzierende Identitätskategorien wie et­ wa Klasse, Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit sowie Diskurse, in denen Ziele, Intentionen, Werte und Normen maßgebend sind. Theoriegeschichtlich betrachtet galten lange Staaten als die zentrale Analyseein­ heit für die internationale Politik, weil sie die einzigen völkerrechtlich legitimierten Akteure darstellten. Sie hatten daher eine vorrangige Bedeutung in den Internationa­ len Beziehungen, die lange Zeit unbestritten war. In staatszentrierten Theorien wird nach dem nationalen Interesse eines Staates, dem wirtschaftlichen und technologi­ schen Entwicklungsstand, militärischen Kapazitäten und politischer Ausrichtung ge­ fragt. In der neueren Literatur wird allerdings die Frage, ob und inwiefern Staaten auch zukünftig die zentralen Akteure in der internationalen Politik sein werden, kon­ trovers diskutiert. Während für die einen Staaten aufgrund ihres völkerrechtlichen Status und ihrer Ressourcen, vor allem im wirtschaftlichen und militärischen Bereich, ihre Rolle als wichtigste Akteure in der Weltpolitik weiter spielen werden, heben an­ dere Autoren hervor, dass internationale Organisationen, transnationale sowie nicht staatliche, gesellschaftliche Akteure inzwischen so wichtig geworden sind, dass Staa­ ten vielfältigen Einflüssen ausgesetzt sind und nicht völlig unabhängig agieren und entscheiden können. Tatsächlich haben sich Rolle und Funktion von Staaten in der sich rapide verän­ dernden Umwelt stark gewandelt, sodass eine Begrenzung der Perspektive auf Staa­ ten in der Theoriebildung nicht mehr die komplexen Akteurskonstellationen abbilden kann, auch wenn die insgesamt fast 200 Staaten der Welt weiterhin zentrale Akteure in der internationalen Politik bleiben werden. Um jedoch den eingangs beschriebenen Veränderungen in den Internationalen Beziehungen gerecht zu werden, ist es notwen­ dig, Formen transnationaler Politik stärker zu berücksichtigen. So wird beispielsweise die Umweltpolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur von den Regierungen der Mitgliedsländer bestimmt, sondern ebenso von den Organen der EU,

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transnationalen Interessen- und Lobbygruppen sowie überregionalen Experten- und Bürgergruppen. Der Bedeutungszuwachs transnationaler Akteure im internationalen Normbildungsprozess, in politischen Entscheidungsfindungen und ihrer Umsetzung, die Zunahme von Nichtregierungsorganisationen sowie die Entstehung supranatio­ naler politischer Organisationen und regionaler Zusammenschlüsse unterlaufen den Anspruch von Staaten auf alleinige Souveränität in der Gestaltung ihrer auswärtigen Beziehungen als auch ihrer internen Angelegenheiten. Auch unterhalb der Ebene des Staates muss mit Blick auf die Binnengesellschaft differenziert werden. Dies gilt nicht nur für die politischen Parteien innerhalb eines Landes mit unterschiedlichen außenpolitischen Vorstellungen und Zielen. Auch Re­ gionen innerhalb von Staaten sind oft den Regierungen entgegengesetzt, oder zumin­ dest eigene Akteure, wie am europäischen Beispiel in Katalonien und Schottland deut­ lich wird. Auch wird mit dem Begriff des Nationalstaates oft eine irreführende Gleich­ setzung zwischen Staat und Nation nahe gelegt. Tatsächlich sind Staaten, die nur von einer Nation gebildet werden, die Ausnahme. Fast alle 193 Mitgliedstaaten der Ver­ einten Nationen bestehen aus multiethnischen Gesellschaften, und es wird von den UN geschätzt, dass weltweit rund 170 Ethnien ohne eigenen Staat existieren, die ei­ nen Anspruch auf größere Selbstbestimmung und Autonomie erheben. Der Begriff des Nationalstaates erweist sich daher nicht nur als analytisch unscharf, sondern er entspricht auch nicht der politischen Realität. Viele Konflikte resultieren gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten­ gruppen und dem staatlichen Anspruch auf nationale Einheit. Mit dem Staatsbegriff verändert sich daher auch der staatliche Souveränitätsbegriff. Er ist ein Grundbegriff des Völkerrechts, aber staatliche Macht und Unabhängigkeit hat sich durch die Ein­ flussnahme von Nichtregierungsorganisationen und die Weiterentwicklung des Völ­ kergewohnheitsrechtes verändert. Zugespitzt formuliert: „Der Souveränitätsbegriff ist also durch ein in sich differenziertes und gradualistisches Konzept von Einflussmög­ lichkeiten im und auf das internationale System abgelöst worden.“ (Seidelmann 1994: 494 f.). So kann die internationale Gemeinschaft heute im extremsten Fall Minderhei­ ten vor staatlicher Willkür durch äußere Intervention schützen und so internationa­ len Normen Geltung verschaffen. Aber auch der freiwillige Transfer von Souveräni­ tätsfunktionen hat das Konzept verändert, wie das Beispiel der Europäischen Union zeigt. Der Wandel von Staatlichkeit im internationalen System ist eines der wichtigsten neueren Forschungsgebiete in der internationalen Politik (vgl. z. B. Zürn 2018). Studi­ en zeigen, dass sich die Funktion des Staates als zentraler Adressat und Fokus poli­ tischer Aktivitäten zu wandeln beginnt; zumindest in Fragen wie dem Klimawandel oder bei Migrationsprozessen ist der innenpolitische Willensbildungs- und Entschei­ dungsprozess nicht mehr ausschließlich in der Souveränität und Entscheidungskom­ petenz einzelner Staaten angesiedelt. Zwischenstaatliche Vereinbarungen, internatio­ nales Recht sowie transnationale Kooperationen spielen eine immer wichtigere Rolle.

1.3 Grundbegriffe: Akteur und internationales System

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Das internationale System umgreift daher nicht nur die Staaten in ihrer Beziehung zueinander, sondern auch die internationalen Organisationen sowie transnationale Akteure wie z. B. multinationale Konzerne und internationale Nichtregierungsorgani­ sationen. Je nach theoretischer Ausrichtung wird das internationale System entwe­ der als vorausgesetzter Handlungsrahmen für Staaten und Akteure angesehen oder es wird selbst als Variable der Verflechtung von Staaten betrachtet – also unterschie­ den zwischen dem internationalen System als unabhängige oder als abhängige Va­ riable. Eine wichtige analytische Unterscheidung auf der Systemebene besteht dar­ über hinaus in der Frage, ob sich die Struktur des internationalen Systems ständig selbst reproduziert und darum relativ dauerhaft und fest gefügt ist (struktureller An­ satz), oder ob das System ein veränderbares Resultat politischer Interaktionen ist (ak­ teursbezogener, pluralistischer Ansatz). Für die Analyse des internationalen Systems ist zudem relevant, welche Zusammenhänge als strukturbildend angesehen werden. Grob betrachtet können zwei Richtungen unterschieden werden. Während die eine Denkschule vom Primat der Ökonomie ausgeht (z. B. Dependenztheorien, Globalisie­ rung), betrachtet die andere politische Prozesse als primär entscheidend (Interdepen­ denztheorien, Konstruktivismus). Ein wichtiges Kennzeichen der Beziehung zwischen Akteur und internationalem System besteht darin, dass das internationale System kein allgemein anerkanntes, po­ litisch legitimiertes Machtzentrum aufweist, das für alle Akteure gleichermaßen gilt. Es gibt also keine dem Gewaltmonopol des Staates entsprechende Ordnung auf inter­ nationaler Ebene. Damit unterscheidet es sich vom politischen Gemeinwesen inner­ halb eines Landes, in dem der Staat nach der Definition von Max Weber das „Mono­ pol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnung“ (Weber 1976: Teil 1 §17) wahrnimmt und damit in der Lage ist, Gesetze und andere Regeln mit Au­ torität durchzusetzen. Auch wenn die Vereinten Nationen über eine begrenzte Auto­ rität zur Durchsetzung von Grundnormen wie Frieden, Nachhaltigkeit und Sicherheit verfügen, existieren auf globaler Ebene weder ein Weltstaat noch eine Weltregierung. Deshalb sind Normbildung, Kommunikation und Übereinkunft in der internationa­ len Politik entscheidend. Durch die Entwicklung internationaler Normen und Regeln wurden inzwischen in vielen Bereichen Regelwerke etabliert, die die Grenzen zwi­ schenstaatlicher Gewaltausübung z. B. im Kriegsfall festlegen und der internationa­ len Gemeinschaft Gestaltungsmöglichkeiten in bestimmten Politikbereichen, wie et­ wa im Klimaschutz oder im Menschenrechtsbereich, geben sollen. Beispielsweise ent­ hält die Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich den Gedanken einer kollektiven, weltgesellschaftlichen Verantwortung für den Weltfrieden. Verschiedene Instrumen­ te wie präventive Diplomatie, humanitäre Intervention, oder Schutztruppen (Blauhel­ me) sind diesem Ziel zugeordnet. In der wissenschaftlichen Forschung wird diese Spezifik der Internationalen Beziehungen auch mit dem Begriff Global Governance umschrieben. Governance be­ zeichnet in einer weiten Fassung die Gesamtheit der vielfältigen Regelungsformen ge­ sellschaftlicher Sachverhalte bzw. die Herstellung oder Aufrechterhaltung politischer

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oder sozialer Ordnung (vgl. Benz/Dose 2010). In der internationalen Politik bezeichnet der Begriff Governance Regelungsstrukturen, die ein „Regieren ohne Regierung“ und nicht hierarchische Steuerungsformen in verschiedenen globalen Politikbereichen umfassen. Angesichts der zunehmenden Verrechtlichung internationaler Beziehun­ gen schlägt der Politikwissenschaftler Thomas Risse daher vor, staatliche und nicht staatliche Steuerungs- und Regelungsformen zusammenzufassen. Die neuen Formen von Governance (new governance) lassen sich a) über die Einbeziehung nicht staatli­ cher Akteure oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Governance-Strukturen und b) die Betonung nichthierarchischer Formen der Steuerung charakterisieren (vgl. Risse 2007). So lassen sich sowohl internationale Organisationen, als auch öffentlichprivate oder nicht staatliche Partnerschaften und allgemeine Regelungswerke in der internationalen Politik analysieren.

1.4 Der Machtbegriff in den internationalen Beziehungen Internationale Beziehungen sind in vielfältiger Weise durch Machtverhältnisse ge­ prägt. Bereits in der Verwendung von Begrifflichkeiten, wie beispielsweise „Mili­ tärmacht“, „Supermacht“, „Wirtschaftsmacht“ oder „Zivilmacht“, kommt zum Aus­ druck, wie sehr die internationalen Beziehungen durch die Ubiquität von Macht cha­ rakterisiert werden. Eine Schwierigkeit für die Analyse internationaler Politik besteht dabei in einer widersprüchlichen Struktur: Einerseits werden die Länder der Welt durch Machtbeziehungen beeinflusst bzw. sie beeinflussen diese selber; anderer­ seits existiert kein legitimes Machtzentrum, sodass die internationalen Beziehungen „chaotisch“ oder anarchisch, d. h. ohne Herrschaft, erscheinen. Die Anarchie in den internationalen Beziehungen unterscheidet diese von den politischen Verhältnis­ sen in der Innenpolitik. Regelungsverfahren für politische Prozesse oder Probleme sind in der internationalen Politik daher auf zwischenstaatliche Übereinkünfte, wie völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen, angewiesen. Aufgrund der faktisch gegebenen ungleichen Machtverteilung zwischen Staaten sowie zwischen weltpoli­ tischen Regionen, die ein Ergebnis historischer, ökonomischer und geopolitischer Entwicklungen ist, ist die Positionierung von Staaten im weltpolitischen Machtgefüge eine wichtige politische Frage. Daher nimmt der Machtbegriff eine zentrale Bedeutung in der Theoriebildung ein. Das klassische sozialwissenschaftliche Machtkonzept geht auf Max Weber zurück. Weber bezeichnete Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“. (Weber 1956: 38). Weber verstand Macht als Bestandteil von sozia­ len Beziehungen; nur im Kontext mit anderen gewinnt sie überhaupt Bedeutung. Sie manifestiert sich allerdings erst, wenn ein erkennbarer Widerstand überwunden und der eigene Wille durchgesetzt wird. Der Machtbegriff wird von Weber zugleich als eine amorphe Kategorie bezeichnet, weshalb er selbst ihn als systematisch nicht

1.4 Der Machtbegriff in den internationalen Beziehungen |

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zureichend begreift: „Der Begriff Macht ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemanden in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“ (Weber 1956: 38). Weber folgert hieraus: „Der soziologische Begriff der ‚Herrschaft‘ muss daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Be­ fehl Fügsamkeit zu finden.“ (Weber 1956: 38). Ausgehend von diesem Machtbegriff unterschied Weber drei Formen legitimer Herrschaft: legale, traditionale und cha­ rismatische Herrschaft, denen verschiedene Ausprägungen von Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht zugrunde liegen. Der Webersche Machtbegriff blieb damit offen für weitere theoretische Interpretationen, auch wenn sein Kern nach Robert Dahl univer­ selle Gültigkeit beansprucht. Dahl geht wie Weber davon aus, dass Macht eine soziale Beziehung ist, in der Widerstand überwunden werden muss: „A has the power over B to the extent that he can get B to do something B would not otherwise do.“ (Dahl 1957: 202 f.). Dem von Weber geprägten Ansatz, Macht als Willensdurchsetzung, bzw. Macht „über andere“ zu definieren, setzte beispielsweise Hannah Arendt einen kontextbe­ zogenen, interaktiven Machtbegriff entgegen, der in jüngerer Zeit in der sozialwissen­ schaftlichen Literatur über internationale Beziehungen rezipiert wird. Macht ist nach Arendt zu verstehen als Fähigkeit, „mit anderen“ zu agieren. Auch für Arendt setzt Macht soziale Beziehungen voraus, aber sie beinhaltet nicht einfach Willensdurch­ setzung, sondern soziale Prozesse der Kommunikation und der Kohäsion. „Macht ent­ spricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.“ (Arendt 1970: 45). Macht gehört nach Arendt zum Kern aller staatlichen Gemeinwesen. Sie bedarf jedoch der Legitimität. Das bedeutet, dass diejenigen, die Macht ausüben, sich ihrer Autorität ständig verge­ wissern müssen. Macht, die nicht autorisiert ist, wird zur Gewalt. Gewalt kann zwar, als letzter Ausweg, im politischen Handeln mit einkalkuliert sein, sodass es so ausse­ hen kann, als sei die Machtstruktur eine Vorbedingung für Gewaltausübung; dies ist jedoch nicht der Fall. Bei Arendt ist der Machtbegriff eher weit gefasst, während Ge­ walt auf einer engen, spezifischen Definition beruht. Arendts Begriff der Macht, der sich aus dem Verständnis des Politischen als Handlungsfähigkeit herleitet, wird auch als Alternative zu einem engen, strukturalistischen Machtbegriff betrachtet. Für empirisch orientierte Machtanalysen muss der Machtbegriff differenziert und operationalisiert werden, um ihn für Untersuchungen fruchtbar zu machen. Die Wil­ lensdurchsetzung, z. B. einer Regierung oder eines Staates, in der internationalen Po­ litik kann als Ergebnis von Machtausübung interpretiert werden, die auf verschie­ denen Machtmitteln oder -ressourcen beruht. Als ein zentrales Ergebnis empirischer Analysen lässt sich eine Ausdifferenzierung von Indikatoren der Macht notieren. Ne­ ben militärischer Macht bestimmen weitere Parameter, wie etwa technisch-wissen­ schaftliche Grundlagen, industrielle und finanzielle Leistungen einer Volkswirtschaft,

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Währung und Humankapital den Einfluss von politischen Akteuren mit. Auch Fähig­ keiten der Diplomatie und des Verhandlungsgeschicks gelten inzwischen als Macht­ ressource. Macht wird in der wissenschaftlichen Literatur als ein Oberbegriff für eine diffe­ renzierte Typologie unterschiedlicher Formen von Einfluss in der internationalen Poli­ tik verwendet. Eine heuristische Kategorisierung von Macht bietet eine amerikanische Studie an, die mindestens drei große Formen von Macht unterscheidet (vgl. Boulding 1989): – Macht als Drohung (threat power), die einen Einfluss auf andere ausübt, indem sie Überlegenheit ausdrückt und anderen gegenüber Zwangs- oder Drohmittel ein­ setzen kann. Diese Form der Macht kann in einer Unterordnung resultieren, sie kann aber auch zur Flucht aus der Machtbeziehung oder zu einer Gegendrohung führen. – Wirtschaftliche Macht (economic power), die aufgrund längerfristiger historischer Prozesse global oder regional zu ungleichen Machtverteilungen geführt hat, bzw. aufgrund von Ressourcen eine Gruppe oder ein Land begünstigt, – Integrative Macht (integrative power), die als legitim anerkannt ist und Loyalität beinhaltet. Diese Form der Macht ist relativ dauerhaft, wenn sie auf Kommunika­ tion beruht und sich ihrer Legitimität versichert. In der neueren Literatur bezeichnet der Machtbegriff also einen komplexen sozia­ len Zusammenhang, der auch empirisch überprüfbar sein soll. Michael Barnett und Raymond Duval, die sich von einem einseitigen dominanten Machtbegriff abgrenzen, entwickeln beispielsweise ein vierdimensionales Machtkonzept für die Analyse Inter­ nationaler Beziehungen und unterscheiden zwingende Macht, institutionelle Macht, strukturelle Macht und produktive Macht. Die Berücksichtigung dieser verschiedenen Formen der Machtausübung soll zum differenzierten Verständnis der internationalen Beziehungen beitragen und auch das Feld für empirische Untersuchungen öffnen (vgl. Barnett/Duvall 2005). Joseph S. Nye bringt den Begriff der Macht in einen Zusammenhang mit der Fähig­ keit, im internationalen Kontext eine führende Rolle zu übernehmen (leadership). Er unterscheidet zunächst zwei Formen von Macht, die zwingende Macht (hard power) und die auf Überzeugen beruhende, weiche Macht (soft power) (Nye 2008). Während sich erstere vor allem auf militärische oder wirtschaftliche Überlegenheit und Strategi­ en der Abschreckung, Drohungen oder auf harte Sanktionen stützt, beruht die weiche Macht auf der Fähigkeit, andere durch Vorbild oder Argumentation zu überzeugen. Informationsnetzwerke, Kulturaustausch und Sozialisation sind wichtige Grundlagen dieser Form der Macht. Am wirksamsten in der internationalen Politik, so Nye, sind jedoch Kombinationen von beiden Herangehensweisen. Diese Form der Macht, die si­ tuationsabhängig und flexibel eingesetzt wird, bezeichnet Nye als kluge Macht (smart power). Der Begriff von smart power wurde beispielsweise von der Obama-Adminis­ tration aufgegriffen, um einen Richtungswechsel in der Außenpolitik einzuleiten, in

1.4 Der Machtbegriff in den internationalen Beziehungen | 13

dem die Diplomatie wieder einen höheren Stellenwert erhalten sollte. So betonte die 2008 von Obama ins Amt gerufene US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton bei ihrem Amtsantritt, dass Überzeugen und diplomatische Verhandlungen in Kombi­ nation mit konsequenter Durchsetzungspolitik als Strategie der neuen Außenpolitik umgesetzt werden solle. Die Leiterin des Policy-Planungsstabs und damit die führen­ de außenpolitische Beraterin von Hillary Clinton, die Politikwissenschaftlerin AnneMarie Slaughter, vertritt gleichfalls den Smart-Power-Ansatz (vgl. Kap. 4). Die Verwendung des Machtbegriffs in der Analyse Internationaler Beziehungen ist immer wieder kritisch kommentiert und bearbeitet worden. Daher sollen schließ­ lich zwei Theorieansätze vorgestellt werden, die den Machtbegriff an sich infrage stel­ len. Ob Macht überhaupt eine grundlegende Strukturkategorie ist, wird vor allem in poststrukturalistischen Arbeiten bezweifelt. Die britische Autorin Cynthia Weber geht beispielsweise davon aus, dass staatliche Macht im historischen Prozess durch soziale Praktiken konstruiert worden sei, um Herrschaft zu begründen (vgl. Weber 1995). Sie argumentiert, dass Macht keine „objektive“ wissenschaftliche Kategorie sein kann, sondern einer diskursiven Herrschaftspraxis entspringt. Staatlichkeit mit ihrer klassi­ schen Konzeption von Souveränität ist dem Poststrukturalismus entsprechend durch spezifische Konfigurationen von Macht und Wissen entstanden, um eben diese Macht­ verhältnisse aufrechtzuerhalten (vgl. auch Burchill/Linklater 2009). Auch feministische Forschungsansätze problematisieren den Machtbegriff. Die Politikwissenschaftlerin J. Ann Tickner zeigt beispielsweise auf, dass der in neorea­ listischen Arbeiten verwandte Macht- und Sicherheitsbegriff eine männlich gepräg­ te Konstruktion darstellt, indem traditionelle männliche Attribute wie das rationale, strategische Kalkül und das Streben nach Macht als allgemeingültige Verhaltensmus­ ter angenommen und unhinterfragt auf das Agieren von Staaten übertragen wurden (vgl. Tickner 1992). Für Tickner ist das Streben nach Macht kein Grundprinzip mensch­ licher Ordnung, sondern es stellt vielmehr eine Ursache für viele Probleme der inter­ nationalen Politik dar. Erst Machtstreben habe zu einer ernsthaften Sicherheitsbedro­ hung in der Welt geführt, so Tickner; dies zeige sich in militärischer Aufrüstung, Droh­ gebärden und die Sicherheit gefährdenden Dominanzkulturen. Tickner plädiert daher für einen neuen Sicherheitsbegriff, bei dem andere, „weiblich“ geprägte Verhaltens­ muster und Werte, wie das Bedürfnis nach Schutz, die Fähigkeit zur Verständigung und kollektive Sicherheit im Mittelpunkt stehen. Macht sollte als „shared power“ ver­ standen werden, die zur Lösung von globalen Problemen beiträgt. Zusammenfassend wird deutlich, dass der Machtbegriff trotz kontroverser Diskussion über seinen analy­ tischen Mehrwert für die Internationalen Beziehungen von zentraler Bedeutung ist.

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1.5 Theorierichtungen in der Analyse der Internationalen Beziehungen Im Feld der Internationalen Beziehungen gibt es keine „große“ einheitliche Theorie. Vielmehr unterscheidet man unterschiedliche Denkschulen und Theorierichtungen. In der angelsächsischen Literatur, die in Deutschland zunächst führend war, wird da­ bei häufig zwischen den zwei älteren Denkschulen des Realismus und des Idealismus differenziert; neuere Theorierichtungen werden in der Regel in die zwei Grundrichtun­ gen des Neo-Realismus und des Liberalismus bzw. liberalen Institutionalismus unter­ teilt. Letzterem werden die Interdependenztheorie und die Regimetheorie zugeordnet. Neben diesen Grundströmungen werden eine Reihe weiterer, meist neuerer Ansätze genannt, wie konstruktivistische, postmoderne, Rational-Choice- oder feministische Theorieansätze. Für Deutschland stellte die Berliner Politikwissenschaftlerin Helga Haftendorn bereits Ende der 1980er-Jahre fest, dass es zwanzig verschiedene theoretische Konzep­ te in der Auseinandersetzung mit den internationalen Beziehungen gäbe (Haftendorn 1990: 448). Als Hauptströmungen gelten in der deutschen Diskussion Realismus, In­ stitutionalismus, Liberalismus, Feminismus und Konstruktivismus. Manche Autoren fügen Transnationalismus hinzu (z. B. Schimmelfennig 2017), andere den Marxismus (z. B. Krell/Schlotter 2018). In der theoretischen Diskussion wird dabei auch zwischen rationalistischen und norm- bzw. wertorientierten Ansätzen unterschieden. Rationalistische Theorien be­ fassen sich mit den Interessen und Präferenzen von Akteuren, mit Kosten-NutzenAnalysen und strategischen Überlegungen von Akteuren gegenüber dem internatio­ nalen System, während sich konstruktivistische Theorieansätze mit Normen und Wer­ ten sowie mit der Identität von Akteuren und der Sozialisation durch internationale Organisationen beschäftigen. Verschiedentlich wird in der Forschung auch für eine Verbindung dieser beiden erkenntnistheoretisch differierenden Herangehensweisen plädiert. Die Klassifizierung unterschiedlicher Theorieansätze verdeutlicht, wie weit sich das Feld der Internationalen Beziehungen theoretisch, und in der Konsequenz auch methodisch, ausdifferenziert hat. Grundsätzlich kann also von einem Theorienplura­ lismus ausgegangen werden. Die wichtigsten Theorieströmungen und ihre Vorläufer sollen im Folgenden dargestellt werden.

1.5.1 Theoretische Vorläufer Die Ursprünge moderner Theorien der Internationalen Beziehungen reichen bis in die frühe Neuzeit und die Entstehung moderner Nationalstaaten zurück. Geistesge­ schichtliche Wurzeln gehen bereits zurück auf die staatstheoretischen Abhandlungen des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) sowie auf die Philosophie

1.5 Theorierichtungen in der Analyse der Internationalen Beziehungen | 15

des Liberalismus. Hobbes entwickelte in seiner Schrift „Leviathan“ den absolutis­ tisch-aufgeklärten Gedanken eines „Sozialvertrags“, in dem der Staat seinen Unterta­ nen im Gegenzug zur ihrer „Unterwerfung“ unter die staatliche Autorität ein sicheres Leben gewährleisten sollte. Sicherheit bestand vor allem im Schutz gegen äußere Feinde. Hierzu mussten die entstehenden modernen Staaten auch Ordnungs- und Verteidigungssysteme, wie z. B. Armeen, entwickeln. Diese Gedanken werden vor al­ lem von Realisten und Neo-Realisten aufgegriffen, da sie bei Hobbes grundlegende Überlegungen zu der Frage entwickelt finden, wie moderne Staaten die Sicherheit ihrer Bürger nach außen durch das Souveränitätsprinzip gewährleisten können. John Locke (1632–1704), einer der Hauptbegründer des politischen Liberalismus, gilt dage­ gen als Wegbereiter für die liberale Denkschule in den internationalen Beziehungen. Der Liberalismus entwarf das Bild von Gesellschaften selbstbestimmter Individuen, die im freien Austausch miteinander in Beziehung treten; souveräne Staaten, die in erster Linie an allgemeiner Wohlfahrt und Handel interessiert sind, tendieren dazu, ihre Konflikte friedlich und zum Wohle aller zu lösen. Der Naturrechtsgedanke der Aufklärung begründete darüber hinaus die Auffassung, dass Handel und Austausch zwischen Staaten frei und gleichberechtigt stattfinden solle und entsprechende recht­ liche Vereinbarungen markieren den Beginn der Neuzeit. Im Völker- und Handels­ recht wird dabei auch auf Hugo Grotius (1583–1645) sowie Samuel von Pufendorf (1632–1694) als zwei der wichtigsten theoretischen Vorläufer Bezug genommen. In der deutschsprachigen Literatur über internationale Politik wird häufig Be­ zug auf Immanuel Kant (1724–1804) genommen, der in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ 1795 bereits Überlegungen zur Überwindung der anarchischen Beziehun­ gen zwischen Staaten durch völkerrechtlich verbindliche, konstitutionelle Regelungen und die Schaffung von internationalen Organisationen anstellte (vgl. Kant 1984). Kant schlug beispielsweise die Errichtung eines Friedensbundes vor, eine Konzeption, die später die Gründung der Vereinten Nationen beeinflusste. Seine Überlegungen wur­ den in jüngerer Zeit auch in der Friedensforschung und in der Menschenrechtsdis­ kussion wieder aufgegriffen. Beeinflusst durch den politischen Liberalismus sowie Jean-Jacques Rousseaus Konzept der politischen Gemeinschaft konzipierte Kant die Idee eines „Weltbürgerrechts“, das nicht national, sondern kosmopolitisch begründet war. „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität einge­ schränkt sein“, schrieb Kant in seinem „3. Definitivartikel zum ewigen Frieden“. Unter den klassischen Theorien ist schließlich auch die Arbeit von Karl Marx (1818–1883) zu nennen, der mit seiner monumentalen Kapitalismusanalyse und der These von der globalen Wertschöpfung des Kapitals von Weltsystem- und Dependenztheoretikern herangezogen wird. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Theoriebildung in den Internationalen Be­ ziehungen stark vom Idealismus geprägt (vgl. Meyers 1994). Der Idealismus bestand im Kern darin, über die Einrichtung internationaler Organisationen sowie die Weiter­ entwicklung des internationalen Rechts und der Diplomatie den Weltfrieden zu si­ chern. Die Einrichtung einer internationalen Organisation, die nicht mehr primär an

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nationalen Interessen, sondern am übergeordneten Gedanken der Friedenssicherung ausgerichtet sein würde und in der alle Völker vertreten sein sollten, könne nach Auffassung ihrer Befürworter dazu beitragen, den Friedensgedanken zu stärken und ab­ zusichern. Analog zum Gesellschaftsvertrag im politischen Gemeinwesen sollte sich auch die internationale Gemeinschaft an gemeinsamen Zielen orientieren und dem­ entsprechend Strukturen kollektiver Sicherheit entwickeln. Mit dem Friedensziel korrespondierte ein Menschenbild, das den Menschen in der Tradition der Aufklärung als vernunftbegabtes Wesen ansah. Individuelle Verantwor­ tung zum Wohle der Allgemeinheit sowie an den Idealen von Fortschritt, Gerechtigkeit und Frieden orientiertes Handeln galten als Grundbedingungen für die Schaffung ei­ ner friedlichen Weltgesellschaft. Befürwortet wurden zudem der freie Handel und der Austausch zwischen Staaten sowie die Abschaffung von Geheimdiplomatie zugunsten einer offenen Politik gegenüber anderen Ländern. Der ehemalige amerikanische Prä­ sident Woodrow Wilson, der nach der Beendigung des Ersten Weltkriegs die Idee der Gründung eines Völkerbundes förderte, vertrat beispielsweise die Auffassung, dass sich die Welt am Friedensziel orientieren solle. Mit dem Scheitern des Völkerbundes, dem Aufkommen faschistischer und nationalsozialistischer Regime in Italien, Spani­ en und Deutschland und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verlor die idealisti­ sche Schule jedoch an Einfluss.

1.5.2 Realismus und Neo-Realismus Die Theorie des Realismus der Internationalen Beziehungen löste nach dem Zweiten Weltkrieg die idealistische Sicht auf die Gestaltbarkeit des internationalen Systems ab, welche noch in der Zwischenkriegszeit dominierend war. Während die idealisti­ sche Denkschule danach fragte, wie die internationale Politik beschaffen sein sollte (normative Zukunftsorientierung), analysiert die realistische Denkschule die interna­ tionale Politik so, wie sie beschaffen ist (pragmatische Gegenwartsorientierung). Mit diesem Paradigmenwechsel ging auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen in der internationalen Politik einher. Einer der Hauptbegründer der Realistischen Schule der Internationalen Bezie­ hungen war der aus Deutschland emigrierte amerikanische Wissenschaftler Hans J. Morgenthau, der in den Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit zu einem ihrer einflussreichsten Theoretiker aufstieg. Morgenthau ging davon aus, dass sich die Welt in einem Zustand der Anarchie befinde, d. h. dass weder eine Zentralmacht noch eine allgemein akzeptierte und legitimierte politische Autorität existierten, die die Be­ ziehungen zwischen Staaten regeln und Fehlverhalten effektiv sanktionieren kann. Analog zum vorgesellschaftsvertraglichen Naturzustand – der „Krieg aller gegen alle“ nach Hobbes – folgerte Morgenthau hieraus, dass das nationale Interesse der Staaten primär darin bestehen müsse, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Dabei ging

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Morgenthau von einem Politikbegriff aus, der Macht als interessengeleitetes Handeln in den Mittelpunkt politischer Prozesse stellte. Für Morgenthau ist internationale Politik „[. . .] wie alle Politik, ein Kampf um die Macht. Wo immer die letzten Ziele der internationalen Politik liegen mögen, das unmittelbare Ziel ist stets die Macht“. (Morgenthau 1963: 60). Der Webersche Macht­ begriff hat daher in seinen Arbeiten einen zentralen Stellenwert. Morgenthau schreibt hierzu: „Wenn von Macht gesprochen wird, ist die Herrschaft von Menschen über das Denken und Handeln anderer Menschen gemeint. Unter politischer Macht verste­ hen wir die wechselseitigen Machtbeziehungen zwischen den Inhabern öffentlicher Gewalt und zwischen diesen einerseits und dem Volk andererseits.“ (Morgenthau 1963: 61). Im Kern ist der Begriff der internationalen Politik durch Machtbeziehungen ge­ kennzeichnet. Daraus folgert Morgenthau: „Da Machtstreben das Merkmal interna­ tionaler Politik wie aller Politik ist, muss internationale Politik zwangsläufig Macht­ politik sein [. . .]. Der Kampf um Macht hat universellen Charakter in Zeit und Raum und stellt eine unwiderlegliche Erfahrungstatsache dar.“ (Morgenthau 1963: 65). Die existenzielle Unsicherheit im menschlichen Daseinsempfinden erfordere den Machttrieb, so Morgenthau, schon aus Selbsterhaltungszwecken. Auf das Staatensys­ tem übertragen bedeutet dies, dass jeder Staat ein maximales Interesse daran haben muss, die eigene Macht zu sichern und zu vergrößern, um seine Existenz und damit die eigene Sicherheit im unausweichlichen Wettstreit mit den anderen ebenfalls nach Macht strebenden Staaten zu sichern. Morgenthaus Arbeiten beruhen auf einem pessimistischen Menschenbild, das sich vor allem in seiner Machtdefinition widerspiegelt. Dabei erscheinen die Annah­ me der Ubiquität von Machtkämpfen sowie das pessimistische Menschenbild auch zeithistorisch beeinflusst. Im Kontext der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust und der aggressiven nationalsozialistischen Expansionspolitik sowie dem Versagen der großen Mächte, das nationalsozialistische Deutschland frühzei­ tig in seine Schranken zu weisen, ist Politik als Macht- und Überlebenskampf als „realistische“ Sichtweise nachvollziehbar. Ihre herausragende Popularität in den Vereinigten Staaten erlangten Morgenthaus Schriften allerdings vor dem Hintergrund des sich rasch verschärfenden Ost-West-Konflikts. Die Vereinigten Staaten traten erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die Weltpolitik ein und suchten ihre durch den Kriegsausgang ergebene Position zu behaupten. Auch militärisch waren die Ver­ einigten Staaten zum „Global Player“ aufgestiegen – so verfügten sie unter anderem nun über Atomwaffen – und sowohl die militärischen als auch die geostrategischen Interessen erforderten eine gezielte Machtpolitik, um der Sowjetunion und ihrer, vor allem von Stalin verfolgten, Politik der Machtausdehnung in Europa ein Gegenge­ wicht entgegenzusetzen. Mit dem Machtansatz Morgenthaus bot sich die Möglichkeit, ein Konzept aufzugreifen, das dieses Potenzial theoretisch reflektierte und in der Po­ larisierung mit der Sowjetunion „realistische“ Einschätzungen zu liefern vermochte. Die Rivalität zwischen den beiden Supermächten war zugleich Grundlage und Ergeb­

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nis des Realismus als beherrschendem Paradigma, welches über mehrere Jahrzehnte als Legitimationsbasis der amerikanischen Außenpolitik diente. Die Suche nach neuen, tragfähigen politischen Konzepten in der Außenpolitik während der Zeit des Kalten Krieges verlieh den Arbeiten von Morgenthau eine hege­ moniale theoretische Position. Macht konnte nach Auffassung der Realisten vor allem durch militärische Mittel erhalten und vergrößert werden und nicht, wie die idealis­ tische Schule annahm, primär durch den freien Handel und internationale Koopera­ tion. Den internationalen Organisationen standen die Realisten grundsätzlich skep­ tisch bis ablehnend gegenüber. Das Scheitern des Völkerbundes und die durch den Ost-West-Konflikt verursachte Schwäche der jüngst erst errichteten Vereinten Natio­ nen schienen ihnen Recht zu geben. Das strukturelle Problem der Anarchie in der Staatenwelt bestand nach Ansicht der Realisten in einem Sicherheitsdilemma, wie es zuerst in den 1960er-Jahren von John Herz behauptet wurde (vgl. Herz 1974). Beredtes Beispiel für das Sicherheitsdi­ lemma war die Systemkonfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der So­ wjetunion, die im Wettrüsten zwischen NATO und Warschauer Pakt einen Höhepunkt erreichte. Im Sicherheitsdilemma ist jeder Staat bestrebt, die eigene Sicherheit her­ beizuführen, sodass es zu einer paradoxen Situation kommen kann, in der das Behar­ ren von Staaten auf ihren sicherheitspolitischen Interessen und eine hieraus folgende Aufrüstung letztendlich zu erhöhter Instabilität führen und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges erhöhen kann. Das staatliche Streben nach Machtgleichgewicht verur­ sacht in diesem System eine Machtkonkurrenz, bei der schließlich keiner gewinnen kann, denn zum einen sorgt das Streben nach Macht dafür, dass Staaten daran schei­ tern, eine dauerhafte Vorrangstellung im System zu erreichen, weil auch andere Staa­ ten bestrebt sind, ihre Macht auszubauen. Zum anderen führt das Sicherheitsdilemma dazu, dass selbst rein defensiv eingestellten Staaten der Ausstieg aus der Machtkon­ kurrenz nicht gelingt. Diese mit spieltheoretischen Annahmen theoretisierte Macht­ konkurrenz („Gefangenendilemma“) hat beispielsweise im Wettrüsten der Großmäch­ te während des Ost-West-Konflikts eine große Rolle gespielt. Dabei halten Neo-Realis­ ten das Sicherheitsdilemma grundsätzlich für unlösbar; das oberste Ziel, die eigene Sicherheit zu gewährleisten erfordere permanente Modernisierung von Waffen- und Abwehrsystemen. Dagegen geht die Regimetheorie davon aus, dass das Sicherheits­ dilemma durch eine Verrechtlichung überwunden werden kann, indem sich Staaten auf Rüstungsbegrenzungen und Abrüstung einigen. Der Konstruktivismus wiederum hält die Annahme eines allgemeinen Strebens nach Macht und das Theorem der „An­ archie“ in der internationalen Politik für eine die Sicherheit gefährdende soziale Kon­ struktion. Prominenter Anhänger der realistischen Denkschule in der praktischen Politik war beispielsweise George F. Kennan, Historiker und amerikanischer Diplomat, der unter anderem als Botschafter in der Sowjetunion tätig war, und der in einem berühm­ ten Aufsatz in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ im Jahr 1947 die Containment-Politik (Eindämmungspolitik) begründete. Kennan ging davon aus, dass die Sowjetunion da­

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nach streben würde, ihren Machteinfluss in Europa und anderen Regionen der Welt auszudehnen. Deshalb sollte die Außenpolitik der Vereinigten Staaten darauf ausge­ richtet sein, den Einfluss der Sowjetunion mit allen Mitteln einzudämmen – eine Posi­ tion, die zum Grunddogma amerikanischer Außenpolitik in der Nachkriegszeit wurde. Bedeutende Persönlichkeiten, wie der von 1973 bis 1977 amtierende Außenminister Henry Kissinger, waren ebenfalls von der realistischen Denkschule in der Außenpoli­ tik geprägt. Mit dem Ende der 1960er-Jahre begannen sich Theoretiker der Internationalen Beziehungen vom realistischen Paradigma abzugrenzen. Kritisiert wurde beispiels­ weise, dass die realistische Denkschule nicht erklären könne, warum Staaten partiell zur Aufgabe von Souveränität zugunsten einer institutionell verankerten Kooperation bereit seien. So ließen sich beispielsweise die Entstehung der Europäischen Gemein­ schaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 und die Bildung der Europäischen Gemein­ schaft im Jahr 1957 (Römische Verträge) nicht mit dem realistischen Ansatz erklären. Wenn Staaten von einem quasi naturgegebenen Machttrieb geleitet werden, warum und unter welchen Bedingungen sind sie bereit, freiwillig staatliche Macht zu trans­ ferieren? Verfügen gemeinschaftliche Institutionen über Problemlösungskapazitäten, die im nationalstaatlichen Kontext nicht erzielt werden können? Unter bestimmten Voraussetzungen war daher der Transfer von Souveränität denkbar. Zudem war die realistische Theorie nicht geeignet, um sich widersprechende au­ ßenpolitische Prioritäten zu analysieren. Solange sicherheitspolitische Interessen im Vordergrund standen, griffen die realistischen Paradigmen, während die zunehmen­ de Bedeutung wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Staaten, die mit den sicher­ heitspolitischen Dogmen in einem Spannungsverhältnis standen, nicht angemessen erfasst werden konnten. So argumentierten Kritiker, dass der Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion den wirtschaftlichen Interessen der Vereinigten Staaten und denen der westlichen Länder zuwiderlief. Diente das Wettrüsten tatsächlich dem nationalen Interesse oder schadete es nicht vielmehr den langfristigen Interessen der USA und der Entwicklung von globalen Wirtschaftsbeziehungen? Führten die Kosten der Aufrüs­ tung nicht gerade zu einer Schwächung ziviler Wirtschaftsbereiche und der Vernach­ lässigung gemeinschaftlicher Aufgaben in den Bereichen Bildung und Infrastruktur? Vor dem Hintergrund zunehmender Wirtschaftsverflechtungen und schärferer Kon­ kurrenz auf dem Weltmarkt wurde die handlungsanleitende Funktion des Realismus daher zunehmend in Zweifel gezogen. Auch die Niederlage im Vietnamkrieg Anfang der 1970er-Jahre führte zu Brüchen im realistischen Paradigma, da er direkt auf ein Paradoxon dieser Theorie hinwies: Offensichtliche militärische Überlegenheit scheint eben nicht automatisch als Garantie für die erfolgreiche Umsetzung nationaler Inter­ essen zu funktionieren. Die machtpolitische Begründung des „nationalen Interesses“ war nun selbst unter Realisten umstritten. Unter dem Eindruck dieser kritischen Einwände bildete sich eine neue Theorie­ strömung, der Neo-Realismus, heraus. Unter dem Begriff werden verschiedene jün­ gere Theorieansätze zusammengefasst, die sich ähnlich wie der Realismus als „gro­

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ße“, umfassende Theorie der Internationalen Beziehungen verstehen. Der Neo-Realis­ mus knüpft an die realistische Vorstellung der zentralen Rolle von Staaten an. Er teilt auch die Annahme, dass internationale Beziehungen nicht primär durch Kooperation, sondern vielmehr durch Konflikte und Konkurrenz geprägt werden, die aus der anar­ chischen Struktur der Weltpolitik resultieren. Die von Morgenthau zugrunde gelegten und von Hobbes abgeleiteten anthropologischen Annahmen über die Natur des Men­ schen werden dabei nicht mehr geteilt; vielmehr setzt der Neo-Realismus auf der Ebe­ ne des internationalen Systems an. Daher kann der Neo-Realismus auch als „struk­ tureller Realismus“ bezeichnet werden. Die Staaten streben nach Machtzuwachs, je­ doch im Rahmen der Möglichkeiten, die das internationale System zulässt. Da das internationale System als Begrenzung der Handlungsoptionen aufgefasst wird, kann die Macht eines Staates nur relativ zu anderen ausgebaut werden. Kenneth Waltz, der wohl prominenteste Vertreter des Neo-Realismus, schreibt dazu: „International struc­ ture emerges from the interaction of states and then constrains them from taking cer­ tain actions while propelling them towards others.“ (Waltz 1979: 66). Während der Realismus davon ausging, dass das staatliche Machtstreben den Machtpotenzialen entsprechend ausgestaltet werden müsse, betonen Neo-Realisten den Rahmen, der für die Handlungsoptionen durch das internationale System gesetzt werde. Neben den Sicherheitsinteressen erlangten wirtschaftliche Interessen im Neo-Realismus zudem eine immer größere Bedeutung. In der Außenwirtschaftspolitik befürworten Neo-Rea­ listen beispielsweise eine primär an der nationalen Volkswirtschaft orientierte Politik, die, falls notwendig, Protektionismus und Regierungsintervention einschließen kann. Das Bild der Internationalen Beziehungen im Neo-Realismus entspricht dem Bil­ lardkugel-Modell, in welchem alle Staaten unabhängig voneinander agieren und sich gegenseitig behindern oder ausstechen können. Aufgrund der anarchischen Struk­ tur der Weltpolitik und der daraus resultierenden Unsicherheit ist kooperatives politi­ sches Verhalten nicht selbstverständlich. Nach Auffassung der Neo-Realisten handeln Staaten vielmehr nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip. When faced with the possibility of cooperating for mutual gains, states that feel insecure must ask how the gain will be divided. They are compelled to ask not ‚Will both of us gain?‘ but‚ Who will gain more?‘ If an expected gain is to be divided, say, in the ratio of two to one, one state may use its disproportionate gain to implement a policy intended to damage or destroy the other. Even the prospect of large absolute gains for both parties does not elicit their cooperation so long as each fears how the other will use its increased capabilities. (Waltz 1979: 105)

Die Internationalen Beziehungen stellen sich demnach als ein Nullsummenspiel dar, denn was eine Partei gewinnt, verliert eine andere. Vor diesem Hintergrund werden die Chancen für internationale Kooperation als eher gering eingeschätzt. Kritik an der realistischen und neo-realistischen Denkschule kam darüber hinaus von prominenten Vertretern einer historisch-soziologischen Sichtweise auf interna­ tionale Beziehungen. In seinem 1981 veröffentlichten Werk „Duties Beyond Borders. On the Limits and Possibilities of Ethical International Politics“ erklärte der an der

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Harvard University lehrende Politikwissenschaftler Stanley Hoffmann, der selbst zu­ nächst die „realistische“ Sicht auf die internationalen Beziehungen mitbegründet hat­ te, dass die realistische Denkschule den neuen internationalen Verhältnissen nicht mehr angemessen sei; zudem seien sich Realisten selbst nicht einig, was den Kern der realistischen Theorie ausmache. Zwar seien alle Realisten einig, wenn es um die natio­ nale Sicherheit geht, „but there are not two realists who agree either in their analysis of what is, or what ought to be, or on how to get from here to there“. (Hoffmann 1981: 695). Zentraler Schwachpunkt der Theorie sei, so Hoffmann, dass ethische Grundsätze in der internationalen Politik grundsätzlich ausgeklammert, ja moralisches Handeln von Politikern überhaupt als schädlich erachtet würden. Diese Position sei aus mehreren Gründen nicht haltbar. Zum einen habe sich der Zustand des internationalen Systems durch die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen so grundlegend gewandelt, dass kein Staat nur im eigenen Interesse handeln kann. Vielmehr sei nach dem weltpo­ litischen Zusammenhang der Staaten untereinander und nach den langfristigen Zie­ len von politischem Handeln zu fragen, wie dem Überleben der Menschheit an sich (vgl. Hoffman 1995). „The nuclear revolution and economic interdependence amount to a huge change in the significance of sovereignty.“ (Hoffmann 1995: 27). Hoffmann war daher bestrebt, eine argumentative Brücke zwischen dem klassi­ schen Realismus, den er sehr achtete – in seinen Worten: „Reflecting upon Hans Mor­ genthau’s remarkable work, I wrote recently that we are all realists now“ (Hoffmann 1995: 3) – und den sich neu entwickelnden liberalen und institutionalistischen Theo­ rien zu schlagen. Ansatzpunkt war für ihn die Unzulänglichkeit der herkömmlichen realistischen Theorie bei der Berücksichtigung ethisch-philosophischer Fragen. Wäh­ rend der Realismus, dem Hobbschen Weltbild folgend, Politiker ausschließlich auf das eigene nationale Interesse und auf interessengeleitetes „pragmatisches“ Handeln re­ duzierte, sei es angesichts weltpolitischer Veränderungen notwendig, übergeordne­ te politische Grundsätze im Interesse einer Weltgemeinschaft zu berücksichtigen, um die Ziele der nationalen Sicherheits- und Außenpolitik zu verwirklichen. Auch das un­ gelöste Problem der Weltarmut und die wirtschaftlichen Ungleichheiten forderten zur Berücksichtigung ethischer Grundsätze auf. Hoffmann plädierte daher für die Über­ nahme einer globalen Verantwortung für den Zustand der Welt. Da in der Politik stets verschiedene Handlungs- und Entscheidungsalternativen geprüft werden und diese nicht voraussetzungslos sind, sollte Ethik eine Basis der Entscheidungsfindung bil­ den. Auf dieser Basis könnten nationale Interessen mit übergeordneten globalen An­ liegen in Einklang gebracht werden. Thus there is a need for a moral vision in the statesman and the citizen. Morality is not reducible to cost-benefit analyses (in most issues, evaluating what is a cost and what is a benefit is highly sub­ jective and indeed dependent on one’s values) [. . .] nor does it mean accommodating all claims (one has to listen to them, of course, but a final judgment is still necessary on which claims are right and which are wrong; political strategy may require prudence in dealing with the claims that are wrong, but a moral strategy requires such judgment.) [. . .] The strategy I have recom­

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mended before and continue to believe in is a transformist strategy – one that aims at building a satisfactory world order while defending the interests of one’s state. (Hoffmann 1995: 35).

Die transformative Strategie sollte, so Hoffmann, auf einem kosmopolitischen Denken beruhen und eine längerfristig angelegte Vision beinhalten. Mit dem Ende des weltumspannenden Ost-West-Konflikts gerieten der Realismus sowie der Neo-Realismus immer stärker in die Kritik. Die Unfähigkeit, Wandel in den internationalen Beziehungen zu erklären, führte dazu, dass die realistischen Grund­ annahmen und die Erklärungskraft grundsätzlich infrage gestellt und neue Ansätze, wie der Sozialkonstruktivismus, entwickelt wurden und zunehmend an Bedeutung gewannen. Der „ideational turn“, d. h. die stärkere Betonung von ideellen Faktoren in den internationalen Beziehungen, forderte die neo-realistischen Ansätze grundsätz­ lich heraus, wobei vielfach ein „Brückenschlag“ zwischen den beiden konkurrieren­ den Ansätzen favorisiert wurde. In Verteidigung der realistischen Denkschule wur­ de beispielsweise die Arbeit Morgenthaus neu interpretiert, um ihre ideellen Implika­ tionen herauszustellen (vgl. z. B. Williams 2004). Die Debatte über (neo-)realistische Theorien und ihre rationalistischen Grundannahmen ist jedoch bis heute nicht been­ det und sie gewinnt im Zuge der Auseinandersetzung mit Kriegen und Kriegsursachen, aber auch in der Diskussion über aufsteigende Mächte, wie beispielsweise derzeit in Asien, erneut an Bedeutung.

1.5.3 Interdependenztheorie und Regimeforschung Die Interdependenztheorie und die Regimeforschung sind in der Auseinandersetzung mit den theoretischen und konzeptionellen Unzulänglichkeiten der neo-realistischen Denkschule entstanden. Im Kontext veränderter Beziehungen zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion seit den ersten Abrüstungsvereinbarungen zu Beginn der 1970er-Jahre suchte die Forschung nach neuen Theoremen, die anstelle der Rivalitätspolitik des Kalten Krieges kooperative Verhandlungsstrategien in den Mittel­ punkt stellten. Auch auf dem Weltmarkt zeigten sich immer deutlicher wechselseitige Abhängigkeiten, in die die industrialisierten westlichen Länder, aber auch die Erdöl produzierenden Schwellenländer eingebunden waren. Wirtschaftspolitische Proble­ me und globale Sicherheitsfragen beförderten einen politikwissenschaftlichen Dis­ kurs, der sich deutlich von neo-realistischen Paradigmen distanzierte. Die Interdependenzforschung gründete ihre Analyse auf die Beobachtung der zunehmenden internationalen Verflechtung von Staaten. Robert O. Keohane und Jo­ seph S. Nye kritisieren in ihrer einflussreichen Studie „Power and Interdependence“ (1989) den mangelnden Realitätsbezug der realistischen Schule. Mit dem Begriff der „komplexen Interdependenz“ charakterisieren sie die Beziehungen zwischen den westlichen Industriestaaten folgendermaßen: Militärische Macht ist im Instrumen­ tarium staatlicher Außenpolitik dieser Länder von untergeordneter Bedeutung. Die

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außenpolitischen Ziele folgen keiner vorgegebenen Hierarchie, vielmehr besteht die Agenda auswärtiger Politik in einer Vielzahl unterschiedlicher Problembereiche, de­ ren Priorität nicht vorbestimmt ist. Die Beziehungen bestehen in einem weit ver­ zweigten Netz grenzüberschreitender Akteure, die sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure sein können (vgl. Keohane/Nye 1989: 24); daher wird ihre Theo­ rie auch verschiedentlich als „liberal“ bzw. Liberalismus bezeichnet. Macht wird in erster Linie als Kompetenz zur Steuerung sozialer Beziehungen verstanden. Es geht nicht mehr um die bedingungslose Verfestigung von Macht zur Selbsterhaltung von Staaten, sondern um eine effektive, am Nutzen der Beteiligten ausgerichtete Macht­ ausübung innerhalb eines multipolaren, pluralistischen Weltsystems. Keohane und Nye entwickelten im Rahmen ihrer Interdependenztheorie eine Arbeitsdefinition von Macht, die sich an das Webersche Machtverständnis anlehnt und zugleich den mul­ tipolaren Strukturen der internationalen Beziehungen Rechnung tragen soll. „Power can be thought of as the ability of an actor to get others to do something they otherwise would not do (and at an acceptable cost to the actor).“ (Keohane/Nye 1989: 11). Sie vertreten die Auffassung, dass die Machtanalyse zweigeteilt sein soll. Auf der einen Seite gehe es um die Machtressourcen, über die ein Akteur im internationalen System verfügt (power over resources). Davon zu unterscheiden sei der tatsächliche Einfluss, den ein Akteur in konkreten politischen Konstellationen ausübt, und die das Ergebnis der Machtdurchsetzung beeinflusst (power over outcomes). Machtausübung erfolgt daher stets auf mehreren Ebenen bzw. durch mehrere Kanäle (channels). Mit ihrer Studie wurde der Weg für eine differenziertere Analyse internationaler Politik geebnet. Die Macht von Staaten und staatliche Politik wurde im Rahmen der Möglichkeiten des internationalen Systems definiert und die Analyse auch auf nicht­ militärische Themen ausgeweitet. Dieser machtanalytische Ansatz ermöglichte es, der zunehmenden Interdependenz von Staaten gerecht zu werden und zudem Verände­ rungen im internationalen System besser zu erklären als mit dem primär am natio­ nalen Interesse ausgerichteten realistischen Machtbegriff. Im Kern geht es dabei der Interdependenztheorie darum, unterschiedliche Grade von Betroffenheit durch die wechselseitige Verflechtung von Staaten aufzuzeigen. Angesichts von Weltmarktab­ hängigkeit in der Energieversorgung beispielsweise wird zwischen einer „Vulnerabil­ ity“-Interdependenz und „Sensitivity“-Interdependenz unterschieden; wechselseiti­ ge Verflechtungen in existenziell erforderlichen Bereichen machen Staaten eher ver­ letzbar (z. B. die für die Wirtschaft zentrale Abhängigkeit von Rohstoff-Ressourcen), während letztere Bindungen charakterisiert, die zwar wichtig sind, aber Wirtschaft und Gesellschaft nicht in ihren existenziellen Grundlagen angreifbar werden lassen. In der Bundesrepublik wurde die Interdependenzforschung breit rezipiert (vgl. z. B. Beate Kohler-Koch 1989). Allerdings konnte die Interdependenzforschung die in sie gesetzten Erwartungen nicht vollends erfüllen. So erwiesen sich die Unterschei­ dungen zwischen den Dimensionen der Interdependenz (sensitivity und vulnerabil­ ity) für empirische Untersuchungen als zu unscharf, u. a. weil nicht präzise bestimmt werden konnte, ob es sich dabei um objektive, situative oder subjektiv empfundene

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Abhängigkeiten handelte. Ein wesentlicher Schwachpunkt bestand auch in der Ver­ nachlässigung von historisch und strukturell gewachsenen Machtverhältnissen, die beispielsweise die hegemoniale Position der USA bzw. der westlichen Länder gegen­ über den peripheren Regionen begründete und eine Abhängigkeit aufgrund der un­ gleichen Ausgangslage bedingte, während die westlichen Länder schon aus struktu­ rellen Gründen ihre Abhängigkeit durch größere Ressourcen ausgleichen konnten. Der Begriff der Interdependenz geht heute in vielfältiger Weise in die wissenschaft­ liche Literatur ein, ohne dass die Autoren sich zwingend einem kohärenten Theorie­ gebäude verpflichtet sehen. Die internationale Regimeforschung entstammt zunächst dem Anliegen, die zu­ nehmende weltwirtschaftliche Verflechtung und die Entstehung von internationalen Institutionen in den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen theoretisch zu erschlie­ ßen. Regimeforschung versteht internationale Politik dabei vor allem als Steuerung von Handlungsalternativen und -kompetenzen (vgl. Kohler-Koch 1989; Rittberger 1995). Heute wird von Regimen in verschiedenen Politikbereichen überall dort ge­ sprochen, wo sich internationale Vereinbarungen und Regeln über einen längeren Zeitraum hinweg etabliert und durchgesetzt haben, z. B. in der internationalen Um­ welt- und der Menschenrechtspolitik („Umweltregime“; „Menschenrechtsregime“). Regime sind institutionalisierte, regelhafte Kooperationsbeziehungen in einem be­ stimmten Politikbereich. Ihr heutiges Verständnis geht zurück auf die Standarddefi­ nition des Regimebegriffs von Stephen Krasner: Regime können definiert werden als Zusammenhänge von impliziten oder expliziten Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren, an denen sich die Erwartungen von Akteuren in einem gegebenen Problemfeld der internationalen Beziehungen ausrichten. Prinzipien umfassen empirische, kausale und normative Grundsätze. Normen sind Verhaltensstandards, die sich in Rechten und Pflichten ausdrücken. Regeln sind spezifische Verhaltensvorschriften, die Verbote und Sanktionen enthalten können. Entscheidungsverfahren sind die maßgeblichen Praktiken beim Treffen und bei der Implementation kollektiver Entscheidungen. (Krasner 1983: 2)

Nach einem Bild der amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Keohane und Jo­ seph Nye können Regime in der internationalen Politik als „Inseln der Ordnung in einem Meer von Anarchie“ verstanden werden (vgl. Keohane/Nye 1989). Während die herkömmliche Interdependenzforschung mit ihrem Anliegen der Regulierung von Politik heute eher randständig geworden ist, hat die Regimefor­ schung einen bezeichnenden Wandlungs- und Erneuerungsprozess erlebt. Nach dem Umbruch von 1989/90 hat sich die Regimeforschung zum einen der wachsenden Be­ deutung von internationalen Institutionen gewidmet (institutionalistischer Ansatz) und zum anderen Wert- und Normsetzungsprozesse in der internationalen Politik fokussiert. Empirische Untersuchungen und die Prüfung von Hypothesen haben die Regimeforschung ausdifferenziert, ebenso wie die Ausweitung des Untersuchungsge­ genstandes auf verschiedene Politikfelder der Internationalen Beziehungen. Auch in der Debatte um Global Governance fließen Grundannahmen der Regime- und Inter­

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dependenztheorie mit der These vom Verlust staatlicher Steuerungsfähigkeit und der Bedeutungszunahme „globalen Regierens“ ein (vgl. z. B. Keohane/Milner 1996; Zürn 2018). Internationale Politik wird hier vor dem Hintergrund zunehmender Interdepen­ denzen im Rahmen der Globalisierung als ein internationales oder transnationales „Verhandlungssystem“ betrachtet, in dem verschiedene politische und soziale Ak­ teure, wie z. B. Organisationen der Vereinten Nationen, Staaten und nicht staatliche Organisationen, interagieren und allgemeinverbindliche Entscheidungen treffen. Die institutionelle Reichweite des Regimebegriffs wird durchaus unterschiedlich gefasst. Umstritten ist z. B. die Frage, inwieweit formalisierte Verfahren institutionali­ siert und rechtlich festgelegt sein müssen, oder ob bereits habituelle Praktiken ein Re­ gime konstituieren. Ebenso wird unterschiedlich beurteilt, wie die Frage, ob Normein­ haltung (compliance), beispielsweise durch die Aufnahme von internationalen Regeln in nationales Recht, für die Regimebildung entscheidend ist, oder ob nicht verschiede­ ne Strategien der Umsetzung (implementation) und die Effizienz der Normeinhaltung beachtet werden müssten. Vor allem in der Diskussion über Global Governance wer­ den diese Fragen weiter untersucht. „Global Governance“ oder „globales Regieren“ beruht – zumindest in der deutschen Debatte – auf einem normativen Ansatz der Po­ litikanalyse. Dieser fragt vor allem nach der Legitimierung internationaler Politik im Kontext der zunehmend unübersichtlich werdenden Welt und nach den Möglichkei­ ten des „guten Regierens“ im Sinne der Entwicklung und Einhaltung internationaler Normen, der Konfliktbearbeitung und der Effizienz von Regel- und Vertragswerken. Im Unterschied zur traditionellen Regimeforschung, die sich noch im zwischenstaat­ lichen Paradigma bewegte, geht die neuere Forschung über Global Governance dage­ gen verstärkt auf zivilgesellschaftliche Akteure ein und untersucht kooperative Pro­ blembearbeitungen auch jenseits des Staates. In der Global-Governance-Forschung gehört die Einbeziehung von NGOs heute zum Forschungsprogramm.

1.5.4 Liberaler Institutionalismus Während der Realismus und der Neo-Realismus internationale Politik vom Paradigma der dominanten Staaten, der staatlichen Souveränität und des nationalen Interesses aus analysieren, nehmen andere Theorieansätze eine globale Perspektive der interna­ tionalen Beziehungen ein und stellen die institutionellen Verflechtungen der Akteu­ re in den Mittelpunkt der Analyse. Hierzu gehören die Interdependenz- und Regime­ forschung sowie der liberale Institutionalismus. Im liberalen Institutionalismus wird eine Pluralität von Akteuren in der internationalen Politik angenommen, die über in­ ternationale Organisationen miteinander verflochten sind und auf das internationale System einwirken. Das internationale System wird nicht als Begrenzung des Hand­ lungsspielraums der Staaten konzeptualisiert, sondern als Forum für unterschiedli­ che Handlungs- und Entscheidungsalternativen, welches unter dem Einfluss politi­ schen Handelns verändert werden kann. Die Welt erscheint in diesen Theorieansätzen

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als Spinnengewebe von Assoziationen und Individuen, die wechselseitig voneinan­ der abhängig sind; internationale Organisationen bilden die Kettfäden in diesem Ge­ webe. Staaten sind über internationale Institutionen miteinander verflochten, wobei sich der liberale Institutionalismus vor allem mit wirtschaftlichen und sicherheitspo­ litischen Institutionen befasst hat. In der englischsprachigen Literatur werden diese Theorieansätze, die von einer pluralen Struktur der internationalen Politik ausgehen, als „Neoliberalismus“ bezeichnet, manchmal auch als „neo-liberaler Institutionalis­ mus“ oder als „Liberalismus“ (vgl. Burchill/Linklater 2009). Nach dem Ende des weltumspannenden Ost-West-Konflikts thematisiert der li­ berale Institutionalismus vor allem Grundwerte der internationalen Gemeinschaft, wie Friedenssicherung, universale Menschenrechte und die Bedeutung globaler öf­ fentlicher Güter. So vertritt Stanley Hoffmann die Auffassung, dass die internationale Politik mehr denn je eine globalistische Perspektive einnehmen muss, um die Pro­ bleme der Weltpolitik nach dem Ende der Systemkonfrontation zu bearbeiten (vgl. Hoffmann 1999). Nur wenn internationale Organisationen diese Herausforderung an­ nehmen und sich – jenseits ideologischer Polarisierungen – öffentlich-politisch mit den großen globalen Problemen befassen, kann die „Weltunordnung“ abgebaut wer­ den. Internationale Organisationen können in diesem Prozess eine wichtige Funktion übernehmen. Die Grundannahme des global orientierten, liberalen Institutionalismus beruht auf der Auffassung, dass es im internationalen System eine Reihe von Akteuren gibt, die unterschiedliche Präferenzen haben. Dabei nimmt die wechselseitige Abhängig­ keit und Verflechtung von Staaten zu, denn die Entwicklung neuer Kommunikati­ onsmittel und Technologien in Verbindung mit der Globalisierung ergibt ein höheres Maß an Regelungsdichte und Kooperationserfordernis. Dabei sind die Staaten nicht mehr die alleinigen Akteure auf der internationalen Bühne. Internationale Institutio­ nen nehmen ebenfalls einen zentralen Platz in der internationalen Politik ein. Macht ist nach Auffassung des Institutionalismus im internationalen System verteilt, die In­ teressen sind vielschichtig und neben die Staaten treten internationale Organisatio­ nen mit Steuerungs- und Regelungskompetenz. Im liberalen Institutionalismus geht es dabei um die Frage, welche Präferenzen Staaten verfolgen, welche Interessen und Motive kooperativen, komplementären oder konfrontativen Strategien zugrunde lie­ gen, und welche Ergebnisse aus der Interaktion zwischen Staaten und internationa­ len Organisationen resultieren. Internationale Beziehungen sind für den Institutiona­ lismus in der Regel kein Nullsummenspiel, sondern können ein Positivsummenspiel ergeben (win-win-situation). Die Themen, mit denen sich die Autoren dieser Denk­ richtung befassen, umgreifen Probleme der kollektiven Sicherheit und der Abrüstung, internationale Wirtschaftsbeziehungen sowie Fragen internationaler Normen, z. B. im Umweltschutz oder bei den Menschenrechten. Ein Beispiel für den liberalen Institutionalismus ist der Ansatz des amerikani­ schen Politikwissenschaftlers Andrew Moravcsik. Anhand der Europäischen Union entwickelt er mit Blick auf wirtschaftliche Einfluss- und Interessengruppen seine Vor­

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stellung der Pluralität gesellschaftlicher Akteure, die die Positionierung von Regie­ rungen bei internationalen Verhandlungen beeinflussen (vgl. Moravcsik 1998). Seine Analyse internationaler Präferenzpositionen bezieht sich auf ein Set von grundlegen­ den Annahmen über die zentralen Akteure in der internationalen Politik, deren Moti­ ve sowie die Ergebnisse des zwischenstaatlichen Interaktions- und Aushandlungspro­ zesses. Staaten, so Moravcsik, bilden bestimmte Präferenzen aus, die auf innerstaatli­ chen Machtverhältnissen beruhen. Diese Präferenzen bringen sie auf rationale Weise in internationale Verhandlungen und Prozesse ein. Sind die Präferenzen verschiede­ ner Staaten kompatibel, dann bestehen starke Anreize für die Aufnahme von Verhand­ lungen und zwischenstaatliche Kooperationen. Divergierende staatliche Präferenzen hingegen bewirken Konflikte zwischen Staaten, die wenig Raum für wechselseitige Ko­ operation lassen, da dominante Gruppen eines Landes versuchen, ihre Präferenzen über staatliche Politik durchzusetzen, die dann notwendigerweise Kosten für andere Länder verursachen. Bestehen hingegen komplementäre nationale Präferenzordnun­ gen, dann sind ausreichende Anreize für zwischenstaatliche Verhandlungen, Konzes­ sionen und Formen der internationalen Politikkoordination gegeben. Moravcsik ent­ wickelt diesen zunächst am Beispiel der europäischen Integration empirisch darge­ stellten Ansatz in anderen Arbeiten auf allgemein-theoretischer Ebene weiter. Seine Arbeiten zeigen, wie der Institutionalismus auch mit Annahmen der Theorie rationa­ ler Entscheidungen (rational choice) kompatibel ist (vgl. Moravcsik 1998). Der liberale Institutionalismus ist als Gegenposition zum Neo-Realismus zu ver­ stehen. Er ersetzt die auf das nationale Interesse, staatliche Macht und Souveränität fixierten Paradigmen des neo-realistischen Ansatzes durch die Einbeziehung der in­ ternationalen Organisationen in die Analyse internationaler Politik. Der liberale In­ stitutionalismus ist heute sowohl mit Theorien des rationalen Handelns in der inter­ nationalen Politik als auch mit sozialkonstruktivistischen Analysen der Normbildung und Normdurchsetzung durch internationale Organisationen vereinbar. Der liberale Institutionalismus behandelt dabei nicht nur die „großen“ interna­ tionalen Organisationen, wie die Vereinten Nationen, sondern auch internationale Nichtregierungsoranisationen. Sie werden als Bedeutungsverschiebung in der trans­ nationalen Politik verstanden, denn die These vom Verlust staatlicher Steuerungsfä­ higkeit in der globalen Welt geht mit einer Aufwertung von transnationalen Akteuren einher. Internationale Beziehungen sind daher nicht auf Staaten bzw. Regierungen be­ schränkt, sondern sie werden als Ergebnis von transnationalen Prozessen begriffen, an denen sowohl transnationale Unternehmen, transnationale politische Netzwerke als auch Nichtregierungsorganisationen unterschiedlichen Typs beteiligt sind. Diese pluralistische Sichtweise auf die Globalisierung meint, “[. . .] that events in any area of global policy-making have to be understood in terms of complex systems, containing governments, companies, and NGOs interacting in a variety of international organi­ zations.” (Willetts 2001: 356). Ob und inwiefern diese Nichtregierungsorganisationen, die nicht auf völkerrechtlichen Verträgen beruhen, legitimiert sind, muss nach Auffassung des liberalen Institutionalismus daher genauer geprüft werden.

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1.5.5 Weltsystemtheorien und Globalisierung Die bisher vorgestellten Theorieansätze betrachten das System der internationalen Be­ ziehungen als komplexes Interaktionsmuster, in dem Staaten oder internationale Or­ ganisationen im Mittelpunkt stehen. Anders sieht die internationale Politik aus der Perspektive derjenigen Theorien aus, die den kapitalistisch organisierten Weltmarkt als strukturierendes Prinzip der internationalen Beziehungen bezeichnen. Hierzu ge­ hören Weltsystemtheorien, die etwas älteren Dependenztheorien und weitere neomarxistische Ansätze sowie neuere Globalisierungstheorien, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Nach Immanuel Wallerstein, der als wichtigster Vertreter der Weltsystemtheorie gilt, beruht die Entwicklung des Weltsystems auf einem historischen Prozess, dessen Wurzeln im 15. Jahrhundert zu verorten sind und der schließlich zur Entstehung ei­ nes einzigen kapitalistischen Weltsystems geführt hat, „[. . .] das wir ganz schlicht als eine Einheit mit einer einzigen Arbeitsteilung und mannigfaltigen Kultursystemen de­ finieren“. (Wallerstein 1979: 35). Wallersteins Kernaussage besteht darin, dass die al­ les umgreifende Struktur internationaler Beziehungen durch den Weltmarkt gebildet wird, der kapitalistisch organisiert ist. Klassen, ethnische Gruppen und Staaten sind Ausprägungen der Entfaltungen des kapitalistischen Weltsystems. Dieses Weltsystem ist die prägende Institution der Moderne. In seinen monumentalen Studien zur Geschichte des Kapitalismus zeigt Waller­ stein die strukturellen Bedingungen dieser phasenförmigen Herausbildung des kapi­ talistischen Weltsystems auf. Seine Entwicklung erfolgte in größeren Wellen. Im „lan­ gen Jahrhundert“ zwischen 1450 und 1640 entstand das System der Arbeitsteilung, das bis heute durch die drei Hierarchie-Ebenen: Peripherie, Semi-Peripherie und Zen­ trum charakterisiert wird. „Bis 1640 war es den Staaten im Nordwesten Europas gelun­ gen, sich als Staaten des Zentrums zu etablieren; Spanien und die norditalienischen Stadtstaaten sanken zur Semiperipherie herab; Nordosteuropa und Iberoamerika wa­ ren zur Peripherie geworden.“ (Wallerstein 1979: 54). Bis zur Mitte des 18. Jahrhun­ derts konsolidierte sich dieses System und mit der Industrialisierung (etwa seit 1760) setzte das dritte Stadium der kapitalistischen Weltwirtschaft ein: der Industriekapi­ talismus, der sich vom Agrarkapitalismus absetzte. Durch die geografische Expansi­ on wurde dann Russland Teil der Semiperipherie und Afrika mit der Beendigung des Sklavenhandels Bestandteil der Peripherie im Weltsystem. Mit der russischen Revolu­ tion von 1917 sieht Wallerstein den Beginn einer vierten Periode, in der sich die indus­ triekapitalistische Weltwirtschaft nun endgültig konsolidierte. Mit seiner Weltsystem­ theorie widerspricht Wallerstein daher einer Einteilung der Welt im 20. Jahrhundert in einen sozialistischen und kapitalistischen Teil. Vielmehr strukturiert das Primat der kapitalistischen Weltwirtschaft die Beziehungen zwischen allen Ländern. Zentrum, Peripherie und Semiperipherie sind die zentralen Kategorien, wobei das Zentrum klar privilegiert ist und die Semiperipherie eine Zwischenstellung einnimmt. Sie verhin­ dert funktional, dass Peripherie und Zentrum unmittelbar aufeinanderprallen. Auf­

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grund der weltweiten Arbeitsteilung zwischen den Ländern der Peripherie und denen im Zentrum ist das Weltsystem ein dezentrales, aber hierarchisches Gebilde, dessen ungleiche Entwicklung Folge eben der hierarchischen Gliederung bleibt. Für Waller­ stein können die Ungleichheiten nur durch eine radikale Umwälzung des Weltsystems beseitigt werden. Er weist auf zwei „Hauptwidersprüche“ hin, die das Überleben des kapitalistischen Weltsystems zweifelhaft erscheinen lassen: zum einen die periodisch auftretenden Krisen, produziert durch den Widerspruch zwischen maximaler kapita­ listischer Wertschöpfung und der Notwendigkeit einer Massennachfrage, die eine zu­ mindest partielle Umverteilung des Surplus erfordert. Zum anderen geht Wallerstein davon aus, dass die Kooptation von oppositionellen Bewegungen (Arbeiterbewegung) einen immer größeren Aufwand erforderlich werden lässt, sodass sich die Widersprü­ che verschärfen (vgl. Wallerstein 1979). Die Weltsystemtheorie strebt eine Analyse der Totalität internationaler Beziehun­ gen an, wobei sie von der Dominanz des Weltmarktes ausgeht, der die Position al­ ler Länder festlegt. Das historisch-strukturelle Konzept der Weltsystemtheorie weist damit der Politik eine untergeordnete Bedeutung zu. Politische Gestaltungsmöglich­ keiten und Handlungsoptionen sind dem Diktat des Weltmarktes untergeordnet. Die Weltsystemtheorie vermag so einerseits alle Länder in ein analytisches System einzu­ beziehen. Andererseits kann die Variabilität von Entwicklungswegen verschiedener Länder nicht erklärt werden, denn nach Wallerstein können die Staaten die Struk­ turen des Systems nicht durchbrechen. Trotz seiner nachhaltigen Bedeutung in der Diskussion globaler Politik, vor allem bezüglich des Nord-Süd-Konflikts, hat sich die von Wallerstein vorgelegte Theorie für empirische Forschungen als wenig tragfähig erwiesen. Die unter dem Begriff der Dependenztheorien (dependencia) zusammengefassten Ansätze gehen davon aus, dass die historisch entstandenen Strukturen von Handel und Austausch die Länder der Peripherie systematisch benachteiligt haben. Das durch Imperialismus und Kolonialisierung etablierte System der internationalen Arbeitstei­ lung, in dem die Länder der Dritten Welt Rohstoffe und billige Arbeitskräfte liefern, während die entwickelten Länder („Erste Welt“) industriell gefertigte Waren expor­ tieren und die Gewinnabschöpfung in die reichen Industrieländer zurückfließt, hält die Länder der Dritten Welt in permanenter Abhängigkeit. So wird diesem Ansatz fol­ gend den Ländern der Peripherie auch jegliches Entwicklungspotenzial genommen. Vor allem in Lateinamerika wurde dieses Problem früh thematisiert. Aus der Perspek­ tive lateinamerikanischer Autoren besteht das Problem der internationalen Beziehun­ gen darin, dass die Länder in den Wirtschaftszentren permanent bestrebt seien, das Abhängigkeitsverhältnis der Peripherie-Nationen aufrechtzuerhalten (Neokolonialis­ mus). Die immense Verschuldung Lateinamerikas wird dabei als Kernproblem der Entwicklung fokussiert und die Abhängigkeiten als systembedingt beschrieben. Ein Kernbegriff, der aus den Dependenztheorien entwickelt wurde, ist der Begriff der strukturellen Gewalt, der die komplexen Abhängigkeitsstrukturen charakterisie­ ren soll, die zwischen den Ländern des Zentrums und der Peripherie bzw. zwischen

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den wirtschaftlich reicheren und den ärmeren Ländern bestehen. Dieser Begriff geht zurück auf die Arbeiten des norwegischen Friedens- und Konfliktforschers Johan Gal­ tung (vgl. Galtung 1982). Er schlägt vor, damit die Formen indirekter Gewalt zu be­ zeichnen, die Strukturen der Abhängigkeit in der internationalen Politik hervorgeru­ fen haben. Galtung unterscheidet drei Formen der Gewalt: die direkte, aktiv ausge­ übte personale Gewalt, die durch, teils willkürliche, Repression die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit Einzelner beschränkt; die kulturelle Gewalt, die langfristig an­ gelegt ist und Strukturen der Abhängigkeit legitimiert, z. B. in Form von Überlegen­ heitstheorien und Rassismus und die strukturelle Gewalt, die durch ungleiche Macht­ verhältnisse und daraus folgenden ungleichen Lebenschancen („Ausbeutung“) ent­ steht. Je stärker die vertikalen im Unterschied zu horizontalen Beziehungen zwischen Ländern ausgeprägt sind, desto größer ist das Problem der Dominanz, d. h. die Ge­ walt, die ein Staat (oder eine Staatengruppe) über andere ausüben kann. Das Problem bestehe nach Galtung nun darin, dass diese Gewaltverhältnisse nicht offen zutage lie­ gen, sondern in subtilen, häufig von den Akteuren selbst nicht durchschauten Struk­ turen verankert sind. Die so in Abhängigkeit gehaltenen Menschen würden die Ur­ sache der Machtverhältnisse nicht durchschauen. Das kennzeichnet die strukturelle Gewalt, die nach Galtung auch als kulturell wirksames Perzeptions- und Handlungs­ muster wirkt. Seine These, dass sich in den internationalen Beziehungen subtile For­ men der Gewalt vorfinden lassen, die nicht immer offen zutage treten, hat vor allem in der Friedens- und Konfliktforschung viel Zustimmung erfahren. Kritisch kann aller­ dings eingewandt werden, dass sich Galtungs Theoretisierung im Rahmen struktura­ listischer Gewaltdefinitionen bewegt. Neuere, konstruktivistische Ansätze halten dem entgegen, dass Gewalt nicht primär aufgrund objektiver, strukturell bestimmter Ver­ hältnisse ausgeübt, sondern erst durch vielfältige kulturelle Praktiken erzeugt wird; diese sollten daher im Zentrum der Analyse stehen. Das Ende des Ost-West-Konflikts, die politischen Umbrüche in Mittelost- und Osteuropa und das Aufsteigen neuer Mächte in Asien haben die Strukturen der Welt­ politik grundlegend verändert. Diese Veränderungen spiegeln sich auch in der theo­ retischen Auseinandersetzung um die Entwicklung des Weltsystems und in verschie­ denen Theorieansätzen wider. Zu den einflussreichen und viel diskutierten Interpre­ tationen zählt dabei zunächst die These vom Kampf der Kulturen. Dabei geht es um die Frage von kulturell bestimmten Prozessen der Inklusion und Exklusion und den daraus resultierenden Konfliktkonstellationen. In den 1990er-Jahren entwickelte der an der Harvard University lehrende Politik­ wissenschaftler Samuel P. Huntington die Vorstellung, auf die Konfrontation der ge­ sellschaftspolitischen Ideologien des Kalten Krieges folge der „clash of civilizations“ (vgl. Huntington 1997). Das Weltsystem sei durch einen globalen „Kulturkampf“ be­ stimmt, der von mehreren großen, global konkurrierenden Kulturen ausgetragen wür­ de. Die acht großen Kulturen (civilizations) der Welt stünden in Konkurrenz zuein­ ander und trügen mehr oder weniger gravierende Grundsatzkonflikte aus; im Kampf um Hegemonie könnten sie Bündnisse eingehen, aber auch unversöhnlich aufeinan­

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derprallen. Dabei unterscheidet Huntington acht große Kulturkreise: hinduistische, buddhistische, chinesische bzw. konfuzianische, muslimische, afrikanische, latein­ amerikanische, orthodoxe und abendländische Kultur. Huntington betrachtet dabei vor allem den Aufstieg Chinas und den wachsenden Einfluss des islamischen Funda­ mentalismus als zentrale Herausforderung. Seine größte Befürchtung ist, dass sich die „antiwestliche Hauptachse“, d. h. nach Huntington die „konfuzianisch-islamistische“ mit der „orthodox-hinduistischen“ Achse verbünden und damit das Gleichgewicht in „Eurasien“ gegen den Westen kippen könnte. Er hypostasiert eine Verschärfung der Konflikte zwischen den großen Kulturen („Bruchlinienkriege“) und fordert den Wes­ ten, und hier insbesondere die USA, zu einer aktiven Machtpolitik auf. „Ein weltweiter Kampf der Kulturen kann nur vermieden werden, wenn die Mächtigen dieser Welt ei­ ne globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt.“ (Huntington 1997: 20). Die Bedeutung von Kultur und Religion in den internationalen Beziehungen, auf die Huntington mit Nachdruck hinweist, kann nicht unterschätzt werden. Allerdings zeigt das Interpretationsschema von Huntington auch gravierende Schwächen. So bleibt die Einteilung in die großen Kulturkreise unscharf; der Begriff der „Kultur“ ist vage und wird teilweise religiös, teilweise geografisch und teilweise politisch ver­ wendet. Auch der konfliktzentrierte Ansatzpunkt („Kampf“, engl. „clash“) stieß auf Widerspruch, denn der Austausch und die gegenseitige Befruchtung von Kulturen wird in diesem Modell ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass der Großteil der westlichen Gesellschaften heute multikulturell und multireligiös ist. Die eher pessi­ mistische Sicht des Weltsystems bleibt außerdem dem staatszentrierten realistischen Paradigma verhaftet; internationale Organisationen und regionale Kooperationen werden gering geschätzt und bleiben den machtpolitischen Interessen der großen Mächte – und hier besonders den Interessen der USA – untergeordnet. Weder die Herausforderung der „westlichen“ Welt durch die BRICS-Länder (Brasilien, Russ­ land, Indien, China und Südafrika) passen in dieses Interpretationsschema noch Veränderungen in der arabischen Welt. So bleibt der „Kampf der Kulturen“ zwar eine eingängige Metapher, aber sie hat schwache analytische Deutungskraft. Im Gegensatz zu kulturalistisch fundierten Weltsystemansätzen gehen neuere Globalisierungstheorien davon aus, dass die internationalen Beziehungen durch die Weltmarktentwicklung des global agierenden Kapitals bestimmt werden. Neue For­ men von Produktion, Handel und Kommunikation regulieren dabei nicht nur die weltwirtschaftlichen Verhältnisse, sondern sie strukturieren auch die politischen Be­ ziehungen zwischen Staaten. Internationale Beziehungen sind in dieser Denkrichtung primär als Ergebnis der Globalisierung des Kapitalismus zu betrachten. Im Zentrum der internationalen Beziehungen stehen daher bei den Globalisierungstheorien Welt­ markt- und Kapitalbeziehungen. Gekoppelt ist diese Sichtweise mit der Annahme, dass die Bedeutung des klassischen Nationalstaates ohnehin ständig abnimmt. Die Globalisierungsforscher Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf beschreiben die­ sen Prozess der Globalisierung als „Entbettung“ (disembedding) von Politik und Öko­

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nomie (vgl. Altvater/Mahnkopf 1996). Globalisierung sei zu verstehen als „[. . .] Be­ schleunigung in der Zeit und indem Räume erobert werden, die vor gar nicht langer Zeit dem menschlichen Zugriff verborgen waren“. (Altvater/Mahnkopf 1996: 11). Der Begriff umschreibe „[. . .] die tendenzielle ‚reductio‘ der vielen Gesellschaften in der Welt ‚ad unum‘, zu einer sich globalisierenden Gesellschaft. [. . .] Wenn Gesellschaf­ ten sich nämlich durch Grenzen auszeichnen, die sie gegenüber einer Umwelt abset­ zen, dann sind diese im Zuge der Globalisierung durchlässiger geworden oder gar verschwunden“. (Altvater/Mahnkopf 1996: 12). Wie die Autoren feststellten: „Aus der Perspektive des Weltsystems erscheint der Prozess der Globalisierung als zunehmen­ de Integration von Regionen und Nationen in den Weltmarkt.“ (Altvater/Mahnkopf 1996: 21). Eine Kernfrage in der Diskussion um die Globalisierung betrifft die Rolle, die Staa­ ten spielen. Nach Altvater und Mahnkopf nimmt die Bedeutung des Staates durch den Verlust von Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten im ökonomischen Prozess ab. Politisch führe dies zur Durchsetzung der „Autorität des Marktes“ und zum Verlust von demokratischen Einflussmöglichkeiten. „Globalisierung heißt ja nichts anderes, als dass Entscheidungen aus der politischen Verantwortung entlassen und privaten Mächten überantwortet werden, die sich nicht gegenüber einem ‚Wahlvolk‘ zu ver­ antworten haben.“ (Altvater/Mahnkopf 1996: 543). Ökologisch führe die Globalisie­ rung zur Übernutzung von Gemeingütern, wie Wasser, Luft und Boden, ein Prozess, dem nur durch wirksame Rahmenabkommen bzw. die Einrichtung von UmweltschutzRegimen und eine internationale politische Steuerung (Global Governance) begegnet werden könne. Altvater und Mahnkopf, die sich auch kritisch mit Korruption und Wirtschaftskrisen auseinandergesetzt haben, fordern, den Prozess der Globalisierung durch aktives politisches Handeln im globalen Kontext einzuhegen und wenden sich damit explizit gegen neoliberale Strategien, die eine politische Steuerung ablehnen und dem Paradigma des ungebremsten Wachstums folgen. Die Globalisierung ist heute eine unbestreitbare Tatsache. Allerdings zeigen sich regionale politische und kulturelle Besonderheiten der Entwicklungswege. Besonders interessant ist der Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte und insbesondere Chinas im Rahmen der Globalisierung. Gibt es einen „asiatischen Weg“ zur Modernisierung, auf dem kapitalistische Marktwirtschaft und Wirtschaftswachstum im Rahmen von autoritären oder kommunistisch regierten Staaten im 21. Jahrhundert erfolgreicher sein können als beim „westlichen Weg“? Wie verhalten sich Modernisierung und Demokratisierung zueinander? So betont der chinesische Wissenschaftler Yu Keping, Direktor des Forschungs­ zentrums für Politikwissenschaft an der Universität Peking, dass Demokratie eine „gu­ te Sache“ sei, aber dass sie von wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraus­ setzungen abhängig ist und den nationalen Prioritäten untergeordnet werden müsse. In einem vielbeachteten Essay „Democracy is a Good Thing“ (2009) erläutert er Vor­ teile, aber auch die Schwierigkeiten einer demokratischen Staatsform und betont zu­ gleich, dass die Umsetzung von demokratischen Idealen von den landesspezifischen

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Besonderheiten ausgehen müsse, die die politischen und kulturellen Voraussetzun­ gen des Landes berücksichtigt. Kürzlich hat der Staatspräsident Hu Jintao noch einen weiteren Schritt mit dem Hinweis getan, dass es keine Modernisierung ohne Demokratie gibt. Freilich bauen wir zur Zeit eine sozialisti­ sche demokratische Politik mit chinesischem Charakter. Zum einen müssen wir uns dabei alle Errungenschaften der politischen Zivilisation der Menschheit, zu denen auch die demokratische Politik gehört, zu Eigen machen. Andererseits kopieren wir keine ausländischen, politischen Mo­ delle. Der Aufbau unserer demokratischen Politik muss eng mit der kulturellen und historischen Tradition und den realen sozialen Bedingungen unseres Landes verbunden sein. Nur so kann das chinesische Volk wahrhaftig die süßen Früchte der demokratischen Politik genießen.¹

China ist ein interessantes Beispiel für den Einfluss von kulturellen und historischen Besonderheiten bei der Modernisierung, da das Land seinen ökonomischen Fort­ schritt sehr rasch und mit marktwirtschaftlichen Prinzipien im Rahmen eines auto­ ritären kommunistischen Staatssystems entwickelt. China hat damit einen eigenen Pfad auf dem Weg in die Moderne eingeschlagen, weshalb die Frage nach der Rolle kultureller und politischer Faktoren und ihrer Beziehung zur Marktentwicklung eine spannende Forschungsfrage darstellt.

1.5.6 Postmoderne und Konstruktivismus Während die bisher vorgestellten Theorien und Ansätze kausale Zusammenhänge und große Strukturen in der Weltpolitik fokussieren, geht es im Folgenden in erster Linie um eine Kritik und Dekonstruktion dieser Sichtweisen auf die Disziplin der Interna­ tionalen Beziehungen. „Critical international relations“ als kritische Theorieströmung gewannen zunächst im englischsprachigen Raum, zunehmend dann auch in Deutsch­ land an Bedeutung, wobei hierzu die postmodernen, poststrukturalistischen und fe­ ministischen Ansätze gerechnet werden (vgl. z. B. Scherrer 1994). Postmoderne Ansätze entwickelten sich zunächst in anderen Disziplinen wie der Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Linguistik und der Kulturgeschichte, be­ vor sie auch in der Politischen Wissenschaft Beachtung fanden. Im Jahr 1989 erschien der erste explizit postmodern ausgerichtete Sammelband „International/Intertextual Relations. Postmodern Readings of World Politics“, der von James Der Derian und Michael J. Shapiro herausgegeben wurde. Kurz darauf, im Jahr 1990, widmete sich ein Sonderheft der Zeitschrift „International Studies Quarterly“ der Postmoderne in den Internationalen Beziehungen unter dem Titel „Speaking the Language of Exile: Dissidence in International Studies“, herausgegeben von einem der bekanntes­ ten amerikanischen Theoretikern der postmodernen Analyse internationaler Politik,

1 http://www.zeit.de/kultur/literatur/2009-10/demokratie-yu-keping (aufgerufen am 22.06.2018). Yu Keping war DFG-Mercator-Fellow und Ehrenprofessor der Universität Duisburg-Essen.

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Richard K. Ashley. Ashley hatte sich in seinen Arbeiten zunächst auf die kritische Theorie von Jürgen Habermas bezogen, sich dann aber zunehmend auf französi­ sche Poststrukturalisten gestützt. Sein Theorieansatz knüpft unter anderem an die Machtkritik von Pierre Bourdieu und Michel Foucault an. Postmoderne Theoriean­ sätze verstehen sich als „kritische Theorie“, vereinzelt auch als subversive Theorie, welche von der Peripherie der Welt her und quer zu ihr gebildet wird. Eine große, um­ fassende „Meta-Erzählung“, d. h. eine Großtheorie, ist aus dieser Perspektive nicht erstrebenswert. Anstelle der Entwicklung einer großen, kohärenten postmodernen Theorie geht es den Autoren vielmehr darum, durch Dekonstruktion von Begriffen sowie durch „double reading“ die Vieldeutigkeit von Konzepten und Kategorien aufzuzeigen und damit Widersprüche deutlich zu machen. Daher bilden Texte den Stoff ihrer wissen­ schaftlichen Auseinandersetzung, nicht politische Strukturen oder soziale Prozesse. Wie Robert Ashley ausführt, wird das zentrale Konzept der anarchischen Struktur der Staatenwelt in der internationalen Politik von politischen Eliten behauptet, um die Idee der Souveränität von Staaten und damit ihre Macht abzusichern. Nach seiner Auffassung beruht das Souveränitätsmodell darauf, innere Opposition und Differenz auszugrenzen, zu unterdrücken. Es kann also nicht Ausgangspunkt der Analyse in­ ternationaler Politik sein, sondern muss als Gegenstand einer wissenschaftlichen De­ konstruktion gelten. Eine weitere Grundannahme ist die der historischen Kontingenz. Der Staat ist ein Konstrukt, das niemals vollständig gegeben, sondern relativ in Raum und Zeit ist. „This leads to an interpretation of the state as always in the process of being constituted, but never quite achieving that final moment of completion. The state is never constituted once and for all time; it is an ongoing political task.“ (Bur­ chill/Linklater 1996: 200). Der Anspruch der postmodernen Ansätze besteht also darin, Begrifflichkeiten zu dekonstruieren und zu versuchen, Kontexte von Macht durch Diskursanalyse zu hin­ terfragen, um eine neue Sicht auf die internationale Politik zu eröffnen. Insofern zielt die postmoderne Diskussion zunächst auf die Entwicklung einer anderen Herange­ hensweise an die Analyse internationaler Beziehungen, wie dies Der Derian erläu­ tert, indem er schreibt: „[. . .] International relations is undergoing an epistemolo­ gical critique which calls into question the very language, concepts, methods, and history (that is the dominant discourse) which constitutes and governs a ‚tradition‘ of thought.“ (Der Derian, hier zitiert in Burchill/Linklater 1996: 180). Postmoderne Theorien betrachten die Begriffe selbst als Teil des durch Macht­ verhältnisse konstituierten Wissens. Weder Theorien und Diskurse noch Institutionen sind „objektiv“ oder für sich zu analysieren, sondern sind eingebettet in die vorherr­ schenden Machtverhältnisse. Daher tragen herkömmliche Theorien zum Erhalt des Status quo bei. Postmoderne Theoriebildung wird dagegen nicht als Entwicklung ei­ nes Gefüges von intersubjektiv überprüfbaren Aussagen verstanden, sondern als ein Prozess, der die Entstehung von „Texten“ hinterfragt und nach ihren verborgenen Be­ deutungen („Spuren“) sucht. In einem einschlägigen Lehrbuch über Theorien inter­

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nationaler Politik werden als Forschungsthemen exemplarisch die Problematik von Gewalt als ein den internationalen Beziehungen inhärentes Moment, die Konstrukti­ on von Grenzen und Entgrenzungen und die Konstruktion von Identitäten durch Dis­ kurse und Praktiken genannt (vgl. Burchill/Linklater 1996: 179 f.). Zu den neueren Theorieströmungen zählt heute schließlich der Konstruktivismus, der in verschiedenen Varianten in der Theoriebildung vorkommt. So lässt sich in der theoretischen Positionierung ein „sozialer Konstruktivismus“ (Peter Katzenstein) und ein „radikaler Konstruktivismus“ (Thomas Diez) unterscheiden. Eine andere Differen­ zierung in der internationalen Politik benennt eine „realistische Variante“ (Alexander Wendt) und eine „institutionalistische Variante“ (Peter Katzenstein, Thomas Risse). Dabei hat sich in Deutschland vor allem der Sozialkonstruktivismus als richtungwei­ sender theoretischer Ansatz durchsetzen können. Konstruktivistische Ansätze nehmen an, dass die politische Welt sozial konstru­ iert ist. Daher stehen Akteure sowie deren Normen und Werte und die Logik sozialen Handelns im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Zugespitzt formuliert entsteht und entwickelt sich die politische Welt im Bewusstsein und durch das Handeln der Ak­ teure (vgl. Onuf 1989). Deshalb wird grundsätzlich von einer Historizität sozialer und politischer Realitäten ausgegangen, welche als kontextabhängig, historisch kontin­ gent und variabel verstanden werden. Die Strukturen der internationalen Politik sind daher von sozialen Handlungen der Akteure, den normativen Regeln, auf die sich Ak­ teure einigen, und den Diskursen, in denen sie sich über Inhalte und Begriffe verstän­ digen, bestimmt. Selbst politische Institutionen folgen dieser konzeptionellen Logik. Sie sind „geronnene“ Resultate diskursiver Prozesse. Daher spielt Kommunikation ei­ ne große Rolle. In Anlehnung an die analytische Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein besteht die politische Kommunikation aus „Sprachspielen“. Der Begriff des Sprach­ spiels bedeutet, dass das Sprechen ein Teil einer Tätigkeit oder Lebensform ist. Wie im Schachspiel die Bewegung der Figuren, so werden in der Sprache die Wörter durch Regeln festgelegt. Worte erhalten ihre Bedeutung zugleich nur im Kontext von Spre­ cher und Umgebung. Wittgenstein gibt eine Reihe von Beispielen für Sprachspiele: „Befehlen und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen – Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung – Berichten eines Herganges [. . .] – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.“ (Wittgenstein 2001: 23). Das konstruktivistische Forschungsprogramm geht davon aus, dass internationa­ le Organisationen durch die Praktiken von Akteuren entstehen, da sie sich Regeln ge­ ben und Normen setzen. Alexander Wendt fasst diesen Gedanken zusammen, indem er schreibt, dass die „Anarchie“ der internationalen Beziehungen erst von Staaten ge­ schaffen wird: „A world in which identities and interests are learned and sustained by intersubjectively grounded practices, by what states think and do, is one in which ‚anarchy is what states make of it‘. States may have made that system a competitive, self-help one in the past, but by the same token they might ‚unmake‘ those dynamics in the future.“ (Wendt 1992: 183).

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Indem die Normen, die sich in Diskursen vorfinden, analysiert werden, könne der Prozess der intersubjektiven Realitätsbildung nachvollzogen und kommunikati­ ve Praktiken aufgezeigt werden, so einer der Hauptvertreter des Sozialkonstruktivis­ mus, Friedrich Kratochwil. „Norms are therefore not only ‚guidance devices‘, but also means which allow people to pursue goals, share meanings, communicate with each other, criticize assertions, and justify actions.“ (Kratochwil 1989: 11). Veränderungen von Werten und von Praktiken (beliefs and practices) könnten einen Wandel in der in­ ternationalen Politik hervorrufen (vgl. Koslowski/Kratochwil 1995: 127). Konzeptionell bedeutet dies, dass ein Wertewandel vor historischen Veränderungen in der Politik herausgefunden und untersucht werden muss. Konstruktivistische Ansätze sind da­ her insbesondere dann aussagefähig, wenn sich die Analyse auf bereits abgelaufene Entwicklungen oder Zusammenhänge bezieht. Sie sind dagegen weniger in der Lage, prospektiv Handlungsalternativen aufzuzeigen und verzichten meist darauf, politisch handlungsanleitend oder steuernd in den politischen Prozess einzugreifen. Der Konstruktivismus stellt nach dem Selbstverständnis seiner Vertreter keine ei­ genständige Theorie der internationalen Beziehungen dar; er kann auch als Metho­ de im Kontext anderer Theorien verwandt werden. Der Konstruktivismus wird daher sowohl mit dem Neo-Realismus kombiniert (z. B. Wendt), als auch mit dem libera­ len Institutionalismus (z. B. Katzenstein). Zugleich betont der Konstruktivismus in der Debatte um „structure“ und „agency“, Struktur und Handlungsfähigkeit, die ideellen Bewegungsmomente der internationalen Politik, d. h. er richtet sich gegen funktiona­ listische und strukturalistische Erklärungsansätze. Zentrale Themen des Konstrukti­ vismus sind Ideen, soziale Identitätsbildungen, insbesondere von politischen Eliten, die Bedeutung von kollektiven Normen und Regeln, Sprache und die Deutungen, die Problemen gegeben werden bzw. das Framing. Ein zentrales Forschungsfeld der Kon­ struktivisten sind auch internationale Organisationen. Als Forschungsprogramm – und nicht als Theorie konzipiert – überschneidet sich der Konstruktivismus mit an­ deren Strömungen, wie etwa feministischen Analyse Internationaler Beziehungen. Der große Einfluss konstruktivistischer Theorieansätze in der deutschen Forschung über Internationale Beziehungen ergibt sich zum einen daraus, dass sie mit anderen sozialwissenschaftlichen Theorien kompatibel sind, die gerade in Deutschland brei­ te Rezeption gefunden haben. Dies gilt besonders für die Theorie des kommunikati­ ven Handelns von Jürgen Habermas. Zum anderen positionieren sich Konstruktivisten durchaus offen gegenüber anderen Theoremen und Paradigmen. Der Berliner Politik­ wissenschaftler Thomas Risse hebt in einer Auseinandersetzung mit den Unterschie­ den zwischen Rationalismus und Konstruktivismus dementsprechend hervor, dass es sich bei beiden nicht um „Theorien“ der Internationalen Beziehungen handelt, son­ dern um die Erklärung unterschiedlicher Logiken des sozialen Handelns (vgl. Risse 2009). Das heißt, die Auseinandersetzung zwischen beiden Ansätzen hat nicht die Beschaffenheit der Welt an sich zum Inhalt – wie etwa bei der Auseinandersetzung zwischen Realisten und Idealisten –, sondern fokussiert unterschiedliche Handlungs­ logiken in der Politik. Eine theoretische Polarisierung zwischen den beiden Ansätzen

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liefe Gefahr, an der empirischen Wirklichkeit und an der eigentlichen Aufgabe der For­ schung über internationale Beziehungen, der Erklärung konkreter Phänomene, vor­ beizulaufen. Auf der empirischen Ebene habe sich herausgestellt, so Risse, dass beide Handlungslogiken oftmals nicht voneinander zu trennen sind bzw. ineinander ver­ schränkt vorkommen; beide Konzepte könnten sich so ergänzen. Exemplarisch zeigt Risse dies in den Themenfeldern „Wirkung und Normen“, „Sozialisation“ und „kollek­ tive Identitäten“ auf. Dadurch ergeben sich theoretische „Brückenschläge“ zwischen Konstruktivismus und Rationalismus (vgl. Risse 2003).

1.5.7 Gender-Ansätze in internationalen Beziehungen Mit dem Begriff Gender-Ansätze sind Forschungsarbeiten gemeint, die eine geschlech­ tersensible Perspektive einnehmen und diese als zentrale Dimension der Analyse in­ ternationaler Politik verstehen. Der aus der englischsprachigen Literatur übernomme­ ne Begriff Gender bezeichnet die soziale Konstruktion von Geschlechterverhältnissen, die im sozialen Handeln und in politischen Institutionen eingeschrieben sind. Regina Becker-Schmidt gibt für den Gender-Ansatz folgende Definition: „Der Begriff ‚gender‘ zielt auf die soziale Konstruktion von Rollen und Attributen ab, die als geschlechts­ spezifisch normiert werden. ‚Gender‘ soll ausdrücken, dass sowohl die Dichotomisie­ rung als auch die inhaltliche Festlegung von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ durch gesellschaftliche Mechanismen – genauer Machtmechanismen – zustande kommen.“ (Becker-Schmidt 1993: 38). Geschlechterbeziehungen sind nach dieser Definition nicht „natürlich“ gegeben, sondern in einem historisch und kulturell vermittelten Prozess über Erziehung, Bil­ dung und andere soziale Institutionen konstruiert (vgl. Locher 2000). Gender-For­ schungsansätze in den internationalen Beziehungen befassen sich daher nicht nur mit individuellen Geschlechterverhältnissen, sondern auch mit Institutionen, Werten und Normen sowie kulturell vermittelten Deutungsmustern. Eine geschlechtersensible Analyse ist heute für das Verständnis vieler globaler Probleme und Konflikte zentral. Nicht nur die kriegerische Gewalt in vielen innerstaat­ lichen Konflikten zieht vor allem Frauen und Mädchen in Mitleidenschaft, sondern auch die Entwicklungsrückstände in vielen Regionen der Welt haben eine wesent­ liche Ursache in der rigiden Geschlechterrollenzuschreibung und der Ausgrenzung von Frauen und Mädchen (vgl. Kap. 2.1.2 und 2.2.1). Geschlechtersensible Analysen in den Internationalen Beziehungen befassen sich daher vordringlich mit sozialen Unterschieden und Ungleichheiten und versuchen Wege zu ihrer Überwindung zu thematisieren. In internationalen Organisationen, wie den Vereinten Nationen, und in interna­ tionalen NGOs (non-governmental organizations) ist Gender inzwischen ein Schlüs­ selbegriff für globale Programme und Projekte, auch durch die Strategie des Gen­ der-mainstreaming, welche darauf abzielt, alle Maßnahmen unter dem Aspekt ihrer

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Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen zu prüfen. Mit ihren Aktionen und Erklärungen haben die Vereinten Nationen beispielsweise dazu beigetragen, sexuelle Gewalt international zu ahnden, Maßnahmen gegen Menschenrechtsverletzungen aufgrund des Geschlechts zu ergreifen und geschlechtsbedingte soziale Ungleichhei­ ten abzubauen. Eine besondere Bedeutung kommt diesbezüglich der United Nations Security Council Resolution (UNSCR) 1325 und ihren Folgeresolutionen zu (vgl. Joa­ chim/Schneiker 2012). Die Gender-Forschung nimmt an, dass Geschlechterverhältnisse kein Sonderpro­ blem der internationalen Politik darstellen, sondern als konstitutives Element globa­ ler Prozesse und Zusammenhänge aufgefasst werden müssen. Da Geschlechterver­ hältnisse in der Regel auch Machtverhältnisse konstituieren, ist es für die meisten Arbeiten dieser Forschungsrichtung darüber hinaus charakteristisch, nicht nur nach den Ursachen ungleicher Machtverhältnisse zu fragen, sondern im normativen Sinne Möglichkeiten der Beseitigung von diskriminierenden Praktiken, sozialen Ungleich­ heiten oder Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen. Konzeptionell ist Gender in der Analyse internationaler Beziehungen auf drei Ebe­ nen bezogen: die Mikroebene von sozialen Geschlechterverhältnissen, die nationale Ebene mit der Außen- und Sicherheitspolitik von Staaten und schließlich die globale Ebene der internationalen Organisationen und der transnationalen Akteure. Schema­ tisch lässt sich diese Sichtweise folgendermaßen darstellen:

internationale Organisationen EU, OSZE

Außenpolitik internationale NGOs, z. B. Gesellschaft „Terre des soziale Femmes“, Institutionen Advocacy Networks

Geschlechterverhältnisse

Staat politische Institutionen

Wirtschaft wirtschaftl. Entwicklung

transnationale Akteure, „Global Players“ WTO, IWF, Weltbank

UN (Weltgipfel, Frauendekade) UNDP, UNIFEM

Abb. 1.1: Geschlechterverhältnisse und globale Politik, Quelle: Eigene Darstellung (2018).

Aus Sicht der Gender-Forschung hatten die herkömmlichen Denkschulen und Ansätze der internationalen Beziehungen die Probleme, die aus ungleichen Geschlechterver­ hältnissen resultieren, zunächst weitgehend unberücksichtigt gelassen. Die Kategori­

1.5 Theorierichtungen in der Analyse der Internationalen Beziehungen | 39

en und Grundannahmen waren scheinbar „geschlechtsneutral“ gewählt. Traditionell waren Diplomatie und Außenbeziehungen, Militär- und Sicherheitspolitik sowie die Außenwirtschafts- und Finanzpolitik zudem Bereiche, in denen Frauen kaum eine Rolle spielten. Mit der Globalisierung, in deren Kontext scheinbar unumstößliche Ka­ tegorien, wie Macht und nationales Interesse, Staat und Souveränität, Wirtschaft und Wohlstand, zunehmend infrage gestellt wurden und transnationale Prozesse an Be­ deutung gewannen, veränderte sich auch die Analyse internationaler Beziehungen. In der Verbindung mit konstruktivistischen und sozialwissenschaftlichen Theoremen gewann dabei auch die kritische Gender-Forschung an Profil. Die Theoriebildung im Bereich Gender und internationale Beziehungen geht auf Forschungsarbeiten zurück, die als kritisches Korrektiv zu herkömmlichen Theoriean­ sätzen der Internationalen Beziehungen konzipiert und bereits Mitte der 1980er-Jahre zunächst im angelsächsischen Raum entwickelt wurden. Im Jahr 1988 veröffentlich­ te die britische Zeitschrift für internationale Politik „Millennium“ ein Sonderheft, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese Ansätze erstmals breiter wis­ senschaftlich diskutierten. Sie leiteten damit eine kontroverse Diskussion über „Gen­ der and International Relations“ ein, die an vielen Hochschulen und Forschungsein­ richtungen ein eigener Forschungszweig wurde. Der kritische Ansatzpunkt bestand darin, die dominanten Denkschulen der internationalen Politik infrage zu stellen und auch erkenntnistheoretisch neue Wege zu beschreiten. In den Folgejahren wurde die Gender-Forschung dann durch ein verändertes Konflikt- und Krisenszenario im Zuge der „neuen Kriege“ zunehmend relevant, da in diesen Konflikten die zivile Bevölke­ rung und damit Frauen und Kinder immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wurden und ihnen auch in der Konfliktbewältigung eine zentrale Rolle zukam. Theoretisch knüpft die Gender-Analyse Internationaler Beziehungen an die fe­ ministische Kritik der in der westlichen Welt vorherrschenden Unterscheidung binä­ rer Gegensätze wie öffentlich-privat, rational-emotional, Selbst-Anderer, VernunftGefühl an, die in der Gesellschaft kulturell als „männlich“ oder „weiblich“ kodiert werden. Historisch war der öffentliche Raum als politische Sphäre in der Staatstheo­ rie mit der aufkommenden Moderne zunächst als „männlich“ konzipiert und dem privaten, familiären Bereich entgegengesetzt worden, und selbst heute wird die Ge­ genüberstellung des Politischen und des Privaten mit Stereotypen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ überzogen. Diese Gegensätze werden als soziale Konstrukte ver­ standen, die dazu beitragen, dass Geschlechterunterschiede aufrechterhalten und Ungleichheiten verfestigt werden. Das Ausblenden der Lebensrealität von Frauen ist nach feministischem Verständ­ nis nicht nur durch die verschwindend geringe Zahl von Forscherinnen im Bereich der Internationalen Beziehungen zu erklären. Vielmehr argumentierten die Wissenschaft­ lerinnen, dass es durch die Definition des Gegenstandsbereichs bereits zu einer Aus­ grenzung von Frauen und der Thematisierung von Geschlechterbeziehungen kommt. Wie Rebecca Grant und Kathleen Newland (1991) beispielsweise argumentieren, kon­ zentrieren sich Theorien Internationaler Beziehungen zu stark auf die „Anarchie“ in

40 | 1 Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen

der internationalen Politik; dies gilt insbesondere für den Neo-Realismus, aber auch die Interdependenztheorie. Durch die Unterscheidung von „high politics“ und „low politics“ werde bereits eine theoretische Vorannahme getroffen, indem der Sicher­ heits- und Verteidigungspolitik ein höherer Rang zugewiesen wird als beispielsweise den globalen sozialen oder ökologischen Problemen. Die Lebenszusammenhänge, die vor allem für Frauen und die Reproduktion von Gesellschaften wichtig sind, würden in der internationalen Politik somit marginalisiert oder gänzlich ausgeblendet. Auch würden diese herkömmlichen Theorien solche strategischen Entscheidungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den Mittelpunkt stellen, die auf KonkurrenzModellen beruhen und die permanente Furcht hypostasieren. Theorien Internationa­ ler Beziehungen seien „[. . .] excessively focused on conflict and anarchy and a way of practicing statecraft and formulating strategy that is excessively focused on competi­ tion and fear“. (Grant/Newland 1991: 5). Damit würden die hierarchischen Beziehun­ gen zwischen den Geschlechtern perpetuiert, in denen Männer in der Regel „schüt­ zende“, öffentlich-politische Funktionen einnehmen, während Frauen auf den priva­ ten, „abhängigen“ Bereich verwiesen werden (vgl. Grant/Newland 1991). Potenziale kooperativer Problembearbeitung blieben damit unausgeschöpft. Dem Anspruch nach geht es den Gender-Ansätzen über die Sichtbarmachung bis­ lang vernachlässigter Zusammenhänge hinaus auch um die Kritik von Grundbegriffen der internationalen Politik. In diesem Sinne können Gender-Ansätze als ideologiekri­ tische Ansätze bezeichnet werden, wobei sie mit ihrem konstruktivistischen Anspruch zugleich über Ideologiekritik hinausgehen. J. Ann Tickner argumentiert in ihrem Buch „Gender in International Relations“ (1992), dass Begriffe wie Macht, Souveränität von Staaten, Sicherheit und internationale Herrschaft bereits im Kern „männliche Kon­ strukte“ darstellen, die die historisch überlieferten Machtverhältnisse reproduzieren. In ihrer Kritik am neorealistischen Machtbegriff zeigt sie auf, dass der Begriff der Macht traditionelle männliche Attribute des rationalen, strategischen Kalküls, des Machtstrebens und der Konkurrenz, die schon bei Hobbes und Machiavelli begründet wurden, auf Staaten projiziert. Die Annahme, dass Staaten in der anarchischen Welt Sicherheit erhöhen könnten, sei irreführend, da sie zum einen die Gewalt ignoriere, die innerhalb eines Staates ausgeübt wird, wie häusliche Gewalt gegen Frauen oder Vergewaltigung, und zum anderen ein „rationales“ Verhalten von Staaten nach außen hypostasiert (vgl. Tickner 1992). Wie Tickner argumentiert, folgt aus diesem Machtbegriff in der Analyse der Au­ ßenbeziehungen von Staaten ein zu eng gefasster Sicherheitsbegriff. Realisten und Neo-Realisten, mit denen sich Tickner befasst, seien nahezu ausschließlich auf mili­ tärische und wirtschaftliche Probleme fixiert, während sie andere wichtige Bereiche, wie Umweltprobleme und Weltarmut, ausklammern. Weltpolitisch bedrohliche Kon­ flikte können nach Tickner jedoch nicht bewältigt werden, wenn soziale Hierarchien bestehen bleiben (vgl. Tickner 1992). Konzepte von Macht sollten vielmehr auf einem neuen, kooperativen Machtverständnis aufbauen, das den Weg zu einer Neuverteilung von Macht zugunsten einer größeren Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Ge­

1.5 Theorierichtungen in der Analyse der Internationalen Beziehungen | 41

schlechtern ebnet (redistributiver Machtbegriff). Vor diesem Hintergrund entwickelt Tickner einen erweiterten Sicherheitsbegriff, der den Schutz vor äußerer Bedrohung mit innerer Sicherheit zusammenführt, denn sie bezweifelt, dass internationale Poli­ tik langfristig friedlich gestaltet werden kann, ohne die hierarchischen Beziehungen in der Gesellschaft, die auf geschlechtlich bedingter Über- und Unterordnung basie­ ren, abzubauen. Die Unterscheidung zwischen „shared power“, im Gegensatz zur „as­ sertive power“, spielt in ihrer Arbeit eine zentrale Rolle. Der erweiterte Sicherheitsbe­ griff ist bei Tickner vor allem an globalen Zielen der Friedenserhaltung und der ge­ rechteren, ökologisch verträglichen Weltordnung orientiert. Konzeptionell schließt er neben kollektiven Systemen der Sicherheit wirtschaftliche und ökologische Sicherheit mit ein sowie eine gerechtere Verteilung der Ressourcen zwischen dem Süden und den nördlichen OECD-Staaten. Mit der Kritik am Grundparadigma der Macht wird das Feld für eine Reihe wei­ terer Nachfragen an die Theoriebildung geöffnet. Dazu gehört vor allem die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Staates. Wie J. Ann Tickner (1996) in einer anderen Studie ausführt, beruht die Souveränität, die der moderne Staat nach außen verkörpert, historisch auf Hierarchisierungs- und Ausgrenzungsmechanismen, insbe­ sondere gegenüber Frauen in der Gesellschaft. Der „Souverän“ war ursprünglich der kaiserliche oder königliche Herrscher. Selbst mit der Einführung der „Volkssouverä­ nität“ als konstitutionalistischem Konzept und der Errichtung moderner Republiken waren Frauen zunächst ausgegrenzt, da ihre politischen Rechte mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts zeitverzögert erst im 20. Jahrhundert gewährt wurden. Bis heute wirke der Ausschluss von Frauen aus Kernbereichen der Macht nach, so Tickner, denn in außenpolitischen Entscheidungsgremien in den westlichen Demo­ kratien wie in der übrigen Welt stellen Frauen immer noch eine verschwindend klei­ ne Gruppe dar. In den Vereinigten Staaten waren nach Angaben von Tickner im Jahr 1987 beispielsweise weniger als fünf Prozent der im Auswärtigen Dienst Beschäftig­ ten Frauen, im Verteidigungsministerium weniger als vier Prozent (vgl. Tickner 1996); diese Feststellung lässt sich auch bis auf marginale Abweichungen auf die außenpo­ litischen Entscheidungsprozesse in anderen westlichen Ländern übertragen. Krieg und Gewalt ist ein weiteres vieldiskutiertes Thema in der internationalen Frauen- und Geschlechterforschung. Unter Zuhilfenahme von Sozialisationstheorien wurde das „System des Unfriedens“, das durch eine patriarchale Dominanzkultur ge­ kennzeichnet war, als Problem der Militarisierung von Gesellschaften ausgemacht. Hieraus ergab sich vor allem im Kontext der Friedens- und Abrüstungsbewegungen eine feministisch begründete pazifistische bzw. Anti-Kriegs-Position. Allerdings ließ sich weder die zunächst vertretene These aufrechterhalten, dass Frauen aufgrund ih­ rer sozialen Rolle als Mütter generell friedfertiger seien, noch konnten empirische For­ schungen die These vom Patriarchat als primärer Kriegsursache stützen. Die Friedens­ forscherin Ruth Seifert hebt in diesem Zusammenhang die Erkenntnis hervor, „[. . .] dass Frau zu sein nicht alles ist, was frau ist. Geschlechtsidentität wird in verschiede­ nen geschichtlichen Kontexten nicht übereinstimmend und einheitlich gebildet, son­

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dern überschneidet sich mit rassisch-ethnischen, sexuellen, regionalen und klassen­ spezifischen Identitäten, die in Fragen kollektiver Gewaltanwendung auch eine Rolle spielen“. (Seifert 2004: 56). Die neuere Gender-Forschung geht davon aus, dass sich kriegerische Konflikte aus multiplen Ursachen ergeben, in denen geschlechtlich begründete Differenzierun­ gen und Ausgrenzungen allerdings einen zentralen Platz einnehmen. Damit stellen sich eine Reihe theoretisch und empirisch interessanter Fragen. Sind Gesellschaften, in denen stark ausgeprägte Geschlechterhierarchisierungen bestehen, eher für krie­ gerische Konflikte anfällig? Inwieweit sind ausgeprägte Geschlechterhierarchien in der Gesellschaft als Ursache gewalttätiger Konflikte anzusehen und inwieweit sind sie Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen? Warum führen egalitäre Gesellschaf­ ten seltener Kriege? Welchen Stellenwert haben Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen in „humanitären Interventionen“ der UN und wo haben die Friedensmissionen anzusetzen? In den innerstaatlich ausgetragenen Kriegen und bei globalen militärischen Kon­ flikten sind Frauen weder nur (obwohl immer häufiger) Opfer, aber die Geschlechter­ dimension von Gewalt, Unterdrückung und Unrecht wird heute schärfer fokussiert. Neuere Rechtsprechung im Völkerrecht stellt so Gewalt gegen Frauen (z. B. Massenver­ gewaltigungen) explizit unter Strafe, wie das Beispiel des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen die Verantwortlichen im Jugoslawienkrieg zeigt. Dieser Straftatbe­ stand ist erst seit wenigen Jahren im internationalen Recht verankert. Allerdings kann militante Gewalt durchaus auch von Frauen ausgeübt werden wie z. B. im Tschetsche­ nienkonflikt oder im Nahen Osten. Schließlich sind auch Männer Opfer von Gewaltund Gräueltaten im Krieg; hierzu gibt es genügend Bespiele aus jüngeren ethno-na­ tionalen Kriegen (z. B. Bosnien) und militanten Konflikten (z. B. Kongo, Sudan). Aller­ dings findet diese sexuelle Gewalt seltener öffentliche Aufmerksamkeit und sie findet auch in der Wissenschaft relativ wenig Beachtung. Die Bedeutung, die Gender heute in allen internationalen Organisationen ein­ nimmt, lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Vereinten Nationen zeigen. Mit der ersten großen UN-Frauenkonferenz in Nairobi 1985, die zum Abschluss der Deka­ de über „Gleichheit – Entwicklung – Frieden“ veranstaltet wurde, erhielten Frauenor­ ganisationen ein neues globales Forum. UN-Sonderorganisationen und -programme widmeten sich nicht nur der Verbesserung der sozialen und politischen Situation von Frauen, sondern sie unterstützen auch neue Forschungsmethoden und -ansätze. Der jährlich veröffentliche „Human Development Report“ beispielsweise enthält seit 1995 Erhebungen von geschlechtsspezifisch differenzierten Daten, zum einen durch die Einführung eines „Gender-related Development Index“ (GDI), der geschlechtsspezifi­ sche Entwicklungsindikatoren für die Länder der Welt ausweist (Lebenserwartung, Al­ phabetisierung, Schulbildung, Einkommen), sowie zum anderen durch das „Gender Empowerment Measurement“ (GEM), welches politische Partizipation und wirtschaft­ lichen Einfluss von Frauen und Männern misst. Auch der Kampf gegen elementare Menschenrechtsverletzungen, wie die Genitalverstümmelung von Frauen, wird heute

1.6 Zusammenfassender Überblick über die Theorien | 43

durch Maßnahmen auf internationaler Ebene bekämpft. Im Jahr 1993 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine „Declaration on the Elimination of All Forms of Violence Against Women“, bei deren Durchsetzung NGOs eine wichtige Rolle spielten, wie Jut­ ta Joachim zeigen konnte (vgl. Joachim 2007). Die Weltfrauenkonferenz in Peking im Jahr 1995 stellte eine wichtige Plattform für den politischen Dialog über Frauen- und Menschenrechte dar, die nach dem Ende der ideologischen Blockkonfrontation immer stärker ins Zentrum der internationalen Politik rückten. Eine Reform mit der Bünde­ lung mehrerer Abteilungen unter Einschluss von UNIFEM führte 2011 zur Etablierung einer neuen Einheit, UN-Women, die die verschiedenen Aktivitäten im Rahmen der UN koordiniert. Auch im Bereich der Sicherheitspolitik hat sich beispielsweise seit der Verabschiedung der Resolution 1325 im Jahr 2000 die „Women, Peace and Secu­ rity“-Agenda ständig weiterentwickelt; in den Folgejahren wurden allein sieben Fol­ geresolutionen verabschiedet, die unterschiedliche Themenschwerpunkte beinhalten (vgl. Kap. 7).²

1.6 Zusammenfassender Überblick über die Theorien Die unterschiedlichen Theorieströmungen und Ansätze lassen sich in einem differen­ zierten Schema zusammenfassen (Tab. 1.1). Übungsfragen zu Kapitel 1: Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen 1. 2.

3.

Der Begriff der Macht spielt eine zentrale Rolle in Theorien der internationalen Beziehungen. Wie unterscheiden sich die Machtbegriffe des Neo-Realismus und des Institutionalismus? Die Menschenrechtsnorm ist heute in einer Vielzahl von internationalen Dokumenten veran­ kert. Wie entstehen Normen und Werte in der internationalen Politik? Erläutern Sie diesen Prozess aus der Sicht des Konstruktivismus. Was bedeutet der Begriff Gender? Warum sind Gender-Ansätze in der internationalen Politik wichtig? Zeigen Sie die Bedeutung von Gender am Beispiel von Krieg und Gewalt auf.

2 Vgl. https://www.peacewomen.org/resolutions-texts-and translations (aufgerufen am 30.04.2018).

Staaten

Institutionen, Natio­ nalstaaten, internatio­ nale Organisationen, NGOs

transnationale Ak­ teure, multinationale Unternehmen, Global Players Individuen, National­ staaten

politische Eliten, Viel­ zahl von Akteuren

gesellschaftliche und individuelle Akteure, soziale Bewegungen, NGOs

Realismus Neo-Realismus

liberaler Institutionalis­ mus/Liberalismus 1. Interdependenz 2. Globalisierung

Globalismus 1. Weltsystemtheorie 2. Globalisierung

Konstruktivismus

Gender-Ansätze

Quelle: Eigene Darstellung (2018)

Postmoderne

zentrale Akteure

theoretische Perspektive

Tab. 1.1: Theorien Internationaler Beziehungen.

Vernetzung, Global Governance

Welt als soziales Konstrukt und Resultat von intersubjektiv generier­ ten Perzeptionen

kapitalistischer Weltmarkt, phasen­ förmige Herausbildung des kapita­ listischen Weltsystems (Zentrum, Semi-Peripherie, Peripherie) fragmentierte, unstrukturierte Welt

anarchische Struktur der Staaten­ welt nutzenmaximierende und rationa­ le Nationalstaaten streben nach Macht, um in der Anarchie zu über­ leben plurale Struktur, Interdependenz, institutionelle Verflechtungen der Akteure („Spinnengewebe von As­ soziationen und Individuen“)

Strukturkonzept/Weltbild

Vieldeutigkeit von Konzepten und Begriffen, Dekonstruktion, Gewalt, Macht, Entgrenzung, Exklusion, Texte relationale Natur aller Erkenntnis­ se, Normen und Regeln, Diskurse, Identitäten, internationale Organi­ sationen Geschlechterbeziehungen, Gender und Gewalt, „low politics“: sozia­ le Verhältnisse, Frauenrechte als Menschenrechte

strukturelle Abhängigkeiten, Kon­ flikte, Peripherie-Zentrum, Inklusi­ on, Exklusion

Macht als Positivsummenspiel „high“ und „low“ politics: nationale Präferenzordnung, wirtschaftliche Kooperationen, Regimeforschung

Macht als Nullsummenspiel, na­ tionales Interesse, „High Politics“: Sicherheit, Krieg, Aufrüstung, Wirt­ schaftsinteressen

analytischer Fokus

Tickner, Locher, Joachim

Wendt, Katzenstein, Risse

Der Derian, Shapiro, Ashley

Wallerstein, Galtung, Altvater und Mahnkopf

Moravcsik, Keohane, Risse

Hobbes, Morgenthau, Waltz

Vertreter

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Literatur

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Literatur [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15]

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48 | 1 Wissenschaft und Theorien Internationaler Beziehungen

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2 Problemfelder der internationalen Politik Die internationale Politik umfasst ein breites Themenfeld. Neben den Beziehungen zwischen Staaten, der Rolle internationaler Organisationen und der Bedeutung trans­ nationaler Politik lassen sich drei große, thematische Problemfelder unterscheiden, die im folgenden Kapitel näher betrachtet werden sollen: globale Wirtschaftsbezie­ hungen, internationale Sicherheit, und Wohlfahrt der Menschen bzw. Menschenrech­ te und andere kollektive Güter. Die Behandlung der Grundprobleme in diesen Berei­ chen schließt dabei auch die politische Bearbeitung durch Staaten, internationale Or­ ganisationen und nicht staatliche Akteure ein.

2.1 Globalisierung und Weltwirtschaftssystem Das Weltwirtschaftssystem wird durch zwei gegenläufige Entwicklungen charakte­ risiert: Globalisierung und Regionalisierung. Zum einen kommt es im Zuge einer rasch anwachsenden globalen wirtschaftlichen Verflechtung von Staaten und Volks­ wirtschaften zu einer Globalisierung des Weltmarkts. Viele Unternehmen sind heute weltweit vernetzt, produzieren und vermarkten ihre Güter in verschiedenen Regionen der Welt und profitieren von der allgemeinen Liberalisierung des Handels, die sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs durchgesetzt hat. Zum anderen geben Staaten im­ mer noch den Rahmen für die Handels- und Finanzpolitik, die Sozialleistungen der Bevölkerung und die politische Positionierung in den internationalen Organisationen der Weltwirtschaft vor. Um den Handel zu befördern und wirtschaftlich eine stärkere Position im Weltmarkt einzunehmen, kommt es im Zuge der Globalisierung daher zu geografisch bedingten Zusammenschlüssen von Ländern, die als Regionalisierung beschrieben werden. So entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg drei globa­ le Handelszentren oder Wirtschaftsblöcke, die in ihrer Region eine Freihandelszone vereinbarten: in Europa entstand die Europäische Gemeinschaft bzw. die Europäi­ sche Union, in Nordamerika wurde mit dem NAFTA-Abkommen (North American Free Trade Agreement) eine Zusammenarbeit zwischen den USA, Kanada und Mexiko ver­ einbart, und im asiatisch-pazifischen Raum schlossen sich mehrere Länder in der ASEAN zusammen. Aber auch in anderen Teilen der Welt finden Regionalisierungen statt, so etwa in Westafrika, wo sich acht Länder zur Westafrikanischen Wirtschaftsund Währungsunion zusammengeschlossen haben. Aus der Sicht der politischen Wissenschaft geht es bei der Untersuchung von Wirt­ schafts- und Handelsbeziehungen um das Spannungsverhältnis zwischen ökonomi­ schen Strukturen und politischem Handeln, Weltmarkt und Staatenwelt. Die interna­ tionale politische Ökonomie (international political economy) – ein Begriff, der aus der englischsprachigen Literatur übernommen ist – behandelt den Zusammenhang von Wirtschaft und Politik in Bezug auf die Rolle von Staaten, transnationale Wirt­ https://doi.org/10.1515/9783110589207-002

50 | 2 Problemfelder der internationalen Politik

schaftsprozesse und internationale Organisationen, die für die Weltwirtschaft von Be­ deutung sind. Sie vergleicht Länder und Regionen und sie untersucht Handels- und Finanzströme. Rund die Hälfte des Welthandels erfolgt innerhalb der drei großen zuvor erwähn­ ten Wirtschaftsregionen und nur etwa ein Viertel zwischen diesen, meist hoch entwi­ ckelten, Ländern und den Entwicklungsländern. Aus dieser Diskrepanz leiteten For­ scher die Folgerung ab, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen nicht in Form einer all­ gemeinen Globalisierung, sondern als Triadisierung beschreiben lassen. Die These der Triadisierung besagt, dass sich der Handel innerhalb der drei Wirtschaftszentren viel stärker intensivieren werde als der weltweite Handel aller Länder untereinander, eine Entwicklung, die auch als Teilglobalisierung charakterisiert wird. Gegenüber die­ sen drei Zentren – Europa, Nordamerika und Ostasien – bildeten die übrigen Länder der Welt nach der Triadisierungs-These eine Peripherie, die auf verschiedene Weise von den Handelszentren abhängig ist. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufstiegs der sogenannten BRICS-Staa­ ten ist diese Sichtweise allerdings verkürzt. Die fünf unter dem Begriff der BRICSStaaten zusammengefassten Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafri­ ka, von denen vier (außer Russland) zu den Schwellenländern gehören, zeigen über­ durchschnittliche Wachstumsraten und relativ stabile Wirtschaftsdaten. Sie umfassen 40 Prozent der Weltbevölkerung und haben einen Anteil am weltweiten BIP von 22 Pro­ zent.¹ Obwohl der Begriff der BRICS-Staaten nicht immer klar definiert ist – Russland wird von einigen Kritikern beispielsweise nicht als aufstrebende, sondern eher abstei­ gende Wirtschaftsmacht klassifiziert – haben die fünf Länder 2010 jährliche Treffen vereinbart, um ihre Interessen im globalen Handels- und Wirtschaftssystem besser zu koordinieren. Die BRICS-Länder nehmen zudem an den Wirtschaftsberatungen der G-20-Länder teil. Die Landkarte der Weltwirtschaft hat sich also durch neue, aufstei­ gende Mächte verändert. Insbesondere fällt hier China ins Gewicht. China ist mit ei­ ner Bevölkerung von rund 1,34 Milliarden nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt und hat daher einen riesigen Absatzmarkt, sondern es hat, auch aufgrund seines starken Exports, eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Daher sollte das Weltwirtschaftssystem als ein dynamisches, sich ständig ver­ änderndes System unterschiedlicher Regionen und Länder betrachtet werden. Län­ der, die bis vor kurzem als Schwellen- oder Entwicklungsländer eingestuft wurden, können aufsteigen und andere Volkswirtschaften können absinken, wenn sie an der ständigen Erneuerung und dynamischen Veränderung nicht mehr teilnehmen. Nach Angaben der Weltbank ergaben sich im Jahr 2016 folgende Rankings für die wichtigs­ ten Volkswirtschaften der Welt (Auszug):

1 Vgl. http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52655/weltbruttoinlandsprodukt (Stand 2015; aufgerufen am 14.04.2018).

2.1 Globalisierung und Weltwirtschaftssystem | 51

Tab. 2.1: Länder der Welt nach Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2016. Rang

Land

BIP (GDP) Billion. US$ (2016) (BIP jährliches Wachstum in %)

1 2 3 4 5

Welt Vereinigte Staaten (USA) China Japan Deutschland Vereinigtes Königreich

75,848 (+2,5) 18,624 (+1,5) 11,199 (+6,7) 4,940 (+1,0) 3,478 (+1,9) 2,648 (+1,8)

Quelle: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD?year_high_desc=true (aufgerufen am 28.03.2018).

2.1.1 Weltmarkt und Handelssystem Unter dem Begriff der Globalisierung wird eine Reihe von Entwicklungen zusammen­ gefasst, die den veränderten Charakter der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bezeichnen. Globalisierung meint zunächst einmal die zunehmende weltweite Verflechtung von Handel und Produkti­ on. Dies ist an sich kein neues Phänomen, denn engere Verflechtungen gab es auch in früheren Phasen wirtschaftlicher Entwicklung. So kam es Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer deutlichen Verdichtung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den europäischen Wirtschafts- und Handelsmächten und ihren Koloni­ en, eine Phase, die auch als Imperialismus bezeichnet wird. Der gegenwärtig ver­ wendete Begriff der Globalisierung beschreibt ebenfalls eine enge Verflechtung von Ländern über den Weltmarkt, aber es ist aufgrund seiner Vielschichtigkeit notwen­ dig, zwischen den zugrunde liegenden ökonomischen Entwicklungszusammenhän­ gen einerseits und dem kontrovers geführten Diskurs über die damit verbundenen sozialen Auswirkungen andererseits zu unterscheiden. Welche Kriterien gelten als Kennzeichen der Globalisierung und worin besteht die neue Qualität einer globalen Ökonomie? Welche Konsequenzen hat die Verflechtung des Wirtschaftssystems und welche Rolle spielen internationale Organisationen und andere Akteure in der Globa­ lisierung? Führt Globalisierung zwangsläufig zur Vertiefung der Kluft zwischen den ärmeren und reicheren Ländern der Welt oder können internationale Organisationen diese Entwicklung moderieren und den wirtschaftlichen Wettbewerb durch politische Entscheidungen gestalten? Welche Folgen hat der von der US-Regierung propagierte neue Protektionismus für die Weltwirtschaft? Indikatoren einer zunehmenden Verflechtung nationaler Volkswirtschaften mit dem Weltmarkt und damit der Globalisierung sind zunehmende Handelsverflechtun­ gen, Produktionsverflechtungen und die Internationalisierung der Finanzmärkte. Die Globalisierungsforscher Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf (2007) beschreiben die­ se zunehmende Verflechtung nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Anteil der Weltpro­

52 | 2 Problemfelder der internationalen Politik

duktion, der grenzüberschreitend gehandelt wird, ist von sieben Prozent im Jahr 1950 über 12 Prozent 1973 auf 17 Prozent 1993 gestiegen – Tendenz weiter steigend. In den OECD-Ländern (Mitgliedsländer der Organisation for Economic Cooperation and De­ velopment) insgesamt wuchs der Anteil des Außenhandels im Durchschnitt von 12,5 im Jahr 1960 auf 18,6 Prozent 1990; allein in den USA, die über einen großen Bin­ nenmarkt verfügen, wuchs der Anteil von 4,7 Prozent auf 11,4 Prozent (vgl. Altvater/ Mahnkopf 2007). Der Trend zum grenzüberschreitenden Handel hat im Zeitverlauf al­ so deutlich zugenommen; aber er umfasst, wie oben erwähnt, nicht alle Länder und Wirtschaftssektoren gleichermaßen. Am deutlichsten ist er in den entwickelten Län­ dern des Nordens ausgeprägt, wobei Schwellenländer wie China und Indien aufgeholt haben; China ist heute das exportstärkste Land der Welt (Stand 2017). Die rasante Bedeutungszunahme der neuen Technologien im Finanz-, Dienst­ leistungs- und Handelsbereich hat die weltweite Vernetzungen von Kommunikation durch die „dritte Revolution“ im Computersektor und damit die Globalisierung über­ haupt erst möglich werden lassen. Die Digitalisierung beschleunigt und befördert die Kommunikation in transnationalen Unternehmen und führt zu immer stärke­ ren Verdichtungen des Wirtschaftens. Ohne die technologische Revolution wäre die Globalisierung in der heutigen Form nicht möglich gewesen. Politisch ist die Globalisierung mit den Tendenzen einer zunehmenden weltwirt­ schaftlichen Verflechtung in den Bereichen Handel und Finanzen vor allem auf die Liberalisierung des Welthandels- und Währungssystems zurückzuführen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine neue Welthandels- und Währungsordnung angestrebt, um eine erneute Weltwirtschaftskrise wie im Jahr 1929 zu vermeiden, welche letzt­ lich autoritären und diktatorischen Regimen wie dem Nationalsozialismus und dem Faschismus Vorschub geleistet hatte. Im Welthandelssystem setzte sich unter ame­ rikanischer Hegemonie bereits frühzeitig der Gedanke des Freihandels durch, der heute als Leitmotiv der Weltwirtschaft gilt (vgl. Viola 2016), auch wenn viele Länder weiterhin durch Subventionen oder Zölle Protektionismus zum Schutz der eigenen Wirtschaft praktizieren. Insbesondere im Kernland des Wirtschaftsliberalismus, den USA, gibt es – neben dem Präsidenten selbst – unter politisch Verantwortlichen der Trump-Administration Befürworter eines neuen Protektionismus. So vertritt Präsi­ dent Trump die Auffassung, dass Länder aufgrund der Liberalisierung und der zu­ nehmenden Wirtschaftsverflechtungen die USA zum Beispiel durch Exportüberschüs­ se übervorteilten, weshalb er Straf- bzw. Schutzzölle auf verschiedene Produkte, wie Solarpanels, Aluminium und Stahl anordnete, vorgeblich um die amerikanische Wirt­ schaft zu fördern (vgl. Kap. 4). Die Auswirkungen dieser protektionistischen Politik sind heute noch nicht absehbar, aber die Frage, ob diese Maßnahmen wirklich der einheimischen Industrie nützen, wird sehr kontrovers diskutiert. Grundlage der Handelsliberalisierung wurde das 1947 geschlossene Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT), dessen Ziel im Abbau von Handelshemmnissen sowie der Schlichtung von Handelskonflikten bestand. Das GATT verfolgte im Wesentlichen drei Prinzipien: erstens den Grundsatz

2.1 Globalisierung und Weltwirtschaftssystem

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des Abbaus von Handelshemmnissen, zweitens das Prinzip der Meistbegünstigung und Nichtdiskriminierung, die eine Ungleichbehandlung der Anbieter in verschiede­ nen Ländern verbietet und drittens den Grundsatz der „Inländerbehandlung“, wel­ cher fordert, dass ausländische Anbieter keinen Wettbewerbsnachteilen gegenüber inländischen Produzenten ausgesetzt werden dürfen. Das GATT führte schließlich zur Einrichtung der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organisation). Die WTO mit Sitz in Genf nahm am 1. Januar 1995 ihre Arbeit auf. Sie ist eine internationale Organisation mit derzeit 164 Mitgliedern (Stand 2018). Die WTO hat, im Unterschied zum alten GATT-System, den Status einer internationalen Organisation und sie hat ein erweitertes Aufgabenspektrum übernommen. Im Vergleich zur Weltbank oder zum In­ ternationalen Währungsfond (IWF), beides Unterorganisationen der UN, ist das WTOSekretariat mit seinen 650 Mitgliedern personell zwar eher bescheiden ausgestattet, verfügt aber durch seine Entscheidungskompetenz bei der Beseitigung von Handels­ hemmnissen über ein deutliches Machtpotenzial. Mit dem eingerichteten Streitbei­ legungsorgan (Dispute Settlement Body) sollen Handelskonflikte beigelegt und das Konzept des uneingeschränkten Freihandels international durchgesetzt werden. So kam es nach der Verhängung von Einfuhrzöllen gegen Stahlimporte durch die BushRegierung 2003 beispielsweise zu einer Klage der Europäischen Union; die Zölle wur­ den danach wieder zurückgenommen. Auch gegen die von der Trump-Administrati­ on eingeführten Strafzölle auf Solarpanels und Stahl reichten die betroffenen Länder 2018 Klage bei der Welthandelsorganisation ein. Allerdings dauern Entscheidungen des Schiedsgerichts der WTO relativ lange und die WTO hat keine Möglichkeit, die ge­ fällten Entscheidungen zu erzwingen. Trotzdem haben die Entscheidungen eine wich­ tige normative und politische Funktion mit transnationaler Wirkung. In der Öffentlichkeit wird die WTO immer wieder wegen ihrer wirtschaftslibera­ len Ausrichtung kritisiert. Dabei fordern die Entwicklungs- und Schwellenländer eine bessere Berücksichtigung ihrer Interessen und Bedürfnisse und ein gerechteres Han­ delssystem (fair trade). Die gegensätzlichen Interessen zeigen sich gerade im Han­ del der Industrieländer mit den Entwicklungsländern. Kritisiert wird von letzteren beispielsweise, dass durch die Agrarsubventionen in den EU-Ländern teilweise gro­ be Verzerrungen auf dem Weltmarkt entstehen. So werden die subventionierten und daher preisgünstigeren EU-Produkte in afrikanische Länder exportiert, deren einhei­ mische agrarische Produkte dann nicht mehr konkurrenzfähig sind. Wie Kritiker der Agrarsubventionen monieren, führen diese zu Benachteiligungen der Entwicklungs­ länder. So fragte die ehemalige Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses im Bun­ destag, Bärbel Höhn, vor einigen Jahren: „Warum fliegt das Huhn nach Kamerun? Weil wir nur noch die besten Teile im Supermarktregal haben und das Hühnerklein expor­ tieren. Und der arme Bauer in Kamerun kann mit seinem ganzen Huhn nicht gegen das

54 | 2 Problemfelder der internationalen Politik

subventionierte Hühnerklein konkurrieren. Ist das marktwirtschaftlich, ökologisch, sozial?“² Vertreter der entwickelten Länder, darunter auch die Europäische Union, wenden sich ihrerseits gegen die mögliche Aushöhlung ökologischer und sozialer Standards durch den freien Handel. Das WTO-Prinzip der Inländerbehandlung untersagt jede Diskriminierung ausländischer Erzeugnisse, auch wenn das Empfängerland nicht mit den menschlichen oder ökologischen Bedingungen der Herstellung einverstanden ist. So hat die EU relativ strenge Vorschriften zur Entwicklung und Vermarktung gene­ tisch veränderter Agrarprodukte (Genfood), während andere Länder wie die USA ge­ netisch veränderte Pflanzen, wie z. B. Mais, anbauen und in verschiedenen Produkten verwenden. Einzige Ausnahme bilden für die WTO Erzeugnisse, die von Gefangenen hergestellt werden; dies ist auch nach WTO-Standards unzulässig. Kriterien wie nach­ haltige ökologische Entwicklung oder Einhaltung der Menschenrechte bei der Pro­ duktion von Gütern und Dienstleistungen werden hingegen von der Organisation als Handelshemmnisse eingestuft. Letztlich kann hier nur der Konsument entscheiden, welche Produkte er oder sie bevorzugt; das Recht zu wissen, unter welchen Bedin­ gungen Produkte hergestellt werden (right to know), wird heute von vielen Verbrau­ cherschutzorganisationen durch Information und Aufklärung eingefordert. Aufgrund ihrer geschlossenen, nichtöffentlichen Entscheidungsprozesse kritisieren internatio­ nale Bürgerrechts- und Basisgruppen die WTO darüber hinaus als undemokratische Institution. Sie fordern eine Beteiligung von Bürgern an Konfliktentscheidungen, um der Globalisierung eine soziale und gerechte Dimension abzuringen. Neben der Handelsliberalisierung wurden im Bereich der Währungs- und Finanz­ politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenfalls grundlegende Veränderun­ gen vorgenommen. Mit dem Abkommen von Bretton Woods 1944 strebten vor allem die westlichen Länder an, eine internationale Währungsordnung einzurichten, die auf der Anerkennung des Dollars als Leitwährung, festen Wechselkursen und der Einfüh­ rung eines Goldstandards beruhen sollte, um Handelsbeziehungen auf eine stabile Grundlage zu stellen. Dieses System wurde allerdings zu Beginn der 1970er-Jahre ab­ gelöst durch flexible Wechselkurse mit mehreren Reservewährungen. Der Zusammen­ bruch des Systems fester Wechselkurse von Bretton Woods im Jahr 1973, der u. a. unter dem Eindruck der Ölkrise sowie der Dollar-Schwäche (als Folge der Finanzierung des Vietnam-Kriegs) erfolgte, legte den Grundstein für die Internationalisierung der Fi­ nanzmärkte, denn durch diese Entscheidung wurde der Handel mit Währungen zur Gewinnerzielung befördert. Der US-Dollar bleibt jedoch bisher die weltweit wichtigs­ te Währung, gefolgt vom Euro als Reservewährung; etwa zwei Drittel der weltweiten Reservewährungen erfolgt in USD, ein Fünftel in Euro (Stand: 2017).³

2 Vgl. „Warum fliegt das Huhn nach Kamerun?“ Interview mit Bärbel Höhn. In: Der Tagesspiegel, 05.08.2007, S. 5. 3 http://data.imf.org/?sk=E6A5F467-C14B-4AA8-9F6D-5A09EC4E62A4 (aufgerufen am 04.04.2018).

2.1 Globalisierung und Weltwirtschaftssystem

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Der Versuch, eine internationale Währungsordnung einzurichten, wird durch die „Unordnung“ der Finanzmärkte mit ihren periodischen Krisen unterminiert; Beispie­ le sind die Asien-Krise 1997 und der währungspolitisch nicht korrigierbare Fall des Dollars Anfang der 1990er-Jahre. Im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 gerieten auch die Euro-Länder in eine tiefe Krise, die zeigte, dass die Wäh­ rungsunion die EU nicht unabhängig von globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen werden ließ. Vielmehr sind heute die Finanzsysteme so stark voneinander abhängig, dass eine Krise in einer Weltregion auch andere Regionen in Mitleidenschaft ziehen kann. Im Zuge der Globalisierung kommt es zu einer zunehmenden Internationalisie­ rung der Finanzmärkte, die viele Autoren als das entscheidende Merkmal der Globali­ sierung betrachten (vgl. z. B. Hall/Lamont 2013; Strange 1998). Finanztransaktionen, Kreditinanspruchnahme bzw. -vergabe und Risikoversicherungen mithilfe ausländi­ scher Geschäftspartner haben deutlich zugenommen. Diese Entwicklung erleichtert den Handel, birgt aber auch neue Risiken. Bereits Mitte der 1980er-Jahre führte die britische Politökonomin Susan Strange (1986) den Begriff des Casino Capitalism ein, um den stark zunehmenden Handel mit Finanzprodukten und die Verselbstständi­ gung des Geldes bei globalen Finanztransaktionen zu charakterisieren. Mit der Ent­ wicklung des durch neue Technologien weltweit agierenden Finanzkapitals ist das Geld selbst zur Ware geworden, deren Einsatz aufgrund einer erhöhten Empfindlich­ keit (volatility) und Unberechenbarkeit (uncertainty) eine neue Phase der kapitalisti­ schen Weltwirtschaft einleite, so Strange (vgl. Strange 1986). Zehn Jahre später spitzte sie ihre These zu, indem sie schreibt: „Money has indeed gone mad.“ (Strange 1998: 3). Während die Welt zur Zeit des Ost-West-Konflikts durch die Polarisierung zwischen den Supermächten dominiert wurde, habe sich die Situation nach dem Ende des OstWest-Konflikts Susan Strange zufolge grundlegend gewandelt. Die Abhängigkeit der Volkswirtschaften von globalen Finanzmärkten bildet für sie eine Art „Schicksalsge­ meinschaft“ in der globalen Ökonomie. „Now, as 1997 amply showed us, we are all in the same boat. One financial system dominates from Moscow to Manila, from Tokyo to Texas.“ (Strange 1998: 4). In ihrer Analyse arbeitete sie heraus, dass das Problem darin bestehe, dass sich die Ökonomie internationalisiere, während die Politik weitge­ hend nationalstaatlich verfasst bliebe. In ihrer Veröffentlichung „Mad Money“ (1998) warnt sie daher vor einer ungeregelten, neoliberalen Entwicklung der Globalisierung, die sie neben der Ökologiethematik als eine zweite große Bedrohung der Menschheit betrachtet. „But though the ecological threats to humanity are certainly the most se­ rious, they are a comparatively long-term threat. Whereas if confidence in the financial system were to collapse, causing credit to shrink and world economy growth to slow to zero, that is a much more immediate threat.“ (Strange 1998: 2). Die Globalisierung hat inzwischen sowohl die Produktionsweise großer Unter­ nehmen als auch ihre Wettbewerbsbedingungen stark verändert. Steigende Direkt­ investitionen von Firmen im Ausland, die Auslagerung von Produktionszweigen in andere, kostengünstigere Länder, Kosteneinsparungen und die „Verschlankung“ der

56 | 2 Problemfelder der internationalen Politik

Produktion (lean production) sowie veränderte Qualifikationsanforderungen sind ebenso Kennzeichen neuer Formen der Herstellung von Waren und Dienstleistun­ gen wie die Dynamik, die durch die Einbeziehung von immer mehr Ländern in den Weltmarkt entsteht. Durch weltweite Kostenvergleichsmöglichkeiten verschärft sich die Konkurrenz zwischen standortnahen und fernen Zulieferern (global sourcing); im Interesse einer kostengünstigen Produktion werden Betriebe und Produktionsstätten in Länder verlagert, in denen Arbeitskräfte billiger, Umweltschutzbestimmungen oft nicht vorhanden und gewerkschaftliche Organisationen und politische Regulierun­ gen schwächer sind (global outsourcing). Auch die nationalen Arbeitsmärkte wandeln sich; so verändern sich nicht nur die Qualifikationsanforderungen, auch die Struktur des Arbeitsmarktes, das Lohngefüge und die Zeitregime sind starken Veränderungen unterworfen (z. B. Flexibilisierung, Informalität, Zunahme prekärer Beschäftigungs­ verhältnisse). Ein zentraler Aspekt bei der Anlage von Kapital im Ausland ist auch die steuerli­ che Belastung für die Unternehmen. So sind neue profitable Produktionsanlagen im Grenzgebiet zu den USA in Mexiko entstanden, in den osteuropäischen Ländern in der EU-Peripherie sowie in Billiglohnländern Asiens. Die Sonderwirtschaftszonen er­ weisen sich als äußerst profitabel. Inzwischen werben auch die USA nach der Steu­ erreform vom Dezember 2018 mit niedrigen Steuern für Unternehmen, die unter das Niveau des OECD-Durchschnitts von 25 Prozent gesenkt wurden. Interessant bleibt die Frage, wie Länder auf die Prozesse der Globalisierung re­ agieren. Die komparative politische Ökonomie ergibt unterschiedliche Antworten. Studien über den Prozess der Globalisierung zeigen, dass es keinesfalls zu einer glo­ bal einheitlichen Anpassung der nationalen Ökonomien kommt. Ein Globalisierungs­ begriff, der eine allgemeine Tendenz zur Konvergenz nationaler Volkswirtschaften oder eine einseitige Abhängigkeit im „Würgegriff“ des Weltmarkts annimmt, wäre daher ebenso zu kurz gegriffen wie die Annahme einer Gleichverteilung von Las­ ten und Gewinnen der Globalisierung zwischen den Standorten. Länder reagieren auf die Globalisierung politisch durchaus unterschiedlich (vgl. Hall/Lamont 2013). Vorhandene Spielräume reichen von der Gestaltung nationaler Sozialsysteme über Anpassungen an Qualifikationsveränderungen bis zu transnationalen Abkommen und Vereinbarungen wie z. B. innerhalb der EU. Vom Standpunkt der Internationalen Beziehungen betrachtet hat die Globalisie­ rung die Unterschiede zwischen den Ländern nicht eingeebnet. Vielmehr hat sich die Kluft zwischen den reicheren und ärmeren Ländern der Welt in diesem Prozess viel­ fach vertieft; aber auch innerhalb der Länder tun sich neue soziale Differenzierungen auf. Das allgemeine Wohlstandsversprechen der Liberalisierungsbefürworter wird da­ her kritisch gesehen, denn es hat sich, trotz vieler Fortschritte, bis heute nicht be­ wahrheitet. Vielmehr ist ein wachsender Trend der Ungleichheiten zwischen und in­ nerhalb von Gesellschaften festzustellen. Der französische Ökonom Thomas Piketty schreibt über die ungleiche Verteilung des Wohlstands: „I will show that this spectacu­ lar increase in inequality largely reflects an unprecedented explosion of very elevated

2.1 Globalisierung und Weltwirtschaftssystem

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incomes from labor and a veritable separation of the top managers of large firms from the rest of the population.“ (Piketty 2014: 24). Ausdruck der weltweiten Ungleichheiten sind neue transnationale Migrationsbe­ wegungen. So hat sich die Zahl der Migranten, die meist neue Beschäftigungsmöglich­ keiten im Ausland suchen, allein zwischen 1975 und 2000 verdreifacht (von 85 Millio­ nen 1975, auf 175 Millionen im Jahr 2000).⁴ In den USA sind vor allem Arbeitskräfte aus Mexiko und Mittelamerika zugewandert, in Singapur beispielsweise meist billige Arbeitskräfte aus Vietnam und Malaysia, und in der Golfregion finden sich zugewan­ derte Fach- und Arbeitskräfte aus anderen arabischen Staaten, aus Indien und aus Europa. – Die engere Verflechtung von Finanz- und Wirtschaftssystemen spiegelt sich selbst in der Architektur der Städte wieder. Neue Global Cities entstehen, d. h. Welt­ städte, die zu Finanzzentren in einer neu entstandenen globalen Hierarchie von Städ­ ten aufsteigen. Die Soziologin Saskia Sassen (1991) argumentiert, dass global cities, wie beispielsweise Singapur, Hongkong, London und New York nicht nur die interna­ tionalen Kapital- und Finanzströme lenken, sondern auch eine Anziehungskraft auf internationale Migrationsbewegungen ausüben. Neben den tertiären „Zitadellen“ des Finanzkapitals bilden sich typische „Gettos“, bzw. arme Stadtteile, in denen sich ent­ sprechend billige Arbeitskräfte für die neuen Dienstleistungen ansiedeln. Die Folge­ kosten, die im Zuge der Anpassung an die veränderten Weltmarktbedingungen ent­ stehen, müssten dabei von den jeweiligen Staaten getragen werden, so Sassen. Diese Entwicklung verdeutliche das zentrale Problem der Globalisierung: Während sich die Ökonomie international vernetzt, bleibt die Politik vorwiegend national organisiert und muss sich im nationalen Rahmen mit den Folgekosten der Globalisierung aus­ einandersetzen (vgl. Sassen 1996; Mayer 1997). Über das Verhältnis von Markt und Politik und die Gestaltungsmöglichkeiten der Globalisierung liegen in der Literatur kontroverse Einschätzungen vor. Kern­ streitpunkt ist in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die Globalisierung die Möglichkeiten politischer Handlungsfähigkeit einschränkt, oder ob sie diese nicht viel­ mehr erweitert. Wie bereits Susan Strange zeigt, sind wirtschaftliche und politische Entwicklungen durch die Globalisierung nicht mehr an die Grenzen des National­ staates gebunden (Strange 1995). Als transnationale Prozesse sind sie aber schwerer steuerbar. Daher ist zu fragen, ob durch die zunehmende Bedeutung von weltwei­ ten Wirtschaftsbeziehungen das „Ende von Politik“ eingeleitet wird, oder ob eine neue Form transnationaler Politik entsteht, durch die Menschen über Grenzen hin­ weg miteinander kommunizieren, Normen entwickeln und Lösungen für gemeinsame Probleme finden und so ein System globaler Ordnung entsteht. Bezeichnet Globali­ sierung einen Prozess, der zur weltweiten Globalität (global village) führt, oder wird der Begriff als neue Ideologie verwandt, um die Vertiefung weltweiter Ungleichheiten durch einen „Globalismus“ zu überdecken? Welche politischen Reaktionen auf die

4 Uchatius, Wolfgang (2004). Das globalisierte Dienstmädchen. Die Zeit. Nr. 35, 19.08.2004. 17–19.

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Globalisierung entwickeln sich und welche Wirkung haben beispielsweise soziale Protestbewegungen für die internationalen Beziehungen? Wie der in Indien geborene Ökonom Pankaj Ghemawat meint, liegt der „Globali­ sierungsgrad“ heute bei höchstens 20 Prozent. Daher könnten nationale Regulierung und teilweise Globalisierung nebeneinander stehen. „Die nationalen Regierungen ha­ ben weiterhin die Möglichkeit, mit eigenen Regeln und Politiken möglichen negativen Nebeneffekten der Globalisierung zu begegnen oder andere nationale Prioritäten zu verfolgen.“⁵ Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Einschätzungen ist es ei­ ne spannende Frage, welche Formen von Global Governance am besten geeignet sind, um eine politisch legitimierte Steuerung der globalen Prozesse zu gewährleisten. Der an der London School of Economics lehrende Philosoph David Held, der die Globalisierung im Kontext eines demokratietheoretischen Ansatzes analysiert, be­ trachtet sie trotz der negativen Dimensionen auch als Entwicklungschance (vgl. Held 2007). Dazu müsse die Globalisierung auf den Weg des Völkerrechts zurückgeführt werden, um so eine neue, auf den Prinzipien des Rechts, der Demokratie und der Gerechtigkeit basierende multilaterale Weltordnung zu begründen. Das bedeutet bei­ spielsweise, dass die wohlhabenden OECD-Länder Subventionen in der Agrarpolitik abbauen müssten, um Entwicklungsländern faire Chancen im Welthandel zu geben. Gestaltung der Globalisierung bedeute zudem eine Stärkung der internationalen Or­ ganisationen, um die Staaten zu koordiniertem Handeln zu veranlassen. Allerdings erfüllten die Vereinten Nationen ihre weltpolitische Aufgabe nicht vollständig, wes­ halb Held für einen neuen Weltvertragsentwurf (global covenant) eintritt, der auf globaler sozialer Demokratie beruht und den menschenrechtlichen Gedanken uni­ versalisiert. Der Institutionalisierungsprozess globaler Steuerung sollte dabei auf den Prinzipien der Gleichberechtigung basieren (vgl. Held 2007). Eine Folge der Globalisierung ist die zunehmende Mobilisierung von Protestbewe­ gungen, die international vernetzt und über Internet-Foren und soziale Netzwerke ver­ knüpft, gegen die großen internationalen Organisationen und die Auswirkungen der Globalisierung protestieren (vgl. Della Porta 2007). Zu den globalisierungskritischen Netzwerken gehört beispielsweise eine aus verschiedenen Gruppen gebildete Dachor­ ganisation Global Justice Movement⁶ sowie die im Jahr 1997 in Frankreich gegründete internationale NGO Attac, die inzwischen in vielen Ländern, so auch in Deutschland, über Mitgliederorganisationen verfügt. Nach eigenen Angaben hat Attac 90.000 Mit­ glieder in 50 Ländern (Angaben von 2018).⁷ Ursprünglich entstanden aus einem Netz­ werk, das die Besteuerung von Finanztransaktionen forderte, umfasst der Aktionska­ talog von Attac heute ein breites Spektrum. Neben der Kritik an der Globalisierung

5 Ghemawat, Pankaj: „Mythos und Realität der Globalisierung“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.07.2011, S. 10. 6 Vgl. http://www.globaljusticemovement.org (aufgerufen am 21.03.2018). 7 Vgl. http://www.attac.de/was-ist-attac/mitglieder (aufgerufen am 21.03.2018).

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werden auch Kampagnen gegen Privatisierungen, für eine aktive Klimapolitik, für die gerechte Verteilung von Gütern sowie für Anti-Kriegsthemen unterstützt. Im Kontext der zunehmenden Verflechtungen der Weltwirtschaft ist die Frage der ungleichen Verteilung von Lebenschancen und Ressourcen ein vordringliches politi­ sches Problem. Vorliegende Untersuchungen zeigen, dass die Globalisierung zu neu­ en Prozessen der Inklusion und Exklusion in den Gesellschaften führt und die Gefahr einer Gesellschaftsspaltung beinhaltet (vgl. z. B. Piketty 2014; Stiglitz 2013). Globali­ tät als Ziel wird es unter diesen Voraussetzungen kaum geben. Das Bild des „global village“ spiegelt daher nicht die Realität der Weltpolitik wider. Zutreffender ist es, von fragmentierter Globalität, d. h. einer fortschreitenden weltweiten Ungleichzeitigkeit bei zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeiten auszugehen.

2.1.2 Weltwirtschaft und Weltarmut: Probleme der Entwicklungspolitik Aufgrund geopolitischer, historischer und geografischer Bedingungen bestehen gro­ ße Unterschiede in der globalen Verteilung von Wohlstand und Wohlergehen unter der Weltbevölkerung. Es ist das erklärte Ziel der Entwicklungspolitik, die Effekte und Ursachen dieses Missverhältnisses zu bekämpfen. Unter Entwicklungspolitik versteht man in der Regel ein Bündel von Maßnahmen, die „[. . .] von Entwicklungsländern und Industrieländern eingesetzt und ergriffen werden, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer zu fördern, d. h. die Lebensbedingun­ gen der Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu verbessern“. (Nohlen 2002: 235). Hierzu zählt nicht nur die humanitäre Hilfe zur Linderung von Not, um das unmit­ telbare Überleben zu sichern, wie z. B. bei Hungerkatastrophen in Folge von Dürre, Flucht und Bürgerkriegen, sondern auch die auf langfristige Veränderungen angelegte Unterstützung zur Verbesserung von Lebenschancen durch Entwicklungszusammen­ arbeit. Die Entwicklungszusammenarbeit ist heute einer der Kernbereiche der Außen­ politik der Europäischen Union sowie ihrer Mitgliedsländer, einschließlich Deutsch­ lands. Sie beinhaltet nicht-kommerzielle Transferleistungen mit dem Ziel der Verbes­ serung der politischen, sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Partnerländern. Sowohl staatliche als auch nicht staatliche Organisationen, wie z. B. Kirchen oder internationale NGOs, können daran beteiligt sein. Als internationa­ les Politikfeld nimmt die Entwicklungspolitik in internationalen Organisationen, und hier vor allem in den Vereinten Nationen mit ihren Unterabteilungen und Sonderor­ ganisationen, eine zentrale Stellung ein. Die Entwicklungsländer sind in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hin­ sicht keine einheitliche Staatengruppe. Oft werden sie in Bezug auf wirtschaftliche, infrastrukturelle, soziale und/oder kulturelle „Rückstände“ im Vergleich zu den ent­ wickelten Industrieländern definiert; zugleich unterscheiden sie sich erheblich von­ einander. Der Begriff „Dritte Welt“ umfasste ursprünglich die rund 130, meist in der südlichen Hemisphäre gelegenen blockfreien Entwicklungsländer, aber seit es keine

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„Zweite Welt“ (Sowjetunion bzw. Ostblock) mehr gibt, und sich die „Dritte Welt“ im­ mer mehr ausdifferenziert hat, ist der Begriff analytisch wenig aussagekräftig, da er an Trennschärfe eingebüßt hat. Eine andere in der entwicklungspolitischen Diskussion übliche Unterscheidung differenziert Länder des „Nordens“ und Länder des „Südens“ und hebt damit auf postkoloniale Abhängigkeiten ab. Als „newly industrialized“ oder „Schwellenländer“ werden dagegen Länder wie Brasilien, China oder Singapur be­ zeichnet, die zwar Entwicklungsprobleme haben, aber zugleich steigenden Export und hohe Wachstumsraten aufweisen. Die ärmsten Länder mit hoher Armut und rückläufiger wirtschaftlicher Entwicklung werden als „least developed countries“ oder „Vierte Welt“ bezeichnet. Zu dieser Gruppe gehören 47 Länder der Welt.⁸ Für em­ pirische Untersuchungen und die Analyse von entwicklungspolitischen Strategien ist es sinnvoll, unterschiedliche Typen von Entwicklungsländern zu unterscheiden. Makroökonomische Wirtschaftsdaten und Angaben über das BIP (Bruttoinlands­ produkt) ermöglichen eine erste, allgemeine Klassifizierung der Länder der Welt. Ei­ ne Übersicht über die Länder nach rein wirtschaftlichen Kriterien bietet der jährlich erscheinende „Weltentwicklungsbericht“ der Weltbank, der eine Klassifizierung der Länder vornimmt. Die reichsten Staaten der Welt liegen danach nahezu alle im in­ dustrialisierten Norden, während die ärmsten Staaten vor allem in der südlichen He­ misphäre zu finden sind, wobei Afrika der Kontinent mit der größten Konzentration armer Staaten ist.⁹ Um ein genaueres Bild über die soziale Lage der Bevölkerung zu erhalten, welches gerade für die Entwicklungspolitik wichtig ist, wird in der entwicklungspolitischen Analyse heute auf weitere Indikatoren und Sozialdaten zurückgegriffen. Für ihren jährlich veröffentlichten Bericht über die menschliche Entwicklung – dem „Human Development Report“ – haben die Vereinten Nationen den „Human Development In­ dex“ (HDI) entwickelt, um die soziale Verfügbarkeit von gemeinschaftlichen Gütern für einen angemessenen Lebensstandard messbar zu machen.¹⁰ Der vom indischen Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen angeregte HDI beinhaltet neben der realen Kaufkraft pro Kopf auch Angaben über die Lebenserwartung bei der Geburt, die Alphabetisierungsquote bei Erwachsenen und die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs. Nach der Definition des Entwicklungsprogramms der Vereinten Natio­ nen soll der HDI angeben, inwieweit Menschen die Möglichkeit haben, ein langes, gesundes Leben zu führen, Bildung zu erhalten und Zugang zu Arbeit zu haben, Ein­ kommen und weitere wichtige Faktoren, die einen menschenwürdigen Lebensstan­ dard bedingen. Aus der Perspektive der Entwicklungsländer lässt er sich allerdings

8 Liste der Least Developed Countries online verfügbar unter: https://www.un.org/development/ desa/dpad/wp-content/uploads/sites/45/publication/ldc_list.pdf (Stand März 2018, aufgerufen am 28.03.2018). 9 Vgl. http://www.worldbank.org/en/about/annual-report (aufgerufen am 04.04.2018). 10 Vgl. „Human Development Report 2016. Development for Everyone“ http://hdr.undp.org/sites/ default/files/2016_human_development_report.pdf (aufgerufen am 19.03.2018).

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auch als „Deprivationsindex“ bezeichnen, da der HDI zum Ausdruck bringt, wie groß im internationalen Vergleich die Abweichung eines Landes von einem Maximalwert 1 ist. Darüber hinaus versucht ein spezieller „Gender Development Index“ (GDI) soziale Ungleichheiten zu erfassen, die auf der Geschlechterzugehörigkeit beruhen.¹¹ Insbe­ sondere die Benachteiligung von Frauen wird als Entwicklungshemmnis angesehen und steht daher im Zentrum von UN-Entwicklungsprogrammen. Der Gender Develop­ ment Index liefert einen ersten Zugriff auf geschlechtsspezifische Sozialdaten. Zuerst hatte eine während der internationalen UN-Frauenkonferenz in Nairobi 1985 ins Leben gerufene Forschungsgruppe die Benachteiligung von Frauen weltweit auf Basis von Länderberichten erforscht (vgl. Nelson/Chowdhury 1994). Später hatten auch Entwicklungsökonomen auf die negativen Folgen der Frauenbenachteiligung aufmerksam gemacht. Der Ökonom Amartya Sen zeigte beispielsweise eindrucksvoll auf, wie die ungleiche Stellung von Frauen und Mädchen in Indien gravierende Fol­ gen für das Land hat. So ist in einigen Regionen Asiens weiblicher Nachwuchs weniger „wert“ als männlicher Nachwuchs; Vernachlässigung, Mangelernährung oder gar Tö­ tung von Mädchen sind die Folgen dieser Ungleichbewertung. Sen hat beispielsweise berechnet, dass in den Entwicklungsländern 100 Millionen Frauen „fehlen“, die vor­ zeitig an den Folgen geschlechtsspezifischer Diskriminierungen gestorben sind (Sen 1990). So hat sich der Anteil der Frauen an der indischen Bevölkerung seit Anfang des 20. Jahrhunderts ständig verringert. Im Jahr 1901 kamen auf 1000 Männer 972 Frauen; 1991 waren es nur noch 929. Mangelnde Ernährung und schlechtere Gesundheitsver­ sorgung, die die Lebenserwartung von Mädchen und Frauen verringern, sowie geziel­ te „pränatale Selektionen“ werden als Ursachen dieser Problematik angeführt. Damit werde, so Sen, ein Humankapital vernichtet, das die Entwicklung dieser Länder vor­ anbringen und die Lebensqualität insgesamt verbessern könnte, da es in der Regel den Frauen obliegt, Sprach- und Bildungskompetenzen, Hygiene und Ernährungswis­ sen an die nächste Generation weiterzugeben und das soziale Netz zu fördern – alles Faktoren, die für die wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung sind. Weltweit, so Sen, sei die Verbesserung der Stellung junger Frauen in der Gesellschaft eine zentrale Herausforderung, um Wohlstand und Entwicklung zu fördern (vgl. Sen 2010). Ähn­ liche Formen der Benachteiligung in der Verteilung von Haushaltsressourcen gibt es in Bangladesh, Nepal, Pakistan, im gesamten Nahen Osten sowie Nordafrika und in Gebieten südlich der Sahara. Neben den ökonomischen Folgewirkungen werfen diese Probleme auch menschenrechtliche Fragen auf. Über die Ursachen von Unterentwicklung liegen verschiedene theoretische An­ nahmen vor. Dementsprechend sind aus den jeweiligen theoretischen Perspektiven unterschiedliche Strategien zur Überwindung der Entwicklungsprobleme abgeleitet worden. Die wichtigsten sind:

11 Vgl. http://hdr.undp.org/en/content/gender-development-index-gdi (aufgerufen am 19.03.2018).

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1. Modernisierungs- und Industrialisierungsstrategien: Sie basieren auf Moderni­ sierungstheorien, die einen Gegensatz zwischen modernen (dynamischen) und tra­ ditionalen (statischen) Gesellschaften hypostasieren (Vertreter z. B. Dankwart Ros­ tow; Samuel Huntington). Modernisierungstheorien waren zunächst an einem klas­ sischen Wachstumsbegriff orientiert, der eine rasche Entwicklung der industriellen Basis als Voraussetzung für Fortschritt und Modernisierung betrachtete. Armut und Unterentwicklung wurden als Entwicklungsrückstand im Vergleich zu den Industrie­ ländern verstanden. Auftretende Probleme bei der Modernisierung wurden auf endo­ gene Ursachen, wie Korruption und Misswirtschaft in den Ländern, zurückgeführt. Zur Überwindung des Entwicklungsrückstands empfahl die Modernisierungstheorie eine Nachahmung des Entwicklungsweges der westlichen Länder. Entwicklungshilfe sollte den Aufbau moderner Industrien befördern und dafür Kapital und Know-how zur Verfügung stellen, um damit schrittweise zur allgemeinen Verbesserung des Le­ bensstandards der Bevölkerung beizutragen. Diese Form der Entwicklungsstrategie erwies sich allerdings nur für wenige Län­ der als zielführend. Als Erfolgsbeispiele können die kleinen asiatischen „Tigerstaaten“ (Singapur, Hongkong, Taiwan, Südkorea) gelten. Deren wirtschaftlicher Aufschwung fand allerdings unter den Bedingungen von autoritären politischen Regimen statt, eine Rahmenbedingung, deren Nachahmung als allgemeine politische Strategie in­ zwischen, vor allem in den westlichen Ländern, als problematisch gilt. Dagegen zeigt die prekäre Entwicklung vor allem in Afrika, aber auch in Teilen Süd- und Mittelame­ rikas, dass die universelle Anwendbarkeit der klassischen Modernisierungsstrategie „Entwicklung durch Wachstum“ wenig Erfolg versprechend ist. Die Entwicklungspo­ litik ist heute von diesen linearen Wachstums- und Industrialisierungsstrategien ab­ gerückt. Sie geht stärker auf die spezifischen regionalen, sozialen und kulturellen Be­ dingungen ein und sie verknüpft Entwicklungshilfe mit Zielen der Nachhaltigkeit und Friedensförderung. 2. Dependenz-Theorien, Post-Kolonialismus und Neokolonialismus: Als Ursache von Entwicklungsrückständen wird in den Dependenztheorien die strukturelle Ab­ hängigkeit der Länder des Südens vom kapitalistischen Weltmarkt angesehen. Die Hauptursachen von Entwicklungsproblemen liegen damit nicht in den Ländern selbst, sondern in einem ungerechten Welthandels- und Wirtschaftssystem (exo­ gene Ursachen). Die historisch entstandene weltwirtschaftliche Arbeitsteilung (Zen­ trum-Peripherie) hat nach dieser Auffassung nicht nur zum Entwicklungsrückstand, sondern auch zur Bevormundung der Entwicklungsländer geführt. Daher kann die Unterentwicklung nur durch eine grundlegende Veränderung des Weltwirtschafts­ systems, mittelfristig durch eine eigeninteressengeleitete („autozentrische“) Entwick­ lung überwunden werden (Vertreter sind z. B. Johan Galtung, Hartmut Elsenhans, Dieter Senghaas). Eine interessante wissenschaftliche Annäherung an die Dependenzen der Län­ der des Südens von früheren Kolonialmächten bietet darüber hinaus der Post-Kolonia­ lismus. Hier handelt es sich um eine vielschichtige Literatur zur Erklärung von wirt­

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schaftlichen, sozialen und kulturellen Abhängigkeiten, die historisch aus der struk­ turellen Verknüpfung der westlichen Welt mit den Ländern Afrikas, des Nahen und Mittleren Ostens sowie Asiens durch den Kolonialismus entstanden sind und bis heu­ te in der Perzeption dieser Länder nachwirken. Wegbereitend für diese Sichtweise auf die internationalen Beziehungen ist die Arbeit von Edward Said mit seinen Untersu­ chungen über den Nahen Osten und die These des „Orientalismus“ (vgl. Said 1978). Post-koloniale Ansätze sind heute nicht nur in der Kulturtheorie und den Literatur­ wissenschaften, sondern in vielen sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen, so auch in den internationalen Beziehungen, verbreitet und beschreiben eine bestimmte Sichtweise bzw. Deutung durch die post-kolonialen Länder, die aus ihrer Geschichte abgeleitet werden. Der in der Literatur verwendete Begriff des Neokolonialismus beschreibt die Be­ strebungen von Unternehmen und Regierungen der wohlhabenden Länder, Kontrolle über die Ressourcen und die Finanz- und Warenmärkte ärmerer Länder zum eigenen Vorteil zu sichern. Vor allem die für Handelsbeziehungen zuständige Welthandelsor­ ganisation WTO, der Internationale Währungsfond IWF und die für Kreditvergabe zu­ ständige Weltbank geraten hier in die Kritik (vgl. z. B. Chomsky 2017). Die Vorwürfe an IWF und Weltbank beziehen sich auf die Behauptung, dass Länder von diesen Orga­ nisationen dazu gezwungen würden, Maßnahmen zu ergreifen, die vor allem den In­ teressen der reichen Staaten entsprechen, aber wenig Rücksicht auf die Entwicklung der betroffenen Länder nehmen – oft mit dem Ergebnis, dass die Armut der Bevöl­ kerung sogar noch zunimmt. Darüber hinaus würden international agierende Firmen die niedrigen Löhne und geringeren Sozialstandards ausnutzen und häufig auch gro­ ßen ökologischen Schaden anrichten. Als Beispiele gelten die einseitig profitorientier­ te Erdölförderung in Nigeria, die rücksichtslose Abholzung von tropischen Wäldern in der Amazonas-Region, um Edelhölzer zu gewinnen, die rasante Förderung von Bo­ denschätzen ohne Rücksicht auf menschliche Sicherheit in Russland und China sowie die Lagerung von Giftmüll in armen Ländern des Südens. Neokolonialismus bedeutet, dass die Entwicklungsländer als Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohmateriali­ en benutzt werden, während gleichzeitig eine nachhaltige Entwicklung und der Zu­ gang zu modernen Technologien und Produktionsmethoden verhindert werden. Nur weitreichende strukturelle Veränderungen und letztlich die Ablösung des profitorien­ tierten kapitalistischen Wirtschaftssystems könnten die Entwicklungsprobleme besei­ tigen. 3. Grundbedürfnisstrategie: Kritik an überkommenen Wachstumsvorstellungen und am Fortschrittsbegriff der Industrieländer hat in den entwicklungspolitischen Institutionen wie der Weltbank bereits in den 1970er-Jahren einen Paradigmenwech­ sel in der Entwicklungspolitik eingeleitet. Die Annahme war, dass eine Befriedigung von Grundbedürfnissen schließlich auch Wachstum zur Folge habe würde. Mit der Grundbedürfnisstrategie sollte zunächst die Sicherung des Überlebens im Vorder­ grund stehen, d. h. eine an materiellen Grundbedürfnissen (basic needs) orientierte Unterstützung, die neben physischem Überleben ein Mindestmaß an ärztlicher und

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sozialer Versorgung sicherstellt sowie in einem zweiten Schritt immaterielle, quali­ tative Bedürfnisse wie Bildung, Arbeit und kulturelle Selbstbestimmung befriedigt. Die Grundbedürfnisstrategie, die sich in den 1980er-Jahren als Entwicklungskonzept zunehmend durchsetzte, wurde beispielsweise von der Weltbank in verschiedenen Aktionsprogrammen, wie „Nahrung für alle“ (Welternährungsprogramm), „Gesund­ heit für alle“ (WHO) und „Bildung für alle“ (UNESCO) in der internationalen Ent­ wicklungszusammenarbeit eingesetzt. Sie ist vor allem an die ärmsten Länder bzw. Bevölkerungsgruppen gerichtet. 4. Leitbild nachhaltige und zukunftssichernde Entwicklung: Angesichts der immer noch prekären Situation in den ärmsten Ländern der Welt hat sich in der Entwick­ lungszusammenarbeit der internationalen Organisationen sowie unter dem Druck von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ein neues Leitbild durchgesetzt, das dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) folgt. Die Idee einer nachhaltigen Entwicklung wurde erstmalig während der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 vorgestellt. Mit der Beendigung der Millenniums-Entwicklungsziele im Jahr 2015 wurde das Leitbild der Nachhaltigkeit in der Entwicklungspolitik dann zum Ankerprinzip für die Entwicklungsprogramme der UN. Im Wesentlichen geht es beim Leitbild der Nachhaltigkeit darum, das Wirtschaf­ ten den räumlichen und wirtschaftlichen Strukturen und den kulturellen Vorausset­ zungen anzupassen und auf eine dauerhafte und zukunftsträchtige Basis zu stellen. Entwicklung bedeutet demnach eine effiziente Nutzung vorhandener lokaler Poten­ ziale zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse unter Erhaltung des ökologi­ schen Systems. Durch eine nachhaltige Entwicklungspolitik soll die Bevölkerung in den Entwicklungsländern in die Lage versetzt werden, eigenständig die Lebensbedingun­ gen zu verbessern, ohne von westlichen Ländern oder von Großprojekten der Moder­ nisierung abhängig zu werden. Viele Projekte orientieren sich dabei am Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe, wobei ökonomische und ökologische Aspekte in Einklang ge­ bracht werden sollen. Ein Beispiel hierfür bieten Konzepte zur nachhaltigen Nutzung der Regenwälder in Lateinamerika: Ein neuartiges Nutzungs- und Vermarktungskon­ zept für Wald- und Holzprodukte (Teakholz, Nüsse etc.), welches sowohl ökologische Verträglichkeit als auch das wirtschaftliche Interesse der Waldanrainer berücksich­ tigt, sucht die Bodenrodung dieser Wälder zu verhindern. Damit soll es ermöglicht werden, das Grundbedürfnis der Einwohner dieser Regionen nach einem Subsistenz sichernden Einkommen mit Umweltprinzipien zu vereinbaren. Ähnliches gilt für Pro­ jekte im Tourismusbereich. So hat sich im Wiederaufbau Ruandas beispielsweise be­ währt, die Interessen der Einwohner an wirtschaftlicher Entwicklung mit dem Inter­ esse von Touristen, die landschaftlich reizvollen Gebiete des Landes zu besuchen, zu­ sammenzubringen, indem ein Teil der durch den Tourismus eingenommenen Mittel an die Landbevölkerung weitergegeben wird. Auf ähnliche Weise wird in Namibia ver­ sucht, den Tourismus mit ökologischen und regionalwirtschaftlichen Interessen in Einklang zu bringen.

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Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick­ lung orientiert sich an den von den UN vorgegebenen Zielen der Nachhaltigkeit. Es legt regelmäßig Berichte und Expertisen vor, die sich mit unterschiedlichen Zielen der globalen Entwicklung befassen und verknüpft dabei verschiedene Anforderun­ gen. Ein Beispiel ist das 2018 veröffentlichte Strategiepapier zur Wasserversorgung. Angesichts weltweit steigender Nachfrage nach Süßwasser, Energie und Nahrungs­ mitteln aufgrund von Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Wirtschaftswachstum, internationalem Handel und Klimawandel fordert der Bericht eine neue Strategie.¹² Um dem Problem des Zugangs zu sauberem Wasser und der knappen Ressource Was­ ser zu begegnen, sei eine „Querbezugsstrategie“ nötig, die diese verschiedenen Anfor­ derungen miteinander in Verbindung bringt und so entwicklungspolitisch nachhalti­ ger fördern kann. Für die ärmeren Länder muss nach Auffassung von UN-Entwicklungsorganisa­ tionen vor allem die administrative Infrastruktur verbessert werden, denn nach Auffassung der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations bzw. Welt­ ernährungsorganisation) liegt das Problem von Hunger und Unterernährung weniger in absolut fehlenden Nahrungsmitteln, sondern ergibt sich aus den Folgen des feh­ lenden Zugangs zu den Nahrungsmitteln. Hauptaufgabe der internationalen Entwick­ lungspolitik wäre demnach, die Verteilung der lebensnotwendigen Güter auf verschie­ denen Ebenen zu verbessern. Die Tendenz, Entwicklungshilfe den Handelsbeziehun­ gen unterzuordnen und sie nicht am Bedarf, sondern an der wirtschaftspolitischen Bedeutung einer Region oder eines Landes zu orientieren, wird dabei als problema­ tisch angesehen, insbesondere wenn Entwicklungshilfe und Kreditvergabe an rigide Auflagen geknüpft werden. Daher sind neben Good Governance auch Umschuldun­ gen und gerechtere Handelsbeziehungen, beispielsweise durch den Abbau des Protek­ tionismus und der Subventionspolitik der Industrieländer, wichtige Bausteine dieser Strategie. 5. Gender-Strategien: In der Entwicklungspolitik internationaler Organisationen wird der Gleichstellung von Frauen eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Wie der Be­ richt der Weltbank 2012 „Gender Equality and Development“ beispielsweise bereits feststellte: „Gender equality matters for development.“¹³ Eine rigide Geschlechtsrol­ lenzuschreibung, soziale Benachteiligungen sowie fehlende Bildung von Mädchen und Frauen gelten als gravierende Entwicklungshemmnisse. Nach Angaben der Ver­ einten Nationen leisten Frauen weltweit zwei Drittel der Arbeit, verdienen jedoch ins­ gesamt lediglich ein Zehntel des globalen Einkommens und besitzen nur ein Prozent des Grund und Bodens; darüber hinaus sind Frauen unter den Flüchtlingen und den von Armut Betroffenen weltweit eine Mehrheit. Wie Forscherinnen kritisieren, hätten

12 https://www.bmz.de/de/mediathek/publikationen/reihen/strategiepapiere/Strategiepapier430_ 01_2018.pdf (aufgerufen am 19.03.2018). 13 „Gender Equality and Development. World Development Report 2012“, https://openknowledge. worldbank.org/handle/10986/4391 (aufgerufen am 04.07.2018).

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herkömmliche Modernisierungsprogramme und vor allem Strukturanpassungskon­ zepte von Geberorganisationen die Situation von Frauen in den 1980er- und 1990erJahren zudem weiter verschlechtert (vgl. Nelson/Chowdhury 1994: 6). Die Strukturan­ passungen führten dazu, dass die meist hauswirtschaftlich organisierten Tätigkeiten der Frauen abgewertet und demgegenüber die marktgebundene, meist männlich do­ minierte Arbeit aufgewertet wurde. Auch die Tatsache, dass Geldgeber von internatio­ nalen Organisationen, wie dem Internationalen Währungsfond (IWF) zunächst von der Kategorie des „männlichen Haushaltungsvorstands“ ausgingen, obwohl in den meisten Entwicklungsländern in der Regel Frauen die Haupternährerinnen der Fami­ lien sind, stellte ein Problem dar. Besonders in Subsistenzwirtschaften lastet die Ver­ antwortung für die Beschaffung von Lebensmitteln und anderen für den Haushaltsbe­ darf notwendigen Gütern hauptsächlich auf den Frauen, wobei die ihnen zugeteilten Arbeiten, wie Wasser holen, oft viel zeitaufwendiger sind als die der Männer. Frauen­ rechtlerinnen und Aktivistinnen kritisierten diese vorherrschende „männliche“ Sicht­ weise der Entwicklungspolitik und forderten geschlechtersensible nachhaltige Strate­ gien ein. Heute spielt Gender in allen UN-Organisationen eine zentrale Rolle; dies gilt sowohl für die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik als auch für andere Bereiche, wie Peacekeeping, Sicherheits- und Umweltpolitik. Mithilfe der Gender-Strategien können die arbeitsteiligen Strukturen und die dar­ an geknüpften Machtverhältnisse, die einer gesamtgesellschaftlich nützlichen und ökonomischen Ressourcenverteilung entgegenstehen, auf Basis von geschlechtersen­ siblen Analysen offengelegt und Maßnahmen zur Veränderung konzipiert werden. Ein Kernbegriff dieser Strategien ist Empowerment, die Förderung von Selbstständigkeit, die darauf abzielt, Frauen in die Lage zu versetzen, eigenständig die Lebensbedingun­ gen zu sichern, wirtschaftlich erfolgreiche Konzepte umzusetzen und gesellschaftlich mehr Einfluss zu erlangen. Im Bereich der Gender-Strategien ist daher beispielswei­ se die Mikrofinanzierung, d. h. die Vergabe von Kleinstkrediten an Frauen, wichtig, denn es mangelt nicht an Ideen oder dem Willen etwas zu verbessern, sondern es feh­ len häufig Finanzierungsmöglichkeiten, um Investitionen zu tätigen. So wird heute in der Entwicklungspolitik vermehrt auf die Direkthilfe an Frauen in den ärmsten Ländern gesetzt. Diese muss nicht zwangsläufig von den UN geleistet werden; auch Stiftungen und private Initiativen können eine Rolle spielen. Als Bei­ spiel ist hier die „Grameen“-Bank in Asien zu nennen: Seit 1983 vergibt sie Klein- und Kleinstkredite vor allem an Frauen im ländlichen Bangladesh, um ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit zu unterstützen. Rund 6,6 Millionen Menschen erhielten ein Darle­ hen für Projektfinanzierungen, oft nur in geringer Höhe von etwa 30 Euro, wobei die Rückzahlungsquote sehr hoch ist. Für sein Engagement bei der Vergabe von Mikro­ krediten an Frauen erhielt der Gründer der „Grameen“-Bank, Muhammad Yunus, im Jahr 2006 den Nobelpreis. Die Idee des „social business“, einer an den Bedürfnissen von Zielgruppen orientierten Kreditvergabe hat inzwischen auch in anderen Regio­ nen, z. B. in Lateinamerika, Unterstützer gefunden. Selbst in Europa hat diese Kon­

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zeption als Alternative zum gewinnorientierten Wirtschaften von Banken und Groß­ unternehmen ihre Anhänger. Die Entwicklungspolitik ist ein Kernbereich der Aktivitäten der Vereinten Natio­ nen. Welche konzeptionellen Vorstellungen werden im Entwicklungsprogramm ver­ treten und wie werden sie umgesetzt? Hier ist zunächst das Prinzip von Good Gover­ nance zu nennen. Es beinhaltet, dass nicht nur humanitäre und wirtschaftliche Hilfe geleistet wird, sondern der Aufbau guter Regierungsführung unterstützt werden soll. Dieses Konzept liegt auch dem Cotonou-Abkommen (2000) zugrunde, das die Ent­ wicklungszusammenarbeit der Europäischen Union mit den ACP-Staaten (African, Ca­ ribbean and Pacific Island Nations) regelt. Alle fünf Jahre soll über einen Zeitraum von 20 Jahren über den Fortschritt im Bereich einer guten Regierungsführung in den Ent­ wicklungsländern berichtet werden; das Cotonou Abkommen läuft 2020 aus und wird derzeit auf Basis der UN-Agenda 2030 neu verhandelt. Dabei legt die EU Wert darauf, dass nicht nur die Regierungen der Entwicklungsländer, sondern auch NGOs vor Ort in die Entwicklungszusammenarbeit einbezogen sind. Dieser Grundsatz findet nicht nur deshalb Anwendung, weil die Effizienz der Mittelvergabe an politische Eliten als problematisch angesehen wurde, sondern auch weil es in vielen Entwicklungsländern an funktionierenden staatlichen Strukturen mangelt und wirksame Zusammenarbeit effektiver über NGOs geleistet werden kann. Während der Amtszeit (1997–2006) von Kofi Annan wurden dann die Millenniums­ ziele der Vereinten Nationen vereinbart, an denen sich die entwicklungspolitischen Maßnahmen der UN orientieren sollten. Während der 55. UN-Generalversammlung im September 2000 („Millenniums-Gipfel“) veröffentlichten die Vereinten Nationen einen erschreckenden Bericht zur Weltarmut: Zu diesem Zeitpunkt lebten über eine Milliarde Menschen in absoluter Armut. Damit musste jeder fünfte Mensch auf der Welt mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Vor diesem Hintergrund ver­ abschiedeten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine Millenniumserklärung mit dem Ziel, Armut und Unterentwicklung zu verringern. Die von den Vereinten Na­ tionen verabschiedete Millenniumserklärung (2000) enthält einen Katalog grundsätz­ licher, verpflichtender Zielsetzungen für alle UN-Mitgliedsstaaten.¹⁴ Bis 2015 sollten acht Millenniumsziele (Millennium Development Goals MDG) erreicht werden: 1. Armut und Hunger: Die Zahl der Menschen, die an Hunger leiden, und die Zahl der Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben, soll halbiert werden. 2. Bildung: Alle Kinder auf der Welt sollen die Möglichkeit haben, eine Grundschule zu besuchen. 3. Geschlechtergerechtigkeit: Das Geschlechtergefälle zwischen Jungen und Mäd­ chen auf Grund- und Sekundarschulen soll ausgeglichen werden.

14 http://www.un.org/millenniumgoals/ (aufgerufen am 19.03.2018).

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4. Kindersterblichkeit: Die Anzahl der Kinder, die vor ihrem 5. Lebensjahr sterben, soll um zwei Drittel gesenkt werden. 5. Müttersterblichkeit: Die Müttersterblichkeit soll um drei Viertel gesenkt werden. 6. Krankheiten: Die Ausbreitung von AIDS/HIV, Malaria und anderen ansteckenden Erkrankungen soll gestoppt und der Trend allmählich umgekehrt werden. 7. Nachhaltigkeit: Der Verlust von Umweltressourcen soll umgekehrt werden, die Anzahl der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitä­ ren Einrichtungen haben, halbiert werden. Die Lebensbedingungen von 100 Mil­ lionen Slum-Bewohnerinnen und -bewohnern sollen deutlich verbessert werden. 8. Aufbau einer Entwicklungspartnerschaft: Unter anderem sollen ein diskriminie­ rungsfreies Handels- und Finanzsystem eingerichtet und gute Regierungsführung befördert werden. Jährlich berichteten die Vereinten Nationen über die Umsetzung der Millenniumszie­ le.¹⁵ Dabei wurden sowohl gravierende Probleme in der Entwicklung als auch Fort­ schritte notiert. So stellte der UN-Bericht zu den Milleniumszielen 2010 fest, dass die Armutsquote zwischen 1990 und 2005 zwar von 46 auf 27 Prozent gesunken sei, aber immer noch 1,4 Milliarden Menschen in absoluter Armut lebten. 42 Millionen Men­ schen seien durch Konflikte und Vertreibungen auf der Flucht, vier Fünftel davon in den Entwicklungsländern. Die Zahl der Unterernährten steige weiter und ein Viertel aller Kinder weltweit seien unterernährt. Schleppende Fortschritte seien im Bereich der Gleichstellung von Frauen zu verzeichnen. Der Bericht gibt auch an, dass über ei­ ne Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und mehr als doppelt so viele keine Möglichkeit haben, sanitäre Anlagen zu nutzen. Zugleich sind die Chancen, sich an gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Prozessen zu beteiligen, für diese Menschen besonders gering.¹⁶ Einige Fortschritte seien dagegen in der Bekämpfung von AIDS/HIV und Malaria zu verzeichnen, so der Bericht, doch gerade die Ausbreitung von Epidemien schränke die Entwicklungsperspektiven be­ sonders in afrikanischen Ländern empfindlich ein; die Lebenserwartung habe sich aufgrund der Immunschwäche HIV teilweise um mehr als zehn Jahre verkürzt. Trotz der Fortschritte waren im Jahr 2015 immer noch 36,7 Millionen Menschen HIV-positiv; allerdings konnten 20,9 Millionen durch medikamentöse Therapien behandelt wer­ den. Trotz der Probleme zieht der Bericht zu den Millenniumszielen 2015 insgesamt eine positive Bilanz. Insbesondere habe sich die weltweite Armut deutlich verringert; sie sei um mehr als die Hälfte gesunken. Im Einzelnen hebt der Bericht hervor:

15 Vgl. z. B. http://unstats.un.org/unsd/mdg/Resources/Static/Products/Progress2014/English2014. pdf (aufgerufen am 19.03.2018). 16 „Tremendous progress against AIDS over past 15 years has inspired a global community to end the epidemic by 2030.“ Vgl. http://www.unaids.org/en/ (aufgerufen am 19.03.2018).

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Tab. 2.2: Fortschritte durch die Millennium Development Goals 2015. – The number of people now living in extreme poverty has declined by more than half, falling from 1.9 billion in 1990 to 836 million in 2015. – The number of people in the working middle class—living on more than $ 4 a day—nearly tripled between 1991 and 2015. – The proportion of undernourished people in the developing regions dropped by almost half since 1990. – The number of out-of-school children of primary school age worldwide fell by almost half, to an estimated 57 million in 2015, down from 100 million in 2000. – Gender parity in primary school has been achieved in the majority of countries. – The mortality rate of children under-five was cut by more than half since 1990. – Since 1990, maternal mortality fell by 45 percent worldwide. – Over 6.2 million malaria deaths have been averted between 2000 and 2015. – New HIV infections fell by approximately 40 percent between 2000 and 2013. – By June 2014, 13.6 million people living with HIV were receiving antiretroviral therapy (ART) glob­ ally, an immense increase from just 800,000 in 2003. – Between 2000 and 2013, tuberculosis prevention, diagnosis and treatment interventions saved an estimated 37 million lives. – Worldwide 2.1 billion people have gained access to improved sanitation. – Globally, 147 countries have met the MDG drinking water target, 95 countries have met the MDG sanitation target and 77 countries have met both. – Official development assistance from developed countries increased 66 percent in real terms from 2000 and 2014, reaching $ 135.2 billion. Quelle: http://www.undp.org/content/undp/en/home/librarypage/mdg/the-millenniumdevelopment-goals-report-2015.html (aufgerufen am 20.03.2018).

Aufbauend auf die Millenniumsziele verabschiedeten die UN im Jahr 2015 ein neu­ es Programm zur Reduzierung von Armut und zur Verbesserung der Lebensverhältnis­ se in den ärmeren Ländern, in welchem das Konzept der Nachhaltigkeit im Zentrum steht. Damit wird in den Vereinten Nationen ebenso wie in der Entwicklungszusam­ menarbeit der UN-Mitgliedsländer eine neue Agenda verfolgt, die die verschiedenen Ziele der Entwicklungspolitik in einen engeren Zusammenhang zueinander bringt, in­ dem zum Beispiel die Entwicklung auch friedenspolitische Ziele mit einbezieht oder der Zugang zu sauberem Wasser mit ökologischen Anforderungen verknüpft wird. In den Zielen des UN-Entwicklungsprogramms der UNDP (United Nations Development Program) heißt es: „The Sustainable Development Goals (SDGs), otherwise known as the Global Goals, are a universal call to action to end poverty, protect the planet and ensure that all people enjoy peace and prosperity.“¹⁷ Während des UN-Gipfels in Rio de Janeiro 1993 erklärten die Industrieländer als Ziel, 0,7 Prozent des jeweiligen Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungshilfe

17 Vgl. http://www.undp.org/content/undp/en/home/sustainable-development-goals.html (aufge­ rufen am 20.03.2018).

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ausgeben zu wollen. Dennoch sind die öffentlichen Ausgaben für die Entwicklungs­ hilfe kontinuierlich gesunken, trotz gegenteiliger Versicherungen von Politikern. Statt der avisierten 0,7 Prozent beträgt sie im Durchschnitt 0,32 Prozent am BSP der OECDLänder (Stand: 2016).¹⁸ Sie ist am höchsten in Norwegen mit 1,1 Prozent und am nied­ rigsten in der Slowakei mit 0,12 Prozent; die USA liegt mit rund 0,18 Prozent auf dem vorletzten Platz (Deutschland 0,7 Prozent). Der geringe Anteil der Entwicklungshilfe ist allerdings nur ein Problem der weltweiten Bemühungen, Armut abzubauen. Vie­ le Länder und Hilfsorganisationen betonen vielmehr die Notwendigkeit, Good Gov­ ernance zu unterstützen und damit einen Kapazitätsaufbau politischer und sozialer Infrastruktur zu fördern. Allerdings wird Good Governance nicht von allen Ländern gleichermaßen verfolgt. So gibt China beispielsweise großzügige Aufbau- und Infra­ strukturhilfen, ohne sie an Bedingungen wie Good Governance zu knüpfen; vor allem Entwicklungsländer mit autokratischen Regierungen begrüßen diese bedingslosen fi­ nanziellen Zuwendungen. Von einigen marktkritischen Theoretikern wird inzwischen die Entwicklungshilfe auch völlig abgelehnt, da sie die Abhängigkeit der Entwick­ lungsländer von den Industrieländern vertiefen würde, statt sie abzubauen. Kriegerische Konflikte und der Zerfall von Staaten, steigender Migrationsdruck aufgrund von Klimaveränderungen, Korruption und Ausbeutung sowie die Ausbrei­ tung von schwer einzudämmenden Krankheiten, wie AIDS und Malaria, sind nur ei­ nige Probleme, die nach wie vor die Situation in Entwicklungsländern prägen. In der neueren Literatur wird daher dem Phänomen der zerfallenden bzw. versagenden postkolonialen Staaten (failing states und failed states) besondere Aufmerksamkeit gewid­ met, denn ohne leistungsfähige und stabile staatliche Institutionen wird langfristig auch Entwicklungspolitik erfolglos bleiben.

2.1.3 Grenzen des Wachstums: Internationale Umwelt- und Klimapolitik Es entspricht heute einem weitgehenden wissenschaftlichen Konsens, dass anthropo­ gene, also von Menschen erzeugte, Veränderungen für die besorgniserregenden Ent­ wicklungen des Weltklimas verantwortlich sind. Umwelt- und Klimapolitik werden da­ her heute immer mehr als grenzüberschreitende, globale Aufgaben begriffen. Obwohl die Regierungen verschiedener Länder durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die politische Steuerung und Einflussnahme im Bereich des internationalen Umweltund Klimaschutzes vertreten, sind inzwischen etliche Abkommen geschlossen und Übereinkünfte erzielt worden. Internationale Normbildung und Verrechtlichung ha­ ben gerade im Umwelt- und Klimaschutzbereich eine hohe Verdichtung erfahren. Die Brisanz der Umwelt-Thematik ergibt sich daraus, dass die natürlichen Res­ sourcen der Erde, insbesondere Wasser, Boden und natürliche Rohstoffe, begrenzt

18 http://www2.compareyourcountry.org/oda?cr=oecd&lg=de (aufgerufen am 14.04.2018).

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sind, während die menschlichen Bedürfnisse, nicht zuletzt angesichts der weiter an­ wachsenden Weltbevölkerung, ständig zunehmen und unbegrenzt erscheinen. Wis­ senschaftliche Erkenntnisse über die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen haben daher zu einem Paradigmenwechsel in Politik und Wissenschaft geführt. Klimawan­ del und wachsende Bedrohungen durch Naturkatastrophen, Energieknappheit und der Kampf um Wasser sind ernsthafte Herausforderungen für das 21. Jahrhundert, die nicht mehr im Rahmen von individuellen nationalstaatlichen Ansätzen reguliert werden können. Auch das Wachstumsmodell der Industriegesellschaften wird immer stärker in Zweifel gezogen. Neben dem Konzept der Nachhaltigkeit wird die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen in der internationalen Politik zunehmend als kol­ lektives Gut angesehen. Wichtiges Ziel für einen wirksamen internationalen Klimaund Umweltschutz besteht heute dabei in einer globalen Umstellung von einer mit fos­ silen Brennstoffen betriebenen Industrialisierung auf eine nachhaltige Entwicklung. Diese Dekarbonisierung mit einem neuen Wachstumskonzept beruht auf erneuerba­ ren Energien und einer erheblich effizienteren Nutzung von Rohstoffen. Die internationale Umweltpolitik hat inzwischen durch internationale Abkommen sowie Norm- und Regelsysteme im Rahmen der Vereinten Nationen, eine hohe Priori­ tät erlangt. Auch in der Europäischen Union spielt die Umwelt- und Klimapolitik eine wichtige Rolle. Ziel ist es, die Gemeinschaftsgüter (collective goods), wie Boden und landwirtschaftliche Ressourcen, sauberes Wasser und saubere Luft auch für zukünf­ tige Generation sichern und schützen zu können. Den verschiedenen Strategien in der internationalen Umweltpolitik liegt eine Kri­ tik von herkömmlichen Wachstums- und Fortschrittsauffassungen zugrunde. Der „Club of Rome“, eine Gruppe kritischer Wissenschaftler, hatte bereits Anfang der 1970erJahre mit der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) ein Umdenken gefordert. Sie hinterfragte den grenzenlosen Wachstumsbegriff und forderte im Interesse einer ausgewogenen Humanökologie zur Umkehr auf. Ein Wandel in Kerngebieten der Na­ turwissenschaft, besonders in der Biologie, sowie in Teilen der Wirtschaftswissen­ schaft, führte zu einer Umorientierung. Wachstum wurde nicht länger idealtypisch als linearer, prinzipiell unbegrenzter Prozess begriffen, sondern der neue Begriff trug den komplexen Beziehungen zwischen Menschen und der Natur Rechnung und ging von einer an der Begrenztheit der Ressourcen orientierten Entwicklungslogik aus. Da­ bei wurde die Umweltproblematik zuerst im nationalen Rahmen von Bürgerinitiativen und Umweltgruppen auf die Agenda der Politik gebracht, um dann auch im Rahmen der internationalen Politik wirksam zu werden. Die Entwicklung des internationalen und europäischen Umweltschutzes wurde zum einen durch ein dichtes transnationa­ les Netz von Experten, Klimaforschern und Umweltaktivisten befördert; zum anderen räumten immer mehr Länder dem Umweltschutz höchste politische Priorität ein. Globale ökologische Probleme, wie die besorgniserregende Erwärmung der Erd­ atmosphäre („Treibhauseffekt“), die Veränderungen im Ozon-Schutzmantel, die Ver­ schmutzung der Weltmeere und die Versteppung von weiten Regionen in Sub-Sahara Afrika, haben der Umweltdiskussion in den vergangenen Jahrzehnten höchste Aktua­

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lität verliehen. War der Beginn der Ökologiebewegung zunächst regional angelegt und auf einzelne Länder beschränkt, so ist die Umweltfrage heute ein zentrales Thema internationaler politischer Abkommen, Normbildungen und grenzüberschreitender Forschung. Nach Auffassung von Politikwissenschaftlern war bereits Mitte der 1990erJahre eine deutliche politische Veränderung spürbar. „Es gibt kein anderes Politikthe­ ma, das im weltweiten Ausmaß binnen so kurzer Zeit eine so expansive und dauerhaf­ te Karriere im politischen System, in Wirtschaft und Gesellschaft gemacht hat“, stellen zwei Umweltpolitikforscher fest (Jänicke/Weidner 1997: 15). Die Entwicklung der internationalen Umweltpolitik setzte mit der 1972 von den Ver­ einten Nationen durchgeführten Konferenz über die menschliche Umwelt und Ent­ wicklung in Stockholm ein. Wichtige Ergebnisse dieser Konferenz waren zum einen die Gründung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) und zum an­ deren die Berücksichtigung der Umweltproblematik in anderen UN-Organisationen. Politische Maßnahmen wurden auf Basis des „Verursacherprinzips“ legitimiert, d. h. es sollten diejenigen, die Verantwortung für Umweltprobleme durch verursachte Ver­ schmutzungen tragen, gemäß der Stockholmer Erklärung zur Rechenschaft gezogen werden können. In der Folgezeit wurde eine Reihe von Umweltabkommen geschlos­ sen, etwa zur Reinhaltung von Gewässern und der Luft. Dabei lag der Fokus zunächst auf der regionalen Zusammenarbeit. Beispiele sind das Abkommen zum Schutz der Nordsee (1972) und des Mittelmeeres (1974) und das Genfer Übereinkommen zur Be­ kämpfung der grenzüberschreitenden Luftverschmutzung von 1979, welches auf hohe Zustimmung einer sensibilisierten Öffentlichkeit stieß. Seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre richtete sich die Umweltpolitik im Zuge der Globalisierung zunehmend international aus. Bei der Entwicklung der internatio­ nalen Umweltpolitik kam dabei den Vereinten Nationen eine wichtige Funktion zu. Sie haben in den vergangenen drei Jahrzehnten als Forum für internationale Verhandlun­ gen, als Forschungsumschlagsplatz für die Behandlung von Umweltproblemen und als internationaler Koordinator von Umweltpolitiken fungiert, die als internationale – nicht mehr nur nationale – Politiken anerkannt wurden. Nach dem Abkommen zum Schutz der Ozonschicht 1985/87 stieg die Anzahl von globalen Umweltverträgen. Mit der UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro erreichte die Umweltpolitik eine neue Stufe. Die 178 Teilnehmerstaaten verpflichteten sich dort auf die neue gemeinsame Leitidee der Nachhaltigkeit bzw. des „sustainable develop­ ment“. Mit diesem Leitbild soll gleichzeitig dem Entwicklungsziel der armen Länder und den Bedürfnissen zukünftiger Generationen in allen Ländern der Erde entspro­ chen werden. Mittlerweile definieren die Vereinten Nationen vier globale Probleme als internationale Herausforderung: die Ausdünnung der Ozonschicht, die globale Erwärmung aufgrund des Treibhauseffekts, den Rückgang der Artenvielfalt und die Verschmutzung der Gewässer und Meere. Aufgrund der internationalen Regelwerke wird in der politikwissenschaftlichen Forschung inzwischen von einem internationalen Umweltregime ausgegangen. Ein Re­ gime wird hier charakterisiert durch die Einführung rechtlicher Regelungen und ver­

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bindlicher Normen, internationale Berichts- und Überwachungssysteme sowie einen rascheren Technologietransfer. In der Regimetheorie gilt die Umweltpolitik als das herausragende Beispiel für den erfolgreichen Aufbau internationaler Regulierungen. Interessengegensätze zwischen Ländern, aber auch die Komplexität der Umweltpro­ bleme lassen ein geregeltes „Regime“ allerdings nur in Teilbereichen zu, wie etwa beim Artenschutz oder im Klimaschutz. Außerdem spielen Staaten immer noch eine entscheidende Rolle, denn internationale Umweltpolitik kann nur in dem Maße um­ gesetzt werden, in dem die Staaten neuen Normen und Regeln zustimmen und diese schließlich auch aktiv umsetzen. Deshalb werden in der Analyse internationaler Um­ weltpolitik Ansätze angewandt, die das Agieren von Staaten vergleichend untersu­ chen und die Normsetzung und Normeinhaltung (compliance) auch empirisch über­ prüfen. Eines der erfolgreichsten internationalen Vertragssysteme im Umweltbereich mit 191 Vertragspartnern ist die 1992 in Rio de Janeiro vereinbarte Übereinkunft über die biologische Vielfalt (Biodiversitätskonvention). Diese im Rahmen des UN-Systems vereinbarte Übereinkunft umfasst Regelungen zur Identifizierung und Überwachung der Artenvielfalt, Schutz der Artenvielfalt, z. B. auch durch Speicherung von Saatgut in entsprechenden Einrichtungen (Genbanken), Forschung, Bildung und Öffentlich­ keitsarbeit, Regelung des Zugangs zu genetischen Ressourcen und des gerechten Vorteilsausgleichs bei deren Nutzung (Access and Benefit Sharing, ABS), Regelungen zum Technologietransfer sowie zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit und zum In­ formationsaustausch. Diese Vereinbarungen sind verpflichtend, können jedoch nicht erzwungen werden, was erneut bedeutet, dass der Erfolg dieser Konvention in hohem Maße von der Zuverlässigkeit der individuellen Akteure abhängig ist. Ein weiteres zentrales Abkommen ist die von den Vereinten Nationen verhandel­ te Klimarahmenkonvention (UN Framework Convention on Climate Change; UNFCCC). Das 1992 in New York verabschiedete Abkommen verankert völkerrechtlich verbind­ lich das Ziel, gefährliche, durch den Menschen verursachte Eingriffe in das Klima­ system der Erde zu verhindern. Die Unterzeichnung des Abkommens erfolgte beim UN-Gipfel in Rio de Janeiro bevor es 1994 in Kraft trat. 196 Staaten sowie die EU als re­ gionale Organisation haben die UNFCCC inzwischen ratifiziert. Die Konvention legte ein Vorsorgeprinzip fest, nach dem die Staatengemeinschaft bereits vorsorgend kon­ krete Klimaschutzmaßnahmen treffen kann, auch wenn noch keine absolute wissen­ schaftliche Sicherheit über den Klimawandel vorliegt. Zu diesem Zweck eröffnet die Konvention Möglichkeiten, ergänzende Protokolle zu beschließen. 1997 wurde dann das Kyoto-Protokoll (1997) zum internationalen Klimaschutz als Zusatzprotokoll zur Ausgestaltung der Klimarahmenkonvention verabschiedet und zur Ratifizierung den Mitgliedsländern vorgelegt. Es konnte im Jahr 2005 in Kraft treten, nachdem die er­ forderlichen 136 Länder es ratifiziert hatten. Das Protokoll sieht konkrete Verpflich­ tungen vor, den jährlichen Treibhausgas-Ausstoß der Industrieländer bis zum Zeit­ raum von 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent gegenüber 1990 zu reduzie­ ren (EU: 8 Prozent). Ein weiteres Übereinkommen im Jahr 2010 legte fest, dass die

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CO2 -Emmissionen reduziert und die globale Erderwärmung unter 2,0 Grad Celsius ge­ halten werden sollte. Inzwischen hat die UNFCCC-Konvention ein festes Sekretariat mit Sitz auf dem UN-Campus in Bonn erhalten. Nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls konnte auf der Klimakonferenz in Paris im Jahr 2015 von den 196 teilnehmenden Ländern ein Nachfolgeprotokoll vereinbart werden, das die Begrenzung der Emissionen von Treibhausgasen und die Erderwär­ mung um deutlich unter 2,0 Grad betont und nationale Pläne zur Einhaltung dieser Normen vorsieht; allerdings wurde kein Zeitplan für diese Begrenzung vorgegeben. Die pazifischen Inselstaaten, die Philippinen und die Seychellen hatten sich dabei ve­ hement für eine noch deutlichere Senkung der Erderwärmung auf unter 1,5 Grad Cel­ sius eingesetzt. Die unterschiedlichen Vorstellungen führten dazu, dass die Vereinba­ rungen relativ allgemein gehalten sind. Allerdings konnten auch wichtige Schwellen­ länder wie China, Indien und Brasilien in die Vereinbarungen einbezogen werden. 25 20 15 10 5 China (250,56 %)

Indien (142,98 %)

Türkei (66,03 %)

Kanada (–3,46 %)

Frankreich (–28,80 %)

Vereinigtes Königreich (–33,1 %)

Deutschland (–23,52 %)

Japan (7,51 %)

Russland (–15,18 %)

USA (–14,64 %)

0

CO2-Emissionen (Tonnen pro Kopf) 1990 CO2-Emissionen (Tonnen pro Kopf) 2014 Abb. 2.1: Vergleich der CO2 -Emissionen pro Kopf 1990 und 2014, Quelle: Eigene Darstellung anhand der Daten der World Bank; Online verfügbar unter https://data.worldbank.org/indicator/EN.ATM. CO2E.PC?end=2014&name_desc=false&start=1960&view=chart (aufgerufen am 25.04.2018). Für Russland liegen erst ab 1992 Daten vor, für Deutschland erst seit 1991.

Inzwischen ist es gelungen, die Pro-Kopf-CO2 -Emissionen in Kernindustrieländern wie den USA, Russland, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Kanada zu reduzieren, wie Abbildung 2.1 zeigt. Allerdings stehen dieser Entwicklung teilweise drastisch ansteigende Pro-Kopf-Emissionen in Schwellenländern wie Indien (142 Prozent) und China (250 Prozent), aber auch in der Türkei (66 Prozent) gegen­ über, da sich diese Länder in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasch modernisiert

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haben. Insbesondere China und Indien sind inzwischen aufgrund hoher Emissionen sowie gravierenden Umweltprobleme stärker in den Fokus der internationalen Poli­ tik gerückt. Weltweit produzieren China, Indien, die USA und Russland in absoluten Zahlen mehr als die Hälfte der weltweiten CO2 -Emissionen.¹⁹ In vielen Ländern Asiens ergeben sich aufgrund einer raschen Urbanisierung und Industrialisierung gravierende Umweltprobleme. Ein vom „World Watch Insti­ tute“ (2006) verfasster Bericht zur Situation in China und Indien stellte bereits vor zehn Jahren fest, dass die Umweltverschmutzung besorgniserregende Ausmaße an­ genommen habe.²⁰ Die rasante Verstädterung mit mehreren Millionenstädten hat zu einer hohen Belastung von Wasser und Luft geführt, so der Bericht. Durch den hohen Anteil von Kohle als Brennstoff ist die Belastung mit Schwefeldioxid sehr hoch und der Regen ist in China in weiten Teilen des Landes sauer. Vor allem die Zunahme des Straßenverkehrs hat hier zu einer steigenden Belastung der Luft geführt. Auf­ grund der Verunreinigungen durch die großflächig produzierende Landwirtschaft und oft immer noch fehlender Abwassersysteme sind zudem die Flusssysteme stark belastet: Etwa die Hälfte der Flüsse ist so stark verschmutzt, dass sie nicht einmal die niedrigsten chinesischen Umweltstandards einhalten und damit eigentlich nicht mehr zur Bewässerung benutzt werden können. Diese Entwicklung hat inzwischen zu einem Umlenken geführt; in einigen Städten Chinas wird gezielt gegengesteuert, indem beispielsweise nur noch Elektrobusse im Nahverkehr eingesetzt werden. Auch die Energiewirtschaft setzt inzwischen verstärkt auf erneuerbare Energien. China hat den Klimaschutz als offizielles Politikziel mit in den Katalog der zentralen politischen Aufgaben genommen. Das Land, das einen großen Nachholbedarf hat, investiert inzwischen mehr Geld in erneuerbare Energien als jede andere Wirtschaft der Welt. Aufgrund der in absoluten Zahlen höchsten Treibhausgas-Emissionen durch die USA ist die amerikanische Umwelt- und Klimapolitik ebenso immer wieder im Fokus der Kritik.²¹ Tatsächlich hat sie bereits eine längere Geschichte, die bis in die 1960erJahre zurückreicht, aber sie hat neben sehr innovativen Phasen immer wieder Rück­ schritte gemacht und bleibt zwischen Demokraten und Republikanern umstritten (vgl. Müller 2016). So hatte Präsident Bill Clinton das Kyoto-Protokoll (1997) unterzeichnet, es wurde dann aber aufgrund der Opposition im Kongress nicht ratifiziert. Präsident G. W. Bush wiederum zog sich aus internationalen Klimaverhandlungen zurück, wäh­ rend Präsident Obama eine aktive internationale Umwelt- und Klimapolitik verfolgte. Die Veränderung des Klimas wurde von ihm als eine ernste Bedrohung der Sicher­ heit verstanden und bereits kurz nach seiner Wahl leitete er gezielte innenpolitische Schritte für eine nachhaltige Klima- und Umweltpolitik ein. 2009 kehrten die USA

19 Vgl. http://www.globalcarbonatlas.org/en/CO2-emissions (aufgerufen am 21.04.2018). 20 Vgl. http://www.worldwatch.org/state-world-2006-china-and-india-hold-world-balance (aufge­ rufen am 22.03.2018). 21 Vgl. zu den absoluten Zahlen die Daten in Greenhouse Gas Inventory Data des UNFCC; online ver­ fügbar unter http://di.unfccc.int/time_series (aufgerufen am 29.03.2018).

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in die internationalen Klimaschutzverhandlungen zurück. Eine bilaterale Verhand­ lungsstrategie der USA mit China und Indien zur Begrenzung der CO2 -Emissionen erzielte 2014 erste Erfolge. Unter Präsident Trump haben die USA jedoch 2017 ihren Rückzug aus dem Pariser Abkommen erklärt. Zwar greift diese Entscheidung nicht sofort, aber der Präsident und viele seiner Berater und Minister zweifeln den Klima­ wandel an. Allerdings führen mehrere Bundesstaaten, darunter Kalifornien und New York, eine an den Pariser Klimaschutzzielen orientierte Umwelt- und Klimapolitik fort. Aufgrund unterschiedlicher nationaler Präferenz und Politikstile ist es bislang nicht gelungen, die Legitimität des „Kollektivguts Klima“ global anzuerkennen. Im­ mer wieder weichen Länder von internationalen Vereinbarungen ab und überschrei­ ten Vorgaben. Selbst in europäischen Ländern folgen die Regierungen unterschiedli­ chen Vorgaben und Länder erfüllen Auflagen nicht. Erst kürzlich legte die EU daher in einer neuen Richtlinie strengere Grenzwerte für Schadstoffe fest, um die zunehmende Luftverschmutzung zu bekämpfen.²² Eine wirksame Umweltpolitik ist vor allem für viele Schwellen- und Entwicklungs­ länder von zentraler Bedeutung.²³ In den meisten afrikanischen Ländern, wie etwa in Subsahara-Afrika, sind Lebensgrundlagen wie Wasser und landwirtschaftlich nutz­ barer Boden eine knappe Ressource geworden. Forscher gehen davon aus, dass die Anzahl bewaffneter Konflikte um natürliche Ressourcen, insbesondere um Wasser, in Zukunft deutlich ansteigen wird. Eine Studie der Weltbank kommt darüber hinaus zu dem besorgniserregenden Ergebnis, dass in den drei Regionen Subsahara-Afrika, Süd­ asien und Lateinamerika, in denen über die Hälfte aller Menschen in Entwicklungs­ ländern lebt, bis 2050 schätzungsweise 143 Millionen Menschen (oder 2,8 Prozent al­ ler in den drei Regionen lebenden Personen) aufgrund des Klimawandels zur Migra­ tion innerhalb ihrer Länder gezwungen sein werden.²⁴ Wirtschaftliches Wachstum, das den Regionen eine Entwicklungsperspektive bietet und zugleich dem Gedanken der Nachhaltigkeit folgt, wird als präventive Maßnahmen in diesen Gebieten immer dringlicher. Internationaler Umwelt- und Klimaschutz ist ein weiter an Dringlichkeit gewin­ nendes Politikfeld in den internationalen Beziehungen. Neben den internationalen Organisationen kommt auch den nicht staatlichen, internationalen Umweltorganisa­ tionen eine spezielle Bedeutung zu, insbesondere seitdem die Vereinten Nationen ih­ nen teilweise einen Konsultationsstatus eingeräumt haben (vgl. Kapitel zur UN). Vor­

22 Vgl. https://ec.europa.eu/germany/news/luftverschmutzung-richtlinie-legt-neue-grenzwertef%C3%BCr-die-wichtigsten-schadstoffe-fest_de (aufgerufen am 29.06.2018). 23 Vgl. auch „Bericht über die Menschliche Entwicklung 2007/08: Den Klimawandel bekämpfen. Menschliche Solidarität in einer geteilten Welt“ http://hdr.undp.org/sites/default/files/hdr2007-8german-summary.pdf (aufgerufen am 22.03.2018). 24 Rigaud, Kanta Kumari et al. 2018. Groundswell: Preparing for Internal Climate Migration. World Bank, Washington D. C. ©World Bank. https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/29461 License: CC BY 3.0 IGO. (aufgerufen am 20.03.2018).

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geschlagen wird auch, ein weltbürgerschaftliches Engagement im Rahmen von dezen­ tralen subsidiären Netzwerken zu stärken. Internationaler Klima- und Umweltschutz bleibt damit in jedem Fall ein Kernbereich von Global Governance.

2.1.4 Problembeispiel Klimawandel: Tuvalu – eine versinkende Nation Während der Konferenz zum Klimawandel in Cairns, Australien, im April 2011 richtete der Direktor des Meteorologischen Dienstes aus Tuvalu, Hilia Vavae, einen bewegen­ den Appell an die Teilnehmer der Veranstaltung. Sein Land, eine kleine Inselnation etwa 1000 km nördlich der Fidschi-Inseln im südwestlichen Pazifik gelegen, sei in den letzten 15 Jahren immer häufiger von vernichtenden Überschwemmungen aufgrund von heftigen Wirbelstürmen betroffen. Die aus neun Inseln bestehende Kleinstnation liegt an der höchsten Stelle nur 4,5 Meter über dem Meeresspiegel. Viele der Einwoh­ ner versuchten wegen der immer wiederkehrenden schweren Überschwemmungen, die „sinkende Nation“ zu verlassen. Er appellierte daher an die Regierungen von Aus­ tralien und Neuseeland, den Klimaflüchtlingen (climate change refugees), die vor den Umweltkatastrophen fliehen, permanentes Asyl in ihren Ländern zu erteilen.²⁵ Mit diesem dramatischen Appell wurde zum einen das Schlaglicht auf ein für die Vereinten Nationen relativ neues Problem am Beispiel Tuvalu geworfen, das der Kli­ maflüchtlinge. Zum anderen wurde im Rahmen der internationalen Klimaschutzver­ handlungen deutlich, wie unterschiedlich Regionen und Länder vom Klimawandel betroffen sind, d. h. ihr Gefährdungsgrad (vulnerability) variiert teilweise erheblich. Auch während der Klimakonferenz in Bonn 2017, die von der pazifischen Inselnation Fidschi geleitet wurde, spielte die prekäre Lage der pazifischen Inseln eine wichtige Rolle. Nach dem „Environmental Vulnerability Index“ (EVI) des UN-Entwicklungspro­ gramms (UNDP) zählt Tuvalu zur Kategorie der extrem gefährdeten Nationen (ex­ tremely vulnerable).²⁶ Die Überschwemmungen gefährden nicht nur die tropische Landwirtschaft und die Nahrungsmittelproduktion, sondern sie beeinträchtigen auch die Frischwasserversorgung, deren Vorräte zunehmend versalzen und die fragile In­ frastruktur aus Wegen und Straßen. Die Lage in Tuvalu hatte die internationale Staa­ tengemeinschaft bereits auf der Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 beschäftigt. Die Vertreter der Inselnation, die Mitglied der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen ist, setzten sich dort für ein verbindliches Abkommen zur Treibhausgasreduzierung ein, da sie den Treibhausgaseffekt für die Umweltkatastrophen auf ihrer Insel verantwortlich machten. Die pazifischen Insel­ nationen versuchen außerdem seit 1971 im Rahmen des Pacific Island Forum (PIF)

25 „Sinking South Pacific island threatened by climate change“, http://climatepasifika.blogspot. com/2011/05/sinking-south-pacific-island-threatened.html (aufgerufen am 22.03.2018). 26 http://www.vulnerabilityindex.net (aufgerufen am 22.03.2018).

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ihrer Stimme zusammen mit Australien und Neuseeland mehr Gewicht zu verleihen. Während der Klimakonferenz in Paris 2015 sowie auf der Klimakonferenz in Bonn 2017 wurde die schwierige Lage der Inselnationen im Pazifik wiederholt thematisiert. Die Vereinten Nationen haben inzwischen eine Plattform nach dem „Talanoa“Modell der Fidschi-Inseln eingerichtet, auf der sich Interessierte in einem offenen Fo­ rum über die Problemlage und Lösungsansätze austauschen können. Talanoa-Dialog-Plattform 2018 Talanoa is a traditional word used in Fiji and across the Pacific to reflect a process of inclusive, par­ ticipatory and transparent dialogue. The purpose of Talanoa is to share stories, build empathy and to make wise decisions for the collective good. The process of Talanoa involves the sharing of ideas, skills and experience through storytelling. During the process, participants build trust and advance knowledge through empathy and understanding. Blaming others and making critical observations are inconsistent with building mutual trust and respect, and therefore inconsistent with the Talanoa con­ cept. Talanoa fosters stability and inclusiveness in dialogue, by creating a safe space that embraces mutual respect for a platform for decision making for a greater good. Quelle: http://unfccc.int/focus/talanoa_dialogue/items/10265.php (aufgerufen am 13.03.2018).

Mit einer Einwohnerzahl von rund 12.000 Menschen zählt der Inselstaat Tuvalu, der erst 1978 unabhängig geworden ist, zwar zu den kleinsten Staaten der Welt nach Va­ tikanstadt, Monaco und Nauru, aber die Frage der Umweltproblematik wirft grund­ sätzliche rechtliche und politische Fragen für die internationale Staatengemeinschaft auf. Da der Meeresspiegel nach aktuellen Prognosen aufgrund der globalen Erder­ wärmung ansteigt und die Wirbelstürme die Lage der Insel weiter verschlimmern, befürchten Einwohner und Regierung des Inselstaates, dass ihr Land in absehbarer Zeit völlig überschwemmt und damit unbewohnbar werden würde. Ähnliches gilt für die Inselgruppe der Marschall-Inseln, die Seychellen und Teile der Philippinen. Wie soll die internationale Gemeinschaft mit dem Problem der Klimaflüchtlinge umgehen? Welche rechtlichen Möglichkeiten hat eine bedrohte Nation, wie die von Tuvalu, an­ dere Länder zur Aufnahme der Bewohner zu bewegen? Ist die internationale Gemein­ schaft überhaupt für diese Fragen zuständig oder muss nicht die Regierungen der In­ selstaaten selbst Vorkehrungen gegen die Naturkatastrophen treffen? Angesichts der bedrohlichen Umweltsituation versucht die Regierung von Tuvalu seit einigen Jahren für ihre Bevölkerung in Neuseeland und Australien permanen­ tes Asyl zu erhalten. Ursprünglich sollten etwa 300 Menschen pro Jahr auswandern, wobei bereits rund 4.000 Bürger Tuvalus in Neuseeland leben. Neuseeland und Aus­ tralien lehnten eine pauschale Asylregelung jedoch ab. Ein anderer Vorschlag bezieht sich darauf, für die Bewohner Tuvalus neues Land zur Besiedelung auszuweisen. Ein im Jahr 2006 von dem ursprünglich aus Tuvalu stammenden Wissenschaftler Don Kennedy vorgelegter Vorschlag bestand darin, die Bevölkerung geschlossen auf die Fidschi-Inseln umzusiedeln, um durch die Umsiedlung als Gruppe ihre Lebens­

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weise und ihre Kultur zu erhalten.²⁷ Die Kosten für diese Umsiedlung sollten nach seinem Vorschlag von den die Klimaveränderung verursachenden Industriestaaten getragen werden. Dieser Vorschlag wurde seitens der Regierung und verschiedener gesellschaftlicher Gruppen jedoch wegen seines unmittelbar pessimistischen Un­ tergangsszenarios zurückgewiesen. Auch präferiert die Regierung eine Ansiedlung in Neuseeland oder Australien, anstatt auf einer anderen Inselregion im Pazifik, da auch diese zunehmend vom Klimawandel betroffen sind. Des Weiteren fragten Kritiker der Umsiedlung, ob nicht einige der Probleme der Inseln menschengemacht seien, wie zum Beispiel durch das Abtragen von Ufergesteinen und Erdrändern zu Bauzwecken, um dagegen konkrete Maßnahmen zu fordern, die die Inseln besser schützen könn­ ten, wie beispielsweise strengere Bauvorschriften, die Ansiedlung von Mangroven in den Uferregionen oder die Umsetzung von Nachhaltigkeit im Trinkwasserverbrauch. Während die Lösung des Problems im Inselstaat Tuvalu politisch weiter umstrit­ ten bleibt, setzt sich im Rahmen von internationalen Organisationen eine höhere Sen­ sibilität für das Problem der Umwelt- und Klimaflüchtlinge durch. Auf Basis von Schät­ zungen der Vereinten Nationen wird die Staatengemeinschaft in Zukunft mit Millionen von Menschen konfrontiert sein, für die der Klimawandel eine Hauptursache für ihre Flucht aus der Heimatregion ist. Die Zahlen variieren allerdings je nach Quelle erheb­ lich. Nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) waren im Jahr 2015 rund 65,6 Millionen Menschen aufgrund von Konflikten auf der Flucht und die Zahl der Per­ sonen, die seit 2008 aufgrund von Klimawandel und Katastrophen fliehen mussten, wird vom Entwicklungsprogramm mit rund 22,5 Millionen Menschen angegeben.²⁸ Bis Mitte des 21. Jahrhunderts würden nach Schätzungen des UNDP sogar 200 Millionen Menschen aufgrund von Umwelt- und Klimaveränderungen auf der Flucht sein. Aber bislang liegen nur Schätzungen vor, wie viele Menschen aufgrund des Klimawandels zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen sein könnten. Auch wenn die Zahlen für die prognostizierten Migrationsbewegungen, die durch Umweltkatastrophen oder durch den Klimawandel verursacht werden, schwanken, so sind sich Forscher einig, dass der voraussichtliche Anstieg der Temperatur von zwei bis drei Grad in den nächsten 50 Jahren gravierende Auswirkungen auf das Weltklima haben wird, mit unterschiedlichen Folgen für verschiedene Regionen. Heftige Über­ schwemmungen einerseits und extreme Dürre andererseits sind zwei der gravierends­ ten Probleme, die sich aufgrund von Klimaveränderungen zu häufen und zu intensi­ vieren beginnen. Die Ressource Wasser ist bereits ein Streitthema in unterschiedli­ chen Regionen, vom Sudan bis nach Syrien. Das internationale Recht hat bislang keine klare Regelung für Umwelt- oder Kli­ maflüchtlinge vorgesehen. Da Umweltflüchtlinge in der Genfer Flüchtlingskonvention

27 Vgl. http://www.tuvaluislands.com/news/archived/2006/2006-02-20.htm (aufgerufen am 21.04.2018). 28 Vgl. https://www.undp.org/content/undp/en/home/sustainable-development/economicrecovery/migration-and-displacement.html (aufgerufen am 22.03.2018).

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von 1951 nicht erwähnt werden, fehlt ihnen der Schutz, welcher beispielsweise po­ litischen oder Kriegsflüchtlingen zusteht. Lediglich in Schweden, Finnland und den USA besteht bisher die Möglichkeit, aufgrund von Naturkatastrophen ein temporä­ res Asylrecht zu erhalten. Das Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) orientiert sich wie bisher bei seiner Definition von Flüchtlingen an der Beschreibung in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die Vertreibung durch Umweltdegradation nicht kennt. Erst in jüngeren Veröffentlichungen widmet sich der UNHCR dem Phänomen der Umweltzerstörung und erkennt Naturkatastro­ phen als Grund für Flüchtlingsbewegungen an. Verschiedene Umwelt- und Menschen­ rechtsorganisationen fordern deshalb inzwischen, den Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention zu erweitern, um den wachsenden Problemen zu begegnen, die aufgrund der Umweltschädigungen und Klimaveränderungen zu erwarten sind. Dabei wird deutlich, dass der Begriff der Umweltflüchtlinge schwer zu definieren ist, da Veränderungen in der natürlichen Umgebung nicht nur Fluchtbewegungen, sondern auch freiwillige Migrationsprozesse ausgelöst haben.²⁹ Im internationalen Recht ist der Begriff des Flüchtlings der Genfer Flüchtlingskonvention folgend eng gefasst. Menschen, die aufgrund von Veränderungen in ihrer natürlichen Umwelt die Flucht ergreifen, fallen somit in der Regel nicht darunter. Der Begriff „Umweltflücht­ ling“ wurde erst in einem Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) in die Debatte eingeführt. Dieser versteht darunter „[. . .] solche Menschen, die aufgrund von merklicher Umweltzerstörung, die ihre Existenz gefährdet und ernsthaft ihre Lebensqualität beeinträchtigt, gezwungen sind, zeitweilig oder dauer­ haft ihren natürlichen Lebensraum zu verlassen. Unter ‚Umweltzerstörung‘ werden in dieser Definition jegliche physikalische, chemische und/oder biologische Verände­ rungen der Ökosysteme (oder Ressourcenbasis) verstanden, die diese zeitweilig oder dauerhaft ungeeignet machen, menschliches Leben zu unterstützen“. (zitiert in Ja­ kobeit/Methmann 2007: 2). Ob der Begriff des Umweltflüchtlings überhaupt sinnvoll ist, um das komplexe Problem der Migration aufgrund von veränderten Umweltbedin­ gungen zu erfassen, wird inzwischen in einigen Studien bezweifelt. Eine Ausdehnung des Begriffs kann die ursprüngliche Bedeutung des Flüchtlings schwächen. Geflüch­ tete haben in der Regel keinen Anwalt oder Staat, der für sie sprechen könnte und bedürfen daher eines „starken“ Schutzes durch das internationale Recht. Flucht und Vertreibung aufgrund von Klima- und Umweltproblemen beruhen dagegen häufig auf längerfristigen, von Menschen selbst verursachten Problemen, wie beispielsweise exzessiver Ausbeutung von Ressourcen, „bad governance“ und schlechtem Krisen­ management. Oft stellen Veränderungen in der Umwelt nur einen der Faktoren dar, die – gemeinsam mit wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Faktoren – zu der unfreiwilligen Migration führen wie z. B. Dürren, Überflutungen, Meeresspiegelan­

29 Vgl. die Erörterung (mit weiterführender Literatur) in: https://www.umweltmigration.org/themen/ allgemeines/definitionen/ (aufgerufen am 22.03.2018).

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stieg. In vielen Fällen umweltbedingter Migration ist eine klare Abgrenzung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration daher schwierig, insbesondere dort, wo Men­ schen nur unter schwierigen Umständen ihren Lebensunterhalt erwerben können und sich daher entscheiden, ihren Herkunftsort zu verlassen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung betrachtet daher Umwelt­ migration als relativ komplexes Phänomen mit multiplen Ursachen, die jeweils für sich betrachtet und politisch bearbeitet werden müssten. Zu den Ursachen der zuneh­ menden Umweltmigration rechnet das Institut die folgenden: „klassische“ Naturka­ tastrophen, Degradation von Böden, ineffiziente Nutzung von Ressourcen (insbeson­ dere Wasser), häufige schwere Überschwemmungen, andere Varianten wie toxische oder radioaktive Verseuchung oder Umweltzerstörung durch Bürgerkriege. Wie es in einem Handbuch des Instituts zum Stichwort „Umweltmigration“ heißt, sind Umwelt­ flüchtlinge letztlich das Ergebnis von natürlichen bzw. anthropogenen Umweltschä­ den und/oder einem ökologisch unangemessenen Bevölkerungswachstum.³⁰ Als Pro­ blemlösungen werden vorgeschlagen: Intensivierung der nationalen und internatio­ nalen Umweltpolitiken in Richtung nachhaltige Entwicklung; effiziente Kontrolle des regionalen und globalen Bevölkerungswachstums; demografische Entlastung ökolo­ gisch labiler bzw. gefährlicher Regionen. Die Zahl der Menschen, die aufgrund von Umweltzerstörung und Klimawandel ihr Herkunftsland verlassen, wird in Zukunft zunehmen. Die Umweltmigration ist ein Beispiel dafür, dass die Strategie zur Bewältigung der damit verbundenen rechtlichen und politischen Probleme nur in der Zusammenarbeit von Entwicklungs-, Wirtschaftssowie Umweltpolitik global bearbeitet werden kann, um nicht zuletzt auch gewaltsa­ men Konflikten vorzubeugen.

2.2 Konflikte, Krisen, Kriege: Internationale Politik als Sicherheitspolitik 2.2.1 Krieg und Frieden in der internationalen Politik Die Problematik von Krieg und Frieden hat wie keine andere Thematik das Feld der Internationalen Beziehungen geprägt. Für den Friedens- und Konfliktforscher ErnstOtto Czempiel bilden Krieg und Frieden als Gegensatzpaar sogar den Kernbereich der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Er verfolgt ihre theoriegeschichtlichen Wurzeln zurück bis in die Antike mit den Kriegsstudien von Thukydides und kon­ zentriert seine theoretischen Überlegungen über das Fach auf diese Thematik (vgl. Czempiel 2003: 3).

30 Vgl. https://www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungsdynamik/ faktoren/umweltmigration.html (aufgerufen am 22.03.2018).

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In der Tat gehören Krieg und Frieden heute zu den Kernproblemen in der interna­ tionalen Politik. Bereits Immanuel Kant beklagte in seiner Schrift „Zum ewigen Frie­ den“, die 1795 veröffentlicht wurde, dass der Krieg der „Naturzustand“ des Zusam­ menlebens zu sein scheint. Wie Kant schrieb: „Der Friedenszustand unter den Men­ schen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand [. . .], der vielmehr ein Zustand des Krieges ist [. . .]“ (Kant 1984: 10). Aufgrund der Anarchie in der Staatenwelt schei­ nen Kriege unvermeidlich, ja manche Autoren, wie z. B. der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz, sahen den Krieg als Fortsetzung der Politik unter Einbeziehung anderer Mittel an und gaben ihm damit eine Aura der Unvermeidlichkeit. Die aus Deutschland emigrierte Philosophin Hannah Arendt zog aus den Kriegs- und Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts daher die beredte Schlussfolgerung für ihre Analyse der Frage, was Politik sei: „Kriege und Revolutionen, nicht das Funktionieren parlamentarischer Regierungen und demokratischer Parteiapparate, bilden die politischen Grunderfah­ rungen unseres Jahrhunderts.“ (Arendt 1993: 124). Als Teilgebiet der Internationalen Beziehungen hat sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Friedens- und Konfliktforschung etabliert. Zentra­ le Themen sind die Analyse von Ursachen gewaltsamer Konflikte, der Wandel von Kriegstypen sowie die Konfliktprävention. Viele Arbeiten auf diesem Gebiet sind an historischen, philosophisch-ethischen und normativen Fragen der Kriegsvermeidung und Friedensherstellung interessiert, während andere auf empirisch-analytischem Weg zwischenstaatliche und innerstaatliche Konflikte erforschen und dokumentie­ ren. Die Erforschung von gewaltsamen Konflikten und Kriegen hat in Deutschland nicht zuletzt mit dem zunehmenden Engagement der Bundeswehr bei Friedensein­ sätzen im Ausland an Bedeutung gewonnen. Eine genaue wissenschaftliche Analyse der Implikationen dieser Entwicklung ist daher von vordringlichem Interesse. Kon­ fliktprävention und Kriegsvermeidung sind heute ebenso wie die Kriegsursachenfor­ schung wichtige Themen der Internationalen Beziehungen. Was versteht die Politikwissenschaft unter Krieg? Die Arbeitsgemeinschaft Kriegs­ ursachenforschung der Universität Hamburg (AKUF) bietet folgende Definition an: Kriege werden als solche gezählt, wenn erstens zwei oder mehr Parteien an bewaff­ neten Auseinandersetzungen beteiligt sind, wobei mindestens eine aus den regulä­ ren Streitkräften einer Regierung bestehen sollte; wenn zweitens ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegsführung gegeben ist, und wenn drittens eine gewisse Kontinuität der Feindseligkeiten herrscht. Das Hamburger Institut hat allein im Jahr 2014 weltweit 31 Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen dokumentiert. Damit habe sich an der Gesamtzahl kriegerischer Konflikte im Vergleich zum Vorjahr nichts geändert, auch wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrsche, dass die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen sprunghaft angestiegen sei, so das In­ stitut.³¹ Nach Angaben anderer Autoren sei die Zahl der bewaffneten Konflikte sogar 31 https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/jakobeit/forschung/akuf/ kriegsdefinition.html (aufgerufen am 22.03.2018).

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im längeren Zeitverlauf gesunken (vgl. Brzoska 2007). Aber die Zahl der zivilen Opfer ist immer noch hoch. Die Grausamkeit der kriegerischen Konflikte und die hohen Op­ ferzahlen sind trotz des abnehmenden Trends gewalttätiger Konflikte ein ernstes Pro­ blem. Allein im zweiten Kongo-Krieg (1998–2003) kamen schätzungsweise vier Mil­ lionen Menschen ums Leben, im Sudan (1983–2003) etwa zwei Millionen Menschen. Insgesamt sind Millionen von Menschen infolge von Kriegen oder gewaltsamen Kon­ flikten auf der Flucht. Auch im Syrien-Krieg wurden seit Beginn der Kämpfe im Jahr 2011 Schätzungen des Sondergesandten der UN zufolge, Staffan de Mistura, bis 2016 bereits etwa 400.000 Menschen getötet.³² Rund 12 Millionen Syrer sind auf der Flucht, davon 6,3 Millionen innerhalb Syriens; mindestens fünf Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen. Als Vorstufe für eine kriegerische Auseinandersetzung werden in der Friedensund Konfliktforschung Krisen und Konflikte gesehen. Dementsprechend unterschei­ det das „Konfliktbarometer“ des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktfor­ schung (HIIK) in seiner Erfassung von Kriegen latente Konflikte, manifeste Konflikte, Krisen, ernste Krisen und Krieg. Im Jahr 2017 zählte das Institut 385 Konflikte weltweit; davon sind 222 gewaltförmige und 163 nicht gewaltförmige Konflikte. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Kriege von 18 auf 20, während die Zahl der begrenzten Krie­ ge von 20 auf 16 gefallen ist. Insgesamt zählte das Institut 187 gewalttätige Krisen und 81 nicht-gewalttätige Krisen und 75 Dispute.³³ Das im Auftrag des Bonn Internatio­ nal Center for Conversion (BICC), der Forschungsstätte der Evangelischen Studienge­ meinschaft (FEST), der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Ham­ burg (IFSH) und des Instituts für Entwicklung und Frieden der Universität DuisburgEssen (INEF) herausgegebene jährliche „Friedensgutachten“ analysiert jeweils zen­ trale Krisengebiete und gewalttätige Konflikte und erörtert Wege aus der Krise oder den Kriegen. Aus politikwissenschaftlicher Sicht bestehen Konflikte in einer unvereinbaren Po­ sitionsdifferenz. Sie sind ein zentraler Bestandteil des sozialen Lebens und stellen an sich keine Bedrohung dar, da sie stets verschiedene Handlungsalternativen ermögli­ chen. Zugleich können Konflikte eine Vorstufe zu offener Gewaltanwendung bilden und potenziell friedensbedrohend wirken. Gewaltsame Konflikte sind auf eine bereits vorher vorhandene Spaltung der Gesellschaft bzw. auf länger anhaltende Auseinan­ dersetzungen zwischen Gruppen, Staaten oder verfeindeten Eliten zurückzuführen. Dabei kann zwischen Interessen- und Identitätskonflikten unterschieden werden. So­ zialwissenschaftliche Forschung bemüht sich daher um frühzeitige Aufdeckung von

32 Syria death toll: UN envoy estimates 400,000 killed. Al Jazeera, 23.04.2016. https://www.aljazeera. com/news/2016/04/staffan-de-mistura-400000-killed-syria-civil-war-160423055735629.html (aufge­ rufen am 22.06.2018). 33 Die Daten mit methodischen Erläuterungen sind erhältlich unter: https://hiik.de/ konfliktbarometer/aktuelle-ausgabe/ (aufgerufen am 22.03.2018).

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Konfliktpotenzialen, um so einer gewaltsamen Eskalation vorzubeugen. Nicht immer führen bedrohlich wirkende Konflikte jedoch zu Kriegen. Der nahezu 40 Jahre dauern­ de Ost-West-Konflikt, der das beherrschende Thema der Sicherheitspolitik in Europa und in der Weltpolitik zwischen 1947 und 1989 bildete, führte beispielsweise in Euro­ pa nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation; er wurde vielmehr durch Ab­ kommen, Vereinbarungen und Gespräche „klein gearbeitet“. Dennoch war er durch Hochrüstung und Rüstungswettlauf mit erheblichen Kosten verbunden und es wur­ den zahlreiche „Stellvertreter-Kriege“ in Afrika und Asien geführt, die eine hohe Zahl an Opfern forderten. Neben Konflikten sind Krisen ein wichtiges Gebiet in der Forschung. Der Krisen­ begriff ist dynamisch und umfasst Situationen, die mit dem Konfliktbegriff nicht oder nur verkürzt erfasst werden wie z. B. die Eskalation eines vormals ruhigen Konflikts. Unter einer Krise lässt sich allgemein eine Situation erhöhter Spannung zwischen we­ nigstens zwei Akteuren oder Bezugssystemen verstehen, denen Konflikte sehr unter­ schiedlicher Herkunft zugrunde liegen können, wie politische oder wirtschaftliche In­ teressengegensätze oder Auseinandersetzungen über grundlegende gesellschaftliche Fragen, die in divergierenden religiösen, weltanschaulichen oder ethischen Identitä­ ten wurzeln. Krisen gehen mit der intensiven Wahrnehmung einer Bedrohung einher, die wenigstens von einer der beteiligten Seiten empfunden wird. Ihr Bedrohungspo­ tenzial beruht auf der großen Unsicherheit über weitere Entwicklungen (Erwartungs­ unsicherheit), die eine beträchtliche Eskalationsgefahr beinhaltet. Krisensituationen zeichnen sich darüber hinaus durch einen tatsächlichen oder perzipierten Zeitdruck aus, dem sich die Akteure ausgesetzt sehen, sodass Entscheidungen großer Tragweite in viel kürzerer Zeit als in „normalen“ Situationen und daher mit höherer Selektivi­ tät an Informationen gefällt werden. Negative Vorerfahrungen und stark akzentuier­ te Feindbilder können dabei die Konfliktsituation als überzeichnet erscheinen lassen. Analytisch ist es daher sinnvoll, entscheidungstheoretisch angelegte Untersuchungen von Krisen durch Perzeptionsanalysen zu ergänzen, die aufzeigen, welche gegenseiti­ gen Perzeptionen (und Fehlperzeptionen) vorliegen, um zu einer politischen Lösung von Krisen zu gelangen. Wie Untersuchungen gezeigt haben, liegen beim Beginn ei­ nes Krieges häufig fehlerhafte Einschätzungen der Intentionen eines anderen Staates sowie der Erwartung in Bezug auf die Folgen und das Ende eines Krieges vor (vgl. Al­ brecht 1998; Deutsch/Senghaas 1971). Fehlperzeptionen sollten daher ein integraler Bestandteil der Krisenforschung sein. Das Kriegsbild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Wäh­ rend bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Kriege zwischen Staaten bzw. zwischen miteinander verbündeter Staatengruppen stattfanden, prägen heute vor al­ lem Kriege innerhalb von Staaten, wie Staatszerfallskriege, Bürgerkriege sowie Kriege um Ressourcen das Bild (vgl. Daase 2003; Geis 2006). In den Kriegen, die innerhalb von Staaten ausgetragen werden, sind schätzungsweise mehr als drei Viertel der Op­ fer zivile Personen, im Gegensatz zu den klassischen Kriegen zwischen Staaten, in denen vor allem Soldaten und militärisches Personal zu den Opfern gehörten, da in

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den innerstaatlichen Kriegen die Zivilbevölkerung in einem weitaus größerem Maße in kriegerische Auseinandersetzungen einbezogen und teilweise sogar als Geisel in den Kämpfen benutzt wird, wie dies auch aktuell in den umkämpften Gebieten im Syrien-Krieg der Fall ist. Auch kommt es häufig zu besonders grausamen Verbrechen an Kindern, die unter unmenschlichen Bedingungen als Kindersoldaten benutzt wer­ den, sowie gegen Frauen, da, wie verschiedene Beispiele zeigen, Gewalt gegen Frau­ en und Massenvergewaltigungen systematisch als Terror gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden (Jugoslawien, Kongo, Syrien). Diese Verbrechen werden daher in­ zwischen vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) als besonders grausame Kriegs­ verbrechen geahndet. Der Wandel des Kriegsbildes erfolgt unter dem Eindruck des Typus der neuen Krie­ ge. In ihrer Arbeit über „Old Wars and New Wars“ argumentiert die britische Friedens­ forscherin Mary Kaldor am Beispiel des Bosnienkrieges, dass der neue Typus der Krie­ ge, welcher die klassische Form des Krieges als gewaltsame Konfliktaustragung zwi­ schen Staaten ablösen würde, auf einer neuen Kriegsökonomie beruhe (vgl. Kaldor 2007). Kennzeichen dieser neuen Kriege auf dem Balkan und anderswo sei die trei­ bende Rolle von halbstaatlichen oder privaten „Kriegsunternehmern“. Die neuen Krie­ ge werden nicht mehr zwischen Staaten, sondern innerhalb von zerfallenden Staaten (failing states) geführt, wobei Kriegsfürsten, Klans und Männerbünde den Charakter der kriegerischen Aktionen bestimmen und sich die neue Kriegsökonomie zunutze machen. Kaldor zeigt darüber hinaus, wie die ökonomische Basis dieser Kriegstypo­ logie durch Prozesse der Globalisierung befördert wird. Globaler Waffenhandel mit hohen Gewinnspannen, transnationale strategische Kriegsunterstützung, aber auch internationale militärische Interventionen westlicher Staaten charakterisieren diese „extreme Form der Globalisierung“. Dabei wird die Kriegsführung „kapitalisiert“, bei­ spielsweise durch die Bildung von „private military firms“, „outsourcing“ etc. (vgl. Kaldor 2007). In verschiedenen Studien wurde angesichts des veränderten Kriegstypus über das Verschwinden des zwischenstaatlichen Krieges im 21. Jahrhundert gemutmaßt. Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht vom Krieg als „Chamäleon“, das seine Erscheinungsform ändern kann (vgl. Münkler 2007). Er schreibt: Der klassische Staatenkrieg, der die Szenarien des Kalten Krieges noch weithin geprägt hat, scheint zu einem historischen Auslaufmodell geworden zu sein; die Staaten haben als die fakti­ schen Monopolisten des Krieges abgedankt und an ihre Stelle treten immer häufiger parastaatli­ che, teilweise sogar private Akteure – von lokalen Warlords und Guerillagruppen über weltweit operierende Söldnerfirmen bis zu internationalen Terrornetzwerken – für die der Krieg zu einem dauerhaften Betätigungsfeld geworden ist. (Münkler 2003: 7)

Der Wandel im Kriegsbild bedeutet aber keinesfalls, dass Kriege zwischen Staaten nicht mehr stattfinden. Münkler schreibt dazu, dass der klassische Staatenkrieg, aber nicht der Krieg an sich als „Auslaufmodell“ gelten könne. Vielmehr hätten Kriege ihre Erscheinungsformen verändert, und finden heute vorwiegend innerhalb von Staaten

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statt. Die neuen Kriege seien ebenfalls sehr verlustreich. Kennzeichen sei vor allem ih­ re veränderte Kriegsökonomie; während sich zwischenstaatliche Kriege mit ihren ho­ hen Opferzahlen irgendwann auch wirtschaftlich „erschöpften“, ist die neue Kriegs­ ökonomie „[. . .] über die Schattenkanäle der Globalisierung an die prosperierende Friedensökonomie der Wohlstandszonen angeschlossen“. (Münkler 2007). So fließen ihr permanent neue Ressourcen zu. Mit Gold, Diamanten, Edelhölzern, Rauschgift und auch dem Handel mit Frauen aus diesen Kriegszonen sind lukrative Geschäfte zu machen. Eine Beendigung des Krieges ist daher sehr schwer zu erreichen, da War­ lords und kriegsführende Parteien in der Regel in erheblichem Umfang vom Fortgang der bewaffneten Konflikte profitierten. Eine „Friedenssehnsucht“, so Münkler, ken­ nen die kriegsführenden Parteien nicht. Anders als bei Bürgerkriegen gehe es auch nicht um die Veränderung von politischen Strukturen oder die Eroberung von staat­ licher Macht, vielmehr ist der Krieg Selbstzweck geworden. Ein Übergang vom Krieg zum Frieden könne daher nur als langwieriger Prozess gestaltet sein, der in der Regel von außen organisiert und moderiert werden müsse (vgl. Münkler 2007: 3 f.). Neue Kriege werden heute in verschiedenen Regionen der Welt geführt, allerdings ist vor allem Subsahara-Afrika von diesem Kriegstypus betroffen. Häufig finden die neuen Kriege in ressourcenreichen Ländern statt und die Kämpfe werden um das so­ genannte weiße Gold (Diamanten, Heroin), schwarzes Gold (Öl) oder andere Rohstoffe (Coltan, seltene Erden) geführt. Stets bereichern sich „Warlords“ und Kriegsparteien zum Nachteil der Bevölkerung, was die Beendigung dieser Kriege erschwert und die Länder trotz großer Reichtümer weiter verarmen lässt. Dieses Phänomen ist auch als „Ressourcenfluch“ bezeichnet worden, indem rohstoffreiche Entwicklungsländer, die politisch aber instabil sind, über Jahre hinweg unter gewalttätigen Konflikten leiden und ihre Ressourcen zum Fluch werden können, da hieraus Kriege finanziert werden. Die Motive, welche die kriegsführenden Parteien leiten, werden vom materiellen Ge­ winn angetrieben. Daher wird in der Diskussion um die neuen Kriege unterschieden zwischen Benachteiligten und ihren Beschwerden (grievance) und den Profiteuren der Kriege und ihrer Gier (greed). So bewegen sich die neuen Kriege zwischen grievance und greed, Leid und Gier. Viele gewaltsam ausgetragene Konflikte gehen mit einer Ethnisierung der Politik einher. Häufig tritt die Ethnisierung von Gewalt in Kombination mit anderen Konflikt­ ursachen auf, insbesondere der Verteilung von Ressourcen. Ein Beispiel hierfür ist der Darfur-Konflikt im Westen sowie der Konflikt im Süden Sudans, bei dem es nicht nur um ethnische Konflikte, sondern als Folge des Klimawandels vielmehr auch um ackerfähiges Land bzw. Wasser geht. In diesem seit 2003 andauernden Konflikt sind nach UN-Angaben allein bis Anfang 2008 etwa 300.000 Menschen umgekommen; die­ se Zahl könnte sich nach Schätzungen bis heute verdoppelt haben.³⁴ Etwa 4,5 Millio­

34 Vgl. https://www.theguardian.com/world/2008/apr/23/sudan.unitednations (aufgerufen am 21.04.2018).

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nen Menschen sind seit Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzungen geflohen. Bei einer politischen Neuordnung in Post-Konflikt-Gesellschaften ist die Frage, inwieweit den ethnischen Trennlinien (cleavages) in politischen und gesellschaftlichen Institu­ tionen Rechnung getragen und wie Gerechtigkeit wieder hergestellt wird sowie welche Wege der Versöhnung eingeschlagen werden, von zentraler Bedeutung. Ein weiteres Kennzeichen der neuen Kriege ist außerdem die Einmischung regio­ naler Mächte, die eine Beendigung der Kriege erschwert. Dies lässt sich beispielhaft im Syrien-Krieg aufzeigen. Größere Staaten in der Region verfolgen angesichts der Schwäche der syrischen Regierung und dem Zerfall des Landes harte Eigeninteres­ sen; dies trifft für die Türkei ebenso zu wie für den Iran und für Russland. Jedes der Länder hofft, vom Zerfall Syriens zu profitieren und seine eigene Macht- und Einfluss­ sphäre in der Region auszubauen; das Leiden der Bevölkerung ist aus strategischen Gründen in den Hintergrund getreten. In der wissenschaftlichen Literatur werden als Ursachen von kriegerischen Kon­ flikten mehrere, teilweise divergierende Erklärungsmuster und eine Vielzahl von mit­ telbaren und unmittelbaren Faktoren genannt. Oft wirken im Konflikt- und Kriegsver­ lauf mehrere Faktoren zusammen. In den Grundzügen lassen sich drei Gruppen von Erklärungsansätzen unterscheiden: 1. sozio-ökonomische Erklärungsmuster – Herausbildung einer Weltordnung mit hierarchisch aufgebauten Einflussund Abhängigkeitsstrukturen und Konflikten um begehrte Ressourcen (ins­ besondere Wasser, Öl und andere natürliche Rohstoffe) (Deutsch/Senghaas 1971); – einflussreiche ökonomische Interessen der Rüstungsindustrie („militärischindustrieller Komplex“) und die kapitalistische Logik des Weltmarktes mit ei­ ner „Durchmilitarisierung des Globus“ (Albrecht 1998); – ungleichmäßige sozio-ökonomische Entwicklung und Ressourcenverteilung (Nord-Süd-Konflikt, Problem Unterentwicklung); Herausbildung von neuen Kriegsökonomien (Kaldor 2007; Münkler 2003); 2. ordnungspolitische Erklärungsmuster – Rivalitätshierarchien zwischen aufstrebenden Mächten oder konkurrieren­ den Machteliten im Territorium; expansives Machtstreben totalitärer Systeme (z. B. Nationalsozialismus); – krisenhafte Nationalstaatsbildung (z. B. Nachfolgerepubliken im ehemaligen Jugoslawien); – politisches oder ideologisches Hegemonialstreben (z. B. Dschihad); 3. kulturelle Erklärungsmuster – hierarchisch aufgebaute, friedensunfähige Dominanzkultur (feministischer Ansatz); – religiöse und/oder ethnische Konfliktlinien in der Gesellschaft sowie kollek­ tive Identitätskrisen (z. B. „Kampf der Kulturen“, Konflikte zwischen schiiti­ schem und sunnitischem Islam).

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Bisherige Forschungen haben gezeigt, dass in der Regel Verknüpfungen verschiede­ ner Ursachenkomplexe vorliegen, wenn es zu einer kriegerischen Eskalation kommt. Eine frühzeitige Konfliktbearbeitung (Prävention) hat sich als das bislang wirksamste Mittel erwiesen, eine gewaltförmige Konfliktaustragung zu verhindern. Darüber hin­ aus sind Interventionen der internationalen Gemeinschaft, wie beispielsweise „hu­ manitäre Interventionen“ (vgl. Kapitel 7.1.3), Sanktionen gegen die Kriegstreiber oder andere rechtliche Maßnahmen geeignet, Konfliktparteien zu einer Beendigung von Kriegshandlungen zu bewegen. Ziel der Beendigung von gewaltsamen Konflikten ist die Herstellung von Frieden. Der Begriff Frieden bedeutet zunächst die Abwesenheit von Krieg und gewaltsamen Konflikten. Global betrachtet ist Frieden jedoch nicht als Zustand, sondern nur als historischer Prozess zu verstehen. Unterschieden werden in der Literatur ein negati­ ver und ein positiver Friedensbegriff. „Unter dem negativ bestimmten Friedensbegriff wird die Abwesenheit des Krieges verstanden, während unter dem positiv bestimmten Friedensbegriff die höchst variabel interpretierbare Realisierung sozialer Gerechtig­ keit und Gleichheit, politischer und persönlicher Freiheiten, der Entfaltung mensch­ licher Fähigkeiten und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten gefasst wird oder allge­ mein ausgedrückt: die Abwesenheit von struktureller und personeller Gewalt.“ (Jahn 1994: 156). Frieden herzustellen und zu erhalten wird als Kernaufgabe internationaler Organisationen betrachtet. Aus diesem Grund definiert die Charta der Vereinten Natio­ nen die Erhaltung des Weltfriedens als zentrale Aufgabe. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthält ein Friedensgebot. Die Verhütung von Gewalt­ anwendung und gewaltfreie Konfliktlösungen sind präventiv und prozesshaft. Anders als zur Zeit des Ost-West-Konflikts wird Frieden in der Forschung daher nicht mehr als die Utopie eines großen Weltfriedens, sondern er wird als ein in vielen Einzelschritten auf regionaler und internationaler Ebene erfolgender Prozess verstanden. Frieden ist im Kern als Einhegung von Konflikten und Zivilisierung der Gesell­ schaft zu verstehen. Wie diese Zivilisierung erreicht werden kann, beschäftigt die For­ schung seit vielen Jahrzehnten. Bereits die Zivilisationstheorie von Norbert Elias be­ ruhte auf dem Gedanken, dass Zivilisation durch wachsende Selbstkontrolle, langfris­ tige Planung und die Rücksichtnahme auf die Empfindungen und Gedanken anderer Menschen entsteht (vgl. Elias 1997). Mit komplexen Modellen vom Frieden als Zivi­ lisierungsprozess versucht die Forschung, den Friedensprozess theoretisch besser zu verstehen. Der bekannte Friedensforscher Dieter Senghaas entwickelte beispielsweise das „zivilisatorische Hexagon“ als Modell für einen Friedensprozess. Senghaas geht davon aus, dass Gesellschaften dann in einen friedfertigen Zustand überführt wer­ den können, wenn sie die sechs im Hexagon festgelegten Bedingungen erfüllen: Ent­ privatisierung von Gewalt und Herausbildung eines legitimen Gewaltmonopols, Her­ ausbildung von Rechtsstaatlichkeit (Verfassungsstaat), zunehmende Affektkontrolle durch wachsende Interdependenzen, demokratische Beteiligung, soziale Gerechtig­ keit und konstruktive Konfliktkultur (vgl. Senghaas 1995). Frieden als Zivilisierungs­ prozess wird somit zum Streben nach einer legitimen und gerechten Ordnung. Diese

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Bedingungen herzustellen, erfordert jedoch einen längeren Prozess. Das Modell von Senghaas passt denn auch besser auf westliche Gesellschaften als auf andere Regio­ nen der Welt, in denen eine ausgeprägt gewaltsame Konfliktkultur und wenige rechts­ staatliche Traditionen vorliegen. Im längeren historischen Zeitverlauf ist die Zahl innerstaatlicher bewaffneter Kon­ flikte und Kriege nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zurückgegangen. So berich­ tete der in Kanada erstellte „Human Security Report 2005“ über einen Rückgang der Zahl zwischen- und innerstaatlicher Kriege und schreibt über einen „[. . .] dramatic, but largely unknown, decline in the number of wars, genocides and human rights abuses over the past decade. [. . .] The Report argues that the single most compelling explanation for these changes is found in the unprecedented upsurge of international activism, spearheaded by the UN, which took place in the wake of the Cold War“.³⁵ Diese Untersuchungsergebnisse werden im „Human-Security-Bericht“ (2010) bestä­ tigt; zugleich wird das von kriegerischen Auseinandersetzungen verursachte Leid der Zivilbevölkerung, wie die Verbreitung von Krankheiten und Unterernährung, hervor­ gehoben.³⁶ Aber in vielen Fällen sind die Möglichkeiten der Vereinten Nationen be­ grenzt, aktiv in Konflikte einzugreifen bzw. Kriege zu beenden. Immer wieder stellt sich daher die Frage, wie Kriege generell verhindert werden können. Welche politischen Modelle eignen sich besonders für die Vermeidung von Krie­ gen und die Herstellung von Frieden? Einer verbreiteten Auffassung zufolge gilt, dass liberal-demokratische Staaten untereinander keine Kriege führen, sodass die nach­ haltigste Methode, Kriege zu verhindern, darin bestünde, weltweit liberale demokra­ tische Regime zu fördern. Das Theorem vom demokratischen Frieden (democratic peace) von Bruce Russett wird in der Friedens- und Konfliktforschung immer wieder aufgegriffen (vgl. Russett 1995). Wie Russett und andere Vertreter dieser Auffassungen argumentieren, zeigen empirische Untersuchungen, dass in der modernen Geschich­ te zwischen demokratisch regierten Ländern keine Kriege ausgetragen worden sind. Die empirische Evidenz stützt sich auf quantifizierbare Daten, die in LängsschnittUntersuchungen erhoben wurden. Als erfolgreiches Beispiel werden in diesem Zu­ sammenhang die demokratischen Transformationen in Mittelost- und Osteuropa und die Demokratisierung Lateinamerikas genannt. Politisch-institutionelle Vorausset­ zungen, wie Gewaltenteilung, demokratische Öffentlichkeit und die Herausbildung von liberalen, pluralistischen Werten und Normen befördern offenbar den Prozess der Delegitimierung von Kriegen als Mittel der Machtauseinandersetzung. Dieses Modell einer gesellschaftlichen Ordnung, das deutlich von westlichen Vorstellungen ge­ prägt ist, erweist sich im historischen Vergleich als in besonderem Maße dem Frieden

35 „Human Security Report 2005. War and Peace in the 21st Century“, hrsg. v. Human Security Center, The University of British Columbia, Canada, Oxford 2005. 36 Human Security Report 2009/10: The Causes of Peace and the Shrinking Costs of War, https://reliefweb.int/report/world/human-security-report-20092010-causes-peace-and-shrinkingcosts-war (aufgerufen am 23.03.2018).

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förderlich, sowohl nach innen als auch anderen Ländern mit ähnlicher politischer Verfasstheit gegenüber. Politisch ziehen die Vertreter der Demokratie-Hypothese aus dieser Beobachtung die Schlussfolgerung, dass es gilt, weltweit die Etablierung de­ mokratisch verfasster Regime zu unterstützen, beispielsweise mit Mitteln der inter­ nationalen Diplomatie, Projektförderungen, humanitären Hilfen usw. Demokratien durch internationale Intervention zu etablieren hat sich dagegen als wenig erfolgversprechend erwiesen. Mit dem Konzept des „liberal peace“ sollten bei­ spielsweise die Einsätze in Afghanistan und im Irak zum Aufbau von friedensfördern­ den, demokratischen politischen Ordnung führen. In diesen Ländern Demokratien zu etablieren hat sich jedoch als äußerst schwierig, wenn nicht als unmöglich erwiesen, nicht zuletzt deshalb, weil die Demokratisierung nach einer militärischen Interven­ tion vor großen Legitimationsproblemen steht. Länder mit sehr armer Bevölkerung, wie Haiti, haben es ebenfalls schwer, Demokratien aufzubauen. Für viele Teile der Welt gelten die Wiederherstellung politischer Autorität durch das internationale Recht, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen sowie die in­ stitutionelle und habituelle Umsetzung ziviler politischer Konfliktlösungsmechanis­ men als wirksamste Mittel zur Eindämmung und Reduzierung der Anzahl gewalttä­ tiger und kriegerischer Konflikte. Neben diesen rechtlichen, politischen und sozialen Faktoren werden auch psychologische und anthropologische Erklärungsmuster für die abnehmende Kriegshäufigkeit angeführt. Der an der Harvard Universität lehrende Psychologe Steven Pinker schlägt in Hinblick auf kriegerische Konflikte beispielsweise vor, nicht zu fragen, warum es Krieg gibt, sondern die Frage umzukehren und zu er­ forschen, warum es Frieden gibt (vgl. Pinker 2007). Neuere entwicklungs- und kogni­ tionspsychologische Erkenntnisse könnten helfen, besser zu verstehen, warum und unter welchen Bedingungen soziale Gemeinschaften Konflikte kooperativ und fried­ lich lösen, um die Logik von Friedensprozessen zu fördern (vgl. auch Pinker 2018). Nach heutigen Erkenntnissen setzt ein Friedensprozess politischen Willen und kollektives Lernen, unterstützt durch internationale Organisationen, und damit Sozia­ lisationsprozesse voraus, mit dem Ziel der Einhegung kollektiver Gewaltanwendung. Prävention in vielfältiger Form ist darüber hinaus ein wichtiger politischer Ansatz in der Krisen- und Konfliktbewältigung.

2.2.2 Enger und weiter Sicherheitsbegriff Aufgrund der weltweiten, vielfachen Sicherheitsbedrohungen, die von Kriegen und gewaltsamen Konflikten ausgehen, wird in der internationalen Politik eine Eindäm­ mung von Konflikten und Krisen angestrebt, um Sicherheit zu gewährleisten. Was ist unter Sicherheit zu verstehen? Der Begriff Sicherheit bezieht sich in der Analyse inter­ nationaler Politik zunächst auf die territoriale und politische Integrität von Staaten und einen Zustand, in dem die Bevölkerung eines Staates ohne die Gefahr von Krieg und Gewalt leben und ihren Alltag bewältigen kann. Neben Kriegen und gewaltför­

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migen Konflikten gibt es weitere die globale Sicherheit gefährdende Probleme, wie Terrorismus, Cyberattacken oder Umweltkatastrophen. Staaten wird dabei die zentra­ le Rolle zugeschrieben, ihre Bevölkerung vor diesen Gefährdungen zu schützen (vgl. Schneiker 2017). Das Prinzip des Staatensystems in der Sicherheitspolitik geht dabei zurück auf den „Westfälischen Frieden“ (1648), der die Grundlage des Systems der europäischen Staaten und ihrer wechselseitigen Anerkennung legte. Auf Basis dieses Systems ge­ währleisten funktionsfähige Staaten die Sicherheit ihrer jeweiligen Lebensgrundla­ gen. In der Diskussion um die Sicherheitspolitik lassen sich heute ein enger und ein weiter Begriff der Sicherheit unterscheiden (vgl. Daase 2009). Auf Basis des engen Sicherheitsbegriffs stehen sicherheits- und verteidigungspolitische Institutionen von Staaten im Mittelpunkt. Sicherheitspolitik besteht danach konkret in der Reduzierung und Eindämmung der Kriegsgefahr durch den Aufbau von Verteidigungssystemen wie z. B. die NATO, der Beteiligung an Rüstungskontrolle und Abrüstungsverhandlungen, der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Prävention sicherheitspo­ litischer Gefahren durch die Staaten. Daneben hat sich ein weiter Sicherheitsbegriff durchgesetzt, der in internationalen Organisationen, wie den Vereinten Nationen, und von NGOs benutzt wird, um die menschliche Sicherheit zu berücksichtigen (vgl. Daase 2009). Die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Schutz von Zivilbe­ völkerungen sowie Garantien für persönliche Sicherheit und Integrität der Person werden danach im weiten Sicherheitsbegriff berücksichtigt. Er wird vor allem im Human-Security-Ansatz von internationalen Organisationen aufgegriffen. Dem engeren Sicherheitsbegriff entsprechend bemühte man sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa zunächst darum, die Gemeinsame Außen- und Sicher­ heitspolitik (GASP) der Europäischen Union zu profilieren, nachdem die europäischen Länder angesichts der Krise im zerfallenden Jugoslawien zunächst keine gemeinsame Handlungsstrategie hatten entwickeln können. Heute verfügt die EU nicht nur über verschiedene Instrumente in der Außen- und Sicherheitspolitik, sie ist auch in ver­ schiedenen Friedenseinsätzen, vorwiegend in Europa, tätig. Zum zweiten wurde das NATO-Verteidigungsbündnis erweitert und strategisch an die veränderte Weltlage an­ gepasst (vgl. Kap. 6.4.2). Vor dem Hintergrund des Kosovo-Krieges definierte das Bündnis auf seinem Gip­ fel im April 1999 eine neue Sicherheitsstrategie. Danach betrachtet sich die NATO nicht mehr nur als transatlantisches Verteidigungsbündnis für die Mitgliedsländer bei An­ griffen auf ihr Territorium, sondern sie formuliert den Anspruch, in begründeten Fäl­ len auch bei Konflikten einzugreifen, welche die Sicherheit von Menschen oder einer Region gefährden. Diese Entscheidung erforderte nicht nur einen erhöhten Koordi­ nations- und Kooperationsbedarf innerhalb der NATO, sondern sie wirft auch neue Fragen der völkerrechtlichen Legitimation solcher Einsätze sowie der Beziehungen zu den Vereinten Nationen auf. Dabei besteht in den meisten europäischen Ländern wie auch in der Bundesrepublik die Auffassung, die NATO auf ihre Kernaufgaben als De­ fensivbündnis zu konzentrieren und sie nicht zur „Interventionsallianz“ umzufunk­

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Tab. 2.3: Die wichtigsten Exporteure und Importeure schwerer Waffen, 2012–2016. Exporteur

Weltmarktanteil (%)

Importeur

Weltmarktanteil (%)

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

33 23 6,2 6,0 5,6 4,6 2,8 2,7 2,6 2,3

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

13 8,2 4,6 4,5 3,7 3,3 3,3 3,2 3,2 3,0

USA Russland China Frankreich Deutschland Großbritannien Spanien Italien Ukraine Israel

Indien Saudi-Arabien VAE China Algerien Türkei Australien Irak Pakistan Vietnam

Quelle: eigene Darstellung anhand des SIPRI Yearbook 2017; online verfügbar unter: https://www. sipri.org/sites/default/files/2017-11/yb_17_summary_de.pdf (aufgerufen am 28.06.2018).

tionieren. Zugleich stützen sich die Vereinten Nationen bei friedensfördernden Maß­ nahmen im Rahmen der regionalen Kooperation auf die NATO. Zum engeren Sicherheitsbegriff gehören darüber hinaus die Rüstungskontrolle und die gezielte Abrüstung, da die militärische Aufrüstung gerade in Krisenregio­ nen und das Rüstungspotenzial vieler Länder als ernsthafte Sicherheitsbedrohungen anzusehen sind. Die Daten zum Weltrüstungshandel geben leider wenig Hinweise auf eine „Friedensdividende“ nach dem Ost-West-Konflikt. Nachdem der Handel mit schweren Waffen nach 1989/90 deutlich zurückgegangen war, nimmt dieser Handel seit 2001 wieder kräftig zu, wie das International Institute for Strategic Studies (IISS) in Stockholm berichtet.³⁷ Außerdem waren im Jahr 2016 die Militärausgaben in den USA und anderen Ländern deutlich gestiegen.³⁸ Die führenden Großwaffenexporteure sind die USA (33 Prozent der weltweiten Rüstungsexporte) und Russland (23 Prozent der weltweiten Rüstungsexporte) gefolgt von China, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien. Hauptimporteure von Waffen sind Indien (13 Prozent), Saudi-Arabien (8,2 Prozent) gefolgt von den Verei­ nigten Arabischen Emiraten (VAE), China, Algerien und Türkei. So ist die erhoffte Kon­ version, d. h. die Umstellung der militärischen auf die zivile Produktion mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, nicht erfolgt, sondern es hat angesichts neuer Nachfragen und veränderter Anforderungen vielmehr eine Restrukturierung der Rüstungsproduktion stattgefunden.

37 Vgl. SIPRI Yearbook 2017 – Armaments, Disarmament and International Security (dt. Zusammen­ fassung), online verfügbar unter: https://www.sipri.org/sites/default/files/2017-11/yb_17_summary_ de.pdf (aufgerufen am 29.03.2018). 38 Vgl. https://www.sipri.org/research/armament-and-disarmament/arms-transfers-and-militaryspending/military-expenditure (aufgerufen am 23.03.2018).

2.2 Konflikte, Krisen, Kriege: Internationale Politik als Sicherheitspolitik |

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Im Bereich der Rüstungskontrolle sind Internationale Abkommen zum Verbot der gefährlichsten Waffen ein Mittel zur Eindämmung von Kriegsgefahren. Im Mit­ telpunkt stehen dabei Massenvernichtungswaffen – atomare, biologische und che­ mische Waffen. Nachdem chemische und biologische Waffen international verboten sind, liegt besondere Aufmerksamkeit auf dem Problem der nuklearen Proliferati­ on. Mit dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffensperrvertrag (Non-ProliferationTreaty, NPT), der 1995 auf unbefristete Zeit verlängert wurde, haben die Unterzeich­ nerländer versucht, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, aber bis heute dauert der Konflikt um die Einhaltung des Vertrags an. 184 Länder haben den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet und ratifiziert. Seit 1998 sind Länder wie In­ dien und Pakistan Atommächte, ohne den Vertrag unterzeichnet zu haben. Auch Israel hat den NPT-Vertrag nicht unterzeichnet, besitzt aber Atomwaffen. Andere, zu den sogenannten Schwellenländern gehörige Länder, haben heimlich Atomwaf­ fen gebaut. Nordkorea, das in der nuklearen Aufrüstung einen machtpolitischen Zugewinn und eine Festigung seines politischen Systems sieht, hat den NPT-Ver­ trag aufgekündigt; 2017 spitzte sich daraufhin der Konflikt mit der US-Regierung unter Donald Trump dramatisch zu. Ob es im Zuge neuer Gespräche zwischen Nordund Südkorea sowie den USA und Nordkorea 2018 zu einer nuklearen Abrüstung kommen wird, ist bislang offen. Der Iran wird möglicherweise in einigen Jahren so weit sein, Atomwaffen bauen zu können; die Regierung bestreitet dies und gibt an, die Technologie nur für friedliche Zwecke zu entwickeln. Nachdem die irani­ sche Regierung völkerrechtlich vorgesehene Inspektionen durch die Internationale Atomenergieorganisation IAEO verhindert und die Vereinten Nationen mehrmals Sanktionen gegen den Iran verhängt hatte, konnte nach längeren Verhandlungen im Jahr 2015 ein Abkommen mit dem Iran ausgehandelt werden, demzufolge die In­ spektionen zugelassen und die Sanktionen schrittweise aufgehoben werden sollten. Dennoch schwelt der Konflikt weiter, nachdem die USA im Mai 2018 ihren Rück­ zug aus dem Iran-Abkommen und neue Sanktionen gegen das Land angekündigt haben, während die anderen Unterzeichnerstaaten, darunter auch die EU, am Ab­ kommen festhalten wollen. Aber auch neue Rüstungskontrollprojekte, wie etwa das Verbot sämtlicher Nukleartests, sind schwierig durchzusetzen. Eine wichtige Aufgabe internationaler Organisationen besteht daher in einer kontinuierlichen „Überzeugungsarbeit“ der beteiligten Akteure durch die internationale Gemein­ schaft. Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarung bieten immer wieder Angriffs­ punkte für die Aktionen von nicht staatlichen Organisationen und Initiativen. Die Kampagne gegen die Anti-Personen-Minen („Landminen“) mit ihren internationa­ len Aktionen zeigt, dass nicht staatliche Gruppen die Öffentlichkeit auf bestehende Probleme aufmerksam machen und internationale Abkommen anregen können. Die­ se Kriegswerkzeuge sind inzwischen international geächtet. Für ihre erfolgreiche Aktivität zum Verbot dieser grausamen Waffen erhielt die Kampagne gegen Anti-Per­ sonen-Minen im Jahr 1997 sogar den Friedensnobelpreis.

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Ein weiteres Problem der Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Kon­ flikts besteht in der rasanten Zunahme von privaten Sicherheits- und Militärfirmen (PSMF) und der Auslagerung von militärischen und sicherheitspolitischen Aufgaben aus der staatlichen Zuständigkeit in die Hände privater Unternehmen (vgl. Schnei­ ker 2009). So stellten die PSMFs allein im Irakkrieg 2003 das zweitgrößte „Kontin­ gent“ nach den Vereinigten Staaten, aber auch in vielen anderen Krisengebieten der Welt, etwa in Afghanistan und Somalia, sind heute private Firmen im Einsatz. Sie erfüllen oft Aufgaben, die aufgrund von Kürzungen oder Umstrukturierungen in öffentlichen Haushalten nicht mehr von Staaten wahrgenommen werden. Vor allem Staaten mit einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber Privatisierungen öf­ fentlicher Aufgaben, wie die USA und Großbritannien, greifen auf private Militärund Sicherheitsfirmen zurück. Ihr Einsatz wirft für die internationale Politik jedoch neue Fragen auf, denn sie verändern nicht nur die Konfliktdynamik in den Einsatz­ ländern und bringen eine neue profit- und marktorientierte Logik in Krisen- und Kriegsgebiete. Sie beeinflussen darüber hinaus den Einsatz humanitärer Akteure, die im Rahmen von UN-Hilfsaktionen tätig sind, wenn diese von privaten Firmen gesichert werden, die von der Bevölkerung abgelehnt werden. Besonders umstrit­ ten ist die Frage, wie die von Mitgliedern der privaten Sicherheits- und Militärfirmen verübten Straftaten an zivilen Personen geahndet werden können, da sie keinem militärischen Kommando oder direkter staatlicher Kontrolle unterliegen (vgl. Schnei­ ker 2009). Eine bessere und koordinierte Regulierung des Einsatzes von privaten Sicherheits- und Militärfirmen ist daher im Interesse der internationalen Gemein­ schaft. Sicherheitspolitik beinhaltet deshalb darüber hinaus auch aktive Konfliktpräven­ tion. Gerade in diesem Bereich haben internationale Organisationen, wie die Verein­ ten Nationen, nicht staatliche Organisationen (NGOs) sowie die Regierungen vieler Länder eine wichtige Rolle übernommen. Kooperative Politik- und Aushandlungspro­ zesse in Internationalen Organisationen können zudem ein Forum für eine gewaltfreie Konfliktaustragung zwischen Staaten bilden. Während der enge Sicherheitsbegriff primär auf die sicherheits-, verteidigungsund militärpolitischen Maßnahmen abzielt, bietet der erweiterte Sicherheitsbegriff die Möglichkeit, präventive politische und soziale Perspektiven in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Dabei wird zum einen gefordert, die Problematik der Gewalt ge­ gen Zivilisten, vor allem angesichts der Ausweitung der „neuen Kriege“, in den Si­ cherheitsbegriff aufzunehmen, zum anderen aber auch ökologische und sozio-ökono­ mische Gefährdungen von Sicherheit zu berücksichtigen. Der erweiterte Sicherheits­ begriff wurde zuerst im Rahmen des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) gefordert. Juan Somavia, ehemaliger UN-Botschafter Chiles und Initiator des Weltsozialgipfels 1995, skizziert den weiten Sicherheitsbegriff, der an den Bedürfnissen von Menschen orientiert ist, folgendermaßen: „Wir müssen weg von einer Politik, die sich in ers­ ter Linie um die Sicherheit von Staaten kümmert. Dreh- und Angelpunkt aller Politik

2.2 Konflikte, Krisen, Kriege: Internationale Politik als Sicherheitspolitik |

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muss die Sicherheit des Menschen sein.“³⁹ Nach seiner Auffassung könne Sicherheit nur durch die Bewältigung sozialer Alltagsprobleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung erreicht werden. Zwar seien vom Sicherheitsrat beschlossene BlauhelmEinsätze wichtig, doch um gewaltsame Konflikte zu verhindern, so Somavia, „[. . .] ist langfristig gesehen soziale Entwicklung jedoch wichtiger als militärische Aktion. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Bedrohung durch die Atombombe längst ab­ gelöst durch die soziale Bombe: Terrorismus, Drogensucht, Flüchtlingsströme sind ja alles Folgen unsozialer Politik“.⁴⁰ Die Debatte um die menschliche Sicherheit ist seit dieser Zeit nicht abgerissen. In der Friedens- und Konfliktforschung wird daher versucht, mit einem HumanSecurity-Ansatz der menschlichen Sicherheit und nicht nur der Sicherheit von Staaten größere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Umorientierung in Richtung eines HumanSecurity-Ansatzes wurde in der UN bereits vom damaligen Generalsekretär Kofi Annan angestoßen: [. . .] a new understanding of the concept of security is evolving. Once synonymous with the de­ fense of territory from external attack, the requirements of security today have come to embrace the protection of communities and individuals from internal violence. The need for a more hu­ man-centered approach to security is reinforced by the continuing dangers that weapons of mass destruction, most notably nuclear weapons, pose to humanity.⁴¹

Im Unterschied zu einem Sicherheitsbegriff, der sich auf die Integrität von staatlichen Grenzen und Auseinandersetzungen zwischen Staaten fokussiert, ist hier der Aus­ gangspunkt die Zunahme von Gewalt innerhalb von Staaten und die Sorge um die Sicherheit von Menschen. Obwohl der menschliche Sicherheitsbegriff unter analyti­ schem Gesichtspunkt weit und teilweise auch vage gefasst ist, hat er als Leitmotiv in der internationalen Politik und vor allem in den UN-Sonder- und Unterorganisationen immer größere Bedeutung erlangt. Das „Human Security Project“ an der Simon Fra­ ser University in Vancouver, Kanada, legt beispielsweise diesen Sicherheitsbegriff zu­ grunde. Das Institut konzentriert sich hauptsächlich auf die Gewalt gegen die Zivilbe­ völkerung und dokumentiert diese in seinen jährlichen Berichten. Der „Human Secu­ rity Report“ wird von Einrichtungen in fünf Ländern unterstützt: dem Human Security Program des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationalen Han­ del in Kanada, der kanadischen Internationalen Behörde für Entwicklung, dem Minis­ terium für internationale Entwicklung in Großbritannien, dem norwegischen königli­ chen Außenministerium, der Rockefeller Foundation, der Behörde für internationale Entwicklungszusammenarbeit in Schweden, dem Außenministerium der Schweiz so­

39 Somavia, Juan. Zum Weltsozialgipfel. Interview. Der Tagesspiegel. 6.03.1995, S. 3. 40 Somavia, Juan. Zum Weltsozialgipfel. Interview. Der Tagesspiegel. 06.03.1995, S. 3. 41 United Nations Secretary-General Kofi Annan. Millennium Report (2000), Chapter 3, p. 43–44, online verfügbar unter: http://www.un.org/en/events/pastevents/pdfs/We_The_Peoples.pdf (aufge­ rufen am 27.03.2018).

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wie der schweizerischen Behörde für Entwicklung und Zusammenarbeit. Wie die Her­ ausgeber des Berichts betonen, sei der Human-Security-Ansatz besonders geeignet, um zivile, nicht militärische Sicherheitsmaßnahmen in Post-Konflikt-Gesellschaften zu entwickeln.

2.2.3 Internationaler Terrorismus Der internationale Terrorismus wird heute von den meisten Staaten der Welt als eine ernste Gefährdung der Sicherheit betrachtet. Er ist nicht auf ein Land oder eine Region beschränkt, sondern stellt eine grenzüberschreitende, transnationale Sicherheitsge­ fährdung dar, die verschiedene Länder simultan bedrohen kann. Terrorismus bedeutet allgemein formuliert die gegen Zivilisten gerichtete Gewalt, die im Hinblick auf einen politischen Zweck ausgeübt wird und die unter der Bevölke­ rung Panik, Angst und Verunsicherung auslösen soll. Einer Definition des Politikwis­ senschaftlers Ulrich Schneckener zufolge ist Terrorismus „[. . .] eine Gewaltstrategie nicht staatlicher Akteure, die aus dem Untergrund agieren und systematisch versu­ chen, eine Gesellschaft oder bestimmte Gruppen in Panik und Schrecken zu versetzen, um nach eigener Aussage politische Ziele durchzusetzen“. (Schneckener 2006: 21). Der Begriff des Terrorismus muss jedoch genauer definiert werden. Wie der Politiktheore­ tiker Herfried Münkler feststellt, erwachsen die Probleme im Umgang mit dem Begriff des Terrorismus „[. . .] nicht nur aus sachlichen Schwierigkeiten bei einer verbindli­ chen Grenzziehung zwischen Terrorismus, Verbrechen und Partisanenkrieg, sondern sie sind auch die Folge semantischer Verwirrspiele der politischen Akteure, die durch die Besetzung bestimmter Begriffe die eigene Position zu verbessern und die der Ge­ genseite zu verschlechtern suchen“. (Münkler 2003: 175 f.). Indem Aktivisten oder eine Gruppe als „terroristisch“ eingestuft werden, erfolgt ihre politische Ausschließung. Dagegen reklamieren die als terroristisch bezeichne­ ten Gruppierungen häufig für sich selbst, Freiheits- oder Unabhängigkeitskämpfer zu sein, die für einen politischen Kampf auf Gewaltmethoden zurückgreifen müssten, um politische Veränderungen zu erreichen. Menschenrechtsorganisationen fordern vor diesem Hintergrund, Unabhängigkeitsbewegungen nicht per se mit terroristischen Bewegungen gleichzusetzen, auch wenn sie Gewaltmittel anwenden, sondern einen differenzierten Zugang zur Einstufung gewalttätiger Aktionen als Terrorismus zu ent­ wickeln. So kann eine Gruppe oder Bewegung, die mehr Autonomie und Selbstbe­ stimmung fordert, von einer Regierung rigoros ausgegrenzt und damit radikalisiert werden, was zur Eskalation einer Spirale der Gewalt bis hin zum Terrorismus führen kann, wenn die Regierung keine Deeskalation erzielen kann. Aber auch Terror zur Er­ zwingung materieller Vorteile durch gewalttätige Gruppen kann Ursache von terroris­ tischen Gruppenbildungen sein. Eine Expertise des Human Security Report Project kommt im Human Security Brief 2007 aufgrund von Datenauswertungen nach den Terroranschlägen in New York

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und Washington am 11. September 2001 zu dem Ergebnis, dass die Häufigkeit von terroristischen Angriffen im Zeitverlauf betrachtet eher abgenommen und die Opfer­ zahlen – mit Ausnahme des Irak seit 2003 – etwa gleich geblieben seien. Ursache für den Rückgang terroristischer Gewalt sei vor allem die Entwicklung auf dem afri­ kanischen Kontinent gewesen.⁴² Dennoch haben sich dort wie auch im Nahen und Mittleren Osten aufgrund des seit 2011 anhaltenden Syrien-Krieges immer wieder neue terroristische Gruppen gebildet, wie beispielsweise der sogenannte „Islamische Staat“ (IS), einer straff organisierten militanten Bewegung, die sich aus Kämpfern verschiedener Ländern zusammensetzt; über soziale Medien und Anwerbungen re­ krutieren sie sich selbst aus europäischen Ländern. Das Gesamtbild terroristischer Gruppen und der durch sie verübten Gewalttaten verändert sich daher im Zeitverlauf, ebenso wie die Opferzahlen terroristischer Gewalt. Historisch ist Terrorismus an sich kein neues Problem. In der Vergangenheit ha­ ben nationalistische, separatistische, anarchistische, rechtsextremistische und anti­ kapitalistische Bewegungen in europäischen und anderen Ländern auch immer wie­ der Gewalttaten gegen den eigenen Staat und die eigene Bevölkerung ausgeübt, um auf ihre politischen Forderungen aufmerksam zu machen. Beispiele sind die separa­ tistische Bewegung der inzwischen aufgelösten ETA in Spanien, die IRA im Nordir­ land-Konflikt, der Tschetschenien-Konflikt in Russland oder die „Rote Armee Frakti­ on“ (RAF) in Deutschland. Flugzeugentführungen, Selbstmordattentate und gewaltsa­ me Angriffe auf symbolische Gebäude und Einrichtungen gehören daher seit längerem zum Repertoire terroristischer Aktivitäten, wie diese Beispiele zeigen. Die Internatio­ nalisierung des Terrorismus mit grenzüberschreitenden Aktionen nahm mit spektaku­ lären Flugzeugentführungen palästinensischer Gruppen nach dem Sechs-Tage-Krieg Ende der 1960er-Jahre ihren Anfang und erreichte mit den Anschlägen vom 11. Sep­ tember 2001 in New York und Washington mit rund 3.000 Opfern einen vorläufigen traurigen Höhepunkt. Vor allem islamistische Gruppierungen bekennen sich heute offen zum Terror durch Selbstmordattentate, symbolische Gewaltakte oder bewaffne­ ten Kampf. Kennzeichen der neuen islamistischen Welle terroristischer Anschläge ist die Privatisierung von Gewalt, d. h. die Entwicklung gewaltbereiter informeller Orga­ nisationen, die sich nicht im staatlichen Kontext, sondern in einem internationalen Netzwerk bewegen, welches länderübergreifend agiert. Besonders die offenen Gesell­ schaften in westlichen Ländern bieten vielfältige Angriffsflächen, aber auch andere Länder in Nordafrika und Asien sind wiederholt Ziel von Anschlägen gewesen. Der internationale Terrorismus hat daher vor allem den Sinn, die Bevölkerung zu verun­ sichern und zu terrorisieren, wobei die Verfolgung konkreter politischer Interessen häufig diffus bleibt. Für die zivile Gesellschaft stellt die durch terroristische Gruppie­ rungen und Netzwerke „privatisierte Gewalt“ eine enorme Herausforderung dar.

42 Vgl. Human Security Brief (2007) S. 2 f., online verfügbar unter: https://www.files.ethz.ch/isn/ 55856/HSRP_Brief_2007.pdf (aufgerufen am 29.03.2018).

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Die Reaktionen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind vielfältig. In den westlichen Ländern hat die Erfahrung der Gewalt durch Terrorismus nicht nur zu einer Verschärfung von Asyl- und Einreisebestimmungen, sondern auch innenpo­ litisch zu neuen Kontroll- und Überwachungsgesetzen geführt. So hat die US-ame­ rikanische Regierung seit 2001 schärfere erkennungsdienstliche Überprüfungen bei der Einreise in das Land eingeführt, die Zusammenfassung verschiedener Behörden in einer neuen Heimatschutzbehörde („Homeland Security“) durchgesetzt und die Überwachung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden ausgeweitet. Die europäischen Länder haben gleichfalls ihre Überwachungs- und Kontrollmechanismen verstärkt, wobei sich die Europäische Union um eine koordinierte, effektive Bekämpfung des Terrors auf europäischer Ebene bemüht. In ihrer Sicherheitsstrategie hat die Euro­ päische Union dem internationalen Terrorismus höchste Priorität zugewiesen und, nach den Anschlägen in Madrid im März 2004, einen EU-Koordinator für die Ter­ rorismusbekämpfung berufen. Zu seinen Aufgaben gehören u. a. die Koordination verschiedener Maßnahmen zur Informationsgewinnung und zum Ausbau von Daten­ informationssystemen innerhalb Europas und in Kooperation mit den Vereinigten Staaten (z. B. Flugdatensätze, Beobachtungen von Finanzströmen etc.), Gefahren­ abschätzungen sowie die Koordination von Maßnahmen im Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes. Der Konflikt zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsrechten von Bürgern hat sich als Folge der schärferen Überprüfung und Kontrolle vertieft. Ihrem Grund­ konsens entsprechend sind westliche Gesellschaften als offene Gesellschaften kon­ zipiert, in denen Einschränkungen von Bürger- und Freiheitsrechten nur in Ausnah­ mefällen gerechtfertigt sind und politisch legitimiert werden müssen. Dem Bedürfnis nach Sicherheit steht sowohl in europäischen Ländern als auch in den Vereinigten Staaten eine Ablehnung von übermäßigen Kontrollen gegenüber. Daher ist bei allen Maßnahmen die Frage der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Methoden und Mittel sorgfältig zu prüfen. Die genauen Ausmaße des internationalen Terrorismus sind bestenfalls umriss­ haft bekannt. Moderne Medien und neue soziale Kommunikationsmittel, die Verzah­ nung verschiedener Gruppen sowie ihre Finanzierung durch potente Geldgeber und nicht zuletzt ein gesellschaftliches Umfeld in korrupten Gesellschaften begünstigen die potenzielle Ausbreitung terroristischer Gruppierungen. Angesichts der Bedeu­ tungszunahme islamistisch-fundamentalistischer Gruppierungen im internationalen Terrorismus, wie Al-Qaida oder ISIS, wird dabei häufig die Frage diskutiert, wie der konkrete Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt zu erklären ist bzw. ob der Is­ lam angesichts der hohen Zahl an Selbstmordattentätern psychosoziale Dispositionen zur Selbsttötung begünstigt. Transzendenz- und Heilserwartungen, Heldenmythen und Konformitätszwänge werden dabei ebenso benannt wie soziale Erfahrungen von Entfremdung, Ohnmacht und Marginalisierung. Aber auch ökonomische „Entschä­ digungen“ für die Familien der Selbstmordattentäter spielen bei der Unterstützung terroristischer Netzwerke eine Rolle. Tradierte religiöse Milieus, rigide Männlich­

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keitsbilder und psychosoziale Dispositionen können die Ausbildung terroristischer Gewaltgruppen begünstigen, sind aber nicht die Hauptursache der Entstehung und Ausbreitung des islamistisch-fundamentalistischen Terrors. Argumente, die einer bestimmten Religion, wie dem Islam, generell einen inhärenten Hang zur Gewalt zuschreiben oder Terror durch Armutslagen erklären wollen, erscheinen vor dem Hintergrund der Geschichte terroristischer Bewegungen im globalen Vergleich wenig überzeugend. Die blockierte Modernisierung der arabischen Länder mit einer hohen Geburtenrate bei gleichzeitig geringer Aufstiegsperspektiven für eine neue Schicht jüngerer Männer mit höheren Erwartungen sowie ein Netzwerk der organisierten Gewalt spielen sicher eine wichtige Rolle. Fehlende Gestaltungs- und Partizipati­ onsmöglichkeiten, unrealistische Zukunftserwartungen sowie die Dichotomie ver­ krusteter patriarchalischer Klanstrukturen und Bildungsfeindlichkeit sind ebenfalls unterstützende Faktoren für diesen Prozess, der durch ein Gewaltunternehmertum verstärkt wird. Politische Maßnahmen zur Einhegung des internationalen Terrorismus reichen von einer deutlichen Ächtung der Gewalt durch internationale Organisationen, poli­ tisch Verantwortliche und Führungspersönlichkeiten aus religiösen und gesellschaft­ lichen Organisationen, gezielte sicherheitspolitische und polizeiliche Maßnahmen so­ wie eine intensive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ursachen von Ge­ walt und Terror durch verschiedene Gruppen.

2.2.4 Problembeispiel: Ethnische Konflikte und Staatszerfall Die Problematik von Krieg und Gewalt und deren Bearbeitung soll im Folgenden ex­ emplarisch am Beispiel ethnischer Konflikte aufgezeigt werden. Mit dem Zerfall von Staaten wie der ehemaligen Sowjetunion und der Föderation Jugoslawien am Ende des Ost-West-Konflikts verschärften sich ethnische Konflikte bis hin zum Bürgerkrieg. In vielen Fällen, vor allem in Südosteuropa und dem Kaukasus konnten diese gewalt­ samen Auseinandersetzungen nur mit Mühen beendet werden. Aber auch Afrika lei­ det unter der Zunahme ethnischer Gewalt, wie Beispiele in Ruanda, im Kongo und im Sudan zeigen. Die Eskalation dieser Konflikte fordert nicht nur zahlreiche Opfer, sondern bedroht auch die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Zusammen­ halt der Menschen in den betroffenen Gebieten. Wenn Staaten versagen, die Sicher­ heit der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten, sich eventuell sogar selbst an Geno­ zid und „ethnische Säuberungen“ beteiligen, wird es sehr schwer, die tief gespaltenen und traumatisierten Gesellschaften nach den Gewalterfahrungen wieder zusammen­ zuführen. Staatsversagen und Staatszerfall und die daraus resultierenden gewaltsamen Konflikte innerhalb von Staaten sind daher heute gravierende Probleme. Oft geht der Staatsverfall dabei mit der Politisierung ethnischer Konflikte einher. In der De­ batte über Nationalismus und Ethnizität kann generell zwischen essenzialistischen

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und konstruktivistischen Positionen unterschieden werden. Erstere definiert Nation nach ihren jeweiligen Kommunikations- und Kulturgewohnheiten über Tradition, Abstammung, Geschichte und Lebensumstände als grundlegende gesellschaftliche Kategorien (vgl. Bredow 1996). Konstruktivistische Positionen betonen dagegen den von Modernisierungsprozessen oder technisch-sozialen Entwicklungen bewirkten Prozess einer Wirklichkeitsproduktion von Nationen (z. B. Gellner 1999). Der An­ thropologe Benedict Anderson bezeichnet Nationen als „imagined communities“, vorgestellte Gemeinschaften. Anderson geht der Frage nach, wie Menschen ein Zu­ sammengehörigkeitsgefühl entwickeln können, wenn sie nicht mehr in überschauba­ ren Gemeinschaften leben und sich persönlich nicht kennen (Anderson 2005). Nach seiner Auffassung ist die Nation eine konstruierte Einheit, die in einem kommuni­ kativen Prozess bzw. einer imaginierten Wirklichkeit von Nation „erfunden“ wird, wobei Sprache bzw. die Verbreitung von Schrifttum eine entscheidende Rolle spielt. Historisch ist der Nationalismus eng mit der Entstehung von Nationalstaaten verbun­ den, liegt also der Formierung von Staatlichkeit zugrunde. Überhöhter Nationalismus kann aber auch zu politischen Zwecken und zur gewalttätigen Abgrenzung von ande­ ren Nationen missbraucht werden. Für diese Rivalitätskonstruktionen gibt es gerade in der europäischen Geschichte etliche Beispiele. Der Begriff Ethnizität spielt in der Friedens- und Konfliktforschung seit dem Zerfall Jugoslawiens eine wichtige Rolle, da Ethnizität in Machtkonflikten politisiert und von rivalisierenden Machtgruppen instrumentalisiert werden kann. Ethnizität bezeichnet eine Gruppenidentität, indem sich eine Gruppe mit einem gemeinsamen Bewusst­ sein von sich selber und ihrer Identität von ihrer als andersartig empfundenen sozia­ len Umgebung absetzt. Da Sprache als ein ausschlaggebendes Bindeglied für Ethnizi­ tät fungiert, ergibt sich eine Verknüpfung zwischen Ethnizität und Verwandtschafts­ beziehungen; der gemeinsame Bezug auf ein bestimmtes Narrativ von der eigenen Geschichte trägt erheblich zur Identitätsbildung bei (vgl. Anderson 2005). Als inter­ mediäre Brücke kann Ethnizität Individuum und Gesellschaft miteinander verbinden und in Phasen eines forcierten politischen und sozialen Wandels Gefühle der Unsi­ cherheit auffangen; Ethnizität verweist die Individuen verstärkt aufeinander, verleiht Gruppen innere Kohäsion und befördert das Streben des Einzelnen nach Identität. Andererseits können Dominanzgruppen Minoritäten gewaltsam ausgrenzen, sodass Ethnizität auch als unfreiwillig auferlegte Identifizierung erfahren werden kann. Kon­ fliktlinien können vor allem dann verstärkt werden, wenn Ethnizität mit einem unter­ schiedlichen Stand sozio-ökonomischer Entwicklung der verschiedenen Gruppierung verbunden ist. In multiethnischen Gesellschaften, zu denen immerhin etwa zwei Drittel der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zählen, kann Ethnizität eine zentrale Kon­ fliktlinie bilden, insbesondere dann, wenn sie politisiert und von nach Vormacht strebenden Gruppen polarisiert wird. Insofern birgt die Ethnisierung von Identitä­ ten ein vielschichtiges politisches Konfliktpotenzial. Konflikte entstehen dann, wenn eine Gruppe versucht, Macht zu erlangen, indem sie die eigene ethnische Identität be­

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stärkt und andere, auch mittels Gewalt und Einschüchterung, abwertet und versucht zu entmachten. Kleineren ethnischen Gruppen wird ein autonomer, selbstbestimm­ ter Status trotz eigener Schriftkultur zudem häufig verwehrt; in vielen Fällen strebt die Zentralregierung eine „Zwangsassimilation“ von Minderheiten an, beispielsweise durch die Nichtanerkennung der Minderheitensprachen und ihrer Kultur. Die Entwicklung der Konfliktlage in Bosnien-Herzegowina nach 1990 verdeutlicht dieses Problem. Es ist zugleich ein Fallbeispiel für die Frage, welche politische Ord­ nung nach Beendigung der gewaltsamen Konflikte sinnvoll und politisch tragfähig ist. Mit der faktischen Auflösung Jugoslawiens und den Unabhängigkeitserklärungen der Republiken Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina, die sich gegen die serbische Vorherrschaft in der jugoslawischen Föderation richteten, wurde ein Macht­ kampf entlang scharf demarkierter ethnischer Linien ausgelöst. Ethnizität wurde in diesem Machtkampf politisiert und instrumentalisiert, was zu einem erbitterten Bür­ gerkrieg führte (Becker/Brücher 2008). Bosnien-Herzegowina erklärte sich 1992 von Jugoslawien unabhängig und wurde von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt, nicht jedoch von Serbien, das für die Erhaltung der territorialen Einheit kämpfte. Die multiethnische Heterogenität des Landes begünstigte die Politisierung der Ethnizität. Die Volksgruppen der Bosniaken (43 Prozent), der Serben (31 Pro­ zent) und der Kroaten (17 Prozent) bewohnten ethnisch gemischte Gebiete und waren überdies durch Mischehen miteinander verwandt. Viele der Bewohner verstanden sich als Jugoslawen, wenn auch mit spezifischer ethnischer Zugehörigkeit. Erst nach­ dem ethnische Meinungsführer verschiedene Einfluss- und Gebietsansprüche geltend machten, erfolgte eine Polarisierung entlang ethnischer Linien, wobei Nationalismus und Ethnizität auf tragische Weise instrumentalisiert wurden. Die Ethnisierung des Konflikts ist eine der wesentlichen Kriegsursachen in dieser Region (vgl. Rüb 1999). Die Folge war ein grausam geführter Bürgerkrieg mit Massakern und Vertreibungen als Teil der „ethnischen Säuberungen“, systematischen Massenvergewaltigungen und brutalen Verfolgungen. Zahlreiche Vermittlungsversuche internationaler Organisatio­ nen scheiterten, und erst die militärische Intervention durch Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen und später durch IFOR/SFOR-Truppen der NATO und der USA brachten eine Wende. Ein Friedensabkommen konnte erst erzielt werden, nachdem sich die Bürgerkriegsparteien und ihre jeweiligen Protagonisten Serbien und Kroatien weitgehend verausgabt und Vertreter der internationalen Gemeinschaft Verhandlun­ gen durchgesetzt hatten. Im Jahr 1995 wurde in Dayton, Ohio, ein von Präsident Bill Clinton unterstütztes Friedensabkommen unterzeichnet, das Bosnien territorial in zwei (bzw. drei) ethnische Einheiten unterteilt und ein längerfristiges internationales Engagement in der Region vorsieht. State-building in Bosnien-Herzegowina folgte dem Gedanken der Machtteilung und Machtverschränkung der ethnischen Gruppen. Nach dem Friedensabkommen von Dayton besteht Bosnien-Herzegowina aus der vorwiegend von Serben bewohn­ ten Republika Srepska (49 Prozent) im Norden und Osten des Landes und der vor­ wiegend von muslimischen Bosniaken und Kroaten bewohnten Föderation Bosnien

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und Herzegowina (51 Prozent) sowie dem kleinen Sonderverwaltungsgebiet Brčko. Völkerrechtlich und nach der Verfassung soll das Land von den Repräsentanten der jeweiligen Volksgruppen im Rotations- bzw. Kollegialitätsverfahren als Einheit regiert werden. Diese Regelung folgt den territorial gegebenen ethnischen Bedingungen und beruht auf dem Konzept des föderalen power sharing, das in der Literatur zur Kon­ fliktregulierung in multiethnischen Regionen favorisiert wird. Das Power-SharingArrangement setzt politischen Willen auf Seiten der verschiedenen Gruppen vor­ aus und ist daher anfällig für Obstruktionspolitik, denn faktisch besteht dadurch eine Dreiteilung des Landes. Zudem wird damit das Primat der ethnischen Gemein­ schaft gegenüber dem Individuum vorgegeben. So sind die Spaltungen auch zwei Jahrzehnte nach dem Abkommen noch nicht überwunden, obwohl die internationale Präsenz anhält und der Transformationsprozess auf vielfältige Weise von internatio­ nalen Organisationen und der Europäischen Union begleitet wird. Die politische Lage zeichnet sich durch vielerlei Parallelstrukturen, einen politisch schwerfälligen Pro­ zess mit einer weitgehend machtlosen Zentralregierung und die faktische „ethnische Entflechtung“ von Regionen durch die Migration von insbesondere jüngeren Bewoh­ nern in die jeweils ethnisch verwandten Zentren aus. Im „Labor des Nation-Building“ kommen Beobachter und Diplomaten inzwischen zu dem Schluss, dass das Modell Bosnien-Herzegowina nur bedingt erfolgreich gewesen sei. Dies gilt auch für ein anderes Beispiel im ehemaligen Jugoslawien: Kosovo. Auch hier fand ein brutaler Bürgerkrieg statt, nachdem die Milosevic-Regierung in Serbi­ en 1992 den Autonomiestatus der Provinz Kosovo aufgehoben und damit erbitterten Widerstand der mehrheitlich albanischen Bevölkerung des Kosovo ausgelöst hatte. Nach jahrelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen entschied sich die internatio­ nale Gemeinschaft im Frühjahr 1999 aufgrund von gravierenden Verletzungen der Menschenrechte zum militärischen Eingreifen im Kosovo-Konflikt (vgl. OSCE-Bericht 1999). Auf Basis der UN-Resolution 1244 wurde Kosovo nach Beendigung des Krieges unter die Verwaltungshoheit der Vereinten Nationen gestellt mit dem Ziel, zwischen den verfeindeten ethnischen Gruppen der Serben und Kosovo-Albaner sowie anderen, zahlenmäßig allerdings kleineren Gruppen wie der Roma, Frieden zu stiften, den Auf­ bau neuer Institutionen zu unterstützen und schließlich auch den Status des Kosovo zu regeln. Dieser Prozess, vor allem die Regelung der Statusfrage – staatliche Einheit Serbiens oder Unabhängigkeit des Kosovo – gestaltete sich allerdings äußerst schwie­ rig. Anders als im Fall Bosnien-Herzegowina konnte keine Einheitslösung durchge­ setzt werden. Nach dem Scheitern der internationalen Vermittlungsmissionen prokla­ mierte das Parlament im Kosovo am 17. Februar 2008 einseitig die Unabhängigkeit als Staat. Bisher haben 76 der 193 UN-Mitgliedstaaten die Republik Kosovo anerkannt, darunter auch die meisten (aber nicht alle) EU-Mitgliedsländer. Völkerrechtlich ist die Sezession des Kosovo bis heute umstritten, politisch erscheint sie allerdings als die einzig gangbare Lösung. Seit Dezember 2008 überwacht die Europäische Union mit einer Rechtsstaatlichkeitsmission (EULEX) die Entwicklung im Kosovo, welche sich auch auf den nördlichen Teil Kosovos mit einer mehrheitlich serbischen Bevölkerung

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bezieht, der derzeit nicht von der Regierung in Pristina kontrolliert wird. Dieses inter­ nationale Engagement der Europäischen Union wird über längere Zeit und ggf. bis zur Aufnahme Serbiens und des Kosovo sowie anderer Länder des Westbalkans in die EU bestehen bleiben. Die beiden Fälle, Bosnien-Herzegowina und Kosovo, verweisen auf die großen Herausforderungen, denen sich internationale Organisationen nach der Beendigung von kriegerischen Konflikten gegenübersehen. Gespaltene Gesellschaften müssen im Aufbau neuer politischer Institutionen nicht nur Minderheitenrechte berücksichtigen und Formen politischer Selbstbestimmung für ethnische Minderheiten einführen, sondern auch zivilgesellschaftliche und habituelle Praktiken entwickeln, die einer friedlichen Gesellschaftsordnung förderlich sind (vgl. Steiner u. a. 2017). Während militärische Maßnahmen zur Regulierung von ethnischen Konflikten aufgrund völ­ kerrechtlicher Probleme und der immensen Kosten in politischer, ökonomischer als auch in menschlicher Hinsicht sorgsam abgewogen werden müssen und nicht im­ mer greifen, wird der Konfliktprävention international ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt. Vor allem die europäischen Länder sehen die Chancen in den zivilen Mit­ teln der Konfliktprävention und sind bestrebt, eine friedliche Koexistenz ethnischer Gruppen und Nationen zu unterstützen und auszubauen.

2.3 Internationale Normen Die internationale Zusammenarbeit von Staaten beruht auf rechtlich bindenden Ver­ einbarungen und völkerrechtlich wirksamen Normen. Die Frage, welche Normen wann und wie durchgesetzt und von internationalen Organisationen angewendet werden, ist ein zentrales Thema in den internationalen Beziehungen. Normen können als Rechtsrahmen verbindlich gesetzt oder im politischen und öffentlichen Diskurs als Bezugskategorien wirksam werden. Sie können „harte“ oder „weiche“ Zielbestim­ mungen erhalten; einige Normen sind rechtlich einklagbar, andere als Zielgrößen vorgegeben und überlassen die Umsetzung den jeweiligen Mitgliedsländern. In den meisten Fällen sind Normen auch als ethische oder moralische Richtlinie für politi­ sches Handeln zu verstehen. Wie eine Norm „eingerahmt“ oder begründet wird, geht oft erst aus einem län­ geren Prozess der Deliberation und des Austausches zwischen verschiedenen Positio­ nen hervor (vgl. Karns/Mingst 2010). Damit kommt dem Framing oder der Einrahmung von Normen eine zentrale Bedeutung in der Forschung zu. Normen sind in der Regel sprachlich kodifiziert und beziehen sich auf bestimmte Problemfelder, wie beispiels­ weise internationale Normen zur Kriegsführung und zur Behandlung von Kriegsge­ fangenen, Normen über den internationalen Umweltschutz und Normen zur Nicht­ diskriminierung der Geschlechter. Zugespitzt formuliert sollen sie das Verhalten im internationalen Kontext regeln und, unabhängig von der Region, dem wirtschaftli­ chen Entwicklungsstand oder der machtpolitischen Stellung einzelner Staaten An­

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wendung finden. Im Folgenden wird eine der wichtigsten internationalen Normen, die Menschenrechtsnorm, thematisiert und gezeigt, wie und auf welche Weise sie auch als internationale Norm wirksam wurde.

2.3.1 Menschenrechte: Das Recht, Rechte zu haben Die allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte (human rights) werden heu­ te als wichtigste internationale Norm bezeichnet. Die Vereinten Nationen sowie ei­ ne Reihe von Nichtregierungsorganisationen verstehen die Durchsetzung universaler Menschenrechte als Kernaufgabe ihrer Politik. Im Bereich der Menschenrechte greifen Staaten, internationale Organisationen und transnationale NGOs ineinander. Staa­ ten verankern allgemeine Bürger- und Menschenrechte beispielsweise in der Verfas­ sung, während internationale Organisationen durch völkerrechtliche Verträge und Er­ klärungen, Institutionen wie internationale Gerichte und Monitoring die Einhaltung von universalen Menschenrechten fördern. Nicht staatliche Organisationen wieder­ um treten als Fürsprecher (advocacy) und Lobbygruppen für die Einhaltung der Men­ schenrechte ein. Zu diesen Gruppen, die ein internationales Netzwerk bilden, zählen z. B. „Amnesty International“, „Terre des Femmes“, „Gesellschaft für bedrohte Völker“ oder „Ärzte ohne Grenzen“. Die zahlenmäßige Zunahme dieser Gruppen und ihr Be­ deutungszuwachs zeigen eine deutliche Stärkung des Menschenrechtsdiskurses an. Die Lage der Menschenrechte ist weltweit prekär. So beschreibt der Amnesty In­ ternational Report von 2017/18 die Menschenrechtslage zum Beispiel in Afrika mit fol­ genden Worten: „Africa’s human rights landscape was shaped by violent crackdowns against peaceful protesters and concerted attack on political opponents, human rights defenders and civil society organizations.“ (Amnesty International 2018: 18). Auch in den Staaten Asiens und des Pazifiks sind dem Bericht zufolge bedeutsame Men­ schrechtsverletzungen zu verzeichnen: „Human rights defenders, lawyers, journalists and others found themselves the target of state repression – from an unprecedented crackdown on freedom of expression in China to sweeping intolerance of dissent in Cambodia and Thailand and enforced disappearances in Bangladesh and Pakistan.“ (Amnesty International 2018: 36). Es wird deutlich, dass die andauernde und gravie­ rende Verletzung von Menschenrechten ein globales Problem darstellt und nicht zu­ letzt auch direkte Auswirkungen auf die zunehmende Flüchtlingsbewegung hat. Die Wurzeln des Menschenrechtsverständnisses liegen im Gedankengut der An­ tike (Stoa), im jüdischen und christlichen Denken, in Teilen des Islam und in Aspek­ ten afrikanischer Überlieferungen. Theoriegeschichtlich betrachtet ist die Konzeption allgemeiner unveräußerlicher Menschenrechte als Grundlage für politisches Handeln vor allem ein Produkt der Aufklärung. Zu den ältesten Freiheitsdokumenten, in de­ nen Menschenrechte festgehalten worden sind, gehört die Magna Charta Libertatum (1215), mit der sich der britische Adel vor monarchischer Willkür absicherte. Ihre posi­ tiv-rechtliche Ausprägung als Individualrechte haben die Menschenrechte dann unter

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dem Einfluss der Naturrechtslehre (John Locke) und vor allem durch die Philosophie der Aufklärung erhalten. Der Menschenrechtsgedanke findet in grundlegenden Doku­ menten politischer Gemeinschaften seinen Ausdruck, wie in der „Bill of Rights“ (1689) in England, in den USA in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und in der amerika­ nischen „Bill of Rights“ (1791) sowie in Frankreich während der Revolution von 1789. In der Bundesrepublik Deutschland sind im Grundgesetz von 1949 in den Artikeln 1–19 die grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechte festgehalten. Unter Menschenrechten versteht man allgemein diejenigen individuellen und kol­ lektiven Rechte und Ansprüche, die unmittelbar dem Schutz der jedem Menschen in­ newohnenden Würde dienen. Sie sind den Menschen unabhängig von ihrer Staatsan­ gehörigkeit, ihrem Glauben oder ihrem Geschlecht „von Natur aus“ gegeben. Während Menschenrechte mit dem Beginn der Aufklärung zunächst individuelle Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Eigentumsrechte sichern sollten, führte die rasche Industrialisierung und die damit verbundene Verelendung der Arbeiter gegen Ende des 19. Jahrhunderts dazu, dass dem Menschenrechtsgedanken sozial schützen­ de Dimensionen hinzugefügt wurden, wie das Recht auf Arbeit und Bildung und, in neuerer Zeit, das Recht auf eine minimale Absicherung in Notlagen, z. B. durch staat­ liche Sozialhilfe. Im 20. Jahrhundert kam als kollektives bzw. Gruppenrecht das Recht auf kulturelle und politische Selbstbestimmung zum Kreis der Menschenrechte hinzu. Den Kern der Menschenrechte bilden also die persönlichen Freiheitsrechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Integrität der Person. Zu den Men­ schenrechten gehören nach heutigem Verständnis aber auch das Recht auf Meinungsund Glaubensfreiheit, Besitz- und Eigentumsrechte, das Widerstandsrecht gegen Unterdrückung und die kulturelle und politische Selbstbestimmung. Als Menschen­ rechte der „dritten Generation“ gehören heute kollektive Menschenrechte auf Frieden, Entwicklung, Frauengleichstellung, gesunde Umwelt zur Gruppe der von den UN un­ terstützten Menschenrechte. Als internationale Aufgabe wird der Menschenrechtsschutz erst im 20. Jahrhun­ dert begriffen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Erfahrung des Holocaust sowie die Kriegsgräuel der Japaner in Asien während des Zweiten Weltkriegs. Zu einer in­ ternationalen Kodifizierung von Menschenrechten kam es erstmals im Rahmen der UN-Charta von 1945. Artikel 55 und 56 verpflichten alle UN-Mitglieder zur Achtung und Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der Menschenrechte. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von 1948 (Menschenrechts­ deklaration) hebt hervor: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ (Artikel 1).⁴³ Sie spricht allen Menschen die gleichen Rech­ te zu „ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache,

43 Vereinte Nationen (1948): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, http://www.un.org/depts/ german/menschenrechte/aemr.pdf (aufgerufen am 21.04.2018).

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Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen“ (Art. 24). Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hebt die Grundrechte hervor, indem es die ersten 19 Artikel den Grund- und Freiheitsrechten widmet (vgl. Grundgesetz der Bundesre­ publik Deutschland). Nach dem völkerrechtlich seit 1969 gültigen „Internationalen Übereinkommen gegen jede Form der Rassendiskriminierung“ haben die UN inzwi­ schen 25 weitere Einzelvereinbarungen verabschiedet, z. B. gegen Völkermord, Men­ schenhandel und Prostitution, Apartheid und Folter. Die politische Philosophin Hannah Arendt, deren Arbeiten durch die Erfahrun­ gen mit Nationalsozialismus und Holocaust in Deutschland geprägt sind, reflektiert diese gestiegene Achtung der Menschenrechte und die Rolle der internationalen Organisationen. Während sie in frühen Schriften noch davon ausging, dass Men­ schenrechte nur im Rahmen des Staates gewahrt werden können, rückte sie später angesichts des massiven staatlichen Terrors im nationalsozialistischen Deutschland und der Versäumnisse des NS-Staates, elementare Menschenrechte zu garantieren, von dieser Position ab und kritisierte das Konzept staatlicher Souveränität als un­ zulänglich. Wie Arendt argumentierte, wurde der klassische Souveränitätsbegriff faktisch zum Deckmantel nationalen Faustrechts und des Völkermords. In den „Apo­ rien der Menschenrechte“ entwickelte sie ihre Skepsis gegenüber staatlicher Garantie von Menschenrechten; vielmehr stellte sie „das Recht, Rechte zu haben“ als ein staat­ licher Souveränität übergeordnetes Prinzip heraus (vgl. Arendt 1955: 607 f.). Später trat sie für die Idee einer Weltgesellschaft ein, in der internationales Recht und globa­ le Formen der Menschenrechtspolitik einen zentralen Platz einnehmen. Das Recht, überhaupt Rechte zu haben, war in vielen Gesellschaften zunächst ausschließlich an nationalstaatliche Regelungen gebunden; dies ist heute anders, da die Menschen­ rechte als universell gültig anerkannt werden. Die Verrechtlichung des internatio­ nalen Menschenrechtsschutzes stellte daher einen gewichtigen Fortschritt dar, der die Rolle des nationalstaatlichen Gewaltmonopols als „Unterwerfungsvertrag“ zum Schutz von Leib und Leben des Bürgers gegen Gewalt und Willkür (Hobbes) einer übergeordneten Instanz überträgt und damit internationaler Deliberation und Norm­ bildung öffnet. Vergleichsweise am weitesten entwickelt wurde der internationale Menschen­ rechtsschutz regional und zuerst in (West-)Europa (1950) und in Amerika (1969), ansatzweise in Afrika (1981) und neuerdings in Asien. Andrew Moravcsik vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass die Präferenz für die rechtliche Verankerung universeller Menschenrechte durch internationale Organisationen, zumindest in der historischen Entwicklung der europäischen Länder, von der gesellschaftlichen und politischen Konstellation der Staaten abhängt und vor allem diejenigen Länder mit einer historisch schwächerer Menschenrechtstradition, wie etwa Deutschland oder Italien, nach dem Zweiten Weltkrieg dem internationalen, institutionalisierten Men­ schenrechtsschutz eine hohe Priorität beigemessen haben, weil sich binnenpolitische Akteure für internationale Regeln und deren Absicherung durch internationale Or­

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ganisationen einsetzen, um Erfahrungen wie zur Zeit des Nationalsozialismus und des Faschismus zukünftig auszuschließen („Lock-in“-These; vgl. Moravcsik 2000). So zeigt sich auch in der Menschenrechtsanalyse, dass der liberale Institutionalis­ mus gesellschaftliche Präferenzbildungsprozesse als Voraussetzung internationalen Handelns begreift. Demgegenüber hebt der Konstruktivismus hervor, dass die Ver­ ankerung von Menschenrechten auf Normdiffusion und den Sozialisationseffekt von internationalen Organisationen zurückzuführen ist. Thomas Risse und seine For­ schungsgruppe argumentieren beispielsweise, dass Menschenrechte in einem „Spi­ ralmodell“ internationale Verbreitung finden, das trotz einiger Rückschläge viele Fälle der Normdiffusion und der Anerkennung von Menschenrechten weltweit erklä­ ren kann (vgl. Risse/Kopp/Sikkink 2013). Kathryn Sikkink wiederum beschreibt die Internationalisierung von Menschenrechten durch ein Kaskaden-Modell, demzufol­ ge nationale Gerichte, internationale Tribunale und schließlich die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs einen entscheidenden Anteil an diesem Fortschritt hatten (vgl. Sikkink 2011). Grundlage für die europäische Menschenrechtspolitik ist die im Jahr 1950 verab­ schiedete „Europäische Menschenrechtskonvention“ (EMRK). Noch im selben Jahr richtete der Europarat den Europäischen Gerichtshof mit Sitz in Straßburg ein, der Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen verfolgt. Durch die Öffnung Osteu­ ropas hat der Gerichtshof an Bedeutung gewonnen, denn nun werden auch die neuen Europaratsmitglieder, wie etwa Russland, einer internationalen Verfassungsgerichts­ barkeit unterworfen. Eine steigende Zahl von Eingaben spricht für eine gewachsene Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs; seit Mitte der 1980er-Jahre ist die Zahl der Beschwerden ständig gestiegen. Ende 2015 gab es 64.850 anhängige Rechtssa­ chen. 21,4 Prozent davon betrafen die Ukraine, 14,2 Prozent Polen und 13 Prozent die Türkei.⁴⁴ Besonders wichtig war eine Reform des Gerichtshofs im Jahr 1998, nach der sich Bürgerinnen und Bürger aus den 47 Mitgliedsländern des Europarates mit Beschwerden direkt an das Gericht wenden können, wobei zunächst die nationale Ge­ richtsbarkeit durchlaufen werden muss. Im Einzelfall kann das Gericht jedoch, etwa bei Abschiebung oder Folter, Aufschub oder sofortige Unterlassung erwirken. Damit ist der Europäische Gerichtshof der einzige internationale Gerichtshof der Welt, bei dem Bürger sich direkt mit ihrer Beschwerde gegen den Staat wenden können. Das Konzept von Global Governance weist elementaren Menschenrechten Vorrang gegenüber jeglicher Form der territorialen Souveränität zu. Der Schutz des mensch­ lichen Lebens gegen Vernichtung, Hunger und Vertreibung sowie die Achtung der menschlichen Würde unabhängig von Fragen politischer Rahmenbedingungen steht im Zentrum der notwendigen Befugnisse, die ein globales Machtzentrum – wie die Vereinten Nationen – durchsetzen muss, um von einer neuen Qualität der Weltord­ nung ausgehen zu können. Allerdings klafft zwischen Anspruch und Realität eine Um­

44 https://www.coe.int/en/web/portal/gerichtshof-fur-menschenrechte (aufgerufen am 21.04.2018).

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setzungslücke. Die Vereinten Nationen haben in der Weiterentwicklung des Völkerge­ wohnheitsrechtes und der Übernahme des Prinzips einer „Schutzverantwortung“ bei besonders gravierenden Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Geno­ zid den Menschenrechten politisch und rechtlich eine größere Bedeutung gegeben, und damit auf Probleme in der Vergangenheit reagiert. Die Vereinten Nationen sind jedoch keine „Weltpolizei“, sodass die auf Menschenrechten basierte internationale Governance bislang nur in einigen Fällen eingelöst werden konnte und humanitäre Interventionen nur in wenigen Fällen erfolgt sind; trotzdem ist die Tendenz, dem inter­ nationalen Menschenrechtsschutz größere Bedeutung beizumessen, unverkennbar. Die Umsetzung der internationalen Erklärungen in geltendes Vertragsrecht trifft auf vielfältige Widerstände und Schwierigkeiten. Zwar besteht bei groben, gewaltsa­ men Konflikten inzwischen eine größere Bereitschaft einzugreifen; schwieriger ist es jedoch, die internationale Gemeinschaft zur Einhaltung von Menschenrechten in den Mitgliedsländern zu bewegen. Die Verwirklichung der Menschenrechte in der poli­ tischen und gesellschaftlichen Praxis zu realisieren, weist immer noch Defizite auf, obwohl die Vereinten Nationen mit Deklarationen und Abkommen diese Rechte zu schützen suchen. Exemplarisch kann dies am Beispiel der Frauenrechte verdeutlicht werden. Internationale Organisationen und Frauengruppen treten seit vielen Jahren dafür ein, die Rechtsstellung von Frauen und Mädchen durch international gültige, universale Rechte für Frauen zu stärken. So verabschiedeten die Vereinten Nationen 1993 die „Declaration on the Elimination of All Forms of Violence Against Women“, die Gewalt gegen Frauen verbietet. Dabei werden Frauenrechte als Menschenrechte verstanden. Die Praxis in vielen Ländern der Welt sieht jedoch anders aus: Selbst ele­ mentare Rechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit werden nicht eingehal­ ten. Zur Missachtung dieser Menschenrechte gehören insbesondere Praktiken, die die körperliche Integrität von Frauen verletzen, wie die genitale Verstümmelung durch Klitorisbeschneidung, Zwangssterilisationen und erzwungene Prostitution. Auch die in vielen Ländern verbreitete Kinderehe sowie die Zwangsheirat werden als Verlet­ zung der Menschenrechte von den UN kritisiert. Bislang hat es sich als ausgesprochen schwierig erwiesen, globale Menschenrech­ te durchzusetzen. Nicht nur „offizielle“ Positionen von Staaten, die ihre bestehen­ den Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten wollen, sondern auch unterschiedliche kulturelle Traditionen in den Ländern setzen dem Gedanken einer universalen Men­ schenrechtspolitik Grenzen. Von den größeren Ländern hat sich besonders China in der Vergangenheit vehement gegen die internationalen Forderungen nach Einhaltung der individuellen Menschenrechte gewandt, die das Land als „Einmischung in inne­ re Angelegenheiten“ zurückweist. Auch in den südostasiatischen Ländern wird die Frage von Menschenrechten und Demokratie kontrovers beantwortet. Während ei­ nige Staatsführer auf eigene „kulturelle Traditionen“ der Region verweisen und den „autoritären Weg“ als notwendig für den wirtschaftlichen Aufschwung bezeichnen, vertreten andere die Auffassung, dass das kulturelle Erbe bestimmter Regionen kein

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Hindernis für ein an Individualrechten orientiertes Menschenrechtsverständnis sei. Länder wie China verweisen inzwischen darauf, dass die Umsetzung von Menschen­ rechten ein „langer Weg“ sei, welcher aufgrund von sozialen Entwicklungsproblemen mehr Zeit beanspruche. Immerhin hat China, das in der Vergangenheit häufig für gro­ be Menschenrechtsverletzungen kritisiert wurde, im Jahr 2004 einen Zusatz in die Ver­ fassung aufgenommen (Art. 33.3). Er hält fest, dass das Land die Menschenrechte re­ spektiert und gewährleistet. Wie schwierig es ist, Menschrechte in der Weltpolitik durchzusetzen, lässt sich beispielhaft an Konflikten innerhalb der Vereinten Nationen um ein funktionsfähiges Organ zur globalen Überwachung der Menschenrechte zeigen. Zwar ist es inzwischen gelungen, einen neuen UN-Menschenrechtsrat mit Sitz in Genf einzurichten, aber das Mandat, die Verfahrensweisen und Kompetenzen bei Menschenrechtsfragen bleiben umstritten, insbesondere da nicht-demokratische Staaten in dem Gremium mit 47 Mit­ gliedern, die jeweils von der UN-Generalversammlung gewählt werden, die Mehrheit haben. Wie soll der Rat den vielen Grausamkeiten und Verletzungen der Menschen­ rechte wirksam entgegentreten? Welche Rolle sollen NGOs und unabhängige Exper­ ten im Ringen um einen besseren Schutz von Minderheiten spielen? So verlangten die EU-Staaten, die unter den 47 Mitgliedern des Menschrechtsrates über acht Stim­ men verfügen und von Kanada und der Schweiz unterstützt werden, eine periodische Überprüfung der Menschenrechte in allen Ländern, bei der auch Expertisen von Men­ schenrechtsorganisationen und unabhängige Quellen berücksichtigt werden sollen. Andere Länder, wie China und seine Verbündeten im Rat wie Pakistan, drängen dage­ gen darauf, dass bei dieser Überprüfung nur Informationen der Regierungen berück­ sichtigt werden sollten. Inzwischen sind jedoch auch NGOs und andere Stakeholder in den Monitoring- und Reportingprozess eingebunden, auch wenn damit die Diskussio­ nen über den tatsächlichen Einfluss des Menschrechtsrates der UN bei weitem nicht abgeschlossen sind und viele Menschenrechtsverletzungen nicht geahndet werden, wenn sich Staaten bzw. Staatengruppen gegen eine Untersuchung stellen. Das Beispiel zeigt, dass die Norm allgemeiner, unveräußerlicher Menschenrech­ te inzwischen nicht nur Eingang in internationale Dokumente gefunden hat, sondern auch zur Gründung neuer Institutionen, wie dem Europäischen Gerichtshof und dem UN-Menschenrechtsrat, geführt hat. Darüber hinaus demonstriert es, wie transnatio­ nale Netzwerke von NGOs die internationale Politik beeinflussen und selbst in Län­ dern, in denen der Menschenrechtsgedanke schwach verankert ist, eine gewisse Auf­ merksamkeit der Öffentlichkeit für Menschenrechtsverletzungen herstellen können. Die Normdiffusion hat transnationalen Charakter. Der Druck transnationaler Gruppen hat außerdem dazu geführt, dass politische Entscheidungsträger, wie Staatspräsiden­ ten, Generäle oder Geheimdienstchefs, bei Menschenrechtsverletzungen inzwischen von der internationalen Gemeinschaft direkt zur Verantwortung gezogen werden kön­ nen. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Kathryn Sikkink nennt dies die Ge­ rechtigkeits-Kaskade (Sikkink 2011).

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2.3.2 Problembeispiel: Internationales Flüchtlingsregime Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe waren im Jahr 2017 rund 68,5 Millionen Men­ schen weltweit auf der Flucht, ein deutlicher Anstieg gegenüber den Vorjahren; rund zwei Drittel flüchteten innerhalb ihres Landes, 25,4 Millionen sind internationale Flüchtlinge.⁴⁵ Im Folgenden wird am Beispiel des internationalen Flüchtlingsregimes aufgezeigt, wo die Einflussmöglichkeit von Normen einerseits dringlich, andererseits auch begrenzt ist. Internationale Vereinbarungen über den Status von Geflüchteten und die Gewährung von Asyl für Verfolgte sind als Reaktionen auf das weltweite Flüchtlingsproblem eine wichtige Errungenschaft. Auf der internationalen Ebene sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere Konventionen und Gesetze ent­ standen, um mit den Problemen der Flüchtlingsbewegungen umzugehen. So wird von einem „Flüchtlingsregime“ in internationalen Beziehungen ausgegangen, in dem un­ terschiedliche Rechts-, Regulierungs- und Hilfsprogramme zusammengefasst sind. Trotz dieser Regelungen wird das internationale System immer wieder durch neue Formen menschenverachtender Vertreibungen und Gewaltstrategien wie „ethnischen Säuberungen“ herausgefordert. Auch die Behandlung von Geflüchteten wirft immer wieder Fragen nach der Einhaltung von Menschenrechten in Flüchtlingslagern, Ab­ schiebungseinrichtungen und selbst in Polizeigewahrsam auf. Mehrere NGOs haben sich dieser Anliegen angenommen, wie „Pro Asyl“, „Amnesty International“ oder die „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Daher ist die Flüchtlingspolitik ein Bereich, in dem die internationale Norm der Menschenrechte und die politische Realität in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das internationale Flüchtlingsregime erweist sich faktisch als unzureichend, um den weltweit zunehmenden Problemen von Geflüchteten effektiv zu begegnen. Be­ reits um die Definition eines Flüchtlings wird gestritten. Nach der Genfer Konvention zur Rechtsstellung von Flüchtlingen von 1951 gilt derjenige als Flüchtling (refugee), der aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen sein Heimatland verlässt. Er (oder sie) genießt völkerrechtlichen Anspruch auf Schutz (Asyl) und Hilfe. Das Pro­ tokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 sowie neuere UN-Resolutio­ nen gehen von einem erweiterten Flüchtlingsbegriff aus, der auch Katastrophenopfer einschließt. Durch internationales Recht (noch) nicht umfassend geschützt sind dage­ gen Armutsflüchtlinge, Umweltflüchtlinge sowie Verfolgte aufgrund sexueller Gewalt. Die dramatische Zunahme von Umweltflüchtlingen ist schon statistisch nur schwer zu erfassen; Schätzungen schwanken zwischen 50 Millionen und einer halben Mil­ liarde Menschen (Internationales Rotes Kreuz). Eine weitere Gruppe von Flüchtlin­ gen, die bislang noch nicht universell geschützt wird, sind Opfer sexueller Gewalt; auch hier liegen keine statistisch verlässlichen Zahlen vor. Die systematische Verge­ waltigung als Teil von Folter und Verhörungen bzw. geschlechtsspezifisch begründete 45 Vgl. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten/ (aufgerufen am 22.06.2018).

2.3 Internationale Normen | 111

Verfolgung (gender persecution), werden nur von wenigen Ländern als Grund aner­ kannt um Asyl zu gewähren (z. B. USA; Deutschland). Die Genfer Flüchtlingskonven­ tion benennt zwar politische, religiöse oder rassische Verfolgung als Grund der Aner­ kennung als Flüchtling, nicht aber geschlechtsspezifisch begründete Verfolgung bzw. sexuelle Gewalt. Erst in jüngerer Zeit wird hier eine Veränderung der Rechtspraxis vorgenommen und die von internationalen Frauen- und Menschenrechtsgruppen ge­ forderte Ausweitung des Asylrechts bzw. die Neuformulierung des Flüchtlingsbegriffs aufgenommen. Weltweit gehört das Asylrecht zu einem der wichtigsten Rechte, das Verfolgten Schutz und Zuflucht gewähren kann. Damit schließt es auch direkt an den zentra­ len Grundsatz der universellen Gültigkeit der Menschenrechtsnorm an. Gerade in Deutschland gehörte die Unterstützung von geflüchteten Menschen seit Ende des Zweiten Weltkriegs zum Grundkonsens; die Asylregelung in Artikel 16 des Grundgeset­ zes von 1949 war entsprechend offen formuliert. Erst unter dem Eindruck einer stark ansteigenden Zahl von Asylsuchenden, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu verzeichnen war, wurde das Recht auf Asyl im Grundgesetz 1993 eingeschränkt und entsprechende Regelungen verschärft. Während die Zahl der Menschen, die in der Folgezeit Zuflucht in Deutschland fanden danach deutlich zurückging, wuchs diese Zahl in der Folge des Krieges in Syrien und anhaltenden Kämpfen in Afghanistan und im Irak seit 2015 sprunghaft an. Unter den europäischen Ländern nahm die Bundes­ republik in der Folgezeit die größte Zahl der aus diesen Regionen Geflüchteten auf. Gerade in Europa hält der Zustrom von Menschen, die aus ihrer Heimat aufgrund von Krieg und Gewalt aber auch aufgrund der oft unerträglichen Lebensbedingungen flüchten, weiter an. Eine gemeinschaftliche europäische Politik ist dabei vordringlich, scheitert aber immer wieder an den nationalstaatlichen Vorbehalten (vgl. Kap. 6.4.3). Übungsfragen zu Kapitel 2: Problemfelder der internationalen Politik 1. 2.

3.

4.

Kann Globalisierung zivilisiert werden? Erörtern Sie diese Frage aus der Sicht der Institutio­ nalisten. Was sind „neue Kriege“? Wodurch unterscheiden sie sich von Bürgerkriegen? Erläutern Sie den Begriff der neuen Kriege und geben Sie ein Beispiel. Wie können diese Kriege beendet werden? In der internationalen Umweltpolitik nimmt das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ eine zentrale Rolle ein. Erläutern Sie dieses Konzept. Wie kann diese Norm in der internationalen Politik umgesetzt werden? Was versteht man unter einem „Flüchtlingsregime“? Erörtern Sie die Bedeutung des Begriffs und stellen Sie das Konzept in einen theoretischen Zusammenhang.

112 | 2 Problemfelder der internationalen Politik

Anhang Tab. 2.4: Vergleich der CO2 -Emissionen pro Kopf 1990 und 2014. Land

CO2 -Emissionen (Tonnen pro Kopf) 1990

CO2 -Emissionen (Tonnen pro Kopf) 2014

Veränderung in Prozent im Ver­ gleich zum Basis­ jahr (1990)

USA (−14,64 %) Russland (−15,18 %) Japan (+7,51 %) Deutschland (−23,52 %) Vereinigtes Königreich (−33,1 %) Frankreich (−28,80 %) Kanada (−3,46 %) Türkei (+66,03 %) Indien (+142,98 %) China (+250,56 %)

19,323 13,980a 8,873 11,623b 9,711 6,421 15,659 2,705 0,712 2,152

16,494 11,858 9,539 8,889 6,497 4,572 15,117 4,491 1,730 7,544

−14,64 % −15,18 % 7,51 % −23,52 % −33,10 % −28,80 % −3,46 % 66,03 % 142,98 % 250,56 %

a

Daten erst ab 1992 verfügbar. Daten erst ab 1991 verfügbar. Quelle: Eigene Darstellung anhand der Daten der World Bank, online verfügbar unter: https://data. worldbank.org/indicator/EN.ATM.CO2E.PC?end=2014&name_desc=false&start=1960&view=chart (aufgerufen am 25.04.2018).

b

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3 Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland Die Analyse von Außenpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der internationalen Be­ ziehungen. Außenpolitik beinhaltet die Beziehungen eines Staates zu anderen Staa­ ten, die Rolle von Staaten in regionalen oder internationalen Organisationen und das Selbstverständnis eines Landes in Bezug auf seine Außendarstellung und die Wahr­ nehmung durch andere. Wie Reimund Seidelmann ausführt, bezeichnet Außenpolitik das Verhalten, mit dem die „im souveränen Nationalstaat organisierte Gesellschaft ihre Interessen gegenüber ihrer Umwelt wahrnimmt und durchsetzt“. (Seidelmann 1994: 42). Außenpolitik umfasst wirtschaftliche, politische, militärische, rechtliche und kul­ turelle Aspekte. Voraussetzung für die Außenpolitik ist das Vorhandensein von Staat­ lichkeit sowie die Fähigkeit und der Wille, die Interessen nach außen zu vertreten. Au­ ßenpolitik ist abhängig von geopolitischen Gegebenheiten, historischen Erfahrungen und internationalen Konstellationen, wie der Mitgliedschaft in internationalen Orga­ nisationen. „Analytisch bildet Außenpolitik den Fokus der auswärtigen Beziehungen zunächst des einzelnen Nationalstaates als primären Akteur, während andererseits der Analysefokus ‚internationale Beziehungen‘ der Systemperspektive, dem gesam­ ten Ensemble aller außenpolitischen Akteure verpflichtet ist.“ (Albrecht 1997: 63). Die Analyse von Außenpolitik basiert auf ähnlichen Grundannahmen wie die Analyse von internationalen Beziehungen (vgl. Krell/Schlotter 2018). Zugleich zeich­ net sie sich durch institutionelle, rechtliche und politische Voraussetzungen aus, die sie von den Gegebenheiten im internationalen System unterscheiden. So basiert die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und anderer westlicher Länder auf verfassungsmäßig zugeschriebenen Rechten und Pflichten der Akteure, die durch die Gewaltenteilung und -verschränkung gegeben sind, der Pluralität der an Außen­ politik beteiligten Akteure wie Parteien, Verbände und Interessengruppen, und auf historisch entstandenen Werten und Überzeugungen, die die jeweilige Außenpolitik prägen. Im Folgenden werden zunächst die allgemeinen Grundlagen für das Verständnis und die Analyse des außenpolitischen Handelns erläutert. In einem zweiten Schritt wird dann die Außenpolitik der Bundesrepublik in ihren Grundzügen behandelt. Ka­ pitel 4 widmet sich danach der Außenpolitik der Vereinigten Staaten.

3.1 Grundkonzepte: Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik Historisch war die Gestaltung auswärtiger Beziehungen zunächst ausschließlich der Exekutive vorbehalten. Sie wurde als „Staatskunst“ verstanden, die dem Ziel die­ nen sollte, die Macht eines Staates und seine territoriale Integrität über Diplomatie, https://doi.org/10.1515/9783110589207-003

3.1 Grundkonzepte: Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik |

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die Einrichtung von Bündnissystemen, z. B. durch eine Politik des „Machtgleich­ gewichts“, sowie nötigenfalls durch militärische Aktionen abzusichern; auch die – häufig gewaltsame – Erweiterung des Territoriums war eine Angelegenheit der Exeku­ tive. Die europäischen Monarchien versuchten zunächst, die Domäne der Außenpo­ litik gegenüber den Parlamentarisierungsstrategien des aufstrebenden Bürgertums abzuschotten. Nur schrittweise setzte sich eine Demokratisierung in der auswärtigen Politik durch. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 ist die erste Verfassung, die dem Parlament, d. h. dem amerikanischen Kongress, bedeutende Mitspracherech­ te in der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen einräumte. Zunehmend wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch im kontinental-europäischen Konstitutionalismus das Konzept des Primats der Exekutive infrage gestellt. Im 20. Jahrhundert erhielt das Parlament schließlich in fast allen Demokratien die Kompetenz, über internationale Verträge sowie über Kriegserklärungen und Friedensverträge in letzter Instanz zu entscheiden. Mit der Gründung der Bundesrepublik setzte sich auch in Deutschland das westliche Verständnis einer parlamentarisch kontrollierten Außenpolitik durch; außenpolitische Grundsätze wurden im Grundgesetz in Artikel 32 und 59 sowie dem nach der deutschen Vereinigung neu gefassten Artikel 23 (europäische Integration) verfassungsrechtlich festgelegt (vgl. auch Schmidt/Hellmann/Wolf 2007). Aus herrschaftskritischer Perspektive bleibt die Frage, inwieweit parlamentari­ sche Kontrolle und Transparenz bei außenpolitischen Entscheidungen gewährleistet sind, ein zentrales Problem moderner Gesellschaften. Auch in etablierten Demokrati­ en kann der Prozess demokratischer Entscheidungsfindung in der Außenpolitik einen Streitpunkt bilden, wenn, mit dem Verweis auf die Sensibilität von sicherheitspoli­ tischen Themen, Entscheidungsbereiche von der Öffentlichkeit ferngehalten werden oder Bürger- und Protestbewegungen einen größeren Einfluss auf Entscheidungen ausüben wollen. „Selbst in den modernen Demokratien ist Außen- und Sicherheits­ politik eines der letzten Reservate der Exekutive.“ (Seidelmann 1994: 47). Inzwischen hat sich gezeigt, dass nicht nur das Parlament, sondern auch gesellschaftliche In­ stitutionen sowie die Medien auf außenpolitische Entscheidungsprozesse Einfluss ausüben, auch wenn sie verfassungsrechtlich dafür nicht vorgesehen sind. Jede Re­ gierung in den westlichen Ländern geht bei ihrer Entscheidungsfindung daher nicht nur auf das Parlament, sondern auch auf die öffentliche Meinung ein, die sich in viel­ fältiger Form, z. B. in Zeitungen, Fernsehen, öffentlichen Foren und neuen sozialen Medien, ausdrückt. Aus Sicht der Regierung erfüllt dies zumeist auch das Interesse der Selbsterhaltung, da ein der öffentlichen Meinung widersprechender außenpolitischer Kurs in Demokratien die Abwahl zur Folge haben kann. Durch die gewandelte Rolle von Staatlichkeit, die sich im Kontext der Globali­ sierung und der zunehmenden internationalen Verflechtungen im Rahmen von in­ ternationalen Organisationen ergibt, verändern sich die Rahmenbedingungen für die Außenpolitik. Charakteristisch für die westlichen Demokratien ist die zunehmende Verrechtlichung von Politik, die Professionalisierung der an Entscheidungsprozessen beteiligten Akteure und eine stärkere Arbeitsteilung. Kein Staat in Europa betreibt

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heute Außenpolitik ausschließlich aus nationalem Interesse heraus, sondern wird die europäischen und globalen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Durch den Transfer von Souveränität auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik auf die Europäische Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gehen die Mitgliedstaaten der EU darüber hinaus wechselseitige Verpflichtun­ gen in ihrer jeweiligen Außenpolitik ein. Dies gilt vor allem für die Bundesrepublik, die die Unterstützung der europäischen Integration im Grundgesetz festgeschrieben und ihr damit Verfassungsrang gegeben hat. In internationalen Organisationen, wie den Vereinten Nationen (UN) oder der Welthandelsorganisation (WTO), bestehen darüber hinaus institutionalisierte globale Kooperationskanäle. Analytisch verbindet die Untersuchung der Außenpolitik drei Ebenen mitein­ ander: Sie beschreibt Außenpolitik als nationalstaatliches Verhalten; sie zeigt Zu­ sammenhänge zwischen innergesellschaftlichen und internationalen Faktoren auf und sie muss in verschiedenen Handlungsbereichen gouvernmentale und nicht gou­ vernmentale Maßnahmen einbeziehen (vgl. Seidelmann 1994: 43). Während in frühe­ ren Untersuchungen vor allem staatliches Handeln und das nationale Interesse von Staaten im Mittelpunkt der Analyse stand (realistische Denkschule), werden heute angesichts der zunehmenden Verflechtungen und Interdependenzen in den Inter­ nationalen Beziehungen komplexere Ansätze der Analyse präferiert (Bierling 2014; Jäger/Höse/Oppermann 2011; Schmidt/Hellmann/Wolf 2007). Mit dieser Entwicklung wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die auswärtigen Beziehungen nicht mehr auf die Analyse des Staatshandelns und der Diplomatie beschränken lassen. In­ stitutionalistische und konstruktivistische Ansätze gehen heute analytisch von einem komplexen System der Interessenvermittlung, Kommunikation und Verhandlung in der Außenpolitik aus. Dabei ist das außenpolitische Handeln nicht nur von Interessen geleitet. Vielmehr zeigt sich, dass internationale Normen sowie historisch und kul­ turell geprägte Deutungsmuster sowie die Werte einer Gesellschaft ebenfalls in den außenpolitischen Entscheidungsprozess eingehen. In der neueren Literatur wird Außenpolitik daher als ein Handlungsfeld verstan­ den, das eng mit innenpolitischen Bedingungen verknüpft ist und daher nur im Kon­ text der innenpolitischen Voraussetzungen analysiert werden kann (vgl. z. B. Bierling 2014; Brunner, Oppermann 2014). Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpo­ litik ist daher ein zentrales Konzept in der Analyse der Außenpolitik. Während die in­ ternationalen Beziehungen einerseits den Rahmen für die Außenpolitik bilden, der die Handlungs- und Entscheidungspräferenzen strukturiert und beeinflusst, so wird andererseits das innenpolitische Umfeld als zentraler analytischer Zusammenhang begriffen. Die internationalen Zusammenhänge sind nicht direkt politikverändernd; vielmehr wirken innenpolitische Faktoren als „Prisma“, durch das die externen Ein­ flüsse gebrochen und modifiziert werden. Akteurskonstellationen und Machtvertei­ lungen in einem gegebenen Land, historisch gebildete Normen und Werte sowie öf­ fentliche Diskurse über Sicherheits- und Außenpolitik werden als Basisfaktoren be­ trachtet, die Außenpolitik konstituieren. Die traditionelle analytische Trennung von

3.1 Grundkonzepte: Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik |

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Innen- und Außenpolitik gilt daher als überholt. Zudem zeigt die Policy-Forschung, dass auch in der Außenpolitik-Analyse interdisziplinär gearbeitet werden kann. In der Forschung zur Außenpolitik koexistieren verschiedene theoretische An­ sätze nebeneinander, die sich in Reichweite und Erklärungskraft voneinander un­ terscheiden. Welche Theorien bzw. Erklärungsansätze zur Analyse von Außenpolitik herangezogen werden, wird nicht nur von der Fragestellung der Untersuchung beein­ flusst, sondern auch vom Erkenntnisinteresse der Forschenden (vgl. Krell/Schlotter 2018). Theorieproduktion kann beispielsweise dem kritischen Anliegen entspringen, die internationalen Beziehungen in ihren grundlegenden Zusammenhängen und Machtstrukturen zu analysieren, oder sie kann auf einem Interesse an Problemlö­ sungen, z. B. in der Politikberatung, beruhen, wobei die bestehenden Verhältnisse zunächst als gegeben akzeptiert werden. Auch in methodischer Hinsicht ist eine Vielzahl von Vorgehensweisen zu konstatieren. Methodisch kann beispielsweise ein empirisch-analytisches, historisch-soziologisches, neo-institutionalistisches oder ein konstruktivistisches Verfahren gewählt werden, um das Problemfeld zu analysieren. Dem heutigen Forschungsstand entsprechend sollten die epistemologischen Impli­ kationen der unterschiedlichen Verfahren reflektiert und dargelegt werden. Im Folgenden wird ein Überblick über vorliegende Ansätze zur Analyse von Au­ ßenpolitik gegeben, die an eine Systematik des Politikwissenschaftlers Reimund Sei­ delmann (1994) anknüpft. Danach liegen vier Erklärungsansätze zur Analyse von Au­ ßenpolitik vor: 1. Der machtpolitische Ansatz: Er geht davon aus, dass Außenpolitik auf Erhalt, Ausbau und Absicherung der Machtposition eines Staates abzielt. In der Regel wird dabei ein „nationales Interesse“ unterstellt, das sich in der Außenpolitik manifestiert. Machtpolitische Studien untersuchen die globalen und regionalen Machtverhältnisse sowie die Kapazität von Staaten, über politische und diplomatische, gegebenenfalls auch über militärische Mittel eine Machtposition zum eigenen Vorteil auszubauen. Machtpolitische Ansätze gehen von einem Bild der Welt aus, welches von souverä­ nen Nationalstaaten geprägt wird (Realismus). Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat dieser Ansatz eine Renaissance erfahren und wird verschiedentlich mit geopoli­ tischen Überlegungen verknüpft. Diesem theoretischen Ansatz folgend definiert der rational messbare Maximalnutzen die außenpolitische Ausrichtung eines jeden Staa­ tes (Prominente Vertreter: Hans J. Morgenthau; John Mearsheimer; für die Bundesre­ publik z. B. Christian Hacke). Kritisch anzumerken ist hier, dass das Nationalstaats-Paradigma die Analyse in der Regel auf das Regierungshandeln verengt. Vertreter dieses Ansatzes tendieren da­ zu, einerseits die innerstaatliche Analyseebene (innenpolitisches Umfeld) und an­ dererseits die internationalen Interdependenzen und Akteurskonstellationen zu ver­ nachlässigen. Auch Normen und Werte, die sich im Verlauf der geschichtlichen Erfah­ rung gebildet haben, spielen in diesen Ansätzen meist keine Rolle. 2. Der Aktions-Reaktions-Ansatz: Er erklärt Außenpolitik als Reaktion auf einen von außen kommenden Anreiz (Ereignis), auf den ein Staat reagiert und dadurch wie­

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derum bei anderen Staaten Gegenreaktionen auslöst. Dieser Ansatz wird teilweise vom amerikanischen Behaviorismus beeinflusst und findet in der Perzeptionsanaly­ se eine Fortsetzung (Vertreter z. B. Karl Deutsch). Außenpolitik wird diesem Ansatz folgend also als Perpetuum mobile aus Reaktion und Aktion verstanden. Als Problem dieses Ansatzes wird die mangelnde Berücksichtigung von interna­ tionalen Herrschaftsverhältnissen und strukturellen Ursachen außenpolitischen Han­ delns genannt. Der Aktions-Reaktions-Ansatz ist stark vereinfachend und eignet sich vor allem für eingegrenzte Fragestellungen wie z. B. die Analyse der Reaktion von Staaten auf akute Krisen. 3. Der Ziel-Mittel-Ansatz: Dieser Ansatz ist beeinflusst durch die systemanalyti­ sche Denkschule. Er fragt nach den in der Außenpolitik angelegten Zielhierarchien, -kongruenzen und -konkurrenzen und danach, welche Mittel eingesetzt werden, um diese Ziele zu erreichen. Als Vorteile dieses Ansatzes gilt die Möglichkeit, die Zweckra­ tionalität außenpolitischen Handelns zu überprüfen, die Kompatibilität mit System­ trends festzustellen und eine außenpolitische Strategie an ihren proklamierten Zielen zu messen (Vertreter z. B. Ernst-Otto Czempiel; Helga Haftendorn). Der Ziel-Mittel-Ansatz, der auch für historische Längsschnitt-Untersuchungen – beispielsweise über die Prioritäten der deutschen Außenpolitik – geeignet ist, kann empirisch fundierte, realitätsbezogene Aussagen treffen. Das Problem dieses Ansatzes besteht allerdings in der Überbetonung des Systemcharakters internationaler Politik; Politik wird primär aus der Makro-Perspektive betrachtet und fokussiert politische Eli­ ten. 4. Der Bedingungsstrukturansatz: Er konzentriert sich auf die strukturellen Bedin­ gungsfaktoren für Außenpolitik, die sie in Inhalt, Ziel und Reichweite langfristig be­ stimmen (z. B. geografische Lage; Wirtschaftsstruktur; historische Bedingungen; mi­ litärische Ressourcen). Obwohl dieser Ansatz einige Vorteile aufweist, da er eine Be­ wertung allgemeiner Erfolgschancen von Außenpolitik in einer längerfristigen Sicht erlaubt, besteht das Problem hier in der Gefahr einer Generalisierung von Strukturen aus der Makro-Perspektive (Vertreter z. B. Paul Kennedy). Zwei neuere Erklärungsansätze sind darüber hinaus zu nennen. Hierzu gehören zum einen die unter dem Sammelbegriff zusammengefassten Rational Choice-Ansätze, die vor allem im angelsächsischen Raum weite Verbreitung gefunden haben, sowie zum anderen sozialkonstruktivistische Ansätze. 5. Rational-Choice-Ansätze beruhen auf der Grundannahme, dass Staaten auf Ba­ sis von rational begründeten Handlungsalternativen Entscheidungen (choices) fällen. Ihr Handeln ist kalkuliert, zielgerichtet und verfolgt in der Regel das „nationale Inter­ esse“ eines Landes. Eine besondere Variante des inzwischen recht vielschichtigen For­ schungsfeldes ist die Spieltheorie (game theory), die zuerst zur Analyse ökonomischer Entscheidungssituationen angewandt wurde (vgl. Tsebelis 1990). Heute wird sie von einigen Autoren im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und bei si­ cherheitspolitischen Analysen verwandt. Rational-Choice-Ansätze fragen in der Regel nicht nach dem Kontext politischen Handelns; die historische oder kulturelle Genese

3.1 Grundkonzepte: Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik |

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der zur Wahl stehenden Entscheidungsalternativen wird ebenfalls nicht hinterfragt. Auch die Perzeption eines Problems bzw. die kulturellen und subjektiven Vorausset­ zungen des zielgerichteten Handelns bleiben in der Regel unberücksichtigt. Präferiert werden mathematische Modelle (ökonometrische Modelle) und quantitative gegen­ über qualitativen oder historisch orientierten Forschungsmethoden. Rational-ChoiceAnsätze setzen das internationale System als gegeben voraus und operieren mit einem vorab bestimmten Set von Alternativen. Die Ergebnisse von Studien beziehen sich in der Regel auf ein eng umrissenes Problemfeld, wobei meist ein großer Datensatz ge­ neriert wird. Es findet eine Reduktion der Realität auf Präferenzen und (materielle) Interessen von Staaten statt, die heuristisch hilfreich, analytisch jedoch auf eine Ver­ einfachung der komplexen Interdependenz in der Außenpolitik hinausläuft. 6. Sozialkonstruktivistische Ansätze begreifen die Welt der internationalen Poli­ tik als historisch und sozial konstruierte Realität, die durch das intersubjektive Han­ deln von Akteuren bestimmt wird. Die systemische Umwelt sowie die strukturellen Zusammenhänge werden in diesen Ansätzen nicht als gegeben, sondern als in einem Prozess der sozialen Interaktion entstanden beschrieben. Der analytische Fokus liegt daher auf dem Prozess der Konstruktion der Realität in Form von Kommunikation und Sprache sowie der sozialen Interaktion von Akteuren. Institutionen werden als wichtig angesehen, da sie eine sozialisierende Wirkung auf Akteure ausüben können; zugleich sind die Akteure handelnde Subjekte, die Institutionen verändern und ge­ stalten können. Kollektive Werte und Normen sowie Diskurse und sprachlich kodierte Regeln sind hier Schlüssel für die Analyse der internationalen Beziehungen. Ein zen­ trales Thema bildet die historische und politische Konstruktion staatlicher Identität oder mit den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Peter Katzenstein „identity as a shorthand label for varying constructions of nation- and statehood“ (Katzenstein 1996: 6). Daher untersuchen Vertreter sozialkonstruktivistischer Ansät­ ze kulturell entstandene Normen und Werte und treten für eine stärkere Berücksich­ tigung gesellschaftlicher Zusammenhänge ein (vgl. Bierling 2014; Katzenstein 1996). Konstruktivistische Analysen von Außenpolitik fokussieren Normen und Werte als historisch entstandene Leitbilder und Handlungsorientierungen. Auch wenn dieser Ansatz eine interessante Perspektive darstellt, ist er dennoch nicht problemfrei (vgl. Krell/Schlotter 2018). So bleibt zum Beispiel zumeist unklar, warum welche soziale Konstruktionen wann an Bedeutung gewinnen. Des Weiteren werden strukturelle Einflussfaktoren weitgehend vernachlässigt. Außerdem lädt der Konstruktivismus dazu ein, den Begriff „soziale Konstruktion“ inflationär zu verwen­ den und ihm auf diese Weise inhaltliche Trennschärfe zu entziehen.

122 | 3 Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland

3.2 Die Außenpolitik der Bundesrepublik 3.2.1 Historische und institutionelle Rahmenbedingungen Die Beziehungen, die Deutschland in seiner Außenpolitik entwickelt und gestaltet, sind durch die besonderen historischen Bedingungen und durch den institutionellen Rahmen bestimmt, der der Außenpolitik vorgegeben ist. Dies zeigt sich vor allem an der Art und Weise, wie Deutschland seine machtpolitische Position in Europa und im globalen Umfeld festgelegt. Soll Deutschland als stärkste Volkswirtschaft in der EU und drittgrößte Exportnation auch politisch oder sogar militärisch eine Vormachtstel­ lung innerhalb Europas einnehmen oder ist das Prinzip des Machtverzichts, das das geteilte (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen und praktiziert hat, nicht immer noch angemessen? Sollte Deutschland eine vorwiegend Interessen geleitete Außenpolitik betreiben, oder sollte sich diese an Werten und Normen ori­ entieren, die auf historischen Erfahrungen basieren? Dabei wird immer wieder auch die Frage gestellt, ob Deutschland nach der Einheit eine größere Verantwortung für die Bewältigung globaler Probleme übernehmen sollte und wenn ja, in welchen Be­ reichen. Zweifellos hat sich die Stellung Deutschlands innerhalb Europas nach 1990 grundlegend gewandelt, aber wie genau diese Veränderung zu bestimmen ist, bleibt umstritten. Ist Deutschland eine gestaltende „Zivilmacht“ (Maull 1993), ein primär durch Wirtschaftsinteressen bestimmter „Handelsstaat“ (Crawford 2007) oder eine „Vormacht wider Willen“ (Bierling 2014)? Diese unterschiedlichen Bezeichnungen ver­ weisen darauf, wie sehr die Einschätzungen von historischen und politischen Ent­ wicklungen beeinflusst werden, die durch die deutsche Einheit neu justiert werden müssen. Konzeptionell sind für Analysen der deutschen Außenpolitik vor allem solche Ansätze geeignet, die die Verbindung zwischen außenpolitischem Handlungsrah­ men und innenpolitischem Umfeld analysieren (Bierling 2014; Lemke/Welsh 2018). Ländervergleiche haben gezeigt, dass die Formulierung außenpolitischer Zielsetzun­ gen durch innenpolitische Bedingungen gefiltert und strukturiert werden, sodass beispielsweise selbst Länder mit ähnlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen und Handlungspotenzialen unterschiedlich auf die zunehmende Globalisierung reagie­ ren. Das heißt, die historischen und politisch-kulturellen Erfahrungen eines Landes sowie die innergesellschaftlichen Bedingungen und politischen Entscheidungsstruk­ turen bilden wichtige Voraussetzungen für die Außenpolitik. Die historischen Erfahrungen Deutschlands, wie die verspätete Nationalstaatsbil­ dung, das Scheitern der Weimarer Republik und die doppelte Diktaturerfahrung, ha­ ben die politische Positionierung der Bundesrepublik in der Außenpolitik nachhal­ tig beeinflusst (von Bredow 2006; Hellmann 2006). Die „deutsche Frage“ in Europa, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Problem der Machtposition Deutsch­ lands gefasst wurde – wie mächtig kann Deutschland sein ohne andere Länder in Europa zu gefährden, bzw. wie machtlos kann es sein ohne durch innere Instabili­

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tät zur potenziellen Gefahr für Europa zu werden –, wurde in der Nachkriegszeit als Frage der neuen politischen, demokratischen Ordnung reformuliert. Die Bundesre­ publik wurde im Zuge des Kalten Krieges als Mitglied der NATO und der Europäischen Gemeinschaft institutionell eingebunden und erlangte erst im Kontext dieser Organi­ sationen europäische und internationale Anerkennung („Westbindung“). Diese Ent­ wicklung wird auch als Paradoxon der deutschen Außenpolitik nach 1945 beschrie­ ben: Die Bundesrepublik gewann umso mehr Einfluss, je mehr sie in Abgrenzung zur gescheiterten Großmachtpolitik eine Politik ziviler internationaler Verflechtung vor­ antrieb (vgl. Schmidt/Hellmann/Wolf 2007). Heute besteht ein weitgehender Konsens in der deutschen Politik, dass das Land im Rahmen der Europäischen Union und im Verbund mit anderen europäischen Ländern mehr Einfluss ausüben kann als allein auf sich gestellt. Deutschland ist daher heute eine „europäische Macht“ und zählt zu den einflussreichsten Ländern in der EU. Eine Konsequenz aus dieser Grundorien­ tierung ist, dass das vereinigte Deutschland auch international mehr Verantwortung übernehmen muss. Mit der Teilung Deutschlands wurde die Beziehung zwischen den beiden deut­ schen Staaten, der Bundesrepublik und der DDR, zum Kernproblem deutscher Außen­ politik. Diese Situation wurde von Beobachtern als „neue deutsche Frage“ definiert. Sie bestand in einem dreifachen Problem: „(1) der Einheit Deutschlands, also einer territorialen und nationalen Identität, (2) seiner Verfassung, also seiner politischen Ordnung und (3) seines internationalen Status, also seiner Verträglichkeit mit Frie­ den und Stabilität in Europa.“ (Rittberger 1994:75 f.). Die Abgrenzung von der DDR – das „andere“ Deutschland, der „zweite“ deutsche Staat etc. – bildete einen zentra­ len Bestandteil der (west)deutschen Identität; zugleich bemühten sich beide deutsche Staaten im Rahmen der Entspannungspolitik um eine Verbesserung der Beziehungen. Die Wiedervereinigung wurde in der Präambel des Grundgesetzes als Ziel der Außen­ politik festgehalten. Erst mit der deutschen Einheit 1990 wurde die nationale Frage für die Bundesrepublik territorial und politisch gelöst und eine geeinte deutsche Stimme in der Außenpolitik konnte geformt werden. Aufgrund dieser Geschichte heben sich in der Außenpolitik der Bundesrepublik historisch-kulturelle Besonderheiten heraus, die sie von anderen westlichen Demo­ kratien unterscheidet. Als prägend gelten vor allem die Erfahrungen des Nationalso­ zialismus und des Zweiten Weltkriegs, aus denen eine „historische Verantwortung“ Deutschlands abgeleitet wird, sich in Machtbeschränkung zu üben und aktiv die Ziele der Friedenssicherung und des Ausgleichs mit anderen Ländern zu verfolgen. Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Bundesrepublik beispielsweise eine besondere Beziehung zu Israel entwickelt, mit der sie die Verantwortung für die vom nationalsozialistischen Deutschland begangenen Verbrechen anerkennt. So hatte bereits die Adenauer-Regierung im Jahr 1951, u. a. durch die Vermittlung von Nachum Goldmann, Entschädigungszahlungen an Israel geleistet und sich in spä­ teren Jahren auf verschiedenen Ebenen, etwa im Jugendaustausch, in den Kulturund Wissenschaftsbeziehungen und durch politische Vermittlungsbemühungen im

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Nahostkonflikt um gute Beziehungen zu Israel bemüht, die auf dem Versöhnungsge­ danken beruhten (vgl. Gardner Feldman 2012). Auch mit dem westlichen Nachbarn Frankreich suchte die Bundesrepublik eine Aussöhnung und entwickelte enge Be­ ziehungen; im Verhältnis zu Osteuropa wurde seit den 1970er-Jahren die Idee der Versöhnung als Leitfaden in der Außenpolitik entwickelt. Mit dem Konzept des kollektiven Gedächtnis (collective memories) haben die amerikanischen Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits und Simon Reich ver­ sucht, diese Erinnerungsspuren der deutschen Geschichte im außenpolitischen Pro­ zess nach dem Ende des Ost-West-Konflikts analytisch zu erfassen. Sie vertreten in ihrem Buch „The German Predicament“ (1997) die These, dass die historischen Er­ fahrungen des Nationalsozialismus und vor allem der Holocaust in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind und auch heute noch die Position Deutschlands in Eu­ ropa bestimmen. Aus der Rezeption der Geschichte des Nationalsozialismus habe sich eine Selbstbeschränkung der Macht ergeben; daher definiere sich Deutschland nicht als „Großmacht“ oder gar „Weltmacht“, sondern vor allem als integrierter Teil der europäischen Gemeinschaft. Die Autoren problematisieren vor diesem Hintergrund die neue Hegemonie Deutschlands, die sich aus dem wirtschaftlichen und politischen Einfluss ergibt, den das Land in der Mitte Europas ausübt, und stellen die Frage, wie das vereinigte Deutschland mit diesem Machtzuwachs umgehen werde (vgl. Marko­ vits/Reich 1997). Markovits und Reich verwerfen die These der Neo-Realisten, die davon ausgehen, dass das wiedervereinigte Deutschland sich nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch zu einer europäischen Großmacht entwickeln werde, wie dies z. B. der amerikanische Sicherheitspolitiker John Mearsheimer behauptet hatte, indem sie herausarbeiten, dass Deutschlands politische und wirtschaftliche Position nur aufgrund der Einbindung in die europäischen Institutionen möglich geworden ist, eine Auffassung, die durch neuere Studien bestätigt werden kann (z. B. Risse 2004). Im Vergleich zur Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die für die Erinnerungskultur und die politischen Ziele Deutschlands auch nach der Ver­ einigung 1990 relevant bleibt, sind aus der politisch-kulturellen Erfahrung der DDR dagegen kaum identitätsbildende Dimensionen in die neue deutsche Außenpolitik eingegangen. Ein besonderes Kennzeichen deutscher Außenpolitik ist ihre institutionelle Ein­ bindung in die EU, die NATO und andere internationale Organisationen, welche ei­ nen hohen Stellenwert einnimmt und ihre Machtkonzepte beeinflusst. Zutreffend hat der amerikanische Politikwissenschaftler Peter Katzenstein die Bundesrepublik als „tamed power“ (Katzenstein 1997), gezähmte Macht, bezeichnet, die durch ihre in­ stitutionelle Verknüpfung mit anderen Ländern auf Eigenmacht verzichtet, aber da­ durch an politischem Einfluss gewonnen hat. Für die Bundesrepublik nach 1990 wäre eine militärische Weltmachtoption nur zu einem hohen Preis des Verlusts der eige­ nen wirtschaftlichen Wurzeln zu realisieren gewesen und war daher keine realitäts­ gerechte Handlungsoption. Auch Neutralität erschien keine Option in einer Zeit, in der die Weltpolitik zunehmend globalisiert und auf internationale Organisationen ange­

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wiesen ist. Schon in den „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen zur deutschen Einheit zeig­ te sich, wie stark die sicherheitspolitische Zukunft Deutschlands durch die Bündnis­ geschichte geprägt wurde (vgl. Albrecht 1992). Die Diplomatiehistorikerin Mary Elise Sarotte beschreibt auf Basis historischer Dokumente anschaulich, wie es dazu kam, dass nicht nur das vereinigte Deutschland in der NATO, sondern auch die NATO selbst bestehen blieb (vgl. Sarotte 2009). Sie bezeichnet die Tatsache, dass sich die in der Zeit des Ost-West-Konflikts geschaffene Sicherheitsarchitektur mit der NATO im Zentrum als Entscheidungsoption für das „prefabricated house“ beschreiben lässt, ein Begriff, den sie in Anlehnung an die Fertigbauweise benutzt. Der normative Rahmen der Außenpolitik wird durch das Grundgesetz der Bundes­ republik Deutschland vorgegeben. Es enthält wichtige Staatszielbestimmungen wie das Friedensgebot (insbesondere die Präambel, der Grundrechtekatalog sowie aus­ drücklich Art. 26) und die Bestimmung der militärischen Selbstbeschränkung in der Landesverteidigung (Art. 87a). Besondere Beachtung verdient auch das europäische Integrationsgebot in Artikel 23, welches nach Verabschiedung des Maastrichter-Ver­ trags in das Grundgesetz aufgenommen wurde und den Transfer von Souveränität auf europäische Einrichtungen bekräftigt. Insgesamt weisen die normativen Ziele – par­ lamentarische Kontrolle der Außenpolitik, Friedensziel, stabile Grundordnung – ei­ ne hohe Kontinuität in der Geschichte der Bundesrepublik auf (vgl. auch Schmidt/ Hellmann/Wolf 2007). Der außenpolitische Entscheidungsprozess ist durch die Verteilung von Zustän­ digkeiten auf Legislative, Exekutive und Judikative und deren Kombination sowie die Zuständigkeit von Bund und Ländern charakterisiert. Einfluss üben darüber hinaus auch nicht staatliche Akteure aus, wie beispielsweise wirtschaftliche Lobbygruppen. Systemisch betrachtet unterscheidet die Politikwissenschaftlerin Helga Haftendorn drei Kernelemente im Entscheidungsprozess: Akteure, Prozesse und Strukturen. Bei den Strukturen spielen die internationalen Rahmenbedingungen sowie das nationa­ le, trans- und internationale formale Entscheidungssystem eine Rolle; außerdem, so Haftendorn, sei das politisch-gesellschaftliche System im Inneren ebenfalls für die Entscheidungsprozesse relevant. Das Bindeglied zwischen Akteur und Struktur sind die Perzeption der Anforderungen seitens der Akteure. Perzeptionen werden durch Einstellungsmuster (belief systems) und Handlungsroutinen (opera­ tional codes) bedingt und setzen sich zusammen aus den normativen Grunddispositionen, den spezifischen Merkmalen von Persönlichkeiten und Institutionen sowie den sozialen und situa­ tiven Erfahrungen der Akteure. Sie dienen als Filter und Bewertungsmaßstab für neue Informa­ tionen und haben den Zweck, Unsicherheiten zu reduzieren. Sie konstituieren die für die han­ delnden Politiker je spezifische Realität, die damit zum sozialen und politischen Konstrukt wird. (Haftendorn 1999: 248).

Unter den Organen der Bundesrepublik kommt der Bundesregierung, und hier vor allem dem Bundeskanzler bzw. der Bundeskanzlerin, eine Führungsrolle zu, wäh­ rend der Bundespräsident/die Bundespräsidentin als völkerrechtlicher Vertreter des

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Landes eine repräsentative Funktion einnimmt. Durch die Richtlinienkompetenz des Kanzlers bzw. der Kanzlerin werden durch die Regierung Vorgaben gemacht, an denen sich die Außenpolitik orientiert. In diesen Handlungsrahmen fügen sich auch die Po­ sitionierung der Minister, etwa im Außen- und Verteidigungsministerium, sowie die Rolle der Behörden. Das Auswärtige Amt besitzt eine Generalkompetenz für den di­ plomatischen Verkehr und Fachkompetenz in zentralen Fragen der Außenpolitik. Da die Regierungen in der Bundesrepublik in der Regel Koalitionsregierungen sind, spie­ len die unterschiedlichen außenpolitischen Positionen der politischen Parteien eine wichtige Rolle, denn in den zentralen außenpolitischen Entscheidungen muss in der Regel ein Konsens gefunden werden. Das heißt, die innenpolitischen Machtkonstel­ lationen beeinflussen die Handlungsspielräume und Entscheidungsprozesse in der Außenpolitik. In jüngerer Zeit, d. h. vor allem nach der deutschen Vereinigung, ist zudem eine größere Rolle des Bundesverfassungsgerichts zu beobachten, das als höchstrichterli­ ches, unabhängiges Organ zu einigen Grundfragen deutscher Außenpolitik Stellung genommen hat. Zu nennen sind hier insbesondere das Bundesverfassungsgerichtsur­ teil zu den „Maastrichter-Verträgen“ vom 12. Oktober 1993, die Entscheidung zu den „Out-of area“-Einsätzen der Bundeswehr vom 12. Juli 1994 sowie das Urteil zur Verfas­ sungsmäßigkeit des EU-Reformvertrags von 2009. Nicht staatliche Akteure, wie die Parteien, Verbände, Kirchen und Interessen­ gruppen, wirken auf die Außenpolitik direkt oder indirekt ein. Einflussreiche Inter­ essengruppen, wie beispielsweise Wirtschaftsverbände, können durch Lobbyarbeit oder öffentliche Stellungnahmen außenpolitische Entscheidungen beeinflussen. Auf­ grund seiner Exportorientiertheit besitzen für Deutschland die Außenwirtschafts­ beziehungen einen hohen Stellenwert, sodass dieser Bereich dem starken Einfluss von Wirtschaftsverbänden unterliegt. Eine zunehmende Rolle spielt die öffentliche Meinung in den Medien. Auch Protestbewegungen im außerparlamentarischen Raum können auf die Meinungsbildung Einfluss ausüben. Während der außenpolitische Entscheidungsprozess in den 1950er- und 1960erJahren vor allem von einzelnen Politikern geprägt wurde („Kanzlerdemokratie“), ge­ wannen in den Folgejahren politische („Koalitionsarithmetik“), parlamentarische sowie bürokratische Institutionen an Bedeutung. „Heute sind die außenpolitischen Entscheidungsstrukturen auf der nationalen Ebene durch die Verdichtung der forma­ lisierten Entscheidungsverfahren, die Verfestigung der koalitionspolitischen Arrange­ ments sowie die verstärkte Bedeutung föderaler checks and balances gekennzeichnet. Sie haben darüber hinaus eine neue Qualität durch den hohen Grad an internationaler und transnationaler Verflechtung erhalten.“ (Haftendorn 1999: 256). Grundlage für den Entscheidungsprozess sind Prioritäten, die in der Außenpo­ litik gesetzt werden. In der bundesdeutschen Außenpolitik bildeten bis zur Verei­ nigung 1990 die Ziele Sicherheit, Frieden, staatliche Einheit und westliche Integra­ tion die Prioritäten. Dabei ist es in der Geschichte der Bundesrepublik periodisch zu außenpolitischen Prioritätenkonflikten gekommen (vgl. Haftendorn 1986). In den

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vierzig Jahren der geteilten Existenz Deutschlands hat es beispielsweise Prioritäten­ konflikte zwischen Westintegration und Deutschlandpolitik bzw. Wiedervereinigung (1950er- und 1960er-Jahre) und zwischen NATO-Bündnistreue und Entspannungspo­ litik gegeben (1980er-Jahre). Nach der deutschen Einheit entwickelte sich ein Prioritä­ tenkonflikt zwischen dem deutschen Machtverzicht in militärischen Fragen und der Unterstützung humanitärer Interventionen sowie zwischen einer Vertiefung der eu­ ropäischen Integration und dem transatlantischen Bündnis (Bierling 2014; Schmidt/ Hellmann/Wolf 2007). Der zuvor bereits betonte Zusammenhang zwischen Innenund Außenpolitik wird im folgenden Kapitel anhand der deutschen Ostpolitik weiter ausgeführt.

3.2.2 Der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik: Beispiel Ostpolitik In den Jahren zwischen 1949 und 1990 war die Außenpolitik der Bundesrepublik vor allem durch den globalen Ost-West-Konflikt und die deutsche Teilung geprägt. Die Außenpolitik unterlag zunächst aufgrund der alliierten Rechte vielfältigen Beschrän­ kungen; schrittweise konnte die Bundesrepublik durch Mitgliedschaft in Bündnissys­ temen bzw. in der Europäischen Gemeinschaft Souveränität gewinnen und ihren au­ ßenpolitischen Handlungsspielraum erweitern (Schmidt/Hellmann/Wolf 2007). Am Beispiel der neuen Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre kann gezeigt werden, wel­ che Rolle das innenpolitische Umfeld und die außenpolitische Umwelt bei der Formu­ lierung und Umsetzung von Neuorientierungen in der Außenpolitik gespielt haben. Die Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre war das zentrale Reformprojekt der sozial-liberalen Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt (1969–1974). Kernpunkt bildete eine Neubestimmung der Beziehungen zu den staatssozialistischen Nachbar­ ländern Ost- und Ostmitteleuropas einschließlich der DDR. Vor dem Hintergrund sich entspannender Beziehungen zwischen den Supermächten vollzog die Bundesrepu­ blik mit der neuen Ostpolitik eine Richtungsänderung in der Außenpolitik, die vor allem auf eine dem Einzelfall angepasste Annäherungsstrategie zu den Ländern im sowjetischen Macht- und Einflussbereich abzielte. Entspannungspolitik (détente) und Ostpolitik ergänzten einander, verfolgten jedoch unterschiedliche Ziele. Während Ent­ spannungspolitik die Stabilität in Europa zum Ziel hatte, schloß die Ostpolitik der Bundesregierung auch die Erwartung einer Liberalisierung der Länder hinter dem „ei­ sernen Vorhang“ ein. Der Historiker Charles S. Maier beschreibt die unterschiedlichen Zielsetzungen folgendermaßen: Ostpolitik and détente required each other, but they responded to different political motivations: the former strived for liberalization, the latter for stabilization. The East German regime coveted the latter and was prepared to purchase it with small concessions in terms of the former. Normal­ izing German-German relations, of course, had to be a central stake in both Brandt’s Ostpolitik and the superpowers aspirations for détente. (Maier 1997: 27 f.)

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Den Anstoß für eine konzeptionelle Neuorientierung in der Außenpolitik gab die Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961, die die deutsche Teilung besiegelte und somit die Hoffnung auf eine mögliche Wiedervereinigung vorerst zunichte mach­ te. Diese Zäsur führte dazu, dass in gesellschaftlichen Bereichen, wie den Hochschu­ len, Gewerkschaften, Evangelischen Akademien und in den oppositionellen Partei­ en SPD und FDP, zu Beginn der 1960er-Jahre ein Diskurs über eine konzeptionelle Neuorientierung der Außenpolitik einsetzte. Die Konzeption der von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) geführten Regierung (1949–1963), die Sowjetunion durch ei­ ne Politik der Stärke zum Nachgeben zu veranlassen, wurde als gescheitert betrach­ tet. Der damalige Berliner Senatssprecher und spätere Staatssekretär Egon Bahr be­ schrieb den neuen Ansatz Brandts Anfang der 1960er-Jahre folgendermaßen: „Wenn die Mauer ein Zeichen des kommunistischen Selbsterhaltungstriebes sei, war nach den Möglichkeiten zu fragen, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime gradu­ ell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer prak­ tikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: ‚Wandel durch Annäherung‘.“ (Bahr 1998: 157). Die Handlungsmaxi­ men der neuen Politik sollten erstens zu einer Verbesserung der Lebenssituation in Ost- und Ostmitteleuropa durch einen besseren Anschluss an den Weltmarkt führen, zweitens schrittweise vertragliche Vereinbarungen erzielen und drittens im Aufbau einer „europäischen Friedensordnung“ münden, um die deutsche Teilung zu über­ winden. Nach dem Machtwechsel zur SPD/FDP-Regierung im Jahr 1969 stellte die Bundes­ regierung die neue Ostpolitik in den Kontext der deutschen Einheit, ein verfassungs­ mäßig festgelegtes Staatsziel der Bundesrepublik, und verschaffte der neuen Politik durch diese Kontextualisierung ihre Legitimation. In seiner Regierungserklärung formulierte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) den Kerngedanken der neuen Ostpolitik folgendermaßen: Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der Verkramp­ fung gelöst wird. [. . .] 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. (Willy Brandt, Regierungs­ erklärung, abgedruckt in: Außenpolitik der Bundesrepublik, 1995).

Das Kernstück der Ostpolitik bestand in einer Reihe von Verträgen, die die Bundesre­ publik mit den staatssozialistischen Ländern in den Jahren zwischen 1970 und 1973 abschloss. Vorrangig war für die Brandt-Scheel-Regierung zunächst eine Verständi­ gung mit der Sowjetunion als Hegemonialmacht im Ostblock. Es folgten Verträge mit Polen und der Tschechoslowakei sowie schließlich auch mit der DDR, im Grundla­ genvertrag von 1972. Die Verrechtlichung der Beziehungen rief innergesellschaftliche Widerstände hervor und die Ostpolitik blieb zunächst ein ausgesprochen umstritte­ nes Projekt; im Jahr 1972 führten die Kontroversen um die Ostverträge zum ersten

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konstruktiven Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik, welches die Mehrheit im Bundestag allerdings knapp verfehlte. Die Ostpolitik als Teil der übergreifenden Entspannungspolitik zwischen den Su­ permächten hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Legitimationsgrundlage für die innergesellschaftliche Opposition in den Ländern des Ostblocks ausgeübt. Die Unter­ zeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, die einen Höhepunkt der allge­ meinen Entspannungspolitik bildete, stellte für die osteuropäische Dissidenz einen entscheidenden Wendepunkt dar. Der Korb III der Vereinbarungen, dem ja die Ost­ blockstaaten ebenfalls zugestimmt hatten, beinhaltete die Grundsätze der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewis­ sens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit, und weckte damit Erwartungen, die die Dissidenten- und Oppositionsgruppierungen, wie „Charta 77“ in der Tschechoslowa­ kei oder „KOR“ (deutsch: „Komitee für die Verteidigung der Arbeiterrechte“) als Vor­ läufer der Solidarność in Polen als Referenzrahmen benutzen konnten. Die HelsinkiVereinbarungen wurden eine Legitimationsbasis für die oppositionellen Gruppen. Durch die neue Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition konnte der außenpo­ litische Handlungsspielraum der Bundesrepublik erheblich erweitert werden. So vergrößerte sich ihre internationale Handlungsfähigkeit nicht nur gegenüber den osteuropäischen Ländern, sondern gegenüber der Hegemonialmacht USA. Die ver­ besserte Handlungsoption veranlasste auch die Oppositionsparteien zu einer Rich­ tungsänderung. Tatsächlich normalisierten sich auch die Beziehungen zur DDR, zumindest auf staatlicher Ebene. Die Ziele der Ostpolitik wurden im außenpoliti­ schen Selbstverständnis der Bundesrepublik verankert, was sich darin zeigte, dass sie im Kern auch nach dem Machtwechsel zur CDU/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) im Jahr 1983 beibehalten wurden und bis zur deutschen Vereini­ gung den außenpolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik bildeten. Aufgrund der Tatsache, dass sich die bundesdeutsche Außenpolitik gegenüber der Sowjetuni­ on seit der Neuausrichtung durch die Ostpolitik grundlegend gewandelt hatte, war es auch möglich, dass die internationalen Aspekte der Vereinigung und insbesondere die Frage der Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands in den „Zwei-plusVier“-Verhandlungen im Jahr 1990 so zügig geregelt werden konnten (vgl. Albrecht 1996; Zelikow/Rice 1997). Weniger positiv fällt die Bilanz jedoch mit Blick auf die Veränderungen aus, die die neue Ostpolitik bezüglich der innergesellschaftlichen Handlungsspielräume hat erreichen können. Die Erwartung, dass sich die politischen Systeme der staatssozia­ listischen Länder durch innere Liberalisierung einer modernen, industriellen Gesell­ schaft entsprechend öffnen würden, hat sich nicht erfüllt. Die neue Ostpolitik beruhte auf zwei Grundauffassungen, die heute als überholt gelten. Zum einen blieb die An­ nahme einer Liberalisierung als Ergebnis des vermehrten Handels einem Modernisie­ rungsparadigma verhaftet, das die Modernisierung als linearen Prozess begriff. Dabei wurden das Interesse des SED-Regimes an der Machterhaltung und seine Ablehnung einer Öffnung unterschätzt. Zum Zweiten stellt die neue Ostpolitik ein Lehrstück für

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die Begrenztheit herkömmlicher Außenpolitik dar, denn in der klassischen Tradition von Außenpolitik blieb sie primär auf die zwischenstaatliche Zusammenarbeit fixiert. Im Interesse dieser Politik waren Beziehungen zu Dissidenten bzw. zu den sich be­ reits Mitte der 1970er-Jahre bildenden Oppositionsgruppen nicht opportun. Hatte die­ ses in der Hochphase der Systemkonfrontation eine gewisse Logik, so bleibt zu fragen, ob ein solches Vorgehen im politischen Kontext der 1980er-Jahre weiterhin uneinge­ schränkte Gültigkeit beanspruchen konnte. Die sich vollziehenden innergesellschaft­ lichen Veränderungen in den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern wurden erst anerkannt, als die Systeme bereits ihre Legitimationsbasis verloren hatten und sich aufzulösen begannen.

3.2.3 Neue deutsche Außenpolitik: Kontinuität und Wandel seit der deutschen Einheit Nach der deutschen Vereinigung im Jahr 1990 gewann die Bundesrepublik einerseits einen erweiterten außenpolitischen Handlungsspielraum. Aufgrund der nunmehr rechtlich vollständigen Souveränität, ihrem wirtschaftlichen Potenzial und ihrer geo­ politischen Lage in der Mitte Europas verzeichnet das vereinigte Deutschland einen deutlichen Machtzuwachs. Die Einbindung in internationale Organisationen, wie die NATO und die EU, begrenzt andererseits den eigennützigen Gebrauch dieses machtpolitischen Zuwachses. Einer „Renationalisierung“ deutscher Außenpolitik, die verschiedentlich vor allem im Ausland befürchtet worden war, fehlte insofern die Basis, da die Bundesrepublik vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht nicht autark agieren kann, sondern als Export orientiertes Land auf seine Verflechtung mit den europäischen Nachbarländern angewiesen bleibt. Diese ökonomische Verflechtung wird, auch unabhängig von der jeweiligen Regierungskoalition, politisch gefördert und in ein Netz internationaler Organisationen inkludiert. Als europäische Macht konnte Deutschland innerhalb der EU jedoch seinen Einfluss ausbauen und wird heute als zentraler Akteur in der EU wahrgenommen. Dies führt zu der Erwartung, dass Deutschland mehr Führungsverantwortung innerhalb Europas und in der inter­ nationalen Politik übernimmt. Die Ziele und Prioritäten der neuen bundesdeutschen Außenpolitik wurden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vor allem im europäischen Kontext definiert. Der Po­ litologe Hanns Maull verweist darauf, das eine „Großmachtrolle“ Deutschlands durch die eigene Geschichte begrenzt sei; das vereinigte Deutschland müsse die negativen Erfahrungen der anderen europäischen Länder beachten und in der Außenpolitik be­ sondere Sensibilität zeigen (vgl. Maull 2004). Wurde die Bundesrepublik während der Zeit bis 1989 oft als wirtschaftlicher Riese, aber politischer Zwerg bezeichnet, so stellte sich jetzt die Frage, ob das Land auch politisch wachsen und somit machtvoller wer­ den würde. Beobachter beschrieben das Land aufgrund seiner Einbindung in interna­ tionale Organisationen als „Gulliver in der Mitte Europas“ (Haftendorn 1994), oder als

3.2 Die Außenpolitik der Bundesrepublik |

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„Scheinriesen“ (Peters 1997), der weiterhin nur im Kontext europäischer Einbindun­ gen agiert. Drei Faktoren begründen die Kontinuität bundesdeutscher Außenpolitik. Erstens wird die wirtschaftliche und politisch-institutionelle Einbindung der Bundesrepublik in den Prozess der europäischen Integration gezielt fortgesetzt. Zweitens bleibt der hohe Grad an globaler politischer Außenorientierung Deutschlands mit der einzigarti­ gen Dichte der Verrechtlichung im Rahmen internationaler Organisationen auch nach der Zäsur 1989/90 bestehen. Drittens erfolgte die Vereinigung in einer Weise, die die Grundlagen der außenpolitischen Konstitution der alten Bundesrepublik weitgehend unangetastet ließ; so blieb sowohl der normative Rahmen als auch der institutionelle Aufbau bestehen. Allerdings zeigen sich aufgrund global veränderter Herausforderungen auch neue Entwicklungen in den Zielen und Politikfeldern der Außenpolitik. Analytisch kann zwischen drei Sachbereichen oder Politikfeldern in der Außenpolitik unter­ schieden werden: Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft (vgl. Rittberger 1994: 66 f.; Jäger/Höse/Oppermann 2011). Im Bereich der Sicherheit hatte die Bundesrepublik über die Bündnis- und Integrationspolitik in der Nachkriegszeit außenpolitische Handlungsfähigkeit erlangt; zu nennen sind insbesondere die NATO-Mitgliedschaft, die Europäische Gemeinschaft sowie der KSZE-Prozess. Ihre volle staatliche Souve­ ränität erhielt die Bundesrepublik 1990 mit dem „Zwei-plus-Vier“-Vertrag („Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“). Sie behielt zugleich die Bündnisbindung sowie die Mitgliedschaft in allen anderen internationalen Organisa­ tionen bei. Auch die Selbstbeschränkungen im militärischen Bereich (Begrenzung der Größe der Bundeswehr; Verbot der ABC-Waffen) wurden weiter festgeschrieben. In­ stitutionell ist daher eine große Kontinuität der bundesdeutschen Sicherheitspolitik zu konstatieren. Eine deutliche Veränderung ergibt sich hingegen in der Frage der Beteiligung deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen. Nach dem Grundgesetz der Bundesrepu­ blik kann die Bundeswehr ausschließlich im Verteidigungsfall eingesetzt werden; ihr Auftrag würde sich danach nur auf das Gebiet der NATO beziehen. Inwieweit auch Einsätze außerhalb dieses Gebiets rechtlich möglich sind, war eine Frage, die erst nach der deutschen Vereinigung mit dem Wegfall alliierter Rechte in Deutschland und der Erlangung vollständiger Souveränität Bedeutung erlangte. Ausgelöst durch den Golfkrieg 1991 und bedingt durch die Erwartung, dass sich Deutschland stärker an friedenssichernden Maßnahmen beteiligen würde, setzte zu Beginn der 1990er-Jahre eine kontroverse Diskussion über die Beteiligung der Bundeswehr an Aktionen außer­ halb des NATO-Gebiets ein. Umstritten waren dabei weniger die Blauhelm-Einsätze, sondern vor allem Kampfeinsätze zur Durchführung von Maßnahmen militärischer Friedenserzwingung nach Kapitel VII der UN-Charta. Das Bundesverfassungsgericht wurde angerufen, um zu klären, ob und unter welchen Bedingungen der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes verfassungsgemäß ist; auch die Frage, wer die Entscheidungskompetenz für den Auslandseinsatz hat, stand zur Klärung

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an. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 12. Juli 1994 zu Auslands-Einsätzen (out-of-area) der Bundeswehr unter Bezug auf GG Art. 24, Abs. 2 („der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens Systemen kollektiver Sicherheit einordnen“), dass der Bun­ deswehr-Einsatz im Ausland verfassungskonform ist. Es legte zugleich zwei zentrale Grundsätze fest: Zum einen erhob das Gericht den Grundsatz des Multilateralismus zur Handlungsmaxime und zum anderen legte es den Grundsatz der parlamentari­ schen Kontrolle von Auslandseinsätzen der Bundeswehr fest; grundsätzlich habe das Parlament und nicht die Regierung die Entscheidung zu treffen (Prinzip des „konsti­ tutiven Parlamentsvorbehalts“).¹ Dieses gilt auch bei der Verlängerung von Mandaten für die Bundeswehr wie z. B. die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes, die jeweils im Bundestag entschieden werden muss. Mit der Beteiligung an der IFOR-Mission in Bosnien wurde erstmals die Schwelle zu Kampfeinsätzen mit UN-Mandat und unter NATO-Kontrolle überschritten. Im Fall des Krieges gegen Jugoslawien im Kosovo-Konflikt 1999 wurde zum ersten Mal vom Parlament ein Kampfeinsatz der Bundeswehr im Ausland beschlossen. Dabei stützte sich der Parlamentsbeschluss auf eine breite Mehrheit von Regierung und Opposition, obwohl der Einsatz aufgrund des fehlenden UN-Mandats umstritten war. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Out-of-Area-Kampfein­ sätzen der Bundeswehr wird der Einsatz außerhalb des NATO-Gebietes als rechtmäßig angesehen; allerdings muss die Bundesregierung die Zustimmung des Bundestages einholen und darf nur im Verbund mit internationalen Organisationen handeln. Da­ bei ist eine einfache Mehrheit im Parlament erforderlich, was Kritiker veranlasst, eine zu schmale Legitimationsbasis für eine politisch so weitreichende Entscheidung zu bemängeln, während andere eine ungenügende Effizienz der Entscheidungsfindung beklagen (z. B. Hacke 2003: 556). Die aktive Beteiligung von deutschen Soldaten an Auslandseinsätzen ist die wohl sichtbarste Veränderung im Politikfeld Sicherheit. Auslandseinsätze der Bundeswehr gelten heute nicht mehr als Ausnahme. Vielmehr ist die Bundesrepublik als Akteur an internationalen Einsätzen beteiligt und übernimmt bei NATO- bzw. UN-mandatierten Einsätzen im Rahmen der Möglichkeiten Verantwortung, wobei jeder Einsatz rechtlich geprüft und politisch kontrovers diskutiert wird. Drei Viertel der rund 10.000 Bundes­ wehrsoldaten befinden sich auf internationalen Friedens- und Stabilisierungseinsät­ zen; hierzu zählen Missionen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien. Auf Basis eines UN-Mandats tragen sie dort vornehmlich zur Friedenskonsolidierung bei. Des Weiteren beteiligt sich die Bundesrepublik an Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und zur Stabilisierung von Regimen, wie z. B. in Afgha­ nistan, allerdings sieht sie ihre Rolle dort vornehmlich nicht in Kampfaktionen, son­

1 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 12. Juli 1994, online verfügbar unter https://dejure.org/ dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BVerfG&Datum=12.07.1994&Aktenzeichen=2%20BvE% 203%2F92 (aufgerufen am 28.02.2018).

3.2 Die Außenpolitik der Bundesrepublik |

133

Tab. 3.1: Die größten Handelspartner Deutschlands 2015. Exporte

Importe

Platz

Land

(in 1.000 Euro)

Platz

Land

(in 1.000 Euro)

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

United States Frankreich Großbritannien Niederlande China Australien Italien Polen Schweiz Belgien Spanien Tschechien Schweden Türkei Ungarn

113.990.351 102.949.481 89.284.282 79.478.999 71.385.193 58.113.881 58.069.405 52.180.598 49.278.933 41.155.552 38.783.802 36.525.461 23.086.831 22.411.519 21.827.777

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

China Niederlande Frankreich United States Italien Polen Schweiz Tschechien Großbritannien Österreich Belgien Russland Spanien Ungarn Japan

91.696.618 87.936.963 66.920.953 59.641.651 49.055.143 44.622.292 42.467.306 39.294.608 38.321.711 37.289.277 36.844.638 29.761.263 26.463.331 23.789.763 20.220.410

Quelle: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Aussenhandel/ Han­ delspartner/Tabellen/RangfolgeHandelspartner (aufgerufen am 14.03.2018).

dern in der Unterstützung von Stabilisierungsmaßnahmen. Auch in Libyen sieht die deutsche Regierung ihre Aufgabe primär in der Unterstützung beim Aufbau ziviler In­ stitutionen mit hoheitsrechtlichen Aufgaben (etwa Polizei, Justiz). An den durch ein UN-Mandat vom 17. März 2011 legitimierten militärischen Aktionen zum Schutz der Zi­ vilbevölkerung gegen das diktatorische Gaddafi-Regime wollte sich die deutsche Re­ gierung dagegen nicht beteiligen. Sie enthielt sich bei der Abstimmung im UN-Sicher­ heitsrat der Stimme. Im Politikbereich Wohlfahrt behält die wirtschaftliche Einbettung in die Europäi­ sche Union ihre Vorrangstellung. Fast drei Viertel der gesamten deutschen Ausfuhren erfolgten in den vergangenen Jahren in andere europäische Länder (Tab. 3.1). Weitere wichtige Handelspartner sind die USA sowie Russland. Asien nimmt dagegen tradi­ tionell eine randständige Bedeutung ein, jedoch hat hier China als wichtigster Han­ delspartner in den letzten Jahren stetig an Bedeutung gewonnen und war 2015 sogar Deutschlands wichtigster Handelspartner nach Wert der Importe. Die europäische Integration bleibt ein wichtiger Grundpfeiler der deutschen Au­ ßenpolitik. Die Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Union („Maastricht Vertrag“) erfolgte nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12. Oktober 1993. Damit trat der EU-Vertrag am 1. November 1993 in Kraft mit allen darin enthaltenen Vorgaben der Wirtschafts- und Währungsunion bzw. der Einführung des Euro als ge­ meinschaftlicher europäischer Währung. In der nach der deutschen Einheit revidier­ ten Fassung enthält Art. 23 des Grundgesetzes das Integrationsgebot; die Bundesrepu­

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blik wirkt danach aktiv am Ziel der europäischen Integration mit, wobei diese Staats­ zielbestimmung in Europa einzigartig ist und den Integrationswillen nachdrücklich unterstreicht. In Art. 23, Abs. 1, GG heißt es: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepu­ blik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaat­ lichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen.“ (Art. 23, Abs. 1, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 i. d. Fassung vom 3. Novem­ ber 1995).

Europapolitik bestimmte die deutsche Außenpolitik aller Regierungen nach der deut­ schen Einheit, von Helmut Kohl (1982–1998) über Gerhard Schröder (1998–2005) bis hin zu Angela Merkel (2005 bis heute). Helmut Kohl setzte sich nachdrücklich für die Vertiefung der EU ein; ohne seine Zustimmung wäre der Maastrichter Vertrag und das Ziel der gemeinsamen Währung nicht zustande gekommen. Für Gerhard Schröder war die EU vor allem ein wichtiger Rahmen für den deutschen Wirtschaftsaufschwung; in seine Amtszeit fielen außerdem die Erweiterungsrunden der EU mit der Aufnahme mehrerer neuer Mitgliedsländer. Für Angela Merkel stand dann die Bewältigung der Eurokrise im Zentrum; weitere Krisen folgten, wie die Flüchtlingskrise ab 2015 und die Brexit-Entscheidung 2016. Im Rahmen der Reformdiskussion der EU, die aufgrund der EU-Erweiterung ab 1999 einsetzte, trat die von der damaligen Rot-Grünen Regierung geführte Bundesrepublik für eine tiefere Integration ein. Nach dem Scheitern des EUVerfassungsvertrags 2007 war es wiederum die deutsche Bundesregierung, nun mit Kanzlerin Angela Merkel, die auf einen Kompromiss drängte, welcher nach zähen Ver­ handlungen mit dem im Jahr 2009 ratifizierten Lissabon-Vertrag möglich wurde (siehe Kapitel 5). Auch in der Eurokrise verfolgte die Bundesregierung eine Politik des eu­ ropäischen Kompromisses, da sie vom gemeinsamen europäischen Markt aufgrund ihrer Exportstärke Vorteile erzielt. Wesentlich schwieriger gestalteten sich dann die Vereinbarungen zur Asyl- und Flüchtlingspolitik 2018. Deutschland muss dabei seine Prioritäten mit denen der Nachbarländer in Einklang bringen und tragfähige Lösun­ gen entwickeln. Im Politikfeld Herrschaft bzw. der Frage politischer Ordnung hat die Bundesre­ publik den Aufbau und die Festigung der jungen Demokratien in Mittel- und Osteu­ ropa sowie in Südosteuropa nachhaltig unterstützt. Bei der EU-Erweiterung hat die Bundesrepublik eine unterstützende Rolle gespielt und ist gegenüber den „breakmen“ unter den (west-)europäischen Ländern als „driver“ aufgetreten. Auch setzt sich die Bundesrepublik im internationalen Kontext immer wieder für die Einhaltung globaler Menschenrechte ein. Bei der Beurteilung von Kontinuität und Wandel in der deutschen Außenpolitik fällt die Gesamteinschätzung zugunsten weitgehender Kontinuitäten aus. Versuche,

Literatur

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die neue deutsche Außenpolitik allein in machtpolitischen Kategorien zu fassen, grei­ fen zu kurz, um die internationale Verflechtung und Einbindung der Bundesrepublik zu verstehen. Ihre außenpolitische Position hat die Bundesrepublik auch nach der Vereinigung im Kontext der europäischen Integration entwickelt und definiert. Ihre globale Rolle sieht sie weiterhin im Bereich der Unterstützung ziviler Maßnahmen, auch wenn sie inzwischen auch an militärischen Maßnahmen und Missionen im Rah­ men der UN beteiligt ist. Angesichts steigender Anforderungen, im internationalen Kontext eine aktive Rolle zu übernehmen, muss Deutschland dabei nicht nur die poli­ tischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen, sondern auch die eigenen Ressour­ cen überprüfen. Auch im transatlantischen Verhältnis, welches stets einen Grundpfei­ ler der bundesrepublikanischen Außenpolitik bildete, ist eine Balance zwischen äu­ ßeren Anforderungen und inneren Kapazitäten erforderlich. Übungsfragen zu Kapitel 3: Außenpolitik als Handlungsfeld 1. 2.

3.

Inwiefern prägen historische Erfahrungen die Außenpolitik eines Landes? Erörtern Sie diesen analytischen Zugang und vergleichen Sie die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Unter welchen Voraussetzungen sind Auslandseinsätze der Bundeswehr erlaubt? Erläutern Sie die rechtlichen Grundlagen und die politischen Bedingungen für einen Auslandseinsatz. Welche Vorteile und welche Nachteile sehen Sie in den verfassungsmäßigen Regelungen? Wie erfolgreich war die neue Ostpolitik der Brandt-Regierung? Erörtern Sie die Stärken und zeigen Sie die Schwächen auf.

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4 Die Außenpolitik der USA: Zwischen Hegemonie und Multilateralismus Die USA sind aufgrund ihrer weltpolitisch herausragenden Rolle und der engen Be­ ziehungen zu Europa von besonderem Interesse für die Internationalen Beziehun­ gen. Dabei stechen politische und institutionelle Besonderheiten hervor, wie die her­ ausgehobene Rolle des amerikanischen Präsidenten, die relativ schwache Bindekraft politischer Parteien sowie eine hohe Fragmentierung des politischen Systems. Auch der Umgang mit und das Verständnis von Macht und Staatlichkeit sind durch Be­ sonderheiten der Geschichte der USA geprägt (vgl. Kalberg 2006). Einerseits sind die Vereinigten Staaten also aufgrund der gemeinsamen geistesgeschichtlichen, kulturel­ len und historischen Verbindungen und der besonders engen transatlantischen Ver­ flechtungen den europäischen Ländern vertraut. Andererseits zeichnet sich das Land durch einige Entwicklungen aus, die aus seiner spezifischen Gründungs- und Besied­ lungsgeschichte, seiner Ökonomie sowie der über lange Zeit vorherrschenden isola­ tionistischen Positionen resultieren. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts engagierten sich die USA weltpolitisch und stiegen in der Folge zur Weltmacht auf. Analysiert man die Stellung der Vereinigten Staaten im internationalen System, so kann heute von asymmetrischen Machtverhältnissen ausgegangen werden (Fröhlich 2016). Die Vereinigten Staaten nehmen global gesehen eine selbstbewusste und aktive Rolle ein, die auf ihren ungleich größeren wirtschaftlichen, militärischen und politi­ schen Ressourcen beruhen. Der Politikwissenschaftler Christian Hacke (2005) sieht die USA daher in einer hegemonialen Rolle „zur Weltmacht verdammt“. Die weltpoli­ tisch vorherrschende Position wird mit dem Begriff der Hegemonie beschrieben bzw. einer Vormachtstellung der USA. Zugleich sind die Vereinigten Staaten wirtschaftsund sicherheitspolitisch in vielfältige Bündnis- und Vertragssysteme eingebunden, sodass sich ihre Vormachtstellung am besten als Spannungsverhältnis zwischen he­ gemonialer Position und multilateraler Einbindung charakterisieren lässt. Der Mul­ tilateralismus ist von allen amerikanischen Präsidenten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als zentraler Baustein der Außenpolitik eingesetzt worden. Wie die Politik­ wissenschaftlerin Lora Anne Viola schreibt, sind die wichtigsten internationalen Or­ ganisationen, wie die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation oder die NA­ TO, wesentlich von den USA geprägt worden. Sie sind nicht nur Ausdruck, sondern auch Quelle der Vormachtstellung der USA (vgl. Viola 2016: 541). Die hegemoniale Rolle der Vereinigten Staaten wird schon seit geraumer Zeit kon­ trovers diskutiert. Während der liberale Institutionalismus die weltpolitische Verant­ wortung der USA für die Bearbeitung globaler Herausforderungen hervorhebt und das multilaterale Engagement befürwortet (z. B. Slaughter 2017), treten neokonserva­ tive Politiker für eine starke, gegebenenfalls auch unilaterale Rolle in der Weltpolitik ein, mit der amerikanische Interessen zum Schutz der eigenen Nation gewahrt werden (z. B. Brzezinski 2016). Andere, stärker nationalistische Positionen auf der rechten Sei­ https://doi.org/10.1515/9783110589207-004

4.1 Historische Besonderheiten, Leitbilder und nationales Interesse | 139

te des politischen Spektrums fordern vor dem Hintergrund des internationalen Terro­ rismus und des Erstarkens des islamistischen Fundamentalismus eine Politik der mi­ litärischen Stärke und schärfere Grenzsicherungen (vgl. Mead 2011). Währenddessen mahnt die kritische Linke eine Selbstbeschränkung und die Rücknahme übermäßiger hegemonialer Machtausübung an (vgl. Chomsky 2004). Viele Autoren heben darüber hinaus hervor, dass die Welt multipolar geworden sei bzw. dass die USA nicht mehr die alleinige Vormachtstellung ausüben könne, da andere Länder, wie insbesonde­ re China, weltpolitisch an Macht gewonnen hätten. Fared Zakaria spricht daher vom „post-American“ Zeitalter (vgl. Zakaria, 2008: 3). Andere Autoren sehen durch den (relativen) Bedeutungsverlust der USA die liberale Weltordnung insgesamt bedroht (Ikenberry 2018). Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Slaughter verbindet zwei einflussreiche Denkschulen und charakterisiert die Position der USA im internatio­ nalen System mittels zweier Metaphern: dem Schachbrett und dem Netzwerk (vgl. Slaughter 2017). So herrsche in der neorealistischen Denkschule der Außenpolitik ein Machtverständnis vor, welches die Rolle der aus rationalem Kalkül entstehenden nationalen Interessen in den Mittelpunkt stellt; ähnlich wie im Schachspiel werden die Interessen mit dem Ziel zu gewinnen und den Gegner zu schlagen verfolgt. Von dieser Sichtweise unterscheidet sich die Herangehensweise der komplexen Interde­ pendenz, wie sie von Robert Keohane und Joseph Nye entwickelt wurde. Hier sind die wechselseitigen Abhängigkeiten und Vereinbarungen von Staaten Voraussetzung für die Strategien der Machterhaltung und Machtausweitung. Wie Slaughter hervorhebt, könne heute Macht im internationalen Kontext nur über eine globale Vernetzung („Web“) konzeptionalisiert werden; diese wechselseitige Vernetzung und Kommuni­ kation über nationale Grenzen hinweg bedeute demnach einen Zugewinn an Sicher­ heit und Wohlstand für alle, und nicht nur für ein Land. Die Vormachtstellung der USA ist daher nicht als Plattform für einseitige Machtausübung zu verstehen, son­ dern als besonders günstige Ausgangslage, eine Vernetzung zu fördern und globale Verantwortung zu übernehmen. Im Folgenden werden zunächst die aufgrund historischer Besonderheiten geform­ ten Leitbilder in der Außenpolitik sowie die institutionellen und rechtlichen Rahmen­ bedingungen dargestellt. Daran anknüpfend wird auf die Entwicklung der Außenund Sicherheitspolitik eingegangen.

4.1 Historische Besonderheiten, Leitbilder und nationales Interesse Bereits Max Weber vertrat die Auffassung, dass die politisch-kulturellen Besonderhei­ ten eines Landes die politischen Institutionen sowie die Präferenzen in der Politik prägen. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und der Tendenz zur Selbsterfindung hat die

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amerikanische Gesellschaft dabei historisch stets eine ideale Projektionsfläche für un­ terschiedlichste politische Deutungen geboten. Europäer, die Amerika bereist und das Land studiert haben, berichteten in einer Mischung aus Faszination und Befremden über das neue politische Gemeinwesen, das zwar einerseits Europa so ähnlich schien, andererseits aber grundlegend verschieden war. Anhand von cultural codings, kulturell vermittelten Deutungsmustern, untersu­ chen neuere Studien das europäisch-amerikanische Verhältnis und kommen dabei zu aufschlussreichen Erkenntnissen. Der Historiker Konrad Jarausch (2006) argumen­ tiert, dass diese cultural codings nicht nur für die gegenseitigen gesellschaftlichen Perzeptionen Bedeutung haben, sondern auch die politischen Präferenzen in den transatlantischen Beziehungen beeinflussen. Die Analyse zeige weiter, so Jarausch, dass vorhandene Missdeutungen historische Ursachen haben. Jarausch stellt dies anhand von eingängigen Beispielen dar: Aus historischen Gründen haben religiöse Fragen beispielsweise in den USA stets eine hohe, in Europa dagegen eine rückläufi­ ge Bedeutung. Im Ergebnis zeige sich ein Bild, demzufolge Amerikaner als „bigott“, Europäer dagegen als „ungläubig“ erschienen. Auch die Einstellung zur Gewalt ist diesseits und jenseits des Atlantiks aufgrund historischer Erfahrungen unterschied­ lich ausgeprägt, insbesondere was die Todesstrafe und das Recht, Waffen zu tragen, angeht. Im Ergebnis erscheinen Amerikaner als „gewalttätig“, Europäer dagegen als „schwächlich“. Verschiedene Siedlungs- und Ressourcenstrukturen bedingen dar­ über hinaus unterschiedliche Einstellungen zur Umwelt: Daher gälten Amerikaner als „verschwenderisch“, Europäer dagegen als „ökologische Untergangspropheten“. Eine weitere Differenz ergibt sich bezüglich sozialer Solidarität; historisch ausgepräg­ te Klassengegensätze in Europa haben zu einer hohen Wertschätzung staatlicher so­ zialer Umverteilung geführt, während in Amerika der Individualismus wertgeschätzt wird. Im Ergebnis erscheinen Amerikaner als „herzlos“, Europäer als „kollektivis­ tisch“ (vgl. Jarausch 2006: 19 ff.). Schließlich sei hinsichtlich der Kriegsfrage in Europa aufgrund der kontinentalen Kriegserfahrungen eine hohe Abneigung gegen militä­ rische Gewalt festzustellen, während die USA eine eher distanziert-technokratische Beziehung zum Einsatz militärischer Mittel entwickelt hätten. Im Ergebnis träten Amerikaner als „militaristisch“ auf, während Europäer im Blick von außen als „feige“ gälten. Aus den historischen und kulturellen Besonderheiten und den Verschieden­ heiten der beiden Kontinente resultierten unterschiedliche Präferenzmuster in der Politik. Die Debatten, die in den Vereinigten Staaten heute über die Neuorientierung in der Außenpolitik geführt werden, sind nicht nur Ausdruck einer sich grundlegend wandelnden Welt. Vielmehr lassen sich in den unterschiedlichen Positionen Grund­ muster außenpolitischer Orientierungen wiederfinden, die verschiedene Traditionsli­ nien repräsentieren. Diese haben sich im Verlauf der amerikanischen Geschichte ge­ formt und sind als Leitbilder in die Außenpolitik eingegangen. Die USA verstehen sich als first new nation, d. h. als Land, das sich historisch als erste unabhängige De­ mokratie etabliert und mit dem modernen Gesellschaftsmodell auch neue Orientie­

4.1 Historische Besonderheiten, Leitbilder und nationales Interesse |

141

rungsmuster in den Außenbeziehungen des Landes entwickelt hatte (vgl. Schweigler 2004). Damit grenzten sich die politischen Eliten in den gerade gegründeten Verei­ nigten Staaten von der Politik der europäischen Mächte des 18. und 19. Jahrhunderts ab, welche sich mit ihren Macht- und Bündnissystemen in eine Vielzahl von Kriegen und gewalttätigen Konflikten verstrickt hatten. Die junge amerikanische Demokratie erhob den Anspruch, auch in den Außenbeziehungen neue Wege zu beschreiten. Die Leitbilder der amerikanischen Außenpolitik beruhen im Wesentlichen auf ei­ ner Bündelung historisch geformter politischer und kultureller Werte sowie auf Inter­ essen zur Sicherung der Staatlichkeit. Freiheit und Unabhängigkeit beispielsweise, die im Kontext des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ihre gesellschaftliche Fun­ dierung erhalten haben, spielen in der amerikanischen Außenpolitik bis heute eine große Rolle. Auch der amerikanische Patriotismus reicht, ebenso wie der Pragmatis­ mus und die Vorstellung der technischen Machbarkeit, weit in die Geschichte der USA zurück. Ideengeschichtlich gehören zum Grundmuster der politischen Kultur zwei kon­ träre Auffassungen über die Außenbeziehungen der Vereinigten Staaten, die als Idea­ lismus und Realismus bezeichnet werden, und die sich bis in die Frühphase der ame­ rikanischen Republik zurückverfolgen lassen. Die für auswärtige Beobachter oft am­ bivalente Positionierung der Vereinigten Staaten zwischen „Sheriff“ und „Missionar“ ist wesentlich auf die Verknüpfung dieser unterschiedlichen Traditionslinien zurück­ zuführen. Sie spiegeln sich auch in der Frage wieder, ob die Außenpolitik eher von rationalen Interessen oder von Normen und Werten geleitet sein sollte. Der Idealismus findet sich bereits im Konzept der moralischen Fundierung aus­ wärtiger Politik bei Thomas Jefferson. Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Un­ abhängigkeitserklärung (1776), vertrat als Außenminister (Secretary of State) unter dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Washington, zunächst die Auffassung, dass sich die Vereinigten Staaten von den europäischen Machtauseinan­ dersetzungen und Kriegen fernhalten und friedliche, am wirtschaftlichen Nutzen und an der politischen Unabhängigkeit orientierte Außenbeziehungen pflegen sollten. Für die Außenbeziehungen waren nach seiner Auffassung nur wenige außenpolitische In­ strumente erforderlich. So glaubte Jefferson, dass nur ein begrenzter Stab an Mitarbei­ tern in der Diplomatie und eine kleine Flotte nötig seien, um die Vereinigten Staaten zu schützen („no more than a few diplomats and a small navy“). Auch sollten die Verei­ nigten Staaten nicht mit europäischen Mächten konkurrieren und keine große Seeflot­ te aufbauen, um so ihre eignen Ressourcen zu schonen. Wie Jefferson schrieb: „To aim at such a navy as the greater nations of Europe possess, would be a foolish and wicked waste of the energies of our countrymen“ (zitiert in Kegley/Wittkopf 1996: 34). In ihren Außenbeziehungen sollte sich die Regierung auf klare moralische Positionen stützen und nicht auf machtpolitische Interessen. Während seiner Präsidentschaft als drit­ ter Präsident der Vereinigten Staaten (1801–1809) begründete Jefferson beispielswei­ se seine Position zu den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England mit rechts- und moralphilosophischen Argumenten und forderte, dass

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die moralischen Verpflichtungen des Landes staatlichen Interessen übergeordnet sein müssten. Jefferson schrieb 1793: „Compacts then between nation and nation are oblig­ atory on them by the same moral law which obliges individuals to observe their com­ pacts.“ (zitiert in Graebner 1964: 55). Eine militärische Aufrüstung der jungen amerika­ nischen Republik hielt Jefferson für schädlich und er war, trotz seiner Unterstützung für die Französische Revolution, gegen eine Bündnispolitik mit europäischen Mäch­ ten. Als paradigmatisch für eine aktive, idealistische Position in der Außenpolitik gilt die Auffassung von Präsident Woodrow Wilson (1913–1921). Angesichts der Kriegs­ gräuel im Ersten Weltkrieg legte der damalige Präsident in einer Rede vor dem ameri­ kanischen Senat am 22. Januar 1917 seine Vision einer grundlegenden Erneuerung der internationalen Beziehungen dar. Wilson setzte sich darin für die Beseitigung des tra­ ditionellen Systems der Machtallianzen (balance of power) zugunsten eines Systems kollektiver Sicherheit ein (community of power). In seiner Rede vor dem Senat beton­ te er: „Only a tranquil Europe can be a stable Europe. There must be, not a balance of power, but a community of power; not organized rivalries, but an organized common peace.“ (Wilson zitiert in Graebner 1964: 443). Wilsons Konzept beinhaltete darüber hinaus eine offene Diplomatie, die Selbstbestimmung auch kleinerer Länder, die Ab­ rüstung und die Unterstützung politischer Freiheiten weltweit. „The world must be safe for democracy. Its peace must be planted upon the tested foundations of political liberty.“ (Wilson zitiert in Graebner 1964: 441 f.). Aus diesen Gründen setzte sich der Präsident nachhaltig für die Bildung des Völkerbunds ein, dem die USA aufgrund der Opposition im US-Kongress dann allerdings nicht beitraten. Mit seiner Vision einer internationalen Ordnung, die auf der Verbreitung von De­ mokratie, Frieden und Wohlstand beruhen sollte, legte Wilson den Grundstein für eine amerikanische Außenpolitik, die das außenpolitische Engagement aus idealis­ tischen Grundwerten und aus moralischen Überzeugungen herleitete und die USA als Gestaltungsmacht verstand. Dieses Grundmuster haben spätere Präsidenten im­ mer wieder aufgegriffen. Ähnlich wie Wilson setzte sich beispielsweise Bill Clinton als Präsident (1993–2001) in den 1990er-Jahren für die Verbreitung von Demokratie und Wohlstand nach dem Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa ein, weshalb Clinton auch als pragmatischer Idealist in der Tradition Wilsons bezeichnet werden kann. Bezüge auf idealistische Grundwerte, insbesondere auf Begriffe wie „Freiheit“ und „Demokratie“, die in der amerikanischen politischen Kultur einen hohen Re­ sonanz- und Symbolwert besitzen, finden sich allerdings nicht nur in der liberalen Tradition – sie sind auch von Neokonservativen aufgegriffen worden. In der Rede von G. W. Bush (2001–2009) zum zweiten Amtsantritt im Januar 2005 spielt beispielsweise der Begriff der Freiheit eine zentrale Rolle und wird mit Bezügen zur idealistischen Tradition verwendet. Einige Autoren bezeichneten Bush daher als „machtbewussten Idealisten“ in der Außenpolitik (Kagan 2002). Anders als in der Clinton-Administrati­ on wird mit den idealistischen Bezügen bei Neokonservativen allerdings ein Anspruch

4.1 Historische Besonderheiten, Leitbilder und nationales Interesse | 143

auf die weltpolitische Überlegenheit der Vereinigten Staaten begründet, während bei den liberalen Institutionalisten multilaterale Kooperationen und kollektive Sicherheit von zentraler Bedeutung sind. Während sich die idealistische Tradition auf moralische und politische Werte be­ zieht und die USA als Gestaltungsmacht versteht, folgt der realistische Ansatz einem machtbewussten Konzept, das sich in erster Linie auf die nationalen Interessen beruft. Danach muss sich die Außenpolitik auf eine starke Interessenvertretung konzentrie­ ren und in erster Linie die eigene nationale Sicherheit gewährleisten. Aufwand und Ertrag eines außenpolitischen Engagements müssen in Beziehung zueinander gesetzt und der Einsatz von militärischen Mitteln realistisch, d. h. im Interesse des eigenen Landes, abgewogen werden. Außenpolitisches Handeln folgt demnach stets einem ra­ tionalen Kosten-Nutzen-Kalkül. Diese Denkschule orientiert sich historisch an dem von Alexander Hamilton ent­ wickelten Grundgedanken, dass Außenpolitik und Diplomatie ausschließlich natio­ nalen Interessen der Vereinigten Staaten dienen müssten. Hamilton, Finanzminister während der Präsidentschaft von George Washington, argumentierte, dass der Macht­ kampf zwischen den europäischen Staaten einen ständigen Konfliktherd bilden wür­ de und selbst zwischen den Handel treibenden Nationen beständig die Gefahr von Kriegen bestünde. Nach Hamilton galt: „[. . .] Conflict was the law of life. States no less than men were bound to collide over those ancient objects of ambition: wealth and glory.“ (Kegley/Wittkopf 1996: 34). Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Debatte in „The Federalist No. 6“ vertrat Hamilton die Position, dass es in der Natur der Men­ schen läge, nach Macht zu streben („men are ambitious, vindictive, and rapacious“). Mit dieser pessimistischen Haltung gegenüber der menschlichen Natur folgt er Tho­ mas Hobbes, der bereits 1651 schrieb: „So that in the first place I put for a general inclination of all mankind a perpetual and restless desire for power that only ceseath in death [. . .]. The only way to suceed is to kill, subdue, supplant or repel the other.“ (Hobbes 1940: XI/61). Harmonie und friedliches Zusammenleben der Nationen sei ein Trugbild. Hamilton zog daraus die Schlussfolgerung, dass die Vereinigten Staaten ei­ ne aktive Außenpolitik betreiben und sich gegen entsprechende Übergriffe von außen rüsten müssten. Wichtig sei eine amerikanische Selbstbestimmung: „to be ascendant in the system of American affairs [. . .] and able to dictate the terms of connection be­ tween the old and the new world“ (zitiert in Kegley/Wittkopf 1996: 34). Die geopoli­ tische Lage der jungen Republik sah Hamilton als vorteilhaft an. „The United States, rooted as are now in the ideas of independence, are happily too remote from Europe to be governed by her; dominion over any part of them would be a real misfortune to any nation of that quarter of the globe.“ (Hamilton „Americanus“ 1794, zitiert nach Graeb­ ner 1964: 71). Diese Position wurde vom scheidenden Präsidenten George Washington in seiner Abschiedsrede bekräftigt: „It is our true policy to steer clear of permanent alliances with any portion of the foreign world, so far, I mean, as we are now at liberty to do it.“ (Washingtons Farewell Address 1796; zitiert nach Graebner 1964: 75). Die­ se Positionen drücken das historisch geprägte Misstrauen gegenüber Allianzen und

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Machtbündnissen aus, die aus amerikanischer Sicht als Beschränkung des eigenen Handlungsspielraumes und der staatlichen Unabhängigkeit betrachtet wurden. Im 20. Jahrhundert wurde die Position der Realisten aufgrund des Kalten Krieges zum dominanten außenpolitischen Orientierungsmuster. Die Polarisierung zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion verlieh dem realistischen Paradigma der stets nach Macht und größerem Einfluss strebenden Staaten hohe Plausibilität. Ein­ flussreiche Politiker, wie George Kennan oder Henry Kissinger, verstanden sich als „Realisten“, die die Bedrohung durch die Sowjetunion als Hauptherausforderung für die USA begriffen. Dementsprechend richtete sich die Außenpolitik an der Stärkung der eigenen Position aus. Aufrüstung und der Ausbau eines robusten Verteidigungs­ systems bildeten den Kern der Außen- und Sicherheitspolitik. Erst Ende der 1960erJahre wurde diese Entwicklung durch Abrüstungsverhandlungen und internationale Diplomatie gebremst, wobei die Denkschule der Realisten nach wie vor großen Ein­ fluss ausübt. Aufgrund der geopolitischen Lage der USA, die in Zeiten innerer räumlicher Ex­ pansion auf dem amerikanischen Kontinent nur einer geringen Bedrohung durch die bisherigen Hegemonialmächte in Europa ausgesetzt waren, standen dem außenpoli­ tischen Denken und Handeln bis zum 20. Jahrhundert faktisch zwei Optionen offen, die man als „passive“ (Isolationismus) und „aktive“ (Internationalismus) Variante von Außenpolitik bezeichnen kann. Während der Isolationismus das außenpolitische En­ gagement möglichst gering halten möchte, hat die internationalistische Ausrichtung zu einem immer wiederkehrenden Engagement in anderen Teilen der Welt geführt. Kegley und Wittkopf (1996) beschreiben die Etappen amerikanischer Außenpoli­ tik bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als zyklische Entwicklung, die zwischen den beiden Polen Isolationismus und Internationalismus schwankte. Während schon Tho­ mas Jefferson eine isolationistische Grundhaltung empfahl, wobei er hoffte, dass die europäischen Mächte den amerikanischen Kontinent mit ihren kriegerischen Ausein­ andersetzungen nicht in Mitleidenschaft ziehen würden („leaving the other parts of the world in undisturbed tranquility“, Jefferson zitiert in Kegley/Wittkopf 1996: 34), erfolgte bereits kurz nach der Gründung der Republik eine expansionistische Pha­ se, während derer sich die Vereinigten Staaten weiter auf dem nordamerikanischen Kontinent ausdehnten. Die isolationistische Position der Nichteinmischung in Ange­ legenheiten auf dem amerikanischen Kontinent durch andere Staaten wurde dann vom amerikanischen Präsidenten James Monroe formuliert. Die „Monroe Doctrine“ (1823) erklärte eine Einmischung europäischer Mächte in der amerikanischen He­ misphäre als unerwünscht; umgekehrt wollten sich die Vereinigten Staaten nicht in europäische Belange sowie ihre Kolonialinteressen einmischen. „We owe it [. . .] to candor and to the amicable relations existing between the United States and (Euro­ pean) powers to declare that we should consider any attempt on their part to extend their system to any portion of this hemisphere as dangerous to our peace and safety.“ (James Monroe zitiert in Kegley/Wittkopf 1996: 36). Der amerikanische Kontinent galt auf Basis der Monroe-Doctrine damit als Einflusssphäre der USA. Diese Auffassung

4.1 Historische Besonderheiten, Leitbilder und nationales Interesse |

145

legte zugleich die Grundlage für die spätere interventionistische Politik der USA in La­ teinamerika („Hinterhofpolitik“). Die historische Vorstellung einer „Manifest Destiny“ oder „offensichtliche Schicksalsbestimmung“ der Vereinigten Staaten, welche deren territoriale Ausdehnung legitimierte, spielte dabei als ideologisches Fundament ei­ ne Rolle. Der Begriff wurde Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Das Schlagwort von der Manifest Destiny bezeichnet allerdings kein kohärentes politisches Konzept oder Leitbild, sondern ist heute als rhetorische Formel einzuordnen, die noch aus der Zeit der expansionistischen Epoche überliefert ist. Ein Schlüsselbegriff, der aus der frühen Auseinandersetzung zwischen Idealisten und Realisten über die Ziele der Außenpolitik hervorgegangen ist, ist der Begriff des nationalen Interesses (national interest). Er beruht auf der von Hamilton vertretenen Position, dass sich die Außenbeziehungen der Vereinigten Staaten allein danach zu richten haben, was der amerikanischen Republik dient. Angesichts der wachsenden Komplexität in der Weltpolitik ist es allerdings zunehmend schwieriger geworden, das „nationale Interesse“ eindeutig zu bestimmen. Zudem besteht die Gefahr, dass das nationale Interesse, welches stets als Bündelung von Auffassungen, die in einem mehrschichtigen Meinungs- und Willensbildungsprozess entstehen, nicht dem Allge­ meinwohl, sondern den Interessen einflussreicher Gruppen in der Gesellschaft dient. So haben Kritiker der US-Regierung immer wieder vorgeworfen, die Formulierung nationaler Interessen diene lediglich der Legitimierung von Sonderinteressen. Noam Chomsky wirft der US-Regierung beispielsweise vor, mit dem nationalen Interesse im­ periale Absichten zu verbrämen und anderen Ländern Bedingungen aufzuzwingen, die ausschließlich amerikanischen Wirtschafts- und Kapitalinteressen nutzen wür­ den. Er verurteilt dies als „imperiale Arroganz“ (vgl. Chomsky 2004). Chomsky hat sich seit der Anti-Vietnam-Kriegsbewegung immer wieder mit dem amerikanischen Interventionismus in Entwicklungs- und Schwellenländern auseinandergesetzt. Be­ sonders scharf verurteilte er die Lateinamerika-Politik der 1980er-Jahre und die Po­ litik des von den USA dominierten Internationalen Währungsfond gegenüber den Entwicklungsländern. Chomsky kritisierte auch den Irak-Krieg 2003. Er ist bis heute eine prominente Stimme der amerikanischen Globalisierungskritiker (vgl. Chomsky 2017). Die Formulierung und Definition von nationalen Interessen und Prioritäten in der Außenpolitik sind in den Vereinigten Staaten im Kräftefeld der demokratischen plu­ ralistischen Auseinandersetzung angesiedelt. Was in den USA als nationales Interes­ se verstanden wird, ist sowohl Gegenstand als auch Ergebnis kontroverser politischer Auseinandersetzungen. Der Amerika-Experte Gebhard Schweigler bemerkt dazu: „Die nationalen Interessen sind nicht gleichsam festgeschrieben und damit unmittelbar einsichtig, auch nicht für den Staatsmann und seine außenpolitischen Experten. Viel­ mehr ist die Bestimmung des nationalen Interesses in Demokratien wesentlicher Be­ standteil des demokratischen Prozesses selbst.“ (Schweigler 2004: 412). Daher sollte der Begriff des nationalen Interesses stets analytisch hinterfragt werden.

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4.2 Außenpolitische Entscheidungsprozesse Im Unterschied zur Bundesrepublik ist der außenpolitische Entscheidungsprozess der Vereinigten Staaten stark fragmentiert. Herausragende Merkmale sind die politische Machtverteilung und Machtverschränkung, die Machtdiffusion und der spezifische Aufbau der Gewaltenteilung. Die Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik sind ver­ fassungsgemäß zwischen der Exekutive und der Legislative aufgeteilt und zugleich verschränkt. So ist der Präsident als Chef der Exekutive einerseits zugleich oberster Befehlshaber der Armee; verfassungsrechtlich ist es aber dem Kongress vorbehalten, im Ernstfall einen Krieg zu erklären. Da der Kongress das Haushaltsrecht und die ver­ fassungsrechtliche Kompetenz besitzt, die finanziellen Ressourcen für die Landesver­ teidigung bereitzustellen (power of the purse), hat er zudem ein wichtiges politisches Mittel in der Hand, um die Macht des Präsidenten zu kontrollieren und zu begrenzen. Des Weiteren ist hervorzuheben, dass der Kongress auch von seiner legislativen Kom­ petenz (power of the law) Gebrauch machen kann, welche durch sein Initiativrecht besonders einflussreich sein kann. Vor allem in der Frage militärischer Einsätze im Ausland kommt es zwischen Präsident und Kongress immer wieder zu Spannungen und jede Seite ist bestrebt, ihren Macht- und Entscheidungsspielraum zu behaupten und auszubauen.

4.2.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen Wie in allen politischen Grundfragen nimmt die amerikanische Verfassung auch einen zentralen Stellenwert für das Selbstverständnis und die Festlegung institutio­ neller Zuständigkeiten in der Außenpolitik ein. Verfassungsrechtliche Grundlage für den außenpolitischen Prozess ist das System der Gewaltenteilung und -verschrän­ kung (checks and balances). Die Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. Septem­ ber 1787 legte bereits die unterschiedlichen Kompetenzen fest und nennt dabei an erster Stelle den Kongress. Diesem sind wichtige Rechte übertragen, wie die Entschei­ dungsmacht über den Haushalt. Von den beiden Kammern des Kongresses wird dem Senat ein größeres Gewicht bei außenpolitischen Entscheidungen zugeschrieben als den Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Während die Abgeordneten jeweils für zwei Jahre gewählt werden, sind Senatoren und Senatorinnen jeweils sechs Jahre im Amt, sodass hier eine größere Kontinuität gegeben ist. Die Ausschüsse des Senats übernehmen eine zentrale Rolle bei der Politikzielformulierung und der Vorbereitung von Gesetzen. Eine Begrenzung der Amtszeit existiert nicht, so dass sich einige Se­ natoren über die Seniorität, d. h. eine langjährige Mitgliedschaft, eine einflussreiche Machtbasis sichern können. Diese realpolitische Entwicklung hat die Stellung der Se­ natoren gestärkt, insbesondere wenn sie Vorsitzende von wichtigen Ausschüssen, wie dem „Foreign-Relations“- oder dem „Arms-Control“-Ausschuss, waren. Der Senat ist also der eigentliche „Gegenspieler“ des Präsidenten in der Außenpolitik. Besonders

4.2 Außenpolitische Entscheidungsprozesse | 147

schwierig wird es für den Präsidenten, wenn im Senat eine andere Partei die Mehrheit hat, als diejenige, welcher er selbst angehört (divided government). Aber selbst wenn die Senatsmehrheit seiner Partei angehört, kann es zu Konflikten kommen, da die Se­ natoren nicht dem Parteiwillen, sondern ihrer Wählerschaft im eigenen Bundesstaat verpflichtet sind. Erst im zweiten Verfassungsartikel wird die Stellung des Präsidenten festgelegt. Seine Rolle als Oberbefehlshaber der Streitkräfte gibt ihm eine starke Position. Sie hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der USA zur Weltmacht einen enormen Machtzuwachs erfahren. Zugleich wird seine Macht durch die Verschrän­ kung und gegenseitige Kontrolle der Regierungsgewalten beschränkt, sodass er stets auch in der Außenpolitik Kompromisse mit dem Kongress erreichen muss. Da dassel­ be Prinzip der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung in allen Politikbereichen gilt und die Bedeutung der Bundesregierung in der Innenpolitik durch einen aktiven Föderalismus und die Staatsphilosophie eines eher passiven Bundesstaates begrenzt ist, suchen amerikanische Präsidenten häufig in der Außenpolitik ein Feld, das sie aktiv gestalten und sich damit profilieren können. Die „dritte Gewalt“ bzw. die Judikative spielt dagegen eine geringere Rolle für die Außenpolitik. Anders als das Verfassungsgericht in der Bundesrepublik, das sich ge­ rade in jüngerer Zeit mit strittigen außenpolitischen Fragen befasst hat (z. B. Maas­ trichter Vertrag zur Europäischen Union, Auslandseinsätze der Bundeswehr), hat sich der amerikanische Oberste Gerichtshof („Supreme Court“) bislang nur selten zu au­ ßenpolitisch relevanten Grundsatzfragen geäußert. Diese Zurückhaltung ist in der po­ litical question doctrine begründet, die festlegt, dass sich der Oberste Gerichtshof nur zu rechtlichen, nicht aber zu politischen Fragen äußern sollte. In der Verfassung der Vereinigten Staaten (1787) heißt es zur Gewaltenteilung und -verschränkung¹: Artikel I Abschnitt 1 „Alle in dieser Verfassung verliehene gesetzgebende Gewalt ruht im Kongress der Verei­ nigten Staaten, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus besteht.“ Abschnitt 8 „Der Kongress hat das Recht, Steuern, Zölle, Abgaben und Akzisen aufzuerlegen und einzuziehen, um die Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen und für die Landesverteidigung zu sorgen [. . .] Krieg zu erklären, Kaperbriefe auszustellen [. . .] Armeen aufzustellen und zu unterhalten [. . .] Eine Flotte zu bauen und zu unterhalten [. . .] Reglements für Führung und Dienst der Land- und See­ streitkräfte zu erlassen [. . .].“ Artikel II Abschnitt 2 „Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee und der Flotte der Vereinigten Staaten und der Miliz der Einzelstaaten [. . .]. Er hat das Recht, auf Anfragen und mit Zustimmung des Senats Verträge zu schließen, vorausgesetzt, dass zwei Drittel der anwesenden Senatoren zustimmen. Er er­ nennt auf Anraten und mit Zustimmung des Senats Botschafter, Gesandte und Konsuln, die Richter des Obersten Bundesgerichts und alle sonstigen Beamten der Vereinigten Staaten [. . .].“

1 https://usa.usembassy.de/etexts/gov/gov-constitutiond.pdf (aufgerufen am 10.02.2018).

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4.2.2 Institutionelle Strukturen und gesellschaftliche Einflüsse Die Machtverteilung zwischen Präsident und Kongress führte im Verlauf der Ge­ schichte zu einer starken Fragmentierung des außenpolitischen Entscheidungspro­ zesses. Seit den 1930er-Jahren und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Machtzuwachs des Präsidenten zu verzeichnen, der sich insbesondere im Ausbau von Beraterstäben zeigt, die direkt bei ihm angesiedelt sind. Hierzu zählt beispielsweise der außerordentlich wichtige Nationale Sicherheitsrat (National Security Council), in dessen „Situation Room“ wichtige außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen gefällt werden. Diesem Beratergremium gehören neben Vertreterinnen und Vertretern der Exekutive, wie dem Außenminister, dem Verteidigungs- und dem Finanzminister, auch militärische Berater und hochrangige Persönlichkeiten der Sicherheitsdienste an. Die Machtkonzentration beim Präsidenten wurde mit der Polarisierung zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion begründet. Sie existiert nach dem Ende des Ost-West-Konflikts weiter fort und ist im Zuge der Bekämpfung des inter­ nationalen Terrorismus weiter verstärkt worden. Die Entscheidungsmacht liegt dabei allein beim Präsidenten, der dem Nationalen Sicherheitsrat vorsitzt. Ähnlich wie der deutsche Bundestag ist auch der amerikanische Kongress ein „working parliament“, d. h. die politischen Debatten und gesetzesvorbereitenden Ent­ scheidungen finden in Ausschüssen und Arbeitskreisen des Kongresses statt. Beson­ ders wichtige Institutionen des Kongresses, in denen den täglichen Geschäften der Außenpolitik nachgegangen wird, sind daher die außenpolitischen Ausschüsse, wie das „Foreign Relations Committee“ und das „Arms Control Committee“ des Senats. Daneben existieren zahlreiche Behörden und Agenturen, die sich ebenfalls mit außenund sicherheitspolitisch relevanten Fragen befassen, sowie Politikberatungsinstitute, in denen beispielsweise Positionspapiere und Expertisen erstellt werden. Im Machtkampf zwischen Präsident und Kongress hat der Kongress zunächst als Reaktion auf den Vietnam-Krieg versucht, stärkeren Einfluss auf außenpolitische Ent­ scheidungen zu nehmen, allerdings mit begrenztem Erfolg. Entsprechend der Verab­ schiedung der „War Powers Resolution“ durch den Kongress im Jahr 1973 muss der Präsident den Kongress innerhalb von 48 Stunden schriftlich darüber informieren, wenn er amerikanische Streitkräfte in Konfliktsituationen auswärts einsetzt; dauert der militärische Einsatz länger als 60 Tage, bedarf dies der Zustimmung durch den Kongress. Ob dieses Gesetz die Entscheidungsmacht des Präsidenten tatsächlich ein­ geschränkt hat, ist – angesichts der Vielzahl militärischer Aktionen im Ausland, die auch die 60-Tage-Grenze weit überschreiten und demnach ohne Zustimmung des Kon­ gresses fortgesetzt wurden – umstritten. Die Verpflichtung der Konsultation mit dem Kongress wird von den amtierenden Präsidenten häufig nicht eingehalten. So äußerte der Initiator des Gesetzes, Jacob K. Javits, in späteren Jahren Zweifel an der Wirksam­ keit, indem er 1985 schrieb, dass diese Regelung die „imperiale Präsidentschaft“ der 1970er-Jahre nicht wirklich aufgehoben habe: „[It] did not, and does not guarantee the end of presidential war, but it does present Congress with the means by which it can

4.2 Außenpolitische Entscheidungsprozesse |

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stop presidential war if it has the will to act.“ (Javits 1985, zitiert in Kegley/Wittkopf 1996: 448). Das Gesetz hat nach Auffassung von Javits zwar die Stellung des Kongres­ ses gestärkt, aber nicht zu einer Machtverschiebung geführt, weil der Präsident seine Entscheidungsmacht bei Auslandseinsätzen durch das Gesetz nicht verloren hat und der Kongress praktisch keine Mittel besitzt, die Bestimmungen einzuklagen. Nur ein gezielter politischer Willen könnte dem Kongress mehr Macht verleihen. Außenpolitische Konfliktsituationen sind daher immer auch Testfälle für die Ent­ scheidungsmacht von Präsident und Kongress, wobei das Verhalten von Legislative und Präsident meist von den politischen Umständen und von Opportunität, etwa mit Blick auf anstehende Wahlen, bestimmt wird. Der erste Golfkrieg im Jahr 1991 ist hier ein beredtes Beispiel: Während mehrere US-Auslandseinsätze in den 1980er-Jahren wie in Grenada oder Panama auf Befehl des Präsidenten und ohne formale Zustim­ mung des Kongresses erfolgten, hielt es George Bush (senior) im Winter 1990/91 für politisch angezeigt, vor dem Einsatz im Golf nach dem irakischen Überfall auf Ku­ wait die Zustimmung des Kongresses einzuholen. Auch im Fall des zweiten Irak-Kriegs 2003 hat Präsident G. W. Bush die Zustimmung des Kongresses unter Verweis auf ei­ ne nationale Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen eingeholt, eine Entschei­ dung, die in der Öffentlichkeit – vor allem nach Bekanntwerden des sogenannten Dul­ fer-Berichts, eines offiziellen, vom Kongress veranlassten Sicherheitsberichts, der die seinerzeit von der Regierung gegebenen Kriegsgründe in Zweifel zog – trotz der Zu­ stimmung des Kongresses äußerst umstritten blieb.² Die charakteristische Fragmentierung im Entscheidungsprozess, die das ameri­ kanische Präsidialsystem kennzeichnet, ist für Außenstehende oft unübersichtlich. Auch verwaltungstechnisch ist sie kompliziert, denn sie hat zu einem „government of subgovernments“ geführt, wie dies häufig in der amerikanischen Politikwissenschaft genannt wird. So wird das „presidential government“ mit dem Präsidenten als Chef der Exekutive, seinen diversen Beraterstäben, speziellen Behörden und Kommissio­ nen, die mit dem Wechsel des Präsidenten ebenfalls ausgetauscht oder restrukturiert werden, unterschieden vom „permanent government“, das aus den Ministerien und permanenten Behörden besteht, wie etwa dem Außen- und Verteidigungsministeri­ um oder den Sicherheitsbehörden wie z. B. dem FBI oder der „Central Intelligence Agency“ (CIA). Die Zusammenfassung mehrerer Behörden und Abteilungen zum „Hei­ matschutz“ (Homeland Security) durch die Bush-Regierung mit dem Ziel, den Terro­ rismus wirksamer bekämpfen zu können, ist einer der jüngsten Versuche, angesichts der Zersplitterung von Zuständigkeiten eine effizientere Macht- und Entscheidungs­ struktur zu etablieren. In der Regel arbeiten Präsidenten mit den Sicherheitsbehörden eng zusammen; allerdings kann es auch zu Machtkämpfen kommen, wie die Ausein­

2 Vgl. Charles Dulfer (2004). (Director of Central Intelligence Special Advisor for Strategy Regarding Iraqi Weapons of Mass Destruction (WMD) Programs), „Testimony to the US Congress“, 30.03.2004, https://www.cia.gov/cia/public_affairs/speeches/2004/tenet_testimony_03302004.html (aufgerufen am 22.02.2018).

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andersetzungen zwischen Präsident Trump und dem FBI über die Russland-Ermitt­ lungen 2017/18 gezeigt haben. Für außenpolitische Entscheidungen spielen heute im politischen Prozess auch die Medien eine wichtige Rolle. Die Medien gelten generell als „vierte Säule“ im po­ litischen System der USA neben Kongress, Präsident und Oberstem Gericht. Die Rol­ le der Medien und der öffentlichen Meinung, die in einem ausgefeilten System von Meinungsumfragen durch ein breites Spektrum von Politikberatungsinstituten, Par­ tei- und Wahlkampfteams, Regierungsstellen und wissenschaftlichen Einrichtungen ermittelt und von Beraterstäben und „Think Tanks“ aller Parteien, der Regierung und den Interessengruppen kontinuierlich ausgewertet wird, hat im Entscheidungspro­ zess stark zugenommen. Das Maß an innenpolitischer bzw. gesellschaftlicher Unter­ stützung entscheidet häufig darüber, ob eine Administration beispielsweise eine Po­ litik der Machtentfaltung oder Machtrücknahme im internationalen Kontext verfolgt. Insbesondere in Kriegs- und Krisensituation spielen die Medien eine wichtige Rolle (vgl. z. B. Aday 2017). Den Printmedien wird eine wichtige Aufklärungsfunktion zugeschrieben, da sie sich ihrem Selbstverständnis nach einem „investigativen Journalismus“ verpflichtet sehen und Ausdruck des amerikanischen Pluralismus sind. Immer wieder haben die Printmedien daher kritisch in den Politikprozess eingegriffen, wie der WatergateSkandal oder die Iran-Contras-Affäre zeigten. Auch über die Ermittlungen zu den Russland-Verbindungen des Wahlkampfteams von Donald Trump durch Sonderer­ mittler Robert Mueller wird ausführlich in Zeitungen, wie der „New York Times“ und der „Washington Post“, berichtet. Im Bereich des Fernsehens und des Rundfunks sind die Sender dagegen aufgrund der Privatisierung und Kommerzialisierung mit wenigen Ausnahmen, wie dem National Public Radio NPR, politisch ausgerichtet. So gilt „Fox News“, Teil des vom Medienunternehmer Rupert Murdoch gegründeten Fox Network, als Sprachrohr des republikanischen Felds, während andere Sender, wie MSNBC, den Demokraten nahe stehen. Die neuen sozialen Medien haben die Medienlandschaft in jüngerer Zeit stark verändert. Eine Vielfalt von Blogs und Internetplattformen er­ fahren starken Zulauf. 2007 wurde beispielsweise „Breitbart News“ gegründet, eine Nachrichten- und Meinungswebsite, die als Sprachrohr rechter und rechtspopulis­ tischer Meinungen gilt. Auch Politiker setzen die sozialen Medien gezielt ein, eine Entwicklung, die vor allem von Donald Trump mit Twitter intensiv ausgenutzt wird. Mit der Professionalisierung der Außenpolitik seit Ende des 20. Jahrhunderts sind eine Reihe von wissenschaftlichen Einrichtungen, Politikberatungsinstituten und Think Tanks entstanden, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Konzepte und Prioritätensetzungen in der Außenpolitik ausüben. Das in New York ansässige „Council on Foreign Relations“ (gegründet 1921) gehört dabei immer noch zu den renommiertesten Foren außenpolitischer Meinungsbildung. Weitere Einrichtungen sind beispielsweise die der Democratic Party nahestehende „Brookings-Institution“, das „American Enterprise Institute“ der Republican Party oder die konservative „Her­ itage Foundation“. Gewandelt hat sich dabei die akademische Herkunft von Beratern

4.3 Außenpolitische Grundorientierungen

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und Experten. Während die Berater früher primär aus dem Kreis der Absolventen von Elite-Universitäten an der Ostküste kamen, die das „außenpolitische Establish­ ment“ ausmachten, erfolgt die Rekrutierung heute aus einem weiteren Spektrum von Einrichtungen. Charakteristisch ist auch eine größere Durchlässigkeit zwischen Uni­ versitäten, der Politikberatung und politischen Ämtern und Beraterstäben. Weiterfüh­ rende akademische Abschlüsse sind allerdings in der Politik nicht immer erforderlich; Minister und Berater der Trump-Administration kommen – im Gegensatz zur ObamaAdministration – beispielsweise vorwiegend aus dem Militär oder waren in der Fi­ nanzwelt tätig; lediglich der — inzwischen abgelöste — Nationale Sicherheitsberater H. R. McMaster hatte sein Studium mit der Promotion abgeschlossen.

4.3 Außenpolitische Grundorientierungen In die formativen Jahre der amerikanischen Außenbeziehungen fällt der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, der die Phase des Isolationismus zunächst beendete. Ein Ergebnis des neuen internationalen Engagements war der aus dieser Erfahrung resultierende Vorschlag des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, mit dem Völkerbund eine neue internationale Ordnung zu begründen. Mit der Ablehnung der Völkerbund-Mitgliedschaft durch den amerikanischen Kongress wurde Anfang der 1920er-Jahre jedoch eine Periode der Rückkehr in den Isolationismus eingeleitet. Die Zwischenkriegszeit gilt daher als isolationistische Phase amerikanischer Außenpoli­ tik. Mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg nach dem Angriff Japans auf die USMarine in Pearl Harbour im Jahr 1941 endete die isolationistische Grundorientierung der Außenpolitik und es begann der Aufstieg der USA zur Weltmacht, welcher als un­ mittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs das weltweite Engagement der Vereinigten Staaten begründete (vgl. Jäger/Höse 2015). Die Periode des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts zwischen 1945 und 1990 wurde durch einen breiten außenpoliti­ schen Konsens getragen, für den drei Grundgedanken bestimmend wurden: erstens das weltweite Eintreten für den Freihandel, zweitens die Überzeugung, Demokratie und Freiheit zu stärken und drittens das Bestreben, dem Kommunismus weltweit ent­ gegenzuwirken und den Machteinfluss der Sowjetunion einzudämmen. Die internationale Rolle der Vereinigten Staaten wurde also mehr als vier Jahr­ zehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geprägt. Der Konflikt mit der Sowjetunion bildete bis 1989/90 das bestimmende Paradigma der amerikanischen Außenpolitik. Grundlage für einen breiten außenpolitischen Konsens in dieser Periode wurde das sicherheitspolitische Konzept der „Eindämmung“ kommunistischer Herrschaft (Con­ tainment-Politik). Ihr Begründer, George F. Kennan, argumentierte, dass die Sowjet­ union danach strebe, ihren Machteinfluss in Europa und in anderen Regionen der Welt auszudehnen. Dementsprechend müsse die Außenpolitik der Vereinigten Staaten dar­ auf ausgerichtet sein, den Einfluss der Sowjetunion mit allen Mitteln weltweit ein­ zudämmen. Die im Sinne der Containment-Politik formulierte Truman-Doktrin (1947)

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sicherte anderen Ländern amerikanische Unterstützung im Falle einer sowjetischen Bedrohung zu. In den Worten von Truman: „I believe that it must be the policy of the United States to support free peoples who are resisting attempted subjugation by armed minorities or by outside pressures.“ (Harry Truman, zitiert in Kegley/Wittkopf 1996: 61). Die Annahme, dass kein Land dem Kommunismus anheim fallen dürfe, weil dies einen Domino-Effekt in der Region bewirken würde („Dominotheorie“), führte dazu, dass die Außenpolitik der Vereinigten Staaten bis Anfang der 1990er-Jahre nahezu ausschließlich von Veränderungen im gesamtstrategischen Verhältnis zur Sowjetuni­ on bestimmt wurde. Als eine Folge führten die USA und die Sowjetunion eine Rei­ he von Stellvertreter-Kriegen in Afrika und Asien, wie z. B. in Angola oder Vietnam, um Macht- und Einflusssphären abzustecken und zu sichern. Nach Auffassung von George Kennan überwog in der Außenpolitik allerdings von Anfang an die globalisie­ rende militärische Interpretation der Eindämmungsdoktrin gegenüber ihrer diploma­ tischen und selektiveren Anwendung (vgl. Mewes 1994: 557). Auch führte der bedin­ gungslose Antikommunismus zu einer Reihe höchst problematischer Fehleinschät­ zungen, wie z. B. in der Kuba-Krise 1962, in der eine unmittelbare atomare Bedrohung der USA durch die Sowjetunion angenommen wurde, sowie äußerst verlustreicher Konflikte wie im Fall des Vietnamkriegs in den 1960er-Jahren. Das Ende des weltumspannenden Ost-West-Konflikts wurde durch die von der So­ wjetunion und den USA Mitte der 1980er-Jahre geführten Abrüstungsgespräche einge­ leitet. Den Wendepunkt bildete dabei das Treffen zwischen dem amerikanischen Prä­ sidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gor­ batschow am 12. Oktober 1986 in Reykjavik, welches den Umbruch in Osteuropa und später auch in der DDR überhaupt erst ermöglichte.

4.4 Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Eine Rückkehr zu einer isolationistischen Politik in den Vereinigten Staaten ist heute angesichts der globalen Verflechtungen nicht vorstellbar. Nach dem Ende des OstWest-Konflikts, an dessen Beilegung die Vereinigten Staaten entscheidenden Anteil hatten, bemühte sich die amerikanische Regierung, ihre weltpolitische Führungsrolle mit den eigenen Ressourcen besser in Einklang zu bringen. Die provokante These des Wirtschaftshistorikers Paul Kennedy „The Rise and Fall of Great Powers“ (1987) über den potenziellen Niedergang (decline) der USA hatte bereits Ende der 1980er-Jahre eine lebhafte Debatte ausgelöst. Kennedy vertrat die These, dass die Vereinigten Staa­ ten während des Ost-West-Konflikts zu viele Ressourcen in den militärischen Bereich investiert hätten und daher auf ihren weltpolitischen Abstieg hinsteuerten, wobei Kennedy auf historische Beispiele anderer großer Mächte hinwies, die sich durch überproportionale Anstrengungen im Rüstungsbereich erschöpft hätten (imperial overstretch). Die Politikwissenschaftler Joseph Nye und Robert Keohane vertraten

4.4 Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts |

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dagegen die Auffassung, dass der weltpolitische Einfluss der Vereinigten Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sogar noch zunehmen werde. Aufgrund ih­ rer ungleich größeren Ressourcen, ihrer „robusten“ politischen Institutionen und der weltweiten Vernetzung steige die Bedeutung, wobei sie eine enge Zusammen­ arbeit mit internationalen Organisationen befürworteten, um zur Lösung globaler Probleme beizutragen (Keohane/Nye 2012). Auch der durch seine Mitte der 1990erJahre entwickelte These vom „Kampf der Kulturen“ bekannte Politikwissenschaftler Samuel Huntington vertrat die Auffassung, dass die Rolle der Vereinigten Staaten weltpolitisch zunehmen würde, was sie allerdings veranlassen könnte, als „lonely superpower“ (Huntington 1999) auch unilateral zu handeln. Die Präsidentschaft von George Bush sen. (1989–1993) fiel in die Zeit des Über­ gangs vom Ende des sowjetischen Blocks bis zur Neuordnung Mitteleuropas. Bush, der schon als Vizepräsident unter Reagan politische Erfahrungen im Ost-West-Kon­ flikt gesammelt hatte, befürwortete eine vorsichtige Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und setzte sich bei den internationalen Verhandlungen 1990 für die deutsche Einheit ein. Der Machtwechsel zur demokratischen Präsidentschaft von Bill Clinton (1993– 2001) weckte die Erwartung, dass der einer jüngeren Generation angehörende Präsi­ dent, der nicht mehr durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und nur begrenzt durch den Kalten Krieg geprägt war, neue Akzente in der Außenpolitik setzen würde. Tatsächlich strebte die Clinton-Administration eine neue Linie in der Innen- sowie in der Außenpolitik an. Bereits im Wahlkampf hatte Clinton den Slogan „It’s the econo­ my, stupid“ geprägt, mit dem er auf die binnenwirtschaftlichen Probleme der USA hin­ wies und wirtschaftlicher Innovation sowie der Infrastruktur und der Bildung wieder mehr Aufmerksamkeit widmen wollte. Wie Clinton in seiner Amtsantrittsrede (1993) hervorhob, erhielten wirtschaftspolitische Interessen auch in der Außenpolitik Priori­ tät. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst das nordamerikanische Freihandelsabkom­ men NAFTA, das 1994 abgeschlossen wurde. Auch zu China entwickelte die ClintonAdministration engere Wirtschaftsbeziehungen. Die Koppelung der Handelserleichte­ rungen („Meistbegünstigungsklausel“) an die Einhaltung der Menschenrechte wurde, sehr zum Ärger der Linken in der Demokratischen Partei, von der Clinton-Administra­ tion fallen gelassen, um den Handel mit China weiter zu fördern. Die Clinton-Administration befürwortete darüber hinaus einen aktiven Multilate­ ralismus (assertive multilateralism) und die Unterstützung von internationalen Orga­ nisationen, wie z. B. der Vereinten Nationen, zur Lösung internationaler Sicherheitsund Entwicklungsprobleme. Enge Beziehungen unterhielt sie auch zu Europa mit der Unterstützung der jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa (enlargement). So hatte die Clinton-Administration entscheidenden Anteil an der Neuordnung in der Region, indem sie sich aktiv um die Beendigung der Kriege im zerfallenden Jugoslawi­ en bemühte. Das Dayton-Abkommen (1995) beendete schließlich den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina. Zugleich förderten die USA unter Clinton die NATO-Mitglied­ schaft der Länder in Mittel- und Osteuropa, insbesondere Polens und der baltischen

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Staaten, und sie forderte eine stärkere Selbstverantwortung der europäischen NATOPartner in der Sicherheitspolitik. Das Engagement in Europa zeigte sich auch im Nord­ irlandkonflikt. Die Clinton-Administration setzte sich nachdrücklich und im Ergebnis erfolgreich im nordirischen Friedensprozess ein. Bereits kurz nach der Amtsübernahme von Clinton änderten sich durch die Zwi­ schenwahlen zum Kongress im Herbst 1994 allerdings die Mehrheitsverhältnisse zu­ gunsten der Republikaner im Kongress (divided government). Der als programma­ tisch geltende republikanische Gegenentwurf „Contract With America“ (1994), den 300 teils zur Wahl stehende Republikaner unter Führung von Newt Gingrich während des Wahlkampfes als Plattform formuliert hatten, beinhaltete bereits die Grundzüge einer neokonservativen Agenda in der Außen- und Sicherheitspolitik. In Absatz 6, The Na­ tional Security Restoration Act, wird beispielsweise gefordert, dass keine US-Truppen unter UN-Kommando gestellt werden, Beiträge zum UN-Peacekeeping gekürzt, die na­ tionalen Verteidigungsausgaben erhöht und der Beitritt der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten in die NATO gefördert werden sollten.³ Mit der Betonung des nationalen Interesses stellten die Republikaner die militärische Stärke der Vereinigten Staaten wieder stärker in den Mittelpunkt. Sie erteilten dem Multilateralismus eine klare Absa­ ge und zeigten tiefe Skepsis gegenüber internationalen Organisationen, vor allem ge­ genüber den Vereinten Nationen. Das internationale Engagement zur Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten, wie es die Clinton-Administration verfolgte, wurde von der republikanischen Mehrheit im Senat und im Abgeordnetenhaus in der Folgezeit in Zweifel gezogen und Initiativen der Clinton-Administration für multilate­ rale Vereinbarungen verhindert. Die Klimaschutzpolitik und die Einrichtung des Internationalen Strafgerichts­ hofs, die die Clinton-Administration Mitte der 1990er-Jahre aktiv unterstützt hatte, gerieten aufgrund der veränderten Machtverhältnisse im Kongress immer mehr unter Druck. Zwar unterzeichnete Präsident Clinton das Kyoto-Protokoll (1997) zum Kli­ maschutz, aber dieses Protokoll wurde später nicht ratifiziert. Noch während der Amtszeit von Clinton zogen sich die Vereinigten Staaten unter dem Druck der repu­ blikanischen Mehrheit aus den internationalen Klimaschutzverhandlungen zurück. Ebenso ratifizierten die USA das Statut von Rom (1998) nicht, mit dem der Internatio­ nale Strafgerichtshof ICC etablierte wurde, obwohl sie sich in den 1990er-Jahren für die Idee eines permanenten Gerichtshofs zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen eingesetzt hatten (vgl. Sikkink 2011). Die amerikanische Beteiligung bei „Peacekeeping“-Einsätzen der Vereinten Na­ tionen war innenpolitisch ebenso umstritten wie der Einsatz im Bosnien-Krieg und die

3 „No US-troops under UN command and restoration of the essential parts of our national security funding to strengthen our national defense and maintain our credibility around the world.“ https: //web.archive.org/web/19990427174200/http://www.house.gov/house/Contract/CONTRACT.html (aufgerufen am 12.03.2018). http://www.house.gov/house/Contract/CONTRACT.html (aufgerufen am 25.07.2011).

4.5 Neuorientierung nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 |

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Beteiligung an internationalen Klimaschutz-Verhandlungen. Im Kräftespiel zwischen Präsident und Kongress ergaben sich daher immer wieder Konflikte, die den Präsiden­ ten in der Außenpolitik zu Kompromissen zwangen. Bereits kurz nach dem Wahlsieg der Republikaner setzten diese beispielsweise im Kongress durch, dass der Anteil der amerikanischen Unterstützung für „Peacekeeping“-Einsätze von 31 auf 25 Prozent ge­ senkt werden sollte. Ein weiterer Streitpunkt stellte die Zahlung der überfälligen ame­ rikanischen Beiträge an die Vereinten Nationen dar. Während die Clinton-Adminis­ tration auf eine vertragsgerechte Beitragszahlung an die Vereinten Nationen drängte, wurde diese durch den republikanisch dominierten Senat blockiert. Der ranghöchs­ te Demokrat unter den Außenpolitikern im Kongress, Lee Hamilton, unterstützte die Clinton-Linie, indem er argumentierte, dass die Vereinigten Staaten nur so Einfluss in­ nerhalb der Vereinten Nationen ausüben könnten. Dies wurde von den Republikanern zurückgewiesen. Der konservative Vorsitzende des Außenpolitikausschusses des Se­ nats, Jesse Helms, verweigerte Außenministerin Albright rundweg die Unterstützung für die UN-Beitragszahlung (vgl. Albright 2006).

4.5 Neuorientierung nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 Die Präsidentschaft von G. W. Bush (2001–2009) wurde überschattet durch die terroris­ tischen Anschläge auf New York City und Washington D. C. am 11. September 2001, die eine tiefe Zäsur für die amerikanische Außenpolitik bedeuteten. Nur wenige Monate zuvor, im Januar 2001 hatte mit G. W. Bush ein Präsident das höchste Staatsamt über­ nommen, der außenpolitisch wenig Erfahrung besaß und auch innenpolitisch auf­ grund des äußerst umstrittenen Wahlausgangs nur geringe Unterstützung fand. Nach den Terroranschlägen gelang es Präsident Bush jedoch, sich durch sein entschlosse­ nes Eintreten für den Kampf gegen den Terrorismus eine breite Unterstützung in der Bevölkerung zu sichern. Die Zustimmung für seine Amtsführung schnellte in den Mo­ naten nach den Terroranschlägen in die Höhe. Zugleich gelang es dem neokonserva­ tiven Beraterkreis um den Präsidenten, spürbar mehr Einfluss auf die Außenpolitik des Landes auszuüben. Mit dem Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus im Kampf gegen das Taliban-Regime in Afghanistan sowie durch den – in europäischen Ländern völkerrechtlich umstrittenen – Krieg gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak 2003 zeigte die amerikanische Regierung ihre Entschlossenheit, zum Schutz „nationaler Interessen“ ihre militärische Macht einzusetzen und gegebenenfalls auch ohne die Unterstützung internationaler Organisationen zu handeln. Der „Krieg gegen den Terror“ (War on Terror), wie die Bekämpfung des inter­ nationalen Terrorismus von der Bush-Administration betitelt wurde, stand während der Amtszeit von Präsident Bush fortan im Zentrum der Außen- und Sicherheits­ politik. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als beherrschendes Para­

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digma amerikanischer Außenpolitik begründete eine starke militärische Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik zum Schutz amerikanischer Interessen. Eine neue Sicherheitsstrategie (National Security Strategy) aus dem Jahr 2003 definierte die Bekämpfung des Terrorismus als sicherheitspolitische Priorität und schrieb ei­ nen „präventiven Erstschlag“ im Fall der Bedrohung der nationalen Sicherheit fest. Gegenüber internationalen Organisationen verhielt sich die Bush-Administration zugleich äußerst zurückhaltend, ja sogar ablehnend. Sie befürwortete den Unilate­ ralismus und ging, wenn möglich, ad hoc Bündnisse mit befreundeten Regierungen ein. Der Militärschlag gegen den Irak 2003 wurde ohne UN-Mandat, allerdings mit Unterstützung einiger verbündeter Länder, wie Großbritannien, durchgeführt. Zuge­ spitzt lässt sich der Unterschied zwischen der Clinton- und der nachfolgenden BushAdministration folgendermaßen beschreiben: Während die Clinton-Administration eine multilaterale Konzeption wann immer möglich verfolgte und nur dann unilateral zu handeln bestrebt war, wenn dies nötig war, kehrte sich dieses Verhältnis unter der Bush-Administration um; diese präferierte ein unilaterales Vorgehen, wann immer möglich und wählte nur dann ein multilaterales Vorgehen, wenn es unbedingt nötig war. Mit seiner Metapher, Europäer kämen von der Venus, Amerikaner vom Mars, beschrieb der amerikanische Analyst Robert Kagan mit Blick auf die Kritik euro­ päischer Verbündeter in eingängiger Weise einen mentalen Graben zwischen den Vereinigten Staaten und den europäischen Ländern (vgl. Kagan 2002). Der Einsatz militärischer Mittel und das unilaterale Vorgehen der Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Terror, der von den neokonservativen Beratern vorgegeben wurde, wurde von Kagan unterstützt bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber den Europäern, die als „schwächlich“ und „zögerlich“ kritisiert wurden. Kagan bezeichnete diese Ent­ wicklung als eine realpolitisch am nationalen Interesse ausgerichtete Außenpolitik (realist retrenchment), um das – wie Bushs Berater und eine Mehrheit der Republi­ kaner behaupteten – weltpolitisch „ausschweifende“ Engagement der Clinton-Admi­ nistration zurückzufahren. Kagans Behauptung über den unterschiedlichen Umgang mit militärischer Macht löste in der Folgezeit – in Anbetracht eines weit verbreite­ ten Unbehagens unter den politischen Eliten – eine kontroverse Debatte aus, wann und unter welchen Bedingungen Kriege überhaupt legitim seien. An dieser Debatte um den „gerechten Krieg“ (just war) nahmen nicht nur Sicherheitspolitiker teil, son­ dern Analysten unterschiedlicher Fachrichtungen sowie Philosophen, Juristen und Sozialwissenschaftler (vgl. z. B. Hoffmann 2004; Etzioni 2007). Nach der Präsidentschaftswahl von 2004, in der George W. Bush diesmal tatsäch­ lich nicht nur die Stimmenmehrheit der Wahlmänner und -frauen erhielt, sondern auch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (popular vote), justierte die Adminis­ tration ihre außenpolitischen Ziele neu. In der Rede zum zweiten Amtsantritt legte der Präsident im Januar 2005 Umrisse einer neuen Agenda dar, die eine Förderung von Freiheit und Demokratisierung weltweit befürwortete. Diese als „Freiheits-Agen­ da“ bezeichnete Programmatik unterstrich, dass sich die Bush-Administration auch

4.5 Neuorientierung nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 |

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in der zweiten Amtszeit als globale Macht verstand. Militärische Aktionen sollten mit dem „weichen“ Ziel der Demokratie- und Freiheitsbegründung verbunden und eine engere Beziehung zu europäischen Ländern angestrebt werden. Der Bezug auf ame­ rikanische Grundwerte mit starker Symbolkraft (freedom, liberty) folgte dem Bestre­ ben, die Akzeptanz für die Außenpolitik zu erhöhen und sie durch starke historischkulturelle Bezüge sowohl nach innen als auch nach außen, mit Blick auf die Bünd­ nispartner, abzustützen. Im transatlantischen Verhältnis wurden fortan gemeinsame Ziele und Prioritäten betont, die mit den europäischen Verbündeten angesichts einer veränderten Weltlage verfolgt werden sollten. Das Verhältnis zu Europa bildete dementsprechend einen Kernpunkt in der ameri­ kanischen Außenpolitik der zweiten Bush-Administration. Aufgrund des Irak-Krieges von 2003 hatten sich die Beziehungen zu Kernländern Europas, wie Frankreich und Deutschland, verschlechtert und die Zukunft des Verhältnisses zu den europäischen Verbündeten stand auf dem Prüfstand. Während sich neokonservative Meinungsge­ ber von der Position europäischer Länder distanzierten, setzten sich andere Auto­ ren für verstärkte Bemühungen um Europa ein. Charles A. Kupchan, ehemaliger au­ ßen- und sicherheitspolitischer Berater der Clinton-Administration und Professor an der Georgetown University in Washington D. C., kritisierte die nationalistische Aus­ richtung der Neokonservativen (vgl. Kupchan 2003a; 2003b). Kupchan unterstrich die wachsende Rolle der Region Europa. Angesichts der aufstrebenden Bedeutung der EU forderte er einen „liberalen Realismus“ für die Vereinigten Staaten, der den neuen in­ ternationalen Verhältnissen mit einer sich auch politisch und ökonomisch profilieren­ den EU besser gerecht werden könne. Die strukturelle Machtungleichheit könne nicht aufgehoben, aber durch die wechselseitige Anerkennung der Verschiedenheit in ein neues kooperatives Verhältnis überführt werden. Die engen Beziehungen zu Europa müssten bestehen bleiben, aber Europa, genauer die EU, sollte als Akteur stärker in die Pflicht genommen werden. Die Institutionalisten forderten dagegen ein komplementäres Konzept der Aufga­ benverteilung. Der Politikwissenschaftler und Europa-Spezialist Andrew Moravcsik argumentierte beispielsweise aus der Sicht des liberal institutionalism, dass die Vereinigten Staaten ihr machtpolitisches Potenzial für die Sicherheits- und Verteidi­ gungspolitik einsetzen sollten, während die europäischen Länder ihren Beitrag zur Friedenserhaltung, Konfliktprävention und zum demokratischen Wiederaufbau im multilateralen Engagement optimieren könnten (vgl. Moravcsik 2003). Diese komple­ mentäre Aufgabenteilung würde nicht nur einen globalen Zugewinn an Sicherheit und Wohlstand mit sich bringen, sondern die transatlantischen Beziehungen aus der Polarisierung herausführen und sie nachhaltig verbessern, da diesseits und jenseits des Atlantiks parallele Ziele verfolgt würden. Im Gegensatz zur Freiheitsrhetorik der Bush-Administration standen sicherheits­ politische Maßnahmen, die der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dienen sollten. Die umstrittene Festsetzung der unter Terrorismusverdacht stehenden Gefan­ genen in Guantánamo Bay, die Verletzung von Persönlichkeitsrechten im irakischen

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Gefängnis Abu Ghraib durch Angehörige der US-Streitkräfte, aber auch die Unterstüt­ zung autoritärer Regime in der Welt, wie z. B. Saudi-Arabien, Indonesien oder Paki­ stan, zur Realisierung eigener nationaler Interessen begründeten Zweifel hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der republikanischen „Freiheits-Agenda“. Besonders umstritten blieb dabei der Irak-Krieg (vgl. Hoffmann 2004). Rückblickend schreibt auch Made­ leine Albright, die während der Clinton Administration 1993 zunächst UN-Botschafte­ rin und ab 1997 Außenministerin war, dass die Welt zwar die „unverzichtbare Nation“ Amerika samt ihrer militärischen Macht brauchte, wie etwa die Einsätze in Bosnien und im Kosovo gezeigt hätten, doch eine „gottgegebene Mission“ zur „Beglückung der Welt“ dürften sich die Vereinigten Staaten nicht anmaßen. Die Moralisierung der Au­ ßenpolitik sei daher eine Fehlentwicklung, die falsche Entscheidung verursacht hätte. Albright bezeichnet den Irak-Krieg als das „schlimmste Desaster“ in der amerikani­ schen Geschichte (vgl. Albright 2006). Im September 2006 legte das „Princeton Project on National Security“, das von ei­ ner überparteilichen Gruppe renommierter Außenpolitik-Experten unter Leitung von John Ikenberry und Anne-Marie Slaughter durchgeführt wurde, in einem umfassen­ den Bericht eine neue globale Sicherheitsstrategie vor (Ikenberry/Slaughter 2006). Entstanden in kritischer Auseinandersetzung mit den neokonservativen außenpo­ litischen Grundauffassungen der Bush-Administration verstanden sie ihre Arbeit als Gegenentwurf und alternativen Strategieplan. Mit der Metapher des Schweizer Taschenmessers (Swiss Army Knife) beschreibt der Bericht die neue amerikanische außenpolitische Strategie: Sie müsse multidimensional ausgelegt und flexibel sein, „able to deploy different tools for different situations on a moments notice“. (Ikenber­ ry/Slaughter 2006: 6). Dabei solle der Diplomatie bzw. internationalen Verhandlungen Vorrang geben werden. Ziel der nachhaltigen Sicherheitsstrategie, so der Bericht, sei die Schaffung einer auf den Prinzipien des internationalen Rechts und der Förde­ rung von Demokratie und Freiheitsrechten basierenden Politik („Forging A World of Liberty Under Law“). Eine nachhaltige Sicherheit für die Vereinigten Staaten würde durch drei Aufgabenkomplexe erzielt werden: Einfordern der Rechtsstaatlichkeit von Regierungen, Aufbau einer liberalen internationalen Ordnung mit funktionsfähigen, reformierten internationalen Organisationen, Überarbeitung des Einsatzkonzepts von militärischer Macht angesichts globaler Herausforderungen des 21. Jahrhun­ derts (vgl. Ikenberry/Slaughter 2006: 6). Die Vorstellungen der Bush-Regierung über die Förderung von Demokratisierung in verschiedenen Teilen der Welt wurden zu­ rückgewiesen. Nur durch pluralistische Ausdifferenzierung, zivilgesellschaftliche Entwicklungen und die Förderung gesellschaftlicher Toleranz werde eine Demokra­ tisierung gefördert. Priorität sollte dem Aufbau von gesellschaftlichen Strukturen gegeben werden, die den Pluralismus förderten, denn die politische Erneuerung kön­ ne letztlich nur aus den Gesellschaften selbst und nicht durch äußere Intervention entstehen. Dementsprechend waren auch die fortdauernden Kriege im Irak und in Afghani­ stan, die das bestimmende außenpolitische Thema in den USA während der Bush-

4.6 Präsidentschaft Barack Obama: Neuer Internationalismus

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Administration waren, Gegenstand kontroverser Diskussionen. Von den Befürwor­ tern als notwendig im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gerechtfertigt, kritisierten die Gegner sie als imperiales Machtgebaren (vgl. z. B. Maier 2006). Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (2005) vertritt die These, dass sich die ameri­ kanische Vormachtstellung in einer historischen Linie mit anderen Imperien bewege. Die amerikanische Weltherrschaft, so Münkler, sei historisch mit den Imperien vom alten Rom bis zur Gegenwart zu vergleichen, zeige aber auch eigene Züge, denn sie beruhe auf den neuen Möglichkeiten der Globalisierung. Der US-amerikanische „im­ periale Zyklus“ habe bereits während der Präsidentschaft Ronald Reagans begonnen, so Münkler. Eine grundlegende Veränderung der Militärtechnologien habe die Ver­ einigten Staaten in die Lage versetzt, nicht nur Kriege gezielt und effektiv aus der Entfernung zu führen. Die USA seien aufgrund ihrer Vormachtstellung politisch eher geneigt, diese technologischen Möglichkeiten auszuschöpfen, insbesondere dann, wenn sie sich, wie durch den islamistischen Terror, bedroht sehen. Der internationale Terrorismus als große politische Herausforderung sei eine Reaktion auf die heutige asymmetrische Welt, indem er sich gezielt gegen die militärisch weit überlegende „imperiale“ Weltmacht richte. Die Europäer hätten bislang vom militärischen Schutz durch die USA profitiert und durch ihre Gefolgschaft gleichzeitig wesentlich zum Fortbestehen des imperialen Systems beigetragen (vgl. Münkler 2005). Angesichts der hohen Kosten der Kriege inmitten eines steigenden Haushaltsdefi­ zits bei gleichzeitig wachsenden sozialen Problemen, etwa in der Gesundheitspolitik und im Bildungsbereich, rutschte die Popularität von Präsident Bush auf einen Tief­ stand. Die wachsende Unzufriedenheit mit seiner Amtsführung führte bei den Zwi­ schenwahlen zum Kongress (midterm elections) im November 2006 bereits zu einem Plebiszit über die Außenpolitik. Obwohl bei Zwischenwahlen in der Regel innenpoli­ tische Themen dominieren, war der Irak-Krieg in dieser Wahl das beherrschende The­ ma. Es gelang den Demokraten, die Mehrheit im Repräsentantenhaus wiederzuerlan­ gen und im Senat mit den Republikanern gleich zu ziehen. Als sich schließlich auch führende Republikaner vom Bush-Kurs absetzten, wurde klar, dass sich bereits im Vor­ feld der US-Präsidentschaftswahlen vom November 2008 ein Stimmungsumschwung ergeben hatte.

4.6 Präsidentschaft Barack Obama: Neuer Internationalismus Die Obama-Aministration (2009–2017) wandte sich wieder stärker einem internatio­ nalen Engagement zu und sie verstand ihre Rolle als globale Gestaltungsmacht (vgl. Goldberg 2016). Barack Obama ließ von Anbeginn seiner Amtszeit keinen Zweifel dar­ an, dass er mit der Vorgängerregierung brechen und einen neuen Ansatz in der Au­ ßenpolitik entwickeln würde (vgl. Lemke 2011). Ein neuer Internationalismus und die aktive Unterstützung des Multilateralismus setzten sich auf konzeptioneller und poli­ tischer Ebene durch. Vor allem in Europa wurde diese Entwicklung begrüßt und sorgte

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für die Erwartung, dass sich eine gemeinsame Herangehensweise an globale Proble­ me im Rahmen von internationalen Organisationen durchsetzen würde. Die Perzeption des Neuanfangs wurde bestärkt durch die Herkunft und das cha­ rismatische Auftreten Obamas: Zum ersten Mal konnte ein Präsident afro-amerikani­ scher Herkunft ins Weiße Haus einziehen, was an sich schon eine Zäsur für die ameri­ kanische Politik bedeutete (vgl. Remnick 2010). Obama wurde in den internationalen und einheimischen Medien vorwiegend als Erneuerer, ja geradezu als Heilsbringer ge­ feiert und entsprechend hoch waren die Erwartungen. Der Bruch mit der neokonser­ vativ ausgerichteten Bush-Administration wurde daher schon in der Person Obamas sichtbar und die Rhetorik des Wandels („yes, we can“) beherrschte die öffentliche Dis­ kussion. Mit seinem Regierungsprogramm legte Obama im Gegensatz zu seinem Amtsvor­ gänger Wert darauf, seinen Kooperationswillen in der internationalen Politik zu unter­ streichen und amerikanische Macht als Gestaltungsmacht auszubauen. Multilateralis­ mus und nicht unilaterale Machtausübung sollte fortan die Grundlage der Außenpo­ litik bilden. Bereits in der viel beachteten öffentlichen Rede Barack Obamas in Berlin im Juni 2008, also noch vor der offiziellen Nominierung zum Präsidentschaftskandi­ daten, hatte er die engen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und das Eintreten für gemeinsame Ziele und Werte hervorgehoben. Sein Hauptanlie­ gen bestand darin, das Ansehen der USA in der Welt zu verbessern und wiederher­ zustellen. Dabei strebte auch die Obama-Administration eine Politik der Führungs­ stärke an und sie verzichtet nicht darauf, nationale Interessen in den Mittelpunkt der Außenpolitik zu stellen. Anders als die Bush-Administration verfolgten Obama und sein außenpolitisches Team in der „neuen Ära der Verantwortlichkeit“ jedoch eine kooperative Strategie in einer Welt „wechselseitiger Interessen und wechselseitigem Respekt“, wie der Präsident in seiner Amtsantrittsrede am 20. Januar 2009 hervorhob. Bereits kurz nach Amtsübernahme kündigte die Obama-Administration eine neue Friedensinitiative im Nahen Osten an und suchte eine Strategie des Dialogs mit der arabischen Welt, dargelegt in der Kairoer Rede im Sommer 2009. Die Entwicklungen des „arabischen Frühlings“ wurden als Neuanfang begrüßt und unterstützt, aller­ dings mit geringer nachhaltiger Wirkung, da sich in den meisten betroffenen Ländern wieder nicht-demokratische Verhältnisse etablierten und der Nahostkonflikt ungelöst bleib. Insbesondere die Ankündigung des Wiedereinstiegs in die internationalen Kli­ maschutzverhandlungen wurde in der internationalen Gemeinschaft, und besonders in Europa, als Neuanfang gewertet. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Barack Obama im Dezember 2009 wurde zudem der Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Obama-Administration eine aktive Rolle in der Abrüstungspolitik und der Wahrung des Weltfriedens spielen würde. Die neuen Akzentsetzungen führten tat­ sächlich zu einer positiven Perzeption in Europa (vgl. Rudolf 2010). Wie Umfragen zeigten, nahm die Zustimmung zur Amtsführung des US-Präsiden­ ten in Europa deutlich zu und Meinungsforscher sprachen vom „Obama bounce“, ei­ nem sprunghaften Anstieg der Attraktivität der USA nach der Wahl Obamas. Nach Um­

4.6 Präsidentschaft Barack Obama: Neuer Internationalismus

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fragen des German Marshall Funds wuchs die Unterstützung für den US-Präsidenten nach seiner Wahl im Jahr 2009 in Deutschland auf 80 Prozent, in Frankreich auf 77 und in Italien und Portugal auf 64 Prozent. Die Außenpolitik Obamas traf damit in Europa auf vier Mal so große Zustimmung wie jene von G. W. Bush und Obama war in der EU populärer als in den USA (77 bzw. 57 Prozent Zustimmung).⁴ Auch in der zwei­ ten Amtszeit hielt der positive Trend an, wie eine Studie des PEW-Research Center 2015 ausweist.⁵ Auf der konzeptionellen Ebene verfolgte die Obama-Administration die Idee von Smart Power in der Außenpolitik, d. h. die amerikanische Führungsrolle sollte durch eine der jeweiligen Situation angepasste Kombination von Diplomatie und Durchset­ zungskraft realisiert werden. Das Konzept von smart power geht zurück auf den Har­ vard-Politologen und ehemaligen Politikberater von Bill Clinton, Joseph Nye (2008), der drei Formen der Machtausübung unterscheidet: hard power, welche vornehmlich auf militärischer und wirtschaftlicher Macht und Strategien der Erzwingung beruht, soft power, die auf Überzeugen durch Diplomatie, Kultur und Kommunikation setzt, und smart power, die beide im außenpolitischen Bereich kombiniert und sich adpativ auf die jeweilige Situation anwenden lässt. Dieses Konzept wurde auch von Außenministerin Hillary Clinton unterstützt (vgl. Clinton 2014). Wie sie in der Anhörung im Kongress zu ihrer Nominierung 2009 be­ tonte, sollten in der Außenpolitik verschiedene Strategien zum Tragen kommen, der Diplomatie dabei aber stets Vorrang gegeben werden: I believe that American leadership has been waning, but is still wanted. We must use what has been called smart power: the full range of tools at our disposal – diplomatic, economic, military, political, legal, and cultural – picking the right tool, or combination of tools, for each situation. With smart power, diplomacy will be the vanguard of foreign policy. This is not a radical idea. The ancient Roman poet Terence, who was born a slave and rose to become one of the great voices of his time, declared that in every endeavor, the seemly course for wise men is to try persuasion first. The same truth binds wise women as well.⁶

Außenministerin Clinton wurde dabei von Beratern unterstützt, die der neo-institutio­ nalistischen Denkschule der amerikanischen Außenpolitik verbunden sind und damit das Konzept des Multilateralismus befürworteten (vgl. Slaughter 2009). Bereits kurz nach ihrer Amtsübernahme im Januar 2009 ernannte Hillary Clinton beispielsweise die renommierte Professorin für Internationale Beziehungen an der Princeton Univer­

4 Vgl. Studie des German Marshall Funds: Transatlantic Trends. Key Findings 2009, online ver­ fügbar unter: http://www.gmfus.org/commentary/support-us-leadership-skyrockets-europa-2009transatlantictrends (aufgerufen am 12.03.2018). 5 Vgl. PEW-Research 2015 „7 charts on how the world views president Obama“, insbes. Chart 6. 6 Hillary Clinton: Nomination Hearing To Be Secretary of State. Statement before the Senate Foreign Relations Committee, Washington D. C. 13.01.2009, online verfügbar unter: www.nytimes.com/2009/ 01/13/us/politics/13test-clinton.html (aufgerufen am 01.03.2018).

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sity, Anne-Marie Slaughter, zur Direktorin für „Policy Planning“ im Außenministeri­ um (State Department), ein Amt, das diese bis 2011, also in der Formierungsphase der neuen Außenpolitik, wahrnahm. Ein Beispiel für die Anwendung des Smart-PowerAnsatzes waren die Beziehungen zur islamischen Welt. In seiner Rede in Kairo im Juni 2009 warb Obama zunächst für ein besseres Verständnis und engere Beziehun­ gen zum Nahen und Mittleren Osten. Aber bereits in seiner Rede vor den Vereinten Nationen im September 2009 unterstrich der amerikanische Präsident die Grenzen der Konsenspolitik. Eingefordert wurden Gegenleistungen der Regierungen, mit de­ nen die US-Administration einen Dialog führte. Die zweite Phase seiner Amtszeit zeig­ te daher auch die Grenzen der Diplomatie und die Befürwortung von „harten Mitteln“ auf. So verteidigte Obama in seiner Rede zur Annahme des Friedensnobelpreises in Os­ lo am 10. Dezember 2009 den Einsatz militärischer Mittel und bezeichnet Kriege unter bestimmten Umständen als notwendig. Wir müssen damit beginnen, die schwere Wahrheit anzunehmen: Gewaltsame Konflikte werden wir zu Lebzeiten nicht abschaffen können. Es wird Zeiten geben, in denen Nationen – die allein oder gemeinsam handeln – den Einsatz von Gewalt nicht nur als notwendig, sondern als mora­ lisch gerechtfertigt betrachten werden [. . .]. Denn täuschen Sie sich nicht: Das Böse existiert auf der Welt. [. . .] dass Krieg manchmal nötig ist und auf einer gewissen Ebene Ausdruck menschli­ cher Torheit.⁷

Der konzeptionelle und strategische Neuanfang, den die Obama-Administration an­ strebte, war als Antwort auf die tiefe Legitimitätskrise zu verstehen, in der sich die USA am Ende der Amtszeit von G. W. Bush weltpolitisch befanden. Anders als die repu­ blikanische Bush-Administration war die demokratische Obama-Administration vor allem in den transatlantischen Beziehungen an einem deutlichen Richtungswechsel zugunsten eines multilateralistischen Vorgehens und einer engen Abstimmung mit den europäischen Partnern interessiert. In Bezug auf die transatlantischen Beziehun­ gen strebte die Obama-Administration eine engere Beziehung in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik sowie in der Klimapolitik an. Wie der amerikanische Politikwissen­ schaftler Daniel Hamilton schreibt, habe die Regierung Obama eine „einmalige Chan­ ce“, eine „atlantische Partnerschaft zu schmieden, die besser gewappnet ist, den Mög­ lichkeiten und Herausforderungen einer neuen Mächteverteilung auf der Welt zu be­ gegnen“. (Hamilton 2010: 32). Die neuen transatlantischen Beziehungen sollten sich vor allem folgenden aktuellen Herausforderungen gemeinsam widmen: der Bewälti­ gung der Wirtschaftskrise, den Sicherheitsproblemen in Afghanistan und Irak sowie weiteren sicherheitspolitischen Herausforderungen wie bei der nuklearen Abrüstung in Iran, den koordinierten Beziehungen zu Russland, der Frage der EU-Erweiterung, dem Kampf gegen terroristische Organisationen wie Al-Qaida sowie dem Problem des

7 Barack Obama, Friedensnobelpreis-Rede, 10.12.2009, Oslo, http://www.welt.de/politik/ausland/ article5490579/Seine-Rede-zum-Friedensnobelpreis-im-Wortlaut.html (aufgerufen am 01.03.2018).

4.6 Präsidentschaft Barack Obama: Neuer Internationalismus

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Klimawandels. Diese sieben „Eckpunkte“, wie Hamilton sie bezeichnete, sollten ziel­ gerichtet und nüchtern angegangen werden (vgl. Hamilton 2010: 32). In einer globalisierten Welt der wechselseitigen Abhängigkeiten sollten politische Entscheidungen in den internationalen Beziehungen durch internationales Recht le­ gitimiert und für andere Akteure nachvollziehbar begründet werden. Der Vertrauens­ verlust, den die Vereinigten Staaten vor allem im arabischen Raum und im Nahen und Mittleren Osten durch den Irak-Krieg erlitten hatten, sollte durch eine Politik des Dia­ logs und der konkreten Verhandlungen ausgeglichen und die Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die neue Sicherheitspolitik mit dem angekündigten Rückzug amerikanischer Trup­ pen aus dem Irak und der Truppenreduzierung in Afghanistan konnte sich auf eine breitere Zustimmung in der Bevölkerung stützen, da das militärische Engagement in anderen Ländern immer weniger Unterstützung in der amerikanischen Bevölkerung fand. Während die Zustimmung zur militärischen Stärke kurz nach den Terroranschlä­ gen vom 11. September 2001 nach Erhebungen des Pew Research Centers noch bei 62 Prozent lag, stimmten 2007 weniger als die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass militärische Stärke am besten Frieden sichern könne.⁸ Eine starke amerikanische Militärmacht als bester Weg zur Friedenssicherung verlor also den Umfragen zufolge immer mehr an Boden. Nukleare Abrüstung und die Begrenzung von Atomwaffen zählten ebenfalls zum Schwerpunkt der Obama-Administration. So verhandelte die US-Regierung mit der russischen Regierung eine Nachfolgevereinbarung zum auslaufenden Abkommen über die Begrenzung strategischer Atomwaffen. Im Februar 2011 trat schließlich ein neues START-Abkommen in Kraft. Der US-Senat hatte diesem Abkommen schließlich zugestimmt, nachdem sichergestellt werden konnte, dass das Abkommen eine Mo­ dernisierung von Waffensystemen nicht ausschließen würde – eine Übereinkunft, die zwar auf Kritik seitens der Linken stieß, da die Obama-Administration nun eine Modernisierung der Waffensysteme, so auch von Atomwaffen, verfolgte. Das Inkraft­ treten des Abkommens galt jedoch als wichtiger Erfolg der Obama-Administration in der Sicherheitspolitik, da Russland als strategischer Partner vertraglich in die Abrüs­ tung eingebunden werden konnte. In den Bemühungen, das Atomprogramm im Iran wieder unter die Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zu stellen, um die Entwicklung von waffenfähigem Atommaterial zu unterbinden, konnte die Obama-Administra­ tion mit dem 2015 geschlossenen Iran-Abkommen, das unter Beteiligung der fünf UN-Vetomächte und Deutschland ausgehandelt worden war, einen diplomatischen Durchbruch erzielen. Das Abkommen sieht vor, dass die IAEA Zugang zu allen Atom­

8 Vgl. Pew Research Center Pew Research Center: „Trends in Political Values and Core Attitudes“, 22.03.2007, http://www.people-press.org/2007/03/22/trends-in-political-values-and-core-attitudes1987-2007/ (aufgerufen am 03.07.2018).

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anlagen im Iran erhält und im Gegenzug die gegen den Iran verhängten Sanktionen schrittweise aufgehoben werden sollen. Trotz einiger offener Fragen – so band das Abkommen den Iran beispielweise nur bis 2025 – galt das Abkommen als diploma­ tischer Erfolg der Obama-Administration. Bezüglich der Einbindung Nordkoreas in internationale Verhandlungen konnten allerdings keine Fortschritte erzielt werden. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus behielt auch in der Obama-Ad­ ministration seinen hohen Stellenwert unter den sicherheitspolitischen Prioritäten bei. In seiner Problemanalyse stellte Präsident Obama einen Zusammenhang zwi­ schen der Lösung des Nahostkonflikts und der Bekämpfung terroristischer Gruppen her. Sollte es im Nahen Osten gelingen, ein friedliches Arrangement im verfahrenen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern auszuhandeln, so die Argumentati­ on, dann verlören auch terroristische Gruppen ihren Nährboden (vgl. Goldberg 2016). Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus richtete sich vor allem gegen die Gruppe Al-Qaida. Die Tötung des seit über zehn Jahren gesuchten Anführers Osama bin Laden am 2. Mai 2011 in Pakistan durch amerikanische Einsatzkräfte, welcher für die Anschläge in New York und Washington sowie andere terroristische Taten ver­ antwortlich war, wurde von der Obama-Administration als einer der großen Erfolge gewertet. Zugleich erhöhte die Administration die Zahl rechtlich umstrittener Droh­ neneinsätze gegen terroristische Netzwerke, vor allem im Mittleren Osten. Das Council on Foreign Relations schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2001 bis 2014 rund 500 Ein­ sätze mit Drohnen stattgefunden haben, bei denen schätzungsweise 3.674 Personen getötet wurden, darunter 473 Zivilisten. Insgesamt 50 Einsätze wurden von Präsident Bush autorisiert, 450 von Präsident Obama.⁹ Im Bereich der Außenwirtschaftspolitik stand die Obama-Administration gleich zu Beginn ihrer Amtszeit vor einer schwierigen Herausforderung. Die globale Wirt­ schafts- und Finanzkrise 2008/09 hatte in den USA ihren Ursprung und zog neben der amerikanischen Wirtschaft auch die europäischen Länder in eine tiefe Krise; erst in der zweiten Amtszeit von Obama galt sie als bewältigt. Die Wirtschafts- und Finanz­ krise stellte auch die transatlantischen Beziehungen vor eine Bewährungsprobe. Wäh­ rend die Obama-Administration rasche, hohe Wirtschaftshilfen favorisierte und dabei eine drastische Erhöhung des ohnehin hohen Haushaltsdefizits in Kauf nahm, um die Wirtschaft anzukurbeln, verfolgte die Europäische Union eine fiskalpolitisch konser­ vative Position, die neben Wirtschaftshilfen auch Einsparungen in den Krisenländern forderte. Ein Beleg des neuen Internationalismus der Obama-Administration war die Auf­ wertung internationaler Organisationen. Zu wichtigen internationalen Verhandlun­ gen im Rahmen der Vereinten Nationen, wie dem Klimaschutzgipfel in Kopenhagen (2009), wurden hochrangige, profilierte Vertreter entsandt. Für die Verhandlungen im Nahen Osten wurde der Sonderbeauftragter George Mitchell nebst erfahrenen Mit­

9 https://www.cfr.org/blog/americas-500th-drone-strike (aufgerufen am 12.02.2018).

4.7 Präsidentschaft Donald Trump: „America First“

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arbeitern eingesetzt. Im Rahmen der Vereinten Nationen sollte auch die Abrüstungsund Sicherheitspolitik vorangetrieben werden, wobei die USA wieder eine Führungs­ rolle übernehmen wollten, wie etwa im Bereich der Abrüstungsvereinbarungen zu strategischen Atomwaffen (START-Abkommen). Die Vereinten Nationen rückten wie­ der stärker in den Mittelpunkt amerikanischer Außenpolitik. Die US-Vertreterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, wurde als Mitglied im Kabinett des Präsidenten aufgenommen und damit politisch aufgewertet. Während der Obama-Administration wandten sich die USA – trotz der engen transatlantischen Beziehungen – immer stärker dem asiatisch-pazifischen Raum zu. Dieser „pivot to Asia“ galt zum einen den Wirtschaftsbeziehungen. Über mehrere Jah­ re wurde mit den Staaten in Asien, darunter Japan, Australien, Neuseeland, sowie den südostasiatischen Staaten ein Freihandelsabkommen (Transpacific Partnership Agreement TPP) verhandelt, das 2017 abgeschlossen, aber dann von der Trump-Ad­ ministration nicht unterzeichnet wurde. Zugleich sollten die Wirtschaftsbeziehungen zu China intensiviert werden, da das Land als wichtige Wirtschaftsmacht wahrge­ nommen wurde. Sicherheitspolitisch erneuerten die USA zum anderen ihre Verpflich­ tungen gegenüber den asiatischen Bündnispartnern und suchten eine engere Zusam­ menarbeit, z. B. im Konflikt um die Seewege im südchinesischen Meer sowie in der Frage der atomaren Kontrolle Nordkoreas. Die Bilanz der Außenpolitik in der Obama-Administration fällt gemischt aus (vgl. Goldberg 2016; Larres 2016). Einerseits entwickelte Präsident Obama den liberalen In­ ternationalismus weiter und bemühte sich um verbesserte Beziehungen zu den Län­ dern Asiens, Afrikas und des Mittleren und Nahen Ostens. Andrerseits blieben viele weltpolitische Probleme weiter ungelöst, wie beispielsweise die prekäre Sicherheits­ lage im Nahen und Mittleren Osten. Auch verhielt sich die Obama-Administration in dem seit 2011 anhaltenden Krieg in Syrien zurückhaltend und verzichtete darauf, mas­ siv und mit Bodentruppen einzugreifen, selbst nachdem die Assad-Regierung durch Giftgaseinsätze gegen die oppositionellen Milizen die von Obama gezogene „rote Li­ nie“ überschritten hatte. Aus der europäischen Perspektive erfolgte während der Oba­ ma-Administration eine deutliche Verbesserung der Beziehungen, nicht zuletzt auf diplomatischer und auf zivilgesellschaftlicher Ebene, auch wenn der Abhörskandal durch die National Security Agency NSA für Irritationen in Europa sorgte.

4.7 Präsidentschaft Donald Trump: „America First“ Die Präsidentschaft von Donald Trump (2017–) leitete eine neue Phase amerikanischer Außenpolitik ein. Unter dem Slogan „America First“ stellte Trump die nationalen In­ teressen der USA über globalpolitische Verantwortungen. Die USA sollten primär ih­ ren eigenen Interessen folgen (vgl. Braml 2017; Viola 2017). Die Trump-Administra­ tion vertritt damit eine nationalistische Außenpolitik, die sich in der Sicherheitspo­ litik, vor allem aber in der Wirtschafts- und Handelspolitik manifestiert: Anders als

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die Regierungen der Obama- und Bush-Administrationen lehnt Trump den Freihan­ del als „unfair“ für Amerika ab. Er präferiert im Bereich der Außenwirtschafts- und Handelspolitik einen neuen wirtschaftlichen Protektionismus, der sich beispielsweise in der Einführung hoher Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte 2018 zeigte. Im Be­ reich der Sicherheit stellt die Trump-Administration in Kontinuität der bisherigen Po­ litik die amerikanische Verteidigungsbereitschaft sowie die Terrorismusbekämpfung in den Vordergrund, wobei die deutliche Erhöhung des Militärhaushalts die Priorität militärischer Stärke unterstreicht. Die Wende in der Außenpolitik konzentrierte sich zunächst auf den Bereich der Außenwirtschaftsbeziehungen. Bereits im Wahlkampf vertrat Donald Trump – im Ge­ gensatz zur demokratischen Kontrahentin Hillary Clinton – eine protektionistischnationalistische Position und betonte immer wieder, dass die USA „Verlierer“ der Globalisierung seien und von anderen Ländern ausgenutzt würden, was sich an ne­ gativen Handelsbilanzen zeigen ließe. Die wirtschaftliche Lage der USA beschrieb er in düsteren Bildern, obwohl makroökonomische Daten, wie zurückgehende Arbeits­ losigkeit und anhaltendes Wirtschaftswachstum am Ende der Amtszeit Obamas eine eher positive Bilanz zuließen. Trumps Kritik richtete sich vor allem auf das gewachse­ ne Außenhandelsdefizit der USA und die durch die Vorgängeradministration einge­ führten Regulierungen der Wirtschaft. In rascher Folge setzte der Präsident im ersten Amtsjahr dann über Dekrete, Verordnungen und Gesetze Regulierungen im Bankenund Finanzwesen, in der Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik sowie in anderen Be­ reichen außer Kraft und besetzte Behörden und Agenturen mit neuem Leitungsperso­ nal, das die Deregulierung ebenfalls unterstützte und gezielt durchsetzen sollte. Wie Handelsminister Wilbur Ross betonte, seien Deregulierungen, Steuersenkungen so­ wie eine ungeregelte Energiewirtschaft notwendig „to overcome the dismal economy inherited by the Trump administration. [. . .] Business and consumer sentiment is strong, but both must be released from the regulatory and tax shackles constraining economic growth“.¹⁰ Um das Außenhandelsdefizit der USA zu verringern, das Trump und seine Mit­ arbeiter auf unfaire Handelspraktiken zurückführten, verfügte Präsident Trump kurz nach Amtsübernahme in einem Dekret im Frühjahr 2017, das Defizit mit verschiedenen Ländern, darunter China und Deutschland, zu überprüfen und Einfuhren mit Strafzöl­ len zu belegen. Im Januar 2018 entschied die US-Administration hohe Strafzölle auf Solarpanels und Waschmaschinen zu erheben, eine Maßnahme, die vor allem Chi­ na, Südkorea und andere asiatische Länder empfindlich traf; weitere Strafzölle wur­ den angekündigt. Dieser Konflikt führte zu Gegenmaßnahmen der betroffenen Län­ der mit Klagen vor der Welthandelsorganisation WTO. Auch gegen EU-Länder und

10 Schwartz, Nelson D. (2017). G.D.P. Report Shows U.S. Economy Off to Slow Start in 2017, The New York Times, 28.04.2017, https://www.nytimes.com/2017/04/28/business/economy/economy-grossdomestic-product-first-quarter.html (aufgerufen am 01.03.2018).

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insbesondere Deutschland wurden Strafzölle auf Stahl, Aluminium und die Einfuhr von Automobilen angekündigt und verhängt, obwohl die USA im Gesamtaustausch durchaus vom transatlantischen Freihandel, etwa durch Firmenniederlassungen in Deutschland und anderen EU-Ländern, profitieren. So gibt der Handelsexperte vom Ifo-Institut in München, Gabriel Felbermayr, Trump zwar Recht, wenn er auf die höhe­ ren Einfuhrzölle der EU verweist, aber: „Die gesamten Wirtschaftsbeziehungen sind keinesfalls unfair gegenüber den USA. Im Jahr 2017 erwirtschafteten sie einen Leis­ tungsbilanzüberschuss von 14 Milliarden US-Dollar gegenüber der EU.“¹¹ Erwartungs­ gemäß reagierte die EU mit Gegenmaßnahmen und verhängte ihrerseits Strafzölle auf verschiedene amerikanische Produkte. Dieser Konflikt um den freien Handel zeigt, wie stark die Trump-Administration Handelsbeziehungen zu eigenen Gunsten zu ver­ ändern bestrebt ist, auch wenn die Realität der globalen Wirtschaft einer komplexeren Logik folgt. Die Aufkündigung des Transpazifischen Freihandelsabkommens (TPP), das die amerikanische Regierung über mehrere Jahre mit asiatisch-pazifischen Ländern ver­ handelt und dem die Partner bereits zugestimmt hatten, war ein weiterer Schritt, die Handelsliberalisierung zurückzuschrauben. Ziel des TPP war es, eine Freihandels­ zone einzurichten, die nicht nur die Vertragspartner durch freien Handel stärken, sondern auch ein Gegengewicht gegen das aufstrebende China als Wirtschaftsmacht im Pazifik bilden sollte. Nach dem Rückzug der USA einigten sich die Vertragsländer, darunter wichtige amerikanische Handelspartner wie Japan, Australien, Neuseeland, Kanada und Peru, das TPP-Abkommen im März 2018 ohne die USA zu ratifizieren. Ebenso wurde das Transatlantische Freihandelsabkommens (TTIP), das die Oba­ ma-Administration mit der EU verhandelt hatte, von der Trump-Administration scharf kritisiert, was dazu führte, dass die Verhandlungen 2017 storniert wurden. Eine Wie­ deraufnahme der Beratungen ist zwar möglich, aber angesichts der protektionisti­ schen Position der Trump-Administration eher unwahrscheinlich. Sie setzt auf bilate­ rale Verträge mit einzelnen europäischen Ländern, was rechtlich allerdings nur über die EU oder mit Nicht-EU-Staaten möglich ist. Die Absage an den Freihandel steht in deutlichem Widerspruch zur traditionellen republikanischen Befürwortung des frei­ en Handels und des Wirtschaftsliberalismus. Die Liberalisierung des Welthandels, die sich unter der Vorherrschaft der USA nach dem Zweiten Weltkrieg global durchgesetzt hatte und von der das Land erheblich profitiert hatte (Viola 2016), wird durch die neue Administration dagegen grundsätzlich in Zweifel gezogen. Auch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), das die Clinton-Ad­ ministration 1994 mit Kanada und Mexiko abgeschlossen hatte, wurde von der TrumpAdministration kritisiert. Aus der Sicht Donald Trumps war es „einer der schlechtes­

11 Gabriel Felbermayr (2018). Drohender Handelskrieg mit den USA: Experte fordert Doppel­ strategie der EU. Focus Online, https://www.focus.de/finanzen/news/gabriel-felbermayr-drohenderhandelskrieg-mit-den-USA-experte-fordert-doppelstrategie-der-eu_id_8855581.html (aufgerufen am 23.05.2018).

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ten Verträge“, der abgeschlossen wurde. Deshalb sollte er dringend zu für die USA vor­ teilhaften Konditionen neu verhandelt werden. Vor allem mit Mexiko spitzte sich der Streit zu, da viele US-amerikanische Firmen in Mexiko produzieren, um ihre Produkte preisgünstig anzubieten, viele von ihnen im Konsumsektor. Dennoch bezeichnete die Trump-Administration die Handelsbeziehungen aus amerikanischer Sicht als unfair. Ein zentraler Streitpunkt bezieht sich zudem auf die Einwanderung aus Mexiko, die in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen hat. In vielen Wirtschaftszweigen der USA, wie insbesondere in der Landwirtschaft Kaliforniens, im Dienstleistungsbe­ reich sowie im Bau- und Landschaftswesen sind vorwiegend mexikanische Arbeits­ kräfte beschäftigt, darunter viele saisonale Wanderarbeiter sowie Personen, die ohne Papiere in den USA leben (undocumented). Gegen diese Arbeitskräfte richtete sich die einwanderungsfeindliche Rhetorik, die von den Anhängern Donald Trumps stark un­ terstützt wird, innenpolitisch aber hoch umstritten ist. In der Sicherheitspolitik wurden ebenfalls einige Eckpfeiler amerikanischer Au­ ßenpolitik auf den Prüfstand gestellt. Nachdem Präsident Trump zunächst die NA­ TO als „obsolet“ bezeichnet und auch die asiatischen Bündnispartner, wie Japan und Südkorea, mit eigenwilligen Äußerungen zu den amerikanischen Sicherheitsgaranti­ en verunsichert hatte, weist die Bündnispolitik nach einigen Korrekturen doch grö­ ßere Kontinuität auf. Diese ist nicht zuletzt auf den Einfluss des Minister- bzw. Bera­ terstabs des Präsidenten zurückzuführen; sowohl der Verteidigungsminister, James Mattis, als auch der inzwischen abgelöste Nationale Sicherheitsberater, H. R. McMas­ ter, sind erfahrene Militärs, die die NATO für unverzichtbar halten. Die Forderung des burden sharing, d. h. die höhere Lastenteilung, die von den Bündnispartnern erwartet wird, ist dabei nicht neu, wird nun aber mit größerem Nachdruck eingefordert. Die Trump-Administration setzt ihren Schwerpunkt vor allem auf militärische Stärke, um die Führungsrolle der USA zu behaupten. So wurden die Militärausgaben deutlich erhöht und die militärische und strategische Rüstung (inklusive Atomwaf­ fen) umfassend aufgewertet. Die Einsätze im Irak und Afghanistan werden fortgesetzt und die Trump-Administration zeigt im Syrien-Krieg eine harte Position, wie bei­ spielsweise der Militärschlag gegen das Assad-Regime nach einem Giftgasangriff von 2017 zeigt. Auch gegenüber Russland vertritt die Trump-Administration entgegen ursprünglichen Erwartungen eine harte Haltung, wie die Sanktionen aufgrund der Ukraine-Krise belegen. Ebenso behielt die Terrorbekämpfung ihre hohe Priorität bei und die schärferen Einreisebestimmungen für Bürger aus mehreren Ländern Afrikas und des Mittleren Ostens mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, die die TrumpAdministration verfügte, unterstreicht die Härte gegenüber muslimischen Ländern. Im Nahostkonflikt rückte Präsident Trump von dem Bemühen um Verständigung mit den Palästinensern ab und stellte sich, auch in symbolischer Hinsicht, deutlich an die Seite Israels. Mit seiner im Dezember 2017 getroffenen Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die Verlegung der US-Botschaft im Mai 2018 bezog Trump eine Position, die die traditionelle Haltung des „ehrlichen Marklers“ der USA verlässt und auch die von der EU unterstützte Zwei-Staaten-Lösung für den Kon­

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flikt zwischen Israel und Palästina grundsätzlich infrage stellt. Ob diese Entscheidung einen neuen Friedensprozess im Nahen Osten anstoßen kann, wie seine Unterstüt­ zer erwarten, bleibt allerdings ebenso offen, wie die Frage, welche Auswirkungen die Entscheidung für die Region haben wird. Anders als die Obama-Administration sucht Trump auch keinen Ausgleich mit der arabischen Welt; ein angekündigter neuer Frie­ densplan ist bislang nicht vorgelegt worden. Ein weiterer Streitpunkt für die Trump-Administration ist das mit dem Iran aus­ gehandelte Abkommen zum Atomprogramm (2015). Schon bei Abschluss des Abkom­ mens hatten Republikaner im Kongress heftige Kritik daran geübt, weil sie fürchteten, dass der Iran sich nicht an die Vereinbarungen halten und weiter an Technologien für atomare Waffen arbeiten würde. Entsprechend hat sich die Trump-Administration mit verschärften Sanktionen kompromisslos positioniert und den Rückzug aus dem Abkommen angekündigt, unterstützt durch den Anfang 2018 berufenen neuen Au­ ßenminister, Mike Pompeo, einem langjährigen Kritiker des Iran-Abkommens. Bezüglich des Atomprogramms von Nordkorea hat die Trump-Administration zu­ nächst eine harte bzw. drohende Position eingenommen. Auch andere Präsidenten, wie G. W. Bush und Barack Obama, hatten Nordkorea wiederholt gewarnt und mit har­ ten Maßnahmen gedroht, jedoch spitzte sich der Konflikt zwischen Nordkorea und den USA nach Amtsübernahme von Donald Trump zusehends zu. Im Herbst 2017 hatten Äußerungen des Präsidenten auf Twitter zu einem heftigen Wortwechsel und gegen­ seitigen militärischen Drohungen zwischen Trump und dem nordkoreanischen Dikta­ tor Kim Jong-Un geführt, die die Sorge einer Eskalation des Konflikts steigerten. Nach einer offensichtlichen Annäherung der Nord- und Südkoreanischen Führung durch Gespräche im Frühjahr 2018 erklärte sich der amerikanische Präsident dann überra­ schenderweise bereit, den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-Un persönlich zu tref­ fen. Zum ersten Mal nach dem Ende des Korea-Kriegs kamen damit die beiden Führer Nordkoreas und der USA am 12. Juni 2018 in Singapur zusammen. Trotzdem bleibt die Lage in diesem schwierigen Konflikt angespannt und die Perspektive einer Friedens­ regelung ist offen. In Bezug auf die amerikanische Politik gegenüber internationalen Organisationen, wie den UN, verhält sich die Trump-Administration, ähnlich wie die Bush-Regierung, skeptisch bis ablehnend. Die Drohung, Zahlungen an die UN einzustellen, die auch Vorgänger-Administrationen verschiedentlich praktiziert hatten, um Ziele zu errei­ chen, wird auch in der Trump-Administration eingesetzt, so beispielsweise nach der UN-Abstimmung zur Jerusalem-Frage, in der eine Mehrheit der Staaten, darunter auch die europäischen Länder, die amerikanische Entscheidung kritisiert hatten. Multilate­ ralen Verträgen, bei denen die UN eine entscheidende Rolle gespielt haben, erteilt die Trump-Administration ebenso eine Absage wie einzelnen UN-Organisationen. Bereits unmittelbar nach Amtsübernahme 2017 erfolgte die Ankündigung der USA, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen (2015) austreten zu wollen. Dieses Abkommen, das die Obama-Administration unterzeichnet hatte, trifft auf die Kritik des Präsidenten, weil es zum einen den Klimawandel nach seiner Auffassung nicht gibt und zum anderen

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weil die US-Wirtschaft aus Sicht der Trump-Administration durch Regulierungen zur Begrenzung klimaschädlicher Emissionen zu sehr eingeengt wird. Ein faktischer Aus­ tritt aus dem internationalen Klimaabkommen ist aufgrund rechtlicher Regelungen allerdings erst im Jahr 2019 möglich. Mehrere Bundesstaaten und Gouverneure haben derweil angekündigt, sich weiterhin an die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens halten zu wollen. – Im Juni 2018 erklärten die USA dann ihren Rückzug aus dem von Republikanern immer wieder kritisierten UN-Menschenrechtsrat, ein Schritt, der von der amerikanischen UN-Botschafterin Nikki Haley mit der israelfeindlichen Haltung des Gremiums begründet wurde. Auch andere internationale Organisationen wie die WTO stehen im Fadenkreuz der Kritik. Die politische Spaltung der amerikanischen Öffentlichkeit hat durch die TrumpAdministration weiter zugenommen. Eine Vielzahl von Protestgruppen ist entstanden und Kritiker werfen Präsident Trump in der Innenpolitik autokratisches Verhalten vor (vgl. Levitsky/Ziblatt 2018). In der Außenpolitik steht die Priorität der nationalen In­ teressen unzweifelhaft im Mittelpunkt einer robust-nationalistischen Linie. Zugleich bleibt eine Unberechenbarkeit in den internationalen Beziehungen bestehen, die nicht zuletzt die Bündnispartner immer wieder verunsichert. Übungsfragen zu Kapitel 4: Die Außenpolitik der USA 1. 2.

3.

Inwiefern prägen die historischen Erfahrungen die Außenpolitik der USA? Erörtern Sie diesen analytischen Zugang und vergleichen Sie die Bundesrepublik Deutschland und die USA. Wie mächtig ist der US-Präsident in der Außenpolitik? Erörtern Sie die Rolle und Funktion des amerikanischen Präsidenten in der Außenpolitik und vergleichen Sie sie mit der Rolle des Kongresses. Arbeiten Sie Kontinuität und Wandel der amerikanischen Außenpolitik mit Blick auf die Ad­ ministrationen Bush, Obama und Trump heraus. Lassen sich Verknüpfungen zu historisch ge­ wachsenen Leitmotiven amerikanischer Außenpolitik herstellen?

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5 Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 5.1 Transformation Mittel- und Osteuropas Die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa 1989/90 zählen zu den wichtigsten politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts. Sie hatten für die internationalen Beziehungen weitrei­ chende Folgen: Mit dem politischen Systemwechsel und dem Verlust der Hegemonie der Sowjetunion in der Region löste sich der „kommunistische Block“ auf und der weltumspannende Ost-West-Konflikt, der die internationale Politik über mehr als fünf Jahrzehnte geprägt hatte, konnte beendet werden. Die ideologische System-Konfron­ tation, die den Ost-West-Konflikt beherrscht hatte, war damit zu Ende und für die ehe­ maligen Ostblockländer wurde der Weg frei zur Mitgliedschaft in europäischen und transatlantischen Organisationen, wie der EU und dem Verteidigungsbündnis NATO. Aber auch in anderen Weltregionen, wie in Afrika und Asien, lösten sich Konfliktkon­ stellationen des Kalten Krieges auf und die Zeiten der sogenannten „Stellvertreterkrie­ ge“ waren nun vorbei, die auf der Polarisierung zwischen den zwei Supermächten, USA und Sowjetunion, und deren Machtinteressen beruhten und teilweise zu verlust­ reichen Bürgerkriegen geführt hatten. In Europa bildete sich nach den Umbrüchen die neue politische Architektur eines „Gesamteuropa“ heraus. Die Europäische Union verstand sich nun als gesamteuropäi­ sche und nicht mehr als rein westeuropäische Organisation wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie nahm die Aufgabe an, die jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas in die Union aufzunehmen und entwickelte hierfür eigene Instrumente und Verfahren. Auch die NATO definierte ihre Aufgaben neu und passte ihre Verteidi­ gungsstrategie an die veränderten Gegebenheiten an. In den Folgejahren nahm sie in rascher Folge Länder in Mitteleuropa, im Baltikum und in Südosteuropa in das Ver­ teidigungsbündnis auf, eine Entwicklung, die allerdings von Russland immer wieder kritisiert wurde. In der Folge der friedlichen Revolutionen von 1989/90 wurden die neuen politi­ schen Systeme in der Forschung im Allgemeinen zunächst unter dem Paradigma der Demokratisierung analysiert, wobei der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa als Teil einer historisch periodisch und global auftretenden Transformation politischer Systeme verstanden wurde (z. B. von Beyme/Offe 1995; Glaessner 1997; Merkel/Puhle 1999). Die Transformationsprozesse in der Region zeigen, dass eine graduelle, von au­ ßen moderierte, zivile Demokratisierung möglich ist. Allerdings sind nicht alle postkommunistischen Länder erfolgreich in der Etablierung demokratischer Verfasstheit. Während sich die Länder in Mitteleuropa und im Baltikum an Verfassungen und Ver­ fahrensweisen der westlichen Demokratien orientierten, sind in anderen Ländern der Region autoritäre Regime bzw. sogenannte „defekte“ Demokratien oder „hybride Re­ gime“ eher typisch wie z. B. in der Ukraine, in Weißrussland und in Russland (Levits­ ky/Way 2010; Merkel u. a. 2003 sowie 2006). Drei Jahrzehnte nach Ende des Ost-Westhttps://doi.org/10.1515/9783110589207-005

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Konflikts kann festgehalten werden, dass die Entwicklungspfade zur Demokratie nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft sehr unterschiedlich und vielschichtig verlaufen und dass auch rückläufige Entwicklungen erkennbar sind. Selbst die Demo­ kratien Mittel- und Osteuropas haben nach den Erfolgen der Demokratisierung teil­ weise wieder autoritäre, illiberale Regierungspraktiken entwickelt wie z. B. Ungarn durch die Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechten durch die Regierung Viktor Orbán nach 2013 und Polen mit einer von der PiS-Regierung nach 2017 durchgeführten Justiz- und Verfassungsreform. Mit den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa konnten in der Transformations­ forschung neue Erkenntnisse erzielt werden, die für die internationalen Beziehungen von wesentlicher Bedeutung sind, denn auch in anderen Regionen streben Demokra­ tiebewegungen nach mehr Einfluss und Systemveränderungen. Im Schnittfeld zwi­ schen vergleichender und internationaler Politik angesiedelt gehört die Transforma­ tionsforschung zu den problemorientierten Feldern einer zunehmend auch interna­ tional orientierten Forschung. Inzwischen liegen eine Fülle von vergleichenden und einzelfallorientierten Studien vor, die zum einen den Prozess der Demokratisierung analysieren und zum anderen die Bedeutung dieser Systemtransformationen im inter­ nationalen Vergleich aufzeigen (z. B. Levitsky/Way 2010; Levitsky/Ziblatt 2018; Mer­ kel 2006). Folgende Leitfragen stellten sich für die Forschung: Welche Faktoren erklä­ ren den Zusammenbruch staatssozialistischer Herrschaftssysteme? Wie unterscheidet sich der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa von anderen Transformationen, etwa in Lateinamerika? Welche Faktoren befördern die Konsolidierung der nach dem Sys­ temwechsel von 1989/90 entstandenen neuen politischen Systeme und welche Rol­ le spielen internationale Organisationen wie z. B. die Europäische Union, die OSZE und der Europarat? Und schließlich: Welche Theorien sind besonders geeignet, um den Übergang von autoritären zu demokratischen politischen Systemen zu analysie­ ren und wie lässt sich der Rückfall in illiberale Strukturen erklären? Analytisch kann die Transformation politischer Systeme nach Wolfgang Merkel (1994) in drei Phasen unterteilt werden: Einer ersten Öffnung bzw. Liberalisierung folgt der eigentliche Systemwechsel, welcher eine längere Phase der Konsolidierung demo­ kratischer Strukturen einleitet (vgl. Merkel 1994). Die Frage, wann eine Demokratie als konsolidiert gilt, ist dabei alles andere als einfach zu beantworten, da sie sowohl normative Kriterien als auch empirische Zusammenhänge beinhaltet. Auch darüber, welche internen und externen Rahmenbedingungen die Konsolidierung der jungen Demokratien befördern, herrscht Uneinigkeit. Auf der einen Seite steht das Paradigma der Pfadabhängigkeit. Danach entscheiden historische Erfahrungen und institutio­ nelle Konfigurationen über die Konsolidierungschancen von Demokratien. Legt man die Bedeutung historischer Erfahrungen mit demokratischen Strukturen zugrunde, dann wären allerdings nur wenige Länder qualifiziert, diesen Sprung in dauerhafte demokratische Verhältnisse erfolgreich abzuschließen. Denn erstens waren die euro­ päischen Demokratien der Zwischenkriegszeit typischerweise instabil und kurzlebig, und zweitens sind die meisten Reformländer neu geschaffene Staaten mit spezifischen

5.1 Transformation Mittel- und Osteuropas

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historischen Erfahrungen, die zudem mit inneren Konflikten um ethnische Identitäten und Minderheitenrechte zu kämpfen haben. Demgegenüber betonen entscheidungsorientierte Theorien, dass die konkreten politischen Entscheidungen, die unmittelbar in der Phase des Systemwechsels ge­ troffen wurden, richtungsweisend für die Demokratisierung sind. Politische Entschei­ dungen, so nimmt die Entscheidungstheorie an, welche die politischen Eliten über die Formen der Machtverteilung und der politischen Willensbildung, das Design des Wahlrechts sowie Tempo und Ausmaß der Wirtschaftsreform treffen, bestimmen dem­ nach über den Verlauf und die Chancen der Demokratisierung (vgl. Elster, Offe, Preuß 1998). Im Unterschied zum Paradigma der Pfadabhängigkeit sind Entscheidungstheo­ rien weniger an historischen Erfahrungen und der politischen Geschichte der Länder interessiert, sondern sie betrachten die Präferenzen von politischen Eliten und ihre rationalen Kosten-Nutzen-Erwägungen. Aus heutiger Sicht bilden die historischen Muster und Mentalitäten relevante Pa­ rameter für die Transformation, allerdings nicht im Sinne einer strikten Pfadabhängig­ keit, sondern im Sinne von intervenierenden Variablen. Ob eine demokratische Sys­ temänderung dauerhaft und stabil gehalten werden kann, hängt dabei zum einen von der Positionierung der politischen Eliten, ihren Erfahrungshintergründen und ihren Entscheidungen ab. Aber auch die „Leidensfähigkeit“ der Bevölkerung, d. h. die Be­ reitschaft, die Schwierigkeiten des Transformationsprozesses zu erdulden, beeinflusst die Chancen einer nachhaltigen Demokratisierung. Der Politikwissenschaftler Claus Offe bezeichnet dieses Problem anschaulich als „Tunnel am Ende des Lichts“ (Offe 1994). Wirtschaftlicher Erfolg kann die Stabilität demokratischer Ordnungen festigen und ihre Legitimität erhöhen, allerdings sollte dies nicht als automatischer Prozess verstanden werden, denn die Verteilung der Güter und die Ungleichzeitigkeit von Le­ bensverhältnissen – etwa in den Gegensätzen zwischen Städten und ländlichen Re­ gionen – können die tiefgreifende Verankerung von Demokratien erschweren. Polen und Ungarn, etwa, zwei Länder, die nach der erfolgreichen Demokratisierung Rück­ schritte durchlaufen, zeigten in den Jahren nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gute Wachstumsraten; trotzdem gewannen rechtsnationalistische und antide­ mokratische Strömungen politisch die Oberhand. Diese Beispiele zeigen, dass die De­ mokratisierungsforschung ein relativ komplexes Forschungsfeld vor sich hat und dass wirtschaftlicher Erfolg einer Nation nicht zwangsläufig höhere Demokratieindizes be­ deutet. Eine wichtige und diese Transformation von anderen Systemwechseln unter­ scheidende Variable ist für die mittelosteuropäischen Länder zudem die Einbindung in die Europäische Union, die mit ihren Beitrittskriterien und konkreten Strukturhil­ fen einen wesentlichen Einfluss auf die politische Gestaltung der post-kommunisti­ schen Gesellschaften ausgeübt hat. Über den Austausch von Experten wie z. B. bei der Konzeptionalisierung von Verfassungen, über konkrete Strukturhilfen bis hin zur regelmäßigen Berichtspflicht vor der endgültigen Aufnahme hatte die Europäische Union einen vergleichbar großen politischen Einfluss, der auch als „Europäisierung“

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bezeichnet wird (vgl. Schimmelfennig/Sedelmaier 2005). Regionale Nähe spielte au­ ßerdem eine Rolle, indem etwa die baltischen Staaten von Schweden und Finnland beraten wurden oder die Länder des Balkans von Österreich und Deutschland. Diese Konstellation ist, global betrachtet, relativ einmalig und zählt zu den stabilisierenden Elementen der Demokratisierung. Trotz zunächst ähnlicher Ausgangslage und vergleichbaren Problemen verlief die politische Entwicklung in den Reformländern sehr unterschiedlich. Insbesondere für die mittelosteuropäischen und die baltischen Länder kann heute festgestellt wer­ den, dass sie als Modelle für eine erfolgreiche Demokratisierung angesehen werden können, auch wenn die jüngsten illiberalen Tendenzen in einigen dieser Länder den Modellcharakter beeinträchtigen. Mehrere Faktoren begünstigten diese Entwicklung, darunter die geografische Nähe zu Westeuropa sowie die Aufnahme in die Europäi­ sche Union, vorherige demokratische Erfahrungen, der relativ hohe Bildungsstand der Bevölkerung und die sozio-ökonomische Modernisierung. Ob sich die Erfahrun­ gen und Erkenntnisse über den Verlauf der Systemöffnung und -transformation auch auf andere Weltregionen übertragen lassen, ist für die internationale Politik heute eine spannende Frage.

5.2 Der Umbruch 1989/90 Binnen weniger Monate lösten sich die staatssozialistischen Regime 1989/90 auf und neue Machtkonstellationen konnten eine grundlegende Veränderung einleiten. Für diesen unerwarteten Zusammenbruch wurden in der wissenschaftlichen Literatur zunächst zwei unterschiedliche analytische Erklärungskonzepte entwickelt. Die eine Gruppe von Autoren folgt im Kern einem systembezogenen Erklärungsmodell, das Ma­ krostrukturen gesellschaftlicher Prozesse in den Blick nimmt. Diese Ansätze beziehen sich in der Regel auf die Modernisierungstheorie und arbeiten systemische Defizite der ost- und ostmitteleuropäischen Gesellschaft heraus. Demgegenüber folgt eine andere Denkschule akteursbezogenen Ansätzen, die handlungstheoretische sowie so­ zialpsychologische Zusammenhänge in den Vordergrund rücken. Vereinfacht kann man feststellen, dass die erste Erklärungsvariante deutlicher in den europäischen Ländern und hier vor allem in Deutschland dominiert, während die akteursbezo­ genen Ansätze in den angelsächsischen Ländern stärker vertreten sind. Eine dritte Gruppe versucht, die Dialektik zwischen den Makrostrukturen (systemspezifische Probleme) und der Mikroebene (Akteure) zu verbinden. Ein theoretisches Modell, das der Komplexität der Umbrüche gerecht wird, sollte allerdings von einem multivariablen Ansatz ausgehen, der sowohl die Makro- als auch die Mikroebene berücksichtigt (z. B. Glaessner 1997; von Beyme/Offe 1995). Politische Akteure mit den von ihnen präferierten Konzepten, Interessen und Visionen haben diesen Prozess ebenso beeinflusst wie die Makrostrukturen, die den Handlungskon­ text in diesem historischen Zeitfenster bestimmt haben.

5.2 Der Umbruch 1989/90 | 177

Analytisch lassen sich aus der vorliegenden Literatur vier Hauptfaktoren für den Umbruch benennen: Die Veränderung der internationalen Beziehungen stellt zweifel­ los einen wichtigen Erklärungszusammenhang für den Systemwechsel dar. Bereits vor dem Fall der Mauer im November 1989 hatte sich in der Sowjetunion durch den Machtwechsel in der Führungsspitze ein Wandel vollzogen, der schließlich auch eine neue Außenpolitik möglich werden ließ. Die Politik der „Perestroika“, die der neue sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow nach 1985 propagierte, zielte zum einen auf eine Veränderung des zentralen Wirtschaftsmechanismus ab, um die Sowjetunion aus ihrer wirtschaftlichen Schieflage herauszuführen. Unterstützt wurden die Wirt­ schaftsreformen zum anderen durch eine teilweise Öffnung der Medien und des po­ litischen Diskurses im Rahmen von „Glasnost“. Ein weiteres zentrales Element sei­ ner Politik bildete ein „neues Denken“ in der Außenpolitik, das zu einer Annähe­ rung an den Westen, insbesondere an die Vereinigten Staaten, führte. Im Rahmen dieser Annäherung kam es im isländischen Reykjavik 1986 zu einem ersten Treffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten George Bush (sen.) und dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow, bei dem eine Vereinbarung über den Abzug von Mittelstre­ ckenraketen aus Europa getroffen wurde. Dieser Schritt war nur möglich geworden, weil sich bereits vor der neuen Phase der Entspannung Veränderungen in der So­ wjetunion vollzogen und sich die Reformer um Gorbatschow, zumindest in Teilbe­ reichen, gegenüber der alten, anti-westlich ausgerichteten Machtelite im Militär- und Sicherheitsapparat durchgesetzt hatten. Das Dilemma der Sowjetunion bestand zu dieser Zeit in einem „imperial overstretch“, in einer Überdehnung ihrer Macht, die ih­ re militärischen Ressourcen überstrapazierte. Daher wollte die Sowjetunion nun den Schwerpunkt auf die Modernisierung legen und suchte die Verständigung mit dem Westen. Durch die von Gorbatschow eingeleiteten Reformen vergrößerten sich auch die Handlungsspielräume der Ostblockländer, was schließlich zu dem – von Gorbatschow nicht intendierten – Resultat führte, dass sich die Länder von der sowjetischen Hege­ monie loslösten. Der Versuch, die sowjetische Politik an die Veränderungen anzupas­ sen und das Land zu modernisieren, führte schließlich zu dem paradoxen Resultat der Implosion des sowjetischen Macht- und Einflussbereichs. Ein weiteres wichtiges Erklärungselement besteht in der zunehmenden Bedeu­ tung der Globalisierung des Weltmarktes und der damit einhergehenden Zuspitzung der Wirtschaftskrise in den sozialistischen Staaten, die unter Führung der Sowjetuni­ on standen und im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammengeschlos­ sen waren. Der Wirtschaftshistoriker Charles S. Maier (1997) vertritt die Auffassung, dass die Sowjetunion und die mit ihr verbundenen Länder nicht in der Lage gewe­ sen seien, auf die neuen Herausforderungen, die durch die Weltmarktentwicklungen entstanden waren, politisch angemessen zu reagieren, da ihre politischen Systeme rigide und unflexibel waren. Während die am sowjetsozialistischen Modell orientier­ ten Länder in den ersten drei Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg beeindruckend hohe Wachstumsraten aufwiesen, änderte sich dies spürbar mit den veränderten

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Weltmarktbedingungen ab Mitte der 1970er-Jahre. Die von Wirtschaftshistorikern be­ schriebene „Hochzeit zwischen Kohle und Stahl“ (Maier), die für den Wiederaufbau und die industrielle Massenproduktion zunächst notwendig gewesen war, wirkte seit den 1970er-Jahren zunehmend als Hemmschuh für eine innovative Wirtschaftsent­ wicklung. Die fortgesetzte Förderung der Schwerindustrien selbst noch zu einem Zeit­ punkt, als die Stahlexpansion in (West-)Europa längst vorbei war, weil sich asiatische Länder mit preisgünstigen Angeboten durchsetzen konnten und sich der Weltmarkt an neuen Technologien, wie der Mikroelektronik, und an qualitativ hochwertigen, fle­ xiblen Produkten orientierte, legte die zentrale Schwäche der osteuropäischen Länder offen: Die Gleichgerichtetheit der Wirtschaftssysteme im Rahmen der Planwirtschaft und die politisch begründete Abschottung von Weltmarktentwicklungen im sowje­ tisch dominierten RGW-Raum wurde zur innovationshemmenden Fessel der Länder. Eine wirtschaftliche Modernisierung war unter diesen Umständen nicht möglich. Ver­ schärft wurde das Problem durch den Rüstungswettlauf zwischen den Supermächten, der besonders in der Sowjetunion Ressourcen band und produktive Beziehungen zu den mittelosteuropäischen Ländern verhinderte. Weder konnten die RGW-Länder schließlich die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerungen sichern noch waren sie in der Lage, die sich verschärfenden Umweltprobleme in den Griff zu bekommen. Die finale Krise der staatssozialistischen Länder bestand im politischen Versagen der Füh­ rungseliten und der Inflexibilität des Systems bei veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen. Als weiterer Erklärungsfaktor für den raschen Zusammenbruch der staatssozialis­ tischen Regime in Mittel- und Osteuropa gilt das Legitimationsdefizit der politischen Systeme. Die Anpassung der wirtschaftlichen und politischen Strukturen an das so­ wjetische Modell, die in der Nachkriegszeit teilweise mittels Repression und Gewalt erfolgte, ließ den jeweiligen Gesellschaften wenig Raum für eigenständige Entwick­ lungen und verhinderte trotz gravierender Probleme notwendige Reformen. Die pe­ riodisch auftretenden Krisen in den Ländern Mittel- und Osteuropas wie der Volks­ aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, der Aufstand in Ungarn im Jahr 1956, der „Pra­ ger Frühling“ 1968 in der Tschechoslowakei sowie die Streikwellen in Polen in den Jahren 1970, 1976 und 1980 waren sichtbare Zeichen eines chronischen Legitimations­ defizits. Obwohl keine dieser Krisen einen unmittelbaren Systemwechsel herbeiführ­ te, zeigten sie „Risse im Monolith“ an, die die sowjetische Hegemonie in der Regi­ on infrage stellten. Ausdruck eines generationsbedingten Mentalitätswandels waren verschiedene Formen von Protest durch Streiks, Demonstrationen und passive Ver­ weigerung, die in den 1980er-Jahren den Boden für den Systemwechsel ebneten. Der fiktive Gesellschaftsvertrag, auf dem die Legitimation der staatssozialistischen Sys­ teme basierte und der der Bevölkerung soziale Sicherheit im Austausch gegen po­ litische Freiheiten bot, erwies sich vor allem in der Endphase des Regimes als brü­ chig. Schließlich ist ein vierter wichtiger Erklärungsfaktor zu benennen, der den Zu­ sammenbruch der staatssozialistischen Regime befördert hat: der Konflikt zwischen

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der Entstehung von zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen und der Reformunfä­ higkeit der Eliten. Spätestens mit der Bildung der unabhängigen Gewerkschaft „Soli­ darność“ in Polen 1981 wurde deutlich, dass sich eine neue, politisch selbstbewusste Generation herausgebildet hatte, die die herkömmlichen Machtstrukturen infrage stellte. Selbst in der relativ geschlossenen Gesellschaft der DDR trat in den 1980erJahren ein Wandel ein, der schließlich zur Aufkündigung des Generationenvertrags führte. Die offizielle politische Kultur wurde durch eine sich immer deutlicher arti­ kulierende Alternativbewegung herausgefordert. Bereits die Bildung unabhängiger Friedensgruppen zu Beginn der 1980er-Jahre im Rahmen von Kirchenbasisgruppen, die Entstehung kleinerer Frauen-, Menschenrechts- und Umweltgruppen, die nach Alternativen zum erstarrten staatssozialistischen Modell suchten und zur politischen „Doppelkultur“ der DDR führten, deuteten Konturen eines Umbruchs an (vgl. Lemke 1991). Allerdings kam es erst Ende der 1980er-Jahre zu einem raschen Bedeutungs­ zuwachs dieser Initiativen, vor allem durch die im September 1989 erfolgte Bildung des „Neuen Forums“ und anderer politischer Gruppen. Aufwind erhielten die Op­ positionsbewegungen in der DDR durch den „Demonstrationseffekt“, der durch die gleichzeitig in den angrenzenden Ländern stattfindenden Proteste und Demonstratio­ nen erzeugt wurde. Die Massenausreise aus der DDR erzeugte dann ein gravierendes Legitimationsproblem für die SED-Führung unter Erich Honecker. Von Albert O. Hirschman, einem amerikanischen Sozialwissenschaftler, stammt ein Modell, in dem sich „exit“ und „voice“ gegenseitig verstärken; Hirschman hatte es ursprünglich für die Beziehung zwischen Firmen und ihren Kunden entwickelt, aber es lässt sich auch auf die Entwicklungen der DDR anwenden (vgl. Hirschman 1970). Im Herbst 1989 verstärkten sich Massenausreise (exit) und Massenproteste (voice) in der DDR wechselseitig, sodass sich die Protestbewegung trotz der organisatorischen Schwäche der innergesellschaftlichen Opposition in den Jahrzehnten vorher nun rasch ausbreitete. Dabei ist zu betonen, dass die friedliche Revolution in der DDR in mehrfacher Hin­ sicht einen Sonderfall darstellt. Im Unterschied zu den Umwälzungen in den anderen Ländern führte die friedliche Revolution nicht nur zu einem politischen Systemwech­ sel, sondern auch zum Ende der DDR als Staat. Der Historiker Konrad Jarausch (1995) bezeichnet die „unverhoffte Einheit“ (im englischen Buchtitel zutreffender als „rush to German unity“) als Spezifikum der ostdeutschen Entwicklung. Der unmittelbare Auslöser für die Krise des Regimes war die Massenausreise aus der DDR im Sommer 1989 (exit). Mit der Öffnung der Mauer im November 1989 setzte die „Revolution in der Revolution“ (Jarausch) ein und die Forderung nach der Wiedervereinigung gewann gegenüber der Vorstellung innerer Reformen in der DDR die Überhand. Unter vergleichendem Aspekt können zwei Modi der Ablösung kommunistischer Regime unterschieden werden: der graduelle und der abrupte Regimewechsel. In die erste Gruppe des graduellen Regimewechsels gehören die Länder, in denen die Ab­ lösung der alten Machtstrukturen entweder durch eine vorhandene Oppositionsbe­ wegung „von unten“ vorbereitet und dann durchgeführt wurde, oder in denen der

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Wandel durch einen Positionswechsel innerhalb des kommunistischen Parteiappa­ rats und die Bildung eines innerparteilichen Reformflügels möglich wurde. Polen gilt als Beispiel für den ersten Fall, während Ungarn den anderen Fall repräsentiert. Ein abrupter Regimewechsel fand dagegen in der DDR und in der Tschechoslowakei statt. Beide Länder gelten als Nachzügler im Umbruch, in denen der Druck einer Massen­ mobilisierung, befördert durch den sogenannten „Demonstrationseffekt“, zu einem raschen Fall des alten Regimes führten (vgl. Voice-Dynamik). Beobachter wie der bri­ tische Historiker Timothy G. Ash (1990) merkten an, dass sich der Wandel in immer kürzeren Zeitintervallen vollzog: zehn Jahre in Polen, von der Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ im Sommer 1980 bis zur ersten nicht kom­ munistischen Regierung 1989/90; zehn Monate in Ungarn, wo im Herbst 1988 eine Verfassungsreform mit dem Ziel der Liberalisierung durchgeführt wurde, bis zur Ein­ führung des Runden Tisches und der Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich im Sommer 1989; zehn Wochen in der DDR vom Rücktritt Erich Honeckers im Oktober zur Einrichtung des Runden Tisches im Dezember 1989; zehn Tage in der Tschecho­ slowakei von den Massendemonstrationen und Streiks Ende November zu den freien Wahlen im Dezember 1990. Die Beschleunigung des Wandels gehörte zum Muster der mittelosteuropäischen Transformation. Eine weitere Frage, die in der Literatur thematisiert wird, betrifft den politischen Charakter des Wandels. Handelt es sich um eine Revolution, eine Reform oder schlicht eine Wende? Eine Schwierigkeit der Klassifizierung liegt darin, dass die friedlichen Re­ volutionen in Mittel- und Osteuropa anders verliefen als die bisher aus der Geschichte bekannten Revolutionen; sie lassen sich daher eher als eine Revolution sui generis beschreiben. Ausgangspunkt bildeten nicht primär soziale Fragen, wie in der klas­ sischen Revolutionstheorie angenommen. Der Klassenkonflikt mit der dominanten Konfliktlinie um eine gerechtere Verteilung von ökonomischen Ressourcen innerhalb der Gesellschaft bildete nur eine Hintergrundebene des Wechsels. Vielmehr wurden vor allem politische Probleme Motor der revolutionären Umbrüche, wie die lähmen­ de Reformunfähigkeit der staatssozialistischen Systeme, die Verkrustung der Gesell­ schaft mit fehlenden Aufstiegs- und Entwicklungschancen sowie fehlende Freiheiten. Hilfreich für die Analyse der revolutionären Umbrüche in Mittel- und Osteuropa sind daher solche Theorien, die die politische Verarbeitung dieser sozialen und politischen Probleme fokussieren. Aber auch die Vorstellung, dass Revolutionen immer das Er­ gebnis gewaltsamer Umbrüche sein müssen, trifft im Fall der friedlichen Revolutio­ nen von 1989/90 nicht zu. Wie Hannah Arendt hervorhob, sind Revolutionen politi­ sche Phänomene. Nach ihrer Auffassung ist „[. . .] die verbreitete Vorstellung von der Revolution als Folge des bewaffneten Aufstands ein Märchen [. . .]“; zur Revolution gehöre nicht nur eine zur Machtübernahme bereite Gruppe, sondern auch die „[. . .] innere Zersetzung der Staatsmacht [. . .]“. (Arendt 1994: 50). Da es sich bei den Systemwechseln von 1989/90 um eine grundlegende Änderung der politischen Verfasstheit handelt, rechtfertigt dies die Bezeichnung als revolutio­ närer Umbruch. Allerdings verlief er in einigen Ländern eher graduell und teilweise

5.2 Der Umbruch 1989/90 | 181

unter Beteiligung der alten, gewendeten Machteliten. Mit der Bezeichnung „Refoluti­ on“ hatte der britische Historiker Timothy Garton Ash den Doppelcharakter von Re­ form und Revolution in Mitteleuropa zum Ausdruck bringen wollen, während der Be­ griff der „Wende“ vor allem im Kontext der deutschen Entwicklung verwendet wurde, um die Abkehr vom SED-Regime zu charakterisieren. Als abkürzender Ausdruck steht die „Wende“ für die friedliche Revolution in der DDR, ohne jedoch analytische Tiefe beanspruchen zu können.

5.2.1 Besonderheiten der mittel- und osteuropäischen Demokratisierung Der politische Umbruch in Mittel- und Osteuropa wird auch als Teil einer „dritten Wel­ le“ der Demokratisierung bezeichnet. Nach dem Übergang zur Demokratie in Südeu­ ropa in den 1970er-Jahren mit dem Ende der Militärdiktaturen in Portugal und Grie­ chenland und der Liberalisierung Spaniens nach dem Tode Francos 1975 vollzog sich in den 1980er-Jahren in Lateinamerika ein Übergang (transicion) von autoritären zu demokratischen Regierungen, wie in Argentinien, Brasilien, Chile (vgl. O’Donnell/ Schmitter/Whitehead 1986). Die Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa reihen sich dann als Teil der dritten Welle in einen globalen Trend der Demokratisierung ein auch wenn die fallspezifischen Unterschiede zwischen und innerhalb den Ländergruppen nicht vernachlässigt werden dürfen. Während man beim Systemwechsel in Lateinamerika von einer Transition spricht, handelt es sich bei den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa um eine Transformati­ on. Im Unterschied zur Transition in Südeuropa und Lateinamerika zeichnet sich die Transformation in diesen Ländern durch mehrere Besonderheiten aus: Zunächst ist die Dauer der kommunistischen Partei-Herrschaft in Mittel- und Osteuropa länger ge­ wesen als die Vorherrschaft autoritärer Regime in den meisten lateinamerikanischen Ländern; auch war der Charakter der staatssozialistischen Herrschaft in mehrerer Hin­ sicht durchgreifender („totalitärer“) als in anderen Regionen, sodass diese Länder nach 1989/90 ein schwieriges, strukturelles Erbe zu bewältigen hatten. Eine Gegeneli­ te mit alternativen politischen Konzepten konnte sich in diesen Ländern darum erst sehr spät herausbilden. Zweitens ist der Charakter des Übergangs weitgehend fried­ lich gewesen; die Rolle des Militärs blieb neutral. Dies war z. B. in Lateinamerika in der Regel nicht der Fall, sodass Gewalt ein Kennzeichen der Transition wurde. Ein be­ sonders wichtiger Unterschied besteht drittens in dem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (vgl. Offe 1994). Nach Claus Offe besteht dieses Dilemma in den zeitgleich zu bewälti­ genden Aufgaben der territorialen Reorganisation und Nationalstaatsbildung, der Um­ stellung des Wirtschaftssystems von der staatlich gelenkten „Planwirtschaft“ hin zur Marktwirtschaft sowie der Umstrukturierung des politischen Systems, einschließlich der Bildung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Der Zerfall und die Neubildung von Staaten als Folge der Umbrüche werden in der Literatur als weiteres Problem thematisiert, das für die post-kommunistischen

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Länder eher typisch ist als für die Transition in Lateinamerika (Glaessner 1997; Merkel 2007). Von den 27 Staaten in der Region sind nach dem Ende des Ost-West-Kon­ flikts 22 Staaten neu konstituiert worden. Historisch betrachtet entstand die Staa­ tenwelt in Ost- und Ostmitteleuropa erst nach 1945; keiner der Staaten hatte vorher in denselben Grenzen existiert. Die eher willkürlichen Grenzziehungen in den ty­ pischerweise multiethnischen Regionen und die Situation ethnischer Minderheiten wurde unter dem Einfluss der sowjetischen Hegemonie nicht thematisiert. Die re­ lativ schwach ausgebildete Identität als Staat erwies sich mit den Umbrüchen als Problem. Anders als beispielsweise während der Transition in Lateinamerika wur­ den ethnische Konflikte bei der Staatsbildung verschärft und ethnische Trennlinien politisiert. Eine besonders gewaltsame Form nahm die Staatsauflösung und -neu­ bildung im Fall des ehemaligen Jugoslawien an (vgl. Kapitel 2.2), während die Auf­ trennung der Tschechoslowakei in zwei Staaten – Tschechien und die Slowakei – als Beispiel für eine friedliche Staatsauflösung gilt. Auch die Unabhängigkeit der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland von der Sowjetunion verlief fried­ lich. Tiefgreifende Reformen wurden auch in den Wirtschaftssystemen vorgenommen. Erste Maßnahmen bestanden zumeist in der Preisliberalisierung, der Reduktion von staatlichen Subventionen und in der Privatisierung von Staatsbetrieben. Darüber hinaus bemühten sich die mittelosteuropäischen Länder mit Blick auf den erhofften Beitritt zur Europäischen Union die von dieser vorgegebene Richtlinien zu erfüllen („Kopenhagener Kriterien“; vgl. Kap. 6) und sich dem EU-Gemeinschaftsrecht anzu­ passen, ein Prozess der sich über zehn Jahre hinzog. Nach einer anfänglichen Trans­ formationsrezession entwickelte sich die wirtschaftliche Lage in den meisten Ländern in Mittelosteuropa vergleichsweise gut, obwohl die Bevölkerung mit Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen hatte. Die Wirtschaftsreformen folgten unterschiedlichen Konzepten, beispielsweise bezüglich des Tempos und des Umfangs der Privatisie­ rung. Aus heutiger Sicht scheint nicht so sehr die Wahl des graduellen (Ungarn) oder des „schocktherapeutischen“ Weges (Polen) den Erfolg der Wirtschaftsreformen zu bestimmen, sondern die Konsequenz bei der Umsetzung der Maktmechanismen und die Möglichkeit, einen Zugang zum Weltmarkt zu erschließen. Am vorteilhaftes­ ten entwickelten sich die Länder im Zentrum Europas, wie Ungarn, Polen, Slowenien, Tschechien und die baltischen Länder. Allerdings stellte der Umbau der Sozialsysteme auch diese Länder vor große Schwierigkeiten. Stagnation und krisenhafte Entwick­ lungen waren zunächst in Rumänien wie auch in Bulgarien zu verzeichnen, jedoch erfüllten diese Länder schließlich die Kopenhagener Kriterien. Ungünstiger entwi­ ckelten sich dagegen die Länder Osteuropas, insbesondere Weißrussland und die Ukraine; auch in Russland geht die Wirtschaftsreform trotz der enormen Ressourcen des Landes nicht recht voran, was nicht zuletzt auf die vorherrschende Korruption und die Schattenwirtschaft zurückzuführen ist. Die informelle Ökonomie macht hier teilweise bis zu einem Drittel des Wirtschaftsprozesses aus. Nach Untersuchungen

5.2 Der Umbruch 1989/90 | 183

von „Transparency International“ sind die Länder Osteuropas bis heute von einem hohen Grad an Korruption gekennzeichnet.¹ Eine Hauptschwierigkeit in der Anfangsphase der jungen Demokratien bestand darin, neue politische Institutionen aufzubauen, während gleichzeitig der wirtschaft­ liche Reformprozess dringend in Gang gesetzt werden musste. Mit der Metapher „re­ building the ship at sea“ (Umbau des Schiffes auf hoher See) – so der Titel einer Studie von Elster, Offe und Preuß – sind die Schwierigkeiten treffend umrissen (vgl. Elster/ Offe/Preuß 1998). Das neue politische System musste die Erwartungen an Legitimität und Effizienz relativ rasch erfüllen, um die Stabilität demokratischer Verhältnisse zu gewährleisten. Ob dies gelingen würde, war zunächst mit einem hohen Grad an Unsi­ cherheiten verbunden. Im Kern ging es in der Transformation zu demokratischen Ge­ sellschaften um die Frage, wie die Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess im Rahmen der sich etablierenden Institutionen einer rechtsstaatlichen Ordnung so ge­ staltet werden kann, dass Konflikte im politischen Prozess artikuliert, gebündelt und politisch gelöst werden können. Auch mit Blick auf die sich intensivierenden ethni­ schen Spannungen in einigen Ländern der Region ließ sich die beschriebene Unsi­ cherheit über die Stabilität demokratischer Verhältnisse feststellen. Im Bereich des Aufbaus neuer politischer Institutionen standen die Transfor­ mationsgesellschaften daher vor großen Herausforderungen. Studien zeigen, wie wichtig neue Verfassungen als Rahmen für die politische Ordnung wurden (z. B. Els­ ter/Offe/Preuß 1998; Rüb 2001). Verfassungsrechtlich ist zwischen parlamentarischen und präsidentiellen politischen Systemen zu unterschieden; Untertypen bilden semipräsidentielle und premier-präsidentielle Regierungssysteme. Obwohl parlamentari­ schen Systemen konzeptionell der Vorzug zu geben ist, da sie eine solide Machtver­ teilung zwischen Regierung und Parlament bei gleichzeitiger breiter Beteiligung ver­ schiedener Parteien ermöglichen, wählten viele Länder Mischformen mit oft starker Exekutive (vgl. Rüb 2001). Probleme entstanden immer bei einer starken Konzentra­ tion von Macht im Präsidentenamt und einer schwachen Kontrollfähigkeit anderer politischer Institutionen, ein Aufbau, der Autokratien befördert. Auch die Parteien­ bildung ist intensiv untersucht worden, wobei Parteiengründungen nach 1989/90 entlang dreier Grundtypen erfolgten: post-kommunistische Parteien, Parteien, die in der Zwischenkriegszeit bereits bestanden und wieder gegründet wurden, sowie Par­ teien, die aus den Oppositions- und Bürgerbewegungen hervorgegangen sind (Segert/ Stöss/Niedermayer 1997; Kitschelt 1995). Nach einem anfänglichen Parteien-Boom hat sich in den meisten Ländern ein relativ stabiles Mehrparteiensystem herausge­ bildet, wobei die Parteienbindung der Bevölkerung schwächer ausgeprägt ist als in Westeuropa.

1 Vgl. Corruption Perceptions Index Report, http://www.transparency.org/cpi2014/results (aufgeru­ fen am 25.02.2018).

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Unter dem Aspekt der Demokratisierung nimmt die zivilgesellschaftliche Entwick­ lung darüber hinaus eine Schlüsselstellung ein. Ohne den Aufbau einer vitalen Zivil­ gesellschaft können Demokratien auf Dauer nicht stabil gehalten werden. Auch wirt­ schaftlicher Wohlstand wird mit zivilgesellschaftlicher Entwicklung in Verbindung gebracht. Robert Putnam (1993) argumentiert beispielsweise in einem historischen Vergleich verschiedener Regionen in Italien, dass die Stärke von zivilgesellschaftli­ chen Strukturen (civic community) nicht nur die politische Demokratisierung, son­ dern auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Gemeinden und Regionen be­ fördere, da durch die Zivilgesellschaft das notwendige soziale Vertrauen entstehe, das für produktives Wirtschaften erforderlich ist (vgl. Putnam 1993). In der politischen Ideengeschichte hat das Konzept der Zivilgesellschaften für die Demokratietheorie stets eine große Rolle gespielt. Schon die schottische Aufklärung kannte dieses Konzept, welches dann vor allem mit John Locke (Vertragsmodell) sowie Montesquieu (Assoziationsmodell) Eingang in die moderne Demokratietheorie fand. Eine dritte, neo-marxistische Konzeption der Zivilgesellschaft wurde in den 1920erJahren von Antonio Gramsci in der „società civile“ entwickelt. Von diesen drei Theo­ rietraditionen – Vertragstheorie, Assoziationsansatz und kritische Kulturanalyse – ist die Verwendung des Begriffs der Zivilgesellschaft im Kontext der anti-totalitären, ost­ europäischen Opposition zu unterscheiden (vgl. Arato/Cohen 1994; Honneth 1993; Ko­ cka 2000). Hier erfuhr der Begriff der Zivilgesellschaft zunächst in Polen, später in Ungarn und ansatzweise in der DDR eine Renaissance. Im Kern bündelte das Konzept der Zivilgesellschaft alle nicht staatlichen Sphären sozialen Handelns, die als Stütz­ punkte des Aufbaus einer demokratischen Opposition gegen die übermächtige Parteiund Staatsbürokratie Osteuropas infrage kamen. Mit dem Ende der staatssozialistischen Systeme haben sich die politischen Rah­ menbedingungen der zivilgesellschaftlichen Entwicklung grundlegend gewandelt und die Bildung verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen ist in den all­ gemeinen Demokratisierungsprozess eingebettet. Auch die Gleichstellung der Ge­ schlechter gehört zu den neuen zivilgesellschaftlichen Entwicklungen, denn trotz der formal-rechtlichen Gleichstellung in den kommunistisch regierten Ländern be­ standen vielfältige Probleme, die öffentlich nicht thematisiert werden konnten, wie beispielsweise Gewalt in der Familie. Frauen waren von den Machteliten weitgehend ausgeschlossen, sodass sich nach dem Umbruch 1989/90 ein neues Feld der öffent­ lichen politischen Partizipation in zivilgesellschaftlichen Gruppen eröffnete. Wie Studien zeigen, werden im Prozess der Demokratisierung die Konturen der Zivilge­ sellschaft durch Interessenartikulation, kollektives Handeln, Selbstorganisation und politische Übereinkunft ausgehandelt und damit auch die Geschlechtergerechtigkeit neu fokussiert (vgl. Fuchs 2003). Als Zivilgesellschaft können Berufsvereinigungen, Gewerkschaften, Verbände, kirchliche Gruppen, Nachbarschafts- und Selbsthilfeor­ ganisationen sowie soziale Bewegungsgruppen gelten, die ein öffentliches, gesell­ schaftliches Anliegen vertreten. Zivilgesellschaft beruht also auf nicht staatlichen, intermediären Organisationen. Sie konstituiert einen von den politischen Parteien

5.2 Der Umbruch 1989/90 | 185

und vom Staatsapparat unabhängigen Bereich der Öffentlichkeit, und hierin besteht ihre korrigierende, kontrollierende und konstruktive Funktion für die Demokratisie­ rung. Häufig ist Protest als Artikulationsform typisch für die Gruppen und Vereinigun­ gen der Zivilgesellschaft. Mit dem technologischen Fortschritt in der Kommunikation werden heutzutage aber auch soziale Medien als zentrale Plattformen von zivilgesell­ schaftlichen Gruppen wahrgenommen. Um die unterschiedliche zivilgesellschaftliche Entwicklung in der Demokratisie­ rung zu ermitteln, wurden in einem internationalen Forschungsprojekt auf Basis einer Vier-Länder-Studie – Polen, Ungarn, Slowakei, DDR/Ostdeutschland – Formen des Protestes empirisch untersucht, die in der Transformation zwischen 1989 und 1994 aufgetreten waren (vgl. Ekiert/Kubik 1998; Lemke 1997). Dabei ging es darum, über diese unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Protest) zu untersuchen, wie stark zivilgesellschaftliche Organisationen unmittelbar nach dem Systemwechsel waren. Dazu wurden die Akteure politischen Protestes, ihre Strategien und Forderun­ gen sowie ihre Bereitschaft zu handeln, dokumentiert und analysiert. Dabei wurde davon ausgegangen, dass vor allem diejenigen Gruppen der Gesellschaft zum Protest bereit sind, die ihre Anliegen nicht oder nur ungenügend im politischen System reprä­ sentiert sehen. Insofern Protestgruppen und soziale Bewegungen zu unkonventionel­ len Mitteln greifen, öffentliche oder politische Anliegen zu artikulieren, können sie Rückschlüsse auf die Vitalität von Zivilgesellschaften zulassen. So kann beispielswei­ se das Mobilisierungspotenzial der Zivilgesellschaft anhand einer Häufung von Pro­ testereignissen ermittelt werden. Protestformen wiederum können Aussagen darüber zulassen, inwiefern „zivile“ Formen des politischen Widerstandes angewandt wer­ den, oder ob Gewalt als nicht zivile Form des Protestes und damit dissoziative Mo­ bilisierungsprozesse überwiegen. Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass in al­ len vier Ländern nach dem Umbruch 1989/90 eine Protestmobilisierung auf beachtli­ chem Niveau stattfand. Kollektive Aktionen in Form von Protesten spielten nicht nur in der Phase des Regimewechsels, d. h. während des Zusammenbruchs der kommu­ nistischen Regime eine entscheidende Rolle. Vielmehr zeigte sich, dass die Entschei­ dungsprozesse in der Demokratisierungsphase nach 1990 von vielfältigen Protestak­ tionen begleitet waren (vgl. Ekiert/Kubik 1998). Dabei weisen Polen und Ungarn eine recht häufige, kontinuierliche Protesthäufigkeit auf. In diesen Ländern hat der gradu­ elle Wechsel günstige Voraussetzungen für die Öffnung des politischen Raums und die Entwicklung einer relativ profilierten Protestbewegung ermöglicht. Im Fall Polens hatte die Oppositionsbewegung mit „Solidarność“ eine erfahrene, seit 1980 organisa­ torisch vernetzte politische Vertretung, die auch nach dem Systemwechsel weiter bei Protesten aktiv blieb. Durch die relative politische Offenheit im Fall von Ungarn, das schon seit den 1960er-Jahren mit verschiedenen Formen der Liberalisierung des Wirt­ schaftssystems experimentiert hatte und in 1980er-Jahren geringere politische Repres­ sionen gegen reformorientierte Kräfte eingesetzt hatte, als beispielsweise die DDR, hatten sich ebenfalls günstige Bedingungen für eine stärkere Protestmobilisierung herausgebildet. Bemerkenswert ist, dass die Anzahl der Proteste in Ostdeutschland

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nach 1990 ebenfalls überraschend hoch ist. Trotz der repressiven politischen Struktu­ ren vor dem Regimewechsel und der nur marginalen Existenz von Protest- und Oppo­ sitionsgruppen in den 1970er- und 1980er-Jahren ist also schon in relativ kurzer Zeit eine „nachholende Mobilisierung“ (Lemke 1997) im Bereich unkonventioneller politi­ scher Partizipation zu beobachten, die sich durch alle Länder Mittel- und Osteuropas zieht. Die Häufigkeit und organisatorische Dichte der Proteste ist angesichts der kurzen Zeit, in der sich Protestträger nach dem Systemwechsel herausbilden konnten, sehr er­ staunlich, insbesondere da in der Literatur immer noch ein Bild dominiert, nach dem die Bevölkerung in den post-kommunistischen Ländern politisch ungeübt, apathisch und orientierungslos gewesen sei. Im Licht der Befunde über die organisatorische Struktur und die zielgerichtete Protestbereitschaft ist zu fragen, ob herkömmliche Be­ schreibungen eines dichotomen Sozialverhaltens in „totalitären“ Gesellschaften nicht neu überdacht werden müssen, eine Position, die die Historikerin Mary Fulbrook bei­ spielsweise für die DDR vertritt (vgl. Fulbrook 2005). Jedenfalls haben sich in kürzester Zeit nach dem Umbruch Formen einer Protestkultur herausgebildet, die auf zivilgesell­ schaftliche Strukturen der Gesellschaften verweisen.

5.3 Demokratisierung: Normdiffusion und Konsolidierung Die Frage, wann eine Demokratie konsolidiert und die Transformation abgeschlossen ist, ist nicht einfach zu beantworten. Um die Konsolidierung demokratischer Struk­ turen differenziert zu beurteilen, kann zwischen formalen, d. h. institutionell veran­ kerten, und informellen, d. h. habituell-gesellschaftlich begründeten, Strukturen un­ terschieden werden. Der Demokratieforscher Robert Dahl benennt ein „prozedurales Minimum“, das Demokratien erfüllen sollen (vgl. Dahl 2006). Dazu gehören freie und faire Wahlen, aktives und passives Wahlrecht, Meinungsfreiheit, Assoziationsfrei­ heit, Zugang zu alternativen Informationsquellen, Konkurrenz der politischen Eliten um Wählerstimmen und die Unterwerfung der Regierungspolitik unter den Willen der Wähler. Nach heutigem Verständnis zählen zu den institutionellen Bedingungen von Demokratien daher Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, politische Gleich­ heit bzw. gleiche Staatsbürgerrechte sowie individuelle und kollektive Freiheiten. Regelmäßige Machtwechsel und friedliche Konfliktaustragung zeigen an, inwieweit Demokratien als stabil gelten können. Die informelle Demokratisierung, die nicht nur Institutionen beinhaltet, sondern auch Verhaltensweisen und Einstellungen so­ wie ein zivilgesellschaftliches Engagement, ist wesentlich schwieriger zu erfassen, und es ist davon auszugehen, dass sie sich nur in einem länger andauernden Prozess durchsetzen kann. Eine geringe Bindekraft politischer Parteien, labile Regierungs­ konstellationen mit häufigem Regierungswechsel, verschiedentlich auch Korruption und Vetternwirtschaft sowie gesellschaftliche Gewalt sind einige der Indikatoren für eine ungenügende Stabilisierung und Habitualisierung demokratischer Verfasstheit.

5.3 Demokratisierung: Normdiffusion und Konsolidierung |

187

Ein besonderes Problem stellt der in einigen Ländern zu beobachtende Rück­ schritt, auch „backlash“ genannte Prozess der Revision rechtsstaatlicher Prinzipien, dar. So hat sich unter dem Einfluss rechtsnationaler und populistischer Parteien in mittelosteuropäischen Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien in den letzten Jah­ ren ein Wandel vollzogen, indem Grundprinzipien der Gewaltenteilung, etwa durch Verfassungsänderungen (Ungarn) und umstrittene Justizreformen (Polen) rückgän­ gig gemacht wurden, Minderheitenrechte sowie Presse- und Wissenschaftsfreiheiten eingeschränkt und rechtlich bindende Entscheidungen der EU, etwa zur Verteilung von Geflüchteten 2015/16 missachtet wurden. In einigen dieser Fälle hat die EU Ver­ tragsverletzungs- oder Rechtsstaatsverfahren eingeleitet (siehe auch Kapitel 6.5.2). Der „backlash“ stellt die von der EU angestrebte Verbreitung und Festigung demokra­ tischer Normen und Verfahren in Frage.

5.3.1 Prozesse und Probleme der Normdiffusion Über fast ein Jahrzehnt wurde der Demokratisierungsprozess durch ein engmaschiges Monitoring der Europäischen Union begleitet, bevor die Reformländer der EU beitre­ ten konnten (vgl. Schimmelfennig/Sedelmaier 2005; Sturm/Pehle 2006). Diese Kon­ stellation ist eine Besonderheit der post-kommunistischen Transformation und hebt sie von den Erfahrungen Lateinamerikas und Südeuropas ab. Die Mehrheit der Län­ der strebte bereits unmittelbar nach dem Systemwechsel die Mitgliedschaft in der EU an; weitere Länder der Region folgten nach und heute sind die meisten Länder in Süd­ osteuropa (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro sowie Mazedonien und Kosovo) und in Osteuropa (Ukraine, Weißrussland, Moldawien und Georgien) mit der EU vertraglich verbunden, assoziiert oder befinden sich in Beitrittsverhandlun­ gen. Die „externe“ Moderation bis zum Beitritt in die EU bezeichnet die amerikanische Politikwissenschaftlerin Milada Vachudova auch als Phase der Anwendung passiver und aktiver Hebel (active and passive leverage) der Demokratisierung und beschreibt so deren Zusammenwirken mit den internen politischen Konstellationen vor dem EUBeitritt (Vachudova 2005). Politische Eliten hätten sich in solchen Fällen für eine Öff­ nung und Liberalisierung entschieden, wenn die Kosten einer weiteren nationalisti­ schen Abschottung – wie zunächst im Beispiel der Slowakei – zu hoch und der Nutzen eines Beitritts größer als der eines Alleingangs wurden. Bereits vor den Beitrittsver­ handlungen habe die EU über Assoziierungsabkommen und Hilfsprogramme „passi­ ve Hebel“ einsetzen können; nach der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen konnte sie dann über die Kopenhagener Kriterien, die eine Übernahme des europäischen Ge­ meinschaftsrechts vorsahen, auch aktiven Einfluss auf die Umgestaltung nehmen. Die Wirkung „aktiver Hebel“ war in der Phase von der Aufnahme der Beitrittsverhandlun­ gen bis zur endgültigen Mitgliedschaft in der EU am größten. Waren die Länder erst aufgenommen, so hatte die EU keine direkten Veränderungsmöglichkeiten mehr.

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Die Anpassung an die Normen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wird in der Forschung auch als Normdiffusion (norm diffusion) bezeichnet. In einem länge­ ren Prozess konnten diese Normen über Verhandlungen und Deliberation, aber auch durch konkrete Unterstützungsmaßnahmen wie den Austausch von Rechtsexperten realisiert werden. Dabei wird verschiedentlich von Europäisierung oder sozialem bzw. institutionellem Lernen gesprochen (vgl. Schimmelfennig/Sedelmaier 2005). Allerdings kommt es nach der Mitgliedschaft in der EU auch zu rückläufigen Entwick­ lungen. Normdiffusion ist ein „weicher“ Mechanismus, der nicht eingeklagt werden kann, sondern auf der ideellen und diskursiven Ebene angesiedelt ist; daher sind Rückschritte nicht auszuschließen. Die Frage, ob es zu einer Demokratisierung anderer Länder bzw. Regionen kom­ men würde, ist angesichts des Legitimationsverlustes autoritärer und gerontokrati­ scher Regierungen, wie sie im südlichen Mittelmeerraum – Tunesien, Ägypten, Li­ byen – Anfang 2011 aufgetreten sind, von großem Interesse. Neben deutlichen Un­ terschieden zur Öffnung Mittel- und Osteuropas sind im „Arabischen Frühling“ auch Parallelen festzustellen. Ähnlich wie in Osteuropa setzte der Legitimationsverlust der Regime in diesen Ländern vor dem Hintergrund wachsender wirtschaftlicher Schwie­ rigkeiten mit blockierten Aufstiegserwartungen der jungen Generation sowie einer ausgeprägten Klientelwirtschaft ein. Zumindest in Tunesien, wo eine seit 25 Jahren währende Herrschaft des autoritär regierenden Präsidenten Ben Ali durch eine Revo­ lution abgelöst wurde, verhielt sich das Militär neutral bzw. unterstützte den Macht­ wechsel. Die Massenbewegung in Ägypten, die den Sturz des seit 30 Jahren regieren­ den Präsidenten Hosni Mubarak durchsetzte, wurde, wie in Tunesien, vor allem von jüngeren und gebildeten Ägyptern getragen. Moderne Medien spielen in beiden Regio­ nen eine besondere Rolle, ebenso der „Demonstrationseffekt“ mit der raschen geogra­ fischen Ausdehnung über die Region. Besonders aufschlussreich ist das „framing“ des Protests bzw. die Verwendung von Protestslogans und Deutungsmustern der revolutionären Gruppen, die mit Forde­ rung nach einer Liberalisierung – „Brot und Freiheit“ und „Wir sind das Volk“ – an die Massendemonstrationen in Mittel- und Osteuropa erinnern. Anders als diese Staaten verfügen die Länder im südlichen Mittelmeerraum jedoch über keine nennenswerten Erfahrungen mit demokratischen Strukturen, die in Mittelosteuropa zumindest zeit­ weilig in der Zwischenkriegszeit bestanden. Zudem ist die Bevölkerung vergleichswei­ se noch deutlicher von Armut betroffen und der Bildungsstand ist niedriger und zu­ dem ungleich verteilt; besonders Frauen und Mädchen wurde in der Regel nur wenig Bildung vermittelt. Auch fehlen zivilgesellschaftliche Traditionen und Strukturen – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die sicherheitspolitische Labilität in den Län­ dern, verschärft durch den Aufstieg eines militanten Islamismus, und die fehlende Perspektive einer Mitgliedschaft in wirtschaftlich erfolgreichen Assoziationen wie der EU sind weitere Unterschiede zwischen den Regionen. Während kurzzeitig auch in Nordafrika Wege aus der autoritären Herrschaft vorstellbar waren, die zu repräsenta­ tiven oder zumindest elektoralen Demokratien führen könnten, hat sich diese Erwar­

5.3 Demokratisierung: Normdiffusion und Konsolidierung

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tung weitgehend zerschlagen und die Vorherrschaft von Autokratien ist in der Region immer noch charakteristisch.

5.3.2 Normenkonflikte: Fallbeispiel Ukraine Als Teil der 2009 entwickelten Europäischen Nachbarschaftspolitik (European Neigh­ borhood Policy, ENP) fördert die EU nach dem Ende des Ost-West-Konflikts engere Beziehungen zu den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion, darunter Armenien, Aser­ baidschan, Weißrussland, Georgien, Moldavien, und Ukraine. Die Ukraine ist ein be­ sonders gutes Beipiel für die Problematik von Normdiffusion in Europa. Während sich der westliche Teil der Ukraine vor allem neu nach Europa ausgerichtet hat, bestehen im östlichen Teil des Landes durch sprachliche, politische und ökonomische Bezie­ hungen sehr enge Verbindungen nach Russland. Das Land steht daher im Spannungs­ feld zwischen Europa einerseits und Russland auf der anderen Seite. Nach längeren Verhandlungen arbeiteten die EU und die Ukraine ein Assoziati­ onsabkommen aus. Kurz vor der Unterzeichnung, im November 2013, zog die Ukraine ihre Bereitschaft, das Abkommen zu unterzeichnen, wieder zurück. Hintergrund war der Druck aus Russland, das Pläne für ein eigenes Zollabkommen mit osteuropäischen Ländern, darunter die Ukraine, verfolgte. Diese Kehrtwende durch die ukrainische Re­ gierung stieß in der Bevölkerung auf heftigen Widerstand. Vor allem in Kiew formierte sich eine breite Protestbewegung; wochenlang blieb der Maidan Platz (Unabhängig­ keitsplatz) im Zentrum der Hauptstadt besetzt. Die Protestierenden verlangten das En­ de von Machtmissbrauch und Korruption, die Beendigung von Menschenrechtsverlet­ zungen sowie den Rücktritt des Präsidenten. Über neue soziale Medien, wie Facebook und Twitter, verschafften sich die Protestierenden Gehör und so wurde die Entwick­ lung auch in westlichen Ländern aufmerksam verfolgt. Nach wochenlangen Protesten und massivem Gewalteinsatz durch die Polizei war die Regierung schließlich hand­ lungsunfähig. Präsident Viktor Janukowitsch floh nach Russland und es wurde eine neue Regierung gebildet. Die Situation spitzte sich im März 2014 jedoch zu, nachdem Russland die Krim an­ nektiert hatte, die nach ihrer Auffassung von der sowjetischen Führung 1954 unrecht­ mäßig der Ukraine zugeschlagen worden war und in der angeblich die Rechte der eth­ nischen Russen verletzt wurden. Ein hastig durchgeführtes Referendum unterstütz­ te zwar die Annexion, aber die westlichen Länder bezweifelten seine Legitimation; die Beziehungen verschlechterten sich weiter, nachdem deutlich geworden war, dass Russland die Separatisten im Osten der Ukraine sowohl materiell als auch personell unterstützte. Nach dem Abschuss eines niederländischen Passagierflugzeugs über der Ukraine im Sommer 2014 mit 298 Toten, der nach dem Abschlussbericht einer unab­ hängigen Untersuchungskommission durch Raketen erfolgte, die vermutlich zum rus­ sischen Militär gehörten, erreichten die Beziehungen einen Tiefpunkt. Die westlichen Länder verhängten Sanktionen gegen Russland und die Separatisten in der Ukraine.

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Russland reagierte mit Sanktionen gegen den Westen, die unter anderem die Einfuhr von Lebensmitteln aus der EU und Nordamerika einschlossen. Die Ukraine-Krise zeigt zum einen, dass die These von den aktiven und passiven Hebeln nach Vachudova auch umgekehrt werden kann: Im diesem Fall hatte Russland als wichtigster regionaler Akteur direkten Einfluss auf die Ukraine ausgeübt, die dar­ aufhin das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete, sondern sich, zumindest in Teilen, Russland zuwandte, welches mit einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit warb. In der Folge kam es, auch aufgrund anhaltender militärischer Auseinandersetzungen im Osten des Landes, zum Stillstand der Demokratisierung und eine Normdiffusion fand nicht mehr statt. Vielmehr nutzte Russland die instabile Lage in der Ukraine, um selbst größeren Einfluss in dem Land auszuüben. Zum anderen wurde die Ukraine-Krise für die EU zu einem Testfall für die Ge­ meinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Während die EU-Länder in außenpoliti­ schen Fragen häufig verschiedener Meinung waren, verurteilten sie einmütig die Einmischung Russlands und unterstützten einstimmig die Sanktionen. Die deutsche und die französische Regierung verhandelten als zwei der wichtigsten europäischen Länder schließlich ein Waffenstillstandsabkommen für die Ost-Ukraine mit Russland und der Ukraine („Minsker Abkommen“ 2015). Trotzdem hält der Konflikt weiterhin an und die Kämpfe in der Ost-Ukraine sind nicht beendet. Eine Lösung des „einge­ frorenen Konflikts“ ist ohne den politischen Willen der russischen Regierung nicht möglich.

5.4 Russland und Europa Mit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 änderten sich die politischen Verhältnisse in ihren Nachfolgestaaten grundlegend. Die baltischen Staaten erklär­ ten schon 1990 ihre Unabhängigkeit und näherten sich der EU an; Ukraine und Weiß­ russland bildeten sich nach dem Ende der Sowjetunion, ebenso wie die ehemaligen sowjetischen Staaten in Zentralasien und im Kaukasus. Das politische System Russ­ lands hatte sich bereits Ende der 1980er-Jahre unter Michail Gorbatschow verändert. Es folgten Jahre der Neuorientierung und Instabilität unter Boris Jelzin. Nach dessen Rücktritt übernahm Wladimir Putin 1999 dessen Amtsgeschäfte und wurde im Jahr 2000 offiziell Präsident der Russischen Föderation, ein Amt, das er bis 2008 und ab 2012 innehatte. Bei den Wahlen 2018 wurde Putin erwartungsgemäß nochmals wie­ dergewählt, sodass er weitere sechs Jahre im Amt sein wird. In der Länge seiner Herr­ schaft wird er damit nur von Stalin übertroffen. Russland ist ein Beispiel für die Revision demokratischer Standards in einem post-kommunistischen Land. Während der Präsidentschaft Putins entwickelte sich das politische System zunehmend in eine illiberale Richtung. Während die russische Regierung das System als „gelenkte Demokratie“ bezeichnet, wird es in der poli­ tikwissenschaftlichen Fachliteratur als halbdemokratisches, hybrides, kompetitiv-

5.4 Russland und Europa |

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autoritäres oder autoritäres System bezeichnet (vgl. Schneider 2001). Zugleich ist sich die politikwissenschaftliche Forschung über die Klassifizierung Russlands im Rah­ men von Demokratisierungsskalen nicht einig. Freedom House stufte Russland zwi­ schen 1993 und 2003 als „elektorale Demokratie“, seit 2004 aber als „unfrei“ ein: Seit 2009 gilt es, ebenso wie Weißrussland und fast alle zentral-asiatischen Länder sowie Aserbaidschan, als „konsolidiertes autoritäres Regime“ (Freedom House 2013). Der Bertelsmann Transformations Index (2012) dagegen bezeichnet Russland als „stark defekte Demokratie“. So beruhen politische Entscheidungen auf einer umfassenden, strikten Befehlskette, die als „Vertikale der Macht“ bezeichnet wird. Freiheitsrechte sind eingeschränkt und vor allem Journalisten werden immer wieder bedrängt. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt (2018) füh­ ren Russland als ein Beispiel dafür an, wie Demokratien von innen „sterben“ können, indem sich die Macht immer mehr in den Händen der Exekutive konzentriert, wäh­ rend andere politische Institutionen, wie die Justiz, das Parlament und die Medien, geschwächt und ausgehöhlt werden. Die Beziehungen der europäischen Länder zu Russland bleiben nach dem En­ de des Ost-West-Konflikts von widerstreitenden Motiven geprägt. Dabei spielen nicht nur historische Erfahrungen und die geopolitische Lage Russlands eine Rolle, son­ dern auch seine wirtschaftliche Stärke und sicherheitspolitische Erwägungen. In Be­ zug auf die wirtschaftlichen Interessen sind sowohl Russland als auch die EU-Länder nach 1989/90 an wechselseitiger Kooperation interessiert, allerdings sind die Bezie­ hungen nicht konfliktfrei. Insbesondere im Energiebereich ist Russland aufgrund sei­ ner reichen Öl- und Gasvorkommen wichtig und setzt seine Energieressourcen gezielt zur Behauptung seiner Rolle in Europa ein (vgl. Szabo 2015). Einige EU-Länder, wie z. B. Bulgarien und Rumänien, Estland und Lettland, beziehen nahezu ihre gesam­ te Energie aus Russland; auch für Deutschland ist Russland ein wichtiger Energielie­ ferant. Die russische Gazprom ist inzwischen auf dem europäischen Markt vertreten und Pipelines aus Russland versorgen EU-Länder mit Gas und Öl. Im Jahr 2017 lieferte Russland der EU insgesamt ein Drittel ihres Energiebedarfs; in den kommenden zehn Jahren soll der Anteil auf rund 40 Prozent steigen. Daher ist Russland heute für die EU einer der wichtigsten Handelspartner; allerdings sind die Beziehungen seit der Ver­ hängung von Sanktionen, die die westlichen Länder nach der Krim-Annexion gegen Russland eingesetzt haben, angespannt. Umstritten ist zudem der Ausbau der NordStream-Pipeline durch die Ostsee, da sie eine Umgehung der Ukraine und der balti­ schen Staaten beinhaltet, die hierdurch Einnahmen aus dem Transit verlieren. Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Dimensionen der Beziehungen zu Russ­ land sind nicht zu trennen. In der Sicherheitspolitik sind die Interessen Russlands und der europäischen Länder allerdings von Gegensätzen geprägt. Nach 1989/90 schien es zunächst so, als sei eine „gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur“ nicht nur wün­ schenswert, sondern auch umsetzbar. Allerdings erwiesen sich diese Vorstellungen als nicht realisierbar. Die Länder des ehemaligen „Ostblocks“, allen voran die von der Sowjetunion unabhängig gewordenen baltischen Staaten, strebten eine möglichst

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große Unabhängigkeit von Russland an, um ihre Souveränität und Selbstständigkeit abzusichern. Ähnliches gilt für Polen, Ungarn und die Tschechische Republik, die ziel­ strebig der EU sowie der NATO beitraten. Russland wiederum steht der Ausdehnung der NATO ablehnend bis feindselig gegenüber. Obwohl Russland seinen Hegemonieanspruch in Gesamteuropa aufgegeben hat, spielt es für die europäische und globale Sicherheitspolitik eine wichtige Rolle. Russ­ land ist Mitglied der OSZE, des Europarates und Teil der Europäischen Nachbar­ schaftspolitik der EU. Konzepte einer gesamteuropäischen Sicherheitspolitik unter Einbezug Russlands sind allerdings ebenso gescheitert wie eine ausgewogene Bezie­ hung im Wirtschaftsbereich. So zeigt der Ukraine-Konflikt, dass die Putin-Regierung die Ausdehnung der EU nach Osteuropa ablehnt, da sie fürchtet, dass Länder wie die Ukraine auch NATO-Mitglied werden könnten. Die von den EU-Ländern, der USA und Kanada verhängten Sanktionen wegen des Ukraine-Konflikts weist Russland kategorisch als ungerechtfertigt zurück. Auch im Syrien-Konflikt vertreten Russland einerseits, die EU-Länder sowie die USA andererseits gegensätzliche Positionen, da Russland Machthaber Assad stützt, während die westlichen Länder eine politische Lösung ohne den Diktator favorisieren. Tatsächlich versteht die Putin-Regierung Russland nicht als europäisches Land, sondern definiert die eigenen Interessen stets entlang machtpolitischer Prämissen. So sucht Putin vor allem in Zentralasien und Asi­ en mit China Partnerschaften und auch im Mittleren Osten unterhält er beispielsweise mit dem Iran engere Beziehungen. Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Konturen der Beziehungen zwischen Russland und der EU nahhaltig von gegensätzlichen Interessen gezeichnet werden und dass dennoch, alleine schon aus wirtschaftlichen Gründen, beide niemals völlig aufeinander verzichten können. Die Verbesserung der Beziehungen zu Russland wird daher insbesondere in Deutschland immer wieder thematisiert. Übungsfragen zu Kapitel 5: Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1. 2. 3. 4.

Was versteht man unter der Legitimationskrise in Mittel- und Osteuropa? Welche Bedeutung hatte sie für das Ende der kommunistischen Herrschaftssysteme in der Region? Welche internationalen Aspekte begünstigten das Ende der DDR und wie kam die deutsche Einheit zustande? Erörtern Sie das Konzept der Zivilgesellschaft (civil society) und seine Bedeutung in der Trans­ formation Ost- und Ostmitteleuropas. Ist Demokratisierung ohne Zivilgesellschaft möglich? Die EU und Russland haben unterschiedliche Perspektiven auf die Ukraine. Was sind die Hin­ tergründe und wie ist eine Lösung der Ukraine-Krise möglich?

Literatur

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194 | 5 Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

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6 Regionale Integration: Die Europäische Union Die Europäische Union (EU) spielt heute eine zentrale Rolle in der internationalen Po­ litik. Sie ist zugleich ein Beispiel für die regionale Integration unterschiedlicher Län­ der, die in den Bereichen der Wirtschafts-, Umwelt-, und Rechtspolitik sowie auf an­ deren Politikfeldern zusammenarbeiten. Dabei versteht man unter Integration einen Prozess, in dem politische Kompetenzen von der nationalstaatlichen auf die supra­ nationale, europäische Ebene übertragen werden. Im Rahmen dieser Integration sind neue Institutionen, wie z. B. das Europäische Parlament, sowie verbindliche Regeln und Normen geschaffen worden, welche die Zusammenarbeit gestalten. Inzwischen erstreckt sich die Zusammenarbeit neben dem Binnenmarkt auch auf die Außen- und Sicherheitspolitik, sodass nahezu alle Politikbereiche innerhalb der EU vergemein­ schaftet sind. Die EU-Integration ist durch horizontale Verflechtungen zwischen den Mitgliedstaaten, eine vertikale Verflechtung zwischen der EU und jedem Mitgliedstaat sowie sektoral, d. h. nach Wirtschafts- und Politikbereichen, strukturiert. Obwohl Re­ gionalismus in verschiedenen Weltregionen verbreitet ist, etwa im Rahmen von Mer­ cosur in Lateinamerika oder der APEC in Asien, ist die regionale Integration auf dem europäischen Kontinent besonders weit fortgeschritten. Anfang 2017 betrug die Ge­ samtbevölkerung der EU mit 28 Mitgliedstaaten rund 511,8 Millionen Einwohner; in der Eurozone allein waren es rund 341 Millionen. Damit ist die EU die global größte regionale Wirtschaftszone und in zahlreichen internationalen Organisationen vertre­ ten. Heute wird der Begriff „Europa“ oft mit der EU gleichgesetzt, obwohl dies histo­ risch und politisch-kulturell nicht zutreffend ist. Nicht alle europäischen Länder sind Mitglieder in der EU; einige, wie die Schweiz und Norwegen, haben sich gegen eine EUMitgliedschaft entschieden, sind aber durch ein dichtes Vertragswerk mit der Union verknüpft, während andere wie die Ukraine und Weißrussland aus politischen Grün­ den nicht in der EU sind. Mehrere Länder, wie Albanien, Serbien,, und Montenegro, streben die Mitgliedschaft an und führen Beitrittsverhandlungen mit der EU. In der politikwissenschaftlichen Europaforschung werden die supranationalen europäischen Institutionen, transnationale Politikprozesse und europapolitischen Entscheidungen ausführlicher untersucht. Die europäische Integrationsforschung ist dabei mit eigenen Theorieansätzen und Modellen im Schnittfeld von internatio­ naler und vergleichender Politikwissenschaft angesiedelt. Sie arbeitet interdiszipli­ när, indem sie historische, rechts-, sozial- und politikwissenschaftliche Grundlagen berücksichtigt (vgl. Liebert/Wolff 2015). Auch die globale Rolle der EU und ihre Be­ deutung in internationalen Organisationen wird intensiv beforscht. Dabei ist die Europäische Union eine politische Gemeinschaft eigener Prägung: Sie ist weder eine internationale Organisation noch eine staatliche Föderation bzw. ein Bundesstaat, sondern weist Elemente von beiden politischen Konzepten auf. Aus der Spannung

https://doi.org/10.1515/9783110589207-006

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zwischen nationalstaatlichen Interessen und gemeinschaftlicher Politik ergibt sich dementsprechend eine Vielzahl von interessanten neuen Forschungsfragen. Im Zusammenhang mit der regionalen Integration der europäischen Länder sind zwei weitere europäische Zusammenschlüsse zu erwähnen, die nicht direkt mit der Europäischen Union verbunden, aber für die Europapolitik relevant sind. Der 1949 ge­ gründete Europarat mit Sitz in Straßburg war die erste politische Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Län­ dern zum Ziel gesetzt hatte. Der Europarat als internationale Organisation hat heute 47 Mitglieder. Er setzt sich besonders auf dem Gebiet der Menschenrechte sowie in der Bildungs-, Jugend- und Kulturpolitik ein. Die Organisation für Sicherheit und Zu­ sammenarbeit (OSZE) ist aus der in den 1970er-Jahren gebildeten Konferenz für Si­ cherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervorgegangen und stellt eine ge­ samteuropäische, zwischenstaatliche Institution dar. Zur Zeit des Ost-West-Konflikts war sie darauf ausgerichtet, durch einen Prozess politischer Konsultationen zwischen West- und Osteuropa einen Großkonflikt „kleinzuarbeiten“ und konnte hier teilwei­ se beachtliche Schritte vollziehen. Heute liegen ihre Aufgaben vor allem im Bereich der Unterstützung beim Aufbau von Demokratien sowie in der Konfliktverhütung. Die OSZE engagiert sich beispielsweise in den Nachfolgeländern des ehemaligen Jugosla­ wiens und in der Ukraine. Allerdings verfügt sie nur über beschränkte materielle und personelle Ressourcen und die Interessen ihrer Mitgliedsländer liegen teilweise weit auseinander.

6.1 Entwicklung der europäischen Integration Die Idee einer „europäischen Gemeinschaft“ entstand bereits während des Zweiten Weltkriegs. Eine Gruppe europäischer Föderalisten vertrat die Auffassung, dass das nationalstaatliche Machtstreben in Europa, welches immer wieder zu Konflikten und Kriegen geführt hatte, durch eine politische Ordnung jenseits nationalstaatlicher In­ teressen und übertriebener Formen von Nationalismus überwunden werden könne. Gemeinsame Ziele einer friedlichen und wohlstandsfördernden Ordnung in Europa sollten durch den Abbau nationalstaatlicher Grenzen verfolgt werden. Für einige Ver­ treter dieser alternativen politischen Ordnung galten föderale Länder, wie die Schweiz oder die USA als Vorbild; andere wiederum beriefen sich auf republikanische Ideen, teils auch auf anarchistische Denktraditionen. Allerdings konnten sich diese normativ angelegten Konzepte in der Nachkriegszeit nicht durchsetzen. Zur Koordination von Wiederaufbauhilfen nach dem Krieg durch den Marshallplan erfolgte vielmehr eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit, die sich zunächst auf den Wirtschaftssektor be­ schränkte. Als erste supranationale europäische Institution wurde dementsprechend 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion genannt) gegründet. Als Geburtsurkunde der Europäischen Gemeinschaft gelten die Römischen Verträge von 1957, die den Wirtschaftsraum der sechs Gründungsstaaten

6.1 Entwicklung der europäischen Integration

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197

Frankreich, Beneluxländer, Italien und Bundesrepublik Deutschland in der „Europäi­ schen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) zusammenfassten. Kurz zuvor war der Ver­ such, parallel zur Wirtschaftsgemeinschaft eine Europäische Verteidigungsgemein­ schaft aufzubauen, am Veto der Französischen Nationalversammlung gescheitert, so­ dass von der weiter gefassten europäischen „Sicherheitsgemeinschaft“ (Karl Deutsch) lediglich das Konzept der Wirtschaftsgemeinschaft realisiert werden konnte. Eckpfei­ ler der Gemeinschaft bildeten die Montanunion, eine gemeinsame Agrarpolitik sowie die neu entstehende Atomforschung (EURATOM). Von besonderer Bedeutung für die europäische Integration war die Entwicklung von der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Union mit dem Vertrag von Maas­ tricht (1993). Während in den 1970er-Jahren ein „Europessimismus“ in den europäi­ schen Ländern um sich griff, der durch Regulierungsprobleme in der gemeinsamen Agrarpolitik („Butterberge“ und „Milchseen“) sowie anderer Wirtschaftsprobleme, wie der Energiekrise („Ölschock“) und steigender Arbeitslosigkeit begünstigt wurde, zeichnete sich Mitte der 1980er-Jahre angesichts veränderter Weltmarktbedingun­ gen ein neuer Integrationswille ab. Unter dem Eindruck globaler Herausforderungen beschlossen die Länder der Europäischen Gemeinschaft, eine weitere Liberalisie­ rung des Binnenmarktes vorzunehmen und eine einheitliche Währung einzuführen; begleitet werden sollte diese Entwicklung von einer „politischen Union“. Mit der Ver­ abschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) legten sich die damals zwölf Mitgliedsländer auf die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes bis zum Jahr 1992 fest. Dieses Großprojekt der Handels- und Kapitalliberalisierung sollte die Position der westeuropäischen Länder auf dem Weltmarkt stärken. Mit den vier Freiheiten – freier Waren- und Personenverkehr sowie freier Austausch von Dienstleistungen und Finanzen – strebte die Europäische Gemeinschaft eine größere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den aufstrebenden asiatischen Ländern (z. B. Japan, Singapur, China) und den USA an. Nach dem in Maastricht im Januar 1992 beschlossenen Vertrag über die Europäi­ sche Union (EU-Vertrag), der nach der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten am 1. Ja­ nuar 1993 in Kraft trat, beruhte die EU auf drei Grundpfeilern: der supranationalen Europäischen Gemeinschaft mit dem Binnenmarkt, der gemeinsamen Außen- und Si­ cherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Polizei und Justiz. Die erste Säule mit dem Binnenmarkt war am stärksten integriert; die zweite Säule mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zeichnete sich durch zwischen­ staatliche Koordination aus; in der dritten Säule existierte eine Zusammenarbeit in Teilbereichen von Polizei und Justiz. Außen- und Sicherheitspolitik sowie Polizei und Justiz sind Kernbereiche staatlicher Souveränität. Eine gemeinsame europäische Po­ litik gestaltete sich in letzteren Bereichen daher schwieriger als im Binnenmarkt, da die Mitgliedstaaten ihre Souveränität mit nationalen Präferenzen weitgehend beibe­ hielten. Der Vertrag von Amsterdam (1997) legte einige wichtige institutionelle Neuerun­ gen fest. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Zivilrecht

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wurde in der supranationalen Ebene verankert. Weitere Reformen betrafen die Aus­ weitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat (Ministerrat) und die erweiterten Mit­ wirkungsrechte des Europäischen Parlaments. Parallel zu diesen Entwicklungen be­ gann die EU ab Mitte der 1990er-Jahre Beitrittsverhandlungen mit den ehemaligen Ost­ blockstaaten in Mittelosteuropa und im Baltikum zu führen, die mit dem Big Bang – der Aufnahme von zwölf neuen Mitgliedsländern – zunächst abgeschlossen wurden. Mit diesen Erweiterungen wurden institutionelle Reformen der EU notwendig, die zu­ nächst auf der Nizza-Konferenz (2000) und dann im Zusammenhang mit einem neuen Verfassungs- bzw. Reformvertrag der EU (2004–2007) angepackt wurden. Hierbei ging es vor allem darum, ein verändertes Abstimmungsverfahren im Rat festzulegen sowie die Anzahl der EU-Kommissare der gewachsenen Mitgliederzahl der EU anzupassen. Darüber hinaus sollte das kritisierte Demokratiedefizit der Union abgebaut und die Legitimität politischer Entscheidungen der EU erhöht werden. Der bislang letzte Vertrag wurde nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertra­ ges geschlossen. Mit der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon (2009) wurde die Säulenstruktur der EU nach Maastricht aufgehoben und in einem Vertrag zusammen­ geführt. Die Europäische Union wird als Rechtspersönlichkeit definiert und ist somit Rechtsnachfolgerin der vorangegangenen Verträge. Mit dem Lissabon-Vertrag wurden notwendige institutionelle Reformen zunächst zum Abschluss gebracht. Seit ihrer Gründung hat sich die EU also schrittweise durch immer neue zwischen­ staatliche Verträge, aber auch durch strukturelle Reformen verändert. Die Vertiefung der EU ging dabei mit ihrer Erweiterung einher. So vergrößerte sich die Europäi­ sche Gemeinschaft von sechs Gründungsstaaten (Römische Verträge 1957) auf heute 28 Staaten (2018): Im Jahr 1973 traten Großbritannien, Irland und Dänemark der EG bei, 1981 folgten Griechenland sowie 1986 die Länder Spanien und Portugal, die je­ weils erst kurz zuvor selbst zu demokratischen Staaten wurden. Österreich, Finnland und Schweden traten 1995 der EU bei. Die größte Erweiterungswelle erfolgte eine De­ kade später, indem die EU 2004 zehn und 2007 zwei neue Länder aufnahm, darunter zehn ehemals kommunistisch regierte Staaten; 2013 kam Kroatien hinzu. Jede Erwei­ terungswelle war mit institutionellen Anpassungsprozessen verbunden. Zu nennen sind hier etwa die Einführung des Europäischen Rates als wichtiges Konsultationsor­ gan nach der Erweiterung um die EFTA-Staaten, die Einführung der Strukturpolitik nach dem Beitritt der wirtschaftlich schwächer entwickelten Länder Südeuropas, und die Reform der EU-Institutionen mit dem Vertrag von Lissabon (2009) nach den jüngsten Erweiterungen. Die EU-Erweiterung erfolgte in mehreren Schritten. Die Länder, die unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebten, betrachteten die Aufnahme in die EU auf der ideellen Ebene als „Rück­ kehr nach Europa“, wie der tschechische Staatspräsident und ehemalige „Dissident“, Václav Havel in einer Vielzahl von Reden und Aufsätzen betonte. Zugleich erhofften sich die post-kommunistischen Länder wirtschaftliche Unterstützung bei der Mo­ dernisierung ihrer Infrastruktur, Zugang zum europäischen Markt für ihre Produkte

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sowie eine Verbesserung des Lebensstandards für ihre Bevölkerung. Die EU reagier­ te zunächst zurückhaltend und war, vor allem aus der Sicht der post-kommunisti­ schen Länder, zu zögerlich. Dies war darauf zurückzuführen, dass eine Erweiterung auf Widerstand wichtiger EU-Mitgliedsländer, insbesondere Spaniens und Frank­ reichs, stieß. Zunächst schloss die EU mit den Reformstaaten „Europa-Abkommen“ ab, durch die diese Länder mit der EU assoziiert wurden und sie leitete konkrete Unterstützungs- und Hilfsprogramme (PHARE) ein. Mit den 1993 beschlossenen Ko­ penhagener Kriterien zur Aufnahme neuer Länder legte die EU dann strenge Maßstäbe für beitrittswillige Länder vor. Neben der Einführung von Rechtsstaatlichkeit und De­ mokratie sowie einer funktionsfähigen Marktwirtschaft müssen Beitrittskandidaten auch das Gemeinschaftsrecht der EU, den acquis communautaire, übernehmen. Erst im März 1998 begannen schließlich mit sechs Ländern offizielle Beitrittsverhandlun­ gen (Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien sowie mit dem seit längerem assoziierten Zypern, und mit Malta). Im Jahr 1999 wurde diese Gruppe um weitere Länder ausgedehnt (darunter auch die Türkei und Kroatien). Der Reformprozess der EU beschleunigte sich nach 1998, nachdem mehrere postkommunistische Länder ihr Beitrittsgesuch offiziell eingereicht und die EU-Kommis­ sion den Beitrittsprozess eingeleitet hatte. In einem engen Monitoring-Prozess durch die Kommission wurde die Umsetzung der Kopenhagener Kriterien in jährlichen Be­ richten überprüft und die Übernahme (compliance) des Rechtsbestandes der EU in nationales Recht dokumentiert. Nach dem Beitritt von 13 neuen Ländern wurden auch mit Albanien, Serbien und Montenegro 2014 bzw. 2016 Verhandlungen aufgenommen. Auch Mazedonien und Bosnien-Herzegowina stehen zu Verhandlungen bereit; erste Vereinbarungen beziehen sich beispielsweise auf einen visafreien Verkehr. Ein kon­ kreter Termin für den offiziellen Beitritt steht jedoch noch nicht fest. Dagegen sind die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei inzwischen ins Stocken geraten. Wie es trotz der Widerstände in vielen EU-Ländern zu einer so großen Erweite­ rung der Union kommen konnte, wird in der wissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert. Während rationale Theorieansätze die Präferenzen der Reformländer für eine Mitgliedschaft erklären können, bleibt das Rätsel der Erweiterung, warum die alten EU-Mitgliedsländer dieser Erweiterung zugestimmt haben, trotz der hohen Kos­ ten und stärkerer Konkurrenz auf dem Agrarmarkt sowie neuer Umverteilungsprozes­ se im EU-Kohäsionsfond, der den strukturschwachen Regionen zugute kommt, und nun unter mehr Ländern aufgeteilt werden musste. Autoren, wie der Politikwissen­ schaftler Frank Schimmelfennig, sprechen von einem letztlich erfolgreichen rheto­ rischen Handeln (rhetorical action) der Beitrittsländer (vgl. Schimmelfennig 2001). Zur Erklärung greift Schimmelfennig in seiner Analyse auf einen sozialkonstruktivis­ tischen Ansatz zurück, indem er die Handlungspräferenzen der EU-Staaten nicht nur durch ökonomisches Kalkül, sondern auch durch Werte und Normen, wie Demokra­ tie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, begründet sieht, die die EU wiederholt in ihren Äußerungen und in Dokumenten als Selbstverständnis festgelegt hatte. So heißt es im Lissabon Vertrag: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der

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Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wah­ rung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ (Art. 2; Lissabon-Vertrag). Der von den Reformländern vorgetragenen Argumentation, der Beitritt könne ange­ sichts der friedlichen Revolutionen und der Einführung von Demokratie und Rechts­ staatlichkeit nicht verwehrt werden, konnte sich schließlich mit Blick auf die eigene Glaubwürdigkeit kein Land der „alten“ EU verschließen. Parallel zur EU-Erweiterung erfolgte die als Vertiefung bezeichnete Reform der EU-Institutionen. Sie war zum einen durch die Erweiterung angetrieben, zum ande­ ren aber auch durch das Bestreben, das Demokratiedefizit der EU abzubauen. Ein im Jahr 2003 von einem eigens eingesetzten Konvent unter Leitung des französischen Politikers Valéry Giscard d’Estaing vorgelegter Entwurf für eine EU-Verfassung (Ver­ fassungsvertragsentwurf), der mit institutionellen Reformen zu mehr Transparenz der Union führen sollte, wurde 2004 in Rom unterzeichnet. In einem aufwendigen Ratifizierungsprozess wurde er von 18 Mitgliedsländern ratifiziert, darunter auch Deutschland, scheiterte jedoch an negativen Referenden in Frankreich (Mai 2005) und den Niederlanden (Juni 2005). Ein neuer EU-Reformvertrag, auf den sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen im Juni 2007 in Brüssel einig­ ten, wurde schließlich im Oktober 2009 von allen Mitgliedsländern ratifiziert und bildet seit dem 1. Dezember 2009 als Lissabon-Vertrag die rechtliche Grundlage für die politische Struktur der EU. Der Lissabon-Vertrag behält wesentliche Elemente des Verfassungsvertrages bei, enthält aber auch eine Vielzahl von Kompromissrege­ lungen. Er ist keine „Verfassung“, sondern ein zwischenstaatlicher Vertrag wie alle bisherigen EU-Verträge. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde ein neuer einheitlicher Rechtsrahmen ge­ schaffen, durch den das Bild der „drei Säulen“ nach dem Maastrichter Vertrag sei­ ne Grundlage verlor: Die Europäische Union war nun keine Dachorganisation mehr, sondern erhielt selbst Rechtspersönlichkeit. Die Zuständigkeiten der EG wurden auf die EU übertragen. Zugleich wurden für die Zusammenarbeit im polizeilichen und justiziellen Bereich dieselben supranationalen Entscheidungsverfahren eingeführt, die zuvor nur für die EG gegolten hatten. Lediglich die gemeinsame Außen- und Si­ cherheitspolitik behielt auch nach dem Vertrag von Lissabon ihre gesonderten Ent­ scheidungsverfahren bei und bildet damit einen speziellen Bereich innerhalb der EU, da wesentlich weniger nationalstaatliche Souveränität auf die supranationale Ebene übertragen wurde. Erst schrittweise wurde dieses Politikfeld vergemeinschaftet, so et­ wa durch die Gründung der europäischen Verteidigungsunion 2017, die von 23 Län­ dern in der EU unterstützt wird. Die Euratom, bis zum Vertrag von Lissabon als eine der Europäischen Gemeinschaften Teil der „ersten Säule“, wurde im EU-Vertrag nun nicht mehr eigens erwähnt, sondern lediglich durch ein Protokoll zum Vertrag an das politische System der EU angebunden.

6.1 Entwicklung der europäischen Integration

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Die Veränderungen durch den Vertrag von Lissabon (2009) bestehen im Wesent­ lichen in folgenden Reformen: Hinsichtlich von Transparenz und Demokratie in der EU wird die Rolle des Europäischen Parlaments durch die Erweiterung des Mitent­ scheidungsverfahrens (co-decision procedure) weiter aufgewertet. Das Mitentschei­ dungsverfahren bezieht sich beispielsweise jetzt auch auf polizeiliche und justiziel­ le Zusammenarbeit in Strafsachen. Gleichzeitig erhalten die nationalen Parlamente durch eine verlängerte Beratungszeit mehr Einfluss auf die EU-Rechtssetzung, eine Reform, die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland mit dem Urteil vom 30. Juni 2009 eingefordert wurde. Eine neu eingeführte Europäische Bürgerinitiative bietet darüber hinaus mehr Einfluss für Bürger in den Mitgliedslän­ dern. Erstmals enthält ein europäischer Vertrag zudem die Option des Austritts aus der EU, eine Regelung, die erstmalig von Großbritannien nach dem Brexit-Referen­ dum von 2016 in Anspruch genommen wurde. In Bezug auf die Effizienz von Ent­ scheidungen auf der EU-Ebene wird von der Einführung eines für zweieinhalb Jah­ re eingesetzten Präsidenten des Europäischen Rates mehr Kontinuität und eine effi­ zientere Geschäftsführung der Union erwartet. Das qualifizierte Mehrheitsverfahren, das bei Gesetzesabstimmungen im Rat der Europäischen Union (Ministerrat) ange­ wendet wird, wurde auf mehr Politikfelder ausgeweitet. Bei Abstimmungen gilt seit 2017 außerdem eine doppelte Mehrheit, die aus 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 65 Prozent der Bevölkerung der EU besteht. Damit sollte verhindert werden, dass die großen Mitgliedsländer die kleineren Länder einfach überstimmen können. Im Vor­ feld des Lissabon-Vertrags hatte es gerade in dieser Frage gegensätzliche Positionen zwischen den großen und kleineren Ländern der EU gegeben, da Letztere nicht von den „großen“ Drei (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) überstimmt werden wollten. Eine weitere wichtige Reform wurde im Bereich des Rechtes umgesetzt, indem die Grundrechte-Charta, die bereits bei der Regierungskonferenz in Nizza (2001) ange­ nommen worden war, nun als rechtsverbindlich in den Lissabon-Vertrag aufgenom­ men ist. Zwar erhielt die Grundrechte-Charta nicht die herausragende Stellung, die ihr im ursprünglichen EU-Verfassungsvertrag als einleitende Sektion vorgesehen war; je­ doch ist sie durch einen Verweis im Lissabon-Vertrag nun allgemeines europäisches Recht. Als bedeutende Neuerung gilt darüber hinaus die Profilierung der globalen Rol­ le der EU durch die Einführung des neuen Amtes des Hohen Vertreters bzw. der Ver­ treterin für die Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Amt wurde zwischen 2009 und 2014 von Catherine Ashton ausgeübt und von 2014 bis 2019 folgte ihr Frederica Mog­ herini als „Außenministerin“ der EU. Mit dem Amt wurde auch ein europäischer diplo­ matischer Dienst eingerichtet, der European External Action Service (EEAS), mit rund 1500 Mitarbeitern, der sich aus Vertretern nationaler Diplomaten, der EU-Kommissi­ on und des Rates zusammensetzt. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungs­ politik soll zudem kohärenter ausgestaltet werden, um globale Aufgaben zu erfüllen. Außerdem hat die EU als Rechtspersönlichkeit nun völkerrechtlich die Möglichkeit, internationale Verträge abzuschließen.

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6.2 Theorien und Leitbilder der europäischen Integration Warum sind Staaten bereit, Souveränität auf die supranationale Ebene der EU zu transferieren und neuen Institutionen Kompetenzen zu übergeben? Was zeichnet die europäische Integration aus? Diese Fragen werden bei der Theoriebildung in der Eu­ ropa-Forschung, einem Teilgebiet der Internationalen Beziehungen, auf recht unter­ schiedliche Weise beantwortet. Dabei lassen sich zunächst zwei Denkschulen unter­ scheiden. Die erste geht davon aus, dass sich mit der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Union eine neue supranationale Form der politischen Integration entwickelt hat, deren Institutionen eine eigene Dynamik entwickeln, welche wiederum weitere Inte­ gration auf anderen Gebieten nach sich zieht, ein Prozess, der auch „Spill-over“-Effekt genannt wird. Während der europäische Föderalismus die Integration in der Tradi­ tion der Bildung föderaler Staaten als politisches Projekt sieht, ist das Modell der Funktionalisten für die regionale Integration eher ökonomisch fundiert. Beide Erklä­ rungsmodelle verstehen den Integrationsprozess jedoch als supranational gelenkten politischen Prozess, der politisch gewollt ist und Vorteile für die Mitgliedstaaten mit sich bringt, seien diese ideeller oder materieller Art. Eine zweite Denkschule geht davon aus, dass die Integration auf zwischenstaat­ lichen Verträgen beruht und, ähnlich wie andere internationale Organisationen, vor allem intergouvernementalen Charakter hat. Politisch sind Staaten in diesem Erklä­ rungsmodell die zentralen Akteure der europäischen Integration, die nur dann zu zwischenstaatlichen Übereinkünften im Sinne intergouvernementaler Kooperation bereit sind, wenn diese aufgrund eines rationalen Kalküls einen Nutzen verspricht und dem nationalen Interesse förderlich ist. Der Intergouvernementalismus nimmt an, dass die Langlebigkeit historisch geprägter nationaler Interessen einen Trans­ fer von Souveränität nur unter speziellen Bedingungen zulässt. Souveränität liegt ausschließlich bei den Staaten, die „Hüter“ ihrer Interessen bleiben. Daher ist die in­ tergouvernementale Denkschule skeptisch gegenüber dem föderalen Modell und sie lehnt eine gemeinsame Verfassung ab. Die Mitgliedstaaten bleiben die wichtigsten Akteure und individuelle Kosten-Nutzen-Kalküle bleiben als Handlungsmotivation dominant. Neuere Theorieansätze versuchen beide Denkansätze miteinander zu verbin­ den, um den Charakter der Europäischen Union – weder „föderaler Staat“ noch „internationale Organisation“ – und die Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft der Mitgliedsländer analytisch besser zu erfassen. Dabei werden sowohl staatliche Interessen als auch transnationale Akteure sowie die Eigendynamik der europäi­ schen Institutionen berücksichtigt. Konzeptionell sind diese neueren Ansätze darauf ausgelegt, den Integrationsprozess problem- und policy-orientiert zu analysieren, Formen von Governance herauszuarbeiten und die politische Dynamik des Integra­ tionsprozesses, etwa durch die Entwicklung von gemeinsamen Werten und Normen, zu erfassen.

6.2 Theorien und Leitbilder der europäischen Integration |

203

6.2.1 Integrationstheorien: Europa als supranationale Organisation Innerhalb der supranationalen Denkschule lässt sich zunächst zwischen Föderalis­ ten und Funktionalisten unterscheiden; beide gehen vom Paradigma supranationaler Integration aus. Analytisch unterscheiden sie sich jedoch in ihren Leitideen und Kon­ zeptionen für ein integriertes Europa. a) Föderalismus: Leitidee „Bundesstaat“ Bereits während des Zweiten Weltkriegs entstand eine europäische Bewegung, de­ ren Ziel es war, den übertriebenen Nationalismus, der Europa wiederholt in Kriege und gewaltsame Konflikte gestürzt hatte, durch die Idee eines geeinten Europas zu überwinden. 1944 wurde der erste „Kongress der europäischen Föderalisten“ in der Schweiz einberufen. Europa-Politiker, wie Altiero Spinelli und Jean Monnet, gehörten zum Kreis der Föderalisten. Ihr vorrangiges Ziel war es, den Nationalismus in Euro­ pa zu überwinden und eine neue, wohlstandsfördernde Friedensordnung aufzubau­ en. Vertreter einer gradualistischen Strategie, wie Monnet, sahen in der Bildung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (1951) einen ersten Ansatzpunkt zu kooperativen, föderalen Strukturen. Die Idee des Föderalismus, deren Leitbild ein eu­ ropäischer Bundesstaat ist, bleibt bis heute lebendig; sie ist streng genommen keine Theorie, sondern ein a) Erklärungsmodell für die europäische Integration und b) Leit­ bild für eine politische Bewegung. Die Föderalisten gehen davon aus, dass die europäische Integration am besten durch eine bewusste Entscheidung von Politikern gelingt, Europa auf der Basis ge­ meinsamer Zielsetzungen und Werte zu vereinen. Um der Integration als politischem Willen Ausdruck zu verleihen, wird eine gemeinsame Verfassung angestrebt, die einen gemeinsamen Rechtsrahmen schafft – ein Gedanke, den auch zeitgenössische Föderalisten unterstützen. Die Föderalisten brachten in ihre Leitideen politisch-nor­ mative, friedens- und ordnungspolitische Vorstellungen ein. Sie nahmen an, dass die europäische Integration mit dem Prozess der Nationalstaatsbildung im 18. und 19. Jahrhundert vergleichbar sei und auf die Bildung eines supranationalen Staa­ tes zuläuft. Nach Auffassung der Föderalisten sollte politische Institutionenbildung daher dem Ziel dienen, einen Bundesstaat einzurichten, in dem die supranationale Willensbildung nationalstaatlichen Interessen übergeordnet wird (function follows form). Als Modell für die föderale Verfassung eines integrierten Europas wurden die Schweiz oder die Vereinigten Staaten von Amerika herangezogen („United States of Europe“). Konzeptionell weist das föderale Modell einige Erklärungsdefizite auf, denn wie sich gezeigt hat, führen supranationale Politik- und Entscheidungsprozesse auf der europäischen Ebene nicht zwangsläufig zum Bedeutungsverlust nationaler Interes­ sen. Das Gegenteil könnte richtig sein: Je mehr die Integration voranschreitet, desto profilierter werden nationale Interessen eingebracht. Die Föderalisten der Nachkriegs­

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zeit unterschätzten die Probleme sozialer und ökonomischer Unterschiede zwischen den europäischen Gesellschaften, die zu unterschiedlichen Präferenzen in den Mit­ gliedsländern führen. Obwohl sich die EU immer mehr einem föderalen System annä­ hert, ist die Übertragung von Kompetenzen in den Politikbereichen sehr unterschied­ lich ausgeprägt; der unterschiedliche Grad integrierter Politikfelder wird beispielswei­ se im EU-Vertrag von Lissabon deutlich. So stellt sich heute die Frage, ob Integration in jedem Fall zu befürworten ist, bzw. in welchen Bereichen integrative Politik, d. h. ein Transfer von Kompetenzen auf die EU, bessere Problemlösungen anzubieten hat, und wann regionale oder nationale Lösungen zu präferieren sind. Ein europäischer Föderalismus setzt außerdem neben einer verfassungsmäßig legitimierten Gewalten­ teilung und Kompetenzregelung ein breiter verankertes, europäisches Bewusstsein sowie eine europäische Öffentlichkeit voraus, in der europapolitische Entscheidun­ gen über Grenzen hinweg diskutiert werden. Dennoch bleibt die Idee einer „Republik Europa“ auch heute noch lebendig (vgl. z. B. Guèrot 2017). b) Neo-Funktionalismus: Als klassischer Integrationsansatz gilt das von Ernst Haas entwickelte Konzept des Neo-Funktionalismus. Wie Haas in seiner Arbeit „The Uniting of Europe“ (1958) dar­ legte, haben supranationale Institutionen mit politisch verbindlicher Entscheidungs­ macht eine Initiativfunktion für das Vorantreiben der Integration. Haas untersuchte die Entwicklung von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951) bis zur Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957). Die funktionale Integration in einigen Sektoren der Wirtschaft mündete in die Etablierung der europäischen Wirtschafts­ gemeinschaft, die den freien Handel zwischen den sechs Gründungsstaaten ermög­ lichte und zudem den Agrarsektor durch Subventionen unterstützte. Damit sei, so die Grundannahme, ein entscheidender Schritt der supranationalen Zusammenarbeit ge­ tan worden, der in weitere, funktional bestimmte politische Integrationsschritte über­ gehen werde (spill over). Da hochkomplexe Industriegesellschaften vor allem durch miteinander verflochtene Funktionen verbunden sind, komme es aufgrund ähnlicher wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu einer supranationalen Organisation (form follows function). Der Ansatz von Haas gilt als erster systematischer Theorieansatz in der Integra­ tionsforschung. Haas war vor allem an der Frage interessiert, wie es zum Transfer von Kompetenzen und der Entstehung neuer Institutionen auf europäischer Ebene kam; dabei war sein funktionalistischer Ansatz beeinflusst von sozialwissenschaft­ lich-behavioristischen Theorien, d. h. politische Eliten und deren Verhalten spielten eine wichtige Rolle bei der Erklärung der sektoralen Integration. Das Problem dieses Modells bestand allerdings darin, dass es sektorale Erfahrungen in einigen Wirt­ schaftsbereichen (Kohle und Stahl) auf die politische Integration der Gemeinschaft überträgt und die integrierende Wirkung gemeinsamer Wirtschaftsinteressen auf die weitere politisch-institutionelle Entwicklung überschätzte. Ein weiteres Problem

6.2 Theorien und Leitbilder der europäischen Integration

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205

besteht darin, dass der Neo-Funktionalismus europäische Integration als kontinuier­ lichen, linearen Prozess ansieht, während Rückschläge und Blockaden nicht erklärt werden können. Dissonanzen zwischen nationalen Interessen und funktionalem, europäischem Prozess werden konzeptionell nicht aufgenommen. Unberücksichtigt bleiben in diesem Modell auch Fragen demokratischer Legitimation von politischen Entscheidungen sowie die Rolle der öffentlichen Meinung und die Partizipation der Bevölkerung. Der Neo-Funktionalismus beschreibt die Integration in erster Linie als Prozess, der von politischen oder wirtschaftlichen Eliten bestimmt wird und bleibt letztlich in seiner Überzeugungskraft auf sektorale Entwicklungen beschränkt.

6.2.2 Intergouvernementalisten: Europa als „Staatenbund“ Die Kategorien und Grundannahmen der intergouvernementalen Denkschule werden von der Theoriebildung in der Disziplin der Internationalen Beziehungen beeinflusst. Der intergouvernementale Ansatz ist keine allein auf Europa bezogene Theorie, son­ dern ein Erklärungsansatz zur Untersuchung zwischenstaatlicher Zusammenarbeit in der EU, die ähnlich auch in anderen internationalen Organisationen stattfinden kann. Nach Auffassung der Intergouvernementalisten wird der Kern der Integration durch zwischenstaatliche Verträge und Übereinkünfte gebildet. Vertreter des Inter­ gouvernementalismus verweisen auf die Langlebigkeit historisch geprägter nationa­ ler Interessen und das Primärmotiv von Staaten, ihre Souveränität zu erhalten und zu behaupten. Integration komme nur dann zustande, wenn eine partielle Interessen­ übereinkunft zwischen Kernländern besteht und Staaten bereit sind, Souveränität zu transferieren. Als es Mitte der 1980er-Jahre zu einem neuen Integrationsschub mit dem ange­ strebten Ziel kam, bis 1992 einen Binnenmarkt herzustellen, in dem es neben freiem Handels- und Warenverkehr auch zur freien Kapitalbewegung und zur Freizügigkeit von Bürgern und Bürgerinnen kommen sollte, beschäftigte sich der Intergouverne­ mentalismus mit der Frage, warum die europäischen Länder zu diesem weitgehenden Integrationsschritt bereit waren. Eine recht überzeugende Erklärung für diese Ent­ wicklung geben die amerikanischen Forscher Stanley Hoffmann und Robert Keohane mit ihrem Konzept der „pooled sovereignty“. Sie gehen davon aus, dass der Integra­ tionsschub in der Europäischen Gemeinschaft als Ergebnis strategischer Entschei­ dungen europäischer Staaten zu verstehen sei, die ihre nationalen wirtschaftlichen Interessen vorteilhafter im institutionellen Kontext der Gemeinschaft verwirklicht sahen als im Rahmen der nationalen Volkswirtschaften, und daher zum Souveräni­ tätstransfer bereit waren (vgl. Keohane/Hoffmann 1991). Andrew Moravcsik (1998), ein Schüler Hoffmanns, legte eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes vor, indem er ein Zwei-Ebenen-Modell der zwischenstaatlichen Verhandlungen einführte, in dem nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch wirtschaftliche Lobby- und Interessen­ gruppen eine Rolle spielen. Er zeichnet empirisch fundiert nach, wie sich nationale

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Interessen der drei „großen“ Länder, Frankreich, Großbritannien und die Bundesre­ publik insofern überlappten, als sie an der Modernisierung und Konkurrenzfähigkeit ihrer Wirtschaft interessiert und daher bereit zur Integration waren. Der Vertrag von Maastricht ist nach Moravcsik durch ein Drei-Stufen-Modell zu erklären: Bildung nationaler Präferenzen (national preferences), Verhandlungen (bargaining) und In­ stitutionenbildung (institutional choice) (vgl. Moravcsik 1998). Im Zentrum stehen dabei stets wirtschaftliche Interessen. Im Intergouvernementalismus wird die Europäische Union als Ergebnis von Ver­ handlungen auf Basis von nationalen Interessen konzeptualisiert, die auf den Gip­ feltreffen der Staats- und Regierungschefs eingebracht werden. Sie folgt nach diesem Ansatz dem Modell einer internationalen Organisation, die von Staaten aufgrund ver­ traglicher Übereinkunft eingerichtet wurde und in der Staaten die zentralen, legiti­ men Akteure sind. Eine weitere Grundannahme ist, dass die Mitgliedstaaten auf Basis rationaler Interessen handeln. Sie bringen ihre Präferenzen, z. B. in der Wirtschafts­ politik, in die zwischenstaatlichen Verhandlungen ein und versuchen ein optimales Verhandlungsergebnis im Interesse ihres Staates zu erzielen. Ähnlich wie neo-realis­ tische Theorien der internationalen Beziehungen betont dieser Ansatz also die Prio­ rität von Staaten bei der Kompetenzübertragung. Regulative Politik im Rahmen der EU erfolgt immer nur dann, wenn Staaten aufgrund partiell kongruenter Interessen zur Kooperation bereit sind und sich von der Zusammenarbeit einen Zugewinn ver­ sprechen, der größer ist als die Kosten, die die Integrationspolitik verursachen. Nach Auffassung der Intergouvernementalisten ist die EU also primär als Zweckbündnis zur Förderung einer global konkurrenzfähigen Wirtschaft zu verstehen. Kritische Einwände gegen das intergouvernementale Erklärungsmodell beziehen sich zum einen darauf, dass es die gestaltende Rolle von Ideen wie z. B. der Idee der „Sicherheitsgemeinschaft“ oder des Wirtschaftsliberalismus unterschätzt. Zum Zwei­ ten werden die Bedeutung von EU-Institutionen wie der Kommission als treibende Kraft der Integration sowie der Einfluss äußerer Anstöße vom Intergouvernementa­ lismus nicht genügend berücksichtigt. So unterschätzt dieses Modell nicht nur die Gemeinschaft mit ihren supranationalen Organisationen als Akteur, sondern in der Regel auch gesellschaftliche und transnationale Akteure. Neuere Ansätze, wie der Li­ berale Intergouvernmentalismus (Moravcsik/Schimmelfennig 2009), modifizieren da­ her die Akteursstruktur, indem sie von einer Pluralität der Akteure, zu denen vor al­ lem wirtschaftliche Interessengruppen und Policy-Netzwerke zählen, ausgehen. Al­ lerdings bleibt die Logik der Integration durch die Politik der EU-Staaten bestimmt, denn nur sie können einem Kompetenztransfer auf die EU-Ebene zustimmen. Ihre Prä­ ferenzen bilden sich nach Auffassung der Intergouvernementalisten aufgrund von in­ nenpolitischen Interessenkonstellationen. Prozesse des zwischenstaatlichen Aushan­ delns sind zentral, um zu erklären, wie es zu einem Transfer von Kompetenzen auf die supranationale Ebene kommen kann. Die Idee der Weiterentwicklung der EU zu einem Bundesstaat mit gemeinschaftlichen Werten und Normen und einer Verfassung wird dagegen skeptisch beurteilt. So wurde die EU-Verfassungsdiskussion beispielsweise

6.2 Theorien und Leitbilder der europäischen Integration

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207

von den Intergovernementalisten kritisiert, da sie eine politische Integration anstreb­ te, die für die EU als Wirtschaftsgemeinschaft unangemessen sei. Auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sieht diese Denkschule in erster Linie nur Kooperation, nicht Integration.

6.2.3 Integration als dynamischer Mehrebenen-Prozess: Neuere Erklärungsansätze Angesichts der Dynamik der europäischen Integration nach der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags 1992 bemühte sich die Europaforschung, Integration mit eini­ gen neueren Ansätzen zu erklären, die nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile, son­ dern auch politische und institutionelle Prozesse berücksichtigen. Dabei wird häufig versucht, supranationale und intergouvernementale Erklärungsansätze miteinander zu verbinden, Integration anhand von konkreten Politikfeldern zu untersuchen, Pro­ zesse zu vergleichen sowie empirischen Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit zu wid­ men. Auch methodisch ist die neuere Forschung vielfältiger geworden. Die Ausweitung der Kompetenzen der EU auf neue Gebiete, wie die Währungsund Finanzpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, Migration sowie Umwelt und So­ ziales bildet den Ausgangspunkt einer neuen Integrationsliteratur. In diesen Arbeiten wird versucht, europäische Integration als komplexen Prozess zu verstehen, der As­ pekte des innenpolitischen Regierens beinhaltet (domestic regime), sich aber grund­ legend vom Prozess der Staatenbildung unterscheidet. So schlägt der amerikanische Europaforscher Gary Marks vor, die beiden in der Literatur erwähnten Vergleichs­ modelle, nämlich zum einen internationale Organisationen und zum anderen die Nationalstaatsbildung von föderal verfassten politischen Systemen durch ein drit­ tes Modell zu ersetzen. Darin wird der integrative Charakter des EU-Prozesses zum analytischen Ausgangspunkt genommen, der durch die zunehmende Verknüpfung von innen- und europapolitischen Entscheidungsprozessen zustande kommt (Marks 1998: 23; Hooghe/Marks 2001). Gemeinsam mit Liesbet Hooghe entwickelte Marks das analytische Konzept des Regierens im Mehrebenensystem (multi-level governance) in der EU, welches inzwischen in der EU-Forschung weite Verbreitung gefunden hat. Eine Besonderheit der Entwicklung zur Union besteht dabei darin, dass sie durch einen politischen Prozess entstanden ist, an dessen Anfangspunkt vertragliche Re­ gelungen standen wie z. B. die Römischen Verträge. Diese weitere Integration wird durch Rechtssetzung der EU auf verschiedenen Ebenen geprägt, sodass die EU-Insti­ tutionen, bereits ausgestattet mit weitreichenden Kompetenzen, ein entscheidendes Gewicht beim weiteren Souveränitätstransfer haben. Marks bezeichnet die EU daher als eine „constitutionally constructed polity“ (Marks 1998: 31), eine vertragsmäßig konstruierte Gemeinschaft, welche jedoch, anders als von den Föderalisten ange­ nommen, keinem wirklichen „master plan“ folgt. Zugleich geht sie über ein reines Verhandlungssystem, wie es die Intergouvernementalisten zugrunde legen, hinaus. Die Übertragung von Kompetenzen erfolgt vielmehr in einem vielschichtigen und

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komplexen Zusammenspiel von regionalen, nationalen und europäischen Institutio­ nen, die eine eigene polity, ein europäisches politisches System entstehen lassen. Eine Reihe weiterer Arbeiten, die die beiden klassischen Denkschulen (suprana­ tionales und intergouvernementales Paradigma) zu verbinden versuchen, bzw. sich für policy-outcomes und Politikfelder interessieren, entstanden in den 1990er-Jahren. Zu nennen sind dabei „new institutionalism“ (Simon Bulmer; Paul Pierson), die „po­ licy-network analysis“ (John Peterson), Gender-Analyse (Catherine Hoskyns; Sabine Lang) und die Weiterentwicklung von „multi-level governance“ (Gary Marks; Liesbet Hooghe; Beate Kohler-Koch; Markus Jachtenfuchs u. a.). Durch die Fokussierung auf „Regieren“ (Governance) in der Europäischen Union entsteht eine Reihe von theore­ tischen Folgefragen. So thematisiert die neuere Forschungsdiskussion ausführlicher das Demokratieproblem, Fragen politischer Legitimation, Identitätsbildung und die Politisierung von Europafragen durch Euroskeptizismus und Rechtspopulismus (vgl. Hooghe/Marks 2009). In der Europaforschung werden darüber hinaus häufig auch sozialkonstruktivisti­ sche Ansätze verwandt. Europa wird in diesen Arbeiten als soziale Konstruktion auf­ gefasst, die historisch kontingent und im Rahmen von sozialen Prozessen entstanden ist. Die EU beruht danach auf diskursiver und kommunikativer Praxis sowie auf Ide­ en, die sich auf das gesamte Europa beziehen. Zentrale Themen in den konstruktivis­ tischen Arbeiten sind europäische Identitätsbildung, die Bedeutung von kollektiven Normen und Regeln sowie die Sprache und „Sprachspiele“ im europäischen Prozess. Neben einem soziologischen Konstruktivismus (Risse 2009; Ruggie 1998) kann auch ein radikaler, epistemologischer Konstruktivismus ausgemacht werden, dessen Aus­ gangspunkt in der kognitiven Unerschließbarkeit der ontologischen Realität besteht. Im Unterschied zur Debatte um Governance geht es dabei allerdings nicht primär um politische Entscheidungsprozesse oder die Organe der EU, sondern vielmehr um die soziale und ideelle Konstruktion dieser Institutionen, die Entstehung von Normen, Re­ geln und Vereinbarungen, und die Konstruktion der europäischen Idee. In der sozial­ konstruktivistischen Forschung wird die EU in ihrer Eigenlogik und der Konstruktion spezifischer Politikkonstellationen und -entscheidungen untersucht. Als besonders fruchtbar hat sich der Sozialkonstruktivismus etwa angesichts der Rekonstruktion ei­ nes neuen „Gesamteuropa“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erwiesen, die hier schärfer beleuchtet wird (vgl. Schimmelfennig 2003). Auch „Lernprozesse“ und kom­ munikatives, auf Argumenten und Überzeugungen beruhendes, politisches Handeln sind Gegenstand der Forschung. Im Unterschied zum Verhandeln (bargaining) des rationalen sowie liberalen Intergouvernementalismus nimmt das Überzeugen durch Argumente und Deliberation (arguing) eine wichtige Funktion in der Integration ein. Aber auch Gegenbewegungen, wie der gewachsene Euroskeptizismus während der Eurokrise und der Einfluss von rechtspopulistischen Strömungen lassen sich mithilfe sozialkonstruktivistischer Methoden analysieren. Die Theorien der europäischen Integration lassen sich wie folgt in einem dif­ ferenzierten Schema klassifizieren:

politische Eliten Europapolitiker Bevölkerung (permissiv)

politische und wirtschaftliche Integration (spill over) Verfassung

supranationale föderale Ord­ nung Bundesstaat

Föderalisten (Spinelli; Monnet) Neo-Funktionalisten (Haas; Mitrany)

Akteure

Fokus

Europa-Konzept

Richtungen, Vertreter

Quelle: Eigene Zusammenstellung (2018).

Überwindung von nationalem Egoismus Kooperation

Grundannahme

supranationales Paradigma

liberaler Intergouvernementa­ lismus (Moravcsik; Schimmel­ fennig)

Staatenbund

nationale Interessen und Präferenzen staatliche Souveränität wirtschaftliche Macht Bargaining

Nationalstaaten politische Eliten wirtschaftliche Interessengr.

Langlebigkeit von nationalen Interessen Dominanz von Staaten

staatszentriertes Paradigma/ Inter- Gouvernementalismus

Tab. 6.1: Theorien und Modelle der europäischen Integration.

Neo-Institutionalismus (Bulmer; Pierson) Policy-Network Analysis Multi-level Governance (Marks; Hooghe)

EU als Mehrebenensystem (multi-level governance)

Governance bzw. Regieren ohne Regierung Institutionen, Politikfelder (policies)

EU-Institutionen und National­ staaten nicht staatliche Organis. (NGOs) transnationale Akteure

Eigendynamik der EU Theorien „mittlerer Reichweite“

Governance: integrative Erklärungsmodelle

sozialer Konstruktivismus (Katzenstein; Ruggie; Risse) radikaler Konstruktivismus

Europa als „soziale Konstruk­ tion“

kollektive Normen und Regeln Diskurse („Sprachspiele“) Identität „Arguing“

politische Eliten transnationale Akteure gesellschaftliche Gruppen

Ideen sind entscheidend Realität ist sozial konstruiert historisch kontingent

konstruktivistische Ansätze

6.2 Theorien und Leitbilder der europäischen Integration |

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6.3 Die Institutionen der EU Die europäische Integration ist auf wirtschaftlichem Gebiet am weitesten fortgeschrit­ ten. Hier hat sie ihre längste Geschichte, die mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 einsetzt; die Funktionsweise der supranationalen Institutionen ist heute dementsprechend eingespielt. Erst in jüngerer Zeit sind Bereiche hinzuge­ kommen, die Kerngebiete staatlicher Souveränität betreffen und daher besonders lange als staatliche Hoheitsgebiete betrachtet wurden, wie die Entwicklung einer ge­ meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit entsprechenden neuen Institutionen. Charakteristisch ist für die EU der institutionelle Mix von nationalstaatlichen und supranationalen Kompetenzen. Im Bereich des Binnenmarktes hat die Europäische Union weitgehende gemein­ schaftliche Regelungen eingeführt. Wichtigste Schritte nach dem Vertrag von Maas­ tricht waren zunächst a) der weitere Abbau von Handelshemmnissen bzw. die Libe­ ralisierung des Marktes mit der Durchsetzung der „vier Freiheiten“ in den Bereichen Arbeit, Kapital, Handel und Dienstleistungen, und b) die Wirtschafts- und Wäh­ rungsunion mit der Einführung der gemeinsamen Währung; sie wird inzwischen von 19 Staaten der EU benutzt und dient als Berechnungsgrundlage für den Han­ del zwischen allen Mitgliedsländern. In anderen Politikfeldern, wie in der Umwelt, Sozial-, Bildungs- und Kulturpolitik, erfolgte die Europäisierung über Steuerungs­ elemente, wie gemeinsame Erklärungen (z. B. Bologna-Prozess zur Studienreform), Aktionspläne (z. B. Gender Mainstreaming; Biodiversitätsstrategie) und Richtlinien (z. B. Elternzeitrichtlinie; Verbraucherschutz). Europäisierung meint dabei den wach­ senden Einfluss der EU auf nationale Politikfelder, aber auch die supranationale Abstimmung in verschiedenen politischen Bereichen, in denen nationale Regierun­ gen ihren Einfluss geltend machen. Staaten können in der Europäisierung entweder als Beschleuniger (driver) oder Bremser (breakmen) fungieren. Die Europäisierung kann am besten als zweigleisiger Prozess der Politikgestaltung betrachtet werden, bottom-up mit der Initiative von Mitgliedsstaaten auf der EU-Ebene oder top-down durch die Beeinflussung nationaler Gesetzgebungen durch EU-Regelungen. Nach dem Vertrag von Lissabon (2009) besteht die EU aus folgenden Hauptorga­ nen: – EU-Kommission: Sie gilt als „Motor der Integration“ und besitzt auch nach dem Lissabon-Vertrag als einzige Institution das Initiativrecht, d. h. sie kann Geset­ zesvorschläge einbringen. Sie ist mit 28 Kommissionsmitgliedern, die für fachlich aufgeteilte Generaldirektionen zuständig sind, gleichzeitig als ständige Behörde das Exekutivorgan der EU, das die Einhaltung von Richtlinien und Verordnun­ gen überwacht. Insofern laufen in der Kommission administrative, gesetzgebende und exekutive Funktionen zusammen. – Europäischer Rat: Er besteht aus den Vertretern der Staats- und Regierungschefs, die sich regelmäßig zu Konsultationen treffen und in der Regel zwei Mal im Jahr über zentrale Themen beraten und entscheiden. An den Sitzungen nehmen auch

6.3 Die Institutionen der EU







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211

der Präsident der EU-Kommission sowie die Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik teil. Der Rat ist nicht an der alltäglichen Rechtssetzung der EU beteiligt, sondern übernimmt die Aufgabe, die Richtlinien bei zentralen Themen zu entwickeln, Schwerpunkte festzulegen und Impulse für die Arbeit der EU-Insti­ tutionen zu geben. Er spielt eine besonders große Rolle bei Fragen der Außenbe­ ziehungen, bei der Terrorismusbekämpfung oder in Krisenfällen. Der Europäische Rat ist, im Unterschied zur EU-Kommission, eine intergovernementale Institution der EU. Mit Blick auf die teils divergente Interessenlage innerhalb der EU über­ nimmt er also die entscheidende Rolle des Vermittlers zwischen den Staaten und Regierungen. Entsprechend dem Vertrag von Lissabon wählt er alle zweieinhalb Jahre einen ständigen Vorsitzenden bzw. Präsidenten, der die Kontinuität der Ar­ beit gewährleisten soll. Rat der Europäischen Union (Ministerrat): Hier sind je nach Politikfeld die Fach­ ministerien der Mitgliedsländer vertreten. Der Ministerrat entscheidet in gemein­ schaftlichen Belangen und hat legislative Funktionen. Er gewährleistet die Kon­ tinuität der EU-Politik und verbindet intergovernementale und supranationale Aufgaben. Die meisten Entscheidungen im Rat werden mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Einstimmigkeit ist nur noch in wenigen Fragen erforderlich, was den Entscheidungsprozess erleichtert, zugleich aber auch jedem Land Kompromisse abfordert. Die Abstimmung erfordert eine doppelte Mehrheit: mindestens 55 Pro­ zent der Mitgliedstaaten (16 von 28 Ländern) müssen der Entscheidung zustim­ men und diese Staaten müssen zusammen 65 Prozent der Bevölkerung repräsen­ tieren. Daher sind die Stimmen nach der Größe des Landes gewichtet. Deutsch­ land hat im Ministerrat dieselbe Stimmenzahl wie die anderen großen Länder Frankreich, Italien und Großbritannien. Die Ratspräsidentschaft rotiert zwischen den Mitgliedsländern alle sechs Monate. Europäisches Parlament: Das Europäische Parlament (EP) ist eine supranationa­ le Institution. Es wird seit 1979 alle fünf Jahre direkt von den Bürgern in den Mit­ gliedsländern gewählt und hat 751 Abgeordnete. Im EP sind verschiedene Parteien vertreten, die nach Parteienfamilien, nicht nach Ländergruppen organisiert sind. Die Mehrheit stellt die Europäische Volkspartei (EVP), der auch die CDU- und CSUVertreter angehören. Das Europäische Parlament hat seit dem Vertrag von Amster­ dam (1997) stetig mehr Rechte über das Mitentscheidungsverfahren erhalten. Sei­ ne Gesetzgebungsfunktion teilt sich das Europäische Parlament mit dem Minister­ rat der EU. Obwohl die Kompetenzen des Parlaments gewachsen sind, nimmt die Wahlbeteiligung seit der ersten Direktwahl kontinuierlich ab, schwankt jedoch stark zwischen den Mitgliedsländern. Im EP sind auch europaskeptische Parteien sowie Parteien, die die europäische Integration ablehnen, vertreten. Die nächste Wahl zum EP findet 2019 statt. Europäischer Gerichtshof : Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet Streit­ fragen im Gemeinschaftsrecht bzw. in vertraglich geregelten Bereichen der EU. Er hat im Zuge der Verrechtlichung und Verregelung europäischer Politik ebenfalls

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ein stärkeres Gewicht bekommen, was nicht zuletzt anhand der steigenden Zahl von Verfahren deutlich wird. Der EuGH ist eine supranationale Institution. Er wird häufig als Beschleuniger der EU-Integration bezeichnet, da seine Entscheidungen zur Europäisierung von Recht und Politik in den Mitgliedstaaten beitragen. Euro­ päisches Recht ist dem nationalen Recht übergeordnet. Europäische Zentralbank: Die Europäische Zentralbank (EZB) ist zuständig für die gemeinsame europäische Währung, den Euro. Sie ist politisch unabhängig und setzt sich aus den 19 Ländern der EU zusammen, die seit 1999 den Euro einge­ führt haben. Ihre Aufgabe ist es, die Kaufkraft des Euro und somit Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten. Seit der Finanzkrise in Irland und Portugal sowie der Krise im Staatshaushalt Griechenlands hat die EZB, zusammen mit dem Inter­ nationalen Währungsfond, die Regulierung der Milliardenhilfen für die betroffe­ nen Länder übernommen. Als Präsident der EZB wurde im Juni 2011 der Italiener Mario Draghi ernannt, der das Amt für acht Jahre übernommen hat. Weitere Institutionen: Neben diesen Organen bestehen auf der EU-Ebene in Brüs­ sel Vertretungen der (Bundes-)Länder und Regionen, zusammengeführt im Aus­ schuss der Regionen, sowie eine Vielzahl von Lobby- und Interessengruppen sowie Nichtregierungsorganisationen mit Vertretungen in Brüssel. Letztere werden teil­ weise bei Beratungen über neue Richtlinien und Verordnungen von der EU-Kom­ mission als Experten angehört.

Die Europäische Union wird häufig als politische Gemeinschaft sui generis bezeichnet. Das bedeutet, dass sich der Aufbau und die Funktionsweise der EU-Institutionen von politischen Institutionen unterscheiden, die aus den Mitgliedstaaten – selbst den fö­ deral verfassten Staaten – bekannt sind. Das wohl auffälligste Kennzeichen der Kom­ petenzverteilung auf der supranationalen europäischen Ebene ist, dass allgemeinver­ bindliche Entscheidungen nicht allein durch das Parlament, sondern von einem aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzten Gremium, dem Rat der Europäischen Union, getroffen werden. Zugleich kann der Rat nicht autonom han­ deln, sondern er ist auf vielfältige Weise mit den anderen Institutionen verknüpft. Zunächst ist hier die Europäische Kommission zu nennen, die als ständige Bürokratie nicht nur das alleinige Initiativrecht für europäische Gesetzgebungen besitzt, sondern auch für die Umsetzung der Gemeinschaftspolitik zuständig ist. Die legislative Funk­ tion teilt sich der Rat mit dem Europäischen Parlament, das über das Mitentschei­ dungsverfahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat; seine Rechte wurden in den letzten Jahren ständig erweitert. Obwohl häufig als „schwaches“ Parlament kriti­ siert, hat das EP dadurch an Selbstbewusstsein gewonnen. So müssen sich Brüsseler Kommissare, die vom Kommissionspräsident ernannt werden, einem öffentlichen An­ hörungsverfahren im Parlament stellen. Die Diskussion über den institutionellen Aufbau der EU und ihre Reformen ist bis heute nicht abgebrochen (vgl. z. B. Schmalz-Bruns 2002; Guérot 2017). Anders als in den meisten europäischen Ländern üblich hat die EU beispielsweise keine Verfas­

6.3 Die Institutionen der EU

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sung. Sie beruht nach wie vor auf zwischenstaatlichen Verträgen. Jürgen Habermas, ein kritischer Europa-Befürworter, unterstützte die Idee einer europäischen Verfas­ sung und beteiligte sich mehrfach am öffentlichen Diskurs über die EU-Reform. Er vertrat die Auffassung, dass eine solche Verfassung die notwendige politische Legiti­ mation der EU stärken könne, sodass sie tatsächlich als politisches Gemeinwesen und nicht nur als technokratische, von wirtschaftlichen Interessen getriebene Gemein­ schaft wahrgenommen wird (vgl. Habermas 2001). Die Bürgerbeteiligung sei im In­ tegrationsprozess vernachlässigt worden und Habermas plädiert dafür, sie durch die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit zu stärken. Außerdem könnte eine ge­ meinsame Verfassung – angesichts der kulturellen, religiösen und regionalen Unter­ schiede in Europa – die gemeinsam geteilten Grundwerte und -rechte zum Ausdruck bringen und den Gedanken einer europäischen Wertegemeinschaft stärken. Der His­ toriker Jürgen Kocka (2002) unterstreicht ebenfalls den Gedanken einer europäischen Wertegemeingemeinschaft, indem er die identitätsbildende Funktion hervorhebt, die der Diskussion über die gemeinsamen Grund- und Freiheitsrechte nach der Öffnung Europas 1989/90 zukam. Gerade die Zivilgesellschaft sei dadurch gestärkt worden. Konsequent fortgesetzt könnte eine EU-Verfassung die Grund- und Freiheitsrechte, die in der europäischen politischen Tradition verankert sind, und nicht zuletzt die zivil­ gesellschaftlichen Elemente demokratischer Repräsentation stärken. In Deutschland wurde die Diskussion um eine europäische Verfassung empha­ tisch als „Auszug der Handwerker“ (in der pragmatischen Tradition Monnets) und als „Einzug der Architekten“ begrüßt – so der damalige Außenminister Joschka Fi­ scher (2000) in seiner „Berliner Rede“.¹ Eine europäische Verfassung sollte der Vi­ sion eines neuen Europas entsprechen, welches nicht nur wirtschaftliche Ziele und die Politik der kleinen Schritte verfolgte, sondern die politische Vision eines nach der Spaltung wieder geeinten Europas verkörpert. Trotz hoher Erwartungen an die Archi­ tekten des europäischen Verfassungsvertrages, wurde der am 16. Juni 2003 vom Ver­ fassungskonvent vorgelegte Gesamtentwurf ein Kompromiss aus sehr unterschiedli­ chen politischen Vorstellungen der Mitgliedsparteien und Akteure im Konvent. Der Verfassungsvertragsentwurf repräsentierte daher nicht einen „europäischen Gesamt­ willen“, sondern wurde zu einem Spiegel unterschiedlichster historisch-kulturell ge­ prägter Vorstellungen vom Regieren in Europa, praktischer Erwägungen und takti­ scher Kompromisse. Zudem enthielt der Text etliche verfassungsfremde institutionelle und technische Regelungen. Kritikpunkte waren neben der Schwerfälligkeit des Tex­ tes schließlich auch seine Länge. Angesichts der Bedeutung von europäischen Richtlinien und Verordnungen für die nationale Politik erschien vielen Kritikern der demokratische Einfluss auf EU-

1 Joschka Fischer (2000). Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der eu­ ropäischen Integration. „Humboldt-Rede“, 12.05.2000, online verfügbar unter: https://www.europa. clio-online.de/quelle/id/artikel-3231 (aufgerufen am 24.05.2018).

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Entscheidungen noch zu gering. Europakritiker auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums lehnten darüber hinaus die EU-Verfassung ab, da sie das Europaprojekt grundsätzlich mit Skepsis beurteilten. Aber selbst bei den Eu­ ropabefürwortern wurden immer wieder Fragen nach dem politischen Einfluss von Bürgerinnen und Bürgern aufgeworfen. Selbst Habermas beklagte, dass eine euro­ päische Öffentlichkeit, die die Demokratisierung vertiefen könnte, nicht entstanden sei. Eine weitere Frage ist, ob sich im Zuge der europäischen Integration neben der na­ tionalen auch eine europäische Identität herausbildet (vgl. Marks/Hooghe 2001; Ris­ se 2009). Inwiefern wird die EU von den Bürgern der Mitgliedsländer als identitäts­ stiftend wahrgenommen? Welche Werte und Vorstellungen verbindet die Bevölkerung mit der Europäischen Union, welche mit Europa? Diese Diskussion ist im Schnittfeld zwischen theoretisch-konzeptionellen Fragen und empirischer Untersuchung ange­ legt, um beispielsweise mithilfe der im Eurobarometer veröffentlichten Einstellun­ gen Aufschluss über die europäische Identität zu gewinnen. Die Europaforscher Ga­ ry Marks und Liesbet Hooghe argumentieren, dass europäische Identität als dyna­ mische, historisch kontingente Erscheinung zu verstehen ist, die sich als ein Netz unterschiedlicher Loyalitätsbindungen denken lässt, das durch soziale Erfahrungen und Sozialisation entsteht. Für diese Identitätskonzeption haben sie den Begriff von „nested identity“ geprägt. Nested identity bezeichnet eine miteinander verknüpfte, vielschichtige Identität, die auf einem dynamischen Modell beruht. Die Forscher zei­ gen empirisch auf Basis von Eurobarometer-Daten, dass Bürger in europäischen Län­ dern neben ihrer nationalen Identität zunehmend Bindungen an die europäische Ge­ meinschaft herausgebildetet haben (vgl. Hooghe/Marks 2001). Sie bezeichnen diese Identitätsstruktur als „multiple Identität“ (multiple identities). Identität kann aber auch zu divergenten Entwicklungen führen: Der wachsenden Aufgeschlossenheit ge­ genüber transnationaler europäischer Politik steht andererseits der Wunsch nach Ab­ schottung gegenüber; beides sind gegenläufige Entwicklungen einer zunehmend glo­ balisierten Welt, wie Hooghe und Marks argumentieren (Hooghe/Marks 2009). Andere Untersuchungen zeigen, dass die Bindung an Europa positiv mit dem Bildungsstand, dem Einkommensniveau und politischen Gesamtauffassungen korreliert (vgl. Risse 2009). Daran geknüpft wird die Erwartung, dass die Entwicklung einer europäischen Identität durch höhere Mobilität, konkrete Inhalte von Bildung und Erziehung sowie die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit gefördert werden könne. In der Eu­ ropaforschung wird außerdem darauf hingewiesen, dass es in diesem Zusammenhang wichtig ist, zwischen einer „europäischen Identität“ und einer „EU-Identität“ zu dif­ ferenzieren. „People might feel a sense of belonging to Europe in general while feeling no attachment to the EU at all – and vice versa.“ (Risse 2009: 169). Mit der EU-Erwei­ terung bestimmt die Union jedoch immer mehr das Bild Europas. Zu „Europa“ zu ge­ hören, wird immer mehr identifiziert mit der Zugehörigkeit zur EU. Auch aus diesem Grund ist die institutionelle Verfasstheit der EU immer wieder Thema kontroverser Debatten.

6.4 Regieren in der EU

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Die Arbeit der EU-Institutionen beruht also bis heute auf zwischenstaatlichen Ver­ trägen. Zugleich bezieht sich die EU auf die Idee gemeinschaftlicher Werte und Nor­ men, deren vertragliche Verankerung in einer gemeinsamen Verfassung zwar geschei­ tert, in der Praxis jedoch in vielfältiger Form in der Europäisierung von Politikfeldern wirksam ist. Sie ist somit mehr als eine internationale Organisation und gleicht immer mehr einem Bundesstaat.

6.4 Regieren in der EU Wie kann ein hochkomplexes politisches Mehrebenen-System wie die EU mit einer großen Zahl an Mitgliedsländern effizient und transparent regiert werden? In der Eu­ ropaforschung wurde hierzu aus der angelsächsischen Politikwissenschaft der Begriff Governance übernommen, der für die unterschiedlichen Politikfelder als „economic governance“, „security governance“, „environmental governance“ usw. untergliedert werden kann. Der Begriff Governance meint im Allgemeinen politische Prozesse, die an verrechtlichte Normen und eingeübte Regeln im Rahmen politischer Institutionen geknüpft sind, aber nicht unbedingt einer Regierung im herkömmlichen, national­ staatlich verfassten Sinn bedürfen. Die Staaten bzw. ihre Regierungen können an den Entscheidungen maßgeblich beteiligt sein, müssen es aber nicht. Wie Markus Jachten­ fuchs und Beate Kohler-Koch schreiben: „Thus, we define governance as the contin­ uous political process of setting explicit goals for society and intervening in it in or­ der to achieve these goals.“ (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2005: 99). Wie alle politischen Prozesse in demokratisch verfassten politischen Systemen müssen die Verfahren und Entscheidungen jedoch legitimiert werden, d. h. sie müssen von den Beteiligten als rechtmäßig anerkannt und in der Praxis etabliert sein. Inwieweit diese Legitimität in der EU gegeben ist, ist in der Europaforschung heute eine zentrale Frage. Das Governance-Konzept beruht auf der Beobachtung, dass die herkömmlichen zwischenstaatlichen Beziehungen der europäischen Länder immer mehr Züge der Innenpolitik annehmen. So ist Europapolitik heute kein Teilbereich der auswärti­ gen Beziehungen mehr, vielmehr sind zentrale Politikfelder wie die Wirtschafts- und Umweltpolitik, Arbeitsmarktregelungen, Regional- und Gesundheitspolitik sowie die Migrations- und Asylpolitik durch europäische Entscheidungen beeinflusst und gere­ gelt. Sie werden so zu transnationalen Politikfeldern. Durch diese Tendenz der „Ent­ grenzung“ des Politischen komme es zu einer nachlassenden Steuerungsfähigkeit von Staaten im Rahmen nationalstaatlicher Politik, so argumentieren beispielsweise Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch (2005). Zugleich gewinnen Entscheidun­ gen auf der europäischen Ebene zunehmend an Bedeutung für die Mitgliedsländer der EU. Dies führt unter anderem zur Aufwertung transnationaler Akteure. Durch die Diffusion von Macht, die für die Europäische Union aufgrund der Kompetenzverflech­ tungen charakteristisch ist, entstehen so verschiedene Zentren der Entscheidungs-, Normen- und Kompetenzbildung (vgl. Olson/McCormick 2017).

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Regieren innerhalb der EU erfolgt auf mehreren Ebenen, die wiederum mitein­ ander verflochten sind. Dabei existieren kein einheitliches Machtzentrum und kein europäisches Gewaltmonopol. Vielmehr ist das europäische Regieren ein Prozess, in dem sowohl die Staaten als auch die Institutionen der EU Kompetenzen besitzen. Gov­ ernance bezeichnet daher die Formen politischer Entscheidungsfindung, die in der Union als Mehrebenensystem vorherrschen, treffender als herkömmliche politischtheoretische Begriffe, die auf der Analyse von Staaten beruhen. Grundlage für politische Entscheidungen ist das Subsidiaritätsprinzip, d. h. die europäische Ebene soll nur das regeln, was die Mitgliedsländer nicht regeln können. Dieses Prinzip ist auch im Lissabon-Vertrag verankert. Mit der „Open Method of Co­ ordination“ (OMC) können sich Länder außerdem auf gemeinsame Vorgehensweisen verständigen, wie z. B. in der Forschungs-, Sozial-, und Gesundheitspolitik, ohne dass es einer gemeinschaftlichen EU-Richtlinie bedarf. Für die Analyse der EU hat sich das Modell des Regierens im Mehrebenensys­ tem (multi-level governance) bewährt: So sind heute in der Bundesrepublik mehr als zwei Drittel aller Gesetze von europäischen Richtlinien, Verordnungen und Ent­ scheidungen beeinflusst. Zugleich hat die Bundesrepublik nicht nur über den Rat, die Kommission und das Europäische Parlament Einfluss auf europäische Entschei­ dungen, sondern auch über die Vertretungen der Bundesländer und eine Vielzahl von Interessen- und Lobbygruppen in Brüssel. Entscheidungsebenen im Multi-LevelGovernance-Modell sind die regionale (Länderebene), die nationale (Regierungen, Parlamente) und die europäische Ebene. Macht ist in der EU verteilt und verschränkt; die Mitgliedstaaten sind die wichtigsten Akteure, aber die EU hat als Akteur inzwi­ schen ein eigenes Gewicht erhalten.

6.4 Regieren in der EU

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supranationale Ebene

Organe der EU

Europäischer Rat Europäische Kommission

Rat der EU (Ministerrat)

Europäisches Parlament

Gerichtshof der EU

Gesetzgebung

Rechtsprechung

Europäischer Rechnungshof

Europäische Zentralbank Wirtschafts- und Sozialausschuss

Ausschuss der Regionen

Beratung Alle Mitgliedstaaten. Besondere institutionelle Vorgaben. Akteure: nationale Regierungen, Parlamente, Parteien, Verbände, Bevölkerungen

nationale Ebene

Regionale Einheiten in einigen der Mitgliedstaaten. Besondere institutionelle Vorgaben. Akteure: subnationale Regierungen, Verwaltungen, Parlamente, Parteien, Verbände etc.

subnationale Ebene

Abb. 6.1: Das Mehrebenensystem der EU, Quelle: http://www.dadalos-d.org/europa/grundkurs_4. htm (aufgerufen am 08.01.2018).

6.4.1 Economic Governance: Wirtschafts- und Währungsunion Das Kernstück europäischen Regierens betrifft die Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Binnenmarkt und der Einführung des Euro. Länder, die in die EU aufgenom­ men werden, verpflichten sich, die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags ein­ zuhalten und nach einer Übergangszeit den Euro einzuführen. Nur wenige Mitglieds­ länder konnten Sonderbedingungen aushandeln und haben den Euro nicht einge­ führt; dazu gehören Großbritannien, Schweden und Dänemark. Trotz der Krise in den Euroländern Südeuropas und Irlands in den Jahren 2010–2013 ist der Euro als Wäh­ rung relativ stabil geblieben und gehört heute zur wichtigsten Reservewährung nach dem US Dollar. Das Beispiel der gemeinsamen Währung zeigt zum einen die Vorteile von eco­ nomic governance in der EU, aber auch ihre Grenzen auf. Die Währungsunion ist in

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erster Linie ein geldpolitisches Steuerungsinstrument. Sie bringt volkswirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelte Länder zusammen und verzichtet auf eine verge­ meinschaftlichte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die gemeinsame Währung beruht auf dem Vertrag von Maastricht (1993), in dem fünf sogenannte Konvergenzkriteri­ en vereinbart wurden, die der Entscheidung darüber, welche Mitgliedstaaten Teil der Währungsunion werden, zugrunde gelegt wurden. Zugleich beschloss die EU die Ein­ richtung einer Europäischen Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main, die an die Stelle des Europäischen Währungsinstituts (EWI) trat. Wirtschaft und Industrie erwarteten vor allem bessere Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt, eine Re­ duzierung der Kosten ökonomischer Transaktionen (Wechselkursgebühren etc.) so­ wie größere Kapital- und Handelsmobilität innerhalb des Binnenmarktes. Vor allem Deutschland und Frankreich setzten sich als zwei Kernländer des EU-Binnenmarktes nachdrücklich für die Währungsunion ein. Als Konvergenzkriterien legten die Länder folgende wirtschaftliche Eckdaten fest: ein gleich niedriges Niveau der langfristigen Zinsraten der Länder, Inflationsraten un­ ter 2,7 Prozent, eine Gesamtverschuldung von maximal 60 Prozent des Bruttoinlands­ produktes (BIP) und ein Staatsdefizit von maximal 3 Prozent. Diese Kriterien, die als Richtgrößen konzipiert wurden, gelten auch nach der Einführung des Euro für die Länder der Eurozone als Zielwerte der Wirtschaftspolitik. Der Euro wurde am 1. Ja­ nuar 1999 zunächst als Buchgeld, dann am 1. Januar 2002 erstmals als Bargeld ein­ geführt. Die neuen EU-Mitgliedsländer, die nach 2004 der EU beitraten, orientierten sich bereits in der Transformationsphase an den Konvergenzkriterien, wobei neben Malta und Zypern inzwischen auch Slowenien, die Slovakei, Estland und Litauen in die Eurozone aufgenommen wurden. Inzwischen gehören 19 Länder der Wirtschaftsund Währungsunion an (Stand: 2018). Die Vorteile des Euros liegen in der Reduktion von Transaktionskosten und der höheren Erwartungsverlässlichkeit im Handel, weil Währungsschwankungen ent­ fallen. Auch die Bürger der Euro-Länder haben Vorteile durch die Transparenz der Preise und die Erleichterung beim Reisen. Die EU-Kommission sah in der Einfüh­ rung einer gemeinsamen Währung zudem eine hohe symbolische Bedeutung, denn die Währung sollte gleichsam die gemeinsame europäische Identität zum Ausdruck bringen. Trotzdem war die Einführung der Euro-Währung von Akzeptanzproblemen begleitet. Zu nennen ist hier zunächst, dass einige wirtschaftlich starke Länder aus politischen Gründen nicht der Eurozone beitraten. So hatten die Länder Dänemark, Großbritannien und Schweden bereits während der Verhandlungen zur Einführung erklärt, der Währungsunion nicht beitreten zu wollen. Griechenland, welches die Maastricht-Kriterien zunächst nicht erfüllte, wurde erst 2002 in die Währungsunion aufgenommen und, wie sich später zeigte, unter wenig transparenten Bedingungen in Bezug auf die Haushalts- und Wirtschaftsdaten. Während die Einführung des Eu­ ro von Wirtschaftsexperten in Kernländern der Europäischen Union begrüßt wurde, blieb seine Einführung in vielen Ländern politisch umstritten. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums verurteilten nationalistische und konservative Parteien

6.4 Regieren in der EU

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die Gemeinschaftswährung als zu weitgehenden Eingriff in die nationale Souveräni­ tät, eine Position, die auch heute noch von rechtspopulistischen, anti-europäischen Gruppen vertreten wird. Auf der anderen Seite standen auch Teile der europäischen Linken dem Projekt ablehnend gegenüber, weil sie eine Absenkung des Lohnniveaus und eine Verschlechterung der sozialen Lage für Arbeitnehmer fürchteten. Der da­ malige französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement (Parti Socialiste) be­ zeichnete die gemeinsame Währung sogar als „Titanic“-Projekt, und in der deutschen Linken wurde der Euro als „Fetisch der Euro-kapitalistischen Warengesellschaft“ gegeißelt. Obwohl Deutschland und Frankreich aufgrund ihrer engen Wirtschaftsverflech­ tungen von der Einführung des Euro profitierten, konnten beide Länder in den Fol­ gejahren die Maastricht-Kriterien nicht durchgängig erfüllen. So wich Deutschland aufgrund der Kosten der deutschen Einheit mehrfach von den Vorgaben der Begren­ zung des Haushaltsdefizits ab, was zu Abmahnungen aus Brüssel, nicht jedoch zu den angedrohten Sanktionen mit Strafzahlungen führte. Diese erwiesen sich als politisch nicht durchsetzbar und konnten in Verhandlungen der deutschen Regierung mit Brüs­ sel abgewendet werden. Aber auch mehrere kleinere Länder folgten den Vorgaben der Konvergenzkriterien nicht konsequent. Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09, die in den USA ihren Ausgangspunkt hatte, erwies sich für den Euro als schwere Belastungsprobe. Einerseits konnten die Länder des Euro-Raumes aufgrund der koordinierten Wirtschaftspolitik die Krise re­ lativ gut abfedern. Andererseits führte die internationale finanzielle Verflechtung dazu, dass auch die europäischen Banken und Finanzinstitutionen in Mitleiden­ schaft gezogen wurden. Nachdem der Staatshaushalt in Griechenland Anfang 2009 durch ein rasch wachsendes, hohes Defizit in eine schwere Krise geraten war, die nur durch ein Rettungspaket der EU und des IMF in Höhe von 119 Milliarden aufgefangen werden konnte, sahen sich auch Spanien und Italien mit zunehmenden wirtschaft­ lichen Schwierigkeiten konfrontiert. Außerdem musste die EU auch in Irland, das aufgrund von Spekulationen mit Finanzprodukten in einem deregulierten Finanz­ markt 2009 in eine Krise geraten war, Unterstützungsmaßnahmen einleiten, obwohl der Wachstums- und Stabilitätspakt nach dem Maastrichter Vertrag ursprünglich keine Rettungshilfen (bail outs) für die Mitgliedsländer der Währungsunion vor­ sah. Um eine Verschärfung der Krise durch einen unkontrollierbaren Fall des Euro zu vermeiden, sahen sich die Staats- und Regierungschefs 2009 dann gezwungen, nicht nur größere finanzielle Garantien für die schwächeren Ökonomien abzugeben, sondern sie durch eine Ergänzung des EU-Vertrags rechtlich abzusichern. Erst nach mehreren Jahren, im Juni 2018, konnte das einst hoch verschuldete Griechenland aus dem Rettungsprogramm entlassen werden. Die Krise zeigte, dass gemeinsame europäische Regeln in der Banken- und Finanzwelt angesichts der globalen Märkte notwendiger denn je sind. Insgesamt hat das Dogma der Liberalisierung und Dere­ gulierung der Märkte mit der Wirtschafts- und Finanzkrise einen starken Dämpfer erhalten.

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Die Krise des Euro verweist auf das tiefer gehende Problem, inwieweit eine geld­ politische Steuerung bei den gleichzeitig sehr heterogenen Volkswirtschaften der Mit­ gliedsländer ausreicht. Selbst wenn die EU als „Solidargemeinschaft“ definiert und der Ausgleich zwischen den Ländern in die Steuerung einbezogen wird, ergibt sich das Problem, dass die Entscheidungen der politischen Eliten legitimiert bzw. der Be­ völkerung in den Mitgliedsländern vermittelt werden müssen. In den „Geberländern“, darunter auch Deutschland, erhob sich in der Eurokrise Widerstand bei den Parteien, während sich in den „Empfängerländern“ öffentlicher Protest gegen drastische Ein­ sparungen und Umstrukturierungen formierte. In der Folge riss die Krise einen Gra­ ben zwischen den relativ wohlhabenden Ländern im nördlichen Teil Europas und den schwächeren Ökonomien im südlichen Europa auf. Regierungen scheitertern und lös­ ten sich in schneller Folge ab, Protestbewegungen blockierten politische Reformen und die euroskeptischen und rechtspopulistischen Parteien erhielten Zulauf. Die Not­ wendigkeit von strukturellen Reformen in der Währungs- und Wirtschaftspolitik war unabdingbar geworden. In einer Rede an der Sorbonne-Universität in Paris im Herbst 2017 setzte sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron nachdrücklich für eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion der EU ein. Damit stieß er innerhalb der EU und bei den Mitgliedsländern auf lebhafte Unterstützung. Im Zentrum der von Macron vor­ geschlagenen Reformen stehen drei Themen: die Vervollkommnung einer Banken­ union, die Einrichtung eines EU-Währungsfonds sowie die Schaffung eines eigenen Budgets für die Eurozone mit einem eigens dafür zuständigen Minister. Damit soll­ ten die Probleme, die sich im Rahmen der Eurokrise gezeigt hatten, angepackt und behoben werden. Wirtschaftlich hat sich die EU zwar von der Eurokrise erholt und mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 2,2 Prozent im Jahr 2017 gilt sie im globalen Vergleich als wirtschaftlich robust. Politisch und institutionell besteht je­ doch Handlungsbedarf, um besser auf zukünftige wirtschaftliche Krisen vorbereitet zu sein. Rechtzeitig vor der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 soll zudem die Handlungsfähigkeit der Union unter Beweis gestellt werden. Wie Macron und andere EU-Politiker betonten, sollten damit auch die pro-europäischen Kräfte gestärkt und den euroskeptischen Gegnern der Wind aus den Segeln genommen werden. Der Vorschlag eines EU-Währungsfonds ist an sich nicht neu; er wurde bereits vom deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt angeregt und verfolgt eine ähnliche Grundidee wie der Internationale Währungsfond IMF. Der Währungsfond soll das mit der Eurokrise von 2008 eingeführte Instrument des ESM (Europäischer Stabilitäts­ mechanismus) ersetzen und neben der Kreditvergabe auch über die Einhaltung von Haushaltsvorschriften wachen – beides Maßnahmen, die von der deutschen Bun­ desregierung mit Kanzlerin Merkel sowie vom ehemaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble unterstützt wurden. Umstritten blieb jedoch die institutionelle Umsetzung bzw. die Anbindung innerhalb der EU-Institutionen, da die EU-Kommission darauf dringt, dass die Kompetenz innerhalb der Kommission angesiedelt wird und nicht außerhalb. Mit der Bankenunion streben ihre Befürworter neben der stärkeren Auf­

6.4 Regieren in der EU

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sicht über die europäischen Banken auch eine Einlagensicherung an, um das Problem der „non-performing loans“ oder notleidenden Kredite zukünftig zu vermeiden. Hier­ zu ist allerdings ein längerer Weg der Implementation notwendig und angesichts bestehender Widerständen ist fraglich, ob der ambitionierte Zeitplan eingehalten werden kann. Am umstrittensten ist immer noch die Einrichtung eines eigenen EU-Budgets für die Eurozone, das von einem eigenen Minister verwaltet wird, da es faktisch eine Redis­ tributionspolitik beinhaltet, die eine gesamteuropäische Solidarität voraussetzt, etwa im Sinne des Länderfinanzausgleichs in der Bundesrepublik. Da Deutschland auf­ grund der wirtschaftlichen Stärke der größte Nettozahler wäre, äußerte sich die Bun­ desregierung mit Kanzlerin Merkel zunächst zurückhaltend gegenüber diesem Vor­ schlag. Aber auch in den Niederlanden herrscht Skepsis vor und die ostmitteleuropäi­ schen Länder lehnen den Vorschlag eines EU-Budgets ab, da sie befürchten, dass die Länder innerhalb der Eurozone bessergestellt werden könnten. Die EU-Kommission wiederum wirbt für einen EU-Finanzminister mit einem eigenen Budget, da dies ih­ re Kompetenzen stärken würde. Welches Modell die EU schließlich wählt, wird von längeren Verhandlungen abhängen.

6.4.2 Die Außenbeziehungen der EU Ein weiteres Kerngebiet des Regierens in Europa betrifft die Außenbeziehungen der EU. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP; englisch: Common Foreign and Security Policy, CFSP) wurde zunächst mit dem Vertrag von Maastricht (1993) als „zweite Säule“ der Europäischen Union institutionalisiert. Durch den LissabonVertrag wurde dieser Poltikbereich mit der Einrichtung des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik und des ihm unterstellten Europäischen Auswärtigen Dienstes auf eine neue institutionelle Grundlage gestellt. Die GASP beruht auf zwi­ schenstaatlicher bzw. intergouvernementaler Kooperation der Mitgliedstaaten. Sie baute auf der bereits Anfang der 1970er-Jahre vereinbarten Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf, mit der die Europäische Gemeinschaft das Ziel verfolgt, ihre Außenpolitik international besser zu koordinieren und nach außen „mit einer Stimme“ zu sprechen. Die Ziele der GASP bestehen nach dem Selbstverständnis der EU in der Wahrung der gemeinsamen Werte und der Unabhängigkeit der Union, der Wahrung des Frie­ dens und der Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend einschlägiger völ­ kerrechtlicher Verträge, in der Förderung der internationalen Zusammenarbeit, in der Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie in der Ach­ tung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten. Ein Unterbereich der GASP ist die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Da Außenpolitik traditionell als Kernstück staatlicher Souveränität begriffen wird, bestanden in den Mitgliedstaaten zunächst erhebliche Vorbehalte gegen eine

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gemeinschaftliche europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Erst in den 1990erJahren während der Transformation in den ehemals kommunistisch regierten Län­ dern und vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs im zerfallenden Jugoslawien wa­ ren die Mitgliedsländer zu einer engeren Koordination ihrer Außenbeziehungen bereit. Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und Gestaltung der Außenbezie­ hungen wurde seit dem Ende des Ost-West-Konflikts vor allem durch Konflikt- und Krisensituationen vorangetrieben. Unter dem Eindruck des Bürgerkriegs in Bosnien 1992–95 und des Kosovo-Konflikts 1999 wurden auf dem EU-Gipfel in Köln (1999) zunächst wichtige Richtungsentscheidungen getroffen, die auf eine stärkere Euro­ päisierung der Außenpolitik abzielten und zu der Konturierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beitrugen. Der Schwerpunkt der GASP sollte in Eu­ ropa liegen. Mit einem Stabilitätspakt für Südosteuropa konnten die Nachbar- und Nachfolge-Staaten des ehemaligen Jugoslawiens unterstützt werden. Eine zentra­ le Rolle schrieb die EU dem Wiederaufbau von zivilen Strukturen und der Rechts­ staatlichkeit in den Nachkriegsgesellschaften zu. Der Stabilitätspakt diente später auch der Vorbereitung auf den EU-Beitritt. Andere Länder, auch außerhalb Euro­ pas, wurden durch die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) stärker an die EU gebunden. Jedoch zeigte sich selbst eine Dekade später im Vorfeld der Verabschie­ dung des Lissabon-Vertrags, dass die Mitgliedsländer weitgehende Rechte im Bereich der Außenbeziehungen nach wie vor nicht abtreten wollten. Politisch hat die GASP zwar durch die Entwicklung besserer Koordinations- und Konsultationsverfahren mehr Bedeutung erhalten. Aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips bzw. des Veto­ vorbehalts für die mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Ratsbeschlüsse behält aber letztlich jeder Mitgliedstaat weitgehende Kontrolle über die Entwicklung der GASP. Im Zuge der Arabellion („Arabischer Frühling“) in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens, welche über die Euro-Mediterrane Partnerschaft enge Beziehungen zur EU pflegten, zeigten sich aber auch die Widersprüche und Grenzen der gemeinsa­ men Außen- und Sicherheitspolitik. Einerseits vertritt die EU Werte wie Demokratie und Menschenrechte, andererseits hatte sie auch mit Diktatoren zusammengear­ beitet und war von den Protestbewegungen 2010 und 2011 überrascht worden. Mit den Folgen von Gewalt und der gescheiterten Staatlichkeit (failed states) wie im Fall Libyens sowie der Einflusszunahme von radikalen islamistischen Gruppen in der Region wird die EU noch länger zu kämpfen haben, ebenso wie mit den im Zuge der Instabilitäten in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten entstandenen Flüchtlingsbewegungen. Ihre Politik in diesen Regionen hat sich zunehmend auf Grenzsicherung, Sicherheitsfragen (securitization) und die Eindämmung der Flücht­ lingsbewegungen verlagert. Die EU verfügt über verschiedene Instrumente, gemeinsame Ziele in der Außenpo­ litik festzulegen und gemeinschaftliche Maßnahmen einzuleiten: Gemeinsame Stand­ punkte legen ein Konzept der Union für bestimmte, thematisch eingrenzbare politi­ sche Fragen dar. Sie gelten verbindlich für alle Mitgliedstaaten und sind als Leitfaden

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für die Gestaltung der Außenbeziehungen zu verstehen. Gemeinsame Aktionen veran­ lassen die EU, auf einem bestimmten Gebiet der Außenpolitik tätig zu werden, wie bei­ spielsweise bei der Entsendung von Wahlbeobachtern in Problemgebiete oder Sank­ tionen gegen andere Staaten. Erklärungen dienen dazu, die Stellung der Europäischen Union zu aktuellen politischen Ereignissen darzulegen. Sie sind für die Mitgliedstaa­ ten politisch bindend. Die Entwicklung dieser Instrumente, die darauf abzielen, die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU zu stärken, bedeutet, dass die Außen- und Sicherheitspolitik heute nicht mehr nur von den Mitgliedstaa­ ten selbst durchgeführt wird, sondern sich zu einem Governance-System entwickelt hat, in dem Entscheidungen auf mehreren miteinander verzahnten Ebenen getroffen werden. Regieren im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist auch nach dem Vertrag von Lissabon komplex und mehrschichtig. Die GASP ist mit drei Schwierigkeiten kon­ frontiert. Erstens hat die EU-Erweiterung auf 28 Mitgliedsländer (Stand: 2018) dazu geführt, dass die Bandbreite außen- und sicherheitspolitischer Präferenzen innerhalb der EU aufgrund historisch-kultureller Erfahrungen der Länder, unterschiedlicher In­ teressenlagen und geopolitischer Positionen zugenommen hat, sodass eine gemein­ same Entscheidungsfindung erheblichen Koordinierungs- und Abstimmungsbedarf erfordert. So bestehen beispielsweise im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungs­ politik in der Bundesrepublik aus historischen Gründen verfassungsrechtliche Be­ schränkungen bei militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Gebiets, die in Groß­ britannien, Frankreich und anderen EU-Ländern nicht existieren. Auch sind nicht alle EU-Staaten Mitglied in der NATO, wie etwa Schweden und Österreich, während die NA­ TO für die ostmitteleuropäischen und baltischen Mitgliedsländer eine wichtige Sicher­ heitsgarantie darstellt. Der Austritt Großbrianniens aus der EU schwächt einerseits die militärische Ausstattung der EU-Länder; andererseits führt er zu einer erhöhten Bemühung europäischer Länder um mehr Integration in der Sicherheits- und Vertei­ digungspolitik. Zum Zweiten besteht im Bereich der GASP auch nach Ratifizierung des LissabonVertrags eine institutionelle Fragmentierung. Die im Europäischen Rat versammelten Regierungsvertreter haben, dem intergouvernementalen Politikmuster entsprechend, als Akteure ein ausschlaggebendes Gewicht, und der Vorsitzende des Rates vertritt die EU gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen. Aber auch andere In­ stitutionen sind am Prozess außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen maß­ geblich beteiligt. Hier ist insbesondere das neu geschaffene Amt des Hohen Vertreters in der Außen- und Sicherheitspolitik bzw. die bereits erwähnte Außenministerin zu nennen, die die EU nach außen vertritt. Als Folge kommt es teilweise zu Kompetenz­ überschneidungen zwischen der Hohen Vertreterin und dem Präsidenten des Euro­ päischen Rates, der ebenfalls die Außenvertretung der EU wahrnimmt. Die EU-Kom­ mission wiederum ist mit ihrem Präsidenten und dem EU-Außenkommissariat an der Entwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beteiligt, und sie hat durch das Initiativrecht die Möglichkeit, den Rat mit bestimmten Themen zu betrau­

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en. Versuche, alle Aufgaben der GASP durch ein EU-Außenministerium in einem Amt zu bündeln sind bislang an den Vorbehalten der Mitgliedstaaten gescheitert, sodass der Bereich der GASP vielschichtig strukturiert ist. Drittens ist schließlich zu bedenken, dass die EU heute mit einem erheblichen Er­ wartungsdruck konfrontiert ist, bei globalen Sicherheitsproblemen einen Beitrag zu leisten. Die EU ist an Einsätzen in Krisenoperationen und Hilfsaktionen für die Verein­ ten Nationen und die Afrikanische Union beteiligt. Beobachter sehen die besondere Eignung der EU dabei in der zivilen Ausrichtung ihrer Aktionen und der Betonung der Menschenrechte. Allerdings sind zivile und militärische Aspekte bei diesen Einsätzen nicht immer zu trennen, da auch zivile Einsätze häufig einen militärischen Schutz er­ fordern. Des Weiteren verfügt die EU nur über begrenzte finanzielle, personelle und organisatorische Kapazitäten. Zusammengefasst lässt sich also feststellen, dass Regieren im Politikfeld der Au­ ßen- und Sicherheitspolitik auf verschiedenen Ebene stattfindet und dass sich die Staaten hier mehr Souveränität sichern als im Bereich der Wirtschafts- und Währungs­ politik. Daran konnte auch die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags und die stärkere Europäisierung der Außenbeziehungen nichts ändern.

6.4.3 Europäische Integrations-, Migrations- und Asylpolitik Die Europäische Union hat keine rechtlich einheitliche Migrations- und Asylpoli­ tik. Migrations- und Asylpolitik ist vielmehr ein hybrides System, in dem nationale Gesetze und europäische Regulierungen nebeneinander bestehen. Erst seit Ende der 1980er-Jahren befasst sich die EU überhaupt mit diesen Politikfeldern. Rechtli­ che Regelungen, wie das Schengen-Abkommen über die innereuropäischen offenen Grenzen von 1987, das inzwischen mehrfach ergänzte Dublin-Abkommen von 1997 zur gemeinschaftlichen Asylregelung sowie Einrichtungen wie FRONTEX zur Grenzkon­ trolle sollten eine Europäisierung von Integrations-, Migrations- und asylrechtlichen Fragen bewirken und gemeinschaftliche Regelungen für alle EU-Länder schaffen. Al­ lerdings zeigte sich, dass in allen drei Bereichen starke einzelstaatliche Interessen berührt werden und nationalstaatliche Präferenzen ausgeprägt sind. So bleibt die europäische Asyl- und Einwanderungspolitik bis heute ein Patch­ work aus internationalen, europäischen und mitgliedstaatlichen Regelungen. Staats­ bürgerschaft und Einbürgerungsregeln variieren von Land zu Land, ebenso wie die Asylregeln. Gemeinsame Beschlüsse, etwa zur Verteilung von Geflüchteten auf alle EU-Länder, werden von einigen Mitgliedsländern durch eine Verweigerungshaltung unterlaufen; andere wiederum, wie Deutschland, drängen auf europäische Lösun­ gen, wollen ihre nationalen Regelungen aber gleichzeitig beibehalten. Auch die Aner­ kennungsquoten in Asylverfahren variieren von Land zu Land. Ebenso gibt es in der Zuwanderungspolitik zwischen den Mitgliedsländern große Unterschiede und die In­ tegrationsprogramme für die im Land lebenden Migranten sind mehr oder weniger

6.4 Regieren in der EU

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erfolgreich. Gerade die Migrationspolitik wird von den meisten Ländern als einzel­ staatliche Aufgabe betrachtet, die die Hoheitsrechte von Staaten betrifft; ein Souverä­ nitätstransfer ist hier besonders problematisch. Entwicklungen in diesen Bereichen zeigen aber zugleich, inwieweit traditionelle, im Rahmen von Staaten entwickelte Re­ gelungen heute neuer, transnationaler Konzepte bedürfen, um die Herausforderun­ gen einer immer stärker globalisierten Welt zu bewältigen. Im Folgenden soll am Beispiel der Einführung einer europäischen Unionsbürger­ schaft erörtert werden, inwiefern nationale Regelungen durch transnationale rechtli­ che Regelungen, die die Grenzen eines Staates überschreiten, ergänzt werden, wo sich Europäisierungen ergeben und wo ihre Grenzen liegen. Die europäische Unionsbürger­ schaft (European citizenship) wird Staatsangehörigen der europäischen Mitgliedslän­ dern nach dem Vertrag von Maastricht (Art. 8b) neben ihrer nationalen Staatsangehö­ rigkeit zugeschrieben, d. h. Bürgerinnen und Bürger der 28 Mitgliedsländer besitzen nicht nur ihre nationale Staatsangehörigkeit, sondern sie sind zugleich Bürger der Eu­ ropäischen Union. Diese Regelung war zunächst als Ergänzung zur Liberalisierung des Binnenmarktes konzipiert, um die Mobilität innerhalb der EU zu gewährleisten. In der Europaforschung wird darüber hinaus gefragt, ob sich dadurch die Loyalitäts­ bindungen an die EU vertiefen und welchen Beitrag die Unionsbürgerschaft für die Entwicklung einer europäischen Identität leisten kann (vgl. Risse 2009; Weiler 1997). In der Literatur wird dabei auch der Erwartung Ausdruck gegeben, dass die Unions­ bürgerschaft zum Abbau des Demokratiedefizits in der EU beitragen kann. Dabei han­ delt es sich um eine normative Frage mit politisch-theoretischen Implikationen. Im Kontext von Nationalstaaten haben sich historisch betrachtet zwei Grundkon­ zeptionen von Staatsbürgerschaft herausgebildet. Eine zentrale Traditionslinie der neuzeitlichen Staatsbürgerdiskussion geht auf die von John Locke begründete libe­ rale Tradition des Naturrechts zurück (Vertragsmodell). Eine zweite Traditionslinie bilden das republikanische Modell sowie der bei Jean-Jacques Rousseau entwickelte Gedanke der Selbstbestimmung und der Volkssouveränität (Gemeinschaftsmodell). Konzeptionell lassen sich in der Folgezeit unterschiedliche Deutungen der modernen Staatsbürgerschaft unterscheiden. In der liberalen Tradition hat sich ein individualis­ tisches, in der auf Aristoteles zurückgreifenden republikanischen Tradition der Staats­ lehre ein kommunitaristisch-ethisches Verständnis der Staatsbürgerrolle herauskris­ tallisiert (vgl. Habermas 1992). Staatsbürgerschaft garantiere Rechte und beinhalte Pflichten im Rahmen des jeweiligen Staates. Aufgrund von geschichtlichen, institu­ tionellen und politischen Entwicklungen legen Staaten dabei unterschiedliche Krite­ rien für den Erwerb der Staatsangehörigkeit zugrunde. Grundsätzlich werden dabei zwei Konzeptionen unterschieden, das jus soli (Territorialprinzip) und das jus san­ guinis (Abstammungsprinzip). Das erste Prinzip gilt beispielsweise in Frankreich und den USA, während das zweite in Deutschland prägend wurde. Inzwischen wird in mehreren Ländern der EU, wie in der Bundesrepublik, eine Mischform dieser beiden Grundmuster angewandt, indem beispielsweise die Einbürgerung von Personen, die im Land geboren wurden, erleichtert worden ist und in besonderen Fällen eine dop­

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pelte Staatsbürgerschaft möglich ist. Da mit der Staatsbürgerschaft politische und so­ ziale Rechte in einer Gesellschaft geregelt werden, wie beispielsweise das Recht, für ein politisches Amt zu kandidieren oder zu wählen, sowie der Zugang und das Anrecht auf soziale Leistungen, ist das Staatsbürgerprinzip von grundlegender Bedeutung. Die Einführung der „europäischen Staatsbürgerschaft“ mit dem Vertrag von Maastricht bildete, wie beispielsweise Antje Wiener (1998) argumentiert, den End­ punkt einer sich über zwei Jahrzehnte hinziehenden politischen Auseinandersetzung in den Brüsseler Europa-Gremien. Die britische Europaforscherin Elizabeth Meehan (1993) vertritt in ihrer Studie die These, dass die Einführung der europäischen Unions­ bürgerschaft als rechtliche Weiterentwicklung der Regelungen über die Staatsbürger­ schaft zu verstehen ist und eine neue Form von „europäischer Bürgerschaft“ darstellt. Nach Meehan entsteht, „eine neue Form von Bürgerschaft, die weder national noch kosmopolitisch ist, sondern mehrfach (multiple) bestimmt ist, insofern Identitäten, Rechte und Verpflichtungen [. . .] durch eine zunehmend komplexe Konfiguration von Gemeinschaftsinstitutionen, Staaten, Nationen und transnationalen Assoziationen, Regionen und Regionalzusammenschlüssen ausgedrückt werden“. (Meehan 1993: 1). Das mehrstufige System von Rechten, Pflichten und Loyalitäten ist eine Entwick­ lung, die Meehan als eine wichtige Voraussetzung für die Demokratisierung Europas bezeichnet. Nach ihrer Auffassung müsse die EU vor allem die sozialen Rechte der Bürger weiterentwickeln, um Loyalität zu fördern und das Demokratiedefizit der EU abzubauen. Allerdings blieben nationale Regelungen zur Staatsbürgerschaft neben der eu­ ropäischen Unionsbürgerschaft bestehen. Die Unionbürgerschaft wurde lediglich komplementär zur nationalen Staatsangehörigkeit konzipiert. Der amerikanische Po­ litikwissenschaftler Joseph Weiler verweist in diesem Zusammenhang auf die geringe Ausgestaltung der Rechte und die Konventionalität des Verständnisses vom „europäi­ schen Staatsbürger“. „But the citizenship chapter itself seemed to bestow precious few rights, hardly any that were new, and some explicitly directed at all residents and not confined to citizens.“ (Weiler 1997: 496). Ob es sich um eine neue Qualität von Bürger­ schaft auf der transnationalen Ebene handelt, ist nach Weiler daher höchst fraglich. Der Weg, über neue rechtliche Konzeptionen wie die europäische Bürgerschaft mehr Loyalität zu fördern, kann als nur eingeschränkt erfolgreich angesehen werden. Sie erleichtert die Mobilität durch die Ausstellung eines gemeinsamen Passes und die Erweiterung des diplomatischen Schutzes im Ausland, aber sie hat wenig konkret greifbare Anreize für eine aktive, europäische Bürgerschaft geschaffen; auch in der Verfassungsreformdebatte sowie im Lissabon-Vertrag wurden keine neuen Konzepte entwickelt. Angesichts der anhaltenden Migration in europäische Länder sind Fragen von Mi­ grations- und Integrationspolitik zunehmend auch EU-Fragen geworden. Migration wird in der Regel durch sogenannte Push- und Pull-Faktoren beeinflusst; die tatsäch­ lichen Migrationsbewegungen sind allerdings in der Regel wesentlich komplexer und schwer kontrollierbar. Aufgrund der Migration sind alle europäischen Länder heute

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mit Fragen von Integration und Multikulturalismus konfrontiert; sie teilen diese Si­ tuation mit den „klassischen“ Einwanderungsländern Australien, Kanada und den USA, wie die Migrationsforscher Alba und Foner (2015) feststellen. Integration „[. . .] refers to the process that increases the opportunities of immigrants and their descen­ dants to obtain the valued ‚stuff‘ of a society, as well as social acceptance, through participation in major institutions such as the educational and political system and the labor and housing markets“. (Alba und Foner 2015: 5). Anders als in Deutsch­ land wird die Integrationsdebatte in Frankreich und in Großbritannien auch durch post-koloniale Erfahrungen geprägt; in Frankreich kommen die meisten Migranten aus den ehemaligen Kolonien Nord- und Westafrikas, in Großbritannien dagegen vor­ wiegend aus Indien, Pakistan und ostafrikanischen Ländern. In Deutschland wieder­ um sind viele als deutsche Staatsangehörige eingebürgerte Migranten aus Osteuropa eingewandert, von Westdeutschland angeworbene Arbeitskräfte aus der Türkei sowie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zugereiste Bürger aus den ehemals kommu­ nistisch regierten Ländern. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hatten 2014 rund 20 Prozent der in Deutschland lebenden Personen einen Migrationshintergrund. Deutschland hat außerdem in den letzten Jahren die größte Zahl an Geflüchteten aus den Kriegsgebieten im Nahen und Mittleren Osten aufgenommen. Kaum ein Politikfeld ist in den letzten Jahren in der EU so umstritten gewesen wie die Flüchtlings- und Asylpolitik. Vor dem Hintergrund des dramatischen Anstiegs der Zahl Geflüchteter, die in Ländern der EU in den Jahren 2016 und danach Schutz suchten, verschärft sich in der EU die Herausforderung, geeignete gemeinschaftli­ che Lösungen zu finden. Das Europäische Asylsystem, Common European Asylum System (CEAS), welches basierend auf dem Dublin-Abkommen eingerichtet wurde, ist zwar immer wieder verbessert und ausgebaut worden. Betroffene Länder bezeich­ nen es allerdings aufgrund des „country of first entry“-Prinzips als ungerecht. Neben der schärferen Kontrolle von Schleppern und vor dem Hintergrund anhaltend hoher Flüchtlingsströme über das Mittelmeer betreibt die EU verstärkt die Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer und gibt finanzielle Unterstützung für Flüchtlings­ camps in Ländern nahe der Hauptkrisengebiete. Über die Einrichtung eines Europäischen Polizeiamtes (Europol) hat sich die EU darüber hinaus um eine effektivere Koordination polizeilicher Arbeit und eine verbes­ serte Informationssammlung bemüht, um die Sicherheit in den Mitgliedsländern zu erhöhen, ein Bestreben, das im Rahmen der Terrorismusbekämpfung weiter intensi­ viert wurde.

6.5 Probleme und Perspektiven der EU Anläßlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge und vor dem Hintergrund des bevorstehenden Brexits legte die Europäische Union am 1. März 2017 ein „Weißbuch zur Zukunft Europas“ vor, in dem verschiedene Szenarien für die

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Zukunft der Europäischen Union dargelegt werden. In seiner Rede unterstrich der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, die Wichtigkeit einer neuen Zu­ kunftsorientierung: Vor 60 Jahren haben die Gründerväter der EU beschlossen, den Kontinent mit der Macht des Rechts und nicht durch den Gebrauch von Waffen zu einen. Wir können stolz auf das sein, was wir seitdem erreicht haben. Selbst unser dunkelster Tag in 2017 wird heller sein als jeder Tag, den unsere Vorväter auf den Schlachtfeldern verbracht haben. Zum 60-jährigen Jubiläum der Römi­ schen Verträge gilt es, für ein geeintes Europa der 27 eine Vision für die Zukunft zu entwickeln. In diesen Zeiten sind Führungsstärke, Einheit und gemeinsamer Wille gefragt. Im Weißbuch der Kommission werden verschiedene Wege skizziert, die dieses geeinte Europa der 27 künftig ein­ schlagen könnte. Das ist der Beginn und nicht das Ende eines Prozesses, und ich hoffe nun auf eine ehrliche und umfassende Debatte. Die Form wird dann der Funktion folgen. Die Zukunft Europas liegt in unserer Hand.²

Das „Weißbuch zur Zukunft Europas“ unterscheidet folgende Wege: Szenario 1: Wei­ ter so wie bisher; Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt; Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr; Szenario 4: Weniger, aber effizienter; Szenario 5: Viel mehr gemeinsames Handeln.³ Ein Auseinanderbrechen der EU, über das periodisch in Presse und Öffent­ lichkeit spekuliert wurde, wie zuletzt während der Eurokrise und beim Brexit, klam­ mert Juncker, verständlicherweise, bei diesen Szenarien aus. Tatsächlich sieht eine Mehrheit der Bevölkerung in den EU-Ländern, einschließlich in Deutschland, die Zu­ kunft der EU optimistisch. Allerdings lässt sich auch nicht übersehen, dass der Anteil derjenigen, die eine pessimistische Einstellung zur Zukunft der EU hegen, in der ver­ gangenen Dekade zugenommen hat. Angesichts der Heterogenität der EU sind Integration und gemeinschaftliches Re­ gieren in der EU komplexer geworden. Spannungen zwischen funktionalistischen Er­ fordernissen und nationalen Präferenzen sind in verschiedenen Politikfeldern, wie der Währungsunion, in den Flüchtlings- und Asylfragen oder bei der Sicherheitspoli­ tik deutlich geworden. Neue Herausforderungen durch den internationalen Terroris­ mus, die Integration von Millionen Geflüchteter sowie die Konflikte in den transatlan­ tischen Beziehungen stellen die EU vor die Aufgabe, noch gezielter an einer gemein­ schaftlichen Politik zu arbeiten. Im Folgenden werden drei Problemkreise thematisiert, die in der zukünftigen Ge­ staltung Europas eine Rolle spielen: der Brexit, der wachsende Euroskeptizismus so­ wie die Frage der zukünftigen Erweiterung der EU.

2 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-385_de.htm (aufgerufen am 20.01.2018). 3 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-385_de.htm (aufgerufen am 20.01.2018).

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6.5.1 Brexit Am 23. Juni 2016 stimmten 51,6 Prozent der Briten in einem Referendum dafür die Eu­ ropäische Union (EU) zu verlassen; 48,1 Prozent votierten für den Verbleib in der EU. Die relativ hohe Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent zeigte, wie groß das Interesse der Briten an dieser Streitfrage war. Obwohl seit längerem bekannt war, dass in dem Land mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU starke euroskeptische Positionen vorhan­ den sind, überraschte, ja schockierte der Ausgang Beobachter inner- und außerhalb Europas. Inzwischen sind die Verhandlungen über den Ausstieg Großbritanniens aus der EU fortgeschritten und es bestehen kaum Zweifel, dass das Land 2019 tatsächlich die Union verlassen wird, auch deshalb, weil die EU ihr Interesse an einem zügigen Abschluss der Verhandlungen deutlich unterstrichen hat, um Unsicherheiten zu ver­ meiden. Zwar ist eine fundamentale Krise in der EU ausgeblieben, dennoch stellt sich die Frage, welche Folgen der Brexit für die EU und Europa insgesamt hat. Die britische Mitgliedschaft in der EU war von Anbeginn mit Skepsis behaftet. Erst im Jahr 1973 schloss sich das Land der Europäischen Gemeinschaft, dem Vorläufer der EU, an. Die Meinungen in den beiden großen Parteien, den Konservativen und der La­ bour Partei, waren gespalten. Während die Labour Partei mit Premierminister Harold Wilson den Beitritt vorantrieb, bestanden in seiner Partei Vorbehalte, da man einen Rückschritt in den Arbeitnehmerrechten fürchtete. Bei den Konservativen war die EUMitgliedschaft unpopulär, aber etliche Abgeordnete befürworteten den Beitritt, dar­ unter auch die junge Margaret Thatcher. Ein nach der Aufnahme in die EG 1975 abge­ haltenes Referendum ergab zwar eine deutliche Mehrheit von 67 Prozent der Stimmen für die Mitgliedschaft, aber die Motive, der EG beizutreten waren in erster Linie wirt­ schaftlicher Art. Anders als in den sechs Gründerstaaten der Gemeinschaft stand der Friedensgedanke nicht im Mittelpunkt. Die Vision eines neuen Europas der Völker­ verständigung sowie das Bestreben, eine gemeinsame europäische Identität zu ent­ wickeln, spielte auch in den folgenden Jahren kaum eine Rolle. Vielmehr erfüllte die Mitgliedschaft die Funktion einer Neuorientierung der Außenbeziehungen. Das einst­ mals bedeutende britische Empire hatte durch das Ende des Kolonialismus politisch, aber auch wirtschaftlich Einbußen erlitten und die britische Ökonomie befand sich in einer Misere. Durch die Mitgliedschaft in der EU erholte sich die britische Wirtschaft und sie wurde ein Ankerplatz für den weltweiten Handel. Die Beziehungen mit der EU blieben in Großbritannien politisch jedoch weiter umstritten, wobei sich die Konfliktlinien im Zeitverlauf zwischen den Parteien ver­ schoben. Mit Margaret Thatcher positionierte sich Großbritannien in den 1980er-Jah­ ren als kritisches, aber pro-europäisches Mitglied. Thatcher gelang es, für das Land einige Sonderbedingungen auszuhandeln, zugleich unterstützte sie die weitere Inte­ gration mit der Schaffung des Binnenmarktes durch den Vertrag von Maastricht 1992. Die Labour Partei kritisierte zunächst diesen Schritt als neoliberales Wirtschaftspro­ jekt; Premierminister Tony Blair versuchte dann jedoch ab Ende der 1990er-Jahre das

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Land enger an die EU heranzuführen. Währenddessen gewann in der Konservativen Partei der euroskeptische Flügel immer mehr an Gewicht. Als eines der größten und wichtigsten Mitgliedsländer der EU hat Großbritanni­ en Kernbereiche der EU mitgeprägt, von der Wirtschaftspolitik über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur EU-Erweiterung. Die britischen Vorbehalte blieben jedoch bestehen; so gehört Großbritannien nicht zum Schengen-Raum und es hat trotz seiner wirtschaftlichen Stärke nicht den Euro eingeführt. In anderen Fragen wie der Sozialcharta setzte die britische Regierung eine „Opt-out“-Klausel durch und wehrte sich erfolgreich gegen eine tiefere Koordinierung der Außen- und Sicherheits­ politik. Die parteipolitische Polarisierung zur Europafrage, welche die britische Politik seit den 1970er-Jahren beschäftigte, nahm eine dramatische Wendung durch den zu­ nehmenden Einfluss einer neuen, zunächst recht kleinen Partei, der United Kingdom Independence Party (UKIP). Mit ihrer Forderung des Austritts Großbritanniens aus der EU wurde sie die erste rechtspopulistische Partei des „harten“ Euroskeptizis­ mus. Während der Eurokrise gelang es ihr mehr Unterstützung zu gewinnen. UKIP ging schließlich mit 28 Prozent der Wählerstimmen als stärkste britische Partei aus den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 hervor. Angesichts des wachsen­ den Einflusses von UKIP und der Kritik des euroskeptischen Flügels in der eigenen Partei erklärte der konservative Premierminister David Cameron, im Falle seiner Wie­ derwahl 2015 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft abhalten zu wollen. Zwar setzten sich Cameron, ebenso wie andere führende Mitglieder seiner Partei, die La­ bour Partei und die kleineren Liberal Democrats für den Verbleib in der EU ein, aber die Stimmung in der Bevölkerung war gekippt. In der nationalistischen Rhetorik der Rechtspopulisten wurde die EU für Probleme am Arbeitsmarkt sowie die wachsende Zuwanderung verantwortlich gemacht. Auch der Zustrom von Geflüchteten aus den Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens sowie aus Afrika schürte Ängste, obwohl das Land 2015/2016 tatsächlich weniger Asylsuchende aufgenommen hatte als andere Länder wie etwa Deutschland und Schweden (im Verhältnis zur Bevölke­ rung). Der Einfluss der rechtspopulistischen UKIP und ihr Druck auf die anderen Par­ teien sowie eine hochemotional geführte Kampagne lieferten einen Schlüssel für den Ausgang des Brexit-Referendums. Zugleich lässt sich feststellen, dass die lange Tradi­ tion euroskeptischer Positionen in den beiden großen Parteien und ihre Ambivalenz gegenüber dem Europaprojekt eine schwungvolle Pro-EU Kampagne erschwerte. Wie die britische Politikwissenschaftlerin Sara Hobolt erläutert, kamen in Großbritannien einige Sonderbedingungen zusammen, die nicht für andere Länder zu verallgemei­ nern sind (vgl. Hobolt 2016). Erstaunlicherweise stimmten auch solche Regionen wie z. B. Wales mehrheitlich für den Brexit, die von den Strukturhilfen der EU besonders profitiert hatten. Aus Umfragen nach dem Referendum geht hervor, dass viele Euro­ pabefürworter nicht an der Abstimmung teilnahmen; eine Mehrheit der Befragten äu­ ßerte sogar den Wunsch nach einem Verbleib in der EU.

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Der Ausgang des Referendums führte zu erheblichen politischen Verwerfungen. Premierminister Cameron und sein Kabinett traten unmittelbar nach dem Referendum zurück und Theresa May übernahm das Amt der Regierungschefin. Nigel Farage, ei­ ner der schärfsten EU-Kritiker erklärte, dass er sein Amt als Vorsitzender der UKIP niederlegen würde, da er seine Ziele erreicht habe. Das britische Pfund stürzte ab und viele Unternehmen und Finanzinstitutionen begannen angesichts der Unsicherhei­ ten über den weiteren Verlauf und die Modalitäten des Austritts, sich in anderen Län­ dern niederzulassen. Schottland, das mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert hatte, erklärte, dass es sich vorbehalte, ein erneutes Unabhängigkeits-Referendum abzuhalten. In Nordirland, das ebenfalls für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, wuchsen Befürchtungen über ein Wiederaufflammen gewalttätiger Auseinanderset­ zungen, wenn die Grenze zur Republik Irland wieder eine „harte“ EU-Außengrenze würde. Hoffnungen der EU-Befürworter, dass das Oberste Gericht oder eine Abstim­ mung im Parlament den Brexit stoppen würden, zerschlugen sich in den Folgemona­ ten. Obwohl sie als Mitglied der Konservativen die EU-Mitgliedschaft befürwortet hat­ te, erklärte Theresa May nun unmissverständlich, dass sie die Brexit-Verhandlungen konsequent durchführen würde („Brexit means Brexit“). Bei den für Juni 2017 ange­ setzten Neuwahlen zur Stärkung ihrer Position verloren die Konservativen allerdings ihre Mehrheit, sodass sie nun mit einer kleinen irischen Regionalpartei zusammen regieren müssen. Im März 2017 stellte die britische Regierung offiziell in Brüssel den Antrag auf Austritt aus der EU. Nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags bleiben damit zwei Jahre, bis Großbritannien die EU verlassen muss. Rechtlich ist es zwar möglich, dass diese Frist von der Staatengemeinschaft verlängert werden kann, aber sowohl die EU als auch Großbritannien favorisieren einen zügigen Abschluss der Verhandlungen. Noch ist nicht absehbar, welche längerfristigen wirtschaftlichen Folgen der Brexit für Großbritannien haben wird. Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen EU-Län­ dern ist eng und vielfältig. So ist Großbritannien Deutschlands drittwichtigster Han­ delspartner. Mehr als 2500 deutsche Firmen haben Niederlassungen in Großbritan­ nien und schätzungsweise 3000 britische Firmen sind in Deutschland repräsentiert. Die Freizügigkeit von Bürgern innerhalb der EU hat diese Verflechtungen gefördert. Mehr als eine Million britische Bürger leben in anderen europäischen Ländern; rund drei Millionen Bürger aus den mittelosteuropäischen Mitgliedsländern haben sich in Großbritannien niedergelassen. London ist zudem Sitz zentraler Finanzinstitutionen und ein Hauptanteil des weltweiten Eurohandels wird dort abgewickelt. Auch im Wis­ senschaftsbereich bestehen sehr enge Kooperationen mit britischen Hochschulen. Die große Krise, die mit dem Brexit-Referendum vorhergesagt wurde, ist allerdings ausgeblieben.NachwievorwirktdieEUalsMagnetfürbeitrittswilligeLänderundselbst Länder wie Polen oder Ungarn streben keinen Austritt aus der EU an, trotz der euroskep­ tischen Haltung ihrer rechtsnationalen Regierungen. Im Gegenteil: Nach der Wahl des Europabefürworters Emmanuel Macron in Frankreich und angesichts der Abkehr der US-amerikanischen Administration von den engen transatlantischen Beziehungen ge­ winnen die europäischen Bemühungen um eine tiefere Zusammenarbeit z. B. in der

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Binnenmarktpolitik sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik an Fahrt. Zivilgesell­ schaftliche Organisationen wie Pulse of Europe, die Jungen Europäischen Föderalisten und andere Gruppen profilieren sich mit neuen pro-europäischen Aktivitäten. Die Vorteile, die die britische EU-Mitgliedschaft mit sich gebracht hat, sind un­ übersehbar. Daher kann davon ausgegangen werden, dass es keine vollständige Ent­ flechtung der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU geben wird. Für die Neugestaltung gibt es verschiedene Modelle: Norwegen ist als Mitglied der EFTA bei­ spielsweise auch im „Europäischen Wirtschaftsraum“ verankert; das Land hat das EUGemeinschaftsrecht im Binnenmarktrecht umgesetzt und drei Viertel der EU Richtli­ nien übernommen. Es trat dem Schengen-Abkommen zur Freizügigkeit bei und be­ teiligt sich am Kohäsionsfond der EU, aus dem die neuen Mitgliedsländer unterstützt werden. Auch die Schweiz ist Mitglied des Schengen-Abkommens, wobei hier die Zu­ wanderung einen Zankapfel zwischen den Parteien bildet. Die Schweiz zog 2016 of­ fiziell ihr 1992 hinterlegtes Beitrittsgesuch zurück, aber sie bleibt wirtschaftlich und rechtlich durch Abkommen eng mit der EU verflochten und zahlt ebenfalls in den Ko­ häsionsfond ein. Die EU hat, ebenso wie Großbritannien, ein großes Interesse, die engen wirt­ schaftlichen und politischen Beziehungen auch nach dem förmlichen Austritt fort­ zusetzen. Allerdings wird dies nicht mehr als gemeinschaftliches Projekt geschehen, sondern bilaterale Verträge zwischen der EU und Großbritannien erfordern, die die neuen Beziehungen regeln. Großbritannien wird also weiter mit der EU verbunden bleiben, ohne dass das Land in den Gremien der EU mitsprechen kann.

6.5.2 Euroskeptizismus, Populismus und „Backlash“ Bis Mitte der 1990er-Jahre wurde das europäische Einigungsprojekt vor allem von den politischen Eliten der Länder Europas vorangetrieben; ein „permissiver Konsens“ in der Bevölkerung ermöglichte die Realisierung der angestrebten Integrationsschritte. Seit dem Vertrag von Maastricht, der der EU mehr politische Macht zuschrieb und die Wirtschafts- und Währungsunion vorantrieb, ist die Frage der europäischen Inte­ gration allerdings immer mehr politisiert worden; in mehreren Ländern bildeten sich Parteien und Bewegungen heraus, die sich an der Europafrage spalten. Die Öffnung für die Mitgliedschaft der ostmitteleuropäischen Länder, das Scheitern des EU-Verfas­ sungsvertrages, die Eurokrise und schließlich die Flüchtlingskrise beförderten Kritik und Skepsis. Der bislang vorherrschende permissive Konsens wurde brüchig und der politische Diskurs ist komplexer geworden. Der Begriff des Euroskeptizismus ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Po­ sitionen, die sich kritisch bis ablehnend auf die EU beziehen. „Weicher“ Euroskepti­ zismus verteidigt einige Aspekte der Souveränität der Staaten und kritisiert einzelne politische Maßnahmen und Initiativen der EU, während der „harte“ Euroskeptizismus das Integrationsprojekt grundsätzlich infrage stellt und die Auflösung aus der EU for­

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dert. Allerdings sind die Grenzen zwischen beiden Richtungen nicht immer scharf zu ziehen. Ist eine Kritik an der Währungsunion beispielsweise bereits harte Euroskep­ sis, oder zielt sie darauf die Währungsunion zu verbessern? Ist der Aufstieg populisti­ scher Parteien auf der Linken und auf der Rechten auf einen wachsenden Einfluss des harten Euroskeptizismus zurückzuführen, oder resultiert er aus einer Unzufrieden­ heit mit den Parteien im eigenen Land, die es versäumt haben, politische Alternativen im Integrationsprozess anzubieten? Ist der Wahlerfolg von euroskeptischen Parteien bei der Europäischen Parlamentswahl im Mai 2014 Ausdruck eines wachsenden Eu­ roskeptizismus oder Resultat von länderspezifischen Problemen? Catherine De Vries (2018) argumentiert daher, dass es für die Auseinandersetzung mit euroskeptischen Strömungen und Parteien wichtig sei, zwischen denjenigen zu unterscheiden, die sich gegenüber der EU als System ablehnend verhalten und beispielsweise das Demokra­ tiedefizit problematisieren (regime scepticism) und Vertretern, die einzelnen Politik­ feldern kritisch gegenüber stehen (policy scepticism); eine weitere Gruppe steht der EU als Ganzes ablehnend gegenüber und fordert den Austritt aus der EU (exit scepti­ cism) (vgl. De Vries 2018: 78 f.). Umfragen zeigten zudem, dass die kritische Haltung gegenüber der EU und ihrer Politik in den Mitgliedsländern stark variiert. Euroskeptische Parteien haben zwar zugelegt, aber sie stellen immer noch eine Minderheit im Europäischen Parlament dar und sind unter sich gespalten. Die europa­ skeptische Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“, der auch die britische UKIP angehört, ist mit 48 Mitgliedern die kleinste Fraktion nach den Wah­ len 2014. Eine weitere Gruppe „Europäische Konservative und Reformisten“ mit 56 Ab­ geordneten, der auch die britische Konservative Partei, die polnische PiS Partei, die tschechische ODS sowie die AfD angehören, beheimatet ebenfalls euroskeptische Ab­ geordnete, die jedoch die EU-Mitgliedschaft nicht unbedingt ablehnen. Euroskeptizismus und die Parteienverdrossenheit gehen oft Hand in Hand und sind politisch nicht scharf zu trennen, sodass es problematisch ist, einen klaren Trend zu weniger Europabefürwortung anzunehmen. Im Gegenteil: Verschiedene Studien zeigen, dass sich in den meisten Mitgliedsländern ein höheres Vertrauen in die EUInstitutionen als in die nationalen politischen Institutionen feststellen lässt, auch wenn das Vertrauen in die EU seit der Eurokrise insgesamt gesunken ist. Klaus Ar­ mingeon and Besir Ceka (2014) zeigen zudem einen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Vertrauen in die eigene Regierung und einem niedrigen Vertrauen in die EU. Mit dem Einfluss des Euroskeptizismus hat auch der Einfluss populistischer Par­ teien und Bewegungen in Europa zugenommen. Der Sozialwissenschaftler Rogers Brubaker (2017) bezeichnet diese Entwicklung als „populistisches Moment“, das na­ tionalistischen und eurozentristischen Positionen in Europa Auftrieb gegeben habe. Populismus meint dabei die Ablehnung politischer Eliten mit einer angenommenen Polarisierung zwischen dem „Volk“ und der Regierung sowie die Betonung enger na­ tionalistischer Werte und nativistischer Lebensweisen angesichts der Pluralisierung von Gesellschaften. Andere Kritiker bezeichnen den Aufstieg des „autoritären Popu­

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lismus“ als eine fundamentale Gefahr für die Freiheitsrechte und für die Demokratie (vgl. z. B. Mounk 2018). Die anhaltende Zuwanderung hat dabei den nationalistischen und autoritären Populismus noch verstärkt. Aber nicht nur Euroskeptizismus und Populismus sind eine Herausforderung für die EU-Integration. Probleme bereitet der EU seit einigen Jahren auch der „Backlash“ in den neuen Mitgliedsländern Ostmitteleuropas. Darunter versteht man die Rückent­ wicklung der demokratischen Verfasstheit durch einen wachsenden Autoritarismus, die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien, wie der Gewaltenteilung, des Minderhei­ tenschutzes und der Meinungsfreiheit. So ist der amerikanische Europaforscher Grze­ gorz Ekiert (2017) der Auffassungen, dass Polen und Ungarn unter den rechtsnatio­ nalen Regierungen nicht mehr als liberale Demokratien bezeichnet werden könnten. Die ungarische Regierung stand bereits nach einer Verfassungsänderung der rechts­ konservativen Regierung von Viktor Orbán im März 2013 in der Kritik, die nach An­ sicht von Europapolitikern Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verletzte; deshalb hat die EU-Kommission seit 2012 eine Reihe von Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, von denen die meisten allerdings folgenlos blieben. Kritisiert wird in Ungarn auch die restriktive Haltung gegenüber Migranten und Roma und die Beschränkung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen sowie ein Hochschulgesetz, welche die Existenz der renommierten Central European University in Budapest und damit die Wissen­ schaftsfreiheit gefährdet; im letzteren Fall hat die EU-Kommission ebenfalls ein Ver­ tragsverletzungsverfahren eingeleitet. Im Mai 2017 beschloss das Europäische Parla­ ment, ein formales Verfahren zur Rechtsstaatlichkeit wegen „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ von EU-Werten einzuleiten; dieses Verfahren geht weiter als ein einzelnes Vertragsverletzungsverfahren. Auch für Polen wird ein Rechtsstaatsverfahren durch die EU-Kommission geprüft, da sie Polen vorwirft, mit einer umstrittenen Justizreform die Unabhängigkeit der Jus­ tiz zu untergraben. Ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags soll die Einhaltung der Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gewährleisten. Es kann in letzter Konsequenz zum Entzug von Stimmrechten für ein EU-Mitgliedsland führen. Damit stehen gleich zwei Länder in der EU in der Kritik, die nach der Wende 1989/90 noch als Vorreiter der Demokratisierung galten und als erste in die EU aufge­ nommen werden sollten. Die nationalistische Ausrichtung der Regierungen mit einer Mehrheit in den Parlamenten der beiden Länder wirft nicht nur das europäische Pro­ jekt der Integration zurück, es trägt auch zu einer Spaltung der Bevölkerungen bei, die sich in wiederholten Protesten artikuliert.

6.5.3 Zukünftige Erweiterungen Mit dem Beitritt Kroatiens 2013 war die Erweiterung der EU zunächst abgeschlossen. Inzwischen sind weitere Länder im Westbalkan als „offizielle Kandidaten“ eingestuft.

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Die EU-Kommission strebt an, bis 2025 Serbien und Montenegro aufzunehmen und für Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien Beitrittsperspektiven aufzuzeigen. Aus Sicht der EU ist eine Mitgliedschaft des sechs Westbalkan-Staaten im politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interesse der Union, al­ lerdings setzt sie voraus, dass die Länder Reformen durchführen und die Beitrittsbe­ dingungen nach den 35 Kapiteln der Kopenhagener Kriterien erfüllen. Demgegenüber stehen europäische Länder, die sich entweder wie Norwegen (1994) gegen eine for­ melle EU-Mitgliedschaft ausgesprochen, und solche, die ihre Beitrittsgesuche wieder zurückgezogen haben, wie Island (2013) und die Schweiz (2016), obwohl sie eng mit der EU über den Europäischen Wirtschaftsraum verbunden sind. Die Türkei bleibt ein Sonderfall der EU-Erweiterung. Ihr Bemühen um einen Bei­ tritt zog sich ungewöhnlich lange hin und bleibt bis heute in der EU umstritten. Be­ reits 1952 wurde die Türkei in die NATO aufgenommen und schloss 1963 ein Assozi­ ierungsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft. 1987 reichte das Land dann offiziell einen Mitgliedsantrag ein, jedoch widmete sich die EU zunächst den neuen Demokratien in Ostmitteleuropa, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in die EU aufgenommen werden wollten. 1995 unterzeichneten die EU und die Türkei ein Zollab­ kommen und 1999 erkannte die EU das Land schließlich als „offiziellen“ Beitrittskan­ didaten an. In den Folgejahren führte die Türkei eine Vielzahl von Reformen durch, wie eine deutliche Trennung von Militär und Parlament, Reformen bei den Frauen­ rechten sowie im Strafrecht, einschließlich der Abschaffung der Todesstrafe, um die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen und das Gemeinschaftsrecht zu übernehmen. Seit dem 4. Oktober 2005 führte die Türkei dann offiziell mit der EU Beitrittsver­ handlungen. Befürworter der Integration der Türkei, darunter auch die rot-grüne Bun­ desregierung, verwiesen auf die positiven Erfahrungen mit den ostmitteleuropäischen Reformländern bei der Demokratisierung und bei den Menschenrechten, das Wirt­ schaftspotenzial der Türkei sowie die „Brückenfunktion“ zu den islamischen Ländern. Gegen die Türkei-Mitgliedschaft sprachen nach Auffassung von Kritikern nicht nur die bestehenden Defizite im Menschenrechtsschutz, Modernisierungsrückstände, wie die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land und Defizite bei den Frauenrechten, sondern auch kulturelle Unterschiede. Die Tatsache, dass die Türkei ein mehrheitlich muslimisches Land ist, stieß besonders bei konservativen Kritikern auf Ablehnung, die auf die christlichen Wurzeln in der Geschichte der europäischen Integration ver­ wiesen. Vielfach wurde auch die Grenzlage des Landes zu „heißen“ Konflikten im Na­ hen und Mittleren Osten als Problem thematisiert. Nachdem zunächst eine Mehrheit für die Aufnahme der Türkei zu bestehen schien, kippte diese Situation mit den autori­ tären Entwicklungen in der Türkei. In Deutschland, das aufgrund der Migrationsstruk­ tur besonders enge wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei hat, sank die Zustimmung besonders drastisch und stürzte von einer Mehrheit auf rund ein Drittel ab. Die Position der Mitgliedsländer in der EU schwankte im Zeitverlauf zwischen einer Befürwortung des Beitritts und einer tiefen Skepsis. Eine „Erweiterungsermü­ dung“, aber auch konkrete Differenzen etwa über die Zypernfrage, die Behandlung

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der Kurden in der Türkei und die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien vertieften die Differenzen zwischen der EU und der Türkei. Auch die Erwartung, dass die türki­ sche Regierung ein Modell für ein modernes islamisches Land abgeben würde, wurde enttäuscht. Nach der Niederschlagung von Protesten in der Türkei 2013 und der An­ wendung autoritärer Maßnahmen durch die Regierung von Präsident Recep Tayyip Er­ doğan nach dem Putschversuch von 2016 legte die EU schließlich die Beitrittsverhand­ lungen im Jahr 2016 offiziell auf Eis. Diejenigen, die zur Türkei lediglich eine „spezielle Beziehung“ beibehalten, nicht aber eine Vollmitgliedschaft befürworten wollten, wie Vertreter Frankreichs, Deutschlands, und Österreichs, sahen sich bestätigt. Wie immer sich die Beziehungen in der Zukunft entwickeln werden, so bleibt die Türkei historisch, wirtschaftlich und sozial mit der EU verbunden. Die Krise in Syrien und der Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates in der Region sowie das Anlie­ gen der EU, den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa zu kontrollieren sind zudem starke Anreize für eine fortlaufende Zusammenarbeit. Eine Vollmitgliedschaft der Tür­ kei in der EU ist jedoch auf absehbare Zeit nicht denkbar, zumal die Türkei ihre Au­ ßenpolitik inzwischen neu ausgerichtet hat und von ihrem Ziel der EU-Mitgliedschaft abgerückt ist. Übungsfragen zu Kapitel 6: Europäische Integration 1. 2. 3. 4.

Warum übertragen Staaten souveräne Rechte auf die europäische Ebene? Erörtern Sie die Fra­ ge und nehmen Sie Bezug auf die Theorien der Integration. Die Europäische Union wird als Mehrebenensystem beschrieben. Was genau ist darunter zu verstehen? Wie fügt sich das Governance-Konzept in dieses Modell? Welche Vorschläge liegen zur Zukunft Europas nach dem Brexit vor? Erörtern Sie die Implika­ tionen für den Integrationsprozess aus wirtschaftlicher und politischer Perspektive. Sollen die Westbalkan-Länder Mitglied in der EU werden? Erörtern Sie diese Frage vor dem Hintergrund der Erfahrungen der EU-Erweiterung 2004 und 2007 und ziehen Sie Theorien der Integration heran.

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7 Global Governance: Die Vereinten Nationen und internationale NGOs Internationale Organisationen spielen eine zentrale Rolle in der internationalen Poli­ tik. Im Allgemeinen bezeichnet der Begriff internationale Organisation (IO) einen Zu­ sammenschluss von mindestens zwei Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten, der auf Dauer angelegt ist, sich in der Regel über nationale Grenzen hinweg betätigt und überstaatliche Aufgaben erfüllt. Die größte internationale Organisation sind die Vereinten Nationen mit 193 Mitgliedsländern und zahlreichen Sonder- und Unteror­ ganisationen. Hierzu gehören beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Weltbank und der Internationale Währungsfond IWF. Daneben existieren weitere internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation, die NATO usw., die ebenfalls an der Gestaltung internationaler Beziehungen beteiligt sind (vgl. Rittber­ ger/Zangl/Kruck 2013). Die Aufgaben der internationalen Organisationen lassen sich in drei große Berei­ che einteilen: „Sicherheit“ umfasst die Friedenssicherung und die damit verbunde­ nen Probleme von Kriegspräventionen, Abrüstung und Rüstungskontrolle, etwa mit der Überwachung der nuklearen Proliferation durch eine eigene Behörde (IAEA) so­ wie die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. „Wohlfahrt“ beinhaltet die in­ ternationalen Handels- und Finanzbeziehungen und umfasst die Aufgabe der Her­ stellung und Verteilung von Gütern zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, etwa im Rahmen von Entwicklungspolitik, mithilfe einer Reihe internationaler Organisa­ tionen (z. B. Weltbank, WTO, IWF). „Herrschaft“ bezieht sich auf die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit und die Gültigkeit von Menschenrechten (vgl. Rittberger/ Zangl 2003). Das seit 1910 veröffentliche Jahrbuch internationaler Organisationen mit seiner Datenbank über internationale zwischenstaatliche Organisationen (IGOs) und internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) wies im Jahr 2017 insgesamt rund 67.000 Organisationen aus; die Hälfte davon waren inzwischen eingestellte Or­ ganisationen, die andere Hälfte heute noch aktive internationale Organisationen.¹ Neben den auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen und Verträgen beruhenden internationalen Organisationen gibt es eine Vielzahl von nicht staatlichen internatio­ nalen Organisationen (Non-Governmental Organizations; NGO), die in verschiedenen Bereichen der internationalen Politik als Aktivisten, Beobachter und Lobbygruppen aktiv sind. Die Zunahme von NGOs in der internationalen Politik zeigt zum einen die Verdichtung von Kommunikationsprozessen und die höhere Mobilität von Akteuren im Zuge der Globalisierung, und zum anderen den enormen Bedarf an konkreter Hilfe und politischer Veränderung, die durch dezentrale, nicht hierarchische Politikprozes­

1 (eds.) (2017). Yearbook of International Organizations 2017–2018 (E-Book), Leiden, Niederlande: BRILL, http://www.brill.com/view/title 34789 (aufgerufen am 19.03.2018). https://doi.org/10.1515/9783110589207-007

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se unterstützt wird. Häufig wird an die Tätigkeit der internationalen NGOs die Erwar­ tung einer „Zivilisierung“ der Welt gerichtet, wobei diese Annahme eher normativ und nicht empirisch ausgerichtet ist. Nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität der nicht staatlichen Gruppen und der Vielzahl an Funktionen ist die Vorstellung der Zivilisie­ rung allenfalls auf die Zukunft gerichtet. An die Tätigkeit der internationalen Organisationen werden je nach politischtheoretischer Ausrichtung unterschiedliche Erwartungen geknüpft. Neo-Realisten verstehen internationale Organisationen als Sonderfall in einer Welt der Anarchie. Sie sind danach vor allem Zweckbündnisse zur Absicherung nationaler Interessen und gegenseitiger Kontrolle von Staaten, während der Institutionalismus von den internationalen Organisationen eine Bearbeitung und Regulierung von Problemen erwartet. Über die Bildung von „Regimen“, etwa im Menschenrechtsbereich oder beim Klimaschutz können internationale Organisationen durchaus effektiv sein und in Teilbereichen Verbesserungen bewirken. Sozialkonstruktivisten wiederum betonen die Entwicklung und Verrechtlichung von Normen, die über internationale Organisa­ tionen globale Verbreitung finden und so das internationale System transformieren können. Internationale Organisationen fügen sich so in ein dynamisches System glo­ baler Interaktionen ein, die der Verbreitung allgemein gültiger Normen wie z. B. der Menschenrechtsnorm oder der Nachhaltigkeitsnorm dienen. Im Folgenden wird zunächst die UN als größte internationale Organisation dar­ gestellt, bevor dann die Rolle und Funktion von internationalen NGOs thematisiert wird. Beide Organisationsformen tragen zum politischen Prozess von Global Gover­ nance bei – jedoch in unterschiedlicher Form (vgl. Karns/Mingst 2010: 63 ff.).

7.1 Die Vereinten Nationen Die Vereinten Nationen (United Nations Organisation; UNO oder UN) sind als globale Organisation von entscheidender Bedeutung.² Mit ihren 193 Mitgliedsländern (Stand: 2018) umfassen die Vereinten Nationen nahezu alle Staaten der Welt. Die UN beruht auf dem Prinzip der völkerrechtlichen Gleichheit und Souveränität eines jeden Mit­ gliedstaats, unabhängig davon, ob ein Staat demokratisch oder autoritär verfasst ist. Aufgrund der hohen Mitgliedszahl repräsentiert sie alle Kontinente und Regionen der Erde. An die Vereinten Nationen werden daher hohe Erwartungen hinsichtlich der Bearbeitung und Bewältigung globaler Probleme gerichtet (vgl. Karns/Mingst 2010: 95 ff.). Die Bewertung der Rolle und der Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen hängt dabei zum einen vom Erwartungshorizont der Analyse ab, etwa ob die UN als Krisen­

2 Vgl. zur Übersicht Website der Vereinten Nationen: www.un.org/Depts/german (aufgerufen am 16.02.2018).

7.1 Die Vereinten Nationen | 241

manager oder als umfassende Weltregierung betrachtet wird, und zum anderen auch vom jeweiligen Politikfeld. Dabei stellt die Friedenssicherung das zentrale Thema der UN dar, das nach der Beendigung des Ost-West-Konflikts noch an Bedeutung hinzu­ gewonnen hat. Wie diese Rolle genau ausgefüllt werden sollte, ist dabei Gegenstand kontroverser Diskussionen. Anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung der Verein­ ten Nationen heißt es beispielsweise in einem Sammelband von 1998 kritisch, die Ver­ einten Nationen stünden am Scheideweg: Sie könnten sich von einer Staatenorganisa­ tion zu einer Organisation der internationalen Gemeinschaftswelt entwickeln; hierzu sei ein Aufarbeiten der möglichen „[. . .] alternativen Wege, auf denen sich die Orga­ nisation künftig entwickeln könnte [. . .]“ notwendig (Albrecht 1998:3). Heute steht das UN-System kollektiver Sicherheit durch neue Konflikttypen in „failed states“, die Zunahme des internationalen Terrorismus und erweiterten Aufgaben bei Friedensmis­ sionen (Peacekeeping) vor neuen Herausforderungen. Auch im Bereich der Menschen­ rechte, in der Flüchtlingspolitik sowie in der Klimaschutz- und Umweltpolitik sind die Aufgaben der Vereinten Nationen komplexer geworden. In der wissenschaftlichen Analyse steht dabei die Frage im Mittelpunkt, wie die Vereinten Nationen als interna­ tionale Organisation den Aufgaben von Global Governance gerecht werden können. Dabei stehen nationale Interessen von Mitgliedstaaten häufig in einem Spannungs­ verhältnis zur Bewältigung globaler Anforderungen, beispielsweise in der Erhaltung des Weltfriedens oder im Klima- und Umweltschutz. Der Begriff Global Governance bezeichnet im Wesentlichen politische Prozesse, die an kodifizierte Normen und eingeübte Regeln im Rahmen von Institutionen ge­ knüpft sind, aber nicht unbedingt einer Regierung im herkömmlichen, nationalstaat­ lich verfassten Sinn bedürfen. Im Kontext staatlicher Politik bezieht sich Governance auf den Aufgabenbereich staatlicher Steuerungs- und Gestaltungspolitik, in dem ne­ ben staatlichen Institutionen auch andere Einrichtungen an der Regulierung und Gestaltung gesellschaftlicher Aufgaben beteiligt sein können. In der internationalen Politik ist der Begriff Governance zuerst im Rahmen der Vereinten Nationen in den 1990er-Jahren prominent geworden. Die Commission on Global Governance der UN definiert den Begriff wie folgt: Governance ist die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse oder unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden kann. Der Begriff umfasst sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme, als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse ange­ sehen werden.³

3 Vgl. Commission on Global Governance (1995). Nachbarn in einer Welt. Der Bericht der Kommission für die Weltordnungspolitik (Stiftung Entwicklung und Frieden). Bonn 1995, S. 4.

242 | 7 Global Governance: Die Vereinten Nationen und internationale NGOs

Globale politische Gestaltung bedeutet nach dieser Auffassung, dass die internatio­ nalen Organisationen die internationalen Beziehungen transformieren und sich dau­ erhafte, durch die internationalen Organisationen repräsentierte Legitimations- und Handlungsmuster herausbilden (vgl. z. B. Behrens 2005; Karn/Mingst 2010; Kratoch­ wil/Mansfield 2005). Über die Einführung von Regeln und Normen, die über die Si­ cherheitspolitik hinaus inzwischen weitere Politikfelder umfassen, entscheidet oft ein konfliktreicher Aushandlungsprozess. Dabei geht es nicht nur um die strukturellen und funktionalen Aspekte einer Regierungskapazität der internationalen Organisa­ tionen, sondern auch um die Kompetenz bei der Lösung politischer Probleme, um Normsetzung und Normeinhaltung (compliance) sowie um Kommunikations- und So­ zialisationsprozesse im internationalen Kontext (vgl. Risse 2007). Wie alle internatio­ nalen Organisationen beruhen die Vereinten Nationen auf dem Souveränitätsprinzip, d. h. die Mitgliedstaaten behalten ihre rechtliche Kompetenz auf allen Politikfeldern bei. Globale Politikgestaltung findet nur dann statt, wenn die Staaten hierzu bereit sind. Die Entwicklung von Global Governance ist daher auf die Kooperation der Mit­ gliedstaaten angewiesen. Die Folgebereitschaft kann entweder auf den Interessen der Staaten beruhen, die ihre Ziele durchsetzen wollen, oder auf geteilten Normen basie­ ren. Die Frage, ob das internationale System dauerhaft in einen friedlichen, gerechten und ökologisch nachhaltigen Zustand überführt werden kann, wird in Hinblick auf die Rolle, die internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen einnehmen können, kontrovers diskutiert. Die Positionen reichen von einer strukturell begründe­ ten, skeptischen Einschätzung internationaler Organisationen über die partielle An­ erkennung ihrer Leistungen bis hin zu der Erwartung, dass die Vereinten Nationen eine neue „Weltregierung“ bilden könnten. Die neorealistische Denkschule internatio­ naler Beziehungen, die von einem Zustand der „Anarchie“ in der Weltpolitik ausgeht, vertritt eine skeptische Position gegenüber den Vereinten Nationen. Sie argumentiert, dass die Vereinten Nationen, da sie auf dem Prinzip staatlich souveräner Mitglied­ staaten aufbauen, schon aus völkerrechtlichen Gründen die Struktur des Weltsystems nicht transformieren könnten. Gegen die potenzielle Bedrohung der Sicherheit von Staaten, sei es durch neue Waffensysteme oder aufsteigende, expansive Mächte, könn­ ten sich nach ihrer Auffassung nur die Staaten selbst schützen; dies gilt vor allem auch angesichts der weltweiten Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Die In­ teressen von Staaten haben daher stets Vorrang vor globalen Aufgaben. Anders se­ hen Institutionalisten die Bedeutung internationaler Organisationen. Letztere haben nach ihrer Auffassung die internationalen Beziehungen bereits soweit transformiert, dass diese Organisationen einen Bezugsrahmen für die transnationalen Akteure bil­ den, den sie in ihre Handlungsmuster und Entscheidungsoptionen einbeziehen. In einigen Politikfeldern, wie im Bereich der Menschenrechte sowie im internationalen Umweltschutz sind nach Auffassung der Institutionalisten bereits internationale Re­ gelwerke („Regime“) entstanden, die normierte und allgemein verbindliche Verfahren zumindest in einigen Sachbereichen der internationalen Politik vorgeben. Normbil­

7.1 Die Vereinten Nationen | 243

dung wirkt einerseits als verbindlicher Rahmen für die internationale Staatengemein­ schaft, auf die sich alle Staaten und internationalen Akteure beziehen, andererseits versuchen Staaten zugleich, auf diese Normbildung Einfluss zu nehmen oder sie nach ihren Vorstellungen zu verändern. Ob und in welcher Weise dadurch eine „Weltordnung“ entstehen kann, bleibt al­ lerdings umstritten. Vom Standpunkt der Vertreter einer „Weltinnenpolitik“ (Seng­ haas 1992) werden die größten Erwartungen an die internationalen Organisationen gerichtet. Sie gehen davon aus, dass eine gemeinsame politische Gestaltung der Welt heute möglich und notwendig ist, da globale Probleme alle Staaten angehen und diese nur im internationalen Rahmen gemeinschaftlich gelöst werden können. Die Verein­ ten Nationen sollten zur Lösung der weltweiten Sicherheits-, Ökologie- und Bevölke­ rungsprobleme eine Form der „Weltregierung“ bilden. Diese Vorstellung steht aller­ dings in einem Spannungsverhältnis zu den Macht- und Entscheidungsstrukturen im globalen System. Gegen die mit einer Weltregierung verbundene Zentralisierung po­ litischer Entscheidungsmacht erheben nicht nur „Souveränisten“ Einspruch, die auf die Unabhängigkeit und Souveränität von Staaten bestehen, auch progressive liberale Institutionalisten formulieren Einwände, da die Einhaltung von Regeln und Normen auf freiwilliger Basis beruhen und Überzeugungsprozesse beinhalten müsse. Sie kriti­ sieren die im Weltregierungs-Entwurf enthaltene Zentralisierung von Macht, die ange­ sichts der kulturellen und politischen Vielfalt der Völker der Welt zum „Despotismus“ missbraucht werden könnte. Neorealistische, institutionalistische und kosmopoliti­ sche Positionen vertreten damit unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung und Ausgestaltung von Global Governance und der daraus resultierenden Rolle der UN. In der neueren, vom Sozialkonstruktivismus beeinflussten, Forschung steht dage­ gen die Wechselbeziehung zwischen institutionellem Kontext und ideellen Konzep­ ten im Mittelpunkt. Ein wichtiges Kriterium, um die Entwicklung von Global Gover­ nance zu beurteilen, besteht dabei in der internationalen Unterstützung und in dem Grad der Übereinstimmung zwischen internationalen Normen und deren Umsetzung in den Mitgliedsländern. Dabei zeigt sich, dass „soft laws“, also Regeln, die Umset­ zungsspielräume beinhalten und die Normeinhaltung durch Deliberation und Sozia­ lisierungsprozesse herbeiführen, wirksamer als „harte“ Regeln sein können, welche zwar Sanktionen oder andere Zwangsmaßnahmen vorsehen, oft jedoch nicht einge­ halten werden, da sie aufgrund der rechtlichen Selbstständigkeit der Mitgliedstaaten nicht durch die Vereinten Nationen eingefordert werden können. Dies gilt insbeson­ dere dann, wenn Staaten und transnationale Akteure sich dagegen sperren. „Damit treten Argumentieren und Begründen in den Vordergrund der Diskussion über neue Formen des Regierens.“ (Risse 2007: 57). Wird von Prozessen der Deliberation aus­ gegangen, dann folgt der Entwicklung gemeinsamer, kollektiven Regeln ein Prozess des Lernens und der Policy-Diffusion. Hierfür gibt es in der Entwicklung der Vereinten Nationen etliche Beispiele, etwa wenn die Verbreitung der Menschenrechtsnorm über einen längeren Zeitverlauf analysiert wird, oder wenn Staaten bei der Klimaschutzpo­

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litik miteinander kooperieren, um Lösungen für globale, grenzüberschreitende Pro­ bleme zu finden.

7.1.1 Geschichte und Bedeutung der Vereinten Nationen Historischer Vorläufer der Vereinten Nationen ist der Völkerbund. Bereits während der beiden Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 wurde der Gedanke einer inter­ nationalen Friedensorganisation entworfen, der während des Ersten Weltkriegs vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson in seinem 14-Punkte-Plan von 1918 wie­ der aufgegriffen und in der Gründung des Völkerbundes 1920 mit Sitz in Genf umge­ setzt wurde. Die Konzeption des Völkerbundes, dem die USA jedoch aus innenpoli­ tischen Gründen nicht beitraten, beruhte auf den Vorstellungen von Präsident Wil­ son, wonach die Staaten aufgerufen waren, eine Institution „kollektiver Sicherheit“ zu schaffen. Wie Wilson in seiner Rede vor dem US-Senat am 22. Januar 1917 ausführ­ te: It will be absolutely necessary that a force be created as a guarantor of the permanency of the settlement so much greater than the force of any nation now engaged or any alliance hitherto formed or projected that no nation, no probable combination of nations could face or withstand it. If the peace presently to be made is to endure, it must be a peace made secure by the organized major force of mankind [. . .] When all unite to act in the same sense and with the same purpose all act in the common interest and are free to live their lives under a common protection. (Wilson, zitiert in Graebner 1964: 441 f.).

Die Idee eines Systems kollektiver Sicherheit, in dem nicht die Staaten, sondern die in­ ternationale Gemeinschaft über den Weltfrieden wachen sollte, erhielt nach den trau­ matischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts wieder neue Ak­ tualität und führte zur Bildung der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen wurden am 26. Juni 1945 auf Initiative der Vereinigten Staaten in San Franzisco gegründet. 50 Staaten zählten zu den Gründungsmitglie­ dern. Ursprünglich basierend auf dem Kriegsbündnis der Alliierten gegen die Ach­ senmächte Deutschland, Italien und Japan wurde die Organisation schrittweise er­ weitert, vor allem mit der Aufnahme der unabhängig gewordenen, ehemaligen Kolo­ nien während der 1950er- und 60er-Jahre. Zugleich polarisierten sich die politischen Kräfteverhältnisse während der Zeit des Kalten Krieges, sodass die Auseinanderset­ zung zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion die Politik der Ver­ einten Nationen dominierte und die Organisation in entscheidenden Konfliktsituatio­ nen blockiert und handlungsunfähig war; beide Nationen waren zum Veto berechtigte Mitglieder im obersten Entscheidungsgremium, dem Sicherheitsrat. Daher wurde das Ende des Ost-West-Konflikts als Chance für die Erneuerung der Vereinten Nationen begrüßt. Heute sind die UN als Vereinigung von 193 Mitgliedstaaten (Stand: 2018) mit Sitz in New York die umfassendste globale Organisation, die auch zahlreiche Sonder-

7.1 Die Vereinten Nationen |

245

und Unterorganisationen umfasst. Allerdings ist die Diskussion um die Reform der UN nach Ende des Ost-West-Konflikts bis heute nicht abgeschlossen und stellt eine große Herausforderung dar. Die zentrale Zielsetzung der Vereinten Nationen besteht in der weltweiten Frie­ denssicherung. Gemäß Artikel 1 der UN-Charta setzen sich die Vereinten Nationen für das anspruchsvolle Ziel ein, „[. . .] den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Be­ drohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und an­ dere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situatio­ nen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“. (UN-Charta, Art. 1, Ziff. 1). Die Charta sieht zu diesem Zweck kollektive Sicherheits­ maßnahmen, ein allgemeines Verbot der Anwendung von Gewalt sowie die Achtung von Menschenrechten vor. Im Bereich der Achtung der Menschenrechte haben die Ver­ einten Nationen seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschen­ rechte (1948) der Beseitigung von Rassismus, religiöser und ethnischer Diskriminie­ rung sowie den Frauenrechten große Aufmerksamkeit gewidmet und hierzu geson­ derte Erklärungen verabschiedet. Seit der Aufnahme der postkolonialen Länder Afrikas und Asiens ist der Aufga­ benbereich der Vereinten Nationen stetig gewachsen. Mit der Entwicklungs- und Be­ völkerungspolitik sowie der Bekämpfung der weltweiten Armut haben die Vereinten Nationen einen großen Aufgabenbereich zu bewältigen. Gerade für die Länder des Südens haben sie sich zu einem wichtigen internationalen Forum mit einem weit ver­ zweigten, komplexen System weltweiter Kooperation und Unterstützung entwickelt. In ihren Milleniumszielen hatten sich die Vereinten Nationen beispielsweise die Redu­ zierung der Armut und die Verbesserung der Lebensverhältnisse einschließlich besse­ rer Gesundheitsbedingungen und Bildung zum Ziel gesetzt und hier auch Fortschritte erzielen können. Zwar ist Armut und Unterentwicklung immer noch in vielen Regio­ nen der Welt ein großes Problem, aber in einigen Ländern konnten nachhaltige Ver­ besserungen erreicht werden, wie beispielsweise in der Verbesserung der Schulbil­ dung, der Bekämpfung von Malaria und HIV und der Infrastruktur (vgl. Kap. 2.1.2).⁴ Zu den Aufgabenbereichen der Vereinten Nationen gehören heute im Einzelnen: Sicherheitspolitik und „friedenserhaltende Operationen“, Rüstungskontrolle, Schutz der Menschenrechte, Stärkung der Frauenrechte, Aktivitäten im wirtschaftlichen und sozialen Bereich vor allem in der Entwicklungspolitik sowie neuerdings die Bereiche internationaler Umwelt- und Klimaschutz. Da die Vereinten Nationen der wirtschaft­ lichen und sozialen Entwicklung im Rahmen der Friedenssicherung eine erhebliche

4 Vgl. den Bericht zu den Milleniumszielen 2015, http://www.un.org/millenniumgoals/2015_MDG_ Report/pdf/MDG%202015%20rev%20(July%201).pdf (aufgerufen am 20.03.2018).

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Bedeutung beimessen, widmen sich die Sonder- und Unterorganisationen auch Han­ dels-, Finanz- und Wirtschaftsfragen. Durch die gewachsenen Aufgaben stehen die Vereinten Nationen allerdings vor einem grundlegenden Dilemma. Auf der einen Seite hat der internationale Erwar­ tungsdruck gegenüber der Organisation bei der Sicherung des Friedens und anderen globalen Problemen aktiv zu werden, deutlich zugenommen. Als Stichworte seien genannt: die Ausweitung ethnisch-religiöser und ethno-sozialer Konflikte, die weit­ gehend unkontrollierte Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen (insbesondere nukleare Proliferation), das Weltflüchtlingsproblem, der internationale Terrorismus sowie Klimawandel und die Gefahren ökologischer Großkatastrophen. So ist im Be­ reich der Sicherheitspolitik das Problem der „neuen Kriege“ schwer in den Griff zu bekommen, da diese in der Regel innerhalb von Staaten stattfinden und daher neue Politikinstrumente erfordern, wie z. B. humanitäre Interventionen, die ursprünglich nicht in der UN-Charta vorgesehen waren. Auch die Tatsache, dass es neben den knapp 200 Nationalstaaten auf der Welt etwa 170 ethnische Gruppen ohne „eigenen“ Staat, aber mit Forderungen nach Autonomie und Selbstbestimmung der Minder­ heiten gibt, führt immer wieder zu Konflikten, denn einerseits sind die Vereinten Nationen dem Prinzip der staatlichen Einheit und Nichteinmischung verpflichtet und andererseits erkennen sie das Recht auf Selbstbestimmung von Minderheiten an. Aufgrund der hohen Erwartungen wird die Leistungsfähigkeit der Vereinten Na­ tionen in ihren gegenwärtigen Strukturen zunehmend überfordert. Dies lässt sich bei­ spielsweise im Bereich der Friedenssicherung aufzeigen. So gab es zwischen 1945 und 1988 13 Blauhelmeinsätze, also militärische Einsätze mit Einheiten, die von den Mit­ gliedstaaten für die Friedenssicherungseinsätze gestellt werden; allein in den drei darauf folgenden Jahren wurden 14 weitere Einsätze beschlossen. 1992 betrugen die Gesamtkosten der Friedenseinsätze rund 700 Millionen US-Dollar, 1994 waren es be­ reits ca. 3,5 Milliarden, und im Jahr 2006 rund fünf Milliarden US-Dollar.⁵ Die Verein­ ten Nationen führten im Jahr 2016 weltweit 16 Friedensmissionen mit einem Perso­ nalstand von über 90.000 Männern und Frauen durch. Wie die Organisation betont entsprechen die rund fünf Milliarden US-Dollar, die für Friedenserhaltung ausgeben werden, etwa 0,5 Prozent der globalen jährlichen Militärausgaben.⁶ Dies ist zwar nur ein Bruchteil dessen, was Staaten für Rüstung und Verteidigung ausgeben, allerdings sind die Vereinten Nationen auf die Unterstützung und Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsländer angewiesen. Im Bereich der Friedenssicherung sind die Vereinten Na­ tionen daher bestrebt, regionalen Organisationen, wie der NATO und der Afrikani­ schen Union, mehr Aufgaben zu übertragen (vgl. Koops, MacQueen, u. a. 2015).

5 http://www.un.org/Depts/dpko/dpko/pub/year_review06/PKmissions.pdf (aufgerufen am 06.09.2017). 6 https://www.unric.org/de/pressemitteilungen/6201-weltweite-kosten-fuer-militaer-undfriedenseinsaetze-ein-vergleich (aufgerufen am 16.02.2018).

7.1 Die Vereinten Nationen | 247

In Zeiten, in denen in vielen Ländern, darunter bei den größten Beitragszahlern, wie den Vereinigten Staaten seit 2017, nationalistische Ziele im Vordergrund stehen, wird es schwieriger für die Vereinten Nationen, politische Akzeptanz zu wahren. Eine direkte Folge ist beispielsweise das Problem eines verlässlichen Budgets, wenn wich­ tige Beitragszahler Mitgliedsbeiträge einbehalten oder als Druckmittel einsetzen. Bis­ lang gibt es jedoch keine gleichwertige Alternative zu den Aktivitäten der Vereinten Nationen. Die gegenwärtige Diskussion konzentriert sich daher vor allem darauf, Kon­ zepte einer Reform der Organisation zu entwickeln, welche auch den Blockade anfäl­ ligen Sicherheitsrat in den Blick nehmen. In der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland haben die Vereinten Natio­ nen bis zum Ende des Ost-West-Konflikts nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Erst 1974 wurde Westdeutschland, zusammen mit der DDR, in die Vereinten Nationen auf­ genommen. Nach der deutschen Einheit 1990 und der damit verbundenen Wieder­ herstellung vollständiger Souveränität ist die Mitarbeit Deutschlands in den Verein­ ten Nationen kontinuierlich aufgewertet worden. Innenpolitisch umstritten war dabei zunächst die Beteiligung Deutschlands bei friedenssichernden Maßnahmen aufgrund der historisch bedingten Selbstbeschränkung der Bundesrepublik bei militärischen Auslandseinsätzen. Nach der deutschen Vereinigung beteiligte sich die Bundesrepu­ blik nur in begrenztem Umfang an UN- bzw. NATO-Einsätzen außerhalb des NATOGebiets. Diese wurden dann ausgedehnt, zuerst im Somalia-Einsatz (1992) und spä­ ter im Bosnien-Krieg (1992–95). Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 12. Juli 1994 wurde dann eine Klärung über die verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser umstrittenen Einsätze herbeigeführt, in der sichergestellt wird, dass die militärischen Auslandseinsätze nur in einem interna­ tionalen Verbund erfolgen dürfen und vom Parlament beschlossen werden müssen; in der Regel soll nach einem breiten Konsens zudem auch ein UN-Mandat vorliegen. Ein hiervon abweichender Fall ist die Entscheidung der Bundesregierung im März 2011, nicht am NATO-Einsatz zum Schutz von Zivilsten gegen das Regime in Libyen teilzu­ nehmen, obwohl hier beide Bedingungen, das UN-Mandat und die NATO-Rolle, ge­ währleistet waren. Bei den UN-mandatierten Einsätzen in Afghanistan, Mazedonien und im Kosovo hat sich die Bundesrepublik im Rahmen des Wiederaufbaus nicht nur mit Bundeswehr- und Polizeieinheiten beteiligt, sondern ist inzwischen auch mit lei­ tenden bzw. koordinierenden Funktionen betraut. Aufgrund ihres relativ hohen Beitrags zur UN (Stand 2017: Deutschland steht an Platz 4 der Beitragszahler, nach den USA, Japan und China) und des Engagements bei UN-Friedensmissionen bemühte sich die Bundesrepublik Anfang 2000 darum, ei­ nen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erhalten. Während der Amtszeit von Gene­ ralsekretär Kofi Annan (1997–2006) konnte jedoch mit dem Scheitern einer „großen“ UN-Reform auch das Anliegen Deutschlands, einen Sitz im Sicherheitsrat zu erhal­ ten, nicht realisiert werden. Dagegen bewirbt sich Deutschland regelmäßig um einen Sitz als nicht ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, einer zeitlich befristeten, interna­ tional aber verantwortungsvollen Aufgabe. Seit 1977/78 konnte Deutschland bisher

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fünf Mal als nicht ständiges Mitglied im Sicherheitsrat mitwirken und wird 2019–2020 wiederum nicht ständiges Mitglied in diesem Gremium sein. Die Reformdebatte mit einer Erweiterung des Sicherheitsrates ist bis heute nicht abgeschlossen, aber es ist unwahrscheinlich, dass ein weiteres europäisches Land einen ständigen Sitz erhält; eine Erweiterung müsste vielmehr Länder aus Afrika, Asien und Lateinamerika ein­ schließen.

7.1.2 Die Organe der Vereinten Nationen Die Vereinten Nationen haben mit der Zunahme ihrer Aufgaben ihren institutionellen Apparat immer weiter ausgebaut. Die zentralen Hauptorgane der UN sind:⁷ – der Sicherheitsrat (Security Council) mit insgesamt 15 Mitgliedern, darunter die fünf ständigen Mitglieder USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China sowie zehn nicht ständige Mitglieder, die jeweils auf zwei Jahre von der General­ versammlung gewählt werden (darunter Deutschland zuletzt von 2011 bis 2012). Beschlüsse bedürfen der Zustimmung von mindestens neun Mitgliedern, darun­ ter alle Stimmen der fünf ständigen Mitglieder, die jeweils ein Vetorecht haben. Das völkerrechtlich begründete Vetorecht ist politisch gesehen ein starkes Instru­ ment, welches die einmal gefällten Entscheidungen auf eine breite Legitimations­ basis stellen soll. Das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder bleibt jedoch bei Kritikern umstritten, da es die UN zur Handlungsunfähigkeit verdammen kann, wenn bereits eines der ständigen Mitglieder einer Maßnahme nicht zustimmt. – das Sekretariat (United Nations Secretariat), dem der Generalsekretär als höchster Beamter vorsteht. Er wird für fünf Jahre gewählt und erfüllt neben seinen adminis­ trativen Aufgaben auch eine politische Funktion; Generalsekretäre setzen eigene politische Schwerpunkte und repräsentieren die UN nach außen. Das Amt ist als Verkörperung der UN-Ideale mit großem moralischem Gewicht ausgestattet. Der­ zeitiger Generalsekretär ist seit Januar 2017 António Guterres. Das Sekretariat mit Hauptsitz in New York hat rund 40.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Dane­ ben gibt es Vertretungen in Genf, Nairobi und Wien. Das Sekretariat ist in Dut­ zende Büros und Abteilungen untergliedert, die sich mit bestimmten Themen wie Friedensmissionen, Entwicklungspolitik oder regionalen Problemen befassen. – die Generalversammlung (General Assembly): Alle 193 Mitgliedsländer der Verein­ ten Nationen haben einen Sitz in der Generalversammlung. Sie kann Empfehlun­ gen abgeben und wird daher häufig als Forum für die Darstellung nationaler Posi­ tionen genutzt. Die Empfehlungen der Generalversammlung sind nicht bindend für die Mitglieder. Weiterhin entscheidet sie über die Aufnahme neuer Mitglieder, verabschiedet den Etat, und wählt u. a. die nicht ständigen Mitglieder des Sicher­ 7 Vgl. http://www.dgvn.de/un-im-ueberblick/70-jahre-vereinte-nationen/un-hauptorgane/ (aufge­ rufen am 12.03.2018).

7.1 Die Vereinten Nationen |

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heitsrates sowie auf Vorschlag des Sicherheitsrates den Generalsekretär. Die Län­ der der Europäischen Union sind als Länder einzeln vertreten, stimmen sich in ihren Positionen aber zunehmend ab und sprechen „mit einer Stimme“. Als weitere UN-Organe sind der Internationale Gerichtshof (International Court of Justice ICJ) mit Sitz in Den Haag zu erwähnen, der Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten regelt. Er ist nicht zu verwechseln mit dem im Juli 2002 eingerichteten In­ ternationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein weiteres Organ ist der Wirtschafts- und Sozialrat (Economic and Social Council, ECOSOC), dem mehrere Sonderorganisationen unterstellt sind wie z. B. der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Internationale NGOs müssen beim ECOSOC akkreditiert werden. Zur Wahrnehmung besonderer Aufgaben haben die Vereinten Nationen dar­ über hinaus Neben- und Sonderorganisationen gebildet, wie das Umweltprogramm UNEP, das Flüchtlingskommissariat UNHCR und das Entwicklungsprogramm UNDP sowie Sonderorganisationen mit rechtlich selbstständigem Status wie z. B. im Bereich Bildung die UNESCO oder für globale Aufgaben in der Gesundheitspolitik die WHO.

7.1.3 Reformbedarf der Vereinten Nationen Die Vereinten Nationen haben ihre Instrumente und Strategien ständig an die ver­ änderte Konstellation globaler Herausforderungen angepasst. Aber noch immer be­ herrschen Krieg und Gewalt, Flüchtlingsnot, Menschenrechtsverletzungen und Ar­ mut die internationale Politik. Für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität gibt es mehrere Gründe. Zum einen war die politische Handlungsfähigkeit im Sicher­ heitsrat durch die Blockaden im Ost-West-Konflikt stark eingeschränkt. Viele Konflik­ te globaler und regionaler Art wurden im Spannungsfeld der politischen und militäri­ schen Interessen der Großmächte ausgetragen, ohne dass die Vereinten Nationen eine Mittlerrolle übernehmen konnten. Aber auch strukturelle und administrative Proble­ me der Organisation, die Mittelausstattung sowie völkerrechtliche Probleme sind als Gründe für die teils schwache Rolle bei der Friedenserhaltung anzusehen. Daher fin­ det seit einiger Zeit eine intensive Debatte über eine Reform der Vereinten Nationen statt. Als Reaktion auf den erbitterten Streit im Sicherheitsrat über den Irak-Krieg und den Alleingang der USA und Großbritanniens 2003 forderte der UN-Generalsekretär Kofi Annan beispielsweise eine durchgreifende Reform der wichtigsten Organe der Vereinten Nationen, darunter eine Erweiterung des Sicherheitsrates. Auch die Idee, das Vetorecht durch ein Mehrheitswahlsystem abzulösen und damit die Handlungsfä­ higkeit der Vereinten Nationen zu erhöhen, ist Teil der Reformdiskussion. Allerdings musste der Generalsekretär zum Ende seiner Amtszeit ein Scheitern der Reformvor­ schläge eingestehen und sein Nachfolger, Ban Ki-moon (2007–2016), der die Reform­

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pläne fortgeführt hat, konnte ebenfalls keine konkreten Strukturveränderungen um­ setzen. Die Aufgabe, die Vereinten Nationen handlungsfähiger zu gestalten, bleibt da­ her bestehen. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts sind mehrere Vorschläge unterbreiten wor­ den, um die Vereinten Nationen zu reformieren, damit sie ihre Aufgaben im Sinne von Global Governance besser erfüllen können, darunter Konzepte von Generalsekretär Boutros Butros-Ghali (1992–1996), Kofi Annan (1997–2006), Ban Ki-moon (2007–2016) sowie António Guterres (2017–). Zu den wichtigsten Initiativen und Veränderungen gehören: – die „Agenda für den Frieden“, vorgelegt vom damaligen UN-Generalsekretär Bou­ tros Boutros-Ghali im Juni 1992 (Boutros-Gali 1992). Kernpunkte bildeten der Aus­ bau vorbeugender Diplomatie, der Aufbau einer ständig abrufbereiten, bewaffne­ ten UN-Truppe für friedensschaffende Maßnahmen sowie ein umfassendes Kon­ fliktmanagement zur Friedenssicherung. Weitere Vorschläge bezogen sich auf die Abschaffung des Vetos im Weltsicherheitsrat sowie die Erhebung von Sondersteu­ ern für die Vereinten Nationen weltweit. Nur wenige dieser Vorschläge konnten umgesetzt werden. So müssen die Vereinten Nationen bei Peacekeeping-Operatio­ nen jeweils regionale Organisationen, wie die Afrikanische Union oder die NATO, mit konkreten Einsätzen beauftragen, da ein Aufbau einer ständigen UN-Truppe politisch und kapazitätsmäßig nicht durchsetzbar ist. Allerdings ist das präventi­ ve Konfliktmanagement deutlich ausgebaut worden. – Ein weiterer Reformvorschlag bezieht sich auf das Konzept Global Governance. Eine eigens eingerichtete, unabhängige Arbeitsgruppe, die „Commission on Glob­ al Governance“ legte 1995 einen Bericht mit ausgearbeiteten Reformvorschlägen vor („Our Global Neighbourhood“, Leitung Ingvar Carlsson und Shridath Ram­ phal). Darin wurden folgende Kernpunkte benannt: eine Erhöhung der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat von fünf auf zehn Länder, darunter Vertreter aus den drei Entwicklungsregionen Afrika, Asien und Lateinamerika; die Beschränkung des Vetorechts auf diejenigen Fälle, die sich auf militärische Einsätze beziehen; die Einrichtung eines zusätzlichen Sicherheitsrates für Wirtschaftsfragen im Sin­ ne eines „ökonomischen Sicherheitsrats“ bzw. UN-Sozialrates; die Auflösung des wenig wirkungsvollen Wirtschafts- und Sozialrates und die Prüfung anderer, seit längerem kritisierter nicht funktionsfähiger UN-Organe. Aus dem Kreis der Vor­ schläge ist vor allem das Prinzip des Global Governance aufgegriffen und die Effi­ zienz einiger Organe überprüft worden, während andere konkrete Vorschläge, wie die Erweiterung des Sicherheitsrates, bislang nicht durchgesetzt werden konnten. – das Reformprogramm von Generalsekretär Kofi Annan von 1997: Gegenüber den weit gesteckten institutionellen Reformvorschlägen seines Vorgängers legte Ge­ neralsekretär Kofi Annan nach seiner Amtsübernahme 1997 zunächst ein eher be­ scheidenes Reformpaket vor. Es beinhaltete eine Verschlankung der Bürokratie und die Reduzierung von Kosten in der Verwaltung der Organisation. Angemahnt wurde auch die Zahlungsmoral des größten Schuldners USA, deren säumige Zah­

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lungen den finanziellen Handlungsspielraum der Organisation deutlich einge­ engt hatten. Nach den Vorschlägen von Generalsekretär Kofi Annan sollte auch der Sicherheitsrat erweitert werden, um die veränderten weltpolitischen Macht­ verhältnisse institutionell abzubilden. In einer Ende November 2004 von einer Reformkommission vorgelegten Expertise wurden zwei Modelle vorgeschlagen, nach denen der Sicherheitsrat mit derzeit fünf ständigen Mitgliedern um sechs Mitglieder erweitert wird, um der globalen Verantwortung der Vereinten Nationen besser zu entsprechen; dabei waren die Länder Brasilien, Indien, Deutschland, Ja­ pan, Ägypten und Nigeria bzw. Südafrika im Gespräch. Alternativ hierzu schlägt der Bericht ein kompliziertes Rotationsmodell von acht weiteren halb-ständigen Mitgliedern vor. Kofi Annan setzte sich mehrfach, allerdings vergeblich, für diese institutionelle Reform ein. In Bezug auf die Friedensmissionen legten die UN im Jahr 2000 mit dem BrahimiReport (benannt nach dem Vorsitzenden der Kommission Lakdar Brahimi) ei­ ne umfassende Bewertung bisheriger Missionen mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der Friedenseinsätze vor.⁸ Kernpunkt des Berichts war die Verbes­ serung der Einsatzbereitschaft von Friedenstruppen nach einem UN-Mandat. Hierzu soll auch enger mit regionalen Organisationen, wie der NATO, der EU und der Afrikanischen Union, zusammengearbeitet werden. Die Umsetzung erfolgte schrittweise und ist bis heute nicht abgeschlossen (vgl. Kap. 7.1.3). Im Jahr 2000 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1325, die erst­ mals Konfliktparteien dazu aufruft, die Rechte von Frauen besser zu schützen. Hierzu gehört die Forderung, Frauen bei Friedensverhandlungen, in Konflikt­ schlichtungen und beim Wiederaufbau gleichberechtigt einzubeziehen. Die Re­ solution verlangt außerdem, Maßnahmen zur Gewaltprävention und zur Straf­ verfolgung der Täter. Mit der Resolution wird damit ein Zeichen für die Ächtung sexueller Kriegsgewalt gesetzt. Diese Resolution wurde zudem fortlaufend über­ arbeitet und erfuhr 2015 mit der Resolution 2242 ihre letzte Aktualisierung. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nach dem 11. September 2001 und die Frage, wie mit der Gefahr einer weiteren Ausbreitung des internationalen Terrorismus umzugehen sei, hat die Vereinten Nationen vor neue Herausforde­ rungen gestellt. Terrorismusbekämpfung in Form einer „Counter-Terrorism Strat­ egy“ wird heute als eine zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen definiert. Im September 2003 mahnte der Generalsekretär als Reaktion auf die Kontroversen im Sicherheitsrat um den Irak-Krieg dann allerdings auch eine Reform der zentra­ len Organe der UN an, wobei wiederum die Aufgaben und Strukturen des Sicher­ heitsrates auf dem Prüfstand standen, da sich die großen Regionen der Welt im Sicherheitsrat nicht mehr angemessen vertreten fühlten. Zugleich wurde die Ef­

8 Vgl. „Report of the Panel on the Uniterd Nations Peace Operations“, online verfügbar unter: un­ docs.org/A/55/305 (aufgerufen am 28.04.2018).

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fizienz der administrativen Abläufe evaluiert. Die Ambitionen den Sicherheitsrat zu reformieren blieben aber auch in diesem Fall erfolglos. Mit der Reform der Vereinten Nationen entschied sich die UN-Generalversamm­ lung im März 2006 mit großer Mehrheit für die Gründung eines neuen UN-Men­ schenrechtsrates als Nachfolge der im Jahr 1946 gegründeten UN-Menschen­ rechtskommission. Die Kommission war in die Kritik geraten, nicht effektiv für den Schutz der Menschenrechte einzustehen, da es Staaten, die schwerer Men­ schenrechtsverletzungen beschuldigt wurden, möglich war, sich innerhalb der Kommission gegenseitig vor Kritik zu schützen. Aber auch der neu formierte Menschenrechtsrat geriet bald in die Kritik, da unter den 47 Mitgliedern, die von der Generalversammlung gewählt wurden, nicht-demokratische Staaten mit ei­ ner schlechten Menschenrechtsbilanz die Mehrheit haben. Immer wieder kam es daher zu Konflikten über die Arbeitsweise und die Kompetenzen innerhalb des Menschenrechtsrates wie z. B. bei der Frage, ob unabhängige Expertisen von NGOs bei der Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen berücksichtigt werden sollten. Auch wurden mehrfach Untersuchungen über Menschenrechts­ verletzungen in dem Rat blockiert. Angesichts der Konflikte traten die USA 2018 aus dem Menschenrechtsrat aus.

Die bisherigen Reformen der Vereinten Nationen erfolgten ohne eine Änderung der UN-Charta. Dadurch blieb das Veto-Prinzip im Sicherheitsrat unangetastet, ein Um­ stand, den Kritiker als Grundproblem einer effizienten Arbeit der UN bezeichnen (vgl. Karns/Mingst 2010: 131 ff). Das Scheitern wichtiger Reforminitiativen wie die Erwei­ terung des Sicherheitsrats hat mehrere Ursachen. Strukturell besteht das Problem darin, dass die im Sicherheitsrat vertretenen Staaten selbst über eine Reform ihrer Institutionen entscheiden müssten. Da die Abkehr vom Veto-Prinzip sowie die Auf­ nahme neuer Mitglieder die derzeitige Machtposition einzelner Staaten einschränken würde, kann es als höchst unwahrscheinlich gelten, dass die Mitglieder einer Abkehr vom Veto-Prinzip oder einer Erweiterung des Sicherheitsrates zustimmen. Daher sind die institutionellen und politischen Voraussetzungen für ein umfassendes kollek­ tives Sicherheitssystem auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eher schwach, nicht zuletzt weil das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat de­ ren Interessen entspricht und nicht einem allgemeinen, globalen Blickwinkel folgt. Ein weiteres strukturelles Problem besteht in dem ungleichen Gewicht der Länder; so haben die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer militärischen und strategischen Ressourcen einen wesentlich größeren Einfluss als andere Länder und auch China gewinnt aufgrund seiner starken wirtschaftlichen Ressourcen zusehends an Einfluss. Die Präferenzen und Interessen der größeren Länder können von denen der klei­ neren erheblich abweichen. Dies führt dazu, dass die Interessen und Präferenzen der einflussreicheren Länder häufig sichtbarer als die Anliegen der kleineren Länder erscheinen.

7.1 Die Vereinten Nationen | 253

Des Weiteren haben die Vereinten Nationen ein Kompetenz- und Ressourcenpro­ blem. Nicht immer gelingt es, wie im Fall der Menschenrechtsverletzungen in Libyen im Februar 2011 mit einem blutigen Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung, inner­ halb weniger Wochen ein Mandat des Sicherheitsrates zu erteilen und militärische Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung durchzusetzen. Die oft monate- und sogar jahrelang dauernden Verhandlungen über die Bereitstellung von Friedenstrup­ pen, wie im Fall des seit 2003 andauernden Darfur-Konflikts im Sudan, zeigen, wie sehr die UN selbst bei schweren Verstößen gegen das Friedensgebot und die Men­ schenrechte auf den politischen Willen und die Ressourcen der Mitgliedsländer an­ gewiesen ist. Die inzwischen eingeleiteten friedenserhaltenden Maßnahmen, die an regionale Organisationen wie die Afrikanische Union oder die NATO delegiert wur­ den, können dieses Problem nur teilweise beheben, denn auch diese Organisationen haben beschränkte Kompetenzen. Ein weiteres Problem betrifft die Organisation selbst. Das Organisationsproblem der Vereinten Nationen bezieht sich auf die Komplexität und Kompetenzverschachte­ lung der Organisation. Hier haben alle Generalsekretäre versucht, durch administra­ tive Reformen Verbesserungen zu erzielen. Auch António Guterres hat angekündigt, in dieser Hinsicht eine eigene Reformagenda zu setzen. Institutionelles Beharrungs­ vermögen, Kommunikationsdefizite sowie die Diffusion von Macht innerhalb der Or­ ganisation erschweren jedoch die Umsetzungen. Die zukünftige Bedeutung der Vereinten Nationen wird davon abhängen, inwie­ weit sie in der Lage ist, Reformen ihrer inneren Organisation umzusetzen und so ihrem selbst gesteckten Ziel gerecht werden zu können, die globale Sicherheit und den Weltfrieden zu wahren. Bei all den beschriebenen Schwierigkeiten ist jedoch auch zu betonen, dass die Vereinten Nationen eine wichtige Funktion in der Norm­ bildung und ihrer Verbreitung in der internationalen Politik ausüben können. Nach dem Ende von Bürgerkriegen haben die Vereinten Nationen darüber hinaus in vielen Regionen friedenskonsolidierend gewirkt. Positiv kann auch angeführt werden, dass die Vereinten Nationen bereits im Vorfeld von offenen Konflikten durch vorbeugende Diplomatie gewaltsame Konflikte verhindern helfen. Diese präventive Arbeit sollte nach Ansicht der Befürworter bei einer stärkeren Rolle der Vereinten Nationen noch ausgebaut werden. Durch ihre Sonderorganisationen erbringen die Vereinten Natio­ nen darüber hinaus internationale Leistungen, die vor allem die Länder des Südens unterstützen. Schließlich bilden sie ein unverzichtbares Forum für die Behandlung globaler Probleme, etwa bei den Frauenrechten, beim Flüchtlingsschutz oder in der Klimapolitik, wo es zur Verabschiedung wichtiger internationaler Abkommen und Resolutionen gekommen ist. Da andere internationale Organisationen entweder in ihren Zielsetzungen begrenzte Aufgaben erfüllen oder regional ausgerichtet sind, bleiben die Vereinten Nationen ein unverzichtbares Forum für die Bearbeitung globa­ ler Probleme.

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7.1.4 Mittel der Friedenssicherung durch die UN Ein wichtiges Instrument zur Sicherung des Weltfriedens, über das die Vereinten Na­ tionen verfügen, sind militärisch abgesicherte Friedensmissionen, das Peacekeeping (vgl. Koops, MacQueen 2015). Die Friedenstruppen werden als „Blauhelme“ bezeich­ net. Ihr Einsatz setzt ein Mandat des Sicherheitsrates voraus und soll Ländern in schweren Konfliktsituationen oder nach Abschluss von Friedensabkommen helfen, einen dauerhaften Frieden zu sichern. Peacekeeping kann vertrauensbildende Maß­ nahmen, die Unterstützung beim Aufbau funktionierender Polizei- und Rechtssys­ teme, bei der Durchführung von Wahlen oder in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung beinhalten. Daneben können die Vereinten Nationen im Rahmen von Konfliktprävention nicht militärische Maßnahmen ergreifen wie z. B. Sanktionen oder Handelsembargos. Zu den Maßnahmen, die in jüngerer Zeit an Gewicht gewonnen ha­ ben, zählen darüber hinaus humanitäre Interventionen, der Ausbau der präventiven Diplomatie und die Stärkung von Einrichtungen des internationalen Rechts. Peacekeeping hat seit dem Ende des Ost-West-Konflikts erheblich an Bedeutung gewonnen und die Friedenseinsätze haben sich zu einem wichtigen Instrument des UN-Sicherheitsrats bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung für den Frieden ent­ wickelt.⁹ Seit 1948 wurden insgesamt 71 Friedenseinsätze beschlossen. Allein Anfang 2017 wurden 16 Einsätze durchgeführt. Dabei waren 82.700 Soldaten, 12.000 Polizis­ ten, 1800 Militärbeobachter sowie 17.000 Zivilpersonen im Einsatz. Die Einsätze wer­ den von Truppeneinheiten aus verschiedenen Ländern durchgeführt, nachdem sich die ambitionierten Pläne von eigenen UN-Brigaden bislang nicht realisieren ließen. Anfang 2017 stellten 126 verschiedene Staaten das uniformierte Personal der Friedens­ einsätze – die meisten stammten aus Äthiopien, Indien, Pakistan, Bangladesch und Ruanda.¹⁰ Dementsprechend gestiegen ist auch das Budget für Friedensmissionen: Das für die Friedenseinsätze veranschlagte Budget für den Zeitraum Juli 2016 bis Juni 2017 lag bei 7,87 Milliarden US-Dollar; rund drei Viertel der Kosten der Friedenseinsät­ ze entfallen auf Einsätze in Afrika. Am Beispiel des Einsatzes in der Region Darfur im Sudan lassen sich einige Pro­ bleme von Friedensmissionen aufzeigen. Die im Sicherheitsrat im August 2007 gefäll­ te Entscheidung, im Darfur-Konflikt in Sudan einzugreifen, kam erst vier Jahre nach dem Beginn des Mordens mit schätzungsweise 200.000 Toten und mehr als zwei Mil­ lionen Flüchtlingen, die aus der Region vertrieben wurden (Stand: 2007); bis 2016 hat sich die Zahl der Toten nach Schätzungen mehr als verdoppelt. Diese lange Zeitver­ zögerung von vier Jahren zwischen dem Ausbruch des gewaltsamen Konflikts 2003 und dem UN-Mandat 2007 wird vom Sicherheitsrat als ein Kernproblem bei Friedens­ missionen angesehen. Die Entscheidung kam letztlich nur unter massivem, interna­

9 Vgl. http://www.un.org/en/peacekeeping/ (aufgerufen am 16.02.2018). 10 Zur Zusammensetzung der Truppen und Truppenstärke der UN-Peacekeeper vgl. https: //peacekeeping.un.org./sites/default/files/surge_chart_april14_eng.pdf (aufgerufen am 04.07.2018).

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tionalem Druck zustande; die Resolution 1769 zur Schaffung der Unamid wird als be­ deutender diplomatischer Erfolg für die westlichen Vetomächte im UN-Sicherheitsrat gewertet, die sich seit Jahren für eine Friedenstruppe in Darfur eingesetzt hatten. Erst als China, ein Land, das enge wirtschaftliche Beziehungen im Sudan vor allem in der Erdölförderung unterhält, seine Zustimmung für den mit einem robusten Mandat aus­ gestatteten „Blauhelm-Einsatz“ gab, war der Weg für die Schaffung einer Mission frei. In der Umsetzung der UN-Resolution arbeiteten die Vereinten Nationen eng mit der Afrikanischen Union zusammen, die die meisten Truppen stellte. Diese Struktur wird auch „Hybridstruktur“ genannt, da das Kommando an die Afrikanische Union abge­ geben, die rechtliche Verantwortung aber bei der UN angesiedelt wird. Unmittelbar nach dem Sicherheitsratsbeschluss hatten zunächst Burkina Faso, Kamerun und Ni­ geria Soldaten zugesagt, wobei der Aufbau der militärischen Sicherheit zwangsläufig auch die Beteiligung von hochspezialisierten Soldaten erfordert, sodass sich der Auf­ bau des Truppenkontingents weiter verzögerte. Die UN hat aus dieser Erfahrung sowie aus anderen Missionen den Schluss ge­ zogen, ein Peacemaking capability readiness system (PCRS) einzurichten. Die 2015 be­ schlossene Maßnahme, die an die Empfehlungen des Brahimi-Reports anknüpft, sieht vor, dass Länder bestimmte Einheiten vorhalten, die auf Anfrage des Generalsekretärs innerhalb von 60 Tagen schnell für ein UN-Mandat einsetzbar sind. Diese Maßnahme, die auf der Bereitschaft der Mitgliedsländer zur Kooperation beruht, soll bis 2018 um­ gesetzt werden. Dabei geht es nicht nur um militärisches Personal zum Schutz der Zi­ vilbevölkerung in einem Konfliktfall, sondern auch um Polizeikräfte sowie Zivilisten mit Spezialkenntnissen. Auch von der deutschen Bundesregierung wird eine entspre­ chende Unterstützung erwartet. Die UN delegiert außerdem Aufgaben des Peacekeep­ ing direkt an regionale Organisationen wie die NATO oder die EU. Eine weitere wichtige Änderung in den Friedensmissionen, die nach den Erfah­ rungen der brutalen „neuen Kriege“ der 1990er-Jahre vom Sicherheitsrat umgesetzt wurde, ist die Berücksichtigung einer Geschlechterperspektive in Konfliktsituationen und in den Friedensprozessen, die auf Basis der UN-Resolution 1325 (2000) zu „Wo­ men, Peace, and Security“ vorgenommen wurde (vgl. Joachim/Schneiker 2012). Hier­ zu zählen die stärkere Berücksichtigung der Belange von Mädchen und Frauen in Kriegs- und Krisengebieten, eine verbesserte Partizipation von Frauen an Friedensver­ handlungen, die Integration von Frauenbelangen in das Mandat der UN-Friedensmis­ sionen und die stärkere personelle Beteiligung von Frauen in militärischen und zivi­ len Kontingenten. Ein im Jahr 2015 ins Leben gerufenes Female Military Peacekeepers Network soll die UN dabei unterstützen und das Profil der weiblichen Peacekeepers stärken. Das im Department for Peacekeeping Operations (DPO) der Vereinten Natio­ nen angesiedelte Office of Military Affairs lobt seit 2016 einen Preis für besonders en­ gagierte Personen als „gender advocate of the year“ aus. Wie Abb. 7.1 zeigt, finden derzeit die meisten Peacekeeping-Operationen in Afrika statt, die rund 80 Prozent der Mittel erfordern, unter anderem in Einsätzen im Kon­ go, in Liberia, Süd-Sudan, Elfenbeinküste, Burundi, Äthiopien und Eritrea. Die Dauer

vergangene UN-Einsätze

4.757 / davon 2.343 Soldaten Haiti – MINUSTAH

12.208 / davon 10.108 Soldaten Zentralafrikanische Republik – MINUSCA

17 / davon 7 Soldaten Côte d’lvoire – UNOCI

744 / davon 419 Soldaten Liberia – UNMIL

12.338 / davon 11.024 Soldaten Mali – MINUSMA

231 / davon 27 Soldaten westliche Sahara – MINURSO

858 / nur Soldaten Israel/Syrien (Golan-Höhlen) – UNDOF

17 / keine Soldaten Kosovo – UNMIK

947 / davon 878 Soldaten Zypern – UNFICYP

18.780 / davon 16.937 Soldaten Demokratische Republik Kongo – MONUSCO

13.255 / davon 11.555 Soldaten Südsudan – UNMISS

4.533 / davon 4.393 Soldaten Südsudan/Sudan (Abyei) – UNISFA

17.045 / davon 13.607 Soldaten Sudan (Dafur) – UNAMID

laufende UN-Einsätze

41 / keine Soldaten Indien/Pakistan – UNMOGIP

150 / keine Soldaten Mittlerer Osten – UNTSO

10.556 / nur Soldaten Libanon – UNIFIL

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Abb. 7.1: Internationale Friedenseinsätze der UN. Quelle: https://www.bpb.de/nachschlagen/ zahlen-und-fakten/globalisierung/52820/un-friedenseinsaetze (aufgerufen am: 16.05.2018).

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der Einsätze ist höchst unterschiedlich, wobei einige Missionen bereits seit 1948 (Na­ her Osten), 1949 (Indien und Pakistan) und 1964 (Zypern) bestehen. Die Mehrzahl der Operationen begann allerdings erst nach 1990. Neben dem Peacekeeping bzw. den Friedensmissionen, die ein Einverständnis der betroffenen Länder bzw. einer der kriegsführenden Parteien voraussetzen, haben die Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren in mehreren Fällen in eine Krisensi­ tuation durch humanitäre Intervention eingegriffen. Der Begriff der humanitären In­ tervention bezieht sich im Wesentlichen auf einen internationalen Eingriff in das Ho­ heitsgebiet eines Staates zum Schutz von Menschen in einer humanitären Notlage, beispielsweise bei Genozid oder massiven Menschenrechtsverletzungen, und kann auch dann stattfinden, wenn Staaten entweder versagen die Sicherheit ihrer Bürger zu schützen (failing states), selbst grobe Menschenrechtsverletzungen begehen oder die Staatsfunktionen vollständig versagt haben (failed states), sodass keine Zustim­ mung des Staates eingeholt werden kann. Die humanitäre Intervention ist eine Weiterentwicklung des Völkergewohnheits­ rechts. Vor allem im Umgang mit ethnischen, religiösen und ethno-sozialen Konflik­ ten und innerstaatlichen Machtkämpfen stehen die Vereinten Nationen vor neuen Herausforderungen. Dabei wird von den Befürwortern einer aktiveren Rolle der Ver­ einten Nationen gefordert, dass die UN verstärkt bei innerstaatlichen gewaltsamen Konflikten wie im Fall von Völkermord und Vertreibungen („ethnische Säuberungen“) eingreifen. Seit Beginn der 1990er-Jahre haben die Vereinten Nationen mehrere sol­ cher humanitären Interventionen unternommen: Somalia, Haiti, Ruanda, Bosnien, Kosovo, Kurdengebiet und Libyen. In keinem Fall sind die Entscheidungen für eine hu­ manitäre Intervention in der Vergangenheit jedoch ohne Konflikte gefällt worden. Po­ litische Uneinigkeit oder Machtinteressen, der Einfluss von Advocacy-Gruppen oder auch regionale Nähe zu den westlichen Ländern waren stets ein wichtiger Grund bei der Frage, ob eine humanitäre Intervention zustande kommt. So gibt es immer wie­ der Konflikte mit sogenannten „ethnischen Säuberungen“, massenhaften Vertreibun­ gen und krassen Menschenrechtsverletzungen, bei denen die internationale Gemein­ schaft nicht eingreift, wie beispielsweise im Fall der Rohingya in Myanmar 2017. Auch im Syrien-Krieg (2013–) kam keine humanitäre Intervention zustande. Ein Hauptstreitpunkt bei den humanitären Interventionen ist die Frage, inwie­ weit und unter welchen Bedingungen ein militärischer Eingriff von außen überhaupt zulässig ist. Da humanitäre Interventionen nicht als Instrument in der Charta der Ver­ einten Nationen verankert sind, bleibt ihre rechtliche Zulässigkeit aufgrund des Sou­ veränitätsprinzips, dem die UN verpflichtet ist, umstritten. Völkerrechtlich gilt für die Vereinten Nationen einerseits als Leitprinzip die Beachtung der Souveränität von Staa­ ten. Hieraus folgt ein Einmischungsverbot in die inneren Angelegenheiten eines Lan­ des (vgl. UN-Charta, Art. 2.2). Andererseits erfordern sicherheitsbedrohende Situatio­ nen, insbesondere solche, die den Weltfrieden bedrohen, Interventionen der Vereinten Nationen (vgl. UN-Charta, Art. 1). Allerdings gilt dies völkerrechtlich bislang nur für den Selbstverteidigungsfall. Ansonsten sind die UN an das Gewaltverbot gebunden.

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Umstritten ist daher, ob und wann bei innerstaatlichen Konflikten eingegriffen und humanitäre Interventionen durchgeführt werden können, die immer auch militäri­ sche Unterstützung erfordern. Die Positionen reichen von genereller Ablehnung hu­ manitärer Interventionen durch die Vereinten Nationen bis zur nachdrücklichen Be­ fürwortung, wobei die Konfliktlinien sowohl entlang moralisch-ethischer, rechtlicher als auch sicherheitspolitischer Argumentationen verlaufen. Das Prinzip der Verhält­ nismäßigkeit der Mittel sowie die Frage, ob eine humanitäre Intervention Konflikte abschwächt oder vielmehr eskaliert, sind weitere Probleme, die sich bei einem Be­ schluss zur humanitären Intervention ergeben. Allerdings stellt sich bei Untätigkeit die Frage, wie elementare Menschenrechte überhaupt gewahrt werden können, wenn die Vereinten Nationen stets dem Souveränitätsprinzip Vorrang geben. Die rechtliche Debatte kreist dabei um zulässige Ausnahmen vom allgemeinen Gewaltverbot der UN-Charta, das sich rechtlich bislang nur auf den Selbstverteidi­ gungsfall bezieht. Bereits unmittelbar nach Ende des Ost-West-Konflikts hatte der Frie­ densforscher Dieter Senghaas eine „Interventionskasuistik“ gefordert, die eine Liste von Ausnahmefällen enthalten solle, in denen die Vereinten Nationen intervenieren dürfen. Senghaas schlägt folgende Fallgruppen vor: Genozid, Politik der Vertreibung, Hilfsaktionen in Bürgerkriegen und Kriegen, interne Drangsalierungen, Verletzung von Minderheitenrechten, ökologische Kriegsführung, Streben nach Massenvernich­ tungswaffen und ihre Proliferation (Senghaas 1992). Aber wo liegen die Grenzen zur Machtpolitik? Und wer entscheidet über die Ausnahmen? Bis heute ist die Debatte über eine solche Interventionskasuistik nicht abgeschlossen. In einer Weiterentwicklung des Völkergewohnheitsrechts setzt sich die renom­ mierte Rechtsexpertin Anne-Marie Slaughter beispielsweise für eine Verpflichtung zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen ein, um in einigen klar definierten Fällen international eingreifen zu können (vgl. Slaughter 2007). Die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen haben sich unter dem Eindruck des Völkermords in Ruanda, ein Fall, in dem zwar ein UN-Mandat zur Friedenssicherung aber keine robuste UNFriedenstruppe bestand, um die Gewalttätigkeiten zu verhindern, sowie mit Blick auf den Kosovo-Konflikt und andere massive Menschenrechtsverletzungen innerhalb von Staaten unterdessen auf eine Schutzverantwortung (responsibility to protect) geeinigt, um Menschen vor Genozid und Kriegsverbrechen zu schützen und in diesen Fällen auch eine Intervention zu befürworten. Wie weit die Schutzverantwortung definiert wird und wann sie einzusetzen hat, ist jedoch rechtlich sowie politisch weiterhin um­ stritten. So wurde der Einsatz gegen den Machthaber Muammar al-Gaddafi mit einer Schutzverantwortung der Vereinten Nationen für die zivile Bevölkerung des Landes begründet (vgl. Slaughter 2011). Diese Position wurde jedoch selbst von den westli­ chen Ländern nicht allgemein geteilt, wie die Enthaltung Deutschlands in der UNAbstimmung zeigte. Angesichts rechtlicher Unklarheiten und politischer Meinungs­ verschiedenheiten ist es daher nicht klar, ob sich diese Doktrin der Schutzverantwor­ tung (responsibility to protect) als neue Richtschnur innerhalb der Vereinten Nationen durchsetzen wird, oder ob sie nicht vielmehr auf Einzelfälle beschränkt bleibt.

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Präventive Diplomatie und vorbeugende Konfliktbearbeitung werden als weitere wichtige Instrumente der Friedenssicherung von der UN unterstützt. Unter präventi­ ver Diplomatie werden Praktiken verstanden, die bereits vor dem Entstehen gravieren­ der Konflikte auf eine politische Konfliktlösung hinarbeiten. Dabei kommt es darauf an, „zivile“, d. h. gewaltfreie Lösungen für ein Problem bereits im Vorfeld gewaltsamer militärischer Auseinandersetzungen zu entwickeln. Ein relativ breites Spektrum an vorbeugenden Maßnahmen sollte präventiv in der internationalen Politik praktiziert werden: von der militärischen Abrüstung und Konversion über den Schutz von Min­ derheitenrechten und die Demokratisierung politischer Strukturen mit einer Einfüh­ rung von Gewaltenteilung und föderalen Strukturen bei ethnischen Konflikten, Deli­ beration in ethnisch gespaltenen Gesellschaften bis zu wirtschaftlichen Hilfen in Kri­ senregionen sowie generell in Entwicklungsländern. Auch die klassische Diplomatie wird stärker als bisher in der Konfliktprävention eingesetzt; Konfliktbearbeitung kann darüber hinaus etwa durch „multi-track diplomacy“ vorangetrieben werden.¹¹

7.1.5 Stärkung des internationalen Rechts Das internationale Recht ist ein zentrales Instrument der Normbildung und Friedens­ sicherung. Seine besondere Bedeutung liegt darin, dass es zur Zivilisierung der in­ ternationalen Beziehungen beiträgt, indem es Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und andere schwere Verbrechen ahndet und damit Regeln für menschliches und politisches Verhalten setzt. Dabei gilt nach heutigem Rechtsverständnis die Ver­ antwortlichkeit von handelnden Individuen, die, unabhängig von ihrem Status, für diejenigen Verbrechen haftbar gemacht werden sollen, für die eine Verantwortlich­ keit nachgewiesen werden kann (vgl. Sikkink 2011). Für die Verfolgung von schweren Kriegsverbrechen können die Vereinten Natio­ nen internationale Gerichte einsetzen und mit der Aufklärung von Verbrechen und der Bestrafung der Täter beauftragen. So hat der UN-Sicherheitsrat mit der Resolu­ tion 827 am 25. Mai 1993 ein Internationales Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag ins Leben gerufen, das Verbrechen ahnden soll, die im früheren Jugoslawien began­ gen wurden. Gegenstand waren schwere Verstöße gegen die Genfer Konvention und das Kriegsrecht, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einen Höhe­ punkt der Arbeit des Tribunals stellte die Anklage gegen den jugoslawischen Staats­ chef Slobodan Milosevic dar, der später in der Haft verstarb, sowie gegen vier weitere hochrangige jugoslawische Persönlichkeiten am 27. Mai 1999. Jedem der Beschuldig­ ten wurden drei Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht zur Last gelegt (Vertreibung von 740.000 Menschen aus dem Ko­ sovo seit Beginn 1999; Ermordung von 340 namentlich genannten Kosovo-Albanern).

11 Vgl. www.intd.org/about/what-is-multi-track-diplomacy/ (aufgerufen am 20.03.2018).

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Die Anklage, die auf Ermittlungen beruhte, welche bereits vor Beginn der NATO-Luft­ schläge gegen Jugoslawien eingeleitet worden waren, basiert auf dem Prinzip der in­ dividuellen Verantwortung für die zur Last gelegten Taten. Völkerrechtlich war dieses Verfahren insofern ein Novum, als damit zum ersten Mal ein amtierender Präsident eines Landes von einem unabhängigen internationalen Gericht angeklagt worden ist. Im Juni 2011 konnte schließlich auch der bosnisch-serbische Armeeführer Ratko Mla­ dic in Serbien festgenommen und nach Den Haag überführt werden, was als bedeu­ tender Wendepunkt in der Arbeit des UN-Tribunals für Kriegsverbrechen im einstigen Jugoslawien gewertet wurde. Kurz darauf, im Juli 2011, konnte der letzte der insgesamt 161 vom Jugoslawien-Tribunal Beschuldigten festgenommen und dem Tribunal über­ stellt werden. Insgesamt wurden 161 Personen angeklagt, 84 wurden verurteilt, sieben davon zu lebenslanger Haftstrafe. Im Dezember 2017 konnte die Arbeit des Jugoslawi­ en-Tribunals schließlich abgeschlossen werden. Auch in anderen Fällen haben die Vereinten Nationen UN-Tribunale eingerichtet oder unterstützt, so zur Verfolgung von Verbrechen und des Völkermords in Ruanda (1994), manchmal auch zu länger zurückliegenden Verbrechen, wie im Fall von Kam­ bodscha. Hier wurden erst 32 Jahre nach dem Ende des brutalen Pol-Pot-Regimes der Roten Khmer die Hauptverantwortlichen für die damaligen Verbrechen zur Rechen­ schaft gezogen und im Jahr 2014 zu hohen Haftstrafen verurteilt. In Kambodscha star­ ben zwischen 1975 und 1979 rund 1,7 Millionen Menschen, d. h. rund ein Viertel der Bevölkerung, durch die Herrschaft der Roten Khmer.¹² Die Idee der Stärkung des internationalen Rechts wird auch mit dem auf Be­ schluss der UN-Staatenkonferenz in Rom (1998) eingerichteten Ständigen Internatio­ nalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) deutlich (vgl. Sikkink 2011). Während die Kriegsverbrecher-Tribunale jeweils eine Ad-hoc-Gerichtsbarkeit schaf­ fen, ermöglicht der Internationale Strafgerichtshof eine kontinuierliche Verfolgung von Verbrechen, die gegen internationales Recht und völkerrechtliche Grundsätze verstoßen. Auch die Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof durch einen internationalen Vertrag und nicht durch Beschluss des Sicherheitsrates ins Leben ge­ rufen wurde, gibt ihm besonders hohe Legitimität. Der Internationale Strafgerichtshof ist eine internationale Organisation, aber kein Teil der UN; die Beziehung zwischen beiden ist durch ein Kooperationsabkommen geregelt. Das Internationale Strafgericht mit Sitz in Den Haag konnte seine Arbeit im Juli 2002 aufnehmen, nachdem 60 Staaten den Vertrag ratifiziert hatten; inzwischen wird er von 123 Vertragsstaaten unterstützt, darunter alle EU-Staaten (Stand: 2018). Der Internationale Strafgerichtshof unterscheidet sich von bisherigen Völker­ rechtstribunalen dadurch, dass er das Anliegen der internationalen Gemeinschaft, rechtlichen Maßnahmen in einer permanenten Organisation Nachdruck zu verleihen,

12 Vgl. www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/204989/terror-der-roten-khmer (aufgerufen am 04.07.2018).

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verstetigt. Er stützt seine Arbeit auf eine systematische Datensammlung im „Legal Tools Project“, dem u. a. das Norwegian Center for Human Rights sowie Einrich­ tungen deutscher Universitäten zuarbeiten. Rechtlicher Zugriff auf Angeklagte und faktische Verurteilung sind allerdings daran geknüpft, dass die Staaten das Statut des ICC unterzeichnet haben und den Regeln des Gerichts folgen. Eine gewisse Ein­ schränkung seiner Wirksamkeit ergibt sich daraus, dass einige Länder dem Statut nicht beigetreten sind, wie die USA, Russland, China, Indien, Pakistan und Israel, da sie den Strafgerichtshof aus verschiedenen Gründen ablehnen. Im Fall des Genozids in Darfur hat der ICC im März 2009 zuerst einen Haftbefehl gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt, den Präsidenten des Sudan Omar al-Baschir ausgestellt; die Anklage lautet Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Da der Sudan das Rom-Statut nicht unterzeichnet hat, ist seine Überstellung nach Den Haag bisher gescheitert und Bashir übt sein Amt weiter aus. Auch im Fall des Haftbefehls gegen den libyschen Führer Muammar al-Gaddafi, der im Mai 2011 ausgestellt wurde, konnte dieser Haftbefehl nicht vollstreckt werden. Gadda­ fi wurde im Zuge der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Herbst 2011 unter noch nicht völlig geklärten Umständen in Libyen ermordet. Ermittelt wird außerdem wegen Verbrechen in der Zentralafrikanischen Republik, in Kongo, Uganda und Kenia, sowie Fällen in Georgien, Kolumbien, Palästina und Südkorea. Zu den Frieden schaffenden und erhaltenden Maßnahmen zählen auch Wahr­ heits- und Versöhnungskommissionen, die in der Regel nicht von den UN, sondern national in einem Land nach Beendigung von schweren gewaltsamen Auseinander­ setzungen gebildet werden. Zuerst in Lateinamerika in den 1970er- und 1980er-Jahren eingerichtet, sollten sie Ermittlungen über Menschenrechtsverletzungen, aber auch bei Amnestie-Regelungen unterstützen. In Chile wurde dann erstmals das Ziel der Versöhnung mit in den Aufgabenkatalog aufgenommen. Nach 1990 wurden nach der Beendigung der Apartheid in Südafrika ebenfalls Wahrheitskommissionen ein­ gerichtet. Auch in Kolumbien richtete man „Dörfer der Versöhnung“ ein, um die Feindseligkeiten, die in einem fast 50 Jahre dauernden bewaffneten Konflikt von 1958 bis 2012 ausgetragen wurden, zu beenden. Man schätzt, dass etwa 218.000 Menschen in diesem Konflikt gestorben und 4,7 bis 5,7 Millionen Menschen Opfer von Vertrei­ bungen geworden sind. Eine gezielte Versöhnung der verfeindeten Gruppen wird als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden betrachtet und verschiedene Projekte bemühen sich in Kolumbien um deliberative Kommunikation in Schulen, Gemeinden und Vereinen (vgl. Steiner et al. 2017). Besonders interessant ist auch der Fall Kanada, denn er zeigt, wie wichtig das Prinzip der Versöhnung selbst in demokratisch verfassten Gesellschaften ist. Dort ar­ beitete jüngst eine eigens eingesetzte „Truth and Reconciliation Commission“ die Po­ litik der Regierung gegenüber den Ureinwohnern im 19. und 20. Jahrhundert auf. Im Fokus stand dabei die zwangsweise Akkulturation von Kindern der Indianer in spe­ ziellen Einrichtungen („Schulen“), in denen sie oft gequält und misshandelt wurden und zu Tode kamen. Nach sechsjähriger Forschungsarbeit wurde der Bericht im Jahr

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2015 vorgelegt und das Vorgehen als „kultureller Genozid“ der Ureinwohner charak­ terisiert. Kurz darauf gab die kanadische Regierung eine offizielle Entschuldigung ab. Mit einer Anerkennung der Verbrechen und der Würdigung der Opfer sollte eine Poli­ tik der Versöhnung eingeleitet werden. Honouring the Truth, Reconciling for the Future. Summary of the Final Report of the Truth and Recon­ ciliation Commission of Canada The Truth and Reconciliation Commission of Canada was a commission like no other in Canada. Con­ stituted and created by the Indian Residential Schools Settlement Agreement, which settled the class actions, the Commission spent six years travelling to all parts of Canada to hear from the Aborigi­ nal people who had been taken from their families as children, forcibly if necessary, and placed for much of their childhoods in residential schools [. . .] The Commission heard from more than 6,000 wit­ nesses, most of whom survived the experience of living in the schools as students. The stories of that experience are sometimes difficult to accept as something that could have happened in a country such as Canada, which has long prided itself on being a bastion of democracy, peace, and kindness throughout the world. Children were abused, physically and sexually, and they died in the schools in numbers that would not have been tolerated in any school system anywhere in the country, or in the world. (S. 1) Quelle: http://www.trc.ca/websites/trcinstitution/File/2015/Honouring_the_Truth_Reconciling_ for_the_Future_July_23_2015.pdf (aufgerufen am 19.03.2018).

Zusammenfassend gilt es, die international bedeutsame und facettenreiche Bedeu­ tung der Vereinten Nationen zu unterstreichen, auch wenn der kontrovers diskutierte Reformbedarf der Blockade anfälligen Strukturen nicht ignoriert werden kann. Das folgende Kapitel verlässt die zwischenstaatliche Ebene internationaler Orga­ nisationen und wendet sich den Nichtregierungsorganisationen und ihrer Rolle für Global Governance zu.

7.2 Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs) sind Orga­ nisationen, die sich unabhängig von Regierungen in der Zivilgesellschaft gebildet haben, allgemeinpolitische oder spezifische Anliegen vertreten und gesellschaftli­ che oder politische Veränderungen, in der Regel gewaltfrei, herbeiführen wollen. In der englischsprachigen Literatur werden NGOs auch als „voluntary associations“, „non-profit organizations“ oder „civil society organizations“ beschrieben. In der in­ ternationalen Politik haben NGOs als „dritte Kraft“ zwischen Staat und Markt in den letzten Jahrzehnten rapide an Bedeutung gewonnen. Dabei hat die Verbreitung des Internets einen entscheidenden Anteil an der Ausweitung der Zahl internationaler NGOs (vgl. Karns/Mingst 2010: 218). Als internationale NGO bezeichnen die Vereinten Nationen weit gefasst jede in­ ternationale Organisation, die nicht durch zwischenstaatliche Übereinkunft errich­

7.2 Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs)

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tet wurde. So legte der Wirtschafts- und Sozialrat ECOSOC der Vereinten Nationen in einer Resolution vom Juni 1968 fest, dass jede internationale Organisation „[. . .] which is not established by intergovernmental agreement shall be considered as a non-governmental organization [. . .] including organizations which accept members designated by government authorities, provided that such membership does not inter­ fere with the free expression of view of the organization“. (zitiert in Meyers 1994: 546). Einer Unterscheidung der Weltbank folgend können „operational“ und „advocacy“ NGOs unterschieden werden. Erstere konzentrieren sich auf Wandel im kleinen Maß­ stab, etwa bei konkreten humanitären Projekten, während letztere größere Verände­ rungen anstreben und direkt auf politische Institutionen einwirken wollen (vgl. World Bank 1995: 14). Die Arbeit von internationalen NGOs ist nicht an einen staatlichen Auftrag ge­ bunden und sie sind keinem Staat rechenschaftspflichtig. Vielmehr bezeichnen die Forscher Margaret Karns und Karen Mingst sie als Teil der nicht staatlichen Akteure in den internationalen Beziehungen (vgl. Karns/Mingst 2010). In Übereinstimmung mit ihrer Kategorisierung werden im Folgenden nur die NGOs berücksichtigt, die eine gestaltende, politische oder humanitäre Funktion einnehmen, während solche nicht staatlichen Akteure, die zur Gewalt aufrufen und diese anwenden, also die „dark side“ der nicht staatlichen Akteure nach Karns und Mingst, wie internationale Terrorgrup­ pen, kriminelle Vereinigung oder andere gewaltbereite Gruppen hier nicht weiter be­ rücksichtigt werden. Zu den nicht staatlichen Akteuren zählen: – internationale NGOs (INGOs) (z. B. Ärzte ohne Grenzen; Oxfam) – transnationale Netzwerke und Koalitionen (z. B. Internationale Koalition zum Verbot von Landminen) – Experten und epistemische Gemeinschaften (z. B. Klimaexperten; Umweltinstitu­ te) – Stiftungen (z. B. Ford Foundation; Bill and Melinda Gates Foundation) – multinationale Firmen (z. B. Nike, Shell) – Multistakeholder Akteure (lose Allianzen mit unterschiedlichen Akteuren) – soziale Bewegungen (z. B. Fair Trade; Anti-Globalisierungsbewegung) (vgl. Karns/ Mingst 2010: 222). Nach Problemfeldern können internationale Nichtregierungsorganisationen mit all­ gemeinpolitischen, humanitären und Single-Issue-Anliegen unterschieden werden. Beispiele für eine internationale NGO mit allgemein-politischen Anliegen sind das Frauennetzwerk der Europäischen Union sowie internationale Gewerkschaftsverbän­ de; eine humanitäre NGO ist die Gefangenenhilfsorganisation „Amnesty Internation­ al“ und als Beispiel für eine ausschließlich im Umweltschutz tätige NGO (single issue) gilt „Greenpeace“. Viele internationale NGOs sind beim ECOSOC der UN akkreditiert und können Konsultationsstatus erhalten. Das ECOSOC legt bei der Vergabe des Konsultationssta­ tus an NGOs sechs Prinzipien zugrunde: Unterstützung der Ziele der Vereinten Natio­

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nen, demokratische Organisationsform, Non-Profit-Konzept, Gewaltfreiheit, Prinzip der Nichteinmischung in staatliche Angelegenheiten, Unabhängigkeit von zwischen­ staatlichen Vereinbarungen. Dabei vertreten NGOs, die bei den Vereinten Nationen akkreditiert sind, nicht ausschließlich Ziele sozialer Bewegungen, sondern es kann sich auch um Interessenverbände von Unternehmensgruppen handeln, und selbst die amerikanische Waffenlobby („National Rifle Association“) wurde 1996 auf die Liste der NGOs bei den Vereinten Nationen gesetzt (vgl. Willetts 2001: 375). Von den NGOs mit Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat ECOSOC sind die meisten Grup­ pen bereits über einen längeren Zeitraum akkreditiert. In bestimmten Problemberei­ chen sind NGOs überdies besonders aktiv. So nahmen bei den Jahrestagungen der UN-Menschenrechtskommission nicht nur die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen teil, sondern es waren auch etwa 200 nicht staatliche Organisationen als Beobachter vertreten. Auch im Bereich des Umweltschutzes sind NGOs besonders aktiv. Die Zahl der internationalen NGOs mit Konsultativstatus bei der UN erreichte En­ de 1997 mit fast 1400 einen neuen Höchststand; 2010 waren es bereits 3382 und heute sind 4992 internationale nicht staatliche Organisationen bei den Vereinten Nationen ständig akkreditiert. Die Gesamtzahl der NGOs weltweit lässt sich nur schätzen; For­ scher gehen von über 10 Millionen aus. Die meisten NGOs kommen aus Europa und aus Nordamerika, während in Afrika und Asien eine deutlich geringere Zahl der NGOs angesiedelt ist. Die Bedeutungszunahme von internationalen NGOs wird als Indikator für eine weltweite Vernetzung von gesellschaftlichen Gruppen und die Entwicklung einer transnationalen Politik interpretiert. Das an der London School of Economics ansäs­ sige Global-Civil-Society-Projekt veröffentlichte in seinen Jahrbüchern zwischen 2001 und 2012 regelmäßig Berichte über zivilgesellschaftliche Entwicklungen und eine Vielzahl von NGOs. Das Center schätzt, dass von den rund 13.000 internationalen NGOs, die sie beobachtet haben, rund ein Viertel nach 1990 gegründet wurde, wobei die Autoren von einem breiten Begriff von NGOs ausgehen. Sie unterscheiden in der „internationalen Zivilgesellschaft“ die NGOs nach vier Gruppen: neues Management (new public management), betriebliche Partnerschaftsbildung (corporatisation), so­ ziales Kapital und Selbsthilfe (social-capital and self-organization) sowie Aktivismus (activism) (Global Civil Society Yearbook 2003: 8). Die Aufwertung der internationalen NGOs erfolgte zunächst vor allem durch ih­ re Beteiligung an den globalen Fach- und Gipfelkonferenzen der Vereinten Nationen. Durch eine Änderung des UN-Statuts erhielten die NGOs auf Antrag einen Konsulta­ tionsstatus, der die organisatorische Struktur festigte und ihnen Zugang zu den UNKonferenzen gab. Während sich die Zahl der NGOs bei den Gipfeltreffen in den 1980erJahren bei einigen Hundert bewegte, geben Karns und Mingst die Zahl der NGOs bei der UN-Frauenkonferenz in Peking 1995 mit 2100 an; beim UN-Gipfel zur Nachhaltig­ keit 2002 waren schon 3200 NGOs anwesend (vgl. Karns/Mingst 2010: 233). Als be­ sonders aktiv gelten auch die Frauennetzwerke unter den NGOs („Women’s Caucus“). Sie traten zuerst im Rahmen der UN-Weltfrauenkonferenz in Nairobi 1985 auf und be­

7.2 Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs)

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teiligten sich später nicht nur an allen folgenden UN-Weltfrauenkonferenzen, wie in Peking 1995, sondern sie waren auch bei anderen UN-Konferenzen mit ihren Forderun­ gen präsent, so z. B. bei der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1995 sowie den Um­ weltkonferenzen. Während dieser internationalen Konferenzen machten die interna­ tionalen NGOs auf die Probleme der Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen auf­ merksam und forderten internationale Maßnahmen für Frauenrechte („Frauenrechte sind Menschenrechte“). Mädchenhandel und Prostitution sowie Gewalt gegen Frauen sind unter anderem Themen, mit denen sich die NGOs auseinandergesetzt haben und die sie auf die Agenda der Vereinten Nationen brachten. Welchen Einfluss üben Nichtregierungsorganisationen auf die Politik der interna­ tionalen Organisationen aus? Eine Studie der Politikwissenschaftlerin Jutta Joachim zeigt, dass NGOs besonders dann erfolgreich sein können, wenn es ihnen gelingt, ihre Themen in einen breiteren Diskurs einzubetten, etwa indem Frauenrechte als Men­ schenrechte bezeichnet werden und nicht als separate Anliegen einer speziellen Grup­ pe. Dieser Prozess des „framing“ (Einrahmen) ist mitentscheidend für die Durchset­ zungschancen politischer Handlungsstrategien (vgl. Joachim 2007). Da Frauen welt­ weit politisch unterrepräsentiert sind, können sie in den Organisationen der Vereinten Nationen „Bündnispartner“ finden und Koalitionen bilden, um sich bei wichtigen glo­ balen Themen, wie etwa der Gewalt gegen Frauen, politisch Gehör zu verschaffen. Die „political opportunity structure“ (Chancenstruktur) variiert in den Unter- und Son­ derorganisationen der UN und der Erfolg des Framing setzt ein günstiges Zeitfenster sowie rezeptive Rahmenbedingungen voraus. Auch die internationale Kampagne zum Verbot von Landminen kann als ein er­ folgreiches Beispiel für die Arbeit von internationalen NGOs gelten. Hier spielte eben­ falls das Framing eine wichtige Rolle. Wie Karns und Mingst schreiben, gelang es der Internationalen Koalition zum Verbot von Landminen (ICBL), das Problem der Land­ minen erfolgreich als humanitäres Problem bzw. Problem der menschlichen Sicher­ heit (human security) zu definieren, und nicht als Abrüstungs- oder Waffenkontroll­ problem (vgl. Karns/Mingst 2010: 218). So ließ sich eine breite Koalition mit huma­ nitären Zielen zum Verbot schmieden, die 1999 eine internationale Ächtung dieser grausamen Waffen durchsetzte. Die Vorteile der internationalen NGOs können zusammenfassend mit drei Begrif­ fen umschrieben werden: Agency, Advocacy und Agenda-Setting. Agency meint, dass Individuen und zivilgesellschaftliche Gruppen aktiv werden und politisch handeln, Netzwerke bilden und in vielfältiger Weise in den politischen Prozess eingreifen. Ad­ vocacy umschreibt die Bedeutung, die NGOs als Stimme für Personen, Gruppen oder Allgemeinwohlziele einnehmen, die sonst in den internationalen Beziehungen keine Berücksichtigung finden würden. Agenda-setting beschreibt ihre aktive Rolle bei der Thematisierung von Problemen, der Sammlung von Informationen und der Herstel­ lung von Öffentlichkeit. Trotzdem ist der Einfluss von NGOs schwer zu messen. Verschiedentlich wird die These vertreten, dass die dezentrale, nicht hierarchische Struktur der NGOs eine neue

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Form der Weltzivilgesellschaft begründen könne (vgl. Brand et al. 2001). Diese Auffassung gründet sich auf die Annahme der Denationalisierung, nach der NGOs mit dem Bedeutungsverlust von Staaten die entscheidende Rolle als Akteure in der inter­ nationalen Politik übernehmen könnten. Ob diese These allerdings einer empirischen Überprüfung standhält, ist fraglich, denn die globale Vernetzung von NGOs kann un­ terschiedliche Ursachen haben und muss nicht notwendigerweise in eine „Weltzivilge­ sellschaft“ münden. Vielfach hat ihre politische Betätigung erst durch die Einbindung in die Vereinten Nationen einen Stellenwert erhalten. Außerdem hat die Vernetzung durch neue Technologien ihre Präsenz aufgewertet, wobei nicht immer klar ist, wie stark die Gruppen sind und wie sie legitimiert werden. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die Bedeutung von Staaten für die Zivilisierung nach innen und nach außen im­ mer noch entscheidend ist; zerfällt ein Staat, geht dies in der Regel mit gravieren­ den Sicherheits- und Menschenrechtsverletzungen einher. Der Politikwissenschaftler Thomas Risse betrachtet die Beteiligung der NGOs in internationalen Organisationen daher als Form von „new governance“, nicht aber als Ersatz für die Steuer- und Rege­ lungsfunktion der Staaten innerhalb der internationalen Organisationen (vgl. Risse 2007). Wie Karns und Mingst feststellen, können NGOs nicht die Arbeit von Staaten und internationalen Organisationen in der Gestaltung internationaler Beziehungen ersetzen (vgl. Karns und Mingst 2010: 250 ff.). Übungsfragen zu Kapitel 7: Global Governance 1. 2.

3.

4.

Was bedeutet Global Governance? Erläutern Sie das Konzept und nehmen Sie Bezug auf die Vereinten Nationen als wichtigste internationale Organisation. Menschenrechte nehmen eine bedeutende Rolle in der Arbeit internationaler Organisationen ein. Wie erklären Sie die Ausbreitung des Menschenrechtsgedankens? Nehmen Sie Bezug auf die Theorie des liberalen Institutionalismus und den Konstruktivismus und stellen Sie die Erklärungsmuster einander gegenüber. Welche Bedeutung hat der Internationale Strafgerichtshof (ICC)? Vergleichen Sie ihn mit den UN-Kriegsverbrecher-Tribunalen. Welche Faktoren stärken den Strafgerichtshof und welche schwächen ihn? Nichtregierungsorganisationen (NGOs) spielen eine immer wichtigere Rolle in den internatio­ nalen Beziehungen. Welche Vorteile haben NGOs? Wie sind NGOs legitimiert? Welche Nach­ teile können mit dem wachsenden Einfluss von NGOs verbunden sein?

Literatur [1]

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Albrecht, Ulrich (Hrsg.) (1998). Die Vereinten Nationen am Scheideweg. Von der Staatenorga­ nisation zur internationalen Gemeinschaftswelt? Studien zu den Vereinten Nationen, Bd. 1. Münster: LIT Verlag. Behrens, Maria (Hrsg.) (2005). Globalisierung als politische Herausforderung. Global Gover­ nance zwischen Utopie und Realität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Boutros-Ghali, Boutros (1992). Agenda für den Frieden. Hrsg. v. d. Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Bonn: UN-Verlag.

Literatur

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Brand, Ulrich, Alex Demirovic, Christoph Görg, Joachim Hirsch (Hrsg.) (2001). Nichtregierungs­ organisationen in der Transformation des Staates. Münster: Westfälisches Dampfboot. Charta der Vereinten Nationen (1945). Randelzhofer, Albrecht (Hrsg.) (2016). Völkerrechtliche Verträge. 4. Auflage München. Deutscher Taschenbuch Verlag. Commission on Global Governance (Hrsg.) (1995). Nachbarn in einer Welt. Der Bericht der Kom­ mission für die Weltordnungspolitik. Bonn: Stiftung Entwicklung und Frieden. Global Civil Society Yearbook 2003. Hrsg. v. M. Kaldor, H. Anheier, M. Glasius. London: Global Civil Society Knowledgebase. Graebner, Norman A. (Hrsg.) (1964). Ideas and Diplomacy. Readings in the Intellectual Tradi­ tion of American Foreign Policy. New York: Oxford University Press. Joachim, Jutta M. (2007). Agenda Setting, The UN, and NGOs. Gender, Violence and Reproduc­ tive Rights. Washington D. C.: Georgetown Press. Joachim, Jutta, Andrea Schneiker (2012). Changing discourses, changing practices? Gender mainstreaming and security. Comparative European Politics. 10:5. 528–563. Karns, Margaret P., Karen A. Mingst (2010). International Organizations. The Politics and Pro­ cesses of Global Governance. Boulder, CO: Lynne Rienner. Keck, Margaret, Kathryn Sikkink (1998). Activists Beyond Borders. Advocacy Networks in Inter­ national Politics. Ithaca und London: Cornell University Press. Koops, Joachim, Norrie Mac Queen u. a. (2015). The Oxford Handbook of United Nations Peace­ keeping. New York: Oxford University Press. Kratochwil, Friedrich, Ed Mansfield (Hrsg.) (2005). International Organizations and Global Governance. New York: Routledge. Meyers, Reinhard (1994). Transnationale Politik. Andreas Boeckh (Hrsg.). Internationale Bezie­ hungen, Lexikon der Politik. (S. 543–547), Bd. 6. München: C. H. Beck. Risse, Thomas (2007). Global Governance und kommunikatives Handeln. Peter Niesen, Ben­ jamin Herborth (Hrsg.). Anarchie der kommunikativen Freiheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp S. 57–86. Rittberger, Volker, Bernhard Zangl (2003). Internationale Organisationen. Geschichte und Politik. Europäische und weltweite internationale Zusammenschlüsse. 3. Auflage. Opladen: Leske und Budrich. Rittberger, Volker, Bernhard Zangl, Andreas Kruck (Hrsg.) (2013). Internationale Organisatio­ nen. Fachwissen Politik. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Senghaas, Dieter (1992). Weltinnenpolitik. Ansätze für ein Konzept. Europa-Archiv. (47), 643–652. Sikkink, Kathryn (2011). The Justice Cascade. How Human Rights Prosecutions are Changing World Politics. New York: W. W. Norton and Company. Slaughter, Anne-Marie (2007). A Duty to Prevent: The Future of International Security. Inter­ view mit Anne-Marie Slaughter. Schlossplatz 3. Hrsg. v. d. Hertie School of Governance. Nr. 2, S. 15–17. Slaughter, Anne-Marie (2011). Fiddling While Libya Burns. The New York Times, 14. März, OpEd, S. A 21. Steiner, Jürg u. a. (2017). Deliberation Across Deeply Divided Societies. Transformative Mo­ ments. Cambridge: Cambridge University Press. Willetts, Peter (2001). Transnational Actors and International Organizations in Global Politics. J. B. Baylis, S. Smith (Hrsg.). The Globalisation of World Politics. 2. Auflage. Oxford und New York S. 356–383. Yearbook of International Organizations Online http://www.uia.be/ybonline (aufgerufen am 16.02.2018).

A Studienpraktische Hinweise und nützliche Quellen für Recherchen A.1 Printmedien A.1.1 Zeitschriften Allgemein Aus Politik und Zeitgeschichte, Bonn 1950 ff., wöchentl. (www.bpb.de/apuz/) Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln 1955 ff., monatl. (www.blaetter.de) European Political Science Review, Cambridge 2000 ff., 4 Ausgaben pro Jahr (https://www. cambridge.org/core/journals/european-political-science-review) Foreign Affairs, New York und London 1922 ff., 6 Ausgaben pro Jahr (www.foreignaffairs.com) Foreign Policy, Washington D. C. 1977 ff., 6 Ausgaben pro Jahr (www.foreignpolicy.com) International Affairs, London 1922 ff., 6 Ausgaben pro Jahr (https://academic.oup.com/ia) International Organization, Cambridge/Mass. 1974 ff., viertelj. (www.cambridge.org/core/journals/ international-organization#) International Security, Cambridge/Mass. 1976 ff., viertelj. (www.mitpressjournals.org/loi/isec) International Studies Review, Oxford 1999 ff., viertelj. (www.academic.oup.com/isr) Internationale Politik, Berlin 1946 ff., 6 Ausgaben pro Jahr (https://zeitschrift-ip.dgap.org/de) Internationale Politik und Gesellschaft. International Politics and Society, Berlin 1994 ff., viertelj. (www.ipg-journal.de) Journal of Conflict Resolution, Maryland 1957 ff., 8 Ausgaben pro Jahr (https://journals.sagepub. com/home/jcr) Journal of Democracy, Washington D. C. 1990 ff., viertelj. (www.journalofdemocracy.org) Journal of Peace Research, Oslo 1964 ff., 6 Ausgaben pro Jahr (https://journals.sagepub.com/home/ jpra) Millenium. Journal of International Studies. London 1971 ff., drittelj. (https://millenium.journal.org) Orbis, Philadelphia/Penns. 1957 ff., viertelj. (www.fpri.org/orbis/) Politique Étrangère, Paris 1936 ff., viertelj. (www.ifri.org/en/politique-entrangere) Review of International Studies, Cambridge 1975 ff., viertelj. (www.cambridge.org/core/journals/ review-of-international-studies) S+F, Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Hamburg 1981 ff., viertelj. (www.sicherheit-undfrieden.nomos.de) Vereinte Nationen, Berlin 1952 ff., 6-mal jährl. (www.dgun.de/zeitschrift-vereinte-nationen/) WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien, Potsdam 1993 ff., mo­ natl. (http://www.welttrends.de) World Politics. A Quarterly Journal of International Relations, Princeton/New York 1948 ff., viertelj. (www.cambridge.org/core/journals/world-politics) Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Baden-Baden 1994 ff., halbj. (www.zib.nomos.de) https://doi.org/10.1515/9783110589207-008

A.1 Printmedien | 269

Europäische Union: Eurobarometer (www.ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm) European Journal of International Relations, London 1995 ff., viertelj. (http://ejt.sagepub.com/) European Journal of Women’s Studies, London 1994 ff., viertelj. (http://ejw.sagepub.com/) Journal of European Integration History. Zeitschrift für Geschichte der Europäischen Integration, Luxemburg 1999 ff., halbj. (www.zgei.nomos.de) Journal of European Public Policy, Oxford 1994 ff., 10 Ausgaben pro Jahr (www.tandfonline.com/loi/ rjpp20/Osteuropa). Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, Berlin 1950 ff., 7 Ausgaben pro Jahr (http://www. zeitschrift-osteuropa.de)

A.1.2 Jahrbücher Amnesty International: Jahresbericht, Berlin 2010 ff. (http://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report) Eurobarometer. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Gemeinschaft, 1974 ff., halbj. Friedensgutachten, Münster 1987 ff. (www.friedensgutachten.de) Jahrbuch der Europäischen Integration. Hrsg. v. Institut für Europäische Politik, Berlin 1980 ff. (www.iep-berlin/blog/publications/filter/jahrbuch-der-europaeischen-integration/) OSZE Jahrbuch. Hrsg. v. ISFH, Hamburg 1995 ff. (www.ifsh.de/core/publikationen/osze-jahrbuch/) SIPRI. Yearbook of World Armaments, Disarmament and International Security, Stockholm/London 1969 ff. (www.sipri.org/yearbook) UNHCR: Global Report, Genf 1999 ff. (www.unhcr.org/the-global-report.html) United Nations: Demographic Yearbook, New York 1949 ff. (https://unstats.un.org/unsd/demographic-social/products/dyb/#overview) United Nations: World Economic and Social Survey, New York 1994 ff. (https://www.un.org/development/desa/dpad/document_gem/wess-report/) World Bank: World Development Report, Washington D. C. 1978 ff. (www.worldbank.org/en/publication/wdr/wdr-archive) Worldwatch Institute: The State of the World, Washington D. C. 1984 ff. (www.worldwatch.org/bookstore/state-of-the-world)

A.1.3 Handbücher und Lexika Baylis, John; Smith, Steve; Owens, Patricia (Hrsg.) (2017): The Globalization of World Politics. An Introduction to International Relations. Seventh edition. Oxford, New York, NY: Oxford University Press. Carlsnaes, Walter; Risse, Thomas; Simmons, Beth A. (2007): Handbook of International Relations. Oxford: Oxford University Press. Ihne, Hartmut; Wilhelm, Jürgen (2013): Einführung in die Entwicklungspolitik. 3., neu überarb. Aufla­ ge. Berlin: LIT Verlag.

270 | A Studienpraktische Hinweise und nützliche Quellen für Recherchen

Jorgensen, Knud Erik; Pollak, Mark; Rosamond Ben J. (Hrsg.) (2007): Handbook of European Union Politics, Sage: London. Sauer, Frank; Masala, Carlo (Hrsg.) (2017): Handbuch Internationale Beziehungen. 2. Auflage. Wies­ baden. Springer Fachmedien Wiesbaden. Waylen, Georgina; Celis, Karen; Kantola, Johanna; Weldon, S. Laurel (Hrsg.) (2013): The Oxford Handbook of Gender and Politics. Oxford: Oxford University Press. Weidenfeld, Werner; Wessels, Wolfgang (Hrsg.) (2016): Europa von A-Z. Taschenbuch der europäi­ schen Integration, 14. Auflage. Bonn. Woyke, Wichard; Varwick, Johannes (2016). Handwörterbuch Internationale Politik. 13. Auflage. Bonn: BPB.

A.2 Internet Das Internet bietet für das Studium der Internationalen Beziehungen einen wichtigen ersten Zugriff. Bei der Verwendung von Internetquellen sollte stets besondere Sorgfalt aufgewandt werden. So sollte aus dem Impressum klar die Verantwortlichkeit für den Inhalt hervorgehen und entsprechende Quellenangaben für Daten und Behauptungen vorhanden sein. Eine gute Startseite für Informationen über Länder und Informationen zu interna­ tionalen Organisationen sowie verschiedene Regionen auf sechs verschiedenen Spra­ chen findet sich auf der Website des Auswärtigen Amtes: www.auswaertiges-amt.de/ de/aussenpolitik. Die folgenden Adressen bieten einen ersten Zugang zu wichtigen internationalen IGOs und NGOs. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

A.2.1 International Governmental Organizations/Internationale Organisationen United Nations Die reguläre Website der UN ist http://www.un.org. Unter www.unsystem.org finden sich alphabetisch geordnet alle Websites des UN-Systems. Auf unterschiedliche Do­ kumente der UN (Generalversammlung, Sicherheitsrat, ECOSOC etc.) lässt sich über www.un.org/documents/ zugreifen. Aktuelle Informationen aus dem Bereich der UN, Presseerklärungen, Pressekonferenzen, Reden des Generalsekretärs und anderer UNOrgane finden sich unter: http://www.un.org/News.

A.2 Internet | 271

Weitere Internationale Organisationen ASEAN, Association of South East Asian Nations: http://www.aseansec.org Court of Justice of the European Communities: www.curia.europa.eu/ European Union: http://www.europa.eu.int ILO: http://www.ilo.org IWF: www.imf.org NAFTA-Sekretariat: http://www.nafta-sec-alena.org NATO: http://www.nato.int OECD: http://www.oecd.org OSZE bzw. OSCE: http://www.osce.org Weltbank: http://www.worldbank.org WHO, World Health Organization: http://www.who.int WTO, World Trade Organization: http://www.wto.org

272 | A Studienpraktische Hinweise und nützliche Quellen für Recherchen

A.2.2 Internationale Non-Governmental Organizations (INGOs)

Schwerpunkt

Name der NGO

Link

Networks

GreenNet OneWorld Institute for Global Communication

www.greennet.org.uk www.oneworld.net www.igc.org

Menschenrechte

Amnesty International Association for the Prevention of Torture Human Rights Watch Terre Des Hommes

www.amnesty.org www.apt.ch www.hrw.org www.tdh.ca

Umwelt und Ökologie

Greenpeace Women’s Environmental Development Organization

www.greenpeace.org www.wedo.org

Frauen/Frauenrechte

Center for Women’s Global Leadership International Women’s Health Organizations International Women’s Rights Action Watch

www.cwgl.rutgers.edu www.iwhc.org www.igc.org/iwraw/

Sicherheitspolitik, Krieg und Frieden

Center for War, Peace and the News Media Institute for War and Peace Reporting International Campaign to Abolish Nuclear Weapons ICAN United States Institute of Peace

www.nyu.edu/globalbeat www.iwpr.net www.icanw.org/ www.usip.org

Hilfsorganisationen

ICRC Internationales Rotes Kreuz Medecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen)

www.icrc.org www.msf.org

Entwicklungspolitik

Brot für die Welt CARE Deutschland Deutsche Stiftung Weltbevölkerung Deutsche Welthungerhilfe Germanwatch Misereor

www.brot-fuer-die-welt.de www.care.de www.weltbevoelkerung.de www.welthungerhilfe.de www.germanwatch.org www.misereor.de

Internationales Recht

Coalition for International Justice

www.cij.org

Personen- und Sachregister Abrüstung 41, 91, 92, 152 Adenauer, Konrad 128 Adorno, Theodor Wiesengrund 2 Afrika 60, 86, 106, 255 Afrikanische Union 224, 250, 255 Ägypten 188 AIDS 70 Akteur 6 Albanien 195 Albrecht, Ulrich 241 Albright, Madeleine 158 Altvater, Elmar 31, 32, 51 Amnesty International 104, 263 Anarchie d. int. Systems 16 Anderson, Benedict 100 Annan, Kofi 249 Anti-Personen-Minen 93 Arendt, Hannah 11, 82, 106, 180, VI Ash, Timothy Garton 180, 181 Asyl, Asylrecht 80, 98, 110 Attac 58 Außenpolitik – Bundesrepublik Deutschland 122 – Entscheidungsprozess 125 – EU 221 – USA 138 Australien 77 Bahr, Egon 128 Ban Ki-moon 248, 250 Billardkugel-Modell 20 Bosnien-Herzegowina 101, 187 Bourdieu, Pierre 34 Boutros-Ghali, Boutrus 250 Brandt, Willy 127, 128 Bretton Woods 54 BRICS-Staaten 31, 50 Bundesrepublik Deutschland 122 – Auslandseinsätze d. Bundeswehr 131 – Bundesverfassungsgericht 126 – DDR-Vergangenheit 124 – deutsche Einheit 124, 127, 179 – friedliche Revolution i. d. DDR 181 – historisch-kulturelle Besonderheiten 122, 123 – neue deutsche Außenpolitik 135 – Ostpolitik 127 https://doi.org/10.1515/9783110589207-009

– Prioritäten i. d. Außenpolitik 126 – tamed power 124 – UNO 132, 247 Bush, George (sen.) 149, 177 Bush, George W. 149, 156 Checks and Balances 146 China 50, 74, 109, 248, 261 Chomsky, Noam 145 Clinton, Bill 75, 142, 153 Clinton, Hillary 13, 161 Club of Rome 71 Collective Memories 124 Containment 18, 151 Czempiel, Ernst-Otto 81, 120 Dahl, Robert 186 Darfur-Konflikt 86 DDR 123, 127, 179, 180, 184, 185 Dekonstruktion 33 Deliberation 243 Demokratisierung 156, 173, 175, 188 – Zivilgesellschaft 184 Dependenztheorien 9, 28, 29, 62 Der Derian, James 33 détente 127 Deutsch, Karl W. 197 Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 3 Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) 2 Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft 3 Diplomatie 12, 15, 39 – Diplomatiegeschichte 1 – internationale 90 – präventive 250, 253, 259 Diskursanalyse 34 Dominotheorie 152 Ekiert, Grzegorz 234 Elias, Norbert 88 Empowerment 42, 66 Entwicklungsländer 58, 61 – Begriff 59 – Handel 50 – ökologisches Denken 76 Entwicklungspolitik 59, 104, 110 – Gender-Strategien 65

274 | Personen- und Sachregister

– Good Governance 67 – Human Development Index 60 – Millenniums-Entwicklungsziele 67 – nachhaltige Entwicklung 64 – Neokolonialismus 63 – Post-Kolonialismus 62 – Strategien 61 – Vereinte Nationen 67 Ethik i. inter. Beziehungen 21 Ethnische Konflikte 99, 182 Ethnizität 100 Europa – defekte Demokratien 173 – Neubildung von Staaten 181 – Reform, Revolution 180 – sozialistische Gesellschaften 178 – Umbruch 1989/90 181 Europa-Forschung – dynamischer Mehrebenenprozess 207 – Intergouvernementalismus 205 – Neo-Funktionalismus 204 – politikwissenschaftliche 202 – Sozialkonstruktivismus 208 Europäische Integration – Amsterdam-Vertrag 197 – Asyl- und Einwanderungspolitik 224, 227 – demokratische Legitimation 212, 225 – EU-Budget 221 – EU-Erweiterung 234 – Euro, Eurokrise 217, 219 – Euro-Mediterrane Partnerschaft 222 – Europäische Bürgerinitiative 201 – europäische Identität 214 – europäische Verteidigungsunion 200 – European Citizenship 225 – European External Action Service (EEAS) 201 – Euroskeptizismus 208, 229, 232 – EU-Verfassung 200 – EU-Währungsfonds 220 – FRONTEX 224 – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 221 – Geschichte 196 – Grundrechte-Charta 201 – Institutionen der EU 210 – Konvergenzkriterien 218 – Lissabon-Vertrag 198, 200 – Maastricht-Vertrag 197, 218 – Mehrebenensystem 216

– regionale Integration 195 – Römische Verträge 196, 207 – Souveränitätstransfer 205 – Subsidiaritätsprinzip 216 – Weißbuch zur Zukunft Europas 2017 228 – Wirtschafts- und Währungsunion 220 Europarat 196 Feminismus 14 Fischer, Joschka 213 Flechtheim, Ossip K. 2 Flüchtlingsproblem – in Europa 222 – Internationale Vereinbarungen 110 – Krise 2016 227 – Umwelt- oder Klimaflüchtlinge 79 – UNHCR 80, 249 Föderalismus 147, 202 – europäische Integration 203 Foucault, Michel 34 Fraenkel, Ernst 2 Framing 103 Frankreich 92, 200, 248 Frauen – Frauenrechte 108, 265 – Krieg und Gewalt 42 – NGOs 37 Frieden 15, 41 – demokratischer Frieden 89 – Westfälischer Frieden 91 – zivilisatorisches Hexagon 88 Friedens- und Konfliktforschung 3, 30, 82, 100 Fulbrook, Mary 186 Gaddafi, Muammar al- 258 Galtung, Johan 30, 62 GATT 52 Gender 37 – Begriff 37 – Forschungsansätze 37, 208 – Gender Development Index 42 – Gender Mainstreaming 37, 210 – internationale Organisationen 42 Genfer Flüchtlingskonvention 79, 111 Genfood 54 Genozid 108, 258 – humanitäre Intervention 257 – internationales Recht 259

Personen- und Sachregister

– kultureller Genozid 262 – Staatszerfall 99 Gespaltene Gesellschaften 103 Gewalt 11, 41, 42 – gegen Frauen 85 – Postmoderne 35 – sexuelle Gewalt 40 – strukturelle Gewalt 30 Gewaltenteilung 89 – ethnische Konflikte 259 – europäische Ebene 204 – in der Außenpolitik 146 Ghemawat, Pankaj 58 Global Cities 57 Global-Civil-Society-Projekt 264 Global Governance 9, 24, 25, 32, 241 – Commission on Global Governance 250 – europäische Integration 208 Globalisierung 31, 51 – Begriff 51 – Gerechtigkeit 58 – Internat. d. Finanzmärkte 55 – Liberalisierung des Welthandels 52 – Migrationsbewegungen 57 – Neue Kriege 85 – Protestbewegungen 58 Goldmann, Nachum 123 Gorbatschow, Michail 152, 177 Governance – Begriff 215 – Mehrebenensystem 216 – UN 241 Grameen-Bank 66 Greenpeace 263 Griechenland 218, 219 Großbritannien 156, 198, 248 – Brexit 229 – Referendum EU-Mitgliedschaft 230 – UKIP 230 Guterres, António 250 Haas, Ernst 204 Habermas, Jürgen 3, 34, 36, 213 Hacke, Christian 132, 138 Haftendorn, Helga 14, 125, 126 Haley, Nikki 170 Hamilton, Alexander 143 Handelssystem – Entwicklungsländer 50, 58

| 275

Havel, Václav 198 Held, David 58 Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung 3 Hirschman, Albert O. 179 Hobbes, Thomas 14 Hobolt, Sara 230 Hoffmann, Stanley 3, 21, 26, 205 Holocaust 105 Hooghe, Liesbet 207, 208, 214 Human Security 89, 95 Huntington, Samuel 30, 153 Indien 74, 93, 251 Interdependenz 9 Interdependenztheorie 24 internationale Beziehungen, passim, v. a. – Begriffe 3 – sozialwissenschaftliche Methoden 6 internationale Organisationen 239 – Konstruktivismus 36 – NATO 131 – Nichtregierungsorganisationen 262 Internationales Recht 106, 259 Internationale Umweltpolitik – Entwicklungs- und Schwellenländer 76 – internationale Umweltregime 71, 72 – Klimakonferenz in Kopenhagen 77 – Klimakonferenz in Paris 74 – Klimarahmenkonvention 73 – Kyoto-Protokoll 73, 154 – ökologische Probleme 71 – Rolle der Vereinten Nationen 72 – Umwelt- und Klimaflüchtlinge 77, 79 Internationaler Strafgerichtshof (ICC) 249, 260 Internationaler Terrorismus 96 – 9/11 155 – Konflikt m. Freiheitsrechten 98 – UN 251 Internationaler Währungsfond (IWF) 63, 239 Iran 192 – Iran-Abkommen 93, 163, 169 Islam 104 Isolationismus/Internationalismus 151 Israel 93, 123, 261 Jarausch, Konrad 140, 179 Jefferson, Thomas 141 Joachim, Jutta 265

276 | Personen- und Sachregister

Jugoslawien 85, 101, 182, 222, 259 Juncker, Jean-Claude 228 Kaldor, Mary 85 Kambodscha 260 Kampf der Kulturen 30 Kanada 89, 95, 109 Kant, Immanuel 15, 82 Karns, Margaret 263 Katzenstein, Peter 35, 121, 124 Kegley, Charles W. 144 Kennan, George 18, 144, 151 Kennedy, Paul 120, 152 Keohane, Robert O. 22, 23, 152 Kim Jong-Un 169 Kissinger, Henry 19, 144 Klimawandel 76, 77, 79 Kocka, Jürgen 213 Kohl, Helmut 129, 134 Kohler-Koch, Beate 23, 208, 215 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 196 Konstruktivismus 3, 22, 35 Kopenhagener Kriterien 199 Kosovo-Konflikt 102, 132, 222, 258 Krasner, Stephen 24 Kratochwil, Friedrich v. 36 Krieg 81 – Begriff 82 – Demokratie-Hypothese 89 – ethnonationale Kriege 101 – Konfliktforschung 83 – Krieg und Frieden 81 – Kriege zwischen Staaten 84 – Krisenforschung 84 – Neue Kriege 85, 246 – Prävention 89 Kroatien 234 Lateinamerika 29, 31, 89, 145, 174, 181 Levitsky, Steven 191 Locke, John 15, 105, 184, 225 Macht 10 – Feminismus 40 – Interdependenztheorie 22 – realistische Schule 16 Machtbegriff – empirischer 11

– feministischer 13, 40 – interaktiver 11 – klassischer 10 – poststrukturalistischer 13 – smart power 12 Macron, Emmanuel 220 Mahnkopf, Birgit 32 Maier, Charles S. 127, 159 Manifest Destiny 145 Markovits, Andrei S. 124 Marks, Gary 207, 208, 214 Marxismus 28, 184 Mattis, James 168 Mazedonien 195 Mearsheimer, John 119, 124 Meehan, Elizabeth 226 Menschenrechte 105, 106 – Frauenrechte als M. 108 – Global Governance 107 – Individualitätsprinzip 109 – Menschenrechtsregime 242 – Menschenrechtsschutz der UNO 105, 241, 245 – Menschrechtsverletzungen 104 – Türkei 235 Merkel, Angela 134, 220, 221 Meyers, Reinhard 4 Milosevic, Slobodan 102, 259 Minderheiten 109, 182 – Minderheitenrechte 109, 259 Mingst, Karen 263 Mogherini, Frederica 201 Monnet, Jean 203, 213 Monroe-Doctrine 144 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brède et de 184 Moravcsik, Andrew 26, 205, 206 Morgenthau, Hans J. 16 Multilateralismus 132, 138, 153 Multi-Level-Governance 216 Münkler, Herfried 85, 96, 159 Nachhaltigkeit 68, 71, 72 NAFTA 153 NAFTA-Abkommen 49 Nahostkonflikt 124, 164, 168 National Security Council 148 Nationalismus 203 Nationalsozialismus 2, 123, 124

Personen- und Sachregister

NATO 130, 247 – Bosnien-Konflikt 101 – deutsche Außenpolitik 123, 127, 131 – Neue Sicherheitsstrategie 91 – Osterweiterung 192 – und EU 223 Neorealismus 14, 36 Nested Identity 214 Neuseeland 77, 78 Newland, Kathleen 39 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) 4, 8 Nordkorea 93, 169 Normdiffusion 187 Normen – compliance 73 – i. d. Europäischen Union 199 – Konstruktivismus 35 – pluralistische 89 Nye, Joseph 12, 22, 23, 139, 152 Obama, Barack 75, 159 – Friedensnobelpreis 162 Offe, Claus 181 Orbán, Viktor 234 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit OSZE 196 Osteuropa 107, 128 – kommunistische Herrschaft 181 – Mitgliedschaft i. d. EU 187 – Neubildung von Staaten 181 – neue Verfassungen 183 – Opposition 184 – Parteienbildung 183 – Wirtschaftssysteme 182 Ostpolitik 127 Ost-West-Konflikt 17, 30, 152, 173 Pakistan 109, 261 Pfadabhängigkeit, Paradigma der 174 Pierson, Paul 208 Piketty, Thomas 56 Pinker, Steven 90 Polen 128, 178, 184, 199 Pompeo, Mike 169 Populismus 233 Preuß, Ulrich K. 183 Priv. Sicherheits- u. Militärfirmen 94 Protektionismus 52

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Putin, Wladimir 190 Putnam, Robert 184 Rational Choice 7, 120 Reagan, Ronald 152, 159 Realismus 16, 143 Regime, Regimeforschung 24 Reich, Simon 124 Rice, Condoleezza 129 Risse, Thomas 10, 208, 214 Rousseau, Jean-Jacques 15, 225 Russland 28, 75, 168, 173, 182, 189, 248, 261 Rüstungsindustrie 87 Rüstungskontrolle 91, 92, 239 Said, Edward 63 Sanktionen 192 Sassen, Saskia 57 Schäuble, Wolfgang 220 Schimmelfennig, Frank 199, 208 Schröder, Gerhard 134 Schweden 198, 218 Schweigler, Gebhard 145 Seidelmann, Raimund 8 Sen, Amartya 60, 61 Senghaas, Dieter 88, 243, 258 Serbien 195 Sicherheitspolitik 38, 90 – Institutionen 91 – Konfliktprävention 94 – Sicherheitsbegriffe 90 – Sicherheitsdilemma 18 Sikkink, Kathryn 107 Slaughter, Anne-Marie 139, 162, 258 Solidarność 179, 185 Somalia 247 Somavia, Juan 94 Souveränität 15, 34, 118 – Bundesrepublik 2, 131 – EU und Souveränitätstransfer 19, 197, 205 – feministische Kritik 40 – poststrukturalistische Kritik 13 Sowjetunion 176 Spieltheorie 120 Staatsangehörigkeit 105, 225 Stiftung Wissenschaft und Politik 3 Strange, Susan 55 Sudan 261 Sustainable Development 64

278 | Personen- und Sachregister

Syrien – Krise 236 – Syrien-Krieg 83, 87, 97, 165, 192 Talanoa-Dialog 78 Thatcher, Margaret 229 Tickner, J. Ann 13, 40 Tigerstaaten 62 Transformation – Lateinamerika 181 – Osteuropa 173 – Südeuropa 187, 198 – Zivilgesellschaft 185 Transformationsforschung 174 Transnationale Politik 27 Transpacific Partnership Agreement (TPP) 165 Transparency International 183 Triadisierung 50 Truman, Harry S. 152 Trump, Donald 52, 76 Tschechien 182, 199 Türkei 74, 199 – EU-Mitgliedschaft 235 Tuvalu 77 Ukraine 189 – Krise 190 – Minsker Abkommen 190 – Ukraine-Konflikt 192 Ungarn 178, 182, 185, 234 Unterentwicklung – Ansätze und Strategien 61 USA, Außenpolitik 138 – Bedeutung d. Terrorismus 155 – checks and balances 126 – Containment 152 – Entscheidungsprozess 146 – Europa 153, 156 – Idealismus 142 – Irak-Krieg 155, 158 – Isolationismus/Internat. 144 – Leitbilder 141 – Medien 150 – Multilateralismus 153 – National Security Strategy 155 – nationales Interesse 145 – polit.-kulturelle Besonderheiten 139 – Realismus 143 – transatlantische Beziehungen 140

– Umweltpolitik 154 – Vereinte Nationen 155 Vachudova, Milada 187 Vereinte Nationen 240 – Aufbau u. Organisation 248 – Blauhelmeinsätze 246 – Brahimi-Report 251, 255 – Charta 9 – Darfur-Konflikt 254 – Deutschland 247 – Entwicklungspolitik 70 – Frauenrechte 108 – Friedenseinsätze 256 – Friedenssicherung/Peacekeeping 254 – Geschichte 244 – Global Governance 241 – humanitäre Intervention 257 – Kriegsverbrecher-Tribunal 259 – Menschenrechte 105 – Millenniumsziele 67 – Resolution 1325 43, 251 – responsibility to protect 258 – Souveränitätsprinzip 257 – UN-Menschenrechtsrat 252 – UN-Sicherheitsrat 247, 248 – Veto-Prinzip 252 – Women, Peace, and Security 255 – Zielsetzung 245 Vertragsverletzungsverfahren 234 Vietnamkrieg 148, 152 Völkerbund 16, 142, 151, 244 Völkerrecht 1, 8, 42 Wahrheits- und Versöhnungskommissionen 261 Wallerstein, Immanuel 28 Waltz, Kenneth 20 War Powers Resolution 148 Washington, George 141 Weber, Cynthia 13 Weber, Max 9, 10 Weiler, Joseph 226 Weißrussland 190 Weltbürgerrecht (Kant) 15 Weltfrauenkonferenz 43, 264 Welthandelsorganisation (WTO) 53, 249 Welthandelssystem 52 – Fair Trade 53 Weltmarkt 22, 28, 31

Personen- und Sachregister

Weltsystemtheorie 28 Weltzivilgesellschaft 266 Westbalkan 103 Wilson, Woodrow 142, 151, 244 Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 55 Wittgenstein, Ludwig 35 Wittkopf, Eugene W. 144 Yu Keping 32 Yunus, Mohammad 66 Zakaria, Fared 139 Zentrum/Peripherie 62 Ziblatt, Daniel 191 Zivilgesellschaft – europäische Integration 213 – globale Zivilgesellschaft 90, 262, 264 – osteurop. Transformation 184 Zürn, Michael 3 Zypern 199

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