SPD und Parlamentarismus: Entwicklungslinien und Problemfelder 1890–1990 9783412502584, 9783412501341

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SPD und Parlamentarismus: Entwicklungslinien und Problemfelder 1890–1990
 9783412502584, 9783412501341

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HISTORISCHE DEMOKRATIEFORSCHUNG Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 9 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Wolfram Pyta, Dian Schefold

Detlef Lehnert (Hg.)

SPD UND PARLAMENTARISMUS Entwicklungslinien und Problemfelder 1871–1990

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Wie gewohnt temperamentvoll zeigt sich der SPD-Fraktionsführer Herbert Wehner während der Debatte am Rednerpult im Deutschen Bundestag. Links Bundeskanzler Willy Brandt. Bilddatum: 11. Mai 1973. Fotograf: Picture-Alliance. © akg-images/picture-alliance/dpa

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50134-1

In Erinnerung an Gerhard A. Ritter (1929–2015), einen Pionier der Forschungen zu SPD und Parlamentarismus

Inhalt Detlef Lehnert Sozialdemokratie und Parlamentarismus. Von der Reichsgründungzeit bis zur neuen deutschen Einheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. VOM KAISERREICH ZUR WEIMARER REPUBLIK Volker Stalmann Das Verhältnis der Sozialdemokratie zum parlamentarischen System 1871–1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Karl Heinrich Pohl Süddeutsche Wege zur Parlamentarisierung? Die SPD in Bayern, Baden und Württemberg (1890–1903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Holger Czitrich-Stahl Sozialdemokratie 1903–1912: Im Spannungsfeld von Opposition und Kooperation, Tradition und Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Detlef Lehnert Krise des Kaiserreichs – Weltkrieg und Spaltung der SPD – Revolution und demokratische Republik (1913–1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Rainer Behring Weltfriedensordnung durch Parlamentarisierung. SPD und Parlamentarismus in den internationalen Beziehungen 1923–1932 . . . . . 163 2. VON DER NS-DIKTATUR ZUR BUNDESREPUBLIK Peter Steinbach „Durch Freiheit zum Sozialismus, durch Sozialismus zur Freiheit!“ Zur Programmatik der SPD in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Peter Brandt „Nach Hitler wir“. SPD und parlamentarische Demokratie 1943–1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

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Inhalt

Siegfried Heimann Von Erich Ollenhauer zu Willy Brandt. Organisatorischer und programmatischer Wandel der SPD 1953–1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Robert Philipps Die SPD zwischen kooperativer Opposition, Großer und Kleiner Koalition 1963–1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Bernd Faulenbach Die Sozialdemokratie im parlamentarischen System der Bundesrepublik 1973–1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

DETLEF LEHNERT

Sozialdemokratie und Parlamentarismus Von der Reichsgründungzeit bis zur neuen deutschen Einheit

„So lange der moderne Großstaat besteht, wird der Schwerpunkt der politischen Tätigkeit stets in seinem Parlament liegen“.1 Diese grundlegende Positionsbestimmung aus seinem Erläuterungstext zum Erfurter Programm der SPD2 von 1891 bekräftigte Karl Kautsky als dessen maßgebender Entwurfsverfasser wörtlich auch im Vorwort und Text seiner 1893 erschienenen Streitschrift für den Parlamentarismus.3 „Die letzte Konsequenz des Parlamentarismus ist die parlamentarische Republik“, hatte er im Programmkommentar unmittelbar hinzugefügt; „ob diese das Königtum noch als Dekoration beibehält, wie es die Engländer tun, oder nicht, ist ziemlich gleichgültig“. 4 In deutlichem Kontrast zu einem allzu lange gepflegten Bild Kautskys als Doktrinär ist dies eine im Kern bis heute nicht überholte Aussage, die seinerzeit keineswegs selbstverständlich erschien. Unumkehrbar nur mehr symbolische Funktionen hatte die britische Monarchie spätestens nach Entmachtung des Oberhauses 1911; und tatsächlich sind außer Frankreich sonst gerade die klassischen europäischen Länder des parlamentarischen Regierungssystems – in Skandinavien und den Niederlanden sowie Belgien – der Staatsform nach Monarchien geblieben, weil deren allmählicher Rückzug auf nur mehr „dekorative“ Aufgaben erfolgte. Für Kautsky waren zudem „Proletarier-Organisationen sowie die Tätigkeit in ihnen“ geradewegs eine „vortreffliche parlamentarische Schule“, denn 1 Karl Kautsky, Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert, 2. Aufl. Stuttgart 1892, S. 221. 2 Seit dem Parteitag in Halle vom Oktober 1890 lautete der Name ganz offiziell Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Das erst wegen einer Parallelexistenz der USPD gebräuchlich werdende Kürzel SPD wird hier vorwiegend zur Textverknappung und Vermeidung von Wortredundanz verwendet. Ohne Zusatz meint Sozialdemokratie immer die – mit einigen Vergleichsblicken zu Nachbarn – in diesem Band betrachtete deutsche Partei. 3 Karl Kautsky, Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie, Stuttgart 1893, S. VII u. 78 f.; auch fast zwei Jahrzehnte später in ders., Parlamentarismus und Demokratie, 2. Aufl. Stuttgart 1911, S. 87, wiederholte er jenes Zitat. 4 Ders., Erfurter Programm, S. 221.

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„sie gewöhnt an parlamentarische Formen, bildet Redner, Gesetzeskundige und Organisatoren“.5 Auch wenn er die Sozialdemokratie als „eine internationale Partei“ charakterisierte, habe sie „aber gleichzeitig auch die Tendenz, immer mehr eine nationale Partei, das heißt eine Volkspartei zu werden in dem Sinne, daß sie Vertreterin nicht bloß der industriellen Lohnarbeiter, sondern sämtlicher arbeitenden und ausgebeuteten Schichten, also der großen Mehrheit der Gesamtbevölkerung wird, dessen, was man gewöhnlich ‚Volk‘ nennt“.6 Schon August Bebels SPD des marxistisch geprägten Erfurter Programms zugleich als „nationale“ und darin auch „Volkspartei“ mit wesentlicher Orientierung auf den Parlamentarismus? So wird die Geschichte selten erzählt, auch innerhalb der SPD, seitdem vermeintlich erst das Godesberger Programm von 1959 diese Vorstellungen geklärt haben soll.

1. Programmatik: Kautsky, Bernstein und Hilferding über den Parlamentarismus Das Erfurter Programm hatte zwar das allgemeine und gleiche Wahlrecht „aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts“ und „Zweijährige Gesetzgebungsperioden“ im Forderungskatalog. Dieser erwähnte aber die Parlamentsarbeit sonst nicht ausdrücklich, vielmehr war „Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittels des Vorschlags- und Verwerfungsrechts“ ebenfalls vorgesehen.7 Die Beteiligung von Repräsentativorganen hielt aber Karl Kautsky für stets unverzichtbar, denn „jedes Gesetz beruht auf einem Kompromiß, meist verschiedener Interessen, stets mindestens verschiedener Anschauungen. Jeden Kompromiß verwerfen, heißt jede Gesetzgebung unmöglich machen“.8 Gesellschaftstheoretisch stützte er sich auf die universelle Tendenz zur „Arbeitsteilung“, während er auch das politische Unmittelbarkeitsdenken auf den Horizont von Kleineigentümern bezog: „Das Bedürfnis, Alles selbst zu machen, und die Überzeugung, Alles selbst am besten zu verstehen, entstammen jener vergangenen Zeit, wo der einzelne Haushalt und der einzelne Wirtschaftsbetrieb fast Alles, was sie brauchten, 5 Ebd., S. 224. 6 Ebd., S. 252. 7 Programmtexte aus Heinrich Potthoff/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848–2002, 8. erw. Aufl. Bonn 2002, hier S. 465. 8 Kautsky, Parlamentarismus (1893), S. 69 (alle Seitenzahlen im Text dieses und der beiden nächsten Absätze aus jenem Buch, das sich über weite Strecken mit der direktdemokratischen Konzeption von Moritz Rittinghausen auseinandersetzte; zu diesem mit Literatur der nachfolgende Text von Volker Stalmann, S. 42).

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selbst erzeugten“ (S. 81). Darüber hinaus würde sich die Sozialdemokratie in Staaten, die anders als die Schweiz von ausgeprägtem Stadt-Land-Gegensatz bestimmt seien, geradewegs ihrer – den Groß- und Kleineigentümerrechten entgegenstehenden – Wirkungschancen selbst berauben: „Die direkte Gesetzgebung nimmt der großstädtischen Bevölkerung ihren besonderen politischen Einfluß und unterwirft sie der Landbevölkerung“ (S. 125). Nicht zuletzt beruhte die moderne Arbeiterbewegung in der inneren Organisationskraft nicht länger auf der – nur für überschaubare Größenverhältnisse praktikablen –Vorrangstellung der versammlungsdemokratischen Willensbildung: „Das Repräsentativsystem bietet die einzige Form, in der die Gesamtpartei zusammentreten, sich verständigen und ihre Entscheidungen treffen kann“ (S. 79 f.). Im Hintergrund stand gewiss auch die begründete Vermutung, dass bei direktdemokratischen Verfahren unterschiedliche Teile der Partei gegeneinander in Konflikt geraten konnten und jedenfalls nicht organisierte Parteiendemokratie gefördert wurde. Keineswegs stimmte Kautsky der Gleichsetzung des Parlamentarismus mit bürgerlicher Vorherrschaft zu: „Das Repräsentativsystem ist eine politische Form, deren Inhalt von der verschiedensten Art sein kann und gewesen ist“ (S. 90). Während aus dem vor- und allenfalls frühindustriellen Typus der 1848er Revolution und bis in die Zeit des Sozialistengesetzes (1878–1890) schweizerische Emigrationserfahrungen hineinspielen konnten, hatten Marx und Engels ihre fortgeschrittenen Denkanstöße aus England geliefert. Gerade seit der nunmehr breitere Arbeiterschichten einbeziehenden dritten Wahlreform von 1884/85 wurde nach Kautsky dort sogar an der „liberalen Partei“ eine Umprägung ersichtlich: „Sie ist tatsächlich bereits eine Gefangene des arbeitenden Proletariats, Dank seiner ökonomischen Bedeutung und der politischen Macht, welche es aus dem Wahlrecht zieht“ (S. 102 f.). So könne „das englische Unterhaus“, das zunächst „ein Werkzeug der Diktatur der Aristokratie“ und dann seit der ersten Wahlreform „ein Werkzeug der Diktatur der industriellen Kapitalisten“ gewesen sei, auch die politische Form für künftig wiederum neuen gesellschaftlichen Inhalt werden; denn „mit Riesenschritten naht der Tag, an dem das englische allmächtige Parlament ein Werkzeug sein wird der Diktatur des Proletariats“ (S. 104). Vor den Diktaturen des 20. Jahrhunderts hatte dieser heute fremd wirkende Begriff noch mehr die antike und jedenfalls eine weniger repressive Bedeutung: mehr im Sinne einer jeweils besonderen Art des „Diktierens“, bei der im Parlament gesetzgebend allgemeinverbindliche Mehrheitsbeschlüsse erfolgten, hinter denen zuvor mobilisierende Wählermehrheiten standen. Die seit Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 sich noch deutlicher abzeichnende Massenorganisation der Sozialdemokratie ermöglichte ein zuneh-

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mend gleichberechtigtes Mitwirken: „Wo es eine entwickelte Arbeiterbewegung gibt, hört – bei allgemeinem Wahlrecht – die praktische Teilnahme an der parlamentarischen Arbeit auf, ein Monopol der Besitzenden zu sein. Aber das kämpfende Proletariat erzeugt nicht bloß Parlamentarier, es weiß diese auch unter seiner Kontrolle zu halten“ (S. 109). Der „heutige Parlamentsabgeordnete“ sei insofern „nicht Mandatar seines Wahlkreises“, sondern „tatsächlich Mandatar seiner Partei“ (S. 112), auch wenn er wahlkreisbezogen, aber eben zuvor von einer Partei nominiert ins Parlament entsandt war. Somit zeichnete sich innerhalb des Parlamentarismus bereits die moderne Parteiendemokratie ab, hinter der aber dem Ursprung nach mobilisierte gesellschaftliche Kräfte standen. Bei aller Kritik an den zu überwindenden obrigkeitsstaatlichen Zuständen, die gerade nicht das Parlament ins Zentrum der höchsten Entscheidungsmacht rückten, betonte Kautsky nachdrücklich den Wert des allgemeinen und gleichen Stimmrechts für die Arbeiterbewegung: „Selbst in Deutschland, dessen Wahlverfahren in Bezug auf die Wahrung des Geheimnisses der Abstimmung weit weniger wirksam ist, als z.B. das englische, sind Viele im Stande, für einen Sozialdemokraten zu stimmen, die es nicht wagen dürften, einer Gewerkschaft beizutreten oder auch nur ein sozialdemokratisches Blatt zu halten“ (S. 114). In manchen Gebieten des Großgrundbesitzes, wo das Wahlgeheimnis zumindest problematisch blieb9, war erst recht ein weiter reichendes Engagement undenkbar. Hingegen konnte im städtischen Raum die Macht des Besitzes (gegenüber Arbeitern) und etwaige Bekenntnisscheu in der Nachbarschaft (bei nicht-proletarischen Sympathisanten der SPD) dann umso mehr ein geeignetes Ventil in der Stimmabgabe finden. So wie Kautsky geschichtlich sehr weit zurückgegriffen hat, um das moderne Repräsentativsystem gegenwartsnah zu analysieren, ist die 1906 erschienene Schrift „Parlamentarismus und Sozialdemokratie“ von Eduard Bernstein eine – auf dem Weg zur Französischen Revolution einsetzende – historische Gesamtschau zur Problematik.10 Auch wenn Bernstein den zweiten Teil des Erfurter Programm u.a. mit dem ergänzend gemeinten Stichwort „Gesetzgebung durch das Volk“ formuliert hatte, teilte er Kautskys Skepsis gegenüber dem eidgenössischen Modell zugleich aus politischen Gründen: „Selbst in den vorgeschrittensten Kantonen der Schweiz zittern die Freunde des Fortschritts zuweilen bei wichtigen Abstimmungen vor den Launen dieses Instituts, sind Gesetzesvorschläge, welche von allen politischen Parteien 9 Margaret Lavina Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich (engl. 2000), Stuttgart 2009, bes. S. 204 ff. 10 Eduard Bernstein, Parlamentarismus und Sozialdemokratie, Berlin 1906 (daraus Seitenzahlen in diesem und dem nächsten Absatz).

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einmütig empfohlen wurden, von der Mehrheit der Abstimmenden bloß daraufhin verworfen worden, weil sie eine gewisse Vermehrung der Steuern nötig gemacht hätten oder gegen eingewurzelte Gepflogenheiten der großen Masse verstießen“ (S. 35). Bekanntlich wartete man so auf das Frauenstimmrecht in der Schweiz bis 1971 (um hier nicht aktuellere Beispiele mit Fremdenfeindlichkeit zu bemühen). Freilich verschwieg Bernstein gleichfalls nicht, dass in Frankreich nach dem „bonapartistischen“ Personalplebiszit zugunsten Napoleon II. 1851/52 auch eine Parlamentswahl von 1857 „mit Ausnahme eines Häufleins von sechs Oppositionellen nur Kandidaten des Kaisers in den gesetzgebenden Körper“ gebracht hatte: Von „über 6 Millionen abgegebenen Stimmen lauteten 5½ Millionen auf Regierungskandidaten“ (S. 37). Das erklärt weitgehend, vor welchem geschichtlichen Hintergrund – nämlich des französischen Revolutionszyklus von 1789 bis 1871 – auch die radikale Demokratie nur als das Werk aktivistischer Pariser Minderheiten vorstellbar erschien; man hatte sonst noch mit dem vielzitierten „Unverstand der Massen“ in ländlichen Regionen zu rechnen. Die von Ferdinand Lassalle auch zu Agitationszwecken propagierte, von Bismarck einige Jahre darauf quasi-bonapartistisch motivierte Einführung des allgemeinen Männerstimmrechts (ab 25 Jahre) bestätigte zum Norddeutschen Reichstag 1867 zunächst die französische Erfahrung: „In das konstituierende Parlament wurde nur Bebel gewählt, der damals noch an der Spitze der demokratischen sächsischen Volkspartei stand, aber schon in der Entwicklung zum Sozialisten begriffen war“; und auch 1871 in „den ersten deutschen Reichstag wurde nur Bebel gewählt, war aber die größte Zeit über durch Gefängnishaft daran verhindert, an seinen Sitzungen teil zu nehmen“ (S. 44 f.). Die mächtigste antiparlamentarische Kraft blieb unter Bismarck und über ihn hinaus der preußische Obrigkeitsstaat. So war es verständlich, dass der mit Bebel zusammen in den Jahren 1872/73 in Festungshaft einsitzende 1848er Revolutionär Wilhelm Liebknecht zunächst parlamentsdistanziert eingestellt blieb. Aber nicht allein er hatte in den beiden Folgedekaden umzulernen: „Man darf mit Sicherheit behaupten, daß wenn die Sozialdemokratie auf dem Proteststandpunkt verharrt hätte, wie ihn Liebknecht ursprünglich vertrat, sie der Welt nicht das Bild jenes ununterbrochenen Wachstums gezeigt hätte, das ihre Geschichte jetzt darbietet“ (S. 49). Doch auch Bernstein konnte sich Regierungsbeteiligung seiner Partei nur vorstellen, „wo wirklicher Parlamentarismus herrscht“ (also nicht im Kaiserreich), oder sofern eine „revolutionäre Situation“ bestand (S. 52). Wenn er letztlich – sogar mehr als in Kautskys Schrift – die theoretische Formel bestätigte, „daß der Parlamentarismus das specifische Regierungssystem des besitzenden Bürgertums, bezw. ein charakteristisches Institut der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist“, dann

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lag die Begründung dafür in Bernsteins eigener Vision: Mit dem Abbau des Klassencharakters der Herrschaft sei „die Umwandlung der zentralisierten Staaten in demokratisch, d.h. von unten auf konstituierte Föderativkörper unvermeidlich“ (S. 59 f.). Darin stand der bis 1901 im Londoner Exil lebende Bernstein wohl noch unter dem Eindruck seines Verständnisses des englischen Self-Government auf wesentlich auch lokaler und regionaler Ebene11, bevor freilich ebenso dort eine Zentralisierungstendenz das 20. Jahrhundert prägte. Während die USPD als Neugründung bzw. Abspaltung 1917 eigener Programmatik bedurfte, die sich insbesondere 1919/20 vom Parlamentarismus zum Rätesystem hin bewegte12, wurde das Erfurter Programm in der SPD erst 1921 vom Görlitzer abgelöst. Nunmehr aus vielköpfiger Kommissionsarbeit entstanden, schrieb Bernstein – als so nur am Rande mit Beteiligter – anschließend einen Kommentartext.13 Er gilt wohl deshalb, entgegen der tatsächlichen Entstehungsgeschichte, als geistiger Vater einer nun gemeinhin mehr als revisionistisch-reformistisch eingestuften Fassung. Im Görlitzer Programm war über selbstverständliche Bekenntnisse zur demokratischen Republik hinaus nur das Postulat „Überordnung der demokratischen Volksvertretung über die berufsständischen Organisationen“14 ein – allerdings klares – Votum für den Primat des Parlamentarismus. Das nach dem Zusammenschluss 1922 mit der (gemäßigten Rest-)USPD als Vereinigungsprojekt entstehende Heidelberger Programm 1925 blieb in seiner bekundeten Wertschätzung für Republik und Demokratie nicht dahinter zurück. Vielmehr klangen Visionen über eine Gesellschaft, die „zu freier Selbstverwaltung in harmonischer Solidarität emporsteigen“ sollte, auch in der Version der „Einheitsrepublik auf Grundlage der dezentralisierten Selbstverwaltung“ nach einem ganz eindeutig nicht-autoritären und nicht-diktatorischen Verständnis der erstrebten „politischen Macht“.15

11 Ders., Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, bes. S. 136 u. 160 ff. zur Gemeindepolitik. 12 Die Formulierungen, dass sich die USPD „auf den Boden des Rätesystems“ stellt, unter „nächsten Förderungen“ dann aber nur „Einordnung des Rätesystems in die Verfassung“ propagiert, ließen unterschiedliche Interpretationen beider Parteiflügel zu; vgl. Text bei Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 468. 13 Das Görlitzer Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Eingeleitet und gemeinverständlich erläutert von Eduard Bernstein, Berlin 1922 (dort zur Entstehung aus Kommissionsarbeit S. 10–13). 14 Zit. nach Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 472. 15 Zit. ebd., S. 475.

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Auch wenn Kautsky nochmals der sonst namhafteste Mitwirkende gewesen ist, darf Rudolf Hilferding als federführend jedenfalls für den grundsätzlichen Teil des Heidelberger Programms und dessen Interpretation gelten. Ein neuer Akzent gegenüber Erfurt 1891 bestand allerdings darin, dass Hilferding nicht nur – als Chefredakteur des SPD-Theorieorgans „Die Gesellschaft“ – der legitime Nachfolger von Kautsky in dessen Funktion für „Die Neue Zeit“ war, sondern in der Weimarer Republik auch zweimal (erstmals 1923) als Reichsfinanzminister ein hochrangiges politisches Amt bekleidete.16 Die aktualisierte Verknüpfung der ökonomischen mit der politischen Analyse, darin gewissermaßen den Grundsatztext von Heidelberg 1925 konkretisierend, leistete vor allem Hilferdings programmatische Rede auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927.17 So wie der Redner sich jenen zugehörig erklärte, „die jede ökonomische Zusammenbruchstheorie ablehnten“, wies er die „politische Zusammenbruchstheorie“ eindeutig zurück, die er bei den „Bolschewiki“ am Werke sah (S. 2). Anstelle einer diffusen bis suggestiven Terminologie des „Spätkapitalismus“ wollte Hilferding eine Entwicklungsrichtung feststellen „von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft“, diese auch verbunden mit einer „Internationalisierung der kapitalistischen Industrie“ (S. 3 f.). Den systemimmanenten Tendenzen schrieb er letztlich systemüberwindende Dynamik zu: „Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion“ (S. 5). Keineswegs wollte Hilferding das konzentrierte und organisierte Kapital schlicht verstaatlichen, vielmehr hat er im Zusammenhang mit den Gewerkschaften die eigenständige Bedeutung von „Betriebsdemokratie“ (Mitbestimmung) und „Wirtschaftsdemokratie“ (gesellschaftliche Rahmenverantwortung) hervorgehoben (S. 8). Das wesentlich gewerkschaftsnahe Konzept der Wirtschaftsdemokratie18 kann also nicht etwa vermeintlichem sozialdemokratischem Überschussbewusstsein nach dem Wahlerfolg des Mai 1928 im Reich und in Preußen zugeschrieben werden. Vielmehr folgte es gedanklich schlüssig aus Hilferdings Analyse des „Organisierten Kapitalismus“ und versuchte, den wenig Einfluss gewinnenden Räteartikel 165 der Weimarer Verfassung fortschreibend, gewissermaßen auch ‚wirtschaftsparlamentarische‘ Elemente zu etablieren. 16 Zur Biographie William Smaldone, Rudolf Hilferding. Tragödie eines deutschen Sozialdemokraten (engl. 1998), Bonn 2000. 17 Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik. Hilferding auf dem Parteitag zu Kiel Mai 1927, Hg. Vorstand der SPD, Berlin o.J. (1927, daraus Seitenzahlen dieses und des folgenden Absatzes). 18 Vgl. Fritz Naphtali (Hg.), Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 1928.

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Hinsichtlich der antidemokratischen Kräfte skizzierte Hilferding bereits im Jahr vor der verhängnisvollen Ära Hugenberg die Gefahren einer Umorientierung von restaurativen zu radikalisierten Tendenzen: „Die Deutschnationalen haben sich den Weg zum Faschismus leichter und freier gemacht, indem sie den Weg zur Monarchie beiseite gelassen haben“ (S. 12). In der Orientierung an einem dezentralisierten Einheitsstaat bezog sich der Redner auf den linksliberalen Weimarer Verfassungsvater: „Preuß hat einmal ganz richtig gesagt, daß der Zustand vor dem Kriege keineswegs etwa der eines Föderativstaates gewesen ist, sondern daß er nichts anderes war als ein preußischer Hegemoniestaat in föderalistischer Bekleidung“ (S. 14).19 Gerade im Kontrast zur Vergangenheit bescheinigte Hilferding dem neuen Preußen unter Ministerpräsident Otto Braun und Innenminister Carl Severing in der Abwehr der antidemokratischen Extreme „eine welthistorische Leistung“ (S. 17). Im Sinne der „Binsenweisheit“ gesprochen, „daß in jedem Staat regiert werden muß“ und man sich nicht mutwillig nur von rechts her regieren lassen wollte, plädierte er nach bewährtem Muster der Preußenkoalition auch im Reichsmaßstab für die „freie Beweglichkeit“ (S. 18 f.). Der Parteitag beschloss daraufhin eine Resolution, in der es u.a. hieß: „Die Beteiligung der Sozialdemokratie an der Reichsregierung hängt allein von der Prüfung der Frage ab, ob die Stärke der Sozialdemokratie im Volke und im Reichstag die Gewähr gibt, durch Teilnahme an der Regierung in einer gegebenen Situation bestimmte, im Interesse der Arbeiterbewegung gelegene Ziele zu erreichen oder reaktionäre Gefahren abzuwehren. Die Entscheidung über die Teilnahme an der Regierung ist eine taktische Frage, deren Beantwortung nicht durch bestimmte Formeln ein für allemal festgelegt werden kann“ (S. 22 f.).

Damit war der Weg frei zur erneuten Regierungsbeteiligung auf Reichsebene nach den Maiwahlen 1928 bis zum Frühjahr 1930. Das erwies sich zuletzt jedoch als krisenbedingt ungünstiger Zeitpunkt im Sinne einer Durchsetzung eigener Ziele, wie sie zuvor bei der „Republikanisierung“ Preußens in einer Weimarer Koalition – und nicht wie reichsweit in Großer Koalition (unter Einschluss der wirtschaftsnahen DVP) – erreicht wurden.

19 Besonders pointiert bei Hugo Preuß, Der deutsche Nationalstaat (1924), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Hg. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 441–516, hier S. 461–471.

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2. Rückblende: Versammlungsdemokratische Ursprünge der Sozialdemokratie Als daraufhin langjähriger Organisationsleiter im SPD-Vorstand übermittelte Ignaz Auer den zum Parteitag 1890 versammelten Delegierten in seinem Bericht eine wichtige Information: „Unter den 35 heutigen Fraktionsmitgliedern ist nicht ein Einziger, der während der ganzen 13 Jahre der Herrschaft des Sozialistengesetzes der Fraktion dauernd angehört hat.“20 Nicht allein wegen des Endes der – 28 Jahre Ministerpräsidentschaft in Preußen und davon 19 Jahre als Reichskanzler umfassenden – Ära Bismarck ist die Zäsur des Epochenjahres 1890 auch für die Sozialdemokratie nicht zu unterschätzen. Nach Auslaufen des Sozialistengesetzes zum 30. September 1890 begann für die – erst seit dem Parteitag im Oktober als Sozialdemokratische Partei Deutschlands so benennbare – SPD eine neue Ära. Im Februar 1890 hatten die Sozialdemokraten mit einem Zuwachs von 10,1 % auf 19,7 % der Stimmen bei den Reichstagswahlen nun erstmals wirklich Masseneinfluss erlangt. Bismarcks Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“, von Sozialgesetzen und gleichzeitiger Verfolgung unter dem Sozialistengesetz, war ersichtlich gescheitert, seine Entlassung durch Kaiser Wilhelm II. wesentlich die Folge davon. Im November 1890 wurde auch die Bildung einer „Generalkommission“ der „Freien“ (SPD-nahen) Gewerkschaften möglich. Deren in Hamburg ansässige Zentrale ist dann fast drei Jahrzehnte lang vom früheren Drechslergesellen Carl Legien geleitet worden. Ebenfalls seit dem Folgejahr erschien das gewerkschaftliche „Correspondenzblatt“ neben dem – seit 1876 als Symbol der Parteieinheit bestehenden – Berliner Zentralorgan „Vorwärts“ der Sozialdemokratie. Erstmals zum 1. Mai 1890 war es auch zu Konflikten um den Maifeierbeschluss der 1889 in Paris zum 100. Revolutionsjubiläum gegründeten II. Internationale der europäischen Arbeiterparteien gekommen. Der 1863/64 zunächst von Ferdinand Lassalle geleitete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die 1869 von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründete „Eisenacher“ Sozialdemokratische Arbeiterpartei vereinigten sich 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei. Erst seit der Reichsgründung von 1871 konnte eine gemeinsame deutsche Sozialdemokratie bestehen, die bei den Reichstagswahlen dieses Jahres nur bescheidene 3,1 % der Stimmen erreichte. Der auch von französischen Milliardensummen als Kriegstributen befeuerte „Gründerboom“ beschleunigte den kapitalistischen 20 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a.S. 1890 vom 12. bis 18. Oktober 1890, Berlin 1890, S. 119.

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Industrialisierungsprozess. Dessen sozialstrukturelle Umschichtungsdynamik schritt auch in der Krise seit 1878/79 weiter voran. Um das Jahr 1890 übertraf erstmals die Wertschöpfung von Industrie und Handwerk diejenige eines zuvor dominierenden, sogar exportstarken Agrarsektors. Wenige Jahre darauf, ausweislich der Berufszählung 1895, überrundete der gewerbliche Sektor den agrarischen dann auch hinsichtlich der Beschäftigtenzahl. Erst seit den 1890er Jahren wurde die moderne Facharbeiterschaft in mittleren und größeren Betrieben zur massenhaften Rekrutierungsbasis von Freien Gewerkschaften und SPD. In der Frühgeschichte hatten neben Akademikern vor allem Handwerksgesellen aus Kleinbetrieben und sogar Kleinmeister die Hauptquelle der Aktivisten gebildet. Die Übergänge waren damals noch fließend; so wurde aus dem Drechslergesellen Bebel schon vor seiner Parteigründerrolle ein künftig gutsituierter Betriebsinhaber. Spätestens der sensationelle Erfolg von Bebels Zukunftsdarstellung „Die Frau und der Sozialismus“, seit Erstauflage 1879 noch zu Lebzeiten insgesamt ca. 200.000-fach verkauft und so die höchste Auflage politischer Literatur nach Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ aufweisend, ließ ihn zugleich als Schriftsteller avancieren. Doch erst nach 1890 wurde der für seinen politischen Elan geschätzte und von Gegnern gefürchtete Bebel nun auch zum faktischen Parteiführer. An dessen Seite wirkte bis 1911 der hochgeachtete und stärker integrierend wirkende jüdische Fabrikant und nunmehrige Mäzen Paul Singer – noch weniger als Bebel und so wenig wie die selbstbewussten Akademiker Lassalle und Liebknecht ein „Proletarier“. Es gibt nicht bereits „seit 1863“ eine geschichtliche Kontinuitätslinie für die „normale Berufspartei der europäischen Arbeiter“21 im Unterschied zu den 1848er Revolutionären nach Art des „Manifests“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Eine Früh- oder gar „Urgeschichte“ der Sozialdemokratie lässt sich zwar bis auf die 1830er Jahre zurückführen.22 Aber der ursprüngliche Handwerksgesellen- und Intellektuellen-Sozialismus hatte wenig mit jenem Organisationstypus der SPD gemein, der sich erst seit den 1890er Jahren he21 Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre (1937), Frankfurt a.M. 1962, S. 251. 22 Während Cora Stephan, „Genossen, wir dürfen uns nicht von der Geduld hinreißen lassen!“ Aus der Urgeschichte der Sozialdemokratie 1862–1878, Frankfurt a.M. 1977, sich trotz des Buchtitels tatsächlich mit dem zweiten Abschnitt der Frühgeschichte befasst, würde vor deren erstem Abschnitt seit der Revolution 1848/49 der Begriff Urgeschichte allenfalls die vorausgegangene Entwicklung der 1830er- und „Vormärz“-Jahre umgreifen können; so weit zurückgreifend u.a. Peter Brandt/Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013, mit weiterer Überblicksliteratur.

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rausbildete. Gerade auch unter dem Gesichtswinkel des Verhältnisses zum Parlamentarismus als politische Willensbildungs- und Regierungsform ist es bedeutsam, sich die versammlungsdemokratischen Ursprünge der frühen Sozialdemokratie zu vergegenwärtigen. Entgegen früheren einseitig ökonomistischen Interpretationen hat eine kulturgeschichtlich informierte sozialhistorische Forschung davon auszugehen, „dass eher Urbanität als fortgeschrittene Industrialisierung Entstehungsvoraussetzungen für die deutsche Sozialdemokratie bot“.23 Dies wiederum brachte eine frühe Bewegungsform der Parteibildung mit sich, „die ‚Volksversammlungen‘ und Vereine als ihre Existenzmedien kultivierte“ (S. 23). In der „frühen deutschen Sozialdemokratie“ war eine „spezifische institutionelle Konstellation“ angelegt: „Diese war gekennzeichnet erstens durch die langjährige Priorität des handwerklichen Assoziationssozialismus gegenüber der Orientierung auf Berufsgewerkschaften, zweitens die genuin politische Qualität der Bewegung, drittens die enge Verbindung von Demokratie und Revolution, viertens die Gleichsetzung von Staat und ‚Assoziation der Assoziationen‘, fünftens die zentrale Bedeutung der Debattenkultur in den Vereinen und Versammlungen und sechstens schließlich die Dominanz des allgemeinen Arbeitervereinsmodells“ (S. 225).

Die Bedeutung der von politischen Vereinen initiierten öffentlichen Versammlungen erstreckte sich bis hin zur gewollten Einflussnahme auf die parlamentarische Willensbildung über die Weiterleitung der gefassten Beschlüsse an die Abgeordneten (S. 297). Darin wird man durchaus Potenzial des Zusammenspiels von außerparlamentarischer Politisierung und Möglichkeiten der parlamentarischen Einbringung sehen können. Ohne jeden Zweifel war die Vereins- und Versammlungsdemokratie eine Art sozialdemokratischer Vorschule für künftige Wahlkampf- und Parlamentsredner, zumal Abgeordnete der Partei dann in öffentlichen Massenversammlungen vor ihren Wählern politisch Rechenschaft ablegten (S. 466). Umgekehrt lag der Stellenwert einer geschichtlichen Zäsur von 1878 darin begründet, dass „mit dem Erlass des Sozialistengesetzes für lange Jahre die Sphäre der Öffentlichkeit verloren“ ging (S. 408). Die Repressionszeit verstärkte einerseits die kritische Grundhaltung, mit der gerade Wilhelm Liebknecht bis zur Reichsgründung 23 Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 99, und das galt auch für die Regionalverteilung (S. 137): „Sachsen war eine Flächenhochburg der frühen Sozialdemokratie, weil seine urbane Struktur die Bildung hochaktiver Gemeinden nicht nur in den wenigen Großstädten, sondern auch in den Mittel- und Kleinstädten förderte“ (Seitenzahlen dieses Abschnitts 2 in Klammern beziehen sich auf Welskopp, Banner).

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dem Parlamentarismus begegnete: „So lange keine wirkliche Volksvertretung bestehe, liege der Wirkungskreis der Demokratie ausschließlich im Volk“ (Zit. S. 589). Auch wenn für den Fall einer wirklichen Volksvertretung im parlamentarisch-demokratischen System eine veränderte Stellungnahme vorbehalten blieb, klang doch eine Präferenz zugunsten direkter Demokratie an. Hingegen bemängelte Engels in einem Brief an Bebel vom März 1875 entsprechende Tendenzen im Gothaer Einigungsprogramm als „reine Modesache“, so „wie z.B. die ‚Gesetzgebung durch das Volk’, die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie überhaupt was anrichtet“.24 Solche aus Erfahrungswerten gespeist distanzierte Haltung gegenüber dem einzigen grundsätzlichen europäischen Alternativmodell macht es zusätzlich nachvollziehbar: Die Rezeption des Marxismus unter Textführerschaft von Kautsky und Bernstein erhöhte auch unabhängig vom Einfluss des Sozialistengesetzes letztlich sogar die Akzeptanz des Modells der parlamentarischen Demokratie.25 Allerdings war dafür ein mehrere Jahrzehnte beanspruchender Entwicklungsweg notwendig.26 Eine zunächst ausschlaggebende Zeitspanne bis zum Ende des Sozialistengesetzes betrachtet der Beitrag von Volker Stalmann. Dort sind die ideengeschichtlichen Voraussetzungen und realhistorischen Rahmenbedingungen einer ursprünglichen sozialdemokratischen Parlamentsskepsis eingehend behandelt. Mehr als in anderen Studien zur Frühgeschichte der Sozialdemokratie werden dabei auch die sogar innerhalb der parlamentarischen Mitarbeit zu verzeichnenden Diskriminierungen bereits vor Erlass des Sozialistengesetzes dargelegt. Das reichte von der Verweigerung kollegialer Gleichbehandlung als gewählte Volksvertreter bis hin zur restriktiven Handhabung der Geschäftsordnung des Reichstags. Wenig bekannt ist auch, dass ein Schutz der parlamentarischen Immunität allein für dortige Verhandlungen und nicht zugleich für die sonstige Tätigkeit der Abgeordneten galt. So wurden nicht wenige sozialdemokratische Volksvertreter mit Haftstrafen wegen herrschaftskritischer Meinungsäußerungen belegt, und das nicht erst unter dem Sozialistengesetz. Die gerade unter Bismarck – entgegen der Legende 24 Marx-Engels Werke (MEW), Bd. 19, S. 6. 25 Die Pariser Commune 1871 und deren später rätesozialistische Modelle inspirierende Willensbildungsformen sind nur kurzlebig beachtet worden: „Die Marx’sche Vorstellung von der ‚Diktatur des Proletariats’ wurde in der deutschen Sozialdemokratie über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg so gut wie nicht diskutiert“ (Welskopp, Banner, S. 610) – sie war eben auch stark von jakobinischer Tradition geprägt und wurde dann erst von den Bolschewiki umfassender rezipiert. 26 Als Überblick: Elfi Pracht, Parlamentarismus und deutsche Sozialdemokratie 1867– 1914, Pfaffenweiler 1990.

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von Annäherungsversuchen gegenüber Lassalle und Konzessionen der Sozialgesetzgebung – virulente Bekämpfung aller Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ macht es verständlich: Bis zum Ende des Sozialistengesetzes blieben nicht parlamentarische Integrationsneigungen, sondern das Ziel des Sturzes einer derartigen Regimes bestimmend. Dennoch hatte die praktische Mitarbeit im Reichstag schon mittelfristig die Konsequenz, dass auch konkrete Gesetzgebungsvorhaben ins Blickfeld der Parteitätigkeit traten. So wurde die Hoffnung auf einen künftigen Neuansatz der gescheiterten 1848er Revolution allmählich um praktische Reformziele ergänzt. Die Grundidee zu diesem Band ist, was die intendierte zeitliche Gliederung der weiteren Beiträge erklärt, 2013 anlässlich der Erinnerung an 150 Jahre deutsche Sozialdemokratie seit 1863 entstanden.27 Eine Übersicht jedenfalls bis zum Regierungswechsel 1982 ergab, dass in den meisten Fällen die Spanne von zehn Kalenderjahren beginnend mit einer auf „3“ auslaufenden Jahreszahl zur Geschichte der SPD und ihrem Verhältnis zum Parlamentarismus anregend wirken kann. So fand 1893 die erste Reichstagswahl nach dem Sozialistengesetz statt; 1903 erzielte die SPD einen großen Stimmen- und Mandatszuwachs und diskutierte heftig daraus abzuleitende Konsequenzen; 1913 komplettierte der Tod Bebels im letzten Vorkriegsjahr einen Generationswechsel; 1923 war das Krisenjahr von Hyperinflation und Ruhrkampf; 1933 bedarf als Beginn der NS-Diktatur keiner weiteren Erläuterung; 1943 zeichnete sich das mögliche Ende des Regimes ab und begannen Zukunftsplanungen für die Zeit nach Hitler; 1953 bedeutete die schwere Niederlage in der Bundestagswahl einen denkbar schlechten Start für den neuen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Ollenhauer (in der Nachfolge des 1952 verstorbenen Kurt Schumacher); 1963 wiederum leiteten der Tod Ollenhauers und Neuansätze wie das zusammen mit Egon Bahr entworfene Konzept „Wandel durch Annäherung“ in der Ostpolitik eine über zwei Jahrzehnte sich erstreckende Ära Willy Brandts ein; 1973 wurde dessen Kanzlerschaft schon ein Jahr vor dem Rücktritt durch sich abzeichnendes Ende des Wirtschaftsaufschwungs eingebremst; 1983 brachte mit der Rückkehr einer CDU/CSU-Hegemonie und gleichzeitig Einzug der Grünen in den Bundestag ein definitives Ende der Phase einer sozial-liberalen Koalition.

27 Bis auf die zusätzlich eingeworbenen Texte von Volker Stalmann und Rainer Behring (der einen nur mündlich vorgetragenen, aus nachvollziehbaren Gründen aber nicht schriftlich eingetroffenen Beitrag ersetzt), umfasst dieser Band die erweiterten Publikationsversionen einer Tagung, die am 15. und 16. November 2013 in Berlin von der Paul-Löbe-Stiftung in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet wurde.

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Die Beiträge greifen nach thematischen Schwerpunkten, die unterschiedlich gesetzt werden konnten, teilweise über die als Orientierungsrahmen gedachten Eckdaten zurück und voraus. Weder eine vom Stichwort Parlamentarismus ausgehende Gesamtgeschichte der Sozialdemokratie noch vorwiegend nur eine die Tätigkeit von Parlamentsfraktionen umfassende Darstellung ist von dem vorliegenden Band zu erwarten. Vielmehr sollten von den zur Mitwirkung gewonnenen Autoren für die einzelnen Entwicklungsabschnitte ihnen als charakteristisch erscheinende Gesichtspunkte behandelt und in den Gesamtzusammenhang des Zeitkontextes sowie der SPD-Geschichte eingeordnet werden. Biographische Spezialinteressen für einzelne Parlamentarier müssen ohnehin auf Publikationsorte anderer Prägung verwiesen werden.28 Verschiedene Auffassungen zu Einzelaspekten waren dabei nicht vom Herausgeber zu glätten, zumal auch der Parlamentarismus selbst von der Gegenüberstellung verschiedener Standpunkte und Betrachtungsweisen lebt. Die Gliederung in zwei Teile – bis zum Ende der Weimarer Republik und seit Beginn des NS-Regimes – folgt aus der Einschätzung, dass sich von 1890 bis 1932 eine trotz der Zäsur von Weltkrieg und Revolution zusammenhängende Entwicklung vollzog. Auch wenn die Neuorientierung mehr als wenige Jahre beanspruchte, war es nach 1945 ein anderes (geteiltes, eingebundenes) Deutschland, wo nur in der Bundesrepublik einer partiellen Kontinuität parlamentarischer Tradition der SPD nachgespürt werden kann. Dies berücksichtigend, macht es dann auch wiederum Sinn, solchen Band vor dem mit der gesamtdeutschen Bundestagswahl von 1990 einstweilen formell komplettierten neuen Vereinigungsprozess abzuschließen. „Historische Demokratieforschung“ im Sinne dieser Publikationsreihe muss sich nicht auf weit zurückliegende Geschichtsperioden beschränken, überlässt aber bis auf knappe Verweise die Gegenwartsepoche anderem fachlichen Kontext.

3. Vom wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik An den süddeutschen Mittelstaaten verdeutlicht Karl Heinrich Pohl die länderparlamentarischen Ursprünge eines sozialdemokratischen Reformismus schon vor den Revisionismusdebatten der Jahrhundertwende. Diese Territorien prägte weder der großstaatliche Herrschaftsanspruch Preußens noch kleinstaatliche patrimoniale Enge oder eine damals noch elitäre Bürgerlichkeit der Hansestädte. Dass die Klassengegensätze in Baden, Württemberg und 28 Eine breite Informationsbasis bietet http://zhsf.gesis.org/ParlamentarierPortal/datenban ken.htm.

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Bayern im Kaiserreich nicht dermaßen schroff ausgeprägt waren wie in Sachsen, den Hansestädten sowie gleichermaßen den industrialisierten und agrarischen Regionen Preußens, ist ein wichtiger Teil der Erklärung. Auch deshalb wurde die SPD in Süddeutschland jedenfalls nach 1890 weniger ausgegrenzt und entwickelten sich früher Kooperationsformen insbesondere mit Liberalen. Diese suchten ihrerseits Verbündete gegenüber einem vor allem in Bayern, doch auch in Baden massendominanten Katholizismus. Auf Reichsebene manifestierte sich die Sonderstellung der Süddeutschen auf SPD-Parteitagen in den Budgetdebatten: inwieweit Parlamentarier bei erreichten Zugeständnissen für den Haushalt einer Regierung stimmen konnten, die trotz des milderen politischen Klimas dennoch unzweifelhaft obrigkeitsstaatlichen, also keinen demokratischen Charakter trug. Gleichwohl bildeten Auseinandersetzungen um die Erweiterung des bei weitem nicht so restriktiven Wahlrechts wie in Preußen einen Schwerpunkt der landespolitischen Aktivitäten. Besonderes Augenmerk wird auch dem bayerischen SPD-Vorsitzenden Georg v. Vollmar gewidmet; er präsentierte über Praxisfelder hinaus frühzeitig eine Konzeption reformistischer Strategie, die für eine künftige parlamentarisch-demokratische Grundorientierung bereits Stichworte lieferte. Darüber hinaus kommen aber ebenso Vertreter der Parteibasis zu Wort, die verdeutlichen, dass es sich um politisch-kulturelle Prägungen von Regionalmilieus und nicht etwa nur ‚abgehobene’ Kooperationsstrukturen gestaltungswilliger Führungsgruppen handelte. Der Beitrag von Holger Czitrich-Stahl führt die Fragen zu Budgetbewilligungen fort, konzentriert sich aber darüber hinaus auf die parteipolitischen und parlamentarischen Entwicklungslinien der SPD zwischen den Reichstagswahlen 1903 und 1912, die von besonders hohem Stimmenzuwachs geprägt waren. Erst in dieser Zeitspanne wurden die Sozialdemokratie und die ihr nahestehenden Freien Gewerkschaften vollgültig zu breit angelegten Massenorganisationen mit einem auf kontinuierliches Wirken eingerichteten Stab von Funktionsträgern. Nunmehr entfielen auch etliche Organisationshemmnisse: Ende 1899 waren die in Einzelstaaten – allen voran Preußen – bestehenden Verbindungsverbote reichsgesetzlich aufgehoben worden; seit 1903 erfuhr durch Umschläge für Stimmzettel die Norm „geheimer“ Wahl mehr Schutz29, und ab 1906 erleichterten Diäten für Reichstagsabgeordnete die Parlamentstätigkeit auch Nichtprivilegierter; schließlich ermöglichte das Reichsvereinsgesetz 1908 die zuvor in den meisten Einzelstaaten – wieder allen voran Preußen – untersagte Parteiarbeit von Frauen und (begrenzter) auch von Jugendlichen. Insoweit kam die 1898/99 von Bernstein gewissermaßen aus 29 Dazu Anderson, Lehrjahre, S. 310 ff.

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Londoner Sicht importierte Revisionismusdebatte zwar nicht in ökonomischer und klassensoziologischer Hinsicht, wo er viele Tendenzen der Folgedekade richtig erkannte, aber bezüglich der politischen Rahmenbedingungen ungefähr ein Jahrzehnt zu früh, um innerparteiliche Breitenwirkung zu erzielen. Die von Bebel in Sorge um den Parteizusammenhalt forcierte abschließende Zurückweisung der „revisionistischen Bestrebungen“ auf dem Dresdener Parteitag 1903 hinderte weder ihn noch andere führende Exponenten der SPD, in den Folgejahren schrittweise Kurskorrekturen oder Klarstellungen vorzunehmen. In der Massenstreikdebatte seit 1905 stand Bernstein dann eher für eine aufgeschlossene Mittelposition, erst recht in Fragen der Außenpolitik (gewissermaßen späterer USPD-Zugehörigkeit vorgreifend) im Sinne eines pazifistischen Kurses. Im Beitrag wird das weiterhin bestehende Spannungsverhältnis zwischen einem an kontroverser öffentlicher Mobilisierung orientierten Verständnis der Parlamentsarbeit und punktuell sehr wohl auf konkrete Reformschritte zugunsten der arbeitenden Bevölkerung zielender Praxis deutlich. Von Detlef Lehnert wird dargestellt, wie sich nach dem Tod Bebels aus im Ersten Weltkrieg zugespitzten Konflikten die folgenreiche Spaltung der SPD in mehreren Stufen wesentlich auch in der Reichstagsfraktion entwickelte. Dabei treten die Meinungsverschiedenheiten in den beiden innerparteilichen und dann organisatorisch nach SPD und USPD getrennten Lagern nuancenreicher als häufig wahrgenommen hervor. Es gab nicht allein in der (schon angesichts des auf die SPD konzentrierten Buchtitels nur knapp mit behandelten) USPD die bekannten Differenzen bis zur endgültigen Verselbständigung der Spartakusgruppe als KPD Ende 1918 und dem KPD-Beitritt des radikalen USPD-Flügels im Herbst 1920. Darüber hinaus wurde der verbleibende gemäßigte USPD-Teil in Wiedervereinigung mit der SPD 1922 – im Zeichen der Republikverteidigung nach dem rechtsradikalen Mord an Außenminister Rathenau – nicht einfach die neue SPD-Linke, sondern brachte mit z.B. Hilferding ausgesprochene Zentristen mit ein. Doch bereits zuvor, von Debatten um den politischen Massenstreik zum Erkämpfen des gleichen Wahlrechts in Preußen über die Haltung zur Kriegskredite- und Burgfriedenspolitik bis in die Grundsatz- und Strategiefragen der frühen Republikzeit, waren stets in der SPD organisierte Gruppen zunehmend differenziert. Auch dort gab es weiterhin Gegner der Kriegskredit- und Burgfriedenspolitik, die auf die Chance eines innerparteilichen Kurswechsels hinarbeiteten. Schließlich ist auch die politische Mehrheitslinie der SPD nicht als kompakter Block unter zentralistischer Führung in den Blick zu nehmen. Über regionale Unterschiede wie den süddeutschen Reformismus und das zunehmende Gewicht des – oppositionelle Tendenzen organisatorisch absorbierenden – Gewerkschaftsflügels hinaus ergaben sich auch im Führungspersonal von Partei und Fraktion verschie-

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dene Akzente. Ohne hier deren Einzelaspekte vorwegnehmen zu können, wird so auch der stufenweise fortschreitende Rollenwechsel Friedrich Eberts deutlich: von einem zunächst noch auf Integration unterschiedlicher Tendenzen setzenden Politiker über den Andersdenkende disziplinierenden Partei- und Fraktionschef der Mehrheitsgruppe zum Exponenten des Regierungsbeitritts schon in der Endkrise des Kaiserreichs. Dabei blieb er auch einer sozialdemokratischen Revolution gegenüber skeptisch und wechselte rasch in das Profil des Reichspräsidenten über. Der Zusammenhang von parlamentarischer Demokratie in der Weimarer Republik und parlamentarischen Orientierungen auch hinsichtlich internationaler Beziehungen ist ein wesentlicher Bezugspunkt im Text von Rainer Behring. Dort wird zunächst die bislang meist unterschätzte Bedeutung von Hermann Müller herausgearbeitet, als einer der SPD-Vorsitzenden immerhin der am längsten amtierende sozialdemokratische Reichskanzler. Durchaus in Differenz zu verbreiteten Sichtweisen auf Weimarer SPD-Politiker als sehr nüchterne Pragmatiker treten in den Vorstellungen über eine künftige Weltordnung visionäre und teilweise als utopisch erscheinende Vorstellungen zutage. Dabei wird allerdings sonst häufig übersehen, dass zwischen beiden Aspekten in zeitgenössischer Perspektive nicht unbedingt ein Widerspruch bestand, solange konkret erreichbare Nahziele und als zukunftsorientierte Leitlinien dienende Fernziele klar unterschieden werden konnten. Als ein zweiter wichtiger Exponent wird Rudolf Hilferding betrachtet, der u.a. als Chefredakteur des SPD-Theorieorgans „Die Gesellschaft“ auch zu Fragen einer friedensorientierten internationalen Politik wichtige Impulse zu geben versuchte. Seine bekannteren Ausführungen zum Verhältnis von organisiertem Kapitalismus und politischer Demokratie rechneten einerseits im Verlauf der 1920er Jahre dermaßen selbstverständlich mit den geltenden Weimarer Verfassungsnormen, dass deren parlamentarische Komponente gar nicht mehr ausdrücklich hervorgehoben werden musste. Andererseits war eben auch nur für dezidiert englandorientierte Politiker und Programmatiker der Parlamentarismus das vorrangige Identifikationskonzept. Hingegen bildete für klassische Demokratien wie Frankreich, die Schweiz und die USA das in landesweiter Wahl beschickte Parlament nur eines von mehreren tragenden Bestandteilen des Institutionengefüges. Am Beispiel von Entwürfen des seit den Kriegsjahren – anders als Hilferding stets zum rechten Flügel gehörend – in die SPD-Spitze aufgestiegenen Eduard David werden abschließend Vorstellungen erörtert, die im Umkreis der konkreten Tätigkeit einer Interparlamentarischen Union entstanden sind. Nachdem der Kriegsbeginn 1914 schmerzlich die Grenzen einer sozialdemokratischen Internationale der Parteien aufgezeigt hatte, mochte es als praktikablere Version erscheinen, die Internationale der Parlamentarier ins

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Auge zu fassen: Sie hatten in modernen Demokratien auch über Krieg oder Frieden (mit) zu entscheiden.

4. Von der NS-Diktatur zur Bundesrepublik des Grundgesetzes Der Beitrag von Peter Steinbach ist um den geradewegs legendären moralischen Höhepunkt sozialdemokratischer Parlamentarismus-Geschichte zentriert, die sehr mutige Rede von Otto Wels vom 23. März 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. Dabei wird auch die alltäglichere Vorgeschichte zu Wels als einer der SPD-Vorsitzenden (neben Hermann Müller bis zu dessen Kanzlerschaft 1928 und dem 1922 von der USPD gekommenen Arthur Crispien) mit berücksichtigt. Die zuweilen gar in verfälschter Form 30 kolportierte Parole „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!“ aus der Parteijugend könnte die Haltung der SPD auch in den Krisenjahren nach enttäuschten Hoffnungen nicht annähernd repräsentativ charakterisieren. Dieses Zitat ist später häufiger als damals benutzt worden, was damit zusammenhängt, dass es von Willy Brandt als noch 16jähriger in dem von Julius Leber geleiteten Parteiblatt verwendet wurde.31 Viel seltener wird allerdings zitiert, wie das auch der junge – dann bereits zur linkssozialistischen SAPD übergetretene – Willy Brandt in seinem Abituraufsatz vom Winter 1931/32 verstanden hat: „Es gibt ja keinen einheitlichen Zug seit 1918. Parteien glaubten, mit Parlamentarismus die Demokratie eingeführt zu haben. Politische Demokratie allein gibt es aber nicht. Soziale und kulturelle Demokratie gehören zur wirklichen Demokratie hinzu.“32 Dieses Fazit wurde ähnlich – und nach der Zäsur von 1933 eher noch schärfer – im sozialdemokratischen Prager Manifest Ende Januar 1934 formuliert, das inhaltlich mehr als die Wels-Rede in den Mittelpunkt des Beitrags von Peter Steinbach rückt. Daran wird herausgearbeitet, dass sich nicht allein das Sozialismus-, sondern auch das Freiheitsverständnis der Sopade (wie sich die Exil-SPD zum äußeren Zeichen ihrer Ausnahmesituation nun abkürzte) unter der NS-Diktatur noch 30 So zu ersichtlich polemischen Zwecken bei Michael Stürmer, „Demokratie, das ist nicht viel!“, in: Die Welt, 23.12.2008 (http://www.welt.de/welt_print/article2921919/ Demokratie-das-ist-nicht-viel.html), wo dann auch noch zusätzlich ein „Heidelberger Parteitag 1922“ erfunden wird (offenbar den Vereinigungsparteitag SPD/USPD in Nürnberg 1922 mit dem Heidelberger Programmparteitag 1925 verwechselnd). 31 Lübecker Volksbote Nr. 223 v. 24.9.1930: „Kameradschaftlichkeit!“, zit. nach Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 1, Bonn 2002, S. 90. 32 Ebd., S. 108.

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entschiedener profilierte.33 Das erleichterte im weiteren Verlauf unter den Eindrücken der Exilsituation vor allem in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern die Annäherung an Konzeptionen des Parlamentarismus und der „westlichen Demokratie“, wie es u.a. am zuvor linkssozialistischen Widerstandskämpfer Richard Löwenthal aufzuzeigen ist: Dessen allmähliche „Westernisierung“ begrenzte zunächst nicht wesentlich die konkreten sozialistischen Neuordnungsziele.34 Eine doppelte Prägung durch Erfahrungshorizonte gleichermaßen aus der Weimarer Republik und der NS-Verfolgung galt auch für Kurt Schumacher; er war die insoweit innerparteilich unbestrittene Zentralfigur der SPD zwischen 1945 und seinem Todesjahr 1952. Mit ihm wurde die politische Rolle des Oppositionsführers in der parlamentarischen Demokratie erstmals in der gesamten dafür relevanten deutschen Geschichte seit Einführung des allgemeinen (bis 1918 Männer-)Wahlrechts im Kaiserreich umfassend profiliert. Dazu gehörte auch eine stets deutliche Abgrenzung zur konservativ-wirtschaftsliberalen Mehrheitslinie, was zeitgenössisch und sogar historiographisch nicht immer richtig verstanden worden ist. Der Text von Peter Brandt zeigt jedoch ebenso auf, wie Schumacher und die SPD die historisch einzigartige Katastrophe der NS-Verbrechen und Kriegszerstörungen nutzen wollten: zu einem wirklichen Neuanfang in gleichwohl – trotz weiterführender Aspekte – unübersehbarer Kontinuität zu sozialdemokratischen Traditionslinien. Das brachte in mehreren neu gebildeten Ländern der entstehenden Bundesrepublik auch durchaus Erfolge mit sich, so wie überhaupt die nicht mehr preußisch-hegemonial überformte Föderalstruktur eine wichtige Komponente im Gesamtgefüge ihres parlamentarischen Systems wurde. Dies lag nicht allein in Vorgaben der Siegermächte und insoweit Hervorbringung des Bonner Grundgesetzes durch einen von den Ländern beschickten Parlamentarischen Rat begründet – statt wie zuvor aus der unmittelbar gewählten Weimarer Nationalversammlung. Darüber hinaus war der westdeutsche Teilstaat eben kein Gesamtdeutschland, das gerade Schumacher nie aus den Augen verlieren wollte und was die SPD in Ländern und Städten auch deshalb Schwerpunkte ihres u.a. sozial- und bildungspolitischen Wirkens setzen ließ. Für den konstruktiven Beitrag zum Gelingen der Bonner Demokratie wurde ein gemeinsam zu entrichtender, nicht allein dem Polarisierungskurs Schumachers zuzuschreibender Preis fällig: Auf Bundesebene und somit außen- und 33 Insofern durchaus im Sinne des Buchtitels von Willy Brandt, Links und frei, Hamburg 1982, wo er auch seinen Abituraufsatz knapp zitiert (S. 32). 34 Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal), Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung, Regensburg 1947.

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wirtschaftspolitisch blieb die Führungsrolle der CDU/CSU unter Adenauer und Erhard angesichts dafür günstiger internationaler Rahmenbedingungen bis zur Krise von 1966 unangefochten. Genau dieses wurde zum Dilemma der Ära des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer, die im Beitrag von Siegfried Heimann betrachtet wird. Mit über elf Jahren Amtsdauer stand zwar Ollenhauer bis zu seinem Tod Ende 1963 nach frühen zwei Jahrzehnten mit August Bebel (und Paul Singer) und später Herbert Wehner 1969–1983 am längsten an der Fraktionsspitze. Die geradewegs erdrückende (teilweise Zweidrittel-)Mehrheit der Kabinette Adenauer ließ einerseits kaum ein wirkungsvolles Auftreten als erfolgversprechender Kanzleranwärter zu. Andererseits trafen die tastenden Bemühungen um Teilkooperation nun auf weniger Bedarf im Regierungslager als vor der Richtungswahl 1953. Den gleichwohl mitgestaltenden Schwerpunkt in den Ländern und Großstädten fortsetzend, vollzog sich zwischen der Wahlniederlage 1953 und den frühen 60er Jahren insbesondere ein Umbruch in der Parteiorganisation unter Aufwertung der Bundestagsfraktion. Das für sich genommen zuweilen überschätzte, primär als Symbol wichtige Godesberger Programm sollte in den Kontext einer Organisationsreform eingebettet gesehen werden, der zufolge öffentlich wahrnehmbare Führungsorgane gegenüber dem mehr hinter den Kulissen arbeitenden hauptamtlichen Funktionskörper eine Aufwertung erfuhren. Ohne dass sich Ollenhauer dem Wandel entgegenstellte, wurde mit seinem Namen weder das Godesberger Programm noch die – mit einer Bundestagsrede des stellvertretenden Parteivorsitzenden Wehner im Juni 1960 verbundene – Sondierung von außenpolitischen Gemeinsamkeiten zum Regierungslager wesentlich verbunden. Insoweit gewissermaßen bereichsweise eine Rücknahme des Vorsitzenden zu seinem eigenen Generalsekretär mit vorwiegend innerparteilichen Koordinationsaufgaben stattfand, war es nur konsequent, die Kanzlerkandidatur 1961 dem öffentlich sichtbareren Regierenden Bürgermeister von Berlin Willy Brandt zu überlassen. Dass er nach einem respektablen Wahlergebnis, immerhin den Abstand zur CDU/CSU von zuvor über 18 auf 9 % halbierend, nicht als Oppositionsführer nach Bonn wechselte, konnte u.a. als ein Hinweis darauf gelten, wie zumal angesichts der Sonderstellung Berlins die Bedeutung von Landesregierungen das parlamentarische System der Bundesrepublik mitprägte. Die Veränderungen auf der Führungsebene dürfen aber, das belegen die präsentierten Analysen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Mitglied- und vorwiegend auch der Wählerschaft die Traditions- und Kontinuitätselemente noch überwogen. Deutlich stärker in Bewegung geriet die bundesdeutsche Gesellschaft und insbesondere auch ihre politische Öffentlichkeit erst im nachfolgenden Jahr-

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zehnt zwischen Anfang 1963 und Ende 1972, das von Robert Philipps betrachtet wird. Insoweit diese Tendenzen bis zur (relativ milden) wirtschaftlichen Rezession 1966/67 eine innere Liberalisierung und Modernisierung einleiteten, förderten sie damit auch die Aufnahmebereitschaft für neue Konzepte der SPD. Diese erstrebten statt eines Gegenentwurfs nun die Fortentwicklung und Teilkorrektur der bestehenden Verhältnisse. Damit führte das Bemühen um die Wählbarkeit bei zusätzlichen Sozialgruppen und den Nachweis der Regierungsfähigkeit teilweise zur Abschleifung des oppositionellen Profils auch in dem begrenzteren Verständnis, wie es die regelmäßige Verfügbarkeit mehr als nur punktueller Alternativen im parlamentarischen System unterstellt. Zumal diese harmonisierenden Tendenzen Ende 1966 in eine Große Koalition einmündeten, trugen sie dazu bei, dass ein – sich tatsächlich schon 1967 ausgehend von der sog. Studentenrevolte manifestierendes – „1968“ zunächst in wachsenden Gegensatz zur SPD entfaltet wurde. Insoweit konnten darin außerparlamentarische, nicht selten gar antiparlamentarische Vorprägungen sichtbar werden. In größerer Breite als hinsichtlich eines Aktivistenkerns betrachtet, der eher in der Gründungsphase von Grünen und Alternativen Listen noch einen gewissen Einfluss ausübte, fiel die Bilanz letztlich aber wohl angesichts des Kurswechsels von 1969 positiver aus: Mit der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten und Willy Brandts zum Bundeskanzler mit dem Motto seiner Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ zeigten die parlamentarischen Körperschaften der Bundesversammlung und des Bundestags einen Widerhall von nun auch massenmedial vermittelter gesellschaftlicher Aufbruchstimmung. Diese erreichte im Bundestagswahlkampf 1972 einen wohl nur mit dem Neubeginn von 1918/19 vergleichbaren bzw. von diesem übertroffenen Höhepunkt. Anschließende teilweise Desillusionierung und parlamentarisch-demokratische Normalisierung sind ein Gegenstand des Textes von Bernd Faulenbach. Dort geht es zunächst um die Spätphase der Kanzlerschaft Willy Brandts und die komplette Regierungszeit Helmut Schmidts, die beide vom Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner begleitet wurden. Eine genauere Analyse der für die neuere Parlamentsgeschichte fast legendär gewordenen Ära Wehner führt zu erheblichem Differenzierungsbedarf. Zwar lag seine wirkungsvollste Zeit wohl unter der Kanzlerschaft Brandts, aber nach dem Wahlsieg von 1972 verschlechterte sich das Verhältnis beider in zunehmendem Maße bis zum kaum verhüllten persönlichen Bruch. Die Zusammenarbeit in der Ära Schmidt erschien stets reibungsloser, was jedoch von einem der Öffentlichkeit in den 70er Jahren noch weithin verborgenen gesundheitlichen Kräfteverschleiß Wehners begleitet wurde. So kam dann auch die weiterhin von Brandt geführte und seit 1972 besonders selbstbewusste Partei wieder

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mehr ins Zentrum der Willensbildung. Eine Kanzlerdemokratie wie noch unter Adenauer und tendenziell als Projektion Schmidts, der Anhänger des Mehrheitswahlrechts und jedenfalls des englischen Parlamentsmodells blieb, war aber mit den Koalitionszwängen (FDP) und institutionalisierten „Vetospielern“ (Bundesrat, Verfassungsgericht) nicht zu vereinbaren. Hinzu kamen – seit dem Mitgliederzustrom vor allem Jüngerer in die SPD während der 70er Jahre – gewachsene Partizipationsansprüche. Diese trafen jedoch auf ein Meinungsklima in der Bevölkerungsmehrheit, das nach der Wirtschaftskrise 1973/74 und den bis zum „deutschen Herbst“ 1977 eskalierenden Terroranschlägen mehr sicherheitsorientiert war. Dafür erschien gerade Schmidt mit seinem auf „Kontinuität und Konzentration“ (so in der Regierungserklärung 1974)35 zugeschnittenen Kabinett als die erfolgversprechende Alternative zu polemischen „Freiheit oder/statt Sozialismus“-Kampagnen von CDU/CSU in den Wahlkämpfen von 1976 und 1980. Der Preis für ein mehr auf parlamentarisch abgesichertes Bewahren und Fortbilden des Erreichten zugeschnittenes pragmatisches Agieren war freilich am Ende auch recht hoch: Erstarken der FDP 1980 mit deren Chance des Koalitionswechsels, gleichzeitig Aufstieg der „Grünen“ infolge der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung (auch gegen den von Schmidt angeregten NATO-Doppelbeschluss) – und parallel tendenzielle Demobilisierung nicht weniger enttäuschter SPD-Mitglieder. Angesichts des Regierungswechsels zum Kabinett Kohl/Genscher und dessen Wahlsieg im März 1983 fiel der SPD nach 13 Jahren sozial-liberaler Koalition wieder die Oppositionsrolle zu. Mit Schmidts Kanzlerschaft endete auch bald Wehners die Koalition nur wenige Monate überdauernder Fraktionsvorsitz. Die Nachfolge trat mit Hans-Jochen Vogel der Kanzlerkandidat des Winterwahlkampfs 1983 an, dessen bis in die frühen 90er Jahre hineinreichende Amtszeit hier noch knapp charakterisiert werden soll. In den innerparteilichen Richtungskonflikten der 70er Jahre hatte Vogel noch zum gemäßigten rechten Flügel gehört, der als Bundesminister – länger (bis 1981) unter Kanzler Schmidt als zuvor bei Brandt tätig – die Regierungsaufgaben ins Zentrum stellte. Aber bei den veränderten Herausforderungen der neuen sozialen Bewegungen und insbesondere auch in Friedensfragen war er nunmehr zum Exponenten einer behutsamen Öffnung geworden, insoweit den Kurs Brandts gegen die Bedenken Schmidts und Wehners stützend. Diese situations- und themenbezogene Akzentverschiebung einer im „Godesberger“ Überzeugungskern nicht veränderten Position schlug sich auch in entsprechender Öffnung der Fraktionsarbeit nieder. Während bei Wehner noch 35 So auch der Titel der Textsammlung von Helmut Schmidt, Kontinuität und Konzentration, 2. Aufl. Bonn-Bad Godesberg 1976.

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ein aus der traditionellen Arbeiterbewegung geprägtes Disziplinverständnis vorherrschte, richtete der – als Person sogar diszipliniertere – Vogel nun auch die Fraktionstätigkeit auf das Vorhandensein innerparteilicher Strömungen und Gruppierungen ein. Außerdem ließ er als Vertreter einer Zwischengeneration (von Brandt/Schmidt/Wehner zu den „Enkeln“) diversen neuen Gesichtern, erstmals in über Einzelfälle hinausreichendem Maße auch Frauen, in den Oppositionsjahren erweiterte Möglichkeit zur Profilierung im Bundestag. Dort konzentrierte sich immerhin neben den Spitzen von Partei und einigen Länderregierungen ein dritter Schwerpunkt von besonderer öffentlicher Resonanz. Wenn die gemessen an den Folgejahren immerhin noch beachtliche Amtsdauer Vogels als Fraktionschef sich nicht so tief ins öffentliche Bewusstsein einprägen konnte, so lag dies nicht zuletzt an der schon nach der Wahlniederlage im Frühjahr 1983 nicht geklärten Führungskonstellation der Bundes-SPD. Zwar endete die Ära Willy Brandts als Parteivorsitzender erst 1987. Doch weil er schon altersbedingt für ein späteres Comeback als Kanzlerkandidat nicht mehr in Frage kam und Vogel einen zweiten Versuch allenfalls unternommen haben könnte, wenn er dann schon Parteichef gewesen wäre, vermochte sich so etwas wie eine neue „Troika“ der drei Spitzenfunktionen nicht zu etablieren. Die Kanzlerkandidatur 1986/87 des populären, dort mit absoluter Mehrheit regierenden nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau wurde letztlich doch mehr zur Verlegensheitslösung; denn tatsächlich zog es ihn wohl eher – in der Nachfolge seines Vorbilds Gustav Heinemann – ins Bundespräsidentenamt (das Rau erst von 1999 bis 2004 bekleidete). Die beanspruchte „eigene Mehrheit“, um damals noch Debatten um eine rot-grüne Koalition geradezu zwanghaft zu vermeiden, was insbesondere wohl auf wirtschaftsnahe Rau-Berater wie seinen späteren Nachfolger Wolfgang Clement und den künftigen Kanzleramtsminister Bodo Hombach zurückging, war auf Bundesebene schlicht illusionär: Die bei der Bundestagswahl im Januar 1987 erzielten 37 % lagen noch unter dem Vogel-Ergebnis 38,2 % von 1983. Im frischen Eindruck des vom Kabinett Kohl-Genscher administrierten deutschen Vereinigungsprozess konnte auch ein damals als nicht nur talentierter Wahlkämpfer geltender, sondern für neue Anhänger teilweise öffnend wirkender Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine den Negativtrend nicht stoppen: 35,7 % im westdeutschen Bereich (und nicht mit 1987 vergleichbare 33,5 % einschließlich Ostdeutschlands) bedeuteten wiederum mehr als ein Prozent weitere Einbuße an Stimmanteilen. Ironischerweise stand das gleichzeitige Scheitern der West-„Grünen“ an der 5 %-Hürde – infolge noch stärker ausgeprägten „Fremdelns“ mit dem Vereinigungsprozess als beim saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine – nicht allein

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für das strategische Dilemma der parlamentarischen Opposition beider Parteien, sondern dann auch für einen Lösungsweg: Wohl erst solches Debakel in der Wählerschaft beräumte die Hindernisse für einen Funktionswandel der „Grünen“ vom dominanten Fundamentalismus in Richtung der „Realpolitik“ nach Wiedereinzug in den Bundestag von 1994 bis zum Regierungswechsel 1998. In gewisser Hinsicht, und zwar gerade auch in der wichtigen Friedensthematik, wiederholte sich mit den „Grünen“ in der Regierungsbeteiligung die Entwicklung der SPD in den 50er Jahren von der zugleich außerparlamentarischen Protestbewegung zur Integration in die nur noch teilweise kritisch betrachtete Kontinuität deutscher Außenpolitik – im Sinne von zunächst Adenauers West- und dann Brandts Ostpolitik. Nach dem Rückzug Vogels gleichermaßen aus der Fraktions- und Parteispitze 1991 ist primär die fehlende historische Distanz für ein abschließendes Urteil der Grund dafür, nicht auch noch weitere Abschnitte des Problemkreises von SPD und Parlamentarismus näher in den Blick zu nehmen. Kommissarische Lösungen für wenige Wochen jeweils nicht gerechnet, hat es seither sechs Fraktionsvorsitzende (Klose, Scharping, Struck/zweimal, Müntefering, Steinmeier, Oppermann) gegeben, so wie gar acht Parteivorsitzende amtierten (Engholm, Scharping, Lafontaine, Schröder, Müntefering/ zweimal, Platzeck, Beck, Gabriel). Nicht die Erweiterung der SPD um die ostdeutsche SDP, deren Vorsitzender Wolfgang Thierse immerhin Bundestagspräsident wurde (1998–2005), sondern die in den neuen Ländern an chronisch niedrigen Ziffern festzumachende Strukturdifferenz bedeutet wohl eine historische Zäsur – gegenüber dem seit einem Jahrhundert bestehenden Typus der SPD als die Mitgliederpartei. Das gilt dort freilich nicht für Konkurrenzparteien, die sich ziemlich ungeniert machtbewusst die Erbmasse der SED bzw. der Blockparteien aneigneten. Wenn sich der Mitgliederschwund in den alten Ländern weiter fortsetzen sollte, womit ohne Gegentrends allein schon durch allmähliches Wegsterben der beitrittsstärksten Jahrgänge der frühen 70er Jahre zu rechnen ist, würden die ostdeutschen Verhältnisse in solcher Tendenz sogar Mahnzeichen der Zukunft bedeutet haben. Die Besetzung der Bundestagsmandate und wohl auch jener auf Länderebene wird dadurch nicht zum Problem, aber bereits auf Kommunalebene ist das anders zu beurteilen. Wie parlamentarische Körperschaften ohne hinreichend breit und tief in der Gesellschaft verankerte Mitgliederparteien noch ähnlich wie im 20. Jahrhundert (soweit Demokratien bestanden) eine wesentliche Bedeutung in Diskussions- und Entscheidungsprozessen behaupten könnten, ist eine noch ungelöste Problemstellung. Vielleicht werden gerade diejenigen, die kritische Anfragen gegenüber demokratischer Qualität des parlamentarischen Systems formuliert haben, im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts

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geradewegs nostalgisch zurückblicken: auf jene Entwicklungsphasen auch der Sozialstaats- und Bildungsexpansion, in denen wenigstens die Repräsentativverfassung noch öffentlich mobilisierende Alternativen hervorbrachte, zu denen in den 70er Jahren über 90 % der Wahlbevölkerung sich zur Stimmabgabe zum Bundestag motiviert sahen.

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Das Verhältnis der Sozialdemokratie zum parlamentarischen System 1871–1890 Die SPD zählt zu den Vorkämpfern des parlamentarischen Systems. Sie war die Staatsgründungspartei der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, und versuchte das parlamentarische Regierungssystem nach Kräften gegen Angriffe von rechts und links zu verteidigen. 1933 stellte sie sich als einzige Partei Hitlers Ermächtigungsgesetz entgegen. Nach 1945 avancierte sie zu einer Stütze der parlamentarischen Demokratie und vermochte politische Kompetenz auf der Ebene der Länder, der Gemeinden und seit 1966 auch im Bund zu demonstrieren und aktiv die politischen Verhältnisse des Landes mitzugestalten. Dennoch sollten diese Sätze nicht den Blick auf das – zumal anfangs – ambivalente und gebrochene Verhältnis der Partei zum parlamentarischen System verstellen.1 Die Zwiespältigkeit in den Grundfragen parlamentarischer Demokratie kennzeichnete sozialdemokratische Politik letztlich bis ins frühe 20. Jahrhundert und kam in der Bundesrepublik im Zuge der Studentenrevolte der späten sechziger Jahre und der Bürgerbewegungen der 1980er Jahre wiederholt zum Tragen. Antiparlamentarisches Denken war letztlich kein alleiniges Problem der politischen „Rechten“. Auch der „Linken“ war die Infragestellung des parlamentarischen Systems nicht fremd. 1 Vgl. Elfi Pracht, Parlamentarismus und deutsche Sozialdemokratie 1867–1914, Pfaffenweiler 1990. Zum Problem des Antiparlamentarismus vgl. Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 584–592; Wolfgang Durner, Antiparlamentarismus in Deutschland, Würzburg 1997; Hartmut Wasser, Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Analyse und Dokumentation, Stuttgart 1974; Vernon L. Lidtke, The outlawed Party. Social Democracy in Germany 1878–1890, Princeton/New Jersey 1966, bes. S. 32–38; Gustav Seeber, Die deutsche Sozialdemokratie und die Entwicklung ihrer revolutionären Parlamentstaktik von 1867 bis 1893, Berlin (Ost) 1966. Vgl. auch Eduard Bernstein, Parlamentarismus und Sozialdemokratie, Berlin 1906, S. 44–47. Ferner Gerhard A. Ritter, Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts- und Linksradikalen, in: Kurt Sontheimer u.a. (Hg.), Der Überdruß an der Demokratie. Neue Linke und alte Rechte – Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Köln 1970, S. 43–91. Vgl. auch Gerhard A. Ritter, Entwicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus, in: Ders. (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 11–54.

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Im folgenden Beitrag sollen zunächst die Ursprünge und verschiedenen Stationen des antiparlamentarischen Denkens in ihrem jeweiligen historischen Kontext sowie die prägenden Einflüsse historischer Erfahrungen auf das Parlamentsverständnis vor 1890 analysiert werden. Nach einigen Bemerkungen zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der sozialistischen Parlamentskritik soll die Situation, mit der die beiden Arbeiterparteien nach 1871 bzw. die Sozialistische Arbeiterpartei nach 1875 im Reichstag konfrontiert wurden, skizziert werden, um anschließend Argumentationslinien sozialistischer Parlamentskritik aufzuzeigen. Daran anschließend soll das allmähliche Hineinwachsen der Partei in das parlamentarische System thematisiert und dabei die besondere Situation unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890 scharf konturiert werden.

1. Ideengeschichtliche Wurzeln des sozialistischen Antiparlamentarismus Die im späten 19. Jahrhundert in der Sozialdemokratie virulenten antiparlamentarischen Affekte weisen auf politische Ideen des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Wirkungsmächtig war vor allem der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der, obschon Theoretiker der Volkssouveränität, durch die von ihm propagierte direkte Demokratie und die Ablehnung des Repräsentationsgedankens auch als geistiger Vater des antiparlamentarischen Denkens angesehen wird. Für Rousseau lag die Souveränität stets beim Staatsvolk und konnte nicht übertragen werden. Ziel war die Identität von Regierenden und Regierten, die wiederum eine in ihrer Interessenlage homogene Gesellschaft voraussetzte. Divergenten Interessen wurde mithin jegliche Berechtigung abgesprochen und die kollektive Vertretung von Sonder- und Gruppeninteressen verworfen. Parteien, die partikulare Gruppeninteressen wahrnahmen, hatten in der idealen, klassenlosen Gesellschaft keinen Platz. Der Gemeinwillen (volonté générale) sollte in großen Volksversammlungen durch Mehrheitsbeschluss festgestellt werden. Auf dieser obersten politischen Ebene sollte es keine Gewaltenteilung geben. Entschieden wurde das repräsentative Prinzip abgelehnt, da die Übertragung von Macht zur Verfälschung des Volkswillens führen würde. In dem von Rousseau propagierten Staat gab es mithin keine Repräsentation, die ausführenden Organe waren an die Volksbeschlüsse gebunden und jederzeit abrufbar. „Die Souveränität“, so schrieb Rousseau in seinem 1762 erschienenen Du Contrat Social,

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„kann aus dem gleichen Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille kann nicht vertreten werden: er ist derselbe oder ein anderer; ein Mittelding gibt es nicht. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter, noch können sie es sein, sie sind nur seine Beauftragten; sie können nicht endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. Bei dem Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, geschieht es ihm recht, dass es sie verliert.“2

Das Modell der direkten Demokratie und seine radikale Kritik am Repräsentationsprinzip fand im frühen 19. Jahrhundert Eingang in die politische Ideenwelt des Sozialismus. Die Resonanz der Ideen und Theoreme Rousseaus erklärt sich mit dem Charakter, den Funktionen und der Stellung der Repräsentativkörperschaften im damaligen Verfassungssystem. Die Parlamente des Vormärz, die in den süddeutschen Staaten entstanden waren, wiesen in vielem noch altständische Traditionsüberhänge auf. So wurde ein großer Teil der Abgeordneten von privilegierten Gruppen, Korporationen, Erbständen, Kirchen, Universitäten, bestellt, während der Rest von den wahlberechtigten Staatsbürgern gewählt wurde. Ein allgemeines, gleiches Wahlrecht existierte nicht, vielmehr war das Stimmrecht von einem an Grundbesitz oder ein Mindesteinkommen gebundenen Zensus abhängig. Darüber hinaus waren die Rechte der vormärzlichen Landtage äußerst begrenzt und beschränkten sich meist auf Mitspracherechte bei der Haushaltsaufstellung oder der Gesetzgebung, wenn sie nicht ohnehin nur beratende Funktionen innehatten.3 Die „linke“ Parlamentarismuskritik bezog im Vormärz wichtige Impulse aus den Schriften des Juristen und Hegelianers Lorenz von Stein, der mit 2 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarb. mit Eva Pietzcker übersetzt und hrsg. von Hans Brockard, Stuttgart 2011, S. 106 (Drittes Buch, 15. Kapitel). Zur Bedeutung Rousseaus vgl. auch Ritter, Antiparlamentarismus (wie Anm. 1), S. 69–72. 3 Vgl. Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1979, passim; Ludwig Bergsträsser, Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus, 5. Aufl. Königstein 1980, S. 138–160, hier S. 139–141; Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 50–66; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1957, S. 290–386 u. 640–657.

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seiner Schrift „Socialismus und Communismus im heutigen Frankreich“ von 1842 die deutsche Öffentlichkeit mit dem frühsozialistischen Denken Frankreichs vertraut machte. In diesem Buch, das 1850 in erweiterter Form als „Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich“ erschien, wurde deutliche Kritik am französischen Parlament als Herrschaftsinstrument der bürgerlichen Klasse geübt, die sich mit Hilfe des Wahlzensus eine privilegierte Stellung im Parlament gesichert und den Staatsapparat unterworfen habe.4 Zu den vormärzlichen Kritikern des Repräsentationsprinzips zählte auch Julius Fröbel, der weniger durch seine Tätigkeit als demokratischer Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung als durch seine Schriften, insbesondere durch seine 1846 unter dem Pseudonym C. Junius veröffentlichte zweibändige „Neue Politik“5 bekannt wurde. Der Parlamentarismus, so der Grundtenor der Schrift, begünstige die Bildung einer oligarchischen Herrschaft, einer „Wahlaristokratie“, die mit dem Volk und seinen Wünschen nur wenig gemein hätte. Die Abgeordneten gerierten sich als Vormünder der Wähler, die den eigentlichen Volkswillen missachten würden. Parlamentarische Repräsentation führe zu einer Mediatisierung und damit zu einer Verfälschung des Volkswillens und bedeute letztlich einen Angriff auf das demokratische Prinzip.6 Einen wichtigen Beitrag zur „linken“ Parlamentarismuskritik leisteten Karl Marx und Friedrich Engels.7 Ungeachtet ihrer Kritik an den damali4 Vgl. Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, 2 Bde., Leipzig 1842; ders., Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde., Leipzig 1850. Vgl. Stefan Koslowski, Lorenz von Stein und der Sozialstaat, Baden-Baden 2014. Vgl. auch Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848/49, Düsseldorf 1977, S. 78 f.; Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 68–72. 5 Sie wurde 1847 unter dem Titel „System der socialen Politik“ neu aufgelegt. 6 Vgl. Philipp Erbentraut, Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels, in: Mitteilungen des Instituts für Parteienrecht und Parteienforschung 15 (2008/09), S. 5–15; Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit (wie Anm. 4), S. 76; Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied 1968, S. 275–279; Rainer Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel 1805–1893. Liberales Denken zwischen Naturrecht und Sozialdarwinismus, Wiesbaden 1978. 7 Vgl. Welskopp, Banner (wie Anm. 1), S. 677–687; Durner, Antiparlamentarismus (wie Anm. 1), S. 47–55; Wasser, Parlamentarismuskritik (wie Anm. 1), S. 24 f.; Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit (wie Anm. 4), S. 75 f. Vgl. auch Jonathan Sperber, Karl Marx. A nineteenth-century life, New York 2013.

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gen Vertretungskörperschaften war ihre Haltung gegenüber dem parlamentarischen System ambivalent. Wiederholt wurde in der Forschung darauf hingewiesen, dass Marx und Engels keineswegs das parlamentarische System an sich ablehnten, ihre Kritik vielmehr situativ war und kontextualisiert werden muss. Ihr an Rousseau anknüpfendes Verständnis der damaligen Parlamente als Herrschaftsformen der Bourgeoisie fand sich bereits in den 1842 in der „Rheinischen Zeitung“ veröffentlichten Berichten über den rheinischen Landtag; diese Sichtweise wurde nach der Wendung zum Kommunismus im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 mit der Interpretation der Geschichte als Prozess von Klassenkämpfen und des Staates als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse schärfer artikuliert. Anknüpfend an die Überzeugung von der Unausweichlichkeit des gewaltsamen Umsturzes aller gesellschaftlichen Ordnung wurde die utopische Endvision einer klassenlosen Gesellschaft skizziert, in der mit der Auflösung des Staates auch das Parlament seine Berechtigung verlieren würde. Um ihrem Ziel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft näher zu kommen, räumten sie der Volksvertretung eine Rolle als Bühne und Forum des Klassenkampfes und als Mittel auf dem Weg zur sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft ein. Dennoch blieb der Parlamentarismus für sie ein Werkzeug der Bourgeoisie. Die scheinbar handlungsunfähigen Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche wurden als „Hunde von Parlamentskretins“8 tituliert und die französische Nationalversammlung von 1848/1851 als „Bourgeoisparlament“9 bezeichnet. In der Pariser Commune von 1871 glaubte Marx die Herrschaft der Proletarier verwirklicht zu sehen. In seiner Schrift über den „Bürgerkrieg in Frankreich“ sah er deshalb in der Räterepublik ein realistisches antiparlamentarisches Gegenmodell. Dem Geist der Commune sei letztlich nichts fremder gewesen, „als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische Investitur zu ersetzen“.10 Wenn Marx auch von dem von ihm als verallgemeinerungsfähig betrachteten 8 Marx an Engels, 27. Dezember 1863, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 39 Bde., 4. Aufl. Berlin (Ost) 1982, hier Bd. 30, S. 382 f., hier S. 382. 9 Karl Marx, Der 18te Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 111–207, hier S. 154. 10 Ders., Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Assoziation an alle Mitglieder in Europa und den Vereinigten Staaten (1871), in: Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA), 1. Abt., Bd. 22, Berlin (Ost) 1978, S. 181–226, hier S. 203. Vgl. auch Volker Arnold, Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, 2. Aufl. Hamburg 1985, S. 81–86; Wolfgang Mantl, Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt, Wien 1975, S. 116–120; Durner, Antiparlamentarismus (wie Anm. 1), S. 13.

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Rätesystem in der Folgezeit abrücken sollte und ihm keine Vorbildfunktion mehr beimessen wollte, änderte sich seine Haltung gegenüber dem parlamentarischen System wenig. Auch der 1867 einberufene Norddeutsche Reichstag war für ihn ein Herrschaftsinstrument der besitzenden Klassen, ein Scheinparlament, das man nur zu agitatorischen Zwecken benutzen dürfe.11 Unter dem Eindruck der sozialdemokratischen Wahlerfolge sollte indes Friedrich Engels später seine Haltung gegenüber dem parlamentarischen System revidieren und den Wert parlamentarischer Reformarbeit erkennen.12 Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte der frühen Sozialdemokratie spielte auch Moritz von Rittinghausen, der die Forderung nach direkter Gesetzgebung durch das Volk bereits als junger Publizist in der von ihm zusammen mit Marx und Engels gegründeten „Neuen Rheinischen Zeitung“, als Abgeordneter des Frankfurter Vorparlaments und seit 1849 in der von ihm gegründeten „Westdeutschen Zeitung“ beredt vertrat. Seit der sog. Neuen Ära Ende der 1850er Jahre begann Rittinghausen sich wieder in der Arbeiterbewegung zu engagieren. Er gehörte 1869 zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), nahm 1869 und 1872 als deutscher Delegierter an den Kongressen der Internationalen Arbeiterassociation teil und wurde 1877 und 1881 in den Reichstag gewählt. Als eigenwilliger Kopf geriet er jedoch in zunehmendem Maße in Konflikt mit der Parteiführung und wurde 1883 aus der Fraktion ausgeschlossen. Gleichwohl erlangte Rittinghausen mit seiner Schrift „Die direkte Gesetzgebung durch das Volk“ von 1868 auf die Programmatik der Partei nachhaltigen Einfluss, da seine Forderung im Eisenacher Programm der SDAP von 1869, im Gothaer Programm von 1875 und im Erfurter Programm von 1891 ihren Niederschlag fand.13 Auch nach der Jahrhundertwende blieb Rittinghausen ein einflussreicher Stichwortgeber.14 11 Karl Marx an Friedrich Engels, 10. August 1869, in: MEW, Bd. 32, S. 359–361, hier S. 360: „Weil man den Reichstag nur als Agitationsmittel benutzen darf, darf man niemals dort für etwas Vernünftiges und direkt die Arbeiterinteressen Betreffendes agitieren!“ 12 Vgl. auch Christine Stangl, Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. Herrschaftsverständnis und Herrscherbild der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875, Berlin 2002, S. 139–157; Durner, Antiparlamentarismus (wie Anm. 1), S. 54 f. 13 Vgl. Wilhelm Mommsen (Hg.), Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 311 f., hier S. 312; S. 313 f., hier S. 314; S. 349–353, hier S. 351. 14 Vgl. Moritz von Rittinghausen, Die direkte Gesetzgebung durch das Volk (1868–1872), 5. Aufl. Zürich 1893. Vgl. auch Thomas Mergel, Moritz Rittinghausen (1814–1890). Bürger, Kölner Patriot und Theoretiker der direkten Demokratie, in: Werner Eck (Hg.), Für Köln. Leben für die Stadt. FS für Hanns Schaefer, Köln 2014, S. 139–153; Philipp Erbentraut, Moritz Rittinghausen – ein deutscher Rousseau?, in: Luise Güth u.a.

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2. Von der Reichsgründung zur Vereinigung der beiden Arbeiterparteien: Grundsätzliches und Programmatisches Als 1871 nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich das Deutsche Reich aus der Taufe gehoben wurde, stand die sozialdemokratische Arbeiterbewegung noch in den Anfängen.15 Bei den Reichstagswahlen vom 3. März entfielen auf die beiden Arbeiterparteien, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) und den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), gerade einmal 124.000 oder 3,2 % der abgegebenen gültigen Stimmen. Während der 1863 von Ferdinand Lassalle gegründete ADAV kein Mandat erobern konnte, gewann die 1869 aus dem radikalen Flügel der linksliberalen Arbeitervereinsbewegung in Eisenach entstandene Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) unter Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht zwei von insgesamt 382 Sitzen.16 Mit dem 31-jährigen gelernten Drechsler August Bebel und dem 37-jährigen Rechtsanwalt Reinhold Schraps zogen zwei Sozialdemokraten ins Parlament, die bereits 1867 in den Konstituierenden Norddeutschen Reichstag gewählt worden waren.17 Die Sozialdemokraten waren im Reichstag randständig und stellten eine zahlenmäßig zu vernachlässigende Größe dar. Mehr noch: Durch die Verweigerung neuer Kriegskredite für die Fortsetzung des Eroberungskrieges gegen Frankreich, durch die Ablehnung der Annexion Elsass-Lothringens und durch die Solidarisierung mit der Pariser Commune hatten sie sich außerhalb des (Hg.),Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Postmoderne. FS für Thomas Stamm-Kühlmann, Stuttgart 2013, S. 119–138. 15 Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung von 1863 bis 1890 vgl. Peter Brandt/Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013, S. 42–70; Bernd Faulenbach, Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012, S. 12–27; Welskopp, Banner (wie Anm. 1); Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848–1863–2013, Bonn 2012, S. 8–109; Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009, S. 215–231. Ferner Heinrich Potthoff/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848–2002, 8. Aufl. Bonn 2002, S. 31–53; Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 22–30; Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992. 16 Vgl. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 38. 17 Vgl. dazu auch Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985, S. 151–154; August Bebel, Aus meinem Leben, Berlin 1986, S. 278–287 u. 333.

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nationalen Konsenses gestellt und waren im Parlament vollkommen isoliert.18 Der Kampf in Paris, so hatte Bebel am 25. Mai 1871 dem Reichstagsplenum entgegengeschleudert, sei nur ein „kleines Vorpostengefecht“ gewesen, und „ehe wenige Jahrzehnte vergehen“, werde „der Schlachtruf des Pariser Proletariats: ‚Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Noth und dem Müßiggange!’ der Schlachtruf des gesammten europäischen Proletariats“ sein.19 Zur Isolierung der Partei trugen auch ihre Frontstellung gegenüber dem Bismarckschen Obrigkeitsstaat und die Ablehnung der herrschenden Wirtschaftsordnung bei.20 Da die Partei den Obrigkeitsstaat und seine Institutionen ablehnte, mag es nicht verwundern, dass sie auch dem Reichstag distanziert gegenüberstand. Aufgrund seiner elitären sozialen Zusammensetzung galt er nicht als volksnah. Er figurierte als ein von Adel und Bürgertum dominiertes Instrument der Klassenherrschaft. Anstoß wurde auch an der parlamentarischen Funktionsweise genommen, bei der Entscheidungen und Beschlüsse in Hinterzimmern getroffen würden. Diese mangelnde Offenheit und Transparenz machte die Verhandlungen des Reichstages in den Augen der Eisenacher zu einer Komödie und degradierte das Gremium zu einer Akklamationsmaschine.21 Im Gegensatz zur SDAP stand der ADAV dem Staat unbefangener gegenüber. Er war dem Staatsverständnis Lassalles verpflichtet, der im Sinne Hegels von der bedeutenden Rolle des Staates für die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts und für die Emanzipation des Arbeiterstandes überzeugt war und die liberale Idee eines lediglich die Freiheit und das Eigentum des einzelnen schützenden Nachtwächterstaats scharf ablehnte.22 Lassalles Staatsbild reflektierten seine Gespräche mit Bismarck sowie Forderungen 18 Vgl. Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 317–327; ferner Einleitung Liebknechts, in: Der Hochverrats-Prozeß wider Liebknecht, Bebel, Hepner vor dem Schwurgericht zu Leipzig vom 11. bis 26. März 1872. Nach der 2. Aufl. unveränd. Neudr. Berlin 1911, S. 14. 19 Das Protokoll verzeichnete „Heiterkeit“. Vgl. SBR 1871, I. Lp., I. Session, Bd. 2, 43. Sitzung, S. 921, die Rede Bebels insgesamt S. 920 f. 20 Vgl. das Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1869, in: Mommsen, Parteiprogramme (wie Anm. 13), S. 311 f., hier S. 311. – Die Forderung der 1866 von Bebel und Liebknecht gegründeten „Sächsischen Volkspartei“ nach einem „mit größter Machtvollkommenheit ausgestattete[n] Parlament“ wurde weder im Eisenacher Programm von 1869 noch im Gothaer Programm von 1875 wiederholt. Vgl. ebd., S. 307. 21 Vgl. Welskopp, Banner (wie Anm. 1), S. 584–592; Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 108–164. 22 Vgl. dazu Peter Brandt/Detlef Lehnert (Hg.), Ferdinand Lassalle und das Staatsverständnis der Sozialdemokratie, Baden-Baden 2014; Stangl, Sozialismus (wie Anm. 12), S. 169–193.

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nach einem sozialen Königtum und nach staatlicher Kredithilfe für die zu gründenden Produktivgenossenschaften. Um den Staat dazu zu veranlassen, zugunsten der Arbeiter zu intervenieren, sollte die politische Vertretung der Arbeiter durch die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts und Diätenzahlung gefördert und ggf. auch eine punktuelle Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien angestrebt werden. Bismarcks Vorschlag, ein Parlament auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen Wahlrechts einzuberufen, traf deshalb auf Zustimmung des ADAV.23 Nicht die Institution des Parlaments als solche, sondern die ungleichen Rekrutierungssysteme, insbesondere das preußische Dreiklassenwahlrecht, standen im Fokus ihrer Parlamentskritik.24 Dennoch änderte sich die Haltung des ADAV gegenüber dem Staat in dem Maße, in dem die Partei Opfer der Unterdrückungsmaßnahmen der Bismarckschen Regierung wurde. Die Hoffnungen, die man in den Staat gesetzt hatte, stießen sich bald an den Realitäten und den harten Ecken und Kanten des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates.25 Die Verfolgung der Sozialdemokraten setzte früh ein. Bereits 1872 wurden Bebel und Liebknecht zu einer zweijährigen Festungshaft wegen beabsichtigten Umsturzes der Staats- und Gesellschaftsordnung verurteilt. Im selben Jahr wurde die Eisenacher Partei in Leipzig und 1874 auch in München polizeilich verboten. Die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen konnten jedoch nicht verhindern, dass sich beide Arbeiterparteien, SDAP und ADAV, bei den Reichstagswahlen von 1874 auf insgesamt 6,8 % der abgegebenen Stimmen steigern konnten und im Reichstag seitdem mit neun Abgeordneten, sechs der SDAP und drei des ADAV, vertreten waren.26 Die gemeinsame Arbeit im Reichstag und die für beide Parteien gleich frustrierende Erfahrung der straf23 Vgl. Stangl, Sozialismus (wie Anm. 12), S. 169–193; Toni Offermann, Die erste deutsche Arbeiterpartei. Materialien zur Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863–1871, Bonn 2002, bes. S. 131–155; Arno Herzig, Der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein in der deutschen Sozialdemokratie. Dargestellt an der Biographie des Funktionärs Carl Wilhelm Tölcke (1817–1893), Berlin 1979, bes. S. 229–258; Gerhard A. Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin 1980, S. 70. 24 Vgl. Ferdinand Lassalle, Offenes Antwortschreiben vom 1. März 1863, in: Mommsen, Parteiprogramme (wie Anm. 13), S. 294–307, hier S. 305; zu den Grundzügen der Bestrebungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines, 1867, in: ebd., S. 308–310, hier S. 309; ferner Durner, Antiparlamentarismus (wie Anm. 1), S. 71 f.; Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt a.M. 1983, S. 191. 25 Vgl. Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 108–127. 26 Vgl. Brandt/Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“ (wie Anm. 15), S. 56–58; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart 1969, S. 100– 102; Ritter/Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (wie Anm. 16), S. 38.

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rechtlichen Verfolgung und Repression wie auch die sich lediglich auf organisatorische Fragen reduzierenden Differenzen legten eine Vereinigung der beiden Arbeiterparteien nahe. Die „Verfolgung der Social-Demokratie“, so wurde in einer von Vertretern beider Arbeiterparteien besuchten Versammlung in Berlin im Dezember 1874 hervorgehoben, verlange „eine starke Einheit“. „Das Prinzip aller Socialisten sei dasselbe, nur in den persönlichen Ansichten der einzelnen Führer liegen die Differenzen; an den Führern sei es nun, ihre Sonderstellung aufzugeben und die Hand zur Vereinigung zu bieten.“27 Auf dem Einigungskongress in Gotha vom 22. bis 27. Mai 1875 wurde der Zusammenschluss zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) vollzogen. In ihrem Programm reklamierte die Partei den „freien Staat und die sozialistische Gesellschaft“ und setzte sich für „die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“ zum Ziel. Das Postulat eines demokratischen Staates fand seinen Niederschlag in der Forderung nach Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts in Staat und Gemeinde. Zugleich wurde die Abschaffung aller Ausnahmegesetze und die Durchsetzung der Meinungs-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit gefordert. Das Misstrauen gegenüber dem repräsentativen Prinzip kam in der Forderung nach direkter Gesetzgebung durch das Volk zum Ausdruck. In diesem Programm wurde die Zukunftsvision eines auf dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht basierenden, freiheitlich ausgestalteten, demokratischen Staates gezeichnet, in dem das Volk selbst direkt über Gesetze zu befinden hatte.28 Die Programmforderung nach direkter Gesetzgebung, die die Reserven gegenüber dem auf dem Prinzip der Repräsentation gründenden parlamentarischen System reflektierte, verdeutlichte, dass auch nach 1875 antiparlamentarische Tendenzen eine bedeutende Rolle in der Partei spielten. Hinsichtlich der Haltung zum parlamentarischen System folgte die neue Partei den von der SDAP bereits beschlossenen Richtlinien. So hatten sich 27 Vgl. den Polizeibericht über eine Berliner Versammlung vom 16. Dezember 1874, in: Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12980. – Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien hob auch der Berliner Staatsanwalt Tessendorf in seinem Schreiben vom 4. Oktober 1875 an den Kgl. Oberstaatsanwalt hervor (ebd.): „Beide Parteien hatten im Wesentlichen dieselben Principien, denn das ihnen gemeinsame Programm: auf dem politischen Gebiete – die rothe Republik, auf dem socialen Gebiete – der Communismus, auf dem religiösen Gebiete – der Atheismus, – welches Programm an Deutlichkeit und Präcision nichts zu wünschen übrig läßt, bot für sachliche Differenzen kaum Raum. Die Differenzen lagen denn auch … lediglich auf dem persönlichen Gebiet.“ 28 Das Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1875, in: Mommsen, Parteiprogramme (wie Anm. 13), S. 313 f.

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die Eisenacher 1870 zwar für eine Beteiligung an den Wahlen ausgesprochen, jedoch gleichzeitig ihren rein agitatorischen Charakter betont. Im Parlament sollten die Abgeordneten versuchen, soweit wie möglich „im Interesse der arbeitenden Klasse zu wirken, im großen und ganzen aber sich negierend zu verhalten und jede Gelegenheit zu benützen, die Verhandlungen beider Körperschaften in ihrer ganzen Nichtigkeit zu zeigen und das Komödienspiel zu entlarven“.29 Die Betonung des rein agitatorischen Wertes parlamentarischer Reden verwies auf die Bedeutung der außerparlamentarischen Resonanz und aufklärerischen Wirkung, die von Sozialdemokraten wiederholt hervorgehoben wurde. „Die Wirksamkeit der Socialisten im jetzigen Reichstage“, so führte Bebel auf dem Gothaer Parteitag 1876 aus, „werde nie nach Innen, stets nur nach Außen, im Volke, Erfolge erzielen“. Gleichwohl blieb diese Strategie nicht unwidersprochen. So kritisierte der Lassalleaner Dreesbach auf dem Parteitag die Stimmenthaltung der sozialistischen Abgeordneten im Reichstag anlässlich der Abstimmung über einen Diätenantrag und legte Bebel und Liebknecht mit Verweis auf Johann Jacoby, der 1874 für die Eisenacher ein Reichstagsmandat gewonnen, es jedoch ablehnt hatte, als Abgeordneter ins Parlament zu ziehen, „weil er mit der ganzen Komödie nichts zu thun haben wollte“, den Mandatsverzicht nahe. Liebknecht wies daraufhin den Einwand, „wir arbeiteten überhaupt im Reichstage für den Papierkorb“, als falsch zurück. „In unserer prinzipiellen Thätigkeit im Reichstage arbeiten wir für die Aufklärung des Volkes … Wenn die Social-Demokratie sich an dem Komödienspiel betheiligt, wird sie eine offiziöse socialistische Partei. Redner betheilige sich nicht an Komödien, und werde dies nie thun.“30 Dieser fundamentaloppositionelle Standpunkt bestimmte in den folgenden Jahren die Politik der Partei und wurde auch durch die verschiedenen Parteitagsresolutionen wiederholt bekräftigt.31 Maßstab für die sozialdemokratische Taktik gegenüber dem parlamentarischen System war letztlich ihre mobilisierende Wirkung auf die Arbeiterschaft und die Öffentlichkeit. „Die Betonung der Agitationsfunktion stand am Beginn der parlamentarischen Arbeit der Sozialdemokratie, markierte das Arrangement mit dem Parlamentarismus“.32

29 Vgl. Wilhelm Schröder (Bearb.), Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863 bis 1909, München 1910, S. 387. 30 Protokoll des Socialisten-Congresses zu Gotha vom 19. bis 23. August 1876, Berlin 1876, S. 27 u. 30 f.; vgl. auch Lidtke, The outlawed Party (wie Anm. 1), S. 56 f. 31 Vgl. Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage (wie Anm. 29), S. 387– 389 u. 486 f. 32 Pracht, Parlamentarismus und deutsche Sozialdemokratie (wie Anm. 1), S. 184.

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3. Eine unwillkommene Minderheit im Reichstag Im Reichstag wurden die sozialdemokratischen Abgeordneten als Fremdkörper, als ungebetene Gäste wahrgenommen. Eine Mischung aus Geringschätzung, Verachtung und offener Feindseligkeit schlug den Sozialdemokraten entgegen. Nach Kräften versuchte man sie zu benachteiligen und ihnen die Grenzen ihrer parlamentarischen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wie prekär die Stellung der Reichstagsabgeordneten war, zeigte sich bereits am Beispiel der Immunität der Abgeordneten. Zwar garantierte Artikel 31 der Reichsverfassung die Unverletzlichkeit der Abgeordneten, doch bezog sich der Schutz vor Strafverfolgung nur auf die Zeit der Sitzungsperioden und galt überdies nicht für verurteilte und in Strafhaft sitzende Abgeordnete.33 Sozialdemokraten wurden bereits vor Verabschiedung des Sozialistengesetzes systematisch geächtet und strafrechtlich verfolgt. So wurden in den 1870er und 1880er Jahren mehr als vierzig Strafverfahren gegen sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete eingeleitet, von denen mindestens 15 (37 Prozent) auch eine Haftstrafe absitzen mussten.34 Es wurde zur Regel, dass Sozialdemokraten zu Beginn jeder Session Reklamationsanträge auf Freilassung ihrer von den Polizei- oder Justizbehörden in Beschlag genommenen Kollegen stellten.35 Die Tatsache, dass die sozialdemokratischen Führer Bebel und 33 Artikel 31 der Reichsverfassung von 1871 lautete: „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird. Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich. Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuchungs- oder Civilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.“ Vgl. Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1964, S. 295, insges. zur Verfassung S. 289–305. 34 Vgl. Biefang, Die andere Seite der Macht (wie Anm. 15), S. 220 f. 35 Vgl. die Rede des Abg. Most bei der Beratung des von ihm eingebrachten Antrags, betreffend die Aufhebung der gegen den Abgeordneten Liebknecht schwebenden Strafverfahren für die Dauer der Session (Nr. 16 der Anlagen) am 3. November 1876; SBR 1876, II. Lp., IV. Sess., 1876, 4. Sitzung, Bd. 1, S. 16 f.: Bei „jeder bisherigen Session hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Gelegenheit nehmen müssen, Anträge zu stellen, die entweder darauf hinausliefen, daß eingekerkerte Mitglieder des Hauses aus ihrer Haft für die Dauer der betreffenden Session entlassen werden mögen, oder aber Anträge, die dahin zielten, daß irgend welche gegen sozialistische Abgeordnete schwebenden Prozesse eingestellt werden möchten. Es bringt dies der gegenwärtig tobende ‚geniale’ Kampf mit sich, der unter dem Motto: ‚Die Flinte schießt, der Säbel haut’, gegen die Sozialdemokratie geführt wird.“ Ebd., S. 16.

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Liebknecht nach dem Leipziger Hochverratsprozess von 1872 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden und nicht freizubekommen waren, trug in den Augen der Sozialdemokraten nicht unwesentlich zur Delegitimierung des parlamentarischen Systems bei.36 Die konservativ-liberale Mehrheit des Norddeutschen und später Deutschen Reichstages versuchte die Neulinge zu ignorieren, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, teilweise begegnete man ihnen in einer Mischung aus ostentativer Respektlosigkeit und Herablassung.37 Dies, obwohl sie sich den parlamentarischen Umgangsformen anzupassen vermochten und einen schwarzen Herrenanzug trugen.38 Im Mai 1872 lehnte es der linksliberale Abgeordnete Eugen Richter ab, auf die Rede seines Vorredners Bebel einzugehen, weil er nicht den Fehler begehen wolle, der Person Bebels und seinen Doktrinen eine Bedeutung beizulegen, die sie nicht verdient hätten.39 Die unter Parlamentariern übliche Anrede „Kollege“ wurde Sozialdemokraten verweigert.40 Vor dem Hintergrund der aufgeheizten nationalistischen Stimmung während der Einigungskriege stellte die Anwesenheit der sozialdemokratischen Abgeordneten für viele eine unerträgliche Provokation dar. Die Verweigerung neuer Kriegskredite für die Fortsetzung eines Eroberungskrieges gegen Frankreich, die Ablehnung der Annexion Elsass-Lothringens und die Solidarisierung mit der Pariser Commune führte zur vollkommenen Isolierung der sozialdemokratischen Abgeordneten.41 Sie wurden als Reichsfeinde geächtet und diskriminiert. Tumultartige Szenen waren im Parlament in den ersten Jahren nicht außergewöhnlich. Reden sozialdemokratischer Parlamentarier wurden durch Zwischenrufe, Gelächter, Trampeln oder andere ungebührlich laute Störungen des Auditoriums unterbrochen. Man versuchte sie erst gar nicht zu Wort kom36 Vgl. Pracht, Parlamentarismus und Sozialdemokratie (wie Anm. 1), S. 38–40; Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 357–386. Vgl. auch Welskopp, Banner (wie Anm. 1), S. 485–491. 37 Vor diesem Erfahrungshintergrund erhielt Bebel im August 1870 von seinen Wählern und Parteigenossen aus Meerane folgende Widmung geschenkt: „Und kann Dein Wort dort Nichts erstreben/Dann trete in das Volk zurück –/Daß Du vom Rechte Nichts vergeben/Ist Dir ein lohnend stolzes Glück.“ Bundesarchiv Berlin/BArch, NY 4022, Nr. 115, Bl. 27. 38 Vgl. Biefang, Die andere Seite der Macht (wie Anm. 15), S. 224. 39 Richter am 1. Mai 1872 in der 15. Sitzung des Reichstags, in: SBR 1872, I. Lp., III. Session, Bd. 1, S. 238, die Rede insgesamt S. 238–241; vgl. auch die persönliche Bemerkung Bebels S. 245. 40 Vgl. Wilhelm Kulemann, Politische Erinnerungen. Ein Beitrag zur neueren Zeitgeschichte, Berlin 1911, S. 79–81. 41 Einleitung Liebknechts, in: Der Hochverrats-Prozeß (wie Anm. 18), S. 14.

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men zu lassen.42 Die Reichstagsmehrheit sei ihnen, so beklagte Liebknecht später, mit „unverhohlenem Haß und Abscheu“43 begegnet. „Kurz – wir waren moralische Ungeheuer, ein Auswurf der Menschheit, fähig jedes Verbrechens – ein Gegenstand des Abscheus und des Ekels.“44 Offen wurde mit Gewalt gedroht. Bezug nehmend auf Bebels Beschwörung der Pariser Commune am 25. Mai 187145 drohte der Nationalliberale Eduard Lasker im November ganz unverhohlen damit, daß bei einem ähnlichen Aufstand in Deutschland der „redliche und besitzende Bürger“ die Sozialdemokraten „mit Knütteln todtschlagen“ würde.46 Da Lasker diese Äußerung später selbst als unangenehm empfand, ließ er den Passus im Protokoll ändern.47 Auch wurde das Rederecht sozialdemokratischer Abgeordneter wiederholt eingeschränkt. Die Worterteilung war angesichts des Fehlens entsprechender Bestimmungen in der Geschäftsordnung ins Belieben des Reichstagspräsidenten gestellt, so dass Sozialdemokraten lange Zeit Schwierigkeiten hatten, überhaupt Berücksichtigung zu finden.48 „Schon der Gedanke“, so Wilhelm Bracke im Juni 1879 an Friedrich Engels, „das Wort nicht seinem Recht, sondern der Gnade des Präsidenten resp. der Majorität zu danken, ist entmutigend und deprimierend“.49 Einem sozialdemokratischen Redebeitrag konnte durch einen Antrag auf Schluss der Debatte begegnet werden. Lag ein entsprechender Antrag vor, der die Mehrheit des Parlaments fand, konnte die Debatte abgewürgt und zur Abstimmung geschritten werden, auch wenn sich noch weitere Abgeordnete zu Wort gemeldet hatten.50 Eine zweifelhafte Berühmtheit 42 Ebd.: „Und wenn wir im Reichstag das Wort ergriffen – welche Szenen der Wuth! Mehr als einmal ertönte in den heiligen Hallen der Berliner Straßen-Rowdyruf: ‚Haut ihm! Haut ihm!‘ Und wie oft wurden wir von drohenden ‚Kollegen’ umringt; wie oft ballten sich die Fäuste. Ein Wunder, daß es nicht zur Schlägerei kam.“ 43 Ebd., S. 13 44 Ebd., S. 14. 45 Vgl. oben S. 44 mit Anm. 19. 46 Vgl. Vossische Zeitung Nr. 269 v. 9.11.1871, 1. Beilage, mit dem Bericht der Reichstagssitzung vom 8. November 1871. 47 Zur Rede Laskers am 8. November 1871 vgl. SBR, I. Lp., III. Sess., 17. Sitzung, Bd. 1, S. 185 f., hier S. 186: Nach dem Stenographischen Bericht sagte Lasker: „wenn es in Berlin oder sonst einer größeren Stadt einer geringen Anzahl von Menschen einfallen sollte, ein ähnliches Schauspiel aufzuführen, wie die Kommune in Paris dies gethan hat, so würde der redliche und besitzende Bürger mit eigener Macht sie niederhalten.“ 48 Vgl. Pracht, Parlamentarismus und Sozialdemokratie (wie Anm. 1), S. 44 f. 49 Wilhelm Bracke an Friedrich Engels, 6. Juni 1879, in: Karl Marx, Friedrich Engels. Briefwechsel mit Wilhelm Bracke (1869–1880), Hg. Heinrich Gemkow, Berlin (Ost) 1963, S. 184 f., hier S. 184. 50 Vgl. dazu Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 282.

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erlangte in dieser Frage der nationalliberale Abgeordnete Hermann Friedrich Valentin, der als Schlussantragsteller im Reichstag, als „Thürschließer der Debatte“51, von sich reden machte. So lagen dem Reichstagspräsidium bestellte, mit der Unterschrift Valentins versehene Anträge in hektographierter Form vor, die nach Belieben gegen die als unerwünscht und störend angesehene Opposition eingesetzt werden konnten.52 Bei den parlamentarischen Beratungen waren Schlussanträge vor 1878 letztlich die Regel.53 Mit dem Instrument des Debattenschlusses wurde die Redefreiheit der Abgeordneten stark behindert und, wie sich Julius Vahlteich 1874 beklagte, die Minderheit „vergewaltigt“. „Wie die Dinge bis jetzt gegangen sind, ist der Zustand für uns, und ich glaube für alle kleinen Parteien, ein geradezu unleidlicher gewesen. In der Regel sind wir bei wichtigen Fragen nicht zum Wort gekommen, so oft wir uns auch gemeldet haben.“54 Auf diese „Valentinerei“ versuchten die Sozialdemokraten mit der Stellung von Anträgen auf Auszählung des Hauses zu antworten, die angesichts des starken Absentismus der Abgeordneten die Beschlussunfähigkeit und die Aussetzung der Abstimmungen zur Folge hatten.55 Ein weiteres Ärgernis stellten die vornehmlich an sozialdemokratische Abgeordnete adressierten Ordnungsrufe dar, für deren einseitige Platzierung die Reichstagspräsidenten Eduard Simson und Max von Forckenbeck eine zweifelhafte Berühmtheit erlangten.56 Von den 141 Ordnungsrufen, die zwischen 1871 und 1890 vom Reichstagspräsidium ausgesprochen wurden, richteten sich allein 81 oder fast sechzig Prozent gegen sozialdemokratische Redner.57 Die einseitige Handhabung der Geschäftsordnung, insbesondere die Behin51 Neuer Socialdemocrat Nr. 8 v. 21.2.1876, S. 1: „Valentin zum ersten Mal ‚gevalentint‘“: „Der Valentin aber ist einzig in seiner Art, denn es [sic] ist eine Art Pedell, ein Thürschließer der Debatte, welcher unvermeidlich mit siegesbewußtem Lächeln den Debatten jeder Art den Gnadenstoß versetzt.“ 52 Vgl. Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 46. 53 Vgl. dazu Der Volksstaat Nr. 136 v. 24.11.1875, S. 2: „Politische Übersicht. Deutscher Reichstag“: „Der Abg. Liebknecht, der sich Namens der Sozialisten gemeldet, gelangte heute nicht mehr zu Wort; ob es ihm morgen gelangen wird, daß hängt von der Gnade der Majorität ab, die bereits bei der Debatte über den Invalidenfond die angemeldeten sozialistischen Redner zum Schweigen verdammte.“ 54 Zur Rede Vahlteichs am 9. April 1874 vgl. SBR 1874, 2. Lp., I. Sess., 27. Sitzung, S. 674. 55 Vgl. beispielsweise die Rede Singers am 4. Dezember 1889: SBR 1889/90, 7. Lp., V. Sess., 29. Sitzung, S. 678. 56 So hielt es Reichstagspräsident Forckenbeck 1878 nicht für nötig, dem Kanzler für seine Äußerung, die Sozialdemokratie stünde unter der „Herrschaft von Banditen“, einen Ordnungsruf zu erteilen. Vgl. Vorwärts Nr. 112 v. 22.9.1878, S. 1: „Sozialpolitische Übersicht“. 57 Vgl. Biefang, Die andere Seite der Macht (wie Anm. 15), S. 221.

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derung des Rederechts oppositioneller Abgeordneter und die offen zur Schau getragene Geringschätzung und Nichtachtung durch die konservativ-liberale Mehrheit verleidete den Sozialdemokraten die Mitarbeit im Parlament. „Und nun muß man diese Glatzen und diese feisten Gesichter sehen, die einem ins Gesicht gähnen oder sonst die größte Gleichgültigkeit oder Verachtung zur Schau tragen.“58 Vor diesem Hintergrund mochte es nicht verwundern, dass die Sozialdemokraten sich lange Zeit gegenüber gesellschaftlichen Empfängen betont reserviert verhielten und erst 1877 an den Parlamentskneipen, die jeden Mittwochabend in der Restauration des Reichstages für alle Fraktionen veranstaltet wurden, beteiligten.59

4. Argumentationslinien sozialdemokratischer Parlamentarismuskritik Der Parlamentarismus, so führte Wilhelm Liebknecht im Vorwort der Neuauflage seiner Schrift „Über die politische Stellung der Sozialdemokratie insbesondere mit Bezug auf den Reichstag“, eines 1869 gehaltenen Vortrags vor dem Berliner Arbeiterverein, aus, diene der „Täuschung und Knechtung des Volkes“. Er sei nichts anderes als „ein mit Schaumgold der Phrase beklebter Theatermantel, hinter dem der Absolutismus und die Klassenherrschaft ihre häßlichen Glieder und ihre Mordwaffen verstecken“.60 Wilhelm Liebknecht war einer der namhaftesten sozialdemokratischen Kritiker des Parlamentarismus.61 Im Gegensatz zu Bebel, der früh ins Parlament gewählt wurde und seine politische Sozialisation und Prägung weitgehend durch diese Institution erfuhr, erlebte Liebknecht seine politischen Anfänge in der Umbruchszeit 1848/49 als Revolutionär und Barrikadenkämpfer, der früh Bekanntschaft mit preußischen Gefängnissen machen musste. Dies erklärt seine schroffe Haltung gegenüber dem preußischen Staat, der für ihn nur als Obrigkeits- und Unterdrückungsstaat figurierte. Trotz seiner liberaldemokratischen Wurzeln 58 Wilhelm Bracke an Friedrich Engels, 6. Juni 1879, in: Karl Marx, Friedrich Engels. Briefwechsel mit Wilhelm Bracke (wie Anm. 49), S. 184 f., hier S. 184. 59 Vgl. Biefang, Die andere Seite der Macht (wie Anm. 15), S. 226. 60 Wilhelm Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozialdemokratie insbesondere mit Bezug auf den Reichstag. Ein Vortrag gehalten in der öffentlichen Versammlung des demokratischen Arbeitervereins zu Berlin am 31. Mai 1869, Berlin 1893, S. 7. 61 Zu Liebknecht vgl. Wolfgang Schröder, Wilhelm Liebknecht. Soldat der Revolution, Parteiführer, Parlamentarier. Ein Fragment, Berlin 2013; Heidi Beutin (Hg.), Wilhelm Liebknecht. Revolutionärer Demokrat und Sozialist (1826–1900). Wissenschaftliche Konferenz anläßlich seines hundertsten Todestages, Berlin 2001.

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entwickelte er sich rasch zu einem vehementen Gegner des Parlaments von Bismarcks Gnaden. Bereits 1866 lehnte er eine Beteiligung an Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bund rigoros ab.62 Der Norddeutsche Reichstag, so befand Liebknecht am 31. Mai 1869 in seiner berühmt gewordenen Rede vor dem Berliner Arbeiterverein, sei trotz des allgemeinen Wahlrechts nur ein machtloses Gremium, dem nur eine beratende Funktion zukomme. Deshalb könne er „von der Demokratie nicht als Schlachtfeld zur Gewinnung der Macht benutzt werden“.63 Zwar habe man 1866 beschlossen, sich an den Wahlen zu beteiligen, doch sollten die sozialdemokratischen Vertreter im Reichstag einen rein „negirenden und protestirenden Standpunkt“ einnehmen und sich von den eigentlichen Verhandlungen fernhalten, da dies die Anerkennung der Bismarckschen Politik bedeuten würde und darüber hinwegtäuschen könne, „daß der Kampf im ‚Reichstag’ bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie“ sei.64 Fragt man nach den Argumentationslinien und Grundzügen, die dem frühen sozialdemokratischen Antiparlamentarismus zugrunde lagen, so wird man auf ein ganzes Motivbündel verweisen, auf ein Ensemble unterschiedlicher Argumentationsstränge, die vor 1890 in jeweils unterschiedlicher Gewichtung und in unterschiedlichem Maße in der Politik der Partei zum Tragen kamen. Eine entscheidende Rolle spielte erstens die grundsätzliche Ablehnung der Bismarckschen Reichsgründung namentlich durch die Eisenacher Partei aufgrund ihres kleindeutschen und obrigkeitlichen Charakters.65 Der von den Sozialdemokraten betonte Klassencharakter des Staates ließ das Parlament zu einem Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie werden. „Liebknecht“, so meinte Bebel im Rückblick, „sah in dem Norddeutschen Bunde ein Gebilde, das mit allen Mitteln bis zur Vernichtung bekämpft werden müsse. An dessen Parlament sich anders als negierend und protestierend zu beteiligen, war nach seiner Meinung eine Preisgabe des revolutionären Standpunktes. Daher kein

62 Vgl. Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 163. 63 Liebknecht, Über die politische Stellung (wie Anm. 60), S. 11. Noch 1888 gestand Liebknecht, dass er persönlich „mit dem Parlamentarismus auf sehr gespanntem Fuße“ stehe. „Ich hatte von jeher für das Reden und Redenhalten eine gewisse Verachtung, und bin für die parlamentarische Thätigkeit durchaus nicht geschaffen.“ Vorwort Liebknechts, in: Ebd., S. 4. 64 Ebd., S. 7. 65 In seinem 1888 verfassten Vorwort zur Neuauflage seines Vortrags „Über die politische Stellung der Sozialdemokratie insbesondere mit Bezug auf den Reichstag“ bezeichnete Liebknecht das Deutsche Reich als ein „Rumpf-Deutschland, und eine große Kaserne, die von einem noch größeren Gefängniß umschlossen“ sei. Ebd., S. 4.

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Paktieren, kein Kompromisseln, das heißt kein Versuch, die Gesetzgebung in unserem Sinne zu beeinflussen.“66 Ein zweiter Grund für die Haltung der Partei ist in der relativen Machtlosigkeit und der demokratischen Insuffizienz des Reichstages zu suchen. Noch 1866 hatte die von Bebel und Liebknecht gegründete Sächsische Volkspartei, die Vorgängerin der SDAP, in ihrem Programm ein „mit größter Machtvollkommenheit ausgestattetes Parlament“ gefordert.67 Diese Forderung verhallte jedoch ungehört. So erhielten der Norddeutsche Bund bzw. das Deutsche Reich zwar eine zentrale Vertretungskörperschaft, doch blieb das Parlament relativ schwach, da es keinen Einfluss auf die Ernennung und Entlassung des allein dem Monarchen verantwortlichen Reichskanzlers erlangte. Die Scheidung zwischen Exekutive und Legislative wurde durch die im Artikel 9 der Reichsverfassung festgehaltene Inkompatibilität von Reichskanzleramt und Reichstagsmandat festgeschrieben. Im Rahmen der konstitutionellen Monarchie blieb der Reichstag auf die Mitwirkung an der Gesetzgebung und das Budgetrecht, das zudem durch die Sonderstellung des Militäretats ausgehöhlt wurde, beschränkt. Die Rechte des Parlaments wurden überdies durch die Stellung des Bundesrates tangiert, der als Vertretung der Einzelstaaten zusammen mit dem Reichstag an der Gesetzgebung mitwirkte, über ein Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse verfügte sowie exekutive und judikative Funktionen wahrnahm. Gegen Verfassungsänderungen besaß der Bundesrat ein Vetorecht, für das 14 Stimmen erforderlich waren. Da Preußen als hegemonialer Bundesstaat und konservatives retardierendes Element mit einer vom Adel dominierten Ersten Kammer, dem Herrenhaus, und einer nach dem Dreiklassenwahlrecht zusammengesetzten Zweiten Kammer, dem Preußischen Abgeordnetenhaus, allein über 17 Stimmen verfügte, waren einer Parlamentarisierung des Reiches unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt.68 Angesichts seiner begrenzten verfassungspolitischen Rechte und seiner demokratischen Defizite stieß der Reichstag bei Eisenachern auf offene Ablehnung. Das Parlament war für sie ein Instrument der Klassenherrschaft. Es galt aufgrund seiner elitären sozialen Zusammensetzung nicht als volksnah, auch wurde die mangelnde Offenheit und Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens kritisiert. Demgegenüber hielt der ADAV lange Zeit an der Lassalle 66 Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 164. 67 Vgl. Mommsen, Parteiprogramme (wie Anm. 13), S. 307, zum Programm der Sächsischen Volkspartei von 1866 insgesamt S. 307 f. 68 Zur Verfassung des Norddeutschen bzw. Deutschen Reiches vgl. Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1990, S. 160– 184; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, S. 643–680 u. 809–1074.

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zugeschriebenen Vorstellung vom Parlament als eines für eine vorwärtsweisende Sozialpolitik unentbehrlichen Instruments fest und versuchte unter den obwaltenden Verhältnissen die Forderungen der Arbeiterschaft umzusetzen und an den Beratungen des Reichstages teilzunehmen. Doch angesichts der diskriminierenden Behandlung, die die Sozialdemokraten im Reichstag erfuhren, gerieten auch seine Vertreter in ein distanzierteres Verhältnis zu dieser Institution.69 Drittens entsprach zwar die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts im Jahre 1867 den Forderungen der beiden sozialdemokratischen Parteien, doch ließ die Ausgestaltung des Wahlsystems zu wünschen übrig.70 Auf Kritik stieß insbesondere die Verweigerung von Diäten, die von Bismarck als Korrektiv gegen die unerwünschten Folgen des allgemeinen Wahlrechts durchgesetzt wurde. Die Bedeutung des Rekrutierungssystems wurde durch weitere Unzulänglichkeiten relativiert, zu denen neben dem Fehlen eines liberalen Presse-, Vereins- und Versammlungsrechts die relativ hohe Altersgrenze von 25 Jahren sowie der Wahlrechtsausschluss von Militärangehörigen, von Personen, die unter Vormundschaft standen, über deren Vermögen der Konkurs eröffnet worden war, und – wichtiger noch – von denjenigen, die Armenunterstützung bezogen, gehörten. Moniert wurde auch die Tatsache, dass der Wahltag nicht an einem Sonntag, sondern an einem Arbeitstag stattfand, und die Wahlkreiseinteilung in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr den Bevölkerungsverschiebungen im Reich angepasst wurde.71

69 Vgl. Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 35–55. – Den Abscheu vor den liberal-konservativen Honoratioren-Abgeordneten des Reichstags artikulierte der Sozialdemokrat Paul Grottkau 1876 in einer Rede auf einer Versammlung in Berlin: Wenn die sozialdemokratischen „Lehren immer weitere Verbreitung finden, werden die socialistischen Vertreter in der bevorstehenden Wahlschlacht siegen und man wird sich dann mit Verachtung von der Gesellschaft abwenden, die jetzt in den gesetzgebenden Körperschaften sitzt u. Spiegelfechtereien treibt. Sie wissen, Niemand ist erbärmlicher als ein abgefaßter Taschenspieler.“ Vgl. den Polizeibericht vom 18. Juni 1876, in: Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 13008, Bl. 153–155, hier Bl. 154 r–155. 70 „Der Modus der Abstimmung bei den Wahlen ist das Barometer für das Maß der Freiheit eines Volkes“, so ein Redner auf einer von Sozialdemokraten besuchten Versammlung in Berlin 1884. Vgl. den Polizeibericht vom 21.1.1884, in: Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 13123. 71 Zum Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869 vgl. Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964, S. 243–245. Vgl. die Reden von Schweitzers am 25. April und 15. Juni 1868: SB NRT, I. Lp., Session 1868, Bd. 1, S. 182–184 u. 449; ferner die Reden von Wilhelm Hasenclever und August Bebel

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Viertens wurde das parlamentarische Instrument des Kompromisses abgelehnt. So verwarf Liebknecht eine Zusammenarbeit mit den übrigen Parteien im Parlament. Auf keinen Fall dürfe die Sozialdemokratie ihre Prinzipien opfern. „Prinzipien sind untheilbar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgebung des Prinzips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentirt; wer parlamentirt, paktirt.“72 Der Bereitschaft zur Zusammenarbeit „stieß sich an der ‚panoptischen’ Struktur des sozialdemokratischen Deutungskosmos: Gerade weil alle dort formulierten ‚Prinzipien’ voneinander abhingen, bedeutete ein Nachgeben in einem Punkt bereits Verrat an der Gesamtsache. Deshalb pflegte die Sozialdemokratie mit Hingabe ihr Pathos der ‚Entschiedenheit’, das zwar politische Teilziele kannte, deren Verfolgung aber von ihrer Vereinbarkeit mit dem gesamten Prinzipienkatalog abhängig machte.“73 Eine Zusammenarbeit mit den übrigen Parteien im Reichstag war nach 1871 für die damals weithin öffentlich geächtete Partei kein Thema. Ihr gegenüber waren, wie es im Gothaer Programm von 1875 hieß, „alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse“.74 Fünftens: Eine Rolle mochten auch antirepräsentative Vorstellungen in der Tradition von Rousseau oder Marx sowie der nach wie vor virulente Einfluss von Moritz von Rittinghausen und die an die direkte Demokratie geknüpften Erwartungen gespielt haben.75 Als Beispiel mag hier auf eine Volksversammlung verwiesen werden, die am Neujahrstag 1872 in Berlin stattfand und von etwa 500–600 Personen, „bei weitem zum größten Theil aus Social-Demokraten unter Anführung Hasenclever´s“, des Präsidenten des ADAV, wie der Polizeibericht vermerkte, besucht wurde: Der Unternehmer Schäffer forderte in einer Resolution die Versammlung dazu auf, „aus ihrer Mitte einen dauernden Ausschuß von Mitgliedern zu ernennen“. Dessen Aufgabe sollte es sein, „den Willen des Volkes zu überwachen, für den Staatsbürger Gesetze ohne Hinterthüren durch Ausschreiben vom Volke ausschreiben zu lassen [sic], welche durch die Zeitverhältnisse erforderlich sind, die gemachten Vorlagen dem Volke zu veröffentlichen, das darüber abzustimmen“ habe, „welche Vorlage der Menschenwürde und dem Wohle der Staatsbürger“ entspreche. In seiner Rede führte Schäffer aus, dass das Volk „immer wieder lange Kämpfe nöthig“ habe, „um das Volk dahin zu bringen, daß es nicht

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am 20. März 1869: SB NRT, 1. Lp., Session 1869, Bd. 1, S. 196. Vgl. auch Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 29–34. Liebknecht, Über die politische Stellung (wie Anm. 60), S. 12. Welskopp, Banner (wie Anm. 1), S. 588. Vgl. das Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1875, in: Mommsen, Parteiprogramme (wie Anm. 13), S. 313 f., hier S. 313. Vgl. Durner, Antiparlamentarismus (wie Anm. 1), S. 74 f. u. 78–82.

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immer die unterdrückte Klasse bleibt. Wo das stattfindet, muß das Volk sich aneignen, Gesetze aus dem Volke hervorgehen zu lassen.“ Die Mitglieder des in Permanenz tagenden Ausschusses sollten durch „einen, an irgend einem Tage stattfindenden Spaziergang“ sich davon „überzeugen, was das Volk will, und es kann dann Nichts in den Papierkorb wandern“. Der Ausschuss sollte an die Stelle des Reichstages treten und „nicht mehr aus einzelnen Parteien, sondern wirklich aus dem Volke hervorgehen“.

Mit seiner Kritik am Reichstag und den bestehenden politischen und parlamentarischen Verhältnissen hatte Schäffer durchaus den Nerv der Anwesenden getroffen, die daraufhin spontan zu singen begannen. Schäffers Forderung lag die Vorstellung eines homogenen, einmütigen Volkswillens zugrunde, in der kein Platz für einen irgendwie gearteten Interessenpluralismus und die sie vertretenen Parteien als intermediäre Akteure war. Der Volkswillen sollte nicht durch ein in den Augen der Anwesenden diskreditiertes Parlament, sondern durch Volksversammlungen, die für Fragen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zuständig sein sollten, in Beschlüsse gefasst werden. Die Vorstellungen Schäffers trafen jedoch nicht auf ungeteilten Beifall. Ein Vertreter des ADAV, de Rossy, wollte mit derart unausgegorenen und unpraktikablen, direktdemokratischen Vorstellungen nichts zu tun haben: In der von ihm eingebrachten Resolution sollte die Versammlung zum Ausdruck bringen, „daß die politischen u. socialen Interessen des Arbeiter-Standes nur im allgem. Deutschen Arbeiter-Verein ihren vollständigen Ausdruck finden und daß wir unter demselben keine andre politische Organisation nöthig haben“. Auf Kritik am parlamentarischen System wurde nicht verzichtet, sei doch „die Demokratie nur noch beim Arbeiterstande“. Diejenigen „Elemente aus den besitzenden Klassen, welche sich demokratisch nennen,“ könnten „sich nicht als eine Partei geriren ..., da sie keine Massen hinter sich haben“. Die „Agitationen für die directe Gesetzgebung, auf welche die Resolution des Herrn Schäffer hinweist“, seien „nicht an der Zeit ..., da die periodische Agitation bei den Wahlen bedeutend erfolgreicher“ sei „und die directe Gesetzgebung überdies Nichts für das Volk bringen kann, so lange die großen Massen desselben für die Interessen anderer Klassen ihre Stimmen abgeben werden. Überdies wäre es viel schlimmer, wenn unter solchen Verhältnissen das Volk selbst die schlechten Gesetze gemacht hat, als wenn ...“ dies „durch eine gesetzgebende Versammlung geschieht“.76

Die Resolution de Rossys wurde schließlich angenommen. Der Versammlungsbericht reflektiert nicht nur die Reserven gegenüber dem bestehen76 Vgl. den Polizeibericht vom 1. Januar 1872, in: Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12980.

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den parlamentarischen System und den politischen Verhältnissen, sondern auch die Hoffnungen und Erwartungen, die ein Teil der Sozialdemokraten und ihrer Anhängerschaft mit der Idee der direkten Gesetzgebung und der direkten Demokratie verband. Das Volk sollte sich selbst regieren. In großen Volksversammlungen hatte sich der politische Willensbildungsprozess zu vollziehen, während einem als Regierung anzusehenden Ausschuss lediglich koordinierende und moderierende Aufgaben zugesprochen wurden. Ungeachtet der Wertschätzung von Elementen direkter Demokratie, die auch im Gothaer Parteiprogramm von 1875 ihren Niederschlag finden sollte, wurde doch auch deutlich, dass die Mehrheit der Versammlungsteilnehmer am Prinzip der Repräsentation und damit am parlamentarischen System festzuhalten gedachte. Insgesamt beleuchtet diese Episode treffend die gerade auch an der Wählerbasis anzutreffende Ambivalenz des sozialdemokratischen Parlamentarismusverständnisses. Sechstens: Mit der Wertschätzung direktdemokratischer Prinzipien und Instrumente eng verbunden ist die Frage nach der Verwirklichung der Volkssouveränität im sozialistischen Zukunftsstaat. Dies zeigt ein Blick auf Bebels Bestseller „Die Frau und der Sozialismus“ von 1879, in dem die Perspektive des freien Volksstaates konturenreich aufgezeigt wurde.77 Mit der Aufhebung des Privateigentums und der Klassengegensätze hatte für Bebel auch der Staat zu verschwinden. Indem der Staat „endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte.“78 Da es in einem direktdemokratischen Volksstaat keine Klassenantagonismen mehr geben würde, wurden der existierende Staatsapparat und seine Institutionen, wie das Parlament, als obsolet betrachtet. Mit dem Verschwinden der Staatsmaschinerie würden auch die Parlamente aufhören zu bestehen und von Verwaltungskollegien und Verwaltungsdelegationen ersetzt.79

77 Vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879), Berlin (Ost) 1979; Helga Grebing, August Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879), in: Kruke/Woyke, Sozialdemokratie (wie Anm. 15), S. 98–103. 78 Bebel, Die Frau und der Sozialismus (wie Anm. 77), S. 354. 79 Vgl. dazu auch Welskopp, Banner (wie Anm. 1), S. 727–740; Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 132–135.

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„Die großen und doch so kleinlichen parlamentarischen Kämpfe, bei denen die Männer der Zunge sich einbilden, durch ihre Reden die Welt zu beherrschen und zu lenken, sind verschwunden, sie haben Verwaltungskollegien und Verwaltungsdelegationen Platz gemacht, die sich mit der besten Einrichtung der Produktion, der Distribution, der Festsetzung der Höhe der notwendigen Vorräte, der Einführung und Verwendung zweckentsprechender Neuerungen in der Kunst, dem Bildungswesen, dem Verkehrswesen, dem Produktionsprozeß usw. in Industrie und Landwirtschaft zu befassen haben.“80

Bis in die 90er Jahre beharrte Bebel auf seinen utopischen Vorstellungen. Anlässlich einer kritischen Besprechung seines Buches betonte er, dass mit dem Verschwinden der Klassengegensätze eine neue soziale Ordnung entstehen würde, indem „die Existenzbedingung des Staats fällt und er aufhört zu existiren. Die Ursachen, die ihn ins Leben riefen und im Laufe der verschiedenen Kulturepochen seine Umgestaltung bedingten, sind verschwunden, damit verschwindet auch er. Ob sein schließliches Verschwinden ‚für absehbare Zeiten in Zweifel gezogen werden muß’, ändert an der Gewißheit, daß er einst verschwinden wird, absolut nichts; sein Aufhören ist ebenso sicher, als daß zweimal zwei vier ist.“81 In der sozialdemokratischen Utopie des freien Volksstaates glaubte man den Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft aufgehoben, Volk und Regierung zur Deckung gebracht. An die Stelle einer von Klassengegensätzen zerklüfteten Gesellschaft trat die Vorstellung eines harmonischen Gesellschaftsmodells, dem Interessendivergenzen wesensfremd waren. „Das Ineinanderaufgehen von Gesellschaft und Staat wurde in der deutschen Sozialdemokratie als eine Harmonisierung der Sphären gedacht, die ihren Dualismus in Dualität verwandelte. Weiterhin sollte Politik betrieben werden, weiterhin wurde dem Staat eine eigenständige Existenz zugestanden, allerdings in der Form einer demokratischen Volksregierung. Die Institutionen des Vereins und der Versammlung, in denen demokratische Volkspolitik emphatisch zelebriert wurde, galten in der erstrebten Zukunftsordnung als hinreichende Verkörperung von Staatlichkeit.“82 Welchen Stellenwert in solchen Vorstellungen von der Zukunftsgesellschaft die Parlamente einnehmen sollten, blieb lange Zeit umstritten bzw. ungeklärt.

80 Bebel, Die Frau und der Sozialismus (wie Anm. 77), S. 354. 81 August Bebel, Kritische Bemerkungen zu Katzensteins kritischen Bemerkungen über ‚Die Frau und der Sozialismus‘, in: Die Neue Zeit 15 (1896/97), Bd. 1 (1897), H. 11, S. 326–336, hier S. 329. 82 Welskopp, Banner (wie Anm. 1), S. 585.

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5. Parlamentsarbeit vor 1878 Ungeachtet des agitatorischen Grundzugs ihrer Politik begannen die Sozialdemokraten früh durch die Einbringung von Abänderungsanträgen zu Gesetzentwürfen der Regierung oder anderer Fraktionen produktiv mitzuwirken. Bereits 1869 beteiligten sich Bebel und Liebknecht an der Beratung der Gewerbeordnung und versuchten mit zahlreichen Abänderungsanträgen ihre Forderungen nach der Durchsetzung des Zehnstundentages oder des Verbots der Sonntagsarbeit umzusetzen.83 Gerade Bebel wünschte eine aktive Beteiligung am Gesetzgebungsprozess, um die Interessen der sozialdemokratischen Wählerklientel, der Arbeiterschaft, zur Geltung zu bringen. Deshalb war er auch wenig begeistert über das passive Verhalten der sozialdemokratischen Abgeordneten während seiner Abwesenheit. „Sie hätten trotz allen Bestrebens, sie mundtot zu machen, sich viel unbequemer machen können.“84 Auch wenn die Petita der Sozialdemokraten kein Gehör fanden und ihre Amendements der Ablehnung verfielen, diente ein offensives Auftreten im Parlament der eigenen Werbung und hatte agitatorischen und mobilisierenden Charakter.85 Zu einer stärkeren Involvierung in das parlamentarische System trug auch der Einfluss der früheren Mitglieder des ADAV bei, die aufgrund des Lassalleanischen Staatsverständnisses unvoreingenommener gegenüber dem Staat und seinen Institutionen auftraten. Zudem entfaltete die Institution des Parlaments eine gewisse Eigendynamik. Die Sozialdemokraten mussten sich letztlich im Reichstag mit ihren politischen Gegnern auseinandersetzen und sich ihnen argumentativ stellen, ob sie es wollten oder nicht. Dies bewirkte eine allmähliche Annäherung an und ein Sicheinlassen auf die Institution des Parlaments. Einen Wandel ihrer Einstellung zum parlamentarischen System bewirkten auch die Wahlerfolge der Partei. Hatten beide sozialdemokratische Parteien noch 1871 lediglich 3,2 % der abgegebenen gültigen Stimmen und zwei Mandate erhalten, so wuchs ihr Zuspruch mit den Jahren signifikant. So erzielte 1877 die SAPD bereits 9,1 % (12 Mandate). Unter den Eindrücken der beiden 83 Vgl. Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 292–294. 84 August Bebel an Friedrich Engels, 23.2.1875, in: August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels, Hg. Werner Blumenberg, London 1965, S. 26 f., hier S. 26. 85 In seinen Erinnerungen verwies Bebel für die Frühjahrssession 1878 auf Anträge zur Änderung des Reichstagswahlgesetzes, die auf die Durchführung der Wahlen an einem Sonntag oder die Anpassung der Wahlkreiseinteilung an die Bevölkerungsverschiebungen zielten, auf einen Entwurf zu einem Vereins- und Versammlungsgesetz oder Anträge zur Integrität der Abgeordneten. Vgl. Bebel, Aus meinem Leben (wie Anm. 17), S. 477–479.

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Kaiserattentate und der von der Regierung betriebenen Sozialistenhatz sank ihr Anteil 1878 wieder auf 7,6 % (9 Mandate), um nach der Einführung des Sozialistengesetzes 1881 weiter auf 6,1 % (12 Mandate) zu fallen. 1884 erholte sich die Partei mit einem Wahlergebnis von 9,7 % (24 Mandate) wieder, um in den folgenden Wahlen auf 10,1 % (11 Mandate) 1887 und 19,7 % 1890 (35 Mandate) zu steigen.86 Der Aufstieg der Sozialdemokraten von einer Splitterpartei zur Massenbewegung, die 1890 fast ein Fünftel der Wählerstimmen erringen konnte, wirkte sich auch auf die Situation ihrer Abgeordneten im Reichstag aus. Wurden sie anfangs bewusst ignoriert, übergangen und ausgegrenzt, so konnte man 1890 über eine Fraktion, die aufgrund der überholten Wahlkreiseinteilung zwar nicht ein Fünftel, aber doch immerhin 8,8 % der Sitze einnahm, nicht so einfach hinweggehen. Nach den Wahlen von 1884 verfügten die Sozialdemokraten erstmals über Fraktionsstärke, für die 15 Abgeordnete erforderlich waren. Dadurch war die 24-köpfige Fraktion in der Lage, ohne Unterstützung anderer Fraktionen Anträge, die Gesetzentwürfe enthielten, zu stellen.87 Mit der Stärke der Fraktion wuchs auch das Selbstbewusstsein der Abgeordneten, die nicht nur ihre Rechte im Parlament offensiv einforderten, sondern auch verstärkt die ihnen im Reichstag gebotenen Möglichkeiten zu nutzen und die ihnen früher verwehrten innerparlamentarischen Positionen einzunehmen begannen.88 So befürworteten die Eisenacher seit 1874 die Mitarbeit in den Kommissionen des Reichstags, um, wie es hieß, „Einblick in den Gang der Behandlung“ von Gesetzen zu bekommen und somit dem „Feinde Schritt für Schritt“ folgen zu können.89 Nach der Reichstagswahl von 1884 und der Erlangung des Fraktionsstatus begannen sich die Sozialdemokraten verstärkt an den Kommissionen zu beteiligen. Zwar wurde die Budgetkommission gemieden, weil die Partei auch weiterhin die Haushaltsgesetze abzulehnen gedachte, 86 Vgl. Ritter/Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (wie Anm. 16), S. 38–40. 87 Vgl. die Geschäftsordnung für den Reichstag, in: Reichstags-Handbuch. Zwölfte Legislaturperiode, Berlin 1907, S. 151–196, hier S. 159 (§ 22). 88 Vgl. Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 35–63. 89 Vgl. Der Volksstaat Nr. 26 v. 4.3.1874, S. 2 f., hier S. 3: „Mitthun, oder nicht mitthun?“ – Vgl. auch Bernstein, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 46: „Während z.B. noch in der Session von 1874 Julius Motteler, unbeschadet seiner oben mitgeteilten Erklärung, in einer Kommission, in die er hineingewählt worden war, sich jeder Teilnahme an deren Verhandlungen enthielt und ihren Sitzungen ‚nur als Beobachter’ beiwohnte, ist seitdem die Sozialdemokratie immer mehr dazu über gegangen, an den Kommissionsberatungen des Hauses aktiv sich zu beteiligen, Schriftführerdienste in den Kommissionen zu übernehmen, sich zu Berichterstattern über Kommissionsverhandlungen wählen zu lassen und Ähnliches mehr.“

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doch wurden die ständigen Kommissionen, wie die Geschäftsordnungs-, die Petitions- und Wahlprüfungskommission, verschiedene einzelne Kommissionen, wie der Spezialausschuss zur Prüfung der Dampfersubventionsvorlage und der Ausschuss für Arbeiterschutz, sowie der Seniorenkonvent beschickt.90 Der Einsatz im Reichstag diente nicht nur der Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen ihrer Wählerschaft, sondern auch der Abwehr der Versuche des Kanzlers, den Wesensgehalt des Parlaments zu beschneiden und dem Kampf um Erweiterung der Rechte des Parlaments. So hatte die Partei bei der Beratung des sog. Maulkorbgesetzes von 1879, durch das die Disziplinargewalt des Reichstages über seine Mitglieder verschärft und die Immunität der Abgeordneten unterminiert werden sollte, entschieden Position bezogen.91

6. Unter dem Sozialistengesetz Im Verhältnis der Sozialdemokraten zum Parlamentarismus stellte die Verabschiedung des Sozialistengesetzes von 1878 eine Zäsur dar, da der Reichstag nach dem Verbot der Parteiorganisationen und -zeitungen die einzige legale Bühne war, die die Partei nutzen konnte.92 So gab Bebel auf dem Parteitag im Schweizer St. Gallen 1887 zu, dass die Stellung und der Einfluss der sozialde90 Vgl. Biefang, Die andere Seite der Macht (wie Anm. 15), S. 227 f.; Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 62 u. 85 f. – August Bebel, Kritisches, in: Die Neue Zeit 20 (1901/1902), Bd. 2, Nr. 35, S. 262–274, hier S. 270: Es sei nicht richtig, „daß die Fraktion bis Ende der achtziger Jahre aus den Kommissionen fern gehalten wurde. Ich gehörte bereits im Jahre 1869 der Gewerbeordnungskommission an. Dietz und ich waren Mitglieder der Kommission für die Dampfersubvention im Jahre 1884/85, Auer Mitglied der Gewerbeordnungskommission im Jahre 1886 und um die gleiche Zeit Singer Mitglied der Zollkommission.“ Vgl. dazu auch Bruno Dechamps, Macht und Arbeit der Ausschüsse. Der Wandel der parlamentarischen Willensbildung, Meisenheim/Glan 1954. 91 Vgl. die Rede Bebels am 5. März 1879: SBR 1879, IV. Lp., II. Sess., Bd. 2, S. 290–296; vgl. auch Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 279–345; Michael Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871–1880. Cäsarismus oder Parlamentarismus, Düsseldorf 1974, S. 258–265. 92 Zum Sozialistengesetz vgl. Siegfried Weichlein, Das „Sozialistengesetz“, in: Kruke/ Woyke, Sozialdemokratie (wie Anm. 15), S. 92–97; Stephan Resch, Das Sozialistengesetz in Bayern 1878–1890, Düsseldorf 2012; Heidi Beutin (Hg.), 125 Jahre Sozialistengesetz. Beiträge der öffentlichen wissenschaftlichen Konferenz vom 28.–30. November 2003 in Kiel, Frankfurt a.M. 2004; Lidtke, The outlawed Party (wie Anm. 1). – Ferner Matthew P. Fitzpatrick, Purging the Empire. Mass Expulsions in Germany 1871–1914, Oxford 2015, S. 67–89.

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mokratischen Partei „wesentlich mit auf ihrer parlamentarischen Tätigkeit und der Teilnahme an den Wahlen beruhe“.93 Die Jahre unter dem Sozialistengesetz, während dessen die sozialdemokratischen Organisationen und Zeitungen zwar verboten waren, die Partei jedoch an Wahlen teilnehmen konnte und ihre parlamentarische Vertretung einen gewissen Freiraum genoss, verdeutlichten der Partei und namentlich auch ihren Führern die Wirkungsmöglichkeiten, die ihnen das Forum des Reichstags bot. Durch die Veröffentlichung ihrer Reden erlangten sie eine Publizität, durch die sie auch fernstehende politische Kreise zu erreichen vermochte. Es mochte denn auch nicht verwundern, dass Bebel nach dem Fall des Sozialistengesetzes auf dem Parteitag in Halle 1890 einräumte, dass die Agitation bei den allgemeinen Wahlen und die Tätigkeit der gewählten Abgeordneten im Reichstage „das allerwesentlichste und wirksamste Agitationsmittel für die großartige Entwicklung der Partei unter dem Sozialistengesetz gewesen“ seien.94 Das Verbot der sozialdemokratischen Organisationen führte zu einer Schwerpunktverlagerung auf die Reichstagsfraktion, die zum maßgebenden politischen Entscheidungs- und Beschlussgremium avancierte.95 Das parlamentarische Engagement der Sozialdemokraten traf nach 1878 bei Vertretern des äußersten linken Flügels der Partei auf Unverständnis. Scharf kritisierten der nach London emigrierte Johann Most in seiner Zeitschrift „Die Freiheit“ und der ehemalige Lassalleaner Wilhelm Hasselmann die Politik der Partei im Parlament. Beide lehnten auch die Beteiligung an Wahlen ab, da sie unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes eine freie Diskussion in der Presse und in Versammlungen nicht mehr für möglich erachteten.96 Beide propagierten eine „Politik der Tat“. „So, wie wir sehen“, so führte Wilhelm Hasselmann bei der Beratung zur Verlängerung des Sozialistengesetzes am 4. Mai 1880 im Reichstag aus, „daß in Rußland die Anarchisten jetzt wirken, so wie wir sehen, daß die französischen Arbeiter sich aufopferten – so, meine Herren, werden es auch die deutschen Arbeiter thun!“ Offen erklärte sich Hasselmann mit den russischen Anarchisten solidarisch. „Ich für 93 Vgl. Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage (wie Anm. 29), S. 389. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung (wie Anm. 23), S. 33–43; Pracht, Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 55–63. 96 Zu Most vgl. Rudolf Rocker, Johann Most. Das Leben eines Rebellen, Unveränd. Neudr. der Ausgabe Berlin 1924, Glashütten i.T. 1973; Johann Most, Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes, 4 Bde., New York 1903–1907; ferner Schröder, Liebknecht (wie Anm. 61), S. 313–343. – Zu Hasselmann vgl. Günter Bers, Wilhelm Hasselmann 1844–1916. Sozialrevolutionärer Agitator und Abgeordneter des Deutschen Reichstages, Köln 1973.

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meine Person akzeptire diese Gemeinschaft. Für meine anderen Herren Kollegen kann ich allerdings diesbezüglich hier nicht sprechen. Es ist aber tief in das Bewußtsein des Volks die Idee eingedrungen, daß die Zeit des parlamentarischen Schwätzens vorüber ist und die Zeit der Thaten beginnt.“97 Die Linksradikalen blieben Außenseiter, die keinen großen Einfluss innerhalb der Partei gewinnen konnten und auf dem ersten illegalen Parteitag in Wyden im August 1880 aus der Partei ausgeschlossen wurden.98 Auch wenn die Sozialdemokraten nach 1878 das Forum des Reichstages verstärkt zu nutzen begannen, blieben sie doch in merklicher Distanz zur Bismarckschen Politik. Dies galt auch für die in den 1880er Jahren initiierte Sozialpolitik der Regierung, die mit der Implementierung der drei Sozialversicherungsgesetze ihren prägnanten Ausdruck fand. So betrachteten die Sozialdemokraten die Sozialreform Bismarcks, wie es in der auf dem Kopenhagener Parteitag 1883 einstimmig angenommenen Resolution hieß, nur als „taktisches Mittel“, mit dem die Arbeiter an den Staat herangeführt und vom „wahren Wege“ abgehalten werden sollten.99 Dennoch blieb die Sozialpolitik der Regierung, oder wie es eigentlich hieß, der verbündeten Regierungen, nicht ohne Eindruck auf einen Teil der sozialdemokratischen Abgeordneten. Als sich Bismarck im Mai 1884 im Reichstag für das Recht auf Arbeit aussprach, distanzierten sich Bruno Geiser, Louis Viereck und Wilhelm Blos von den theoretischen Grundsätzen ihrer Partei und der Vorstellung vom Klassencharakter des Staates. Nur der Staat sei durch die Gesetzgebung in der Lage, die Produktionsweise zu regeln. Da Arbeitskämpfe die Lage der Arbeiter nicht grundlegend ändern würden, könne die Arbeiterfrage nicht durch freie Vereinbarung oder durch den Kampf zwischen Kapital und Arbeit, sondern nur im Rahmen der Gesetzgebung einer Lösung zugeführt werden.100

97 Zur Rede Hasselmanns vgl. SBR 1880, IV. Lp., 3. Sess., Bd. 2, S. 1167 f., hier S. 1168. 98 Vgl. Protokollaufzeichnungen vom Parteikongreß auf Schloß Wyden 1880 [21.– 23. August 1880], in: Die Kongresse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands unter dem Sozialistengesetz. Teil II, Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED mit Unterstützung durch das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Leipzig 1980, S. 9–61, hier S. 27–38. 99 Vgl. Protokoll über den Kongreß der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen. Abgehalten vom 29. März bis 2. April 1883, Zürich 1883, in: Ebd., S. 63–122, hier S. 92 u. 109 f. 100 Vgl. die Rede Geisers am 10. Mai 1884, in: SBR 1884, V. Lp., IV. Session, Bd. 1, S. 510–514. Zur Rede Bismarcks am 9. Mai 1884 vgl. Ebd., S. 478–483. Ferner Ernst Engelberg, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878–1890, Berlin (Ost) 1959, S. 92 f.

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Dieser reformorientierte Flügel wurde durch die Reichstagswahlen vom Oktober 1884, die zu einer Verdoppelung der sozialdemokratischen Mandate (von 12 auf 24) führte, gestärkt.101 Zum offenen Konflikt mit der Parteiführung kam es noch im selben Monat, als die Regierung vom Reichstag Subventionen für Dampferlinien nach überseeischen Ländern erbat. Da mit diesen Dampfersubventionen Arbeitsplätze gesichert werden konnten, glaubte eine Mehrheit in der Fraktion dem Antrag der Regierung zustimmen zu können.102 Aber Bebel weigerte sich nachzugeben, da er in der Sache eine „prinzipielle Frage“ sah. „Die D[ampfer]s[ubvention] ist von der Kolonialpolitik und der auswärt[igen] Politik nicht zu trennen; die eine unterstützen, zwingt mit Notwendigkeit zur Unterstützung der anderen.“103 Die scharfe Kritik der Parteiführung und des „Socialdemokrat“ sowie Proteste zahlreicher Parteiorganisationen zwangen die Fraktion schließlich dazu, der Regierungsvorlage in der dritten Lesung am 23. März 1885 ihre Unterstützung zu versagen.104 Die Mehrheit der Fraktion, so schrieb Bebel kurz darauf an Engels, habe erkannt, „dass die grosse Mehrheit“ der Partei „kein Parlamenteln und Kompromisseln will und entschiedenstes Auftreten ihrer Vertreter verlangt“.105 Unter dem Sozialistengesetz blieben die Grenzen des parlamentarischen Wirkens eng gezogen, daran mochten auch die Wahlerfolge und die wachsende Stärke der Fraktion nichts ändern. Die Ausgrenzung und Ächtung der Sozialdemokraten durch das Sozialistengesetz schlossen eine Kooperation mit der Regierung aus, da sie als Zeichen der Schwäche und Unentschiedenheit gewertet worden wäre. Unbeschadet der Frontstellung gegenüber dem 101 Vgl. Ritter/Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (wie Anm. 16), S. 39. 102 Vgl. Ursula Mittmann, Das Postulat der innerparteilichen Demokratie. Der Dampfersubventionsstreit 1884/1885, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 11 (1975), S. 1–29. 103 August Bebel an Friedrich Engels, 28. Dezember 1884, in: August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels (wie Anm. 84), S. 205–209, hier S. 206. 104 Zur Abstimmung vgl. SBR 1884/85, VI. Lp., I. Session, Bd. 3, S. 2042. Vgl. Der Socialdemokrat Nr. 7 v. 12.2.1885, S. 1: „Kolonialpolitik und Dampfersubvention“; Nr. 22 vom 28.5.1885, S. 2: „Socialpolitische Rundschau“. 105 August Bebel an Friedrich Engels, 19. Juni 1885, in: August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels (wie Anm. 84), S. 224–227, hier S. 225. – So schrieb „Der Socialdemokrat“ am 4. Juni 1885: „Unsere wichtigste parlamentarische Thätigkeit findet statt vor dem Zusammentritt des Parlaments: sie besteht in der Wahlagitation und im Wählen. Die Thätigkeit in dem Parlament ist lange nicht so wichtig, obschon sie keineswegs unterschätzt werden soll. Nur darf der propagandistisch-agitatorische Zweck nie aus den Augen verloren werden. Sonst gerathen wir auf Irrwege und versinken schließlich im Sumpf des Parlamentarismus.“ Vgl. Der Socialdemokrat Nr. 23 v. 4.6.1885, S. 1: „Der Parlamentarismus und die Socialdemokratie“.

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Bismarckschen Obrigkeitsstaat, der Abneigung gegenüber jeglichem „Parlamenteln und Kompromisseln“ versuchte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag Forderungen der Arbeiterschaft offensiv umzusetzen. Da der Arbeiterschutz während der Bismarckzeit ein Stiefkind der Sozialpolitik blieb und Bismarck die Notwendigkeit und Regelungsbedürftigkeit dieser Materie grundsätzlich verneinte – die Herrschaft der Unternehmer im Betrieb sollte nicht tangiert, jede finanzielle Belastung als Gefährdung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vermieden werden106 – brachte die sozialdemokratische Fraktion am 29. Januar 1885 einen Gesetzentwurf ein, der den Zehnstundentag, den Achtstundentag für Jugendliche, das Verbot für Sonntags- und Nachtarbeit und ein umfassendes System zur Überwachung der Arbeitsverhältnisse unter Aufsicht eines Reichsarbeitsamtes postulierte.107 Wenn er ebenso wie der ein Jahr später erneut eingebrachte Antrag im Parlament auch keine Mehrheit fand108, so dokumentierte er doch das Bemühen der Sozialdemokraten um Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Wählerklientel und der Nutzung der sich ihnen bietenden legislativen Möglichkeiten. Das Verhältnis der Sozialdemokraten zum Parlament und die von ihr zu verfolgende parlamentarische Taktik fanden noch einmal auf dem Parteitag in St. Gallen 1887 Berücksichtigung. Nach den Auseinandersetzungen mit dem reformorientierten Flügel versuchte Bebel die bislang in Geltung stehenden Grundsätze und Prinzipien zu bekräftigen. Es bestehe, so Bebel, kein Zweifel darüber, „daß die Macht der sozialdemokratischen Partei wesentlich mit auf ihrer parlamentarischen Tätigkeit und der Teilnahme an den Wahlen beruhe. Nicht die Teilnahme an den Wahlen sei es also, was der Partei zum Schaden gereiche, sondern nur die Überschätzung des Parlamentarismus könne gefährlich werden. Wer freilich glaube, daß auf dem heutigen, parlamentarisch-konstitutionellen Wege die letzten Ziele des Sozialismus erreicht werden könnten, kenne die Ziele entweder nicht oder sei ein Betrüger.“109 In der vom Parteitag beschlossenen Resolution wurde schließlich deutlich gemacht, dass „das Hauptgewicht auf die kritische und agitatorische Seite zu legen und die positive gesetzgeberische Tätigkeit nur in der Voraussetzung zu pflegen“ sei, 106 Vgl. Bismarcks Reichstagsrede vom 9. Januar 1882: SBR 1881/82, V. Lp., I. Session, Bd. 1, S. 484–489; Otto Pflanze, Bismarck and the development of Germany, 3 Bde., Princeton/New Jersey 1963/1990, hier Bd. 3, S. 171 f. 107 Vgl. SBR 1884/85, VI. Lp., I. Session, Bd. 5, Anlagen, Nr. 144, S. 519–524. 108 Vgl. Seeber, Sozialdemokratie (wie Anm. 1), S. 44. 109 Vgl. Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage (wie Anm. 29), S. 389; zum SPD-Parteitag von 1887 vgl. Ursula Herrmann (Hg.), Die Kongresse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands unter dem Sozialistengesetz. Reprint der Originalausgaben 1880–1887, Leipzig 1980, S. 123–168.

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„daß bei dem heutigen Stand der Parteigruppierung und der ökonomischen Verhältnisse über die Tragweite dieser positiven Tätigkeit im Parlament für die Klassenlage der Arbeiter in politischer wie ökonomischer Hinsicht kein Zweifel gelassen und keine Illusion geweckt werden“ könne.110 Diese Entschließung trug den innerparteilichen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre Rechnung und versuchte ein Fazit der bisherigen Erfahrungen zu ziehen. Wenn auch die Grenzen der parlamentarischen Möglichkeiten deutlich aufgezeigt wurden und die „kritische und agitatorische Seite“ des parlamentarischen Wirkens hervorgehoben wurde, so ging die Würdigung der „positiven gesetzgeberischen Tätigkeit“ über die Beschlüsse vergangener Parteitage hinaus und ließ ein allmähliches Aufgehen im parlamentarischen Leben und die Anerkennung des parlamentarischen Systems, seiner Grundprinzipien und Werte deutlich werden. Auch Liebknecht schien in den folgenden Jahren von seiner prinzipiellen Gegnerschaft gegenüber dem parlamentarischen System abzurücken. In einer heftig geführten Debatte zum Sozialistengesetz lehnte er 1886 zwar erneut ein nicht auf dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht beruhendes, machtloses Parlament ab. Verstehe man unter Parlamentarismus aber eine „auf Grund des ehrlich gehandhabten allgemeinen direkten Wahlrechts“ zusammengesetzte Volksvertretung, „welche den Volkswillen voll und ganz zum Ausdruck und zur Geltung bringt, bin ich allerdings ein Anhänger des Parlamentarismus“.111

7. Schluss Die Haltung der frühen Sozialdemokratie zum parlamentarischen System war lange Zeit ausgesprochen ambivalent. Einerseits war eine parlamentarische Demokratie anfangs das erklärte Ziel der beiden Arbeiterparteien, der Lassalleaner und der 1866 von Bebel und Liebknecht gegründeten Sächsischen Volkspartei. Andererseits förderte die Frontstellung gegenüber dem Bismarckschen Obrigkeitsstaat eine zwischen offener Ablehnung und kühler Zurückhaltung oszillierende Haltung gegenüber dem Reichstag. Angesichts seiner relativen Machtlosigkeit im bestehenden konstitutionellen Verfassungssystem und seiner demokratischen Defizite konnte das Parlament den Ansprüchen der Sozialdemokraten nicht genügen. Direktdemokratische Forderungen oder utopische Vorstellungen vom sozialistischen Zukunftsstaat flossen in diese ableh110 Vgl. Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage (wie Anm. 29), S. 389. 111 Rede Liebknechts in der 80. Sitzung des Reichstags am 2. April 1886, in: SBR 1886, VI. Lp., II. Session, Bd. 3, S. 1840, die Rede insges. S. 1838–1847.

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nende Haltung mit hinein. An den Reichstagswahlen wollte sich die Partei deshalb lediglich aus agitatorischen Gründen beteiligen. Im Parlament sollten sich ihre Vertreter rein negierend verhalten und eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien ablehnen. Dennoch begann die Partei allmählich in das parlamentarische System hineinzuwachsen. Die Eigendynamik des Parlaments, der Einfluss der früheren Mitglieder des ADAV, und die wachsende Stärke der Sozialdemokraten, die seit 1884 Fraktionsstatus hatten, förderten diesen Prozess. Das Sozialistengesetz führte schließlich zur Neubewertung des Reichstags, der das einzige legale Forum darstellte, das die Partei nutzen konnte, und zu einer Schwerpunktverlagerung auf die Reichstagsfraktion, die zum maßgebenden politischen Entscheidungs- und Beschlussgremium avancierte. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 blieb die SPD innerlich gespalten. Während sich ein Teil der Partei auf die Parlamentsarbeit konzentrierte und die Ideologie mit ihrer Verheißung vom großen „Kladderadatsch“ den Realitäten anzupassen versuchte, waren andere auch weiterhin der Überzeugung, dass die Umwandlung der Gesellschaft nur auf revolutionärem Weg zu erreichen sei und maßen dem Parlament nur einen begrenzten Wert bei. Dennoch führten die Wahlerfolge der Partei und die wachsende Stärke der Fraktion, die bis 1912 mit dann 110 Abgeordneten zur stärksten Kraft im Parlament aufstieg, zu einer weitgehenden Anerkennung des parlamentarischen Systems. Die relative Machtlosigkeit des Reichstages, der keinen Einfluss auf die Bildung der Regierung besaß, und die ungleichen Wahlsysteme auf Länder- und Gemeindeebene verhinderten es jedoch, dass die Partei sich mit dem verfassungspolitischen Status quo abfinden konnte.

KARL HEINRICH POHL

Süddeutsche Wege zur Parlamentarisierung? Die SPD in Bayern, Baden und Württemberg (1890–1903)

Das Thema „Sozialdemokratie und Parlamentarismus 1890–1903“ ist wie ein Fass ohne Boden. Zum einen, weil die politische und theoretische Meinungsbildung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie in dieser Zeit höchst disparat und sehr intensiv war, die Entwicklungen daher so verschieden verliefen, dass allgemein gültige Aussagen kaum gemacht werden können.1 Das gilt besonders für die Länder und für die Kommunen, obwohl dort wohl eher von einer Vorform von Parlamentarismus gesprochen werden kann. Ein solcher Zeitrahmen ist zum anderen auf den ersten Blick zwar hilfreich, trifft diese Thematik jedoch nur partiell. Die Reichstagswahlen von 1890 und 1903 markieren sicherlich gewisse Eckpunkte. Mit ihnen würde man aber nur auf eine, die oberste Ebene der Politik abzielen. Aus der Historiographie zur Geschichte der Sozialdemokratie und des Kaiserreiches ergeben sich diese Zäsuren jedoch nicht zwingend.2 Die Analyse hier wird daher die Vorgabe, einen Schwerpunkt in den zehn Jahren vor dem spektakulären Wahlerfolg von 1903 zu setzen, leicht erweitern und zugleich etwas verengen. Der zeitliche Rahmen soll etwas stärker ins 20. Jahrhundert hinein ausgeweitet werden. Viele Vorstellungen der Sozialdemokratie zu dieser Thematik bildeten sich zwar schon Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus; sie aktivierten sich aber vielfach erst deutlich später. Das Untersuchungsobjekt wiederum, die Sozialdemokratie, wird deutlich eingegrenzt. Die Partei war zwar zentral organisiert, aber kein Monolith. Es gab eine Fülle von verschiedenen, 1 Zum Stand der Forschung vgl. Peter Brandt/Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013. Immer noch lesenswert Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis zur Gegenwart, München 1999; Heinrich Potthoff/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848–2002, 8. Aufl. Bonn 2002; Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992. Anregend: Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung, 1848–1863–2013, 2. Aufl. Bonn 2013. Knappe Zusammenfassung: Bernd Faulenbach, Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012. 2 Vgl. dazu Faulenbach, Geschichte der SPD, und Brandt/Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“, in deren Werken diese Daten keineswegs wichtige Zäsuren darstellen.

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ja sogar auseinanderdriftenden Tendenzen. Deswegen werden im Folgenden dort Schwerpunkte gesetzt, wo das Thema Parlamentarismus innerhalb der Partei bereits in dieser frühen Zeit virulent war, intensiv diskutiert wurde und auf der politischen Agenda ganz vorne stand. Die Reichsebene sowie auch Preußen kommen insofern kaum infrage. Intensive Diskussionen aufgrund eigener Erfahrungen kamen dort erst deutlich später auf. Anders ist jedoch die Situation in den süddeutschen Ländern, der sozialdemokratischen Diaspora. Dort war das Thema nicht nur von theoretischer, sondern vor allem auch von ganz praktischer Bedeutung.3 Aus diesem Grunde werden die Reichsebene und Preußen, die für die Sozialdemokratie deutlich repräsentativer wären, zu Gunsten der süddeutschen Regionen vernachlässigt. Auch auf kommunaler Ebene gab es bereits seit Beginn der 90er Jahre frühe Kooperationen zwischen den verschiedenen Parteien (einschließlich der Sozialdemokraten) in den städtischen Gremien.4 Die Kommunen 3 Maja Christ-Gmelin, Die Württembergische Sozialdemokratie 1890–1914, Stuttgart 1976; Beverly Heckart, From Bassermann to Bebel, New Haven 1974; Gerhard A. Ritter (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München 1990; Jörg Schadt, Die Sozialdemokratische Partei in Baden. Von den Anfängen bis zur Jahrhundertwende (1868–1900), Hannover 1971; ders./Wolfgang Schmierer (Hg.), Die SPD in Baden-Württemberg und ihre Geschichte. Von den Anfängen der Arbeiterbewegung bis heute, Stuttgart 1979; Hannelore Schlemmer, Die Rolle der Sozialdemokratie in den Landtagen Badens und Württembergs und ihr Einfluss auf die gesamte Partei zwischen 1890 und 1914, Diss. Freiburg 1953; Jürgen Thiel, Die Großblockpolitik der Nationalliberalen Partei Badens 1905–1914, Stuttgart 1976; David Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany. The Centre Party in Württemberg before 1914, Wiesbaden 1980; Klaus Simon, Die Württembergischen Demokraten. Ihre Stellung und Arbeit im Partei- und Verfassungssystem in Württemberg und im Deutschen Reich 1890–1920, Stuttgart 1969; Hans-Joachim Franzen, Auf der Suche nach politischen Handlungsspielräumen. Die Diskussion um die Strategie der Partei in den regionalen und lokalen Organisationen der badischen Sozialdemokratie zwischen 1890 und 1914, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1987; Heinrich Hirschfelder, Die bayerische Sozialdemokratie 1864–1914, 2 Bde., Erlangen 1979; Reinhard Jansen, Georg von Vollmar. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1958; Karl Möckl, Die Prinzregentenzeit. Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold in Bayern, München 1972, und Karl Heinrich Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992. 4 Karl Heinrich Pohl, Die Sozialdemokratie in München. Zur Vorstellungswelt und sozialen Struktur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der bayerischen Landeshauptstadt, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 28 (1992), S. 293–319.

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würden sich insofern als Untersuchungsobjekt anbieten, gerade auch für Süddeutschland. Bei kommunaler Politik wird man jedoch nur sehr begrenzt von Parlamentarismus sprechen können, selbst wenn es eine Fülle von Ansätzen gab, die einer Vorstufe von Parlamentarismus entsprachen.5 Zweifellos sind die Kommunen aber vielfach Vorläufer für die parlamentarischen Bemühungen der Sozialdemokratie (nicht nur) in Süddeutschland gewesen.

1. Grundlagen sozialdemokratischer Parlamentspolitik im südlichen Deutschland Die Konzentration auf Süddeutschland ist einerseits eine starke Einschränkung, treffen die dortigen besonderen Verhältnisse doch nicht für die gesamte Partei zu. Allerdings wird durch eine solche regionale Sichtweise der Blick weg von Preußen gewendet, das in der Regel im Mittelpunkt der deutschen Geschichte und der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei steht. Das erweitert andererseits zweifellos die Perspektive. Die süddeutschen Ableger der SPD waren es zudem, die einen Zweig innerhalb der Sozialdemokratie widerspiegeln, der mit seiner reformorientierten Politik eine besondere Aktivität entwickelte und Einfluss auf die Gesamtpartei zu nehmen versuchte. Das zeigen die Diskussionen über Budgetbewilligung oder Landagitation auf den Parteitagen der Sozialdemokratie bis zum Jahre 1914.6 Hier meldete sich die süddeutsche Gruppe häufig zu Wort und betrieb durch ihre engagierte Politik bisweilen fast den Bruch der Partei.7 Bei der Auswahl der Quellen werden ebenfalls eher ungewöhnliche Wege beschritten und zugleich enge Grenzen gezogen. Das Naheliegende wäre es, sich mit den theoretischen Schriften und den daraus entstehenden Auseinandersetzungen der Parteispitzen zu befassen. Die Sozialdemokratie insgesamt verstand sich schließlich als eine bewusst theorieorientierte Partei. Nicht zuletzt haben immer wieder theoretische Auseinandersetzungen innerhalb der Führung und ihrer verschiedenen Flügel das Bild der Sozialdemokratie nach 5 Dieter Langewiesche, Kommunaler Liberalismus im Kaiserreich. Bürgerdemokratie hinter den illiberalen Mauern der Daseinsvorsorge-Stadt, in: Detlef Lehnert (Hg.), Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900, Köln 2014, S. 39–71. 6 Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890–1900, 2. Aufl. Berlin 1963, S. 128 ff. 7 Vgl. dazu Karl Heinrich Pohl, „Bayerischer Separatismus“. Zwei neue Quellen zur Geschichte des Budgetstreits in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Nürnberger Parteitag 1908 und Magdeburger Parteitag 1910), in: IWK 22 (1986), S. 196–223.

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innen und außen geprägt.8 Hier wird jedoch anders verfahren. Als Basis der Untersuchung kommt vor allem die einfache sozialdemokratische Mitgliedschaft zu Wort, deren Intentionen in der Literatur meist unterrepräsentiert sind. Ihre Vorstellungen und ihre Sprache sind jedoch auch heute noch sehr anrührend, überzeugend und in ihrer Klarheit kaum zu übertreffen. Die konkrete Sprache gerade der bayerischen Sozialdemokraten ist in dieser Frage besonders stimmig, auch wenn sie über das Protokoll eines überwachenden Polizisten transportiert wurde – und sie ist zudem sehr gut überliefert.9 Diese Diskussionen stellten zweifellos auch die Grundlage für die Entscheidungen der Parteiführung des Landes dar.10 Eine solche Schwerpunktbildung hat jedoch Folgen für die Analyse, da theoretische Aspekte auf diese Weise eher vernachlässigt werden. Allerdings haben Elitendebatten nur allzu oft im Mittelpunkt der Diskussion über die Politik der Sozialisten gestanden. Ein Perspektivwechsel dürfte hier ebenfalls nicht schaden. „Die Stellungnahme der Sozialdemokratie in den süddeutschen Parlamenten wich erheblich von der der norddeutschen Parteiorganisationen, insbesondere Preußens und Sachsens ab“, so beginnt Merith Niehuss ihre knappe Darstellung über die „Stellung der Sozialdemokratie im Parteiensystem Bayerns, Württembergs und Badens“.11 In der Tat, der Süden tickte anders – und es lässt sich zeigen, dass dort am Ende des 19. Jahrhunderts auch das Thema „Sozialdemokratie und Parlamentarismus“ recht pragmatisch und sehr intensiv, in jedem Fall aber anders als in Sachsen und Preußen, behandelt wurde. Hier im Süden des Deutschen Reiches war die Sozialdemokratie bereits um die Jahrhundertwende ein wichtiger, wenn auch ein zahlenmäßig noch kleiner Faktor in den dortigen (vor)parlamentarischen Systemen. Die süddeutschen Sozialisten wollten diese Systeme zwar auch, wie die Berliner Parteiführung, verändern, sie bemühten sich jedoch schon Ende des 19. Jahrhunderts darum, mit anderen (fortschrittlichen) politischen Kräften zu kooperieren, um auf diese Weise bereits in der Gegenwart die Lage der Unterschichten zu verbessern. Diese Zielsetzung wurde sowohl von der politischen Basis als auch von den Funktionären und der Führungsspitze in ganz Süddeutschland 8 Brandt/Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“, S. 79 ff. 9 Vgl. dazu Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 149 ff. Dort wurden fast 1000 Reden und Diskussionen in den oberbayerischen Sozialdemokratischen Vereinen ausgewertet. 10 Damit kann vielleicht sogar ein bescheidener Beitrag zur Problematik des Verhältnisses von Parteibasis und Parteiführung in der Sozialdemokratie am Beispiel Bayerns geleistet werden. 11 Merith Niehuss, Die Stellung der Sozialdemokratie im Parteiensystem Bayerns, Württembergs und Badens, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, S. 103–126, hier S. 103.

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gemeinsam verfolgt. Eine solche Politik ergab sich nicht in erster Linie aus theoretischen Überlegungen, sondern vor allem aus der täglichen politischen Praxis. Die (auch) im Süden stattfindenden Diskussionen über Revisionismus und Reformismus waren daher nicht der Auslöser für die süddeutsche Politik, sondern die realen Verhältnisse und die konkrete Politik in Süddeutschland waren die Grundlage für die späteren theoretischen Diskussionen. Ohne allzu sehr darüber zu reflektieren, nahmen viele süddeutsche Sozialisten ihre Reformvorhaben in Angriff. Nicht alle von ihnen glaubten, dadurch die Gesellschaft grundsätzlich verändern zu können, wie es die Grundlage der Theorie der Parteiführung vorsah. Vielen kam es darauf auch nicht in erster Linie an.

2. Die sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen in den süddeutschen Ländern12 Eine Reihe von Faktoren spielte für diese politische Einstellung eine wichtige Rolle. In erster Linie ist der relativ geringe Grad der Industrialisierung im Vergleich etwa zu Sachsen13, aber auch zu großen Teilen Preußens zu nennen. Im Süden waren es die wenigen großen Städte, wie Augsburg, Nürnberg, Ludwigshafen und München in Bayern, Stuttgart in Württemberg oder aber Mannheim und Karlsruhe in Baden, die die allmählich wachsenden industriellen Kristallisationspunkte darstellten. Sie hatten sich aber in der Regel aus dem örtlichen Handwerk entwickelt, wurden z.T. auch noch patriarchalisch geführt.14 Die großen Textilfabriken Bayerns lagen oft auch in der Peripherie des Landes, etwa in Kempten oder Memmingen. Zugleich trat diese Industrialisierung deutlich verspätet ein, vergleicht man sie mit Sachsen, der am frühesten industrialisierten Region in Deutschland. Diese Phasenverschiebung, verbunden mit einem wenig spektakulären Umstrukturierungsprozess, hatte wiederum einen großen Einfluss auf die soziale und gesellschaftliche Bewältigung dieses Problems und hat die gemäßigte Politik von Arbeitern, aber auch von Unternehmern mit bestimmt. Dies hing nicht zuletzt mit der 12 Zu Baden und Württemberg vgl. Schadt/Schmierer, Die SPD in Baden-Württemberg, und Maja Christ-Gmelin, Die Württembergische Sozialdemokratie. 13 Zu Sachsen vgl. u.a. Gerhard A. Ritter, Das Wahlrecht und die Wählerschaft der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen 1867–1914, in: Ders., Der Aufstieg der Arbeiterbewegung, S. 49–101, sowie den Sammelband Simone Lässig/Karl Heinrich Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar 1997. Ferner ausführlich: Simone Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlreform in Sachsen (1895–1909), Köln 1996. 14 Niehuss, Die Stellung, S. 103 ff.

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starken Dezentralisierung der Industrie zusammen, wie das Beispiel Württemberg belegt: „Viele heute bedeutende Industriebetriebe [dort] entstanden in Dörfern, zunächst abseits von den frühen Schwerpunkten der Industrialisierung“15, vor allem im Neckartal (Reutlingen, Esslingen, Heilbronn). In Baden entstanden sie wiederum zuerst im Wiesental, in Offenburg oder Ettlingen. Häufig wurde zudem von den Arbeitern auch noch Landwirtschaft nebenbei betrieben, d.h. Arbeiterbauern mit eher traditionellen Vorstellungen waren ein wichtiger Faktor, den die Sozialdemokratie überall im Süden berücksichtigen musste.16 Industrielle Großbetriebe wie etwa die Münchner Lokomotiv- und Maschinenfabrik Maffei stellten noch eine Ausnahme dar17, wenngleich in Nürnberg die Metallverarbeitung, in Augsburg die Textilverarbeitung oder in Ludwigshafen die Chemieindustrie bereits eine Leitfunktion einnahmen. Alles in allem aber dominierten im Süden Klein- und Mittelbetriebe. Dementsprechend war auch die Zahl der Facharbeiter überproportional hoch; die unoder angelernten Arbeiter stellten dort nur ein Viertel aller Arbeitnehmer.18 In München arbeiteten im Schnitt nur etwa 4,2 Personen in einem Betrieb. Diese Zusammensetzung war für die Regionen Preußens, die durch die Schwerindustrie geprägt waren, ganz untypisch. Ein zweiter Aspekt betrifft die agrarische Struktur aller drei süddeutschen Länder. Der in Preußen extrem wichtige Großgrundbesitz, dessen 0,6 % der Betriebe mehr als 28 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche beherrschten, spielte dort kaum eine Rolle.19 Die etwa 0,1 % bayerischer Großgrundbesitzer bearbeiteten nur etwa 1,5 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Insgesamt war damit der Anteil der Betriebe mit mehr als 100 ha gegenüber Sachsen sechsmal und gegenüber Preußen fast dreizehnmal geringer. Lujo Brentano stellte schon im Jahr 1899 fest, dass „die so manigfachen politischen Unterschiede zwischen dem Nordosten und namentlich Bayern“ genau darauf beruhten.20 Die dadurch vielfach gegebene Nähe des Kleinbauerntums zu den süddeutschen Arbeiterbewegungen führte wiederum zu einer deutlich anderen Haltung gegenüber der Landbevölkerung als in Sachsen und dem agrarisch 15 Schadt/Schmierer, Die SPD in Baden-Württemberg, S. 20. 16 Hans Ott, Industrie und Handel: „Glück auf zur Fahrt ins 20. Jahrhundert“, in: Ein Jahrhundert beginnt. Baden und Württemberg 1900 bis 1914, Hg. Haus der Geschichte Baden-Württembergs, Tübingen 1966, S. 120–130, hier S. 124. 17 Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 56 ff.; danach auch die folgenden Gedanken. 18 Ders., Zur Vorstellungswelt, S. 313. 19 Ders., Münchener Arbeiterbewegung, S. 45 f.; danach auch der folgende Gedanke. 20 Lujo Brentano, Warum herrscht in Altbayern bäuerlicher Grundbesitz?, in: Ders., Erbrechtspolitik. Alte und neue Feudalität, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Stuttgart 1899, S. 223–267, hier 223.

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geprägten Preußen.21 Die vielen Verbindungen zu den Kleinbauern und Tagelöhnern wurden zwar durch die Frankfurter Parteitagsbeschlüsse von 1894, die sich gegen eine solche Agraragitation wendeten, erheblich erschwert, eine gemäßigte Bauernschutzpolitik wurde aber auch weiterhin von allen drei süddeutschen Ländern betrieben. Hinzu kam die Bedeutung des Katholizismus. In Bayern waren etwa 70 % der Bevölkerung katholisch, in Baden 60 % und in Württemberg immerhin noch 30 %. Wo aber der Katholizismus dominierte, hatte es die Sozialdemokratie schwer, in dessen Milieu einzubrechen. Das galt besonders für die Landbevölkerung, aber auch für die Arbeiter. Denn eine katholische Sozialdemokratie schien kaum denkbar, es sei denn, sie besaß einen Sondercharakter, wie in Süddeutschland.22 Immerhin: In Baden und Württemberg konzentrierte sich der protestantische Bevölkerungsteil vor allem um die Industriezentren. Dort konnte sich die Sozialdemokratie etwas leichter entfalten. Diese Grundtatsachen bestimmten auch die soziale Struktur der süddeutschen Arbeiterbewegungen. Sie waren keine reinen Proletarierparteien, sondern rekrutierten einen großen Teil ihrer Wähler- und Anhängerschaft, ja auch ihrer Mitglieder, aus bürgerlichen Schichten. „Eine zeitgenössische Auszählung ergab, dass bei den Reichstagswahlen 1893 und 1898 mindestens ein Viertel der sozialdemokratischen Wähler aus bürgerlichen Schichten stammten, in den Großstädten sogar ein Drittel bis die Hälfte“.23 Hierbei hatte es die Sozialdemokratie in Württemberg, anders als ihre bayerischen Genossen, besonders schwer, war die dortige, linksliberal orientierte Deutsche Volkspartei doch ein sehr ernst zu nehmender Konkurrent beim Kampf um das linke Bürgertum. Die Bedeutung des (Klein-)Bürgertums für die süddeutschen Sozialisten wird durch die Sozialstruktur der Partei bestätigt, wie das Beispiel des überwiegend katholischen München überdeutlich zeigt. Im Jahre 1906 waren dort knapp 23 % der Mitglieder des Sozialdemokratischen Vereins (insgesamt 6704) dem Kleinbürgertum zuzurechnen, im sächsischen Leipzig hingegen nur 8 % und in Frankfurt a.M. nur 6 %. Zwar hatte München bis zum Krieg 21 Vgl. dazu den Agrartheoretiker der süddeutschen Sozialdemokratie, Arthur Schulz, Agrartheoretische und agrarpolitische Wandlungen in der deutschen Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte 19 (1913), S. 153–165. Dazu Karl Heinrich Pohl, Zur Agrarpolitik der bayerischen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert: Die theoretischen Überlegungen von Arthur Schulz, in: IWK 26 (1990), S. 1–14. 22 Vgl. dazu Karl Heinrich Pohl, Katholische Sozialdemokraten oder sozialdemokratische Katholiken in München: ein Identitätskonflikt?, in: Olaf Blaschke/Frank Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich: Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 233–253, hier S. 233 f. 23 Niehuss, Sozialdemokratie, S. 104.

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immer eine zu gut 70prozentige Arbeiterpartei, seit 1898 gehörten aber mindestens immer auch ein Sechstel ihrer Mitglieder zur (unteren) Mittelschicht.24 Ein weiterer wichtiger Faktor war das Verhältnis der süddeutschen Regierungen gegenüber der Arbeiterbewegung. Die besonderen Rahmenbedingungen hatten nicht nur Rückwirkungen auf die Politik der dortigen Sozialdemokraten, sondern beeinflussten auch die Politik der Regierungen. Klar war, dass in diesen Regionen, anders als etwa in Sachsen und Preußen, die Sozialisten kaum dominierend werden würden. Sie stellten für das System insofern keine unmittelbare Gefahr dar. Vorläufig handelte es sich nur um Kleinstfraktionen, ohne bedeutenden politischen Einfluss. Das führte zu einer gewissen Offenheit gegenüber den sozialdemokratischen Bewegungen. Dies bedeutete allerdings nicht, dass in allen drei Ländern die staatliche Beobachtung und Kontrolle etwa eingestellt oder auf alltägliche Schikanen verzichtet worden wäre.25 Fazit: „Obwohl in beiden Ländern [Baden und Württemberg] eine Parlamentarisierung bis 1918 unterblieb, wuchsen im staatlichen Bereich während des späten 19. Jahrhunderts die Möglichkeiten politischer Teilnahme für breitere Bevölkerungsschichten erheblich, sehr zum Unterschied zu Preußen…“.26 Gleiches galt für Bayern. Man ließ die Sozialdemokraten staatlicherseits weitgehend gewähren, auch wenn man sie von Zeit zu Zeit in ihre Schranken verwies und sie, wo es nur ging, benachteiligte. Wegen dieses milden Klimas richtete sich in den süddeutschen Ländern die Politik der Sozialdemokratie auch nicht in erster Linie gegen den Staat und seine Organe, sondern vor allem gegen die politische (Parteien-)Konkurrenz. Im Süden waren Zentrum und Liberale die stärksten Kräfte und mithin die politischen Hauptgegner. In Bayern zählten das Zentrum, bis 1887 „Bayerische Patriotenpartei“, die etwas schwächelnden Liberalen, die im gleichen Jahr ihre absolute Mehrheit verloren hatten, und der im Zuge der Agrarkrise 1893 vor allem in Niederbayern reüssierende Bayerische Bauernbund zu den größten politischen Konkurrenten. Vor allem mit ihnen setzten sich die Sozialisten auseinander. In Württemberg gab es zu Beginn der 90er Jahre fast noch keine Politisierung im parteipolitischen Sinne. Es dominierte bei den Wahlen jedoch die linksbürgerliche Volkspartei, die sich seit der Gründung der Landtagsfraktion 1894 mit dem Zentrum und den Nationalliberalen auseinandersetzte. Das Zentrum stellte auch dort den politischen Hauptfeind dar und wurde von den dortigen Sozialdemokraten als größtes Fortschrittshemmnis massiv bekämpft. 24 Pohl, Zur Vorstellungswelt, S. 315 ff. 25 Ritter, Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, S. 128 ff. 26 Schadt/Schmierer, Die SPD in Baden-Württemberg, S. 22. Danach, S. 22 ff., auch die folgenden Gedanken.

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Ähnliches traf auf Baden zu. Dort hatten sich die Nationalliberalen des Zentrums zu erwehren, das um die Jahrhundertwende gleichstark und dann sogar stärkste Partei wurde. Die katholische Partei wurde auch hier von der Sozialdemokratie als größtes Hemmnis für jeglichen Fortschritt erlebt. Bis heute hat sich mehr oder weniger deutlich gezeigt, dass die hier genannten Faktoren der Ausbreitung der Sozialdemokratie in Süddeutschland, auch ohne restriktive Rahmenbedingungen, nicht besonders förderlich waren. Nirgendwo konnte sie in ihrer Geschichte dort langfristig zur Mehrheitspartei werden – auch im 21. Jahrhundert (noch) nicht. Die Sozialdemokratie musste sich also in diesen besonders gering industrialisierten, vom Kleinbauerntum und der katholischen Konfession geprägten süddeutschen Staaten auf ein deutlich breiteres Klientel einstellen. Einerseits ging es darum, immer weiter in das (klein-)bürgerliche Wählerpotential einzudringen, noch stärker um kleine Selbständige, Angestellte und andere Mittelständler zu werben, in Konkurrenz zu den Liberalen. Andererseits kam es darauf an, sich auch mit der kleinbäuerlichen Bevölkerung zu arrangieren, sie zu umwerben und auf ihre elementaren Wünsche einzugehen, meist in Konkurrenz zum Zentrum. Darüber hinaus hatte die Partei die Bedeutung der katholischen Konfession zu berücksichtigen. Die katholische Arbeiterschaft durfte nicht mit allzu radikalen Forderungen verschreckt und ihr mussten zugleich praktische Vorteile verschafft werden. Insgesamt galt für alle sozialistischen Parteien in Süddeutschland daher, und nicht nur für die württembergische Sozialdemokratie, das gesamte arbeitende Volk anzusprechen, „nicht nur die Industriearbeiter in den Städten …, sondern … [auch]: Kleinbauern, Weingärtner, Handwerker, kleine Angestellte und Beamte“.27 Wollten die süddeutschen Sozialdemokraten reüssieren, mussten sie ihren potentiellen Anhängern und Wählern praktische Vorteile bieten, die diese veranlassten, ihre politischen Positionen aufzugeben, die alten Milieus zu verlassen und zu den Sozialdemokraten zu wechseln.28 Nicht zuletzt galt es, die Spielräume zu nutzen, die Staat und Behörden den Sozialisten gewährten, zugleich aber den Staat nicht durch überzogene, das bestehende System gefährdende Forderungen zu verschrecken. Das hieß aber auch, dass die Sozialdemokratie im Süden ihren reformorientierten Charakter betonen und sich geradezu an der parlamentarischen Arbeit beteiligen musste.

27 Ebd., S. 108. 28 Zur Bedeutung der politischen Milieus im deutschen Kaiserreich vgl. Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme, Frankfurt a.M. 1992.

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3. Zur Vorstellungswelt der süddeutschen Sozialisten Welche politischen Vorstellungen entwickelten sich nun aus diesem Konglomerat von Strukturmerkmalen? Um diese Frage zu beantworten, sollen die Vorstellungen der besonders gut von der Polizei dokumentierten oberbayrischen Genossen, als Paradigma für den Süden des Reiches, direkt zu Wort kommen:29 „Der Altbayer ist von einfacher, gerader, kräftiger Art, allem Gekünstelten abhold. Das phlegmatische und das sanguinische Temperament mengen sich in ihm in eigentümlicher Weise. Er lässt sich im allgemeinen nicht so leicht aus seinem Gleichmut bringen, entwickelt keine hervorragende Unternehmungslust, mengt sich wenig in Anderer Sachen, mag sich aber auch nicht gern in seine eigenen dreinreden lassen; in Erregung gebracht, neigt er aber zu Trotz und Gewaltsamkeit. Sonst ist er gutmütig, leichtlebig und genussfreudig, er zeigt mehr Anlage für Gefühlseindrücke als für verstandesmäßiges Grübeln und hat vor allem einen offenen Sinn für die Schönheit der Natur und der Kunst. Im Umgang herrscht ein gewisser demokratischer, ungebundener Zug; die gesellschaftlichen Unterschiede spielen keine große Rolle, und bei Krug und Vergnügen verkehren die Stände und Klassen friedlich miteinander, ohne dass sich der Eine um Beruf und Vermögen des Anderen viel kümmert, Überhebung oder Unterwürfigkeit zu Tage tritt“.

Mit diesen Worten stellte im Jahre 1902 die bayerische Sozialdemokratie sich und ihr Land den Genossen aus dem Reiche vor, die als Gäste zum Parteitag in die Landeshauptstadt gekommen waren. Das Urteil über den Habitus „der“ Bayern kann insofern durchaus als Selbstverständnis der sozialdemokratischen Führung und ihrer Politik in Bayern gewertet werden. Es trifft weitgehend auch das Selbstverständnis der Genossen in Württemberg und Baden. In diesem Sinne sind auch die Ausführungen des württembergischen Sozialdemokraten Jacob Stern im Jahre 1894 zu werten:30 „Gegen die preußische Politik der Gewalttätigkeit (unter gesetzlichen Formen), gegen das schneidige Draufgängertum der Bürokratie, gegen Säbelherrschaft und Polizeiwillkür hat man im schwäbischen Volk von jeher Abneigung und Widerwillen gehegt. Ein gewisser Zug der Toleranz in Religion wie in Politik sticht hierzulande wohl29 München-Festschrift zum Parteitag der deutschen Sozialdemokratie, 14. bis 20. September 1902, München 1902, S. 6. 30 Jacob Stern, Schwäbische Tagwacht, 18.12.1894, zit. nach: Christ-Gmelin, Die württembergische Sozialdemokratie, S. 108.

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tätig ab gegen jenen preußischen Fanatismus, der gleich bei der Hand ist, gegnerische Meinungen niederzuknüppeln … Auch zwischen Sozialdemokraten und bürgerlichen Schichten hat sich nicht jene schroffe Feindseligkeit ausgebildet wie anderwärts …“.

Diese Selbstzuschreibung kam nicht nur von oben, von der Parteispitze, sondern entsprach weitgehend auch den Vorstellungen der meisten Anhänger. Das zeigt besonders eindringlich die Diskussion im Sozialdemokratischen Wahlverein in Kempten vom 1. September 1900, eine Diskussion, die geradezu paradigmatisch für die Mentalität der sozialdemokratischen Wahlvereine in Oberbayern stehen kann, wo eine Arbeiterschaft über Sozialismus diskutierte, die immerhin in den Großproduktionsstätten der Textilindustrie sozialisiert worden war.31 Dort wurde die Frage intensiv behandelt, was das schönste Ziel eines ehrlichen und rechtschaffen denkenden Arbeiters sei. Der Ortsvorstand Fertl beantwortete die Frage folgendermaßen: „Das schönste Ziel … sei die Ruhe. Jeder Arbeiter solle soweit kommen, dass er sich ruhig und ordentlich verhalte, so dass allgemein Ruhe herrsche. Hierzu müsse der Arbeiter denken lernen und wirklich Mensch werden, nicht bloße Arbeitsmaschine sein. Goethe selbst habe gerufen ‚Mehr Licht‘. Der Arbeiter solle ein klassenbewusster Arbeiter werden, vorwärts, nicht rückwärts schreiten, seine Mitarbeiter und Mitmenschen aufklären. Wenn alle Menschen soweit seien, dann werden keine Ungehörigkeiten mehr vorkommen, dann brauche nicht für Ordnung und Ruhe erst gesorgt werden, sondern jeder halte schon so Ordnung und Ruhe und habe auch Ruhe. Das schönste Ziel sei das Wirken dahin.“ Der Genosse Hassemann wiederum nahm folgendermaßen zu dieser Frage Stellung: „Das schönste Ziel ist die Freiheit der Arbeit. Wenn ein Mensch hingeht und schafft und wirkt für die Befreiung der Arbeit, dann habe er das schönste Ziel erreicht. Auch nach ihm [Hassemann] soll der Arbeiter ein denkender, vorwärts strebender Arbeiter werden und sein ehrlich, fleißig und brav, er solle seine Stellung zu verbessern suchen; nur der schlecht gestellte Arbeiter werde ein Lump, und zwar naturnotwendig, nicht aber der gut gestellte ... Es solle soweit kommen, dass jeder Mensch Schutzmann sei

31 Bericht des Magistrats der Stadt Kempten (7.9.1900) über eine Versammlung des Sozialdemokratischen Vereins vom 1.9.1900, StA Neunburg, Regierung 9747; danach auch die folgenden Zitate. Zur Quelle: Karl Heinrich Pohl, Bausteine für die Unterrichtspraxis: Die deutsche Sozialdemokratie in der Provinz. Wahlversammlung im Jahre 1900 in Kempten (Allgäu), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 494– 508.

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Karl Heinrich Pohl und dass man keine Schutzleute mehr brauche. Erreicht werde dies eben durch die Freiheit der Arbeit“. Zugleich stellte ein nicht namentlich benannter Redner auf dieser Versammlung fest: „Sie seien keine Verbrecher, keine Umstürzler. Sie seien vielmehr die Stützen der Ordnung und wollten nur so viel, dass sie auch als Menschen leben könnten. Die Not soll gehoben werden; diese bestehe nicht bloß in den Arbeiterkreisen, sondern bis hinauf, es gebe auch Beamte, welche nicht so viel haben, als sie brauchen; die seien noch schlechter daran als sie, die Arbeiter, denn diese müssten auch noch standesgemäß auftreten. Das solle anders werden ...“.

Wie die Führung der Sozialdemokratie wiederum zu diesen Meinungen stand, präzisierte der Redakteur der „Münchner Post“, Eduard Schmid, der spätere Bürgermeister der Landeshauptstadt, in einem Gleichnis 1894 in einer Versammlung in Traunstein:32 „Das ganze deutsche Reich gleiche einem großen mächtigen Körper, an dem verschiedene Glieder krank seien. Die kranken Glieder seien die Millionen von Lohnarbeitern, kleinen Gewerbetreibenden und Landwirte. Die Ärzte, welche diesen Körper behandeln, das seien die Spitzen der Regierung. Diese suchten zwar die kranken Glieder zu heilen [!, K.H. Pohl], allein das Pflaster komme nur zu oft auf den unrechten Fleck. Die Schuld treffe das Volk selbst, weil es immer wieder Abgeordneten das Vertrauen schenkt, welche die Leiden und die Not des Volkes nicht kennen. Es müssen daher Vertreter des Volkes in den Reichs- und Landtag geschickt werden, welche das Augenmerk auf das Elend des Volkes lenken“.

Wichtig war den bayerischen Sozialdemokraten also, dass sie sich nicht außerhalb des Staates stellen wollten. Ziel sei es vielmehr, „sich im öffentlichen Leben als brauchbare Staatsbürger zu benehmen ..., [denn] wenn es den Arbeitern gut gehe, seien sie auch brauchbare Staatsbürger und gute Patrioten. Die Arbeiterorganisation sei daher nicht staatsgefährdend, sondern staatserhaltend: Mit verkümmerten, ausgemergelten Soldaten hätten die Kriege im Jahre 1870/71 nicht gewonnen werden können“, argumentierte der sozialdemokratische Redner Schröder im Jahre 1904.33 In jeder Beziehung seien „die Sozialdemokraten daher keine vaterlandslosen Gesellen; sie hätten vielmehr 32 Eduard Schmid am 19.11.1894 in Traunstein, Protokoll vom 20.11.94, StA München, RA 3785/57795. 33 Rede des Vorsitzenden des Verbandes der Lagerarbeiter in Deutschland, Schröder (Bochum), am 2.10.04, Protokoll vom 3.10.04, StA München, RA 58742.

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Gefühl für das Vaterland. Das Capital hätte kein Vaterland. Sie aber wollten nur Zustände schaffen, dass sie sich in ihrem Vaterland besser fühlen“.34 Der Staat und die Regierungen wurden also nicht als prinzipiell feindlich hingestellt, sondern der Staat schien ein an sich gutwilliges Objekt zu sein, das es zu erobern galt und von dem die „falschen“ Berater fernzuhalten seien. Das aber, so die allgemeine Meinung, könne man vor allem mit Hilfe von parlamentarischen Aktivitäten erreichen. Die Sozialdemokratie müsse eben nur stark sein, um das Parlament erfolgreich nutzen zu können. So oder ähnlich lauteten die Standardargumente der sozialdemokratischen Funktionäre, das war die Überzeugung der politischen Basis und genau daran setzte die konkrete süddeutsche Politik an. Von Internationalismus, Feindschaft gegenüber dem Reich (höchstens gegenüber Preußen) oder Bayern und seinem Herrschaftssystem, sowie Antimilitarismus ist wenig zu erkennen, wohl aber viel von Volksgemeinschaft, verständigem und an sich nützlichem Staat und von einem Parlamentarismus, der von den Sozialdemokraten genutzt werden wollte. Damit deuten sich die Umrisse einer sozialistischen Reformpartei an, die im Rahmen des bestehenden Staates und mit Hilfe ihrer parlamentarischen Arbeit diesen Staat allmählich im Sinne der Sozialdemokratie umformen wollte.

4. Zur Politik der süddeutschen Sozialdemokratie Nur auf der Grundlage der hier knapp skizzierten Mentalitäten, der noch knapper angedeuteten sozialen Schichtung und der besonderen Rahmenbedingungen ist daher die süddeutsche und speziell die bayerische Politik zu verstehen, die sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entfaltete. Der führende Kopf der bayerischen Partei bis zum Jahre 1918, Georg v. Vollmar35, und zugleich einer der wichtigsten Wortführer der süddeutschen sozialdemokratischen Fraktion, war es, der, auch nach außen hin mit großer Wirkung, mit seinen in dem Bierkeller „Eldorado” im Jahre 1891 gehaltenen Reden von 34 Ausführungen von Wimmer (Augsburg) in Burglengenfeld am 24.10.1897, StA Amberg, Reg. KdI, Nr. 13684. Dieser nationalen Stellungnahme schloss sich auch Karl Breder aus Augsburg im Jahre 1894 an, was von den protokollierenden Beamten mit einer gewissen Häme kommentiert wurde: „Der Vorwurf des mangelnden Patriotismus [der Kapitalisten] aus dem Mundes eines Wortführers der Sozialdemokratie klang etwas komisch und das mochte der Redner auch gefühlt haben, da er seine diesfälligen Ausführungen rasch abschloß“ (Karl Breder in Krumbach, 29.6.1894, Protokoll vom 30.6.94, StA Neunburg, Regierung 9741). 35 Jansen, Georg von Vollmar.

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München aus dieser Stimmung Ausdruck verlieh. Diese Politik ruhte, um es noch einmal zu betonen, punktgenau auf den zuvor skizzierten Mentalitäten auf und entsprach weitgehend den sozialen, ökonomischen und politischen Tatsachen in Süddeutschland.36 Von Vollmar leitete mit dieser Rede eine Ära ein, die wesentliche Auswirkungen auf die süddeutsche Sozialdemokratie, die dortige Innenpolitik und, in begrenztem Maße, auch auf die Politik der deutschen Sozialdemokratie und des Reiches hatte. Dabei positionierte er die bayerische Sozialdemokratie als eine sozialdemokratische Reformpartei. Wenn man so weit gehen will, nahm er das Godesberger Programm der Partei bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Vielem vorweg. Den Zeitpunkt für eine solche Grundsatzerklärung hatte von Vollmar aus regionaler, aber auch aus Reichsperspektive günstig gewählt.37 Der Rücktritt Bismarcks und des bayerischen Ministeriums Lutz im Mai 1890, die Beendigung der Sozialistengesetze, die Hoffnungen auf ein sozialpolitisches Engagement Wilhelms II. sowie das Bewusstsein einer wachsenden eigenen Stärke bei den Sozialdemokraten, die bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 bereits die meisten Stimmen erhalten hatten, all dies deutete auf eine Aufbruchsstimmung hin. Auch in Bayern hatte die Partei ihren Stimmenanteil gegenüber 1887 gut verdoppelt. Vollmar gewann in diesem Jahr seinen 1887 verlorenen Wahlkreis München II wieder zurück und gab ihn bis zu seinem freiwilligen Rücktritt im Jahre 1918 nicht wieder ab. 1890 gelang es sogar drei Sozialdemokraten (von insgesamt 48 Abgeordneten), in den Landtag einzuziehen. Auch in Baden und Württemberg herrschte eine gewisse Aufbruchsstimmung. In Baden zogen 1893 ebenfalls das erste Mal drei sozialistische Abgeordnete und in Württemberg immerhin 1895 (vorher wurde die Parteizugehörigkeit der Abgeordneten nicht ausgewiesen) erstmalig zwei Abgeordnete in den Landtag ein. In den beiden berühmten Eldorado-Reden Vollmars können wir zweifellos, so Gerhard A. Ritter bereits vor mehr als 50 Jahren38, „das grundlegende Manifest des Reformismus in der Sozialdemokratie erblicken. Unübertroffen in der Ausgewogenheit der Formulierung, ohne den Ballast der späteren theoretischen Kritik Bernsteins, ist diese aus der Augenblickssituation heraus gehaltene Rede das Programm all der Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung geworden, die unter Verzicht auf theoretische Erörterungen sich auf den Boden des beste36 Hirschfelder, Bayerische Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 438 ff. und Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 174 ff. 37 Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 175; danach auch die folgenden Gedanken. 38 Ritter, Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, S. 87.

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henden Staates stellten und in Konzentrierung auf die rein praktische Reformarbeit den Emanzipationskampf des Proletariats in der Gesellschaft zu beschleunigen sich bemühten“.

Die „Vollmarsche” bayerische Partei richtete sich, so die Quintessenz seiner Überlegungen, auf einen lang andauernden Kampf ein, der zu einer allmählichen Umwandlung des Staates mit Hilfe schrittweise erfolgender Reformen führen sollte. Sie ging, im Gegensatz zu vielen preußischen Genossen, davon aus, dass auch unter der gegebenen Staats- und Gesellschaftsordnung viele positive Veränderungen für das gesamte arbeitende Volk zu erreichen seien. Wichtig sei vor allem „die fortgesetzte zähe Arbeit zielbewusst arbeitender Organisationen, die dadurch bewirkte Veränderung der Meinungen und vor allem die Macht der wirtschaftlichen Tatsachen”.39 In der Diktion von Vollmars hörte es sich, einige Jahre später, so an:40 „Denn ernstlich ist der Sozialismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse, sondern eine Lehre, deren Endziel die Befreiung der gesamten Menschheit ist. Sodann sind die Sozialisten zugleich Demokraten, d.h., sie wollen nicht das Volk beherrschen und ihm gegen seinen Willen Gesetze diktieren, die politische Macht weder erschleichen noch erpressen, sondern sie nur mit dem Willen des Volkes ergreifen und üben. Sie können demnach ihre Endziele nur dann erreichen, wenn sie die Mehrzahl des Volkes auf ihrer Seite haben. Da aber die ausschließlich und lebenslänglich auf den Arbeitslohn angewiesene Klasse zwar einen fortgesetzt wachsenden Teil des bayerischen und deutschen Volkes, aber noch keineswegs die überwiegende Mehrheit bildet, so ist sie notwendig auf Bundesgenossen angewiesen. Die Sozialdemokratie kann sich deshalb aus grundsätzlichen wie aus praktischen Gründen nicht auf den engen Rahmen einer einseitigen Industriearbeiterpartei beschränken, sondern hat sich mit jedem Schritt vorwärts mehr zur Vertreterin der sämtlichen arbeitenden und ausgebeuteten Schichten, zur rücksichtslosesten und entschiedensten Vorkämpferin der großen Mehrheit des nach wirtschaftlicher und politischer Befreiung ringenden Volkes entwickelt”.

Einem so verstandenen Sozialismus ging es daher nicht um eine revolutionäre Umgestaltung von Staat und Gesellschaft, sondern in erster Linie um Partizipa39 Ausführungen Vollmars auf der Versammlung des Wahlvereins am 6.7.91 im „Eldorado“, abgedruckt bei Georg von Vollmar, Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie. Zwei Reden, gehalten am 1. Juni und 6. Juli 1891 im „Eldorado“ zu München, München 1891, S. 150. 40 Georg von Vollmar, Bauernfrage und Sozialdemokratie in Bayern (1895/96), Nürnberg 1896, S. 8.

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tion an der Macht; es ging ihm um sehr konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen auf den verschiedensten Ebenen, bei der Gesetzgebung genau so gut wie im kulturellen Bereich. In welchem Maße die von Vollmar programmatisch formulierten und aus dem Münchener politischen Milieu erwachsenen politischen Forderungen in Bayern zum Allgemeingut wurden, zeigen der Verlauf des ersten Landesparteitages der bayerischen Sozialdemokratie in Rheinhausen bei Regensburg, sowie das dort verabschiedete Landtagswahlprogramm, das eine deutliche Kontinuität zu den Eldorado-Reden vom Sommer 1891 verrät.41 Während das Erfurter Programm die grundsätzlichen Standpunkte der Partei bekräftigte und, überspitzt formuliert, der praktische Teil nur eine Art Anhängsel blieb, war das bayerische Programm ein reines Aktionsprogramm, ohne lästige theoretische Anhängsel: Es handelte sich um eine Zusammenstellung von 21 gegenwartsbezogenen Reformforderungen, deren Stellenwert in einem theoretischen Gesamtkonzept weder problematisiert noch angedeutet wurde. Es wurde nicht einmal ein solcher Zusammenhang hergestellt.42 Verfassungspolitische Forderungen, wie die nach gleichem, geheimem und direktem Wahlrecht, Abschaffung der Kammer der Reichsräte und aller Vorrechte der Geburt und des Standes, unbeschränkter Vereins- und Versammlungsfreiheit, Ausdehnung der Selbstverwaltung und Abschaffung eines besonderen Bürgerrechtes, standen dementsprechend neben vorwiegend sozialen Forderungen, wie Änderung des Steuer- und Abgabenwesens, Verbesserung des Arbeiterschutzes, Ausdehnung des Arbeiterversicherungswesens und Verbesserung der Armenpflege. Vor allem aber gehörte die für die bayerische Landespolitik zentrale Forderung nach der intensiven Ausübung des dem Landtage zustehenden Budget-, Kontroll- und Gesetzgebungsrechtes gegenüber der Regierung dazu.43 41 Vgl. dazu die Ausführungen Vollmars am 26.6.1892, Protokoll über die Verhandlungen des I. Parteitages der Bayerischen Sozialdemokratie in Regensburg, Nürnberg 1899, S. 6. Zur Ähnlichkeit dieses Programmes mit denen von Baden und Württemberg vgl. Soziale Praxis 4 (1894/95), Nr. 48, Spalte 911 f. 42 Vgl. dazu die Kritik des Nürnberger Genossen Oertel, das Programm sei „nicht prinzipiell genug“, sondern geradezu „volksparteilich“ (Grillenberger an Vollmar über eine Äußerung Oertels, 17.6.1892, IISG Amsterdam, NL Vollmar 746). 43 Regensburger Programm, abgedruckt in: Protokoll über die Verhandlungen des I. Parteitages der Bayerischen Sozialdemokratie, S. 15. Um Niemanden (innerhalb und außerhalb der Partei) zu verletzen wurde sogar das Frauenwahlrecht nicht ausdrücklich gefordert, sondern nur ein Wahlrecht für alle volljährigen Bayern verlangt. Das war eine deutliche Anpassung an die Stimmung im Lande, da „der Gedanke an das Frauenstimmrecht mancherorts noch befremdlich wirken musste“ (Jansen, Vollmar, S. 52). Vgl. auch den ähnlich behutsamen Umgang mit Fragen der Religion. Münchner Post, 4.10.1894: „Die Sozialdemokratie achtet und schützt jede religiöse Überzeugung ...,

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Die Vollmarschen Erkenntnisse galten jedoch nicht nur für die bayerische Sozialdemokratie, sondern auch für die Badens und Württembergs. Auch die badischen Sozialisten verankerten in ihren Landtagswahlprogrammen von 1891 und 1893 wie die bayerischen Genossen entsprechende praktische Forderungen. Im Programm von 1891 hieß es etwa: „Zu Gunsten der landbautreibenden Bevölkerung stellen wir die Forderung auf obligatorische staatliche Versicherung gegen Hagel und Wasserschaden, Versicherung der Rebgelände gegen sonstige Naturgefahren und auf staatliche Viehunfallversicherung“.44 Die Übereinstimmung der badischen Sozialisten mit denen der bayerischen Genossen in dieser Frage ist geradezu mit Händen zu greifen, auch wenn es in Baden, anders als in Bayern, eine heftige innerparteiliche Opposition gegen diese Annäherung an die Bauern gab. Die von Vollmar formulierte reformorientierte Politik sollte auf den verschiedensten Ebenen und auf unterschiedlichen Feldern verwirklicht werden. Kommunalpolitik war dabei ebenso wichtig wie die beständige Arbeit der Gewerkschaften, denen es in beharrlichem Bemühen etwa in München gelang, das von ihnen gewünschte Tarifvertragssystem nahezu vollständig und flächendeckend durchzusetzen. Vor allem aber stellten die süddeutschen Sozialdemokratischen Parteien ihre parlamentarische Arbeit als Hebel zur Verbesserung der Situation der Arbeiter in den Mittelpunkt.45 In Bayern besaß die parlamentarische Arbeit noch dadurch eine besondere Bedeutung, weil die Zweite Kammer des bayerischen Abgeordnetenhauses größere Machtbefugnisse besaß als in anderen Ländern des Reiches. Der Landtag war zwar nach 1871 im wesentlichen auf Staatsfinanzen und auf die bayerische Innenpolitik, auf Budget- und Verwaltungskritik eingeengt, besaß aber aufgrund der bayerischen Reservatrechte zusätzliche Befugnisse im Kultur- und Bildungsbereich sowie im Heeres-, Eisenbahn- und Postwesen. Zudem hatten die besondere Situation der bayerischen Krone nach dem Tode Ludwigs II. sowie die zurückhaltende Tätigkeit der Regierung Crailsheim (1893–1903) zu einem gewissen politischen Machtvakuum geführt, das die Zweite Kammer des bayerischen Abgeordnetenhauses für sich nutzen konn[und wendet sich] gegen jede ‚religiöse Aufklärungsarbeit‘, weil sie sich auf ein Gebiet einließe, das die Sozialisten nicht zu interessieren habe“. 44 Zitiert nach Schadt, Die Sozialdemokratische Partei in Baden, S. 167; danach auch die folgenden Gedanken. 45 In diesem Kontext ist auch der von den Sozialdemokraten favorisierte Ausbau der staatlichen Gewerbeinspektion zu sehen; vgl. dazu Karl Heinrich Pohl, Sozialdemokratie und Gewerbeinspektion: Zum Verhältnis von Staat, Arbeiterbewegung und Arbeitgebern in Süddeutschland zwischen 1890 und 1914, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75 (1988), S. 457–482.

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te.46 Diese Kammer erfüllten die fünf, und später dann elf, Sozialdemokraten nicht nur mit Leben, sondern auch mit ihrem Geiste und ihren Initiativen.47 Nicht ohne Stolz schrieb Vollmar im März 1894 an Mehring: „Wir sind in der Kammer eine moralische Macht, die um das Dutzendfache über unsere Zahl [fünf] hinausgeht. Die Versumpftheit der gegnerischen Parteien lässt uns fast in allen Fragen den Vortritt, den Anstoß, die Führung. Wir geben zumeist die Richtung der Debatten an, verbinden mit unseren programmatischen Gesichtspunkten das praktisch Erreichbare, sagen das, was die bürgerlichen Parteien nach ihren einstigen Versprechungen selbst sagen müssten, und knüpfen an alle fortgeschrittenen und unzufriedenen Stimmungen im Volke an“.48

Dabei engagierte sich die Fraktion nicht nur für Arbeiter und die untere Mittelschicht, sondern trat auch für Wichtiges und Unwichtiges ein. Sie unterstützte die Berufsmusiker im Kampf gegen die Konkurrenz der Militärkapellen, die Lehrer bei dem Kampf um die Verbesserung ihrer Besoldung, die Reform des Armenunterstützungswesens oder auch eine Umgestaltung des Steuerwesens.49 Eines war aber allen Anträgen gemeinsam. Sie konnten auch im gegenwärtigen Staatssystem erreicht werden, und nicht erst in einem sozialdemokratischen Zukunftsstaat. Ein wichtiges Element in der parlamentarischen Arbeit der bayerischen Sozialdemokratie stellte die Kooperation mit den anderen Parteien dar, war doch allen Sozialdemokraten klar, dass die Partei in Bayern in absehbarer Zeit nicht mehrheitsfähig sein würde und daher immer auch die Unterstützung entweder der Liberalen oder aber des Zentrums bedurfte.50 Begünstigt wurde eine frühe Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und Zentrum durch die politische Situation nach den Wahlen von 1893, bei denen das Zentrum einen tiefen Einbruch gegenüber den Bauernbünden erlitt. Fortab profilierte sich in 46 Vgl. dazu Wolfgang Zorn, Parlament, Gesellschaft und Regierung in Bayern 1870– 1918, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament, Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Göttingen 1976, S. 299–315, hier S. 302. Vgl. auch Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, S. 61 ff. 47 Vgl. dazu Hirschfelder, Bayerische Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 442 ff. 48 Brief an Mehring vom 29.3.1894, zit. nach Hirschfelder, Bayerische Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 444. 49 Hirschfelder, Bayerische Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 442 f.; danach auch die folgenden Gedanken. 50 Vgl. dazu Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 481 ff.; danach auch die folgenden Gedanken.

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der Partei der linke Zentrumsflügel, der eine Zusammenarbeit von niederem Klerus, katholischer Arbeiterbewegung, Bauernbünden und, wenigstens partiell, auch der Sozialdemokratie anstrebte. Dieser Tendenz kam wiederum die gemäßigte Haltung der Sozialdemokratie in allen Fragen der Religion entgegen. Die ergab sich bereits daraus, dass die meisten Sozialdemokraten Katholiken waren: Die untere und obere Führungsschicht bestand z.B. in München zu 60 % aus, zum großen Teil auch praktizierenden, Katholiken.51

5. Der Kampf um das Wahlrecht Das Beispiel Baden: Das zu Beginn der 90er Jahre in Baden geltende absolute und indirekte Mehrheitswahlverfahren begünstigte die dominierenden Nationalliberalen erheblich. Aus diesem Grunde, und darin ähnelte die Politik der badischen Sozialdemokraten der ihrer bayerischen Genossen, gab es dort bereits zu Beginn der 90er Jahre eine intensive Kooperation aller Oppositionsparteien mit dem Ziel, das Wahlrecht zu verändern.52 Deshalb gingen die Sozialisten 1901 erste Stichwahlbündnisse vor allem mit den Linksliberalen und Demokraten, weniger mit dem Zentrum ein. Das hing u.a., wie in Bayern, mit den differierenden Vorstellungen über die Schulpolitik zusammen. Die von allen oppositionellen Parteien gewünschte Verfassungsrevision zielte „auf eine Anpassung der Wahlgesetze und Verfassungen der Einzelstaaten an die des Deutschen Reiches“ ab53, ein Wahlrecht allerdings, das in Europa seinesgleichen suchte. In Baden gelang die Veränderung, wie überall im Süden, nur schleppend und nur sehr partiell, aus Sicht der Sozialdemokratie auch nicht weitgehend genug:54 Einerseits fielen in der dann schließlich verwirklichten Wahlrechtsreform die Einschränkungen beim Wahlrecht weitgehend weg, vor allem wurde das indirekte nun durch das direkte Wahlrecht ersetzt und die Landtagsperiode von zwei auf vier Jahre verlängert. Die Städte erhielten bei der Wahlkreiseinteilung zudem ein etwas stärkeres Gewicht, was der Sozialdemokratie deutlich zugutekam. Vor allem aber wurde die Bedeutung der Zweiten Kammer im politischen Kräftefeld durch die eingeführte Direktwahl erheblich aufgewertet. Fortab vergrößerten sich daher auch die Einflussmöglichkeiten der Parteien und des Landtages insgesamt. 51 Zu diesem Komplex Pohl, Katholische Sozialdemokraten?, S, 233 ff. 52 Niehuss, Die Stellung der Sozialdemokratie, S. 117; danach auch die folgenden Gedanken. 53 Thiel, Großblockpolitik, S. 19; danach auch die folgenden Gedanken. 54 Vgl. dazu und zum Folgenden Schadt, Die Sozialdemokratie, in: Schadt/Schmierer, S. 82 ff.

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Andererseits aber wurde die Wahlrechtsreform durch die Stärkung der Rechte der Ersten Kammer so stark verwässert, dass sich die Sozialdemokraten darin kaum noch wiederfinden konnten. Obwohl sie die Reform mit angestoßen hatten, stimmten die badischen Sozialdemokraten, anders als die bayerischen Genossen, daher der Reform nicht zu. Sie profitierten in Zukunft allerdings trotz der Ablehnung von den Vorteilen des neuen Wahlrechtes.55 Ungeachtet dieser Ablehnung erwies sich die Sozialdemokratie in den folgenden Jahren als ein wichtiger Faktor im badischen Parteiensystem. Da die liberalen Oppositionsparteien bald auf eine Mitarbeit der Sozialdemokratie angewiesen waren, wenn sie dem in der Zweiten Kammer dominierenden Zentrum Paroli bieten wollten, wurden die Sozialdemokraten von ihnen recht bald als gleichberechtigter Partner im Parlament akzeptiert. Damit war es der sozialdemokratischen Partei zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen, regierungsfähig zu werden, ein in Deutschland zur damaligen Zeit einmaliger Vorgang. Die Politik des „Badischen Großblocks“, also die feste Zusammenarbeit von Linksliberalen, Demokraten und Nationalliberalen mit der Sozialdemokratie, kündigte sich damit bereits an.56 Dieser Block „stellte [dann] das weitestreichende Experiment zur Umsetzung einer Reformstrategie unter den Bedingungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Wilhelminischen Deutschlands dar, welches die deutsche Sozialdemokratie vor 1914 überhaupt einging“.57 Das Beispiel Württemberg: Das Wahlrecht in Württemberg war Ende des 19. Jahrhunderts an sich bereits das freieste in den süddeutschen Ländern, war in Vielem sogar dem Reichstagswahlrecht vergleichbar.58 Ein Problem bestand allerdings darin, dass zu den 70 gewählten Abgeordneten weitere 23 privilegierte Mandatare automatisch Mitglieder in der Zweiten Kammer wurden und dadurch die Wahlergebnisse deutlich veränderten. Alle Bemühungen drehten sich daher in Württemberg darum, diesen Zustand zu verändern. Nach zähen Verhandlungen, in denen das Zentrum sich als ständiger Bremser zeigte, weil es um seine dominierende Rolle fürchtete, kam es dann zu einem Regierungsentwurf, der „letztendlich keine der Fraktionen vollständig“ befriedigte.59 Immerhin wurden durch ihn die Standesvertreter aus der Zweiten 55 Vgl. Schadt, Die Sozialdemokratische Partei in Baden, S. 178 ff. 56 Vgl. dazu Thiel, Großblockpolitik, S. 17 ff. 57 Hans-Joachim Franzen, Die SPD in Baden 1900–1914, in: Schadt/Schmierer (Hg.), Die SPD in Baden-Württemberg, S. 88–106, hier S. 92. 58 Vgl. dazu Niehuss, Die Stellung der Sozialdemokratie, S. 110; danach auch die folgenden Gedanken. 59 Niehuss, Die Stellung der Sozialdemokratie, S. 114; danach auch die folgenden Gedanken und das Zitat.

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Kammer verbannt und wenigstens ein erheblicher Teil der 92 Parlamentarier nun in Listen- und Verhältniswahlrecht gewählt. Im Gegensatz zu den Genossen in Baden stimmten die württembergischen Abgeordneten dem Regierungsentwurf zu, weil er in erster Linie gegen das Zentrum gerichtet war, das sie „als Hort der Reaktion in Württemberg ansah[en]“. Es zeigte sich bald, dass die Sozialdemokraten durch das neue Wahlrecht die großen Gewinner wurden. 1906 bei den ersten Wahlen nach diesem Wahlrecht gelangten 15 statt bisher 5 Abgeordnete in den Landtag, ein Ergebnis, von dem die beiden anderen süddeutschen Länder nur träumen konnten. Sehr bald sollte sich herausstellen, dass eine regierungstragende Mehrheit links von der Mitte in Württemberg nicht mehr ohne Sozialdemokraten möglich war. Das Beispiel Bayern: Der wichtigste Arbeitsschwerpunkt der sozialdemokratischen Landtagsarbeit stellte nach kurzer Zeit ebenfalls die Forderung nach einer Demokratisierung des Landtagswahlrechtes dar. Auch hierbei kam es erneut zu einer erfolgreichen Kooperation zwischen Zentrum und Sozialdemokratie, gegen die Liberalen.60 Im Mittelpunkt der Bemühungen standen die Forderungen nach der Beseitigung des indirekten Wahlverfahrens und der Einbeziehung der Bevölkerungsbewegungen seit 1875. Diese waren seit über 25 Jahren nicht berücksichtigt worden, was die Sozialdemokratie erheblich benachteiligte. Weitergehende Ziele wie die Proportionalwahl oder das Frauenstimmrecht stellte die Partei zunächst zurück, um eine kleine Reform zusammen mit dem Zentrum nicht von vornherein zu verhindern. Nach der Wahl von 1899 forderten daher die verbündeten Parteien (SPD, Zentrum), gegen den Widerstand der Liberalen, die Regierung auf, dem Landtag ein neues Wahlgesetz vorzulegen, auf der Basis u.a. des direkten Wahlverfahrens, des relativen Mehrheitswahlrechtes und der Anpassung der Zahl der Abgeordneten an die gegenwärtige Bevölkerungszahl. Das schließlich im Jahr 1906 verabschiedete neue Wahlrecht brachte dann den Sozialdemokraten deutlich Vor-, aber auch einige gravierende Nachteile.61 Auf der einen Seite konnte das Zentrum ein Wahlrecht installieren, das seine Position in Bayern, vor allem auf dem Lande, nahezu unerschütterlich machte. Aber auch die Sozialdemokraten profitierten auf der anderen Seite. Hatten sie 1899 bei 15,3 % der Wählerstimmen nur 7,4 % der Wahlmänner und ganze 6,95 % der Abgeordneten erhalten, erhielten sie nun nach der Wahlrechtsänderung, bei einem Stimmenanteil von 17,7 %, immerhin 12,5 % der Abgeordneten. Da-

60 Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 467 ff.: danach auch die folgenden Gedanken. 61 Ebd., S. 470 f.

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mit konnte sich die Partei stärker als jemals zuvor parlamentarisch in Szene setzen.62 Auch wenn man der Interpretation von Aretins, dass das entscheidende Datum für die demokratische Entwicklung in Bayern nicht das Jahr 1918, sondern bereits das Jahr 1906 gewesen sei, nicht vollständig folgen kann, ist doch nicht zu bestreiten, dass das Wahlrecht von 1906 ein Schritt hin in Richtung zu mehr Demokratie gewesen ist, auch wenn es dem Zentrum in besonderer Weise nutzte.63 Bayern erhielt 1906 ein Wahlrecht, „das ähnlich den etwa zu gleicher Zeit demokratisierten Wahlrechten von Württemberg und Baden weitgehend dem Reichstagswahlrecht angepasst war und trotz der Einschränkungen des Wahlrechtes der Unterschichten eine vergleichsweise faire Vertretung der politischen Kräfte und sozialen Schichten im Landtag ermöglichte“.64 Nach der Wahlrechtsreform änderten sich nun auch die politischen Fronten. Zwischen Liberalen und Sozialdemokraten entwickelte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine lebhafte Kooperation. Bis dahin hatten tief greifende Differenzen auf wirtschaftspolitischem Gebiet, in der sozialen Frage und den grundsätzlichen Gegensätzen über die Funktion des Föderalismus, aber vor allem Wahlen und Wahlrechtsfragen, die Sozialdemokraten von den Liberalen getrennt. Liberale und Sozialdemokraten trafen hier ja deutlich schärfer als Zentrum und Sozialdemokraten als direkte Gegner um das gleiche Wahl62 Der Erfolg ist umso höher zu bewerten, wenn man die Veränderungen des Wahlrechtes etwa mit den Reformen in Sachsen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleicht. In Sachsen gingen die Reformen nicht über die Installierung eines Pluralwahlrechtes hinaus, das die Sozialdemokratie nach wie vor massiv benachteiligte. Vgl. dazu Ritter, Das Wahlrecht und die Wählerschaft der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen 1867– 1914, in: Ritter, Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, S. 49–101, und Lässig/ Pohl, Sachsen im Kaiserreich, sowie Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlrechtsreform. 63 Karl Otmar Freiherr von Aretin (Rez. von Karl Möckl, Prinzregentenzeit), Das katholische Bayern im Preußisch-Deutschen Kaiserreich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 37 (1974), S. 946–951, hier S. 950. 64 Gerhard A. Ritter (Hg.), Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 153 f. Die Zustimmung der bayerischen Landtagsfraktion zu den Wahlrechtsvorschlägen der Regierung führte allerdings zu einer scharfen Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Gesamtpartei. Ihre Führer fanden keine Argumente um, so August Bebel im Jahr 1902, die „frivole Haltung der bayerischen Genossen zu rechtfertigen“ oder gar deren „Philisterpolitik zu verteidigen“ (August Bebel an Wilhelm Keil, 22.5.1902, abgedruckt bei Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, 2 Bde., Stuttgart 1947 ff., hier Bd. 1, S. 206). Aus preußischer Sicht war, allein schon wegen der dort üblichen politischen Restriktionen, der Gedanke einer parlamentarischen Politik, wie sie in Bayern betrieben wurde, nicht nur unverständlich, sondern auch unvorstellbar.

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potential aufeinander. Aufgrund ihrer rechtspolitischen, kulturellen, pädagogischen und religiösen Vorstellungen gab es jedoch auch immer eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten, die vor allem in der Kommunalpolitik in München bereits erprobt worden waren. Das Ziel, die klerikale Herrschaft, die sich in Bayern wieder intensivierte, zu beseitigen, die Verwaltung zu liberalisieren, die Freiheit der Schulen und die Entkonfessionalisierung des Bildungswesens in Angriff zu nehmen, waren Felder der erfolgreichen Zusammenarbeit dann auch im Parlament. Wichtige Impulse gingen hierbei von den linksliberalen Gruppen in München aus, die im bayerischen Liberalismus mehr und mehr an Einfluss gewannen.65

6. Süddeutschland und das Problem der Budgetbewilligung Zu einer sinnvollen und erfolgreichen parlamentarischen Arbeit gehört auch, sich an dem vornehmsten Recht eines Parlamentes, der Budgetbewilligung konstruktiv zu beteiligen. Das galt mithin auch für die Sozialdemokraten und wurde bald zu einem äußerst wichtigen Problem für den süddeutschen sozialdemokratischen Parlamentarismus. Es ging dabei nämlich um grundsätzliche Fragen der sozialdemokratischen Parteistrategie. Eine Ablehnung des Budgets gehörte zum prinzipiellen Grundwertekatalog der Partei. Eine Zustimmung zum Budget war daher höchst verwerflich, weil so die Gefahr heraufbeschworen werden konnte, den prinzipiellen Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und kaiserlichem Staat zu verwischen.66 Dieser prinzipielle Gegensatz zur Staats- und Gesellschaftsordnung, und damit auch die grundsätzliche Ablehnung der Politik aller anderen politischen Parteien, war es aber, der dem Wir65 Der Linksruck der bayerischen Liberalen erfolgte endgültig mit der Verabschiedung des Nürnberger Programms im Januar 1905. Vgl. dazu Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830–1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 782 ff. Allerdings fürchteten anfangs viele Sozialdemokraten bei einem Zusammengehen mit den Liberalen eine Verwirrung der Genossen, wie der Münchener Funktionär Schmitt an Vollmar schrieb: „Das Bild würde sich so gestalten: Landtagswahlkampf muß mit den Schwarzen, Gemeindewahlkampf mit den Liberalen und Reichstagswahlkampf? Wahrscheinlich geht es dann wieder gegen die Liberalen, wozu man die Schwarzen braucht, um nicht wieder durchzufallen in München I“ (Schmitt an Vollmar, 6.11.1902, IISG Amsterdam, NL Vollmar 1846). 66 Vgl. dazu den Kommentar eines führenden bayerischen Sozialdemokraten, dass dies „eine Gebetsformel, ein Dogma“ sei, dem man nicht zustimmen wolle (Adolf Müller auf der außerordentlichen Generalversammlung des Sozialdemokratischen Vereins in München, 22.8.1910, in: Jahresberichte des Sozialdemokratischen Vereins in München, München 1910/11, S. 7).

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ken der Sozialdemokratie im Reichstag und den Landtagen ganz enge Grenzen setzte. Gerade diesem, von dem größten Teil der Partei besonders hochgehaltenen Grundsatz, wollten (und mussten) nun die süddeutschen Parlamentarier, aber auch große Teile der sozialdemokratischen Kommunalpolitiker, wenigstens zum Teil überwinden. Nur durch eine im Prinzip erlaubte Zustimmung zum Budget konnten sie ihren politischen Handlungsspielraum vergrößern. Sie verstanden daher die Budgetbewilligung nicht als eine Glaubenssache, sondern vor allem als „eine reine Form, und alle Formen sind reine Zweckmäßigkeitsdinge, taktische Mittel, die nach Ort und Zeit wechseln, entscheidend ist allein der Geist des Wirkens“.67 Die von der Sozialdemokratie in den süddeutschen Ländern in Gang gesetzte rege parlamentarische Tätigkeit, das Durchsetzen von Interessen der Unterschichten, führte daher rasch dazu, dass sich die Parteien im Süden sehr konkret mit dem jeweiligen Landeshaushalt auseinanderzusetzen hatten. Nach einer intensiven und positiv ausgefallenen Prüfung des Haushaltes mussten sie, wollten sie ihre Arbeit nicht ad absurdum führen, dann auch gezielt den jeweiligen Staatshaushalt bewilligen. Vor diesem Dilemma standen die badischen und hessischen Sozialdemokraten bereits im Jahr 1891, als sie, von der Partei in Berlin nahezu unbemerkt, dem dortigen Landesetat zustimmten. Es folgte schließlich im Jahr 1894 auch erstmalig die bayerische Sozialdemokratie. Ihr war es gelungen, einige sehr konkrete soziale und kulturelle Verbesserungen durchzusetzen.68 Die Zustimmung war daher für sie nur ein konsequenter Vorgang im Rahmen ihrer Reformpolitik. Ein Hauptmotiv für ihr Verhalten sahen die „Budgetbewilliger” darin, dass die Partei ihre Glaubwürdigkeit verlieren und die politischen Erfolge, die sie in ihrer parlamentarischen Kleinarbeit erreicht hatte, selber gefährden würde, wenn sie das Ergebnis ihrer parlamentarischen Bemühungen letztlich desavouierte.69 Für die linken Theoretiker hingegen war das ein massiver Verstoß gegen Parteidisziplin und -dogma. Deswegen prallten die Diffe67 Vollmar auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1894 in Frankfurt, zitiert nach: Materialien zur Frage der Budgetbewilligung, hrsg. vom Parteivorstand, Berlin 1908, S. 7. 68 Die Zustimmung fiel umso leichter als in Bayern, im Gegensatz zu Berlin, ein Militärbudget im Haushalt nicht enthalten war. 69 Vollmar auf dem Parteitag 1894, S. 33: „Man [die gegnerischen Parteien] würde im Lande gesagt haben: Seht, nachdem sich die Socialdemokraten so lange Zeit schlau als die Träger der Kultur und jeder Verbesserung aufgespielt haben, da enthüllen sie ihr wahres Gesicht, und es zeigt sich, dass sie im Grunde doch nichts als die Verneiner um jeden Preis und Maulmacher sind, als die wir sie jederzeit dargestellt haben; von einem Interesse für Land- und Volksbedürfnisse ist keine Rede“, zit. nach Hirschfelder, Bayerische Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 448.

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renzen auf dem Parteitag in Frankfurt im Jahr 1894 heftig aufeinander. Dort erklärte Vollmar zwar: „Wer das Volk gewinnen und es politisch erziehen will, dessen Haltung muss dem Volk verständlich sein”70, stieß mit dieser Argumentation jedoch bei seinen Gegnern auf erbitterten Widerstand. Der Versuch, damit das grundsätzliche Argument, dass jede Bewilligung eines Budgets die prinzipielle Ablehnung des Systems durch die Sozialdemokratie verschleiern würde, zu entkräften, schlug weitgehend fehl. Nach heftigen Debatten wurde immerhin ein Kompromiss gefunden, der den süddeutschen Sozialisten einen regionalen Handlungsfreiraum zugestand. Ein offizieller Parteitagsbeschluss kam nicht zustande. Trotzdem aber blieb das Problem der süddeutschen Länder und ihrer Budgetbewilligung ein Dauerstreit innerhalb der Partei.71 Für die preußische Sozialdemokratie stellte sich diese Frage schon allein deswegen nicht, weil sie aufgrund des sie stark benachteiligenden Dreiklassenwahlrechtes erst 1908 die ersten Abgeordneten ins Parlament entsenden konnte. Auf dem Lübecker Parteitag von 1901 schien allerdings insofern ein gewisser Frieden in dieser parteiinternen Auseinandersetzung erreicht zu sein, als sich Einigkeit in der Partei darüber erzielen ließ, dass „eine Zustimmung zum Budget … nur ausnahmsweise aus zwingenden, in besonderen Verhältnissen liegenden Gründen gegeben werden“ könne.72 Damit erhielten beide Seiten freie Hand. Mit ihren speziellen Auffassungen zum Budget standen die süddeutschen Sozialdemokraten aber trotzdem in grundsätzlichem Konflikt zur Mehrheitsmeinung in der deutschen Parteiführung. Vollmar wies dies zwar weit von sich; tatsächlich hatten aber in dem süddeutschen Konzept die Mitarbeit und die Partizipation im Gegenwartsstaat ein eigenes Gewicht erhalten. Sie dienten nicht mehr nur dazu, die Massen für die Partei zu gewinnen, sondern die gezielte Mitarbeit sollte selber einen Prozess in Richtung eines zukünftigen Sozialismus einleiten. Damit wurden, so die Sicht der Kritiker, die Grundprinzipien des Sozialismus verschleiert. Mit dem Wunsch nach Regionalisierung kam zugleich ein in Süddeutschland deutlich virulentes antipreußisches Ressentiment zum Ausdruck. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Argumentationen der Gesichtspunkt, dass die freiheitlichen Errungenschaften in Süddeutschland nicht „der von Preußen in-

70 Vollmar auf dem Frankfurter Parteitag, Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Frankfurt, Berlin 1894, S. 111. 71 Bewilligt wurden die Landesbudgets durch die Sozialdemokraten z.B. in Bayern 1894 und 1907; in Baden 1891, 1893, 1895, 1899, 1907 und 1910. 72 Lübecker Beschluss von 1901, hier zitiert nach: Protokoll über die Verhandlungen des Sozialdemokratischen Parteitages 1908 in Nürnberg, S. 552.

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augurierten reaktionären Reichspolitik zum Opfer gebracht werden“ sollten.73 Die „reaktionäre preußische Politik [läge] … wie ein drückender Alp“ über den Süddeutschen. Deswegen sei die föderale Eigenständigkeit, gegebenenfalls sogar ein Partikularismus, eine süddeutsche sozialistische Verpflichtung. Das sei unabdingbar notwendig für einen späteren Aufbau eines fortschrittlichen Deutschlands, das in dem gegenwärtigen Süddeutschland bereits erheblich stärker realisiert sei als in Preußen. Das langfristige Ziel der süddeutschen Parteien bestünde daher darin, „das Wesen des preußischen Staates mit den Waffen der süddeutschen Demokratie – und wie versteckt durchklingt – unter stillschweigender Zustimmung der vor Preußen bangenden süddeutschen Regierungen untergraben zu können; durch das Beispiel der Zusammenarbeit von Volk und Regierung in Süddeutschland die norddeutschen Staaten zu zwingen, dem süddeutschen Beispiel zu folgen, bis ganz Deutschland ein demokratisches Staatsgebilde ist, in dem dank des großen Einflusses, den die Sozialdemokraten auf die Umgestaltung der Verhältnisse ausgeübt hat, die Führer jene Rolle spielen können, die den Repräsentanten des Volkes zu kommt“.74

Dahinter stand die Utopie, Preußen-Deutschland von Süddeutschland her zu befreien, einen süddeutschen Weg für das ganze Reich zu gehen und in einem ersten Schritt, dank der erfolgreichen Arbeit der süddeutschen Sozialdemokraten, das Reich in einen demokratischen Staat umzuwandeln. Dass eine solche Argumentation in der Berliner Parteispitze auf erheblichen Widerstand stieß, nicht zuletzt, weil sie die Position des Vorstandes erschütterte und München und Süddeutschland indirekt zum Mittelpunkt einer fortgeschrittenen politischen Kultur erhöhte, und allein den „Süden” des Reiches zum Zentrum einer erfolgreichen sozialdemokratischen Politik erklärte, war nicht verwunderlich.

7. Fazit Die Geschichte der süddeutschen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung stellt sich insofern als die Geschichte einer radikaldemokratischen reformorientierten „Volkspartei“ mit starkem „kleinbürgerlichen“ Anteil dar, die bereits 73 Johannes Timm, Die Bedeutung des Preußentages für die übrigen Bundesstaaten, in: Sozialistische Monatshefte 13 (1907), S. 924–928, hier S. 928; danach auch das folgende Zitat. 74 Nachtrag vom 4.10.1910 zum Agentenbericht vom 25.9.1910 (Pohl, Bayerischer Separatismus), bislang nicht veröffentlicht, StA Potsdam, Rep 30 Berlin C, Pol. Präs., Nr. 94, Nr. 1194, Bd. 25 (12998).

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im ausgehenden 19. Jahrhundert, also vor mehr als einhundert Jahren, partiell erfolgreich die Bemühungen der deutschen Sozialdemokratie des „Godesberger Programms“ vorweggenommen hat. Sie bejahte das parlamentarische System, spielte auf seiner Klaviatur und hoffte in diesem ihre politischen Ziele nach und nach durchsetzen zu können. Sozialismus und Parlamentarismus waren für sie kein Gegensatzpaar, sondern gehörten zusammen. Das Süddeutschland der Jahrhundertwende, das eine Entwicklung zu Reformen nicht nur ermöglichte, sondern auch förderte, entpuppt sich damit als eine Region des deutschen Reiches, die nicht nur durch ein politisch besonders gemäßigtes Klima gegenüber der Entwicklung in Preußen hervorragte, sondern auch als eine Region, in der das Parteiensystem bereits so weit fortgeschritten war, dass sich dort schon im Kaiserreich Formen demokratischer Volksparteien und ansatzweise auch eine begrenzte parlamentarische Demokratie entwickelte. Die Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Süddeutschland um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist unter diesen Gesichtspunkten ein Beispiel für die fortgeschrittene demokratische Kultur in diesen Ländern – ein Faktum, das aus der Perspektive des weiteren 20. Jahrhunderts, gerade was Bayern betrifft, sicherlich so nicht zu erwarten gewesen wäre.

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Sozialdemokratie 1903–1912: Im Spannungsfeld von Opposition und Kooperation, Tradition und Transformation Nach mehr als 150 Jahren des politischen Wirkens einer deutschen Sozialdemokratie richtet sich mein Blick auf das Jahrzehnt der Parteientwicklung zwischen 1903 und 1912. In welcher politischen und organisatorischen Lage befand sich die Sozialdemokratie in diesem Kontext? Inwieweit vollzogen sich in dieser kurzen Zeitspanne grundlegende Wandlungsprozesse in der SPD? Zwischen welchen politisch-ideologischen Konfliktlinien manövrierten die Strömungen in der Partei in jenem geschichtlich so komprimierten Zeitraum nach der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des 1. Balkankrieges 1912/13 im Vorfeld des ersten Weltkriegs? Und insoweit abschließend: Welche Merkmale unterschieden die SPD des Jahres 1912 prägnant von jener des Jahres 1903? Ich werde mich hierbei vor allem an den drei Reichstagswahlen von 1903, 1907 und 1912 orientieren, deren Ergebnisse bedeutende Auswirkungen auf die allgemeine Strategie und auf die Parlamentsarbeit der SPD nehmen sollten. Gleichfalls beziehe ich mich auf den Fortgang des Revisionismusstreits und nicht zuletzt auf die „Massenstreikdebatte“, die diese Dekade prägenden programmatischen Auseinandersetzungen in der Partei sowie auf die heftigen Differenzen über die Budgetbewilligungen in den Ländern Baden und Bayern durch die SPD-Landtagsfraktionen; diese warfen in der Konsequenz die Frage auf, wo Kooperation und Integration beginnen durften und die offiziell betriebene und bevorzugte Opposition aufzubrechen erlaubt sei. Doch beginnen möchte ich mit einem Blick auf die organisatorische Lage der SPD und der Arbeiterbewegung ab dem Jahre 1903.

1. Die Organisation der SPD 1903–1912 Genaue Angaben über die Anzahl der Parteimitglieder lassen sich für die Jahre vor 1906 kaum machen, denn erst durch das auf dem Parteitag in Jena 1905 beschlossene neue Organisationsstatut konnten exakte Angaben über die gesamte Mitgliedschaft überhaupt ermittelt werden. Brandt/Lehnert sprechen im Kontext des Jahres 1903 von „gut 250.000 der SPD und reichlich 800.000 der Freien Gewerkschaften zum Zeitpunkt der Reichstagswahlen von

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1903“.1 Auf den Parteitagen seit Mannheim 1906 stützten sich die Angaben auf die Berichte des Parteivorstandes an die Parteitage. So entwickelte sich die Mitgliederzahl der SPD von 384.327 im Jahr 1906 über 530.466 (1907) und 836.562 (1911) nahe an die Million heran, als der Parteitag in Chemnitz stolze 970.112 Genossinnen und Genossen zählen konnte. Die Grenze von einer Million wurde übrigens nach den intensiven Werbeaktionen der „Roten Woche“ vom März 1914 erstmals überschritten.2 Die meisten Neueintritte vollzogen sich in den Jahren 1910 bis 1912, als die SPD in Preußen den Wahlrechtskampf führte und nach der zweiten Marokkokrise 1911 gegen die drohende Kriegsgefahr eine ausgedehnte Kampagne organisierte. Außerdem ist zu bemerken, dass das novellierte „Vereinsgesetz“ von 1908 nun auch Frauen die parteiliche Organisierung gestattete, womit eine de facto bestehende Mitgliedschaft quasi „legalisiert“ wurde.3 Die Mitglieder selbst wurden nach 1905 zunehmend in Ortswahlvereinen bzw. Ortsvereinen organisiert. Nicht zuletzt erleichterte deren Bildung die statistische Erfassung der Mitglieder. In der Reichstagswahlkreisorganisation Niederbarnim z.B. registrierte man 1905 genau 6090, 1906 bereits 6730, 1907 schon 9194 und 1908 endlich 11.105 Sozialdemokraten.4 Auch die Freien Gewerkschaften nahmen eine vergleichbare Mitgliederentwicklung. Organisierten sie 1903 noch rund 940.000 Kolleginnen und Kollegen, zählten sie deren 1907 bereits 1.873.000 und überschritten 1910 mit 2.128.000 erstmals die Schwelle der zwei Millionen, um 1912 stolze 2.559.781 Mitglieder zu zählen.5 Im Gefolge dieser Tendenz entstanden in beiden Großorganisationen der Arbeiterbewegung Funktionärskörper, deren Repräsentanten hauptamtlich die Geschicke von Partei und Gewerkschaftsverbänden leiteten und aufrecht erhielten. An ihnen besaßen viele Reichstagsabgeordnete ihren Anteil. Man kann von der Heranbildung des Typus des „Arbeiterbeamten“ sprechen, der als Redakteur des „Vorwärts“ oder eines vergleichbaren Parteiblattes für die Partei schrieb, für Agitationstätigkeiten entschädigt wurde, eine gewerkschaftliche Funktion innehatte oder an der Parteischule bzw. einer Arbeiterbildungsschule unterrichtete. Viele uns bekannte Sozialdemokraten jener Epoche 1 Peter Brandt/Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013, S. 90. 2 Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869–1917, Berlin (DDR) 1987, Bd .1, S. 308. 3 Ebd., S. 307. 4 Jahresberichte des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine für Berlin und Umgegend 1909/10, S. 163. 5 Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 1989, S. 494.

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bildeten diesen „Arbeiterbeamten“ ab, nennen möchte ich Hermann Molkenbuhr, Arthur Stadthagen, Carl Legien, Gustav Bauer und natürlich auch Paul Löbe und Friedrich Ebert. Partei- und Gewerkschaftsmäzene wie Paul Singer, J.H.W. Dietz, Hugo Heimann oder Leo Arons stärkten die Arbeiterbewegung natürlich nach wie vor, standen aber für einen anderen Typus des Parteirepräsentanten. Ein solcher „Arbeiterbeamter“ übte seine Stellung schon ab einem recht jungen Lebensalter aus und verblieb langfristig in diesem Status. Um an das Beispiel des sozialdemokratischen Juristen, Reichstagsabgeordneten, Rechts- und Sozialpolitikers Arthur Stadthagen zu erinnern, so erhielt jener, 35 Jahre alt, wegen seines Engagements für die „kleinen Leute“ 1892 Berufsverbot, fand umgehend eine Anstellung als Mitarbeiter, später als Redakteur des „Vorwärts“ und anderer Parteiblätter, führte juristische Sprechstunden durch, lehrte von 1906–1914 an der Parteischule in der Lindenstraße und erhielt Entschädigungen als Vorsitzender der Agitationskommission seines Wahlkreises Niederbarnim. Dies verschaffte ihm und seinen Genossen in vergleichbarer Situation auskömmliche Einkünfte, die jenen von mittleren Angestellten und Beamten entsprachen.6 Insgesamt vollzog sich mit dem organisatorischen Ausbau der Sozialdemokratie zwischen 1903 und 1912 zugleich ein Prozess der Professionalisierung, und dies sowohl im Hinblick auf die strukturellen Prozesse als auch auf die Träger dieser Entwicklungen selbst. Mit dem Tod von Paul Singer am 31. Januar 1911 und August Bebel am 13. August 1913 endet jene Ära von Parteiführern, die ein klares Gegenbild zur herrschenden Gesellschaft mit ihren gegen die Arbeiterschaft aufgerichteten Schranken konstruierten, das auf Konfrontation, Klassenkampf und Zukunftsstaat aufbaute. Doch zeigen genau die Jahre zwischen 1903 und 1912 jenen Veränderungsprozess auf, der sich längst entfaltet hatte.

2. Der unterbrochene Höhenflug: Die Reichstagswahlen von 1903 und 1907 Für den 16. Juni 1903, der Reichskanzler hieß nun Bernhard von Bülow, erhoffte sich die Arbeiterbewegung eine weitere Stärkung. Ihren Wahlkampf hatte die Sozialdemokratie mit einer noch nie da gewesenen logistischen und 6 Vgl. Holger Czitrich-Stahl, Arthur Stadthagen – Anwalt der Armen und Rechtslehrer der Arbeiterbewegung. Biographie eines beinahe vergessenen sozialdemokratischen Juristen, Frankfurt a.M. 2011. Vgl. zur relativen Höhe der Einkünfte Brandt/Lehnert, S. 90.

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organisatorischen Kraft geführt. Dies verdeutlichte auch die Wahlbeteiligung im Reich, die von 67,8 % im Jahr 1898 auf 75,8 % anstieg. Umso eindrucksvoller fiel das Ergebnis der SPD insgesamt aus. In absoluten Stimmen verbesserte sich die Sozialdemokratie auf 3.010.771 Stimmen, also um rund 900.000 Wähler, in ihrem Prozentanteil von 27,2 % auf 31,7 %.7 In Berlin gelang es nur Leo Arons nicht, seinen (innerstädtisch mehr bürgerlich geprägten) Wahlkreis I erstmals für die Sozialdemokratie zu erobern, die Wahlkreise Berlin II bis VI fielen aber gleich in der Hauptwahl an Richard Fischer, Wolfgang Heine, Paul Singer, Robert Schmidt und Georg Ledebour. Insgesamt erreichte die Berliner SPD ein Wahlergebnis von 66,8 % der Stimmen. Unangefochten zog nun auch Fritz Zubeil für den Wahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg in den Reichstag ein. Den zweiten Vorortwahlkreis Potsdam 6 Niederbarnim eroberte ebenfalls im Hauptwahlgang Arthur Stadthagen souverän. Doch nicht nur die Schallmauer von drei Millionen Wählern wurde 1903 durchbrochen, das Ausmaß des Erfolges verdeutlicht eben so sehr der Anstieg der Reichstagsmandate von 56 auf 81.8 Das zentrale strategische Problem der Sozialdemokratie im Reich – beständig an Organisationsmasse und an Wählerunterstützung zu wachsen, aber politisch ohne Aussicht auf Umsetzung zu bleiben – rückte die Auseinandersetzung zwischen Marxisten und Revisionisten bzw. linkem Flügel, Zentristen und Reformisten wieder stärker ins Zentrum der innerparteilichen Debatten. Die politisch gewollte asymmetrische, nicht der Bevölkerungsentwicklung folgende Wahlkreisaufteilung im Reich verhinderte die proportionale Repräsentation der Arbeiterbewegung im Parlament, und die bürgerlichen Parteien waren unter der Kanzlerschaft Bülows eher zusammengerückt als auseinander geraten. Auf welchem Wege war die Erringung der politischen Macht für die Sozialdemokratie überhaupt möglich? Der Weg über die parlamentarischen Institutionen schien durch die Strukturen des politischen Systems selbst verbaut. Dennoch interpretierten Wolfgang Heine, Georg von Vollmar und Eduard Bernstein den Wahlausgang als einen Ansporn für weitere Schritte zur parlamentarischen Integration der Sozialdemokratie durch eine Hinwendung zur Kooperation: Heine sah die SPD als sozialliberale Kraft, wohingegen Bernstein den Vorschlag unterbreitete, die SPD-Fraktion solle das Amt des Vizepräsidenten im Reichstage für sich reklamieren. Georg von Vollmar stimmte dem zu. August Bebel hingegen arbeitete im Sommer 1903 an einer Resolution, die eine innerparteiliche Klärung gegen das Vorgehen der Oppo7 Czitrich-Stahl, S. 415. 8 Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869–1917, Bd. 2, Berlin (DDR) 1987, S. 720 ff.

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sition forcieren sollte.9 Auf dem Dresdener Parteitag stimmte zwar eine klare Majorität von 288 gegen 11 Stimmen für die von Bebel vorgelegte Resolution, in der jedes Abrücken von der Orientierung der Sozialdemokratie an Prinzipien des Sozialismus auf marxistischer Grundlage verurteilt wurde.10 Dennoch blieb die Frage von Sieg oder Niederlage im wahrsten Sinne eine bloß theoretische. Das politische Handlungsmuster der Kooperation gewann langsam, aber stetig an Bedeutung gegenüber der Priorität des Konflikts im Umgang mit den bürgerlichen Parteien und dem bürgerlich-junkerlichen Staat. Das ständige Anwachsen der Sozialdemokratie zwang ihre Gegner zu größerer Geschlossenheit und äußerte sich konzeptionell in der Bülowschen „Sammlungspolitik“ sowie organisatorisch z.B. in der Zentralisierung der Unternehmerverbände und in der Gründung des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie“. Die Konfrontation erfolgte, als sich außenpolitisch das Deutsche Reich in Konflikte stürzte, deren Hintergrund der Wunsch nach „einem Platz an der Sonne“ ausmachte. Durch die direkte Bezugnahme auf die Kolonialpolitik und die Zuspitzung auf ihre Gegner erhielt die vorfristige Januarwahl von 1907 den Beinamen der „Hottentottenwahl“, da sie regierungsseitig bewusst auch nationalistische und rassistische Ressentiments aufgriff. Am 14. Dezember 1906 veröffentlichte die Reichstagsfraktion der SPD ihren Aufruf zu den Reichstagswahlen. Darin hieß es unter anderem: „Wähler! Ihr habt nunmehr durch die Wahl neuer Abgeordneter zu entscheiden, wie Ihr nicht nur über die Sachlage in Südwestafrika, sondern über unsere gesamte innere und äußere Politik denkt!“11 Mit dramatischen Worten verurteilte der Aufruf die Rüstungspolitik der Regierung, das wachsende Misstrauen der europäischen Mächte gegeneinander und die Politik, die Deutschland in die zunehmende Isolierung führte: „Wir haben unausgesetzt verlangt und verlangen immer wieder, dass die Kulturvölker statt in der Errichtung großer Armeen und Flotten und in der Erfindung und Herstellung der vollendetsten Massenvernichtungsmaschinen in den Werken des Friedens und der Zivilisation wetteifern … Statt dessen sehen wir die herrschenden Klassen, die mit der Losung: Wer den Frieden will, muß für den Krieg sich rüsten,

9 Czitrich-Stahl, S. 417 ff. 10 Ebd., S. 420. 11 Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. IV: März 1898–Juli 1914, Berlin (DDR) 1974, S. 199.

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die Völkerverfeindungspolitik zur Aufrechterhaltung ihrer Klassenherrschaft im Innern betreiben.“12

Des Weiteren verurteilte der Aufruf der Fraktion die Gräueltaten der Vernichtungspolitik in den Kolonien, äußerte das Verständnis dafür, dass sich die Schwarzen gegen die brutale deutsche Kolonialobrigkeit erhoben hatten, und griff die Zollpolitik mit all ihren negativen Folgen für die nicht besitzenden Klassen und Schichten des Volkes heftig an. Die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten äußerten die Hoffnung, dass „die Zustände, die heute herrschen und sich immer mehr zuspitzen werden, dank der Einsichtlosigkeit der herrschenden Klassen, die Revolutionierung der Köpfe herbeiführen, d.h. die Einsicht und den Willen zur Umgestaltung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage schaffen.“13 Unter den Vorzeichen dieser Zuspitzung fand die „Hottentottenwahl“ am 25. Januar 1907 statt. Die Polarisierung im Reich führte vor allem zu Gunsten des rechten Lagers zu Gewinnen. Es profitierte besonders von der gegenüber 1903 von 75,8 % auf 84,4 % erhöhten Wahlbeteiligung.14 Zwar hatte sich in absoluten Zahlen auch die Wählerschaft der Sozialdemokratie weiter vergrößert, nämlich um knapp 250.000 Stimmen, jedoch war es dem „Bülow-Block“ gelungen, eine deutlich größere Anzahl von Neuwählern für sich zu mobilisieren: Erhielten Konservative, Nationalliberale, Linksliberale und Antisemiten 1903 zusammen noch ca. 3,6 Mio. Stimmen, so steigerten sie ihre Gesamtstimmenzahl bei der „Hottentottenwahl“ auf ca. 4,65 Mio. Stimmen. Selbst das Zentrum, das ebenfalls rund 300.000 neue Wähler gewann, sank im Wähleranteil um 0,3 %. Die Sozialdemokratie verlor im Vergleich zur Wahl 1903 beinahe die Hälfte ihrer Wahlkreise, so dass ihre Fraktionsstärke von 81 auf 43 sank. Da sie auch im Wähleranteil beinahe drei Prozentpunkte verlor, musste sie die „Hottentottenwahl“ als ihre erste wahlpolitische Niederlage seit 1881 begreifen. Die Sozialdemokratie war politisch verletzbar geworden. Diese Niederlage jedoch konnte auch die Verteidigung der Berliner Wahlkreise II bis VI, des Niederbarnim (Stadthagen) und des Teltow (Zubeil) nicht wett machen. In der Tat begann die Wahlniederlage bei der „Hottentottenwahl“ das Gesicht der SPD-Politik im Reichstag peu á peu zu verändern. Während im Rückblick Severings Singer „in jedem Richtungsstreit ... im Lager derer (stand), die 12 Ebd., S. 200. 13 Ebd., S. 205. 14 Fricke, Handbuch, Bd. 2, S. 720. Vgl. auch Franz Osterroth/Dieter Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Daten–Fakten–Hintergründe, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1945, Neu bearb. u. erg. Aufl. Bonn 2005, S. 531.

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sich als die Radikalen bezeichneten“, wandelte sich Bebel „nach den Wahlen des Jahres 1907 immer stärker zum Realpolitiker“.15 Bebel selbst litt seit 1907 an einer Herzkrankheit, die seine Aktivitäten für zwei Jahre erheblich beeinträchtigte; Paul Singer vermochte diese Lücke nicht recht zu füllen. Doch auch der organisationsleitende Parteisekretär Ignaz Auer verstarb am 10. April 1907, so dass die sozialdemokratische Fraktion unter Führungsproblemen litt. So bildeten sich in dieser Phase deutlich zwei Fraktionsflügel heraus, die als „Linke“ oder „Radikale“ einerseits und als „Gemäßigte“ oder „Reformisten“ bzw. „Revisionisten“ andererseits bezeichnet werden können, ergänzt um eine Anzahl Ungebundener. Während die Radikalen von Georg Ledebour organisiert wurden, sammelten sich die Gemäßigten um Philipp Scheidemann und Eduard David. Damit bildeten sich jene Grundstrukturen heraus, die nach dem Tode Singers (1911) und Bebels (1913) in die Spaltungsphase der SPD nach dem 4. August 1914 einmünden sollten.16 Am 25. April 1907 hielt Gustav Noske im Reichstag eine Rede, die schlagartig verdeutlichte, wie sehr sich in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion die Gewichte verlagert hatten. Noske sprach sich im Falle eines Angriffs auf Deutschland für die Vaterlandsverteidigung aus. Auch August Bebel äußerte sich auf dem Essener Parteitag vom Herbst 1907 durchaus zustimmend zu Noske.17 Dieser setzte den bahnbrechenden ersten Pflock zur Abwendung von der alten Devise Bebels, nach der diesem System „kein Mann und kein Groschen“ zur Verfügung zu stellen sei. Zudem entwickelte sich der seit dem 1. Dezember 1905 als hauptamtlicher Sekretär im Parteivorstand arbeitende Friedrich Ebert allmählich zum heimlichen Parteivorsitzenden, da er über die meisten Erfahrungen in der organisatorischen Praxis verfügte und politisch auch mit den erfahreneren Genossen mühelos mitzuhalten wusste.18 Diese Umbildung des Strömungsgefüges innerhalb der SPD korreliert mit einer strategischen Herausforderung, die sich aus der erstmaligen Wahlniederlage vom Januar 1907 ableitete. Zwar stieg die Mitgliederzahl der SPD seit 1905 beträchtlich, politischer Einfluss auf Reichsebene und in Preußen erwuchs aus dieser Tendenz allerdings mitnichten. So leiteten die alten und neuen Strömungen der Partei durchaus unterschiedliche Konsequenzen ab: „Die reformistische Strömung zog aus dieser ernüch15 Carl Severing, Mein Lebensweg, Bd. 1: Vom Schlosser zum Minister, Köln 1950, S. 157. 16 Ursula Reuter, Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, Düsseldorf 2004, S. 466 ff. 17 Vgl. Wolfgang Abendroth u.a. (Hg.), Sozialdemokratie und Sozialismus. August Bebel und die Sozialdemokratie heute, Köln 1974, S. 41. 18 Vgl. zu dieser Einschätzung Friedrich Christian Witt, Friedrich Ebert, Bonn 1987, S. 50 ff.

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ternden Einsicht die Schlussfolgerung, die Notwendigkeit einer Ausweitung der sozialen Basis und der Bündnisbeziehungen der Partei zu unterstreichen. Innerhalb der linkssozialistischen Kreise ... versprach man sich von dem enttäuschenden Wahlausgang wenigstens eine Abkehr von parlamentarischen Illusionen, die den Weg für eine offensive Klassenpolitik bahnen sollte.“ Bei Brandt und Lehnert heißt es weiter zu Recht, dass gerade das marxistische Zentrum um Bebel und Kautsky in eine Identitätskrise geriet, die mit dem offensichtlichen Scheitern der Theorie des naturnotwendigen Zusammenbruchs korrespondierte. Um die Parteieinheit nicht zu gefährden, näherten sich die Zentristen nun stärker der gemäßigten Strömung an und konzentrierten sich auf die Stärkung der Organisation einerseits – „Bereit sein ist alles!“ – und auf die Durchsetzung von rechtlichen, materiellen und politischen Fortschritten für die Arbeiterschaft.19 Gerade in der „Massenstreikdebatte“ kamen diese Entwicklungstendenzen deutlich zum Ausdruck.

3. Die „Massenstreikdebatte“ als Katalysator der innerparteilichen Differenzierung Kaum eine programmatisch-strategische Debatte ermöglicht einen derartig präzisen Blick auf die Veränderungsprozesse im Innern der Partei wie die Debatte um den Massenstreik, die im Kern seit dem großen Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet und der russischen Revolution vom Januar 1905 bis zum Magdeburger Parteitag vom September 1910 intensiv ausgetragen wurde. Als deren Hauptprotagonisten sind Rosa Luxemburg auf Seiten der radikalen Linken, August Bebel und Karl Kautsky vom marxistischen Zentrum sowie Eduard Bernstein, Ludwig Frank und Carl Legien auf Seiten der Reformsozialisten und der Gewerkschaften zu benennen. Im Januar 1905 begann im Ruhrgebiet ein umfangreicher Bergarbeiterstreik für den Achtstundentag, höhere Löhne, besseren Arbeitsschutz und für die Anerkennung der Arbeiterorganisationen. Rund 220.000 Kumpel von insgesamt 280.000 im Bergbau Beschäftigten nahmen an dieser Streikbewegung teil. Diese musste im Februar 1905 wieder abgebrochen werden, erzielte jedoch mit der Einrichtung von Arbeiterausschüssen einen Teilerfolg. Darüber hinaus entwickelte sich dieser Streik schnell zu einem politisch bedeutsamen Streik, da er von allen relevanten Gewerkschaften, also auch den christlichen und den Hirsch-Dunckerschen,

19 Brandt/Lehnert, S. 95 f.

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gemeinsam mit den Freien Gewerkschaften geführt wurde, wenngleich mit Widerstreben.20 Am 22. Januar 1905 traten die Arbeiter des Putilow-Werkes in St. Petersburg in den Streik. Als an diesem Tage 140.000 bis 150.000 Demonstranten einen friedlichen Demonstrationszug zum Zarenpalais formierten, um dem Herrscher eine Bittschrift zu übergeben, ließ jener auf die Demonstration schießen. Rund 1000 Tote hinterließ dieser „Blutsonntag“ und rief landesweite Proteste, Massenstreiks und Kämpfe hervor, die bis 1907 andauerten und parallel zum Krieg gegen Japan den Zarismus an den Rand des Zusammenbruchs brachten, zum Aufstand des Panzerkreuzers „Potemkin“ führten, den Friedensschluss mit Japan beschleunigten und erste soziale und politische Reformen erzwangen.21 Die deutsche Arbeiterbewegung reagierte mit einer Welle von Solidaritätsaktionen im Winter 1905, mit Kundgebungen und Volksversammlungen, auf denen die Arbeitskämpfe im Ruhrrevier und die revolutionären Bestrebungen in Russland als Bestandteile eines gemeinsamen Interesses hervorgehoben wurden. Gleichzeitig propagierte nun die linkssozialistische Strömung den politischen Massenstreik als Mittel zur Durchsetzung von gewerkschaftlichen und politischen Zielen, einschließlich der Durchsetzung einer sozialistischen Entwicklungslogik in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Der Gewerkschaftskongress in Köln jedoch folgte an Pfingsten 1905 einer von Theodor Bömelburg eingereichten Resolution, die „alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, entschieden zurückweist“.22 Der Mehrheit der Gewerkschaften ging es dabei vor allem um die Verteidigung ihrer relativen Unabhängigkeit von der SPD, aber auch um die gesicherte Fortsetzung des eigenen organisatorischen Wachstumsprozesses, den ich eingangs dargestellt hatte. In der vom Staat erwarteten Reaktion auf Massenstreiks, nämlich einer erneuten Kriminalisierung und Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung, erblickten sie eine zu vermeidende Gefahr.23 Nun sollte der Parteitag in Jena entscheiden. Nach heftiger Debatte verabschiedete dieser eine Kompromissresolution Bebels, in der der Massenstreik einmütig als ein probates massives Kampfmittel in der Wahlrechtsfrage anerkannt wurde, eine offensive Ausrichtung jedoch ausgeklammert blieb.24 Doch bereits wenige Monate später erreichte die Massenstreikdebatte einen erneu20 Schneider, S. 105 f.; Osterroth/Schuster, S. 99. 21 Czitrich-Stahl, S. 435. 22 Eduard Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung. Dritter Teil: Fünfzehn Jahre Berliner Arbeiterbewegung unter dem gemeinen Recht, Berlin 1910, S. 160. 23 Ebd. 24 Dokumente und Materialien, S. 157; Vgl. auch Bernstein, S. 162.

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Auf dem Weg zum Parteitag 1905: Wilhelm Pfannkuch, August Bebel und Paul Singer (von rechts nach links)

ten Zwischenhöhepunkt, der am „roten Sonntag“, dem 21. Januar 1906, seinen Ausgang nahm. Die Solidaritätsaktionen mit der russischen Revolution und die Wahlrechtsfrage in Preußen wurden politisch miteinander verknüpft und stellten die Wahlrechtsfrage in eine sozialistische Perspektive, was zunächst im Parteivorstand durchaus umstritten diskutiert wurde. Doch in ihm überwog die Skepsis. So kam es Mitte Februar 1906 zu jener Absprache zwischen den Spitzen der Partei und der Freien Gewerkschaften, die den weiteren politischen Entscheidungsverlauf der Massenstreikdebatte vorstrukturieren sollte, dem sogenannten „Geheimabkommen“. In ihm traf man die Übereinkunft, keinen Massenstreik zu propagieren, wenn die Grundstimmung in der Arbeiterschaft in dieser Frage nicht eindeutig sei. Federführend für beide Verbandsspitzen verfolgten August Bebel und Carl Legien nun das Ziel: „Wir sollten vor allem

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Frieden und Eintracht zwischen Partei und Gewerkschaften herbeiführen.“25 Diese Linie wurde auf dem Mannheimer Parteitag vom September 1906 mit eindeutiger Mehrheit bestätigt, auch die beißende Kritik Rosa Luxemburgs vermochte daran nichts zu ändern. Tatsächlich erreichten die in der ersten Jahreshälfte 1906 nachfolgenden Massenaktionen der Arbeiterbewegung am 18. März und zum 1. Mai nicht mehr die mobilisierende Wirkung wie der „rote Sonntag“, gleichzeitig erhielt die Obrigkeit ihre Repressionsdrohungen aufrecht. Karl Kautsky erblickte in der mangelnden selbstständigen Aktionsbereitschaft die Ursache für die Stagnation der politischen Wirkung der Massenaktionen, Rosa Luxemburg vor allem in der zunehmenden, aus ihrer Sicht ausschließlichen Orientierung der Parteiführung auf die parlamentarische Ebene. Dennoch verdeutlicht sich an dieser Frage das strategische Dilemma der Sozialdemokratie jener Entwicklungsphase abermals. Es drückte sich in der Mannheimer Resolution exemplarisch aus. Während der Jahre 1908 und 1910 kam es zu weiteren Wahlrechtskämpfen in Preußen. Am 18. März 1908 anlässlich der preußischen Landtagswahlen, zudem am 13. Februar und am 6. März 1910 organisierte die Preußen-SPD Massenversammlungen und Großdemonstrationen, die allein in Berlin im März 1910 rund eine Viertelmillion Menschen mobilisierten. Doch da sich die Gewerkschaftsführung gegen die weitere Zuspitzung hin zum Massenstreik aussprach, flaute die Massenbewegung nach und nach ab. Der Magdeburger Parteitag im September 1910 jedenfalls entschärfte einen Antrag Rosa Luxemburgs zur offensiven Anwendung des Massenstreiks im Wahlrechtskampf in Preußen. Damit hatte sich die Koalition aus Gemäßigten und marxistischem Zentrum endgültig durchgesetzt.26 Aus dieser strategisch zentralen Auseinandersetzung ging das Signal hervor, dass die Partei nur noch dann auf die massivsten Mittel des Konflikts setzen würde, wenn alle verfügbaren Mittel der Kooperation ausgeschöpft seien. Dies lenkte die strategische Orientierung vor allem auf die parlamentarische Arbeit im Reich, auch in den Ländern und Kommunen, wo sich mancherorts bereits ein zartes Pflänzchen der Kooperation mit den Linksliberalen und dem Zentrum herauszubilden begonnen hatte. Man versprach sich Reformschritte diesseits der Schwelle der Überwindung der junkerlich-kapitalistischen Ordnung und erhoffte sich nach Kautsky deren „Ermattung“. Ansonsten galt in Erwartung einer kommenden allgemeinen Systemkrise geradezu schon teleologisch die Devise „Bereit sein ist alles!“

25 Schneider, S. 97; Brandt/Lehnert, S. 95. 26 Dokumente und Materialien, S. 322 ff.; Vgl. auch Severing, S. 181.

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Im Laufe der Massenstreikdebatte durchlief die SPD einen innerparteilichen Differenzierungsprozess. Durch das in Jena beschlossene Organisationsstatut entwickelte sie sich zu einer Massenpartei, deren Mitgliederzahl deutlich auf die Millionengrenze zustrebte. Dieser Wachstumsprozess besaß zwar regional unterschiedliche Ausprägungen, vollzog sich aber reichsweit. Doch vor allem zeigte sich spätestens ab dem Magdeburger Parteitag, dass die politische Struktur der SPD sich gewandelt hatte. Die klassische marxistische Linke existierte nicht mehr als homogenisierbare Kraft, vielmehr gruppierte sich ein „marxistisches Zentrum“, orientiert sowohl an der II. Internationale und am Erfurter Programm als auch an den Möglichkeiten der Parlamentsarbeit, um Bebel und Kautsky. Hingegen entwickelte sich um Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Franz Mehring eine neue, radikalere Linke, die Massenaktionen als Mittel der Transformation propagierte und der vorrangigen Parlamentsorientierung eine Absage erteilte. Dazwischen bewegten sich „Linkszentristen“ wie Georg Ledebour, Wilhelm Dittmann oder Arthur Stadthagen. Doch entscheidend für die weitere Entwicklung sollte die stetige Stärkung des gemäßigt-sozialistischen Flügels sein, dem Friedrich Ebert, Ludwig Frank, Georg von Vollmar, Philipp Scheidemann, Carl Legien und Otto Wels, auch Paul Löbe, um nur einige zu nennen, das politische Gesicht verliehen. Sich auf die Gewerkschaften stützend und mit dem marxistischen Zentrum verbindend prägte er seit 1907 zunehmend das Gesicht der Sozialdemokratie.

4. Die Parlamentsrhetorik der SPD 1903–1907: Primat der Opposition? In dem von Arthur Stadthagen gehaltenen Rechenschaftsbericht der Reichstagsfraktion auf dem Dresdener Parteitag von 1903 verdeutlicht sich einmal mehr, dass die damalige Parlamentsarbeit der Sozialdemokratie vorwiegend auf folgenden Säulen basierte: Erstens auf der Analyse der Gesetzgebung und ihrem klassenbedingten Nutzen für die Privilegierten bzw. Schaden für die Unterprivilegierten; zweitens auf der Agitation in der Arbeiterschaft, der man den Klassencharakter der Gesetzgebung darlegte und den Kampf um die „Revolutionierung der Köpfe“ führte; drittens in der parlamentarischen Praxis auf dem Ausnutzen der Widersprüche zwischen den bürgerlichen Parteien, um kleinere materielle oder politische Verbesserungen für die Arbeiterschaft durchzusetzen. Im Grunde also verfolgte die Sozialdemokratie am Beginn des 20. Jahrhunderts noch weitgehend konsequent die Strategie, das Parlament als „Tribüne des Klassenkampfes“ zu nutzen, um die eigene politische und sozi-

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ale Gegenmacht zu stärken. In der von Stadthagen vorgebrachten Bewertung der „Zolltarifvorlage“ von 1902 wird dieses Herangehen deutlich: „Die vor Weihnachten verabschiedete Zolltarifvorlage ist ein Klassengesetz schlimmster Natur. Gesetzliche Begünstigung und Förderung der Macht des Großkapitals gegenüber der Arbeit ist der eigentliche Gesichtspunkt, der das Tarifgesetz und die 946 Positionen des Tarifs beherrscht ... Ungeheure materielle Vorteile hätten von dem Gesetz ... die Großgrundbesitzer, ein Teil der Großfabrikanten, die Hypothekenbanken und die Aktionäre der ‚schweren Industrie’ – und das auf Kosten der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung der Arbeiterklasse, des Mittelstandes, des Handwerkers und des Kleinbauern.“27

Somit war die Einbettung der Parlamentsarbeit in die Strategie der Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit umrissen. Im Folgenden legte Stadthagen detailliert die sozialen Auswirkungen für die „kleinen Leute“ dar und verband diese Zahlen, Fakten und Analysen mit einer auf die öffentliche Agitation gerichteten Sprache und Argumentation. Zur Parlamentstätigkeit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion wiederum formulierte Stadthagen, diese sei bestrebt gewesen, „die schädigenden Wirkungen des Gesetzentwurfs in breitester Öffentlichkeit darzulegen, die sachliche Verhandlung des Gesetzes zu verlangen und mit allen geschäftsordnungsmäßig zulässigen Mitteln darauf zu dringen, daß dem Wesen des Parlamentarismus entsprechend die Diskussion über die einzelnen Forderungen des Zolltarifs und des Zolltarifgesetzes öffentlich im Parlament vorgenommen und die Stellung der einzelnen Abgeordneten zu den wichtigen Teilen des Gesetzes durch namentliche Abstimmungen klargelegt werde ... Die Fraktion war entschlossen, alle geschäftsordnungsmäßigen Mittel anzuwenden, um eine solche Vorlage zu Fall zu bringen.“28 Dazu zählte auch die aus England bekannte Taktik der „Obstruktion“, also des gezielten Herauszögerns von Beschlüssen mit Hilfe von Dauerreden, Geschäftsordnungsanträgen und beantragten Sondersitzungen. Die sozialdemokratischen Parlamentarier waren längst geübt in der Anwendung der parlamentarischen Möglichkeiten, aber eben auch in der alltäglichen Arbeit in den Kommissionen. Die Nagelprobe auf die kooperative Mitarbeit in der gesetzgeberischen Körperschaft eines Staates, dessen Eliten sie als „vaterlandslose Gesellen“ 27 Landesarchiv Berlin, A Pr Br Rep 030, Nr. 9485 betreffend den Congreß der Sozialdemokratie Deutschlands im Jahre 1903 in Dresden, Blatt 24: Bericht über die parlamentarische Thätigkeit, S. 1. 28 Ebd., S. 6.

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ausgrenzten, hatte die SPD spätestens in der Zweiten Kommission zur Erarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1896 bestanden, in der neben Stadthagen noch der Hamburger Karl Frohme mitarbeitete. Zwar konnten die beiden nur eine einzige Bestimmung auf einen sozialdemokratischen Antrag hin durchsetzen, doch hatten sich zahlreiche Gelegenheiten zur Kooperation mit bürgerlichen Abgeordneten ergeben, deren Resultat Rechtsbestimmungen waren, die kleinere Fortschritte der Rechtsstellung der „kleinen Leute“ bewirkten. Solche Anträge der liberalen Parteien oder des Zentrums, selbst der Konservativen, wurden von den beiden Sozialdemokraten mitgetragen.29 Dennoch lehnte die Fraktion das BGB als Ganzes ab, was vor allem der politischen Wirkung einer Zustimmung geschuldet sein dürfte, denn diese hätte den Charakter der SPD als der Oppositionspartei der Arbeiterschaft sicherlich Risse verliehen. Auch das vergebliche Mühen, das Zolltarifgesetz zu Fall zu bringen – das Gesetzgebungsverfahren wurde bekanntlich auf eine Weise beschleunigt, dass Paul Singer von einem „parlamentarischen Staatsstreich“ sprach30 – zeigte der SPD die zumindest temporären Grenzen ihres parlamentarischen Wirkens auf: Einerseits durfte der Anschein zu bereitwilliger Kooperation mit den bürgerlichen Parteien und dem wilhelminischen Staat nicht erweckt werden, andererseits sah sich eine Fraktion von damals 56 Abgeordneten weit davon entfernt, mehrheitsfähig zu sein. So wies Stadthagen vor den Parteitagsdelegierten auch auf die kleinen Verbesserungen hin, die erreicht worden waren. Vor allen Dingen aber konnte die sozialdemokratische Fraktion durch ihr Insistieren auf einer der Geschäftsordnung entsprechenden Behandlung einen moralischen Erfolg für sich verbuchen, hatte doch die Mehrheit unter deren „Überdehnung“ das Zolltarifgesetz „durchgepeitscht“. Ihr hartes Ringen gegen dessen Verabschiedung, kombiniert mit Volksversammlungen auf der außerparlamentarischen Ebene, hatte die Partei moralisch, argumentativ und organisatorisch gestärkt. Genau aber diese Feststellung untermauert, dass der Hauptzweck des Parlaments im sozialistischen Denken jener der „Tribüne des Klassenkampfes“ war. Auch die Betrachtung der politischen Reden von Sozialdemokraten im Reichstag jener Periode widerspiegelt diese Grundstruktur und ihre genannten Elemente. In seiner Rede zum Entwurf des „Heimstättengesetzes“ am 25. Februar 1904 begann Stadthagen zunächst seine Kritik am Entwurf mit grundsätzlichen politischen und rechtsgeschichtlichen Bemerkungen. Die Sozialdemokraten müssten „auch diesem Gesetzentwurf im Interesse des Kleinbauern, 29 Czitrich-Stahl, S. 267 ff. Anzusprechen wären hier u.a. das Familienrecht oder das Vereinsrecht als politische Resultate. 30 Reuter, S. 394 f.

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im Interesse der Arbeitskraft und im Interesse der Wahrheit, im Interesse von Treu und Glauben entgegentreten. Meine Herren, schreiben Sie über den Gesetzentwurf lieber darüber: Gesetzentwurf zur Fesselung des Kleinbauern, Gesetzentwurf zur Beseitigung der Freizügigkeit, zur Förderung der Industrie, zur Knechtung an die Scholle dem Kleinbauern gegenüber, zur Förderung des Großgrundbesitzes und Erleichterung seiner Ausbeutung dem Kleinbauern gegenüber.“31 Alsdann setzte er sich mit den Argumenten der Befürworter auseinander und hielt diesen Stück für Stück die sozialdemokratischen Gegenargumente entgegen, besonders mit Blick auf die rechtliche Betroffenheit der Kleinbauern und auf deren soziale Lage. Die im Entwurf unklare Festlegung einer Mindestgröße von Kleinbauernhöfen („Heimstätten“) standen im Mittelpunkt der Argumentation Stadthagens: „§ 2 sagt: Die Größe einer Heimstätte darf die eines Bauernhofes nicht übersteigen. Sie muß wenigstens einer Familie Wohnung gewähren und die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte ermöglichen ... Was aber ist die Folge einer solchen Höferolle ... eines solchen Heimstättengesetzes, eines Gesetzes, welches sagt, daß ein Gut nur auf einen übergehen soll? Die direkte Folge ist doch, ganz abgesehen davon, ob der Inhaber sich in der Tat darauf selbständig ernähren kann oder nicht, die, daß die übrigen Kinder hinausgestoßen werden in das Elend, daß sie abströmen müssen in die Industrie oder sich als Tagelöhner verdingen.“32 Der Schluss der Rede ist als Zusammenfassung wieder vorwiegend agitatorisch ausgerichtet, vermutlich als Blaupause für die Berichterstattung der Parteipresse: „Aber wenn Sie eine Gesetzgebung machen, die da sagt: der einzelne, der die Mittel dazu nicht hat, hat das Recht – damit er Arbeitsvieh der Großgrundbesitzer bleibt –, seine Gläubiger nicht bezahlen zu müssen, so treiben Sie ihn dem Wucher entgegen und treiben sie die Familien auseinander; sie treiben die anderen Kinder, die nicht das Glück haben, als Erstgeborener da zu sein, aus der Familie hinaus und treiben sie in den industriellen oder Tagelöhnerberuf hinein, und das sollte doch nicht Ihre Absicht sein.“33

Diese auf Außenwirkung über die Presseberichterstattung bedachte rhetorische Grundstruktur findet sich nicht allein bei Arthur Stadthagen wieder, sondern durchzieht im Wesentlichen die wichtigen inhaltlichen Reden von Sozialdemokraten im Reichstag. Dies ist um so weniger erstaunlich, weil viele Fraktionsmitglieder gleichzeitig als „Arbeiterbeamte“, wie bereits erwähnt, 31 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002808_00000.html, 42. Sitzung vom 25. Februar 1904, S. 1277. 32 Ebd., S. 1279. 33 Ebd., S. 1280.

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besonders als Redakteure in den wichtigen Presseorganen der Partei tätig waren – Stadthagen beispielsweise wirkte seit 1893 am „Vorwärts“ mit. Die klassenkämpferisch ausgerichtete Rhetorik galt daher in der Hauptsache dem Primat der Opposition als dem Kern des Selbstverständnisses der Partei.

5. Abschiede und Neuanfänge: Die SPD zwischen Tradition und Transformation Im Grunde markiert die Dekade zwischen 1903 und 1912 nicht nur den politisch-ideologischen Veränderungsprozess der Sozialdemokratie, sondern auch den Wandel der Führungsgeneration. August Bebel, der kurz vor seinem Tod anlässlich des 25. Thronjubiläums Wilhelms II. 1913 noch als „Arbeiterkaiser“ sozialistisch geadelt wurde, prägte die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten. Wilhelm Liebknecht verstarb im Sommer 1900 als erster der Parteiführer der Gründergeneration, sieht man von Lassalle ab. Ignaz Auer, der Parteisekretär, segnete das Zeitliche am 10. April 1907. Durch Krankheit seit 1907 zeitweise von der Partei- und Parlamentsarbeit ferngehalten, erhielt Bebel an seinem 70. Geburtstag am 22. Februar 1910 das „Goldene Buch“ mit Glückwünschen und Widmungen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Doch auch diese eindrucksvolle Geste der Verehrung ließ ihn nicht wieder gesunden, er hielt seine letzte große Rede im Reichstag allerdings am 9. November 1911 anlässlich der Marokkokrise und warnte prophetisch vor dem herannahenden Weltenbrand. Die SPD verlor am 31. Januar 1911 ihren Mitvorsitzenden und faktisch die frühere „Nr. 3“ in der Hierarchie: Der jüdische Berliner Paul Singer wirkte nicht nur als begnadeter Parlamentarier im Reichstag, sondern auch als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion in der Berliner Stadtverordnetenversammlung und vor allem als Parteimäzen, der das „Berliner Volksblatt“ 1884 gegründet und finanziert hatte, bis es im „Vorwärts“ aufging. In Berlin machte er sich überdies in der Obdachlosenhilfe verdient und wurde regelrecht verehrt in der Arbeiterbewegung. Seinen letzten Weg begleitete nahezu eine Million Menschen. Auf Auer, Singer und Bebel folgten Friedrich Ebert, Hugo Haase und Philipp Scheidemann als zentrale Persönlichkeiten in den Führungen der Partei und der Reichstagsfraktion. Neben diesem Generationswechsel an der Spitze der Partei widerspiegelten sich diese Richtungskonflikte auch auf anderen Ebenen. Die organisatorische Festigung der SPD nach 1905 verlangte nach einem qualifizierten Funktionärskörper, dessen Ausbildung nun über die seit dem 15. November 1906 arbeitende Parteischule in der Lindenstraße 3 vonstatten ging. Schon die Frage des Lehrerpersonals offenbarte das Ringen um die Gestaltungsmacht,

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denn am Anfang sollten dem Leiter Heinrich Schulz vor allem Vertreter des gemäßigten Flügels an die Seite gestellt werden.34 Doch im weiteren Vorbereitungsprozess rückten immer stärker Vertreter des traditionellen Marxismus und der jüngeren Linken in den Lehrkörper: So z.B. Arthur Stadthagen, Franz Mehring, Emanuel Wurm, Heinrich Cunow, Kurt Rosenfeld, Rudolf Hilferding, Georg Ledebour und Rosa Luxemburg. Allerdings gab es eine Konkurrenz mit den Freien Gewerkschaften und ihrem Bildungsinstitut im Gewerkschaftshaus am Engelufer, denn dort vertrat man eher die gemäßigte Linie, so dass Johannes Sassenbach von ihr als der „Friedensschule“ und von der Parteischule als der „Kriegsschule“ sprach, gemünzt auf die Partei- und Gewerkschaftslinie im Umgang mit dem politischen und wirtschaftlichen Gegner.35 Auch der zu gründende Arbeiterjugendverband wurde im Entstehungsvorfeld zum Zankapfel. Hier setzte sich die Ebertsche Konzeption eines enger an den Parteivorstand gebundenen Verbandes durch.36 In der Redaktion des „Vorwärts“ versammelten sich nach einer Art Putsch gegen Kurt Eisner und Georg Gradnauer seit Ende 1905 vorwiegend Vertreter des traditionellen Marxismus, namentlich z.B. Stadthagen, Karl Leid, der spätere Weddinger Bezirksbürgermeister, Heinrich Ströbel, aber auch der 1912 von den Linksliberalen zur SPD gestoßene Rudolf Breitscheid. Nicht zuletzt sein Übertritt zur SPD dokumentiert, dass es tatsächlich eine Kooperationsbrücke zu anderen fortschrittlichen Parteien gab, deren Fundamente – zaghaft entstanden schon während der BGB-Beratungen 1896 – nun langsam tragfähig zu werden schienen. Nicht zuletzt dürfte der stramm konservativ ausgerichtete „Bülow-Block“, der die Linksliberalen und das Zentrum immer wieder unter Druck setzte, deren progressive Vertreter zu vorsichtigen Kooperationsschritten mit der SPD gedrängt haben. Deren Anwachsen ließ perspektivisch neue Mehrheitskonstellationen möglich erscheinen, so wie sie letztlich im „Interfraktionellen Ausschuss“ während des Krieges und später in der „Weimarer Koalition“ zutage traten. Da sie SPD 1906 und 1910 in puncto Massenstreik deutlich Zurückhaltung signalisiert hatte, konnten linke Liberale wie „schwarze Rote“ (vom Arbeiterflügel der katholischen Zentrumspartei) dies durchaus als Ermutigung begreifen. 34 Vgl. Czitrich-Stahl, S. 461 ff. Genannt wurden anfänglich z.B. Max Schippel, Robert Schmidt, Carl Legien, Johannes Sassenbach, Eduard David und Georg von Vollmar, aber auch Hugo Heimann und Clara Zetkin. 35 Johannes Sassenbach, Erinnerungen (Faksimile), Hg. Johannes-Sassenbach-Gesellschaft, Berlin 1999, S. 53. 36 Osterroth/Schuster, S. 114.

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Die Nagelprobe, ob die Sozialdemokratie nun den Weg stärkerer parlamentarischer Kooperation anstelle der klassenkämpferischen Konfrontation suchen würde, konnte allerdings nur in der Haltung zum Budget im Reich und in den Ländern vorgenommen werden. Hier vollzog sich ein weiterer Transformationsschritt der SPD in dieser Dekade. In einigen süddeutschen Ländern arbeiteten dort vorwiegend gemäßigt orientierte Sozialdemokraten bereits in festeren Konturen mit den Liberalen zusammen. Im Süden des Reiches „herrschte ... ein liberaleres Klima. Durch Wahlbündnisse mit bürgerlichen Parteien, Zustimmung zum Etat und Gesetzesvorlagen errang die SPD hier sozialpolitische und demokratische Zugeständnisse, wie z.B. die Ersetzung von Klassenwahlsystemen durch ein allgemeines, gleiches Wahlrecht.“37 Doch die Mehrheit in der Gesamtpartei sträubte sich mit großem Nachdruck gegen eine Mäßigung der Parlamentstaktik zugunsten einer kooperativen Orientierung. Den süddeutschen „Budgetbewilligern“ wurde auf dem Magdeburger Parteitag sogar mit dem Parteiausschluss gedroht, sollten sie wie 1908 und 1910 weiterhin an ihrer Politik der Kooperation bis hin zum badischen „Großblock“ festhalten. Doch schon im Juni 1913, kurz vor dem Tod Bebels, vollzog auch die Reichstagsfraktion eine Kehrtwende und stimmte für die „Deckungsvorlage“, die erstmals die Vermögenden mit einer expliziten Steuer belegte. Dieser Kurswechsel beruhte auf zwei Komponenten: Einerseits auf dem triumphalen Ergebnis der SPD bei der Reichstagswahl vom Januar 1912, das den gemäßigten Flügel der Fraktion erheblich gestärkt hatte, andererseits auf dem gemeinsamen Drängen von Sozialdemokratie, Linksliberalen und Teilen des Zentrums auf Aufwertung des Reichstags.

6. Gustav Noskes „Tabubruch“ als Indiz für einen beginnenden Strategiewandel im Reichstag? Nach der Wahlniederlage bei der „Hottentottenwahl“ sah sich die Sozialdemokratie zum Überdenken ihres strategischen Arsenals veranlasst. Offensichtlich aber ging es vor allem um eine Erweiterung der Möglichkeiten des Auftretens, denn eine generelle Abkehr von der klassenkämpferischen Orientierung war innerparteilich nicht im Mindesten durchsetzbar und wäre vermutlich beim politischen Gegner als unglaubwürdig eingestuft worden. Dennoch musste es ein Signal geben, um diesen potenziellen Öffnungsprozess nach außen erkennbar zu machen. Gustav Noskes bereits erwähnte Rede am 25. April 37 Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848–1983, 5. Aufl. Bonn 1983, S. 64.

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1907, nur zwei Monate nach der Eröffnung der 12. Legislaturperiode, kann man aus heutiger Sicht als ein solches Signal deuten. Von daher soll sie einmal näher betrachtet werden. Bei der Fortsetzung der zweiten Beratung über den Etat des Reichsheeres begann Noske seine Rede mit einem Vorwurf an die bürgerlichen Parteien, diese würden „falsche Behauptungen über die Sozialdemokratie“ verbreiten, und schloss mit aufschlussreichen Bemerkungen an: „Meine Herren, wir haben nicht, wie das gestern wieder behauptet wurde, den Standpunkt des ,alles oder nichts‘ in der Militärfrage vertreten ... Wo ist es denn jemals einem Sozialdemokraten eingefallen, die plötzliche Abschaffung des Heeres zu vertreten? Nichts weiter haben wir getan als die allmähliche Umwandlung des Heereswesens in unserem Sinne gefordert und erstrebt.“38 Man könnte diese Äußerungen durchaus als eine Umschreibung dafür deuten, dass es laut Noske der Sozialdemokratie nicht um eine scharfe Zäsur im Militärwesen gehe, sondern um einen evolutionären Prozess der Umgestaltung. Sinnbildlich könnte diese Position in den gesellschaftspolitischen Raum überführt und so verstanden werden, dass die SPD nun eine evolutionäre Grundlinie verfolge. Dass gerade die zentrale Frage des Militärwesens die Bühne für eine solche schwerwiegende Positionierung bildete, spricht eher dafür als dagegen, dass hier ein kräftiger Zaunpfahl als Wink an die Adresse der politischen Konkurrenz geschwungen wurde. Im Folgenden nämlich listete Noske zahlreiche konkrete Einsparvorschläge auf, die für sich genommen logisch waren, vor allem aber signalisieren konnten, dass es der Reichstagsfraktion Ernst sei mit einer kompromissfähigen Position. Und wie zum Beweis nahm er eine alte Forderung der Linksliberalen auf, als er vehement für die Demokratisierung und soziale Öffnung des Offizierskorps eintrat.39 Außerdem nahm Noske expressis verbis selbst Stellung zur Frage, ob die Sache oder die von der SPD beabsichtigte Wirkung im Vordergrund stünden, als er im Plenum ausführte: „Wenn Forderungen, wie sie von der Sozialdemokratischen Partei, besonders von meinem Parteigenossen Bebel hier seit Jahren im Reichstag vorgetragen sind, eine agitatorische Wirkung ausüben, wie der Herr Abgeordnete v. Oldenburg hier gestern ausführte, so liegt die Schuld daran nicht an der Sozialdemokratie, sondern lediglich an der Regierung und den bürgerlichen Parteien, die die gerügten Übelstände, auch nachdem man sie als solche erkannt hat, ruhig weiter bestehen lassen. Herr v. Oldenburg sagte gestern, daß er und seine Parteigenossen gegen den sozialdemokrati38 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002838_00000.html, 38. Sitzung vom 25. April 1907, S. 1093. 39 Ebd., S. 1094 f.

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schen Antrag auf Erhöhung der Löhnung für die Mannschaften stimmen werden, weil von der Sozialdemokratie eine agitatorische Wirkung beabsichtigt sei. Wir bestreiten, daß agitatorische Wirkung die Absicht des Antrages gewesen ist. Ganz mit Recht ist gestern schon darauf hingewiesen worden, daß die Leute, die unter den Mißständen im Heere zu leiden haben, Fleisch von unserem Fleische, Bein von unserem Beine sind, unsere Verwandten, unsere Angehörige sind, sodaß es ganz selbstverständlich ist, daß wir deren Interesse wahrnehmen und deren Lage erträglicher zu machen suchen.“40

So klingt eine klassische sozialistische Reformpartei und keine revolutionäre Oppositionspartei. Indem Noske negiert, dass der agitatorische Zweck eines Antrages, stellvertretend für die gesamte sozialdemokratische Parlamentspolitik, der eigentliche Zweck sei und stattdessen betont, dass die Durchsetzung von sozialen, politischen, materiellen oder rechtlichen Verbesserungen der Lage der Unterprivilegierten im Vordergrund stünden, drehte er den Spieß um, als habe es nie „Fensterreden“ und ebensolche Anträge im Reichstag als der „Tribüne des Klassenkampfes“ gegeben. Interessant ist dabei vor allem Noskes ausdrückliche Berufung auf August Bebel und vor allem sicherlich nicht ohne politische Symbolik. Doch am bemerkenswertesten ist ihre Schlusspassage, in der der Redner von der Reichsregierung eine „ehrliche, rückhaltlose Friedenspolitik“ fordert und bekräftigt, dass die SPD an der Wehrhaftigkeit Deutschlands festhalte und alle militärischen Einrichtungen unterstütze, die der „Verteidigung unseres Vaterlandes“ notwendig seien.41 Dazu gehöre insgesamt eine, wie man es auch ausdrücken könnte, Militärreform an Haupt und Gliedern. Für Sozialdemokraten der damaligen Ära, Sozialistengesetz, Zuchthausvorlage und ihnen zugeschriebenem vaterlandslosen Gesellentum gerade entkommen, war dies gewiss starker Tobak. Vielleicht nicht zufällig fehlt am Redeschluss das nach außen gerichtete Pathos, das die Grundlage für einen ausführlichen „Vorwärts“-Artikel bereit gestellt hätte. Bedenkt man, dass Bebel diese Rede Noskes auf dem nachfolgenden Parteitag ausdrücklich guthieß, könnte einiges für die dargelegte Interpretation sprechen. Offen muss dabei allerdings bleiben, inwieweit die Mehrheit der Fraktion diesen eingeschlagenen Pflock mittrug oder ob es sich um eine Art Coup gehandelt haben könnte, denn diese Rede Noskes löste bekanntlich eine heftige innerparteiliche Kontroverse aus. Aber könnte auch dies nicht mit Absicht inszeniert worden sein? Dieser Spur zu folgen könnte sich als durchaus lohnend erweisen, vor allem, wenn sie sich verdichten sollte. Briefwechsel zwischen

40 Ebd., S. 1096. 41 Ebd., S. 1101.

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führenden Repräsentanten eines Reformkurses mögen vielleicht wertvolle Hinweise geben.

7. Die Novelle der Gewerbeordnung 1907/08 – begrenzte Kooperation und maximale Agitation? Die besondere Aufmerksamkeit der Sozialdemokratie als politischer Kraft im Reichstag galt natürlich den Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Heute sprechen wir vom Arbeitsrecht, das alle diesbezüglichen Bestimmungen kodifziert. Von „Arbeitsrecht“ im eigentlichen Sinne eines eigenständigen Rechtsbereiches kann im Deutschen Kaiserreich kaum die Rede sein. Einerseits existierte bis zum 31.12.1899 keine Rechtseinheit im Deutschen Reich, andererseits dominierte die Auffassung, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Privatpersonen vertraglich gegenüber stünden. Die klassische liberale Wirtschaftstheorie mit ihren Kernforderungen von Gewerbefreiheit und Konkurrenz sah in den sich gegenüberstehenden Akteuren „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ freie und ebenbürtige Wirtschaftssubjekte, die in ihren vertraglich aufeinander bezogenen Handlungen (Lohn, Arbeitsbedingungen) völlige Handlungsfreiheit besäßen. Diese Ebenbürtigkeit bestand in der sozialen Realität deutlich sichtbar nicht, außerdem war die Rechtslage durch die geltenden landesrechtlichen Bestimmungen überaus unübersichtlich. Reichsrechtlich fasste die „Gewerbeordnung“ die wichtigsten arbeitsund sozialrechtlichen Bestimmungen zusammen, oft weniger rückschrittlich als es das preußische Recht vornahm. Die „Gewerbeordnung“ wurde mehrmals novelliert, zuletzt 1908. In sie fanden nach und nach Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes Eingang, so neben der Einschränkung der Kinderarbeit auch ein Verbot der Nachtarbeit für Frauen, eine Arbeitszeitregelung von höchstens zehn Stunden für Jugendliche und Frauen an Werktagen, für Frauen an Wochenend- und Feiertagen von maximal acht Stunden, ein Mutterschutz von acht Wochen.42 Für Männer galt in der Regel ein Zehn- bis Elfstunden-Arbeitstag, der bis 1914 auf neuneinhalb Stunden sank.43 Streitfragen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Löhne, Arbeitsbedin42 Arthur Stadthagen, Die Novelle der Gewerbeordnung vom Dezember 1908. Nachtrag zum Arbeiterrecht, Stuttgart 1909, S. 11 ff. Beim „Arbeiterrecht“ handelt es sich um den gleichnamigen Rechtsratgeber Arthur Stadthagens, der von 1895 bis 1904 in vier erfolgreichen Auflagen erschien. 43 Holger Czitrich-Stahl, Arbeitsrecht im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, http://www. rechtprogressiv.de/arbeitsrecht-im-deutschen-kaiserreich-1871-1918/#more-470 (Zugriff am 1. Januar 2014).

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gungen usw. klärten seit 1904 paritätisch besetzte Gewerbegerichte, die Vorläufer der heutigen Arbeitsgerichte. In den Betrieben selbst wachten seit 1909 Arbeiterausschüsse über die Arbeitsordnung und den Arbeitsschutz. Sie waren sowohl die Vorläufer der Betriebsräte als auch der Berufgenossenschaften. Im Reichstag wurde die Novelle der Gewerbeordnung seit dem 27. Februar 1908 beraten. Erster Redner der SPD-Fraktion zur Sache war Adolf Albrecht. Seine Rede enthielt viele Elemente des klassischen sozialdemokratischen Vorgehens, also eine deutliche agitatorisch-klassenkämpferische Rhetorik. Das Vorpreschen Noskes in die Richtung eines Kooperationsangebots an die bürgerlichen Parteien schien keine wahrnehmbare Haltungsänderung der SPD gegenüber bewirkt zu haben. Dennoch zeigt auch Albrechts Schlusssatz einen Wandel hin zu stärkerer Integration und zur Konzentration auf Reformen an, wenn er feststellte, dass sich seine Fraktion an den Kommissionsberatungen beteiligen werde, um für die Lehrlinge mehr Rechte durchzusetzen, obwohl sie sich für die Vorlage der Regierung „nicht erwärmen“ könne.44 Am 29. Februar 1908 wiederum hielt Fritz Geyer eine sehr kämpferische Rede, die sich an den klassischen sozialdemokratischen Redestrukturen orientierte, welche eine klare Oppositionshaltung zum Ausdruck brachten und vom Reichstag aus die Arbeiter zum Anschluss an die Gewerkschaftsbewegung aufrief.45 Am 2. März wiederum betrat Arthur Stadthagen die Rednertribüne und bezog sich auf konkrete Gegenentwürfe der SPD zu den Bestimmungen der Novelle der Gewerbeordnung. Außerdem wies er auf ältere Vorarbeiten seiner Fraktion zum BGB oder zum Handelsgesetzbuch hin, in denen bereits Verbesserungsvorschläge unterbreitet, aber abgelehnt worden seien. Auch hier trat insgesamt neben die klare Charakterisierung des Entwurfs als ausschließlich unternehmerfreundlich der Appell, in der Kommissionsarbeit „darauf bedacht zu sein, statt des Werks, das Ihnen vorgelegt ist, wirkliche Arbeiterschutzbestimmungen hineinzuarbeiten.“46 Man erkennt durchaus das Bestreben, die mobilisierende und aufklärerische Wirkung des parlamentarischen Agierens mit tatsächlichen Reformschritten zu verknüpfen, mithin also eine deutliche Bezugnahme auf das klassische Vorgehen der Fraktion im Parlament. Am Ende des parlamentarischen Prozederes stand am 9. Dezember 1908 die Schlussabstimmung. Stadthagen sprach für die Fraktion die erstaunlichen, einen Veränderungsprozess der Gesamtfraktion hin zu mehr 44 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002840_00000.html, 110. Sitzung vom 27. Februar 1908, S. 3439 ff. 45 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002841_00076.html, 112. Sitzung vom 29. Februar 1908, S. 3523 ff. 46 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002841_00105.html, 113. Sitzung vom 2. März 1908, S. 3557.

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Kooperation anzeigenden Worte: „Meine Herren, man kann für die Gesetzesvorlage unter den Vorbehalten, die ich gemacht habe, daß sie außerordentlich wenig bietet, stimmen. Wir werden dafür stimmen. Aber, meine Herren, dringend möchte ich bitten, jeder Verschlechterung ... entgegenzutreten; denn sonst würden Sie fast mit der einen Hand wieder nehmen, was mühselig nach monatelangen Beratungen endlich errungen worden ist.“47 Dieses bedingte Kooperationsangebot jedoch schlugen die Mehrheitsparteien aus und brachten in letzter Minute Veränderungen durch, die von der sozialdemokratischen Fraktion als Verschlechterungen verurteilt wurden. So erfolgte die Annahme der Novelle der Gewerbeordnung letztlich doch gegen die SPD. Dennoch lässt sich festhalten, dass es seitens der Fraktion der Sozialdemokratie eine mehrfach offenbarte gewachsene Kooperationsbereitschaft mit den nichtkonservativen Parteien insbesondere gegeben haben muss. Natürlich war dies auch der relativen Schwächung der SPD-Fraktion durch die „Hottentottenwahl“ geschuldet, hatte man doch beinahe die Hälfte der Mandate eingebüßt, und für dringende Reformen im Interesse der „kleinen Leute“ brauchte man an Kopfzahl mehr Verbündete als zuvor. Doch musste sich im Umkehrschluss eine weitere Erkenntnis gewinnen lassen, nämlich die, dass eine wieder erstarkende Sozialdemokratie es leichter haben würde, ihre Politik zumindest in Teilen durchzusetzen, wenn sie in dieser Lage erstarrte Verweigerungsstrukturen auch auf der eigenen Seite auflockerte.

8. Der Wahltriumph vom Januar 1912 als Transformationsbrücke Als Brücke dieses Kurswechsels der SPD kann der Wahltriumph vom 12./25. Januar 1912 identifiziert werden. Kaum eine Aussage illustriert deutlicher, dass dem erwarteten Wahlerfolg alle inhaltlichen und strategischen Debatten nachgeordnet wurden, als jene von Karl Kautsky, die Brandt/Lehnert zitieren: „Nicht auf den Massenstreik haben wir heute unsere Agitation zuzuspitzen, sondern jetzt schon auf die kommenden Reichstagswahlen.“48 Das Ergebnis des 12./25. Januar 1912 schien dieser vorsichtigen Strategie in vollem Umfang Recht zu geben: 4.250.399 Stimmen entfielen auf die Sozialdemokratie, also rund 0,99 Mio. gewonnene Wähler waren zu feiern. Mit 34,8 % gegenüber 28,9 % bei der „Hottentottenwahl“ drückte sich dieser Wahltriumph auch im Stimmenanteil adäquat aus, 110 Mandate fielen ihr in Haupt- und Stichwahl 47 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002843_00000.html, 179. Sitzung vom 9. Dezember 1908, S. 6074. 48 Brandt/Lehnert, S. 98.

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zu, ein Zugewinn von 67 Abgeordneten. Das innere Gefüge der Fraktion hatte sich verändert: Bürgerliche Zeitungen errechneten wohl nicht zu Unrecht, dass in der Fraktion „die Mehrheit revisionistisch“ sei49 – dies galt allerdings nur, wenn man die an Theoriedebatten wenig interessierten Gewerkschafter auch darunter einordnete, statt zutreffender von reformistisch-pragmatischer Tendenz zu sprechen. Die Reichstagsfraktion meldete nun Ansprüche an. Umgehend verlangte sie die Position eines Vizepräsidenten des Reichstages, ein Novum, aber ganz auf der Linie Bernsteins von 1903 liegend, und nominierte Philipp Scheidemann.50 Nach seiner knappen Wahl weigerte sich Scheidemann, an einer Audienz bei Wilhelm II. teil zu nehmen und wurde kurz darauf abgewählt. Scheidemann hatte zahlreiche Stimmen aus dem Lager der liberalen Parteien erhalten, dafür wurde der Nationalliberale Dr. Paasche mit den Stimmen der SPD zum 2. Vizepräsidenten gewählt. Nach wütenden Protesten der konservativen Presse wegen ihrer Kooperation mit Sozialdemokraten legten Spahn und Paasche ihre Ämter nieder. Aber die sozialdemokratische Fraktion konnte die Erfahrung mitnehmen, dass aufgrund ihrer Stärke partielle Kooperationen mit den Fortschrittlichen unter den bürgerlichen Parteien möglich sein würden. Heinrich August Winkler analysierte allerdings zutreffend, dass es im engeren Sinne weder eine feste Regierungsmehrheit gegen noch mit der SPD geben konnte.51 Die Sozialdemokratie stand noch immer vor einem ähnlichen Dilemma wie schon 1903, nämlich stetig zu wachsen, eine Gewerkschaftsbewegung hinter sich zu wissen, die ihre Anhängerschaft in gleichem Maße verstärkte, über ein Organisationsumfeld zu verfügen, das bekanntlich eine Gegengesellschaft zur bürgerlichen strukturierte, und dennoch von den Schalthebeln der politischen Gestaltungsmacht ferngehalten zu bleiben. So blieb im Grunde nur das Festhalten am Prinzip des „Bereit sein ist alles!“, das auf die weitere Stärkung der gesamten Arbeiterbewegung setzte und auf jenen Tag wartete, bis die Macht der Sozialdemokratie zufiele oder sich der Parlamentarismus endlich als reif für ihre Politik zeigen würde. Doch der im Oktober 1912 ausbrechende 1. Balkankrieg zeigte eine gefährliche neue Entwicklung an, die die Arbeiterbewegung vor große Herausforderungen stellte. Dieser Konflikt 49 Bei Czitrich-Stahl, S. 564, werden genannt: Die „Berliner Abendpost“ vom 28. Februar 1912, ebenso die „Berliner Börsen-Zeitung“ vom 2. Februar 1912, die folgende Rechnung aufstellte: 40 Radikale gegen 55 Revisionisten plus 15, die sich nicht erklärt hätten, worunter aber 10–12 Revisionisten zu erwarten seien. 50 Ebd., S. 559 ff. 51 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806– 1933, Bonn 2002, S. 317.

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und die sich im Reich ausbreitende Welle des Nationalismus, versinnbildlicht im Leipziger Völkerschlachtdenkmal und bekämpft von der Sozialdemokratie mit machtvollen Massenkundgebungen, markieren das politische Ende der betrachteten Dekade. In dieser hatte sich die SPD von einer sozialistischen Kampf- und Oppositionspartei stetig zu einer sozialistischen Massenpartei mit wachsendem Gestaltungsanspruch zu wandeln begonnen, deren Fixpunkt die Parlamentsarbeit wurde.

DETLEF LEHNERT

Krise des Kaiserreichs – Weltkrieg und Spaltung der SPD – Revolution und demokratische Republik (1913–1922) Mehr Umbrüche in den Rahmenbedingungen politischen Handelns als zwischen Anfang 1913 und Ende 1922 gab es sonst in keinen anderen 10 Jahren sozialdemokratischer Geschichte. Gewiss waren die Wirtschaftskrisen von 1923 bis 1932 gravierender. Auch lag danach für deutsche Sozialdemokraten die Phase größter Orientierungsprobleme zwischen 1933 und den frühen 1940er Jahren. Anschließend war die Zäsur 1945 noch tiefgreifender als 1918. Doch sind allein von 1913 bis 1922 mindestens neun Konstellationen unterscheidbar1: zunächst die unmittelbare Vorkriegszeit mit weiterem Organisationswachstum, Kontroversen um Strategiefragen wie Massenstreiks für die Beseitigung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und einem Generationswechsel in der SPD-Führung (1); nachfolgend die Herausforderungen des Kriegsbeginns und die Richtungskonflikte zu den Kriegsgeschehnissen (2); daraus erwachsend die Spaltung der Reichstagsfraktion und die Entstehung der USPD in Verbindung mit ersten Massenprotesten (3); nach partieller Anbahnung 1917 im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstags in den Oktoberreformen 1918 dann erste Regierungsbeteiligung der SPD noch unter der Monarchie (4); die Novemberrevolution 1918 und Regierungsübernahme sozialdemokratischer Volksbeauftragter im Reich und in Preußen (5); sodann Überleitung in Nationalversammlungs- und Länderwahlen, erstmals mit Frauenstimmrecht, sowie Schaffung der Weimarer Verfassung (6); in deren Rahmen phasenweise Teilnahme der SPD an der Weimarer Koalition mit DDP und Zentrum – ohne die USPD, deren radikaler Flügel den Beitritt zur III. Internationale und den Zusammenschluss mit der KPD vollzieht (7); 1922 Vereinigung der gemäßigten Teile der USPD mit der SPD nach vorausgegangener Annäherung (8); als neunte Phase zuletzt die Ablösung der Weimarer Koalition durch ein nur mehr halbparlamentarisches Kabinett des parteilosen 1 Die Ziffern dienen allein der Nachvollziehbarkeit dieser chronologischen Aufzählung, der nachstehende Text fasst teilweise kürzere Phasen zu Abschnitten zusammen. Außer Zitatbelegen werden nur für einzelne Phasen grundlegende Quellen bzw. Überblicksdarstellungen enthaltene Literaturtitel in den Anmerkungen nachgewiesen, zumal die Einleitung sowie vorausgegangene und folgende Beiträge weitere Verweise enthalten.

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Wirtschaftskanzlers Cuno, dies schon im Übergang ins Krisenjahr 1923. Und dann ist ein so einschneidendes Ereignis wie der Kapp-Putsch 1920 nicht einmal als eigener Abschnitt gezählt, weil man sonst auch die Revolutionsmonate in eine kooperativere Phase bis zum Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 und eine konfliktbeladene danach weiter untergliedern könnte.2

1. Ambivalenz der Vorkriegslage: Massenverankerung und Aktionsgrenzen Solche fast schwindelerregende historische Beschleunigung traf auf eine Sozialdemokratie, die Konsolidierungszeit benötigt hätte. Nach Wilhelm Liebknecht 1900 und Paul Singer 1911 war im Sommer 1913 mit August Bebel sozusagen der letzte Troikaner der Führungspersönlichkeiten ihrer Aufstiegsperiode gestorben. Allein von 1906 bis 1914 hatte sich die SPD-Mitgliedschaft auf knapp 1,1 Millionen verdreifacht. Nur die britische Labour Party konnte mit 1,6 Millionen eine höhere Ziffer ausweisen; doch waren das zu über 90 % Kollektivmitglieder der Gewerkschaften, die vielfach noch Verbindungen zu den Liberalen unterhielten. Überdies hatten die sozialdemokratisch orientierten Freien Gewerkschaften in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs sogar 2,5 Millionen Mitglieder. Hingegen fanden sich, jenseits gewerkschaftlicher Kollektivzählung, außer in Österreich damals nirgends auch nur 100.000 organisierte Sozialisten – nicht einmal im großen Nachbarland Frankreich. Mehr als 100.000 Köpfe zählte allein schon die Groß-Berliner SPD, und sogar 175.000 weibliche Mitglieder gab es reichsweit. Bebels SPD ließ sich, international vergleichend betrachtet, als politische Organisation fast wie ein achtes Weltwunder bestaunen. Diese außerparlamentarische Massenbasis konnte nicht ohne Einfluss auf die parlamentarische Stellung der Sozialdemokratie bleiben. Nach der Reichstagswahl 1912 versammelte die SPD mit 110 von 397 Mandaten erstmals die stärkste Fraktion. Der Stimmenanteil von 34,8 % war noch höher einzuschätzen, da weitere 10,7 % auf nationale und regionalistische Minoritäten sowie Splittergruppen entfielen. Bebel hatte nach dem Tod Singers 1911 als dessen Nachfolger Hugo Haase an der Spitze von Partei und Fraktion durchgesetzt. Offenbar wünschte der einstige Drechsler Bebel neben sich als Mitvorsitzenden wieder einen linksorientierten Bürgerlichen. Da störte ihn die jüdische 2 Gliederung der Revolutionswochen bei Detlef Lehnert, Sozialdemokratie und Novemberrevolution. Die Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD, Frankfurt a.M. 1983.

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Herkunft des Königsberger Rechtsanwalts Haase so wenig wie diejenige des Berliner Textilfabrikanten und vermögenden Rentiers Singer. Erst nach Bebels Tod 1913 stieg der frühere Sattler und langjährige Arbeitersekretär Friedrich Ebert zum SPD-Mitvorsitzenden auf. Darin vor allem unterstützt wurde er von Gewerkschaftern und den mit der Mitgliederzahl sich vermehrenden hauptamtlichen Funktionsträgern. Obwohl Haase nur 7 ½ Jahre älter als Ebert war, hatte ihn schon eine Nachwahl 1897 in den Reichstag gebracht, dem Ebert erst seit 1912 angehörte. Wegen seiner Parteiverankerung gehörte Ebert aber sogleich dem Vorstand der Fraktion an. Doch als Fraktionsvorsitzender repräsentierte die SPD in der Öffentlichkeit neben Haase auch Philipp Scheidemann, der bereits seit 1903 Reichstagsabgeordneter war. Solange das Kaiserreich und somit keine parlamentarische Demokratie bestand, konnten Parteitage geradewegs als eine besondere Eigenform des Parlamentarismus der SPD gelten, selbst wenn dort neben den politischen Debatten auch Organisationsroutine und Gemeinschaftsrituale anzutreffen waren. Der politische Bericht des Parteivorstands zum Chemnitzer Parteitag im September 1912 hat den Anstieg der gewonnenen Stichwahlen von 15 % zum Reichstag 1907 auf nunmehr 37 % mit – trotz Schwächen in linksliberaler Umsetzung – letzthin nützlichen Wahlkreisabsprachen zugunsten auch der SPD erklärt: „Dieses günstige Resultat konnte nur erzielt werden auf der Grundlage eines Stichwahlabkommens mit der Fortschrittlichen Volkspartei.“3 Im Geschäftsbericht des Vorstands betonte Ebert, „jeder Erfolg hängt letzten Endes doch von der Stärke unserer Organisation ab“ (S. 207). Dass es dort noch Mängel gab, legte der Kassenbericht Otto Brauns offen, dem zufolge etliche Wahlkreisorganisationen hinter ihren Verpflichtungen zurückblieben, aber Groß-Berlin sowie Hamburg mehr als den Mindestsatz von 20 % an die Zentralkasse abführten (S. 220). Auch der bis 1918 nicht dem Reichstag (dessen Präsident er 1920 wurde) angehörende Paul Löbe war mit einem aufschlussreichen Debattenbeitrag vertreten: „Wir haben den Parteivorstand ja im vorigen Jahre ergänzt durch Haase, Braun und Scheidemann; das wurde allgemein angesehen als ein Sieg der Richtung, die Ledebour vertritt. (Sehr wahr!) Lassen Sie uns heute wieder drei Beisitzer wählen und ich bin überzeugt davon, Ledebour befürchtet, daß die über das Jahr auch vernünftig geworden sind“ (S. 321); dazu verzeichnet das Protokoll „Große, anhaltende 3 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Chemnitz vom 15. bis 21. September 1912, Berlin 1912, S. 29 f.; Seitenzahlen in Klammern dieses Absatzes gemäß dem Protokoll Parteitag SPD 1912 (nachfolgend werden alle Parteitage so abgekürzt, die Protokolle sind online verfügbar: http://library.fes.de/parteitage).

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Heiterkeit“. Zur Parteirechten wurden damals primär (besonders süddeutsche) Reformisten und (überwiegend gewerkschaftsnahe) Organisationspraktiker gezählt. Es ist im Hinblick auf kommende Ereignisse von Bedeutung, dass Löbe so wie Braun und Scheidemann auch Haase als „vernünftig“ im Sinne des zentristischen Parteikonsensus einordnete. In seinem Referat zu den Reichstagswahlen verteidigte Scheidemann trotz nicht verschwiegener Defizite die Bündnispolitik: „Über die Entwickelung beim Liberalismus können wir uns wahrhaftig freuen“ (S. 336). Welches Gewicht er weiterem Zuwachs der Mandate beimessen wollte, zeigte exemplarisch sein Hinweis auf eine wichtige Abstimmung im Reichstag: „Wenn die Erbschaftssteuer abgelehnt wurde mit 8 Stimmen Mehrheit, so bedeutet das in Wirklichkeit, daß auf der linken Seite nur 5 mehr zu sitzen brauchten, um das gegenteilige Resultat zu erzielen“ (S. 337). Keineswegs wollte Scheidemann damit aber die Grundsatzpositionen ändern: „Wir bleiben die Todfeinde der junkerlichen Herrenwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung als die Vertreter der im Klassenkampf aufsteigenden werktätigen Bevölkerung. Unser Ziel ist und bleibt die Verwirklichung des Sozialismus durch die siegreiche Demokratie der Arbeit“ (S. 337). Im Bericht des Parteivorstands für den Jenaer Parteitag im September 1913 fand sich eine aussagekräftige Übersicht zur Anzahl der SPD-Abgeordneten in Länderparlamenten: An der Spitze standen Bayern (30), Sachsen (26) Baden und Hamburg (je 20), gefolgt von Württemberg (17) Bremen (16) und Lübeck (12) – also die süddeutschen Mittelstaaten angesichts ihrer vergleichsweise geringeren Wahlrechtsdiskriminierung und die Hansestädte wegen der sonst nur in Sachsen anzutreffenden besonderen SPD-Stärke. Wenn das über 60 % der Reichsbevölkerung umfassende Preußen mit 10 Abgeordneten nur in der Mitte von einerseits Oldenburg (12) sowie Elsaß-Lothringen (11) und andererseits den Kleinstaaten Sachsen-Meiningen sowie Schwarzburg-Rudolstadt (je 9) bzw. Gotha und damaligem (kleineren) Hessen (je 8) anzutreffen war, zeigte dies schlagend den einzigartigen politischen Skandal des preußischen Dreiklassenwahlsystems.4 Im Vorstandsbericht unterließ es der später zumeist nur mit seinem Redetalent erwähnte Scheidemann nicht, die „Parteisekretäre, Gewerkschaftssekretäre usw.“ als „wirkliche Kulturpioniere, die das ganze Jahr schwer arbeiten müssen“, zu würdigen (S. 229). Er kritisierte die Unlogik in manchen Plädoyers für Massenstreiks z.B. in Preußen für die Beseitigung des Dreiklassensystems: „Um nun die Massen für diesen Kampf 4 Protokoll Parteitag SPD 1913, S. 26 (daraus Seitenzahlen in Klammern dieses und folgender vier Absätze). In der Aufzählung folgten noch acht weitere kleinere Länder mit einem bis sieben SPD-Vertretern.

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zu begeistern, setzt man zunächst den Parlamentarismus herab“ (S. 230). Man solle weiterhin sich „an das halten, was Bebel gesagt hat: Der Massenstreik ist die Ultima ratio der Sozialdemokratie“ (S. 232). Grundsätzlich trat Scheidemann für Balance zwischen programmatischen Zielen und organisatorischen Voraussetzungen ein: „Die beste Vorarbeit für entscheidende Kämpfe im Interesse der Demokratie und des Sozialismus ist Aufklärungsarbeit und Organisationsarbeit“ (S. 233). Für die innerparteiliche Machtverschiebung mochte es beiläufig Symbolwert haben, dass Ebert den nach Bebels Tod zur bis Neuwahl einzigen SPD-Vorsitzenden Haase als zum Parteitag krank entschuldigte (S. 275). Die konträren Positionen in der Massenstreikdebatte lieferte so auf der einen Seite Rosa Luxemburg, die freilich auch in Einzelaspekten nicht viel konkreter argumentierte als mit dem Schlussappell: „Wir antworten auf alle Übergriffe der Reaktion damit, daß wir klar und offen auf dem Parteitag sagen: Wir schärfen unsere Waffen, und wir sind bereit!“ (S. 293). Wegen ungleich größeren Einflusses auf die SPD-Politik seit 1914 und dennoch geringerer Bekanntheit der Auffassungen soll an dieser Stelle näher auf das Gegenreferat des zweiten Vorsitzenden der gewerkschaftlichen „Generalkommission“ (und späteren Reichskanzlers) Gustav Bauer eingegangen werden. Auf den ersten Blick mochte es den Anschein haben, als teilte er das Vertrauen in selbsttätiges Massenhandeln: „Wenn wir einmal die Waffe des Massenstreiks brauchen und unsere Massen soweit sind, dann garantiere ich Ihnen, geht der Streik auch ohne diese lange Diskussion vonstatten“ (S. 294). Allerdings beschränkte sich Bauers Vertrauen auf organisierte und zuvor politisch geführte Massen: „Die fortgesetzte Organisationsverachtung, die aus den Reden der Genossin Luxemburg herauszuhören ist, schädigt unsere organisatorische Tätigkeit außerordentlich“ (S. 297). Einerseits bezichtigte er deshalb solche Kontrahenten des „Syndikalismus“ (S. 298), andererseits bestritt er das Vorhandensein einer sachlich relevanten Differenz: „Ihre Resolution bringt nichts anderes zum Ausdruck als die Resolution des Parteivorstandes. Sie unterscheidet sich nur durch eine starke revolutionäre Phraseologie“ (S. 297). Eine Kursänderung war herauszulesen, wenn der Wahlrechtskampf in Preußen von Bauer als keine „Lebensfrage“ relativiert wurde: „Das Reichstagswahlrecht bietet auch ein ausreichendes Ventil und ermöglicht dem Proletariat, seine Kräfte zu zählen und sich politisch zu betätigen. Wir haben in einer ganzen Reihe von Einzellandtagen doch ein einigermaßen freies Wahlrecht. Es liegt deshalb kein Grund vor, alles auf eine Karte zu setzen, geradezu va banque zu spielen, um mit dem Massenstreik das freie Wahlrecht für Preußen zu erkämpfen“ (S. 295). Stattdessen vermutete dieser Gewerkschafter bei den Arbeitermassen „materielle“ Prioritäten: „Da steht in erster Linie die

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Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Das ist eine viel dringendere Aufgabe, als alle Diskussionen über Massenstreiks“ (S. 296). Als Lehre aus der Unterstützung eines nicht erfolgreichen Großstreiks in Schweden 1909 klang die Konzentration auf die Eigenkräfte an: „Deutschland ist das Land, das in der gewerkschaftlichen Internationale an praktischer Solidarität an der Spitze steht. Außer von Österreich und Skandinavien hätten wir in einem solchen Kampf keine weitere Unterstützung zu erwarten, als die berühmte Depesche aus Frankreich, die alle Sympathien ausdrückt und dann noch 20 Frank beifügt“ (S. 296 f.). Bemerkenswert war, dass Ludwig Frank als Vertreter einer jüngeren Generation der süddeutschen Reformisten zwar die Vorstandsresolution unterstützte, aber diese offensiv auslegte: „Wir kommen in Preußen, wie die Dinge jetzt liegen, nicht weiter ohne die Waffe des Massenstreiks“, und dort eben sei es „der Weg außerhalb des Parlaments“. Gegen den Tenor in Bauers Referat bekundete er Bedenken: „Noch gefährlicher aber wäre es, wenn die revolutionäre Phraseologie verdrängt würde durch eine konservative Phraseologie“ (S. 304). Trotz unterschiedlichen Votums deutete Georg Ledebour für den linken Parteiflügel neue Gemeinsamkeiten an: „Ich freue mich, zum größten Teil mit den Ausführungen des Genossen Frank durchaus einverstanden zu sein“ (S. 306). Das umfasste auch die prinzipiellen Strategiefragen: „Parlamentarismus und Massenaktionen sind richtig verstanden keine Widersprüche“ (S. 307). Scheidemann gab zu bedenken, „daß die große Masse des arbeitenden Volkes naturgemäß nicht unausgesetzt in Erregung sein kann“ (S. 334), wollte aber die aktivierende Position einbeziehen. „Ich stimme ganz mit Frank darin überein: entweder werden wir das Wahlrecht in Preußen bekommen oder wir werden den Massenstreik haben“ (S. 331). Die Resolution Luxemburg wurde letztlich mit 333 gegen 142 Stimmen abgelehnt, danach jedoch die Vorstandsresolution gegen nur zwei Stimmen angenommen (S. 338). Der allerdings mit etwas schlechterem Ergebnis (433 von 473 abgegebenen Stimmen) als Haase (467 Stimmen) gewählte neue Mit-Vorsitzende Ebert (S. 549) schätzte die Stimmung offenbar als konfliktbereit ein, wenn er in den Schlussworten ausrief: „Die Dreiklassenschande in Preußen muß beseitigt werden, koste es was es wolle!“, und er fasste die Parteitagsdebatte offensiv zusammen: „entweder werden wir das freie Wahlrecht in Preußen haben oder wir haben den Massenstreik“ (S. 555). Im Reichstag war 1913 die SPD vor die Frage gestellt, ob sie für Besitzsteuern stimmen könne, auch wenn ein Zusammenhang mit einer zuvor gegen ihr Votum durchgesetzten Militärvorlage zur Heeresverstärkung bestand. Die Fraktion hatte das intern mit recht knapper Mehrheit von 52 zu 37 Stimmen bei 7 Enthaltungen bejaht, woraufhin dann im Reichstag gemeinsam in die-

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sem Sinne abgestimmt wurde (S. 171 f.).5 Beim Mehrheitsreferenten (und späteren preußischen Finanzminister) Albert Südekum erstreckte sich ein Prinzip der „Verantwortlichkeit“ über die Abwendung negativer Ergebnisse hinaus: „Wir haben immer so zu entscheiden, als ob von unseren Stimmen der Ausgang der Dinge abhänge. So haben wir bei den neuen Steuern entschieden, so tat die Fraktion ihre Pflicht“ (S. 475). Der Minderheitsreferent Gustav Hoch betrachtete es als „Segen für die Partei, daß sie verschiedene Richtungen hat“, und räumte die nach Annahme der Militärvorlage nur mehr zu entscheidende Finanzierungsfrage ein, „was bei der Deckung der Kosten noch zu erreichen war. Diese Auffassung hat uns von dem Kampf gegen die Militärvorlage zu sehr abgelenkt“ (S. 482). Gänzlich fundamental argumentierte Rosa Luxemburg, „daß auch durch günstig gestaltete Steuern an der Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung auch nicht ein Jota geändert wird“ (S. 486). Erwähnenswert im Hinblick auf nachfolgende Entwicklungen war ihre Einschätzung zu möglichen Konsequenzen: „Wenn Sie sich nun auf den Boden des Mehrheitsbeschlusses unserer Fraktion stellen, dann kommen Sie in die Lage, wenn der Krieg ausbricht und wir an der Tatsache nichts mehr ändern können und wenn dann die Frage kommt, ob die Kosten durch indirekte oder direkte Steuern zu decken sind, daß Sie dann folgerichtig für die Bewilligung der Kriegskosten eintreten“ (S. 487). Das setzte aber Bündelung in einer Beschlussvorlage voraus, während die Logik der Abstimmung 1913 zunächst nur bedeutet hätte, nach etwaiger gegnerischer Bewilligung von Kriegskosten nicht deshalb eine Chance zu danach wenigstens der Heranziehung von Besitzenden zu verpassen. Eine von der vorgetragenen Haltung Südekums abweichende, jedoch auch nicht der Minderheit entsprechende zentristische Resolution von Emanuel Wurm griff zunächst die bisherige Position in Budgetfragen auf: „Gemäß dem Beschluß von Nürnberg 1908 ist jeder gegnerischen Regierung das Staatsbudget bei der Gesamtabstimmung zu verweigern, es sei denn, daß die Ablehnung desselben durch unsere Genossen die Annahme eines für die Arbeiterklasse ungünstigeren Budgets zur Folge haben würde.“ Daraus sollte auch das Verhalten gegenüber Finanzierungsvorlagen hergeleitet werden: „In gleicher Weise ist auch jede direkte Steuer, selbst wenn sie allein den Mehrwert trifft, von unseren Genossen abzulehnen, falls der Verwendungszweck den Interessen der Arbeiterklasse widerspricht, es sei denn, daß die Ablehnung der direkten Steuern durch unsere Genossen die Annahme der bekämpften Vor5 Dieses Stimmenverhältnis bestätigt auch die Protokoll-Edition: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918, Erster Teil, Bearb. Erich Matthias/ Eberhard Pikart, Düsseldorf 1966, S. 300.

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lage nicht hindert und eine für die Arbeiterklasse ungünstigere Besteuerung zur Folge haben würde“ (S. 557). Der Referent Wurm empfahl somit, „wo es nicht anders möglich ist, das kleinere Übel zu wählen, damit wir die Arbeiter vor dem größeren Übel, vor der Verelendung schützen“ (S. 447). Nicht die Annahme dieser Resolution mit 336 gegen 140 Stimmen war erstaunlich, sondern dass mit Paul Levi und Karl Liebknecht auch die bald prominentesten Weggefährten Rosa Luxemburgs (bis zur KPD-Gründung 1918/19) dabei zur breiten Mehrheit gehörten, die Verteilungs- nicht gegenüber Systemfragen vernachlässigen wollte (S. 515). Dass Karl Liebknecht auch noch dem radikaldemokratisch-antimilitaristischen Erbe seines an der Seite Bebels parteigründenden Vaters Wilhelm verpflichtet blieb, ist mit Recht betont worden.6 Paul Levi kehrte 1922 (als einziger nicht im Januar 1919 ermordeter Vertreter dieses Trios) über die USPD zur SPD als Wortführer deren äußersten linken Flügels zurück. Im Juni 1913 war für den linken Flügel Ledebour durch Stichwahl mit 51 zu 40 Stimmen (zuletzt gegen Gustav Bauer) in den Vorstand der Reichstagsfraktion aufgestiegen.7 Die Nachfolge Bebels als einer der beiden Fraktionsvorsitzenden verfehlte Ledebour erst in einem dritten Wahlgang und dabei sehr knapp mit 48 gegen 51 Stimmen für Scheidemann.8 In einer symbolpolitischen Grundsatzfrage wurde Anfang Februar 1914 mit auch nur 50 zu 47 Stimmen beschlossen, sich bei den „höfischen Demonstrationen“ des „Kaiserhochs“ nicht mehr aus dem Saale zu entfernen, sondern „nicht von den Sitzen zu erheben“.9 Das konnte als offensichtlichere Bekundung der grundlegenden Systemopposition aufgefasst werden; es machte aber wiederum deutlich, wie äußerst knapp personelle und inhaltliche Entscheidungen ausfielen, ohne dass sich bereits die eindeutige Dominanz einer Richtungsgruppierung abzeichnete. Dies galt trotz der zunehmenden Prägung der Reichstagsfraktion durch den Sozialtypus des sog. „Arbeiterbeamten“ aus Partei- und Gewerkschaftsfunktionen; diesem waren 1912 auch ohne Berücksichtigung z.B. parteinaher Verleger 62 % der Fraktionsmitglieder zuzurechnen – als Indiz der steigenden Tendenz von den Neugewählten sogar 75 %.10 Der zeitgenössische Begriff sollte nicht irritieren, da (Fest-)Angestellte damals als „Privatbeamte“ 6 Helmut Trotnow, Karl Liebknecht. Eine politische Biographie, Köln 1980, S. 41 ff. (Vaterprägung), S. 73 ff. (Antimilitarismus), S. 215 ff. (Antikriegs-Agitation). 7 Reichstagsfraktion I (wie Anm. 5), S. 300. 8 Ebd., S. 306 f. 9 Ebd., S. 310. 10 Ebd., S. LIX f.; zu Herkunfts- und Tätigkeitsprofilen Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898–1918. Biographisch-statistisches Handbuch, Düsseldorf 1986.

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bezeichnet wurden; hingegen sind tatsächlich fast 70 % aller Fraktionsmitglieder im gelernten Beruf Facharbeiter gewesen.11 Überdies waren unter den Partei- und Gewerkschafts-Angestellten der Fraktion viele Redakteure anzutreffen12, für die nicht die häufig abwertend verwendeten Begriffe des „Funktionärs“ oder „Bürokraten“ zutrafen. Weitere 15 % der Fraktionsmitglieder befanden sich als freie Publizisten zumeist dennoch in enger beruflicher Verbindung mit der Partei, aber eben weniger mit deren „Apparat“, wenn sie ihn nicht gar wie der wirtschaftlich ganz unabhängige Erfolgsautor Bebel politisch leiteten. Der verbleibende Rest rekrutierte sich vorwiegend aus – nicht selten mit dem Arbeitermilieu beruflich verknüpften – Kleingewerbetreibenden und Rechtsanwälten.13 Im Hinblick auf Konflikte der Folgejahre ist erwähnenswert, dass schon Anfang 1913 die Protestresolution eines Kreisverbands der grenzlandsensiblen elsässischen SPD zu den Fraktionsprotokollen genommen wurde, nachdem für den rechten Flügel sich Eduard David im Reichstag zu „Vertragspflichten“ gegenüber Österreich bekannt hatte; diese grenzte er als ein „ausgesprochenes Defensivbündnis gegen russische Drohungen“ ein.14 Die Resolution sah die Gefahr einer Wiederholung der Kriegsentfesselung nach dem Bismarckschen Muster von 1870 voraus: „Das Beispiel der Emser Depesche und die Unverfrorenheit, mit welcher neuerdings die Regierungsorgane mit Einschluß der klerikalen Presse Deutschlands und Österreichs den Streit um einen serbischen Adriahafen zu einer Lebensfrage für Österreich-Ungarn und zu einer Sache der deutschen Bündnistreue vom Belt bis zur Adria aufbauschten, zeigen, mit welchem Erfolg fortgesetzt die Irreführung der Massen unter dem Vorwande der nationalen Verteidigung von den Herrschenden betrieben wird.“15 Der gleiche hier attackierte David hob aber neben dem französischen insbesondere auch den englischen Friedenswillen und die Verantwortung der eigenen Regierung für mangelnde Entspannungsbemühungen hervor: „Die deutsche Regierung trifft also die ganze Verantwortung in diesen englisch-deutschen Flottentreibereien.“16 Solcher Tenor stand allerdings im Kontext des infolge der sog. Zabern-Affäre mit erdrückender Mehrheit (nur gegen Konservative) beschlossenen Missbilligungsantrags gegen Kanzler Bethmann Hollweg, nachdem Scheidemann dessen Rücktritt als „selbst11 12 13 14 15 16

Reichstagsfraktion I (wie Anm. 5), S. LXII f. Ebd., S. LVII. Ebd., S. LXI f. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 286, 3.12.1912, S. 2509C. Zit. nach Reichstagsfraktion I (wie Anm. 5), S. 288. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 291, 12.12.1913, S. 6418A.

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Reichstagsfraktion der SPD im Februar 1914, © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

verständliche praktische Beschränkung der monarchischen Gewalt durch das Recht des Reichstags“ forderte.17

2. Richtungskonflikte: Fraktions- und Parteispaltung im Krieg Den konkreten Zeitpunkt des Attentats von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger und eine dadurch ausgelöste Eskalationsdynamik konnte niemand ahnen. Aber dass man nicht genug von akuten Kriegsgefahren aus Balkankonflikten gewusst haben soll, wäre ebenso mehr eine Legende wie angeblich verbreitete Kriegsbegeisterung auch in den sozialdemokratischen Massen.18 Unübersichtlich war die Lage nach der russischen Generalmobilmachung Ende Juli 1914 aber tatsächlich. So haben Gegner der Kriegskreditbewilligung, die sich der Fraktionsdisziplin fügten, nicht bestritten, dass man die Situation unterschiedlich bewerten konnte. Das exponierteste Beispiel ist 17 Ebd., 9.12.1913, S. 6279C. 18 Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

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Eduard Bernstein, der im August noch Russland die Kriegsschuld zuwies19, jedoch schon Anfang September durch neue Informationen auch zu anderem Urteil gelangte: „Die deutsche Regierung ist die Hauptschuldige am Krieg; wir sind eingeseift worden; die Bewilligung der Kredite war ein Fehler.“20 Sogar der an der Kriegskreditbewilligung festhaltende Scheidemann äußerte sich gemäß Aufzeichnungen Davids schon bald dahingehend, „daß die deutsche Regierung den Krieg gewollt habe als Präventivkrieg“21. Wer dennoch Kriegskredite bewilligte, konnte das nicht aus irgendeiner Annäherung zur kaiserlichen Regierung tun, sondern nur mit der Begründung, die insoweit zugleich aus (Mit-)Verschulden der Herrschenden bedrohte eigene Bevölkerung nicht im Stich lassen zu wollen.22 Doch auch ein Fraktionsradikaler wie Georg Ledebour distanzierte sich klar von jedem „Verteidigungsnihilismus“; er berief sich auf die Parteitradition aus dem Krieg von 1870/71: „Als damals die Annexionspläne bekannt wurden, da hat die ganze Sozialdemokratie dagegen protestiert. Und so müssen wir es auch jetzt machen“.23 Um alte Streitpunkte der Budgetbewilligung und damit ggf. verbundene Vertrauenskundgebung für ein Obrigkeitsregime ging es immer weniger, sondern tatsächlich zunehmend um neue Fragen: Inwiefern wurde Landesverteidigung bei der Militärführung zum Deckmantel für Eroberungspläne – und sollte darüber offen sowie kontrovers diskutiert werden? In der Fraktionssitzung vom 30.11.1914 wurde ein auf Antrag Hochs gewünschter Zusatz zur mehrheitlichen Erklärung im Reichstagsplenum zugunsten der Kriegskreditbewilligung, „dem belgischen Volke für das hereingebrochene Unglück unsere Sympathie auszusprechen“, gegen 34 Stimmen abgelehnt und mit 82 zu 17 für die Bewilligung votiert (RT-Fraktion II24, S. 7). 19 Eduard Bernstein, Der Krieg, sein Urheber und sein erstes Opfer, in: Sozialistische Monatshefte 20 (1914), S. 1015–1023, hier S. 1016. 20 Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David von 1914 bis 1918, Bearb. Susanne Miller, Düsseldorf 1966, S. 32 (3.9.1914). 21 Ebd., S. 16 (15.8.1914). 22 Zum Weg in die Kriegskreditbewilligung Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. 1974. 23 Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918, Zweiter Teil, Bearb. Erich Matthias/Eberhard Pikart, Düsseldorf 1966, S. 119. Auch Haase betonte in jener Debatte das Erbe des großen Vorgängers: „Wenn ich so handle, dann handle ich im Geiste Bebels, der mit mir auch oft über diese Dinge gesprochen hat“, während Noske in unmittelbarer Replik auf den Vorsitzenden diesen polemisch als „Bannerträger der Desorganisation“ attackierte (ebd., S. 128 f.). 24 Auch nachfolgend ist dies stets die Abkürzung für den in Anm. 23 komplett verzeichneten Titel.

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Nachdem der Krieg schon länger als jener von 1870/71 dauerte, ohne dass ein Ende absehbar wurde, vielmehr manche Eroberungsziele hinter den Kulissen und teilweise bereits öffentlich anklangen, hielten Kritiker der Burgfriedenspolitik die Zeit reif für ein wieder deutlicher oppositionelles Profil der Sozialdemokratie. Vor dem Reichstagsplenum war von Haase schon im März 1915 klargestellt worden, was das Bekenntnis des 4. August 1914, „das eigene Land zu verteidigen“, nicht bedeutete: „Dieses Bestreben wird nicht durchkreuzt, sondern gefestigt durch öffentliche Kritik, wo sie geboten ist.“25 Diesen Standpunkt artikulierte im Juni 1915 profilierter und am prominentesten ein in der „Leipziger Volkszeitung“ veröffentlichtes Manifest „Das Gebot der Stunde“. Dort warnten Haase und die Programmväter Bernstein und Kautsky eindringlich vor einer Katastrophe: „Die Weltgeschichte kennt keinen zweiten Krieg, der auch nur annähernd gleich mörderisch gewirkt hätte. Es ist die Grausamkeit barbarischer Zeitalter, verbunden mit den raffiniertesten Mitteln der Zivilisation, welche die Blüte der Völker hinwegrafft ... Allen beteiligten Nationen starrt bei Verlängerung des Krieges der Bankrott entgegen.“ Dass immer neue Kreditschöpfung für nicht bloß Konsumtions-, sondern Destruktionszwecke mit der Währung auch die Nationalökonomie letztlich zerrütten musste, wurde selten bedacht. Als Konsequenz befürworteten die drei Autoren einen veränderten Parteikurs: „Nachdem die Eroberungspläne vor aller Welt offenkundig sind, hat die Sozialdemokratie die volle Freiheit, ihren gegensätzlichen Standpunkt in nachdrücklichster Weise geltend zu machen“. Ausdrücklich bekannte sich dieser Appell zu den „Sätzen der Erklärung unserer Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, in denen diese aussprach, daß sie im Einklang mit der Internationale jeden Eroberungskrieg verurteilt“.26 Dieser Schlussteil stand genau so, neben dem Bekenntnis zur Landesverteidigung, in der von Haase im Vorjahr dem Reichstag präsentierten Fraktionserklärung. Die viel bemühte „Politik des 4. August“ muss differenzierter beurteilt werden, als dies von Anhängern und Gegnern rückblickend geschah – und erst recht ist sie von der anschließenden Burgfriedenspolitik zu unterscheiden. Keineswegs steuerten die Meinungsverschiedenheiten innerhalb und außerhalb der Reichstagsfraktion von vornherein auf die Parteispaltung hin. Das Meinungsspektrum war ebenso weit gefächert wie der politische Stil, in dem sich die Kontrahenten begegneten. Von SPD-Rechten wie David ist bekannt, dass sie im Falle eines innerfraktionellen Mehrheitswechsels eine Spaltung anstrebten: „Bricht die August-Mehrheit zusammen, dann muß die reformis25 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 306, 10.3.1915, S. 45D. 26 Zit. nach Eugen Prager, Das Gebot der Stunde. Geschichte der USPD (1921), 4. Aufl. Berlin 1980, S. 69 f.

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tische Gruppe mit den Gewerkschaften eine neue Partei bilden.“27 Das erschien zunächst als bloße Tagebuch-Rhetorik, denn es war sehr fraglich, ob sich viele Gewerkschafter wegen der Kriegskreditfrage derart politisch instrumentalisieren ließen. Auch konnte David gar nicht beanspruchen, für alle „Reformisten“ zu sprechen. Denn in Kriegsfragen gegenteiliger Ansicht waren auch Reformisten wie Bernstein. Letzterer empfand aber insbesondere Davids Ausführungen zuweilen als vom „Geiste des flachsten Dutzendpatriotismus“ geprägt.28 Das galt wohl auch für Davids Zwischenruf nach einer – „Verständigung der Völker“ und „Abkürzung des Krieges“ befürwortenden – persönlichen Erklärung Haases im Reichstag: „Sie besorgen die Geschäfte des Auslandes.“29 Darüber hinaus schwemmte jene nationalistische Stimmungswelle gar antisemitische Ressentiments hoch. „Alle meine Kritiker sind österreichische Juden“, behauptete David.30 Faktisch nachzuvollziehen war das nicht, denn z.B. Kautsky kam zwar ursprünglich aus dem Habsburgerreich, war aber kein Jude, während Bernstein und Haase jüdischer Herkunft waren, jedoch keine Österreicher. In solcher Richtung bleib David kein Einzelfall, denn auch sein Gesinnungsfreund Wolfgang Heine nannte einen Andersdenkenden „Quertreiber“ mit „jüdisch näselndem Jargon“ (RT-Fraktion II, S. 71).31 Die Programmatiker Bernstein und Kautsky qualifizierte er schon vor deren öffentlicher Dissidenz als „diese beiden geschwätzigen Mummelgreise“ ab (ebd., S. 40). Zu diesem Zeitpunkt betrug Kautskys Alter erst 60 und Bernsteins 65, der noch beim Görlitzer Programm von 1921 mit tätig wurde, so wie Kautsky bei einer von den meisten Sozialdemokraten geschätzten Bolschewismuskritik und für das Heidelberger Programm von 1925. Verbunden mit Klagen über das „geistige Niveau“ grenzte sich Heine im Sommer 1915 auch von der gemäßigteren Mehrheitslinie ab: „Ebert, der jetzt die eigentliche Führung hat, kam im persönlichen Gespräch immer wieder darauf zurück, es sei ja ganz egal, war wir beschlössen, denn der Friede würde doch ohne uns gemacht.“ Für Heine war solches der „alte Standpunkt“ einer Oppositionspartei (ebd., S. 73). Aber Ebert gab sich damals wohl einfach nur keinen Illusionen über die Beteiligung der SPD hin, falls sich das Kaiserreich in erträgliche Friedensbedingungen hätte rechtzeitig hinüberretten 27 28 29 30 31

Kriegstagebuch David, S. 157 (4.2.1916). Eduard Bernstein, Sozialdemokratische Völkerpolitik, Leipzig 1917, S. 218. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 307, 24.3.1916, S. 846A. Kriegstagebuch David, S. 137 (12.7.1915). Heine befürwortete zur „Aufrechterhaltung des Burgfriedens“ trotz Kritik an zuweilen überzogener Zensur gegen sich öffentlich manifestierendes Abweichlertum sogar „allerhand scharfe Maßregeln“; Verhandlungen des Reichstags, Bd. 306, 18.1.1916, S. 751D.

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können. Einige Monate zuvor war Ebert nach Ansicht Heines der Rechten gar „in den Rücken gefallen“, als er zur inneren Balance den gemäßigten Kriegskreditgegner Gustav Hoch mit 52 gegen die 48 Stimmen für den Gewerkschafter Robert Schmidt in den Fraktionsvorstand integrieren half (ebd., S. 34 f.). Während ursprünglich nur 14 Fraktionsmitglieder intern gegen die Kriegskredite votierten, waren es im März 1915 dann 23 (ebd., S. 46), im August 1915 schon 31 – bzw. 36 mit den Willenserklärungen der Abwesenden (ebd., S. 74 u. 76). Das kam dem Stand von 40 % Kriegskreditgegnern (38 zu 58 Stimmen) Ende 1915 bereits recht nahe (ebd., S. 99). Dass auch dann noch kein gezielteres Hinausdrängen der innerfraktionellen Opposition stattfand, erschien David als „elendster Umfall, jetzt wo das Geschwür ausgeschnitten werden könnte und müsste“.32 Innerparteiliche Kontrahenten mit zu entfernenden Krankheitsherden zu vergleichen, brachte freilich ein überaus schlichtes Feindbild zum Vorschein.33 Die Abweichler blieben aber ebenfalls in sich differenziert. Im Unterschied zur äußersten Rechten, die sich nun ermutigt fühlte, vermied in der ersten Kriegshälfte sogar die äußerste Linke eine umfassende Zuspitzung. So führte Karl Liebknecht vor späterer Radikalisierung in der Fraktion aus, „daß er die eigentliche Sünde der Fraktionsmehrheit nicht in der Kreditbewilligung, sondern ... insbesondere in ihrer Innehaltung des Burgfriedens“ erblickte (RT-Fraktion II, S. 154). In solcher Kritik war er keineswegs isoliert. Der nur wenig gemäßigtere Ledebour hatte im August 1915 mit dem burgfriedenskritischen Antrag, „den Beschluß der Fraktion zur Annexionsfrage von der Tribüne des Reichstags zu verlesen“ (ebd., S. 77), und Ende 1915 mit jeweils 48 Stimmen bzw. Unterschriften in der Fraktion nur knapp das Ziel verfehlt, in den Reichstag „folgende Interpellation einzubringen: Ist der Herr Reichskanzler zu sofortigen Friedensverhandlungen unter Verzicht auf Annexionen jeder Art bereit, und ist er gewillt, um die Erörterung der Friedensziele zu ermöglichen, die Aufhebung des Belagerungszustandes schleunigst herbeizuführen?“ (ebd., S. 87). Der „äußere Anlass für die Fraktionsspaltung“ wurde im März 1916 ein mit nur knapper Mehrheit von 44 gegen 36 Stimmen gefasster Beschluss, den Etat mit darin enthaltenen Kriegsmitteln anzunehmen, und der Minderheitsentschluss, die abweichende Haltung aus Sorge um Repressionsmaßnahmen ohne vorherige Ankündigung im Reichstagsplenum 32 Kriegstagebuch David, S. 148 (21.12.1915). 33 Das Kriegstagebuch Davids ist auch sonst eine Bestätigung des Bonmots, dass zuweilen die Steigerung ‚Feind, Erzfeind, Parteifreund’ gilt: Kautskys Idee eines Enthaltungskompromisses nennt er „das Produkt eines nicht mehr normalen Gehirns“ (S. 8), einen anderen Fraktionskollegen bezeichnete David als „Bornierte Dreckseele“ (S. 182), er selbst würde innerparteilich gern „rücksichtslos draufschlagen“ (S. 163).

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zu begründen (ebd., S. 168 f. mit Anm. 9). Der Fraktionsbeschluss, dass die solches Vorgehen tragenden Mitglieder „dadurch die aus der Fraktionszugehörigkeit entspringenden Rechte verwirkt haben!“, wurde mit 58 zu 33 Stimmen angenommen (ebd., S. 175 f.). Die Argumentation der Mehrheit konnte, gewiss auch lagebedingt, kaum als widerspruchsfrei gelten. Einerseits wurde Reichskanzler Bethmann Hollweg bescheinigt, eher friedensbereit zu sein als die Kriegsgegner. Andererseits sollte ihm aber eine klare Stellungnahme dazu im Parlament erspart werden, da er sonst aus Gründen der innenpolitischen Kräfteverhältnisse ggf. zu Annexionsbekenntnissen gedrängt werde. Ferner wird historiographisch selten erwähnt, dass zum regulären Etat die SPD ganz im Sinne parlamentarischer Oppositionslogik weiterhin auch mit Nein stimmte. Dies wurde z.B. in einer Fraktionssitzung Ende Mai 1916 auf Vorschlag Eberts gegen nur sechs Stimmen beschlossen. Als Sprecher der rechten Minderheit erklärte Gustav Noske, „daß er und seine Freunde gegen diese Stellung der Fraktion ernste Bedenken hegen und die Ablehnung des Etats ihm persönlich außerordentlich schwerfalle“ (ebd., S. 201). Jedenfalls für etwa 90 % der SPD-Abgeordneten war die Beschwörungsformel des sehr gemäßigten Fraktionslinken Emanuel Wurm: „Eigentlich sind wir doch alle einig!“, gar nicht einmal abwegig. Auch er beschönigte nicht den kriegsverlängernden Beitrag anderer, dabei französische Sozialisten „zum Teil Chauvinisten“ nennend, wenn er vermieden sehen wollte, die eigene Partei als „kaiserliche Sozialisten“ erscheinen zu lassen. Unter Verweis auf die „Zensur“ beharrte er darauf, dass „die Tribüne des Reichstags die einzige Stelle ist, von der wir sprechen können“ (ebd., S. 148 f.). Der Mehrheitsvertreter und Langzeitparlamentarier Richard Fischer äußerte sich, jedoch zwecks Rechtfertigung des Führungsanspruchs, in gleicher Fraktionssitzung Ende 1915 sogar drastischer über öffentliche Restriktionen: „Der Zustand von heute ist dem unter dem Sozialistengesetz ähnlich. Da war auch die Fraktion zwischen den Parteitagen die Leiterin der Partei“ (ebd., S. 146). Es trifft übrigens nicht einmal zu, dass eine Freigabe von Abstimmungen damals kaum vorstellbar erschien. Im Juni 1916 wurde nämlich bei der Reichsvereinsgesetznovelle die „Durchbrechung des Geschlossenheitsprinzips“ auch mit Billigung Davids konzediert (ebd., S. 205). Für den Fraktionszwang gegenüber dem freien Mandat ist vornehmlich die Aufrechterhaltung der eigenen Regierungsmehrheit oder deren baldige Erreichbarkeit ein durchschlagender Grund. Ohnehin durften Kriegskreditgegner ihre abweichende Haltung durch Nichtteilnahme an der Abstimmung bekunden. Das blieb nicht parlamentsintern, die Namen fanden sich daraufhin in der eigenen Presse gelistet. Warum im Frühjahr 1916 die reichstagsöffentliche Darlegung der Motive anderen Stimmverhaltens ein hinreichender Anlass zum Fraktionsaus-

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schluss und damit zur Parteispaltung gewesen sein soll, ist sachlich also nicht recht nachvollziehbar.34 Der Vorwurf, dass diese Minderheit dies zuletzt ohne Vorankündigung machte, kann nicht überzeugen, weil die Ankündigung nach Lage der Dinge riskant gewesen wäre: Die Verbindungen einiger Mehrheitsvertreter zur Regierung waren bekannt, so dass eine zuvor angekündigte Oppositionserklärung gegen weitere Kriegskredite in der Gefahr stand, vielleicht gar nicht wie geplant vorgetragen werden zu können. Auf einer Reichskonferenz der SPD im September 1916 wurden die Kontroversen nach bereits vollzogenem Bruch in der Fraktion innerparteilich offen ausgetragen.35 Ebert stellte eingangs klar, dies sei „kein Parteitag“ und man könne daher keine insoweit verbindlichen Beschlüsse fassen (S. 3). Immerhin war es für ihn „selbstverständlich, daß ein Redner der Minderheit nach uns unbeschränkte Redezeit erhält“ (S. 4). In seinem Hauptreferat zur „Politik der Partei“ (S. 15 ff.) erhielt Scheidemann „Stürmische Zustimmung“ für seine zugespitzt rhetorische Frage: „Was nützt uns eine gerechte Güterverteilung in einem Lande, dessen Volk einen gewaltigen Teil seiner Arbeitsprodukte nicht abzuliefern hätte an einheimische Kapitalisten, sondern an fremde Eroberer?“ (S. 20). Dennoch regte er auch selbstkritische Überlegungen an: „Wenn von deutscher Seite Fehler gemacht worden sind, schwere Fehler, so trägt – das will ich offen aussprechen – zu einem gewissen Teile die Schuld daran das ganze deutsche Volk selbst, das sich jahrzehntelang diese Politik hat gefallen lassen“ (S. 22). Keinerlei Verständnis äußerte jedoch Scheidemann für die gesonderte Stellungnahme der Fraktionsminderheit im Reichstag: „In einer demokratischen Partei hat sich die Minderheit der Mehrheit zu fügen, sonst hört die Partei auf, eine demokratische Partei zu sein“ (S. 29 f.). In Eberts Bericht über „die Tätigkeit des Parteivorstandes“ war zunächst auf der breiten Informationsbasis aus 331 (von 397) Wahlkreisen eine Militärdienstquote von ca. 30 % erwähnt (S. 35) und dann ein Mitgliederschwund „weit über die Zahl der zum Heeresdienst Eingezogenen hinaus“ eingeräumt: Zum 31. März des Jahres 1914 wurde der Höchststand von 1.085.905 (davon 174.754 Frauen) verzeichnet36, schon 1915 waren lediglich 558.722 verblieben (davon 132.475 34 Das ist auch der Grundtenor bei Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, insbes. S. 154–156 u. Fazit S. 396 (S. 130 zur „durchaus begründeten Befürchtung“, dass eine Ankündigung des offenen Sondervotums einen Redeausschluss bewirkt hätte). 35 Protokoll der Reichskonferenz der Sozialdemokratie Deutschlands vom 21., 22. und 23. September 1916, o.O. o.J. (Seitenzahlen bis zum Ende dieses Abschnitts 2 nach jenem Protokoll). 36 Im Anhang zum Protokoll Parteitag SPD 1917 führte der „Bericht des Parteivorstandes“ zu diesem Märzstand 1914 aus: „Dieser Zuwachs ist zurückzuführen auf die Er-

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Frauen) und 1916 sogar nur 395.216, davon 107.136 Frauen (S. 36). Der starke Rückgang weiblicher Mitglieder und in noch höherem Maße der männlichen – auch unter Berücksichtigung der Militärbeteiligten – war in nicht zu beziffernden Anteilen mit Zahlungsproblemen infolge der Kriegsnot und zunehmend auch politischen Motiven zu begründen. Schon mit der Vorhaltung, die Opposition zeige „neun verschiedene Spielarten“ und erinnere so „an russische Parteiverhältnisse“ (S. 45), spitzte Ebert die Auseinandersetzung zu. Auf nur einer Protokollseite überzog er die innerparteiliche Minderheit mit dieser Reihung von Schmähworten: „Heuchelei“, „Spitzbubentaktik“ „Parteizerstörung“ „demagogische Augenverblendung“ „Schlammflut“ von Publikationen, „niedriger Gesinnung und Verleumdungssucht“, „Sudeleien“, „Brunnenvergiftung“, „Sudelschriften“ (S. 47).37 So trug Ebert mit dazu bei, dass Tumulte an der Grenze zu Tätlichkeiten eine halbe Stunde Unterbrechung erforderten (S. 48). Zwar räumte er zuletzt ein: „Auch ich bedaure lebhaft, daß sich an meine Ausführungen eine solche Erregung angeschlossen hat“ (S. 51). Aber zur Abmilderung des sich verschärfenden Spaltungsprozesses hatte seine Rede und eine darin zum Vorschein gelangende feindselige Grundstimmung nicht beigetragen. In seinem „Korreferat“ wollte daher Haase gleich zu Beginn „an den Genossen Ebert die Frage richten: Glaubt er wirklich durch eine Häufung beschimpfender Kraftworte, wie ‚Demagoge, Schlammflut, System politischer Brunnenvergiftung‘, von anderen ganz abgesehen, eine einigende Wirkung auf die Parteigenossen ausüben zu können?“ (S. 53). Als besonders empörend bezeichnete es der bisherige Parteivorsitzende, dass Burgfriedenspolitik der SPD-Mehrheit offenbar die offene Repression der Herrschenden gegen die Minderheit geradewegs ermutigte: „Wenn im Jahre 1870 wenige Männer unter dem Belagerungszustand gepackt wurden, dann ging ein Schrei durch das ganze Land, und jetzt, wo wir eine große sozialdemokratische Partei haben, da kann die Regierung es wagen, Massenverhaftungen vorzunehmen, weil wir eben gar keine Macht haben“ (S. 62). Doch griff Haase nicht zu einseitigen Schuldzuweisungen, er sah vielmehr die Kriegsgegner allesamt in wechselseitiger Unfähigkeit zur Gewalteinhegung befangen: „Unsere Regierung ist zum Frieden bereit wie folge der ‚Roten Woche’, in welcher 148.109 Aufnahmen für die Parteiorganisation erfolgten“, davon 32.298 weibliche (S. 5), zumal jene Woche mit dem „Frauentag“ des 8. März durch „Agitation von Haus zu Haus“ eingeleitet und sonst bevorzugt bei „Gewerkschaftern“ abgewickelt wurde (S. 15 f.). 37 Schon zuvor war ein polemischer Ton gegen Oppositionelle bei führenden Gewerkschaftern zu finden, so z.B. Carl Legien, Parteizerstörer, in: Sozialistische Monatshefte 21 (1915), S. 621–627, mit scharfen Attacken gegen die Unterschriftenaktionen im Umfeld des Aufrufs von Bernstein/Haase/Kautsky „Das Gebot der Stunde“ (S. 624 f.).

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jede andere und sie verhindert den Frieden genau wie alle anderen“ (S. 77). Dass nach zwei Kriegsjahren die Verluste auf beiden Seiten dermaßen verheerend waren, dass einen unentschiedenen Ausgang keine Regierung noch innenpolitisch überleben zu können glaubte, kann als wesentlicher Grund für „Siegfriedens“-Dogmen gelten.38 Von Bernstein wurde auf den österreichischen Ursprung des Krieges hingewiesen: „Das Ultimatum an Serbien war im vollen Bewußtsein so abgefaßt, daß es Rußland auf den Plan bringen musste, daß es von Serbien nicht angenommen werden konnte.“ Auch war es sein Informationsstand, dass auf englische Warnung hin „Bethmann Hollweg zurückweichen wollte und der Kaiser schon schwankend geworden war, daß aber dann die deutsche Militärpartei einfach den Krieg erzwang“ (S. 97 f.). Der sich nicht an den Sonderaktionen der Fraktionsminderheit beteiligende Kriegskreditgegner Hoch zeigte sich mit seinem Appell an die Mehrheit: „lassen Sie jeden seine Überzeugung bekunden, bis die Verhältnisse uns wieder zusammenbringen“, betont zuversichtlich im Sinne eines Umschwungs in der Krisenzuspitzung: „Nach meiner Überzeugung wird die Revolution unvermeidlich. Die Regierung und die herrschenden Klassen können nicht heraus aus dem Blutbad“ (S. 112 f.). Von Löbe wurde zwar die ursprüngliche „Hoffnung“ bekundet, „daß es möglich sein würde, eine Verständigung zu finden“ (S. 132), doch vermittelte ihm der polemisch aufgeladene Verlauf eine andere Perspektive: „Ehe wir der Welt das Schauspiel der gegenseitigen Beschimpfung bieten, wollen wir uns lieber in der Sache trennen. Dann mag jeder auf seine Weise versuchen, der Arbeiterbewegung zu dienen“ (S. 134). Auch wenn es nicht verachtenswert sein konnte, später zu neuen Einsichten zu gelangen, traf Löbe einen wunden Punkt hinsichtlich der in Teilen der Opposition anzutreffenden Wortwahl: „Da kommt einer, der hat einmal für die Kriegskredite gestimmt, wie Bernstein, ein anderer zweimal, wie Dittmann, ein anderer dreimal, wie Hoch, und alle zusammen sagen: wer nun das viertemal dafür stimmt, der tritt den Sozialismus mit Füßen“ (S. 133). So polemisch auch manche Oppositionelle argumentierten, ist doch anzumerken, dass gerade die Autoren des „Gebots der Stunde“ Bernstein, Haase und Kautsky wie z.B. Löbe im Mehrheitslager zu den meist besonnen formulierenden Exponenten gehörten. In seinen abschließenden Bemerkungen stellte Haase klar, dass auch er die Verbindlichkeit der Mehrheitsbeschlüsse anerkennen wollte, sobald ein Parteitag diese fassen werde: „Kann man den Parteitag einberufen und so den Willen der Gesamtpartei vernehmen, dann ist allerdings ein Abweichen von 38 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, mit weiterer Literatur.

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dem Auftreten der Mehrheit nicht erlaubt“ (S. 143). Er wollte sich keinem deterministischen Kriegs-Fatalismus unterwerfen: „Wer von dem Wirken der Persönlichkeiten ganz absieht, der verwechselt elementare Naturereignisse und politisch-soziale Vorgänge“ (S. 146). Auch deshalb verstand Haase den Internationalismus so, „daß jede Partei zunächst die Handlungen ihrer eigenen Regierung kritisiert“ (S. 147). Hingegen beharrte Scheidemann im Schlusswort nicht allein auf der Politik des 4. August, sondern zugleich auf deren Begründung: „Der Krieg ist, was er von Anfang an gewesen ist, ein Verteidigungskrieg, in dem Deutschland um seine nackte Existenz kämpft.“ Dennoch ließ er seine Rede in das Bekenntnis ausmünden: „Unsere Friedensliebe kann nicht bezweifelt werden. Ich wünschte, daß unsere Feinde im Auslande unseren Ruf hören möchten: Schlagt ein in unsere Hand, erinnert auch Ihr Euch an das Wort: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ (S. 160). Ein Antrag Haase-Ledebour, keine Beschlüsse bis zu einem wieder möglichen Parteitag zu fassen, wurde mit 276 zu 169 Stimmen abgelehnt, darauf unter Nichtbeteiligung der Opposition eine die Mehrheitspolitik stützende Resolution Davids mit 251 gegen 5 bei 15 Enthaltungen angenommen (S. 168 f.). Wenn Ebert ganz am Ende der Beratungen appellierte, „daß die Gegensätze, deren sachliche Schärfe niemand verkennt, doch nicht derart sind, daß ein weiteres Zusammenwirken innerhalb der Partei, die Aufrechterhaltung der Einheit und der Geschlossenheit der Partei unmöglich ist“ (S. 173), formulierte er sogar über seinen eigenen Beitrag zur weiteren Zuspitzung durch erwähntes Schmähvokabular hinweg.

3. Zwischen Interfraktionellem Ausschuss und Revolution 1918/19 Seitdem die russische Februarrevolution sowie der Kriegseintritt der USA eine regelrechte Weltenwende einleiteten39 und sich im Frühjahr 1917 die USPD verselbständigt hatte, wurde das Verhältnis von parlamentarischen und außerparlamentarischen Faktoren bedeutsamer. Als deutliches Indiz der Zuspitzung attackierte nun Scheidemann im Reichstag ganz offen die „alldeutsche Porzellanladenpolitik“, wodurch Deutschland in den „törichten Verdacht gekommen“ sei, „ein Räubervolk zu sein“, also „sozusagen eine national organisierte Räuberbande von 70 Millionen“; würden statt der weiterhin legitimen Verteidigungs- künftig „Eroberungsziele“ verfolgt, „dann haben Sie 39 Dazu Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931 (engl. 2014), München 2015 (abweichend vom Untertitel bis S. 550 die hier betrachtete Zeitspanne bis Ende 1922 behandelnd – für 1923ff. verbleiben nur die restlichen Textseiten 550–642).

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die Revolution im Lande“.40 Allerdings nutzte Scheidemann die im Interfraktionellen Ausschuss41 des Reichstags nun verzeichneten Annäherungstendenzen von Liberalen und Zentrumspartei als innerfraktionelles Disziplinierungsmittel: Verbliebenen Kriegskreditgegnern wurde entgegengehalten, die „Zertrümmerung dieser Reichstagsmehrheit“ zu riskieren (RT-Fraktion II, S. 307). Außerdem sei durch Annahme der Friedensresolution im Reichstag seit jenen Julitagen 1917 das Argument hinfällig, man wolle keinen Eroberungskrieg unterstützen. Derart von neuer Übersichtlichkeit geprägt war die Lage jedoch nicht generell: Mit Ausbruch der russischen Februarrevolution entfiel klar und eindeutig das ursprünglich wirksame antizaristische Motiv und wurde bei der Obersten Heeresleitung (OHL) eine neue Kulisse für Annexionsziele im Osten geschaffen. Mit dem fast gleichzeitigen Kriegseintritt der USA, infolge des unbegrenzten U-Boot-Krieges Deutschlands gegen Nachschubwege Großbritanniens, eskalierten die Kampfhandlungen nun weiter im Westen. An der einflussreichen OHL Hindenburg/Ludendorff war Bethmann Hollweg mit seiner „Politik der Diagonale“ gescheitert und von deren Kandidaten Michaelis als Reichskanzler abgelöst worden. Dieser ließ sich nicht auf den mit der Friedensresolution der Reichstagsmehrheit geforderten Verzicht auf Annexionen und Kontributionen festlegen. Dessen baldige Ersetzung durch den konservativen bayerischen Katholiken Hertling brachte die Reichstagsmehrheit nicht wirklich politisch voran. Denn auch er war durchsetzungsschwach und zudem – gleich dem Kaiserreich im letzten Kriegsjahr – allmählich so altersmorsch, dass er seine Amtszeit nur wenige Monate überlebte. Im Oktober 1917 hielt die nun um die USPD-Abspaltung reduzierte SPD – entgegen dem Tenor der Reichskonferenz von 1916 – einen regulären Parteitag in Würzburg ab. An insgesamt erleichterten Rahmenbedingungen konnte diese Möglichkeit kaum liegen, denn die Zahl ihrer öffentlichen Versammlungen war vom Berichtsjahr 1914/15 = 3182 über 1915/16 = 970 auf 1916/17 = 778 weiter rückläufig.42 Über den Heeresdienst von inzwischen drei Vierteln der männlichen Mitglieder hinaus waren auch zusätzliche weibliche Verluste durch Beitragsbefreiung und dann abgerissenen Kontakt zu verzeichnen; nicht verschwiegen wurden die regionalen Schwerpunkte der größten Einbußen in Richtung USPD: „Durch die Spaltung ging uns ein erheblicher Teil der Mit40 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 310, 15.5.1917, S. 3392D u. 3395A. 41 Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Bearb. Erich Matthias, 2 Bde., Düsseldorf 1959; Wilhelm Ribhegge, Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917/18, Berlin 1988. 42 Protokoll Parteitag SPD 1917, S. 28 (Seitenzahlen dieses und nachfolgender vier Absätze nach jenem Protokoll). Ebert führte im weiteren Verlauf aus, es sei 1916 „mit einem Verbot des Parteitags zu rechnen“ gewesen (S. 233).

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glieder in den Bezirken Groß-Berlin, Leipzig, Frankfurt a.M., Ostpreußen, Niederrhein, Braunschweig, Halle, Erfurt und Groß-Thüringen verloren“ (S. 9).43 Der diesen Teil des Berichts der Reichstagsfraktion verantwortende David war zu keiner neuen Sicht bereit. Zwar habe es „Kriegstreiber“ auch in Berlin gegeben: „Der Unterschied ist, daß sie hier nicht das Heft in der Hand hatten, während sie in Petersburg, Paris und London am Steuer der Regierung saßen“ – das war dermaßen schlicht gesagt eben nur eine nationale Propagandaversion; das sonst höchst problematische Entfallen des antizaristischen Motivs wurde von ihm ebenso agitatorisch offensiv modifiziert: „Die russische Revolution ist mitverursacht worden durch unsere Politik vom 4. August 1914“ (S. 67). Die Mitwirkung am Gesetz über den „Vaterländischen Hilfsdienst“, das Zwangsverpflichtungen von Arbeitskräften mit partieller Hinzuziehung von Betriebsausschüssen kompensierte, wurde im weiteren Fraktionsbericht mit der „Gefahr“ begründet, „die bei grundsätzlicher Verwerfung des Gesetzes durch die Partei heraufbeschworen wurde: die Militarisierung des Arbeitsprozesses ohne Einfluß der Arbeiterorganisationen und womöglich eine Ausdehnung der Wehrpflicht bis zum 60. Jahre“ (S. 115 f.). In seinem Referat zum Thema „Demokratisierung“ bemängelte Landsberg das „starre System des Obrigkeitsstaates“ und entwarf anspruchsvolle Kontrastfolien: „Das deutsche Volk, das unpolitischste aller Völker, will politisch werden“ (S. 133); es müsse so die „Identität von Volk und Staat“ erreicht werden, auch im Sinne der Systemangleichung zu den Kriegsgegnern: „Es gibt kein tauglicheres Mittel zur Verminderung des Kriegswillens in den uns feindlichen Ländern, als die sofortige Demokratisierung der deutschen politischen Verhältnisse“ (S. 136). Indem Landsberg auch noch den Staat als „das durch die Verfassung organisierte Volk“ und konkret als das „parlamentarische Regierungssystem“ konzipieren wollte (S. 138), machte er bis in die Wortwahl hinein ersichtlich Anleihen an ein auch von Sozialdemokraten viel beachtetes Buch des – Ebert später von Landsberg empfohlenen – Weimarer „Verfassungsvaters“ Hugo Preuß.44 Einen besonderen Akzent markierte freilich auch Landsberg in einem Demokratieverständnis, welches sich erst in einer gesellschaftlichen Umwälzung komplettierte: „Wir Sozialdemokraten wissen, daß die volle Demokratie die Beseitigung der Klassengegensätze zur Voraussetzung hat“ (S. 137 f.). Dem Vortragenden Heinrich Cunow zu „Die 43 Ebert stellte im Bericht des Parteivorstands klar, dass der Bezirk Frankfurt ohne die Stadt Frankfurt a.M. gemeint war (S. 235). 44 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hg. Lothar Albertin, Tübingen 2007, S. 383–530. Die Empfehlung für Preuß von Landsberg an Ebert berichtet Philipp Scheidemann, Hugo Preuß zum Gedächtnis, in: Vorwärts Nr. 483 v. 13.10.1925.

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nächsten Aufgaben der Wirtschaftspolitik“ (S. 145 ff.) stellte sich in konzentrierten Wirtschaftsbereichen nur die Frage „Staatsmonopol oder Privatmonopol?“ (S. 159). Das Referat Wilhelm Keils über Finanzpolitik errechnete bereits 94 Milliarden Mark Kreditlast bezogen auf ca. 400 Milliarden Mark Volksvermögen (S. 165 f.). Zumal die Entwicklungsrichtung laute: „Die Armen sind durch den Krieg ärmer, die Reichen reicher geworden“ (S. 173), musste die Zielsetzung vor allem „Zurückführung der Vermögensgewinne in die Reichskasse“ (S. 188) sein. Im Bericht des Parteivorstandes sah Ebert den „Bruch mit der Partei“ in den Hochburgen der Opposition bereits vor der Fraktions- und Parteispaltung erfolgt: „Die Beitragssperre wurde in Berlin und Leipzig schon Anfang 1916 durchgeführt“ (S. 234). Auch wenn er sich nur skeptisch zur Frieden schaffenden Potenz der Internationale äußerte, ließ Ebert dennoch am Ende seine Rede in ein traditionelles Bekenntnis gipfeln: „Eiserne Notwendigkeit wird die Arbeiterklasse sammeln um das Banner der alten Sozialdemokratie, die bleibt, was sie war und ist, die Partei des Klassenkampfes, Ruferin und Führerin im Befreiungskampf der Arbeiterklasse“ (S. 244). Der sich der Herkunft nach „als Knappe Victor Adlers in Wien“ (S. 258) präsentierende Adolf Braun aus Nürnberg befürwortete den an der Basis verbreiteten „Wunsch nach Einigung“ zugleich mit sonst allzu unbequemer Konkurrenz: „Wir wissen aus der parlamentarischen Praxis auch der Sozialdemokratie, daß die linksstehenden Parteien immer das Bedürfnis haben, radikaler zu sein als die neben ihr sitzende Partei“ (S. 257 f.). Dabei war zusätzlich mit einer markanten politischen Verschärfung zu rechnen: „Die Zeit nach dem Kriege wird die Arbeiter in einer Weise radikalisieren, daß die Radikalen von uns und von den Unabhängigen dann vielleicht nicht mehr mitkommen werden“ (S. 259). Eine zunehmende Konfrontationstendenz befürchtete auch Landsberg: „Genossen, ich denke mit Schrecken daran, daß die nächsten Reichstagswahlen voraussichtlich das Bild zweier sich bis aufs Messer bekämpfenden sozialdemokratischen Parteien geben werden“; allerdings erwähnte er gegenüber der Zurückhaltung anderer sogar die Aktivitäten eines Linksabweichlers: „Im Hauptausschuß des Reichstages vergeht keine Sitzung, in der nicht Ledebour die Parlamentarisierung der Regierung verlangt“ (S. 300 f.).45 Hingegen empfahl Ebert unbeeindruckt vom Wortstreit, „unsere ganze Kraft einzusetzen für die Stärkung und den Ausbau unserer Organisation“; denn „treten die Aufgaben des Friedens an uns heran, dann machen die Arbeiter mit aller Eigenbrötelei, mit allen Sonderorganisationen sehr schnell Schluß“ (S. 312). 45 Reinhard Schiffers, Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bonn 1979, verzeichnet im Register (S. 299) Ledebour mit etlichen Beiträgen.

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In seinem Referat für die Mehrheitsmeinung in der Kriegspolitik zeichnete David ein gleichermaßen die eigene Haltung begründendes wie – bei distanzierterer Betrachtung – zu nur geringen Zukunftshoffnungen ermutigendes Gesamtbild: „Heute steht fast die gesamte Welt in einem mächtigen Ring zusammen, um alles daran zu setzen, uns niederzudrücken“ (S. 324). Gegen u.a. von Landsberg vorgebrachte Gedanken zu Einigungsbestrebungen46 propagierte David auch parteiöffentlich eine unversöhnliche Haltung. „Es gibt da nur einen Weg: die Unabhängigen müssen einsehen, daß ihre Taktik verkehrt ist und unsere richtig“ (S. 335). Doch auch er verstand Parlamentarismus als „Regierungswahl“ mit dem Begleiteffekt einer „Politisierung der Massen“; überdies wollte er die Kriegskreditpolitik zur Neuordnungsperspektive umdeuten: „Der Krieg ist auch ein Revolutionär. Das Alte und Morsche bricht zusammen, Neues Großes will werden“ (S. 337 f.). Als Sprecher „für die Minderheit der Fraktion“ bestand Hoch auf der Sicht, der Krieg sei „von der herrschenden Klasse in allen Ländern planmäßig als Eroberungskrieg vorbereitet worden“ (S. 339). Statt Eroberung würde jedoch am Ende stehen, „daß sich alle beteiligten Völker mehr und mehr verbluten“ (S. 341). Unter Geltendmachung eines Führungsanspruchs der eigenen Partei begrüßte auch Hoch trotz Bemängelung fehlender Konsequenz die neue Kräftegruppierung im Reichstag: „Auf der einen Seite steht die Reichstagsmehrheit vom 19. Juli 1917 und auf der anderen Seite die vereinigten großkapitalistischen Kriegsverlängerer“ (S. 347). Der marxistischen Imperialismustheorie gemäß hoffte er nicht auf die Friedensgewährung seitens der Westmächte unter Führung des US-Präsidenten: „Ich gebe gewiß auf die Moral Wilsons und der englischen und französischen Staatsmänner nichts“ (S. 349). Die Ablehnung der Resolution Hochs mit nur 26 gegen 257 Stimmen (S. 398) zeigte die Schwäche der SPD-Opposition nach Gründung der USPD, so dass auch die Wiederwahl der Vorstandsmitglieder bloße Routine war (S. 469). Im ausführlichen Redebeitrag Scheidemanns „Die nächsten Aufgaben der Partei“47 (S. 404 ff.) klang einerseits politischer Zukunftsoptimismus an: „So oder so wird sich das parlamentarische System durchsetzen, Deutschland wird nach dem Kriege ein parlamentarisch-demokratisches Staatswesen sein“ (S. 406). Andererseits wurde von ihm plastisch erläutert, dass Kriegsindustrie keine Gebrauchswerte hinterließ: „Sie baut keine Häuser, sondern 46 In den Schlussworten zur Debatte artikulierte Landsberg diese Überzeugung auch grundsätzlich: „Je gewaltiger ein Organismus ist, für desto mehr Gegensätze hat er Platz“ (S. 422). 47 Der Sonderdruck wurde in einer Rekordauflage von 200.000 Stück verbreitet (Protokoll Parteitag SPD 1919, S. 37).

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dreht Granaten, mit denen man Ruinen macht. Und in dem sie den Stickstoff statt zu Dünger, zu Explosivstoffen benutzt, schießt sie unser tägliches Brot in die Luft. So sind wir, wie die anderen, ärmer geworden von Tag zu Tag“ (S. 407). Zwar bezog er sich positiv auf das, was der österreichische Reformist Karl Renner in einem „vortrefflichen Buch die ‚Durchstaatlichung der Wirtschaft’ nennt“ (S. 408). Doch wollte Scheidemann die erstrebte Synthese von Demokratie und Sozialismus nicht etatistisch verengen: „Gegenüber dem zunehmenden Druck einer wirtschaftlichen Zentralgewalt muß jeder durch einen festen Panzer einer staatsbürgerlichen Freiheit gesichert sein“ (S. 410). Insoweit Landsberg und nicht David folgend gab Scheidemann auch wesentliche kritische Akzente zu bedenken: „Englands größte Stärke besteht darin, daß es verstanden hat, sich in der ganzen Welt Freunde zu gewinnen. Unsere schlimmste Schwäche aber ist, daß wir es verstanden haben, in der ganzen Welt Freunde zu verlieren“ (S. 411). Die erste größere auch politisch motivierte Streikbewegung im Januar 1918 war der Protest gegen die Lebensmittelknappheit und den Revolutions-Russland von der OHL auferlegten Diktatfrieden von Brest-Litowsk. In der protestkanalisierenden Streikleitung trafen sich – teilweise fast schon künftige Entwicklungen vorwegnehmend – Ebert, Scheidemann und Otto Braun für die SPD und Haase, Ledebour und Wilhelm Dittmann für die USPD. Das Friedensdiktat von Brest-Litowsk konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Kriegsbeurteilung seitens der SPD bleiben. So zeigte die Fraktion auch ohne die USPD-Minderheit weiterhin Meinungsunterschiede: 25 Ja-Stimmen des rechten Flügels, 12 Nein-Stimmen des verbliebenen linken und 29 für Enthaltung als Kompromisslinie von Ebert und Scheidemann führten zur Stimmenthaltung im Reichstag (RT-Fraktion II, S. 392).48 Wäre dies bereits im Winter 1915/16 der Kompromiss zwecks Einbindung von insgesamt 40 % Kriegskreditgegnern gewesen, hätte sich die Parteispaltung wohl mit Ausnahme von Absplitterungen an den Rändern vermeiden lassen. Ohnehin waren, als Zeichen fortwirkender Bindekraft bereits hier erwähnt, nach der Wiedervereinigung von SPD und USPD im Herbst 1922 nur 2 der 110 sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten von 1912 bei einer anderen Partei zu finden: Ledebour in der nun sektenhaften Rest-USPD und Joseph Herzfeld bei der KPD. Ledebour hatte Mehrheitsvertreter zwar schon 1915 auf „das Niveau einer nationalsozialen Regierungspartei herabsinken“ gesehen (ebd., S. 26). Aber zur damit angesprochenen Fortschrittlichen Volkspartei um den ehema48 Allerdings wurde der rumänische Friedensvertrag mit denkbar knappen 25 Stimmen gegen 24 für Enthaltung (darunter auch der spätere Volksbeauftragte Landsberg) von der Fraktion befürwortet (RT-Fraktion II, S. 409).

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ligen Nationalsozialen Friedrich Naumann ist niemand von den SPD-Rechten übergetreten. Das war vermutlich auch das Ergebnis eines zuletzt den rechten Flügel der Fraktion stärkenden Kurses von Ebert. Jedenfalls wurde seine allmähliche Positionsverschiebung in den Fraktionsberatungen gemeinsam mit dem Parteiausschuss am 23.9.1918 über einen Regierungseintritt ersichtlich (ebd., S. 419 ff.). Ebert drängte nicht allein zur Festigung der auch nach seinem Eindruck nicht entschieden zur Parlamentarisierung strebenden Reichstagsmehrheit, sondern zur Kooperation mit einem nun auf eine Kriegsniederlage zusteuernden Kabinett: „Wollen wir jetzt keine Verständigung mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung, dann müssen wir die Dinge laufen lassen, dann greifen wir zur revolutionären Taktik, stellen uns auf die eigenen Füße und überlassen das Schicksal der Partei der Revolution“ (ebd., S. 442). Skeptische bis kritische Äußerungen kamen geradewegs von sämtlichen anderen Führungspersonen, die hier mit bald folgenden Funktionen aufgezählt werden: Reichsministerpräsident Scheidemann, preußischer Ministerpräsident Braun, Reichstagspräsident Löbe und Volksbeauftragter Landsberg, dieser Ebert unmittelbar widersprechend: „Ich glaube im Gegenteil, der Bolschewismus in Deutschland kann nicht besser gefördert werden, als wenn die Massen das Vertrauen zu uns verlieren“, und das werde geschehen „auf der Bahn des Kompromisses mit denen, die noch immer ihre Todfeinde sind“ (ebd., S. 445). Sogar der Georg von Vollmar als Sprecher der Süddeutschen nachfolgende Erhard Auer wollte „eingehend überlegt“ sehen, „ob nicht ein Parteitag zu der Frage Stellung nehmen soll. Mit dem Eintritt in die Regierung werden wir gewissermaßen eine Mittelpartei, und die Unabhängigen, die heute nichts sind, werden dann scheinbar die einzige Oppositionspartei sein“ (ebd., S. 450). Das galt nur mit Ausnahme der Konservativen, die aber bis zu einem vollständigen Systembruch im bestehenden Machtapparat überrepräsentiert blieben. Anders als es in vielen Geschichtsbüchern steht, gab man sich nicht verbreitet Illusionen über einen durch Regierungsbeteiligung zu erlangenden milden Frieden hin. Im Gegenteil redete ein innen- und außenpolitischer Realist wie Otto Braun, der gleich Landsberg davor warnte, „eine Politik einzuschlagen, die uns nicht im Konnex mit den breiten Massen des Volkes hält“, schon im September 1918 Klartext in der Fraktion: Die Siegermächte würden „darauf bestehen, nur einen Frieden zu machen, den sie diktieren, einen anderen bekommen wir nicht. Und da fragt es sich für mich, ob es angenehm für Sozialdemokraten ist, die in der Regierung sitzen“ (ebd., S. 451).49 Mit ei49 Auch der Kriegskreditgegner Hoch sah das am 17.10.1918 nicht anders: „Wir müssen mit dem Gewaltfrieden rechnen“ (ebd., S. 484).

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ner über die weniger leicht einschätzbare Ursprungsphase hinaus verlängerten Kriegskredit- und Burgfriedenspolitik hatte die SPD bereits den hohen Preis der Spaltung entrichtet. Sie war dafür 1917 aber nicht einmal in Kooperation mit Liberalen und Zentrum durch wirklich greifbare politische Zugeständnisse z.B. in der Frage des preußischen Dreiklassen-Wahlunrechts entschädigt worden. Die gerade auch von Ebert letztlich mit 55 zu 10 Stimmen in der Reichstagsfraktion (ebd., S. 460) durchgesetzte Beteiligung am Kabinett des Prinzen Max von Baden, der ihn quasi in Revolution von oben am 9. November 1918 unter Abdankung des Kaisers zum Reichskanzler ernannte, hätte die SPD noch stärker in den militärischen Konkurs der OHL hineinziehen können, wäre dies mehr als eine Episode weniger Tage geblieben.50 Mit Beginn der Novemberrevolution 1918 änderte sich jedoch die innenpolitische Konstellation grundlegend. Diese weiteren Entwicklungslinien sind gegenüber den mehr hinter den Kulissen stattfindenden Kriegskontroversen so viel bekannter und zunächst jenseits parlamentarischer Entwicklungslinien angesiedelt, dass Stichworte genügen müssen51: Im Revolutionskabinett der Volksbeauftragten fanden SPD und USPD formell paritätisch (faktisch unter Leitung Eberts) zusammen und trafen etliche Regelungen, die später auch in ein demokratisches und sozialpolitisches Profil der Weimarer Verfassung eingingen. Der Rätekongress stellte Mitte Dezember 1918 mit den Stimmen auch der gemäßigten Hälfte der USPD die Weichen für Wahlen zur Nationalversammlung bereits im Januar 1919. Statt das Kanzleramt nach Bismarck und schon vor Adenauer wieder stark zu machen, übernahm der Administrationspolitiker Ebert die symbolträchtigere Reichspräsidentschaft und überließ dem Redepolitiker Scheidemann die operative Ministerpräsidentschaft. In der Weimarer Nationalversammlung konnte die Sozialdemokratie angesichts einer Mehrheit der bürgerlichen Parteien nur Kompromisslösungen bei der Verfassunggebung erreichen, die aber im Grundrechtekatalog sogar mehr Sozialstaatspostulate als später das Bonner Grundgesetz enthielten.52 Die Annahme des Versailler Vertrags wurde SPD und Zentrum aufgebürdet – also jenen, die lange als „Reichsfeinde“ bekämpft worden waren und nun dieses Reich 50 Dazu berichtete Otto Wels im Folgejahr: „Scheidemanns Wirken ist der letzte Beschluß des Kabinetts des Prinzen Max zuzuschreiben, daß die Truppen nicht schießen sollten“; Protokoll Parteitag SPD 1919, S. 153. 51 Die bei der Thematik SPD und Parlamentarismus vertretbare Knappheit der Skizze zu ohnehin nur wenigen Monaten ist zusätzlich darin begründet, dass in dieser Publikationsreihe zum 100. Jahrestag der Revolution 1918/19 und der Weimarer Nationalversammlung jeweils eigene Bände erscheinen sollen. 52 Heinrich Potthoff, Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke, in: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 433–483.

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vor der Truppenbesetzung und ggf. Separatismus retten mussten, während sich das sog. „nationale“ Lager aus der politischen Mitverantwortung davonschlich. Die Koalition der SPD mit dem Zentrum setzte nur solange auch sozialdemokratische Politik z.B. in der Finanzreform um, wie südwestdeutsche Zentrumspolitiker wie Erzberger und Wirth dieses mit ermöglichten.

4. Frühe Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung mit der USPD53 Der Mitte Juni 1919 symbolträchtig in der Stadt Weimar versammelte SPD-Parteitag stand im Schatten des Siegermächte-Ultimatums zur Annahme des Versailler Vertrags. Seit diesem Parteitag amtierte neben Hermann Müller als SPD-Vorsitzender Otto Wels, beide in der Nachfolge Eberts und Scheidemanns (wegen deren Staatsämtern). Wels sah im Wahlerfolg des Januar 1919 „die Richtigkeit unserer Kriegspolitik“ bestätigt, ebenso in der Härte der Versailler Bedingungen.54 Statt Befassung mit der kaiserzeitlichen Vergangenheit rückte er die republikanische Gegenwart in den Mittelpunkt auch der außenpolitischen Betrachtung: „Unsere Gegner sind auf uns deshalb so erbittert, weil Deutschland dasjenige Land ist, in dem der Sozialismus seinen Idealen entgegengeführt werden soll“ (S. 140). Das bedeutete aber keine einseitige Zurechnung der Verantwortung für den Kriegsausbruch: „Wir haben die Überzeugung, daß ein vollgerüttelt Maß von Schuld auf den Schultern der alten Gewalthaber in Deutschland liegt“; doch auch der russische „Zar“ und die „französischen Revancheideen“ seien beteiligt gewesen (S. 160). Trotz der Verstimmungen aus den Kriegsjahren bekannte sich Wels zur „Menschheitsverbrüderung“ und erklärte „für meine Person, daß ich dem Gedanken der Internationale anhänge mit der ganzen Inbrunst und Liebe eines Gläubigen“. Dies wiederum sah er nicht im Gegensatz zu einem wohlverstandenen Patriotismus: „Die Flamme unserer Liebe zur Menschheit entzündet sich zuerst an der Liebe zu unserm eigenen Volke“ (S. 158 f.). Korrekturbedarf fand Wels eher innenpolitisch: „Wir waren 50 Jahre lang eine Oppositions- und Agitationspartei, nur darauf eingestellt, parlamentarisch-politischen Einfluß zu erlangen“ (S. 142). Neben ökonomischen Abhängigkeiten widersprach die 53 Zu diesem Entwicklungsabschnitt insgesamt auch Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1984. 54 Protokoll Parteitag SPD 1919, S. 141 u. 152 (Seitenzahlen dieses und der nachfolgenden vier Absätze aus jenem Protokoll).

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seit Frühjahr 1919 im USPD-Programm verankerte Alleinherrschaftsvision seinen demokratischen Überzeugungen: „Die reine sozialistische Regierung wäre als Diktaturprodukt zum Untergang verurteilt, da sie nicht organisch von unten auf gewachsen wäre, sondern ganz künstlich von oben gemacht werden müßte und ebenso aussehen und wirken würde, wie der alte Obrigkeitsstaat“ (S. 150). So wie bei Landsberg zwei Jahre zuvor erinnerte diese Mahnung von Wels an eine bekannte Formulierung bei Hugo Preuß, nämlich den in neuen Diktaturformen angelegten „verkehrten Obrigkeitsstaat“.55 Es gab, nach Rückkehr der Soldaten und Chancen des republikanischen Neuanfangs, wie 1914 nun wieder über eine Mio. Mitglieder, aber davon wegen der USPD-Stärke nur rund 50.000 (statt 1914 über 120.000) in Groß-Berlin (S. 162). Zu den weder Presse- noch Organisationsfragen einschließlich der breit gewünschten „Einigung der sozialdemokratischen Parteien“ betreffenden Themenbereichen lagen die meisten Anträge vor: in Fragen der „Sozialisierung“, hinsichtlich „Militär und Freikorps“ und „Demokratisierung der Verwaltung und Justiz“.56 Auf dieser Basis konnte der noch amtierende Reichsministerpräsident Scheidemann das Referat über „Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Deutschen Republik“ halten (S. 233 ff.). Auch er zog eine klare Grenze zu Diktaturkonzepten: „Kein Sozialdemokrat ist, wer an die Stelle der allgemeinen Volksherrschaft eine politische Räteherrschaft setzen will“ (S. 234). Den ökonomischen Systemwechsel verstand er nicht als revolutionären Bruch, sondern im Sinne eines fließenden Übergangs: „Keine standesamtliche Urkunde verzeichnet die Geburtsstunde des Kapitalismus, und ich glaube, keine wird auch die Sterbestunde des Kapitalismus verzeichnen“ (S. 235). Dabei sei im Transformationsprozess „mit methodischer Empirie“ vorzugehen. „Denn der Sozialismus ist nicht Zweck an sich, sondern er soll ein Mittel sein der leidenden Menschheit zu helfen“ (S. 239). Diesen Gedanken erstreckte Scheidemann zugleich auf die Kriegsgegner, sogar ungeachtet der Gewaltverhältnisse, denn „hätten die Gegner keinen Soldaten mehr auf den Beinen, und keine Kugel mehr in ihrem Lauf stecken, dann hieße es für uns erst recht, das zerstörte Frankreich und Belgien wieder aufzubauen“ (ebd.). Darüber hinausgehend erinnerte der inzwischen nicht mehr (auch) der USPD angehörende Bernstein an versäumte Chancen der Kriegsvermeidung: 55 Hugo Preuß, Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat? (1918), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Hg. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 73–75. 56 Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920, Düsseldorf 1978, S. 300 (erst danach folgte die Zahl der Anträge zu „Rätefrage“, „Parteiprogramm“, „Frauen in der Partei und im öffentlichen Leben“, „Verhältnis Partei-Regierung“, „Außenpolitik“).

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„In Frankreich war eine Friedensregierung am Ruder. Im Juni 1914 hatten die Wahlen eine Niederlage der Kriegspartei ergeben“, und in Großbritannien regierten „Asquith, Grey, Haldane, die Leute, die heute für das deutsche Recht noch eintreten gegen die Friedensbedingungen“; demgegenüber hätten sich erst während des Krieges auch bei den Westmächten die Hardliner durchgesetzt (S. 241 f.). Von der kaiserlichen Regierung fühlte sich Bernstein getäuscht. „Uns hat man gesagt: der Krieg geht gegen Rußland. Und wo war die größte Kraft Deutschlands? Die größte Kraft Deutschlands wurde gegen den Westen, gegen Belgien und Frankreich geworfen.“ Zwar erschienen auch ihm die Versailler Friedensbedingungen zum Teil „einfach unmöglich“; aber 9/10 – nach lautstarken Protesten von Delegierten auf 8/10 reduziert – waren seiner Auffassung nach als „unabweisbare Notwendigkeiten“ infolge einer mit zu verantwortenden Kriegsniederlage hinzunehmen (S. 242). Wenn die Protestrufe das negierten, war solches für Bernstein ein Indiz, „daß Ihr zum Teil noch heute die Gefangenen der damaligen Abstimmung seid“ (S. 246) – mit der Folge, „daß man gezaudert hat, den Strich, der uns von dem alten System trennt, so dick wie nur möglich zu ziehen“ (S. 277). Für eine insoweit konsequentere Haltung zitierte er die Wiener „Arbeiter-Zeitung“ in deren Auseinandersetzung mit eigenen Machthabern, dabei eine falsche Gewohnheit vermeidend: „Man spricht von Ländern wie von Persönlichkeiten, und wenn man von seinem Land spricht, sagt man ohne weiteres ‚Wir’. Aber ein Land besteht aus Parteien, Klassen, Schichten der verschiedensten Art. Wenn ich sage, die damalige deutsche Regierung ist schuld, sage ich nicht: das deutsche Volk ist schuld, am wenigsten die deutsche Arbeiterklasse“ (S. 280). Jenseits von Polemik57 bestätigte auch der werdende Mitvorsitzende (und bald darauf Außenminister) Hermann Müller: „die wirtschaftliche Lage Frankreichs ist fürchterlich ... Wir werden die Rechnung noch präsentiert bekommen, und ich habe die Hoffnung, daß diejenigen vor den Staatsgerichtshof kommen, die dafür verantwortlich sind, daß das Volk jetzt das alles zu bezahlen hat“ (S. 257 f.). Zwar verteidigte er im Grundsatz die Kriegskreditpolitik der Parteimehrheit, kam aber zu den Versailles vorausgehenden deutschen Gewaltfrieden von Brest-Litowsk und Bukarest anderen Sichtweisen näher: „Es ist zweifelhaft, ob alle diese Beschlüsse richtig waren“ (S. 259). Sogar David räumte nun ein, „daß auch die deutsche Diplomatie einen Teil 57 Hermann Müller: „Man darf eben nicht alle Dinge unter dem Gesichtspunkt des Rabbiners von Minsk behandeln, wenn man aktuelle Politik zu machen hat“, und man könne nicht „wie ein Hosenhändler“ erst 9/10 und dann 8/10 nennen (S. 256 f.). Im weiteren Verlauf stellte Bernstein dazu klar, „ein großer, ein schwerer Teil davon wird gedeckt durch die Wilsonschen 14 Punkte“, um seine 80–90 % Einschätzung des Unabwendbaren zu erläutern (S. 277).

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der Schuld trägt, und einen nicht kleinen Teil“ (S. 266), plädierte aber gegen Bernstein für eine Vertagung des Streits um Vergangenes; denn „wir können gegeneinander noch nicht gerecht sein, weil wir den Tatsachen noch zu leidenschaftlich gegenüberstehen“ (S. 274). In seinem Bericht über die bisherige Arbeit der SPD-Fraktion in der Nationalversammlung erwähnte Löbe, dass von 165 Mandataren nur 57 schon der alten Reichstagsfraktion angehörten und davon nun etliche auch Regierungsaufgaben wahrzunehmen hatten (S. 346). Außerdem verwies er auf die Tatsache, dass „wir als Koalitionspartei gar nicht in der Lage sind, jeden Punkt unseres Programms durchzuführen“ (S. 351). Hingegen erwartete der noch amtierende Wirtschaftsminister Rudolf Wissell die „Selbstkritik“, dass „wir kein richtiges Programm hatten“ und „es uns an dem Geist und an den Ideen gefehlt hat, mit denen wir Herz und Seele des Volkes wecken konnten“ (S. 364). Wenn die Massen nun primär Materielles verlangten, sei dies mit auf eigene Versäumnisse zurückzuführen: „Wir haben in unserer ganzen Agitation ausschließlich die ökonomischen Triebkräfte des Sozialismus betont, nicht aber die Ethik“ (S. 364 f.). Indem er zunächst eine „Vermögensabgabe“ empfahl, machte er gegen Sozialisierungen mit kreditfinanzierter Entschädigung den Einwand geltend: „wer heute eine Schuld aufnimmt, der muß mehr zurückzahlen, wenn unsere Valuta wieder besser geworden ist“ (S. 367 f.). In Wirklichkeit hätte aber – statt geschickte Spekulanten wie Stinnes zu Inflationsgewinnern werden zu lassen – Großbesitz in der Revolution mit zuletzt vollkommen entwerteter Inflationswährung abgelöst werden können. Die von Wissell befürwortete „Planwirtschaft“ sollte nicht als Kommandosystem missverstanden werden: „Wir wollen diese bureaukratische polizeistaatliche Betätigung der Kriegswirtschaft nicht mitmachen, wir wollen an die Stelle dieser Methoden das Prinzip der Selbstverwaltung stellen. Das wirtschaftliche Leben ist eben zu diffizil, um durch Gesetze und Verordnungen im einzelnen geregelt werden zu können“ (S. 369). Einen neuen Akzent brachte der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer in die Parteitagsberatungen ein, indem er den Räteartikel der Weimarer Verfassung systematisch zuordnete: „Das Parlament ist und bleibt das Organ der politischen Demokratie, in der die höchste Herrschaft und die letzte Entscheidung im Staate getroffen wird. Die Räte sind die Organe der wirtschaftlichen Demokratie“ (S. 408). Die Ergänzung des Parlamentarismus um Räteorgane verstand er keineswegs im Sinne von Ablösung des Repräsentationsprinzips: „Das Führerproblem wird von neuem auch in der politischen Demokratie gestellt werden müssen. Das Wesen der Demokratie besteht darin, die besten Menschen, die das Vertrauen der Mehrheit haben, auf die Posten zu bringen, für die sie geeignet sind und ihnen dann Muße und Kraft zu lassen, selbständig und schöpferisch zu handeln.“ Gerade in Preußen seien aber kommunale

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Räte nicht als Kontrollorgan geduldet worden, und das erschien Sinzheimer „aus altem bureaukratischen Geist“ motiviert (S. 452 f.). Auch der Ko-Referent Max Cohen leugnete trotz des hervorgehobenen Primats des Parlamentarismus nicht den aktivierenden Impuls: „Wer früher so wie Sinzheimer gesprochen hat, wurde bei uns als halber Spartakist verschrien“ (S. 421). Das zielte polemisch auf die zunehmend rätefeindliche Haltung führender Gewerkschafter wie Gustav Bauer, der sich dann auch u.a. irritiert zeigte, wie zuvor wenig kämpferische Angestellte nun über Mitbestimmungsrechte plötzlich gar Betriebe (mit)leiten zu können meinten; hingegen sehe der sonst radikalere österreichische Parteitheoretiker Otto Bauer dort Betriebsräte nicht als in die Unternehmensführung irgendwie eingreifend vor (S. 445 f.). Die von Sinzheimer eingebrachten Leitsätze wurden aber – sicher auch wegen ihrer Verbindung mit einem kurz vor Verabschiedung stehenden Verfassungsartikel – problemlos angenommen (S. 454). Nach Annahme der Weimarer Verfassung mit breiter Mehrheit von SPD, DDP und Zentrumspartei im Sommer 1919 bestand eine verfestigte Grundlage für parlamentarisch-demokratisches Wirken. Die raschen Wechsel des Regierungschefs von (die Sonderform des revolutionären Übergangs mitzählend) Ebert über Scheidemann zu Gustav Bauer und im Frühjahr 1920 Hermann Müller haben gewiss nicht zur Etablierung der SPD als Weimarer Staatsgründungspartei beigetragen. Was die Kontinuität in der Ministerpräsidentschaft bewirken konnte, wurde freilich auch im republikanischen Preußen erst in der – nur für wenige Wochen unterbrochenen, mehr als ein Jahrzehnt umfassenden – Ära Otto Brauns seit November 1921 ersichtlich.58 Braun war erstmals Ende März 1920 für knapp ein Jahr ins Amt gelangt, als das bisherige Kabinett für mangelnde Prävention gegenüber dem Kapp-(Lüttwitz-Ludendorff-) Putsch verantwortlich gemacht wurde. Auf Reichsebene erfolgte aus diesem Anlass zwar auch ein Regierungswechsel (vom Kabinett Bauer zu Müller). Während nach der russischen Revolution 1905 noch das bekannte Wort Carl Legiens kursierte: Generalstreik sei „Generalunsinn“59, trug aber ein diszipliniert befolgter Generalstreik nun wesentlich zur Niederlage der reaktionären Putschisten bei. Daraufhin machte sogar Legiens missverständliches Wort von der „Arbeiterregierung“ die Runde. Nunmehr als republikrettender Streikfüh58 Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977; Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985. Mit einem Weimarer Schwerpunkt nun auch Siegfried Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947. Eine politische Geschichte, Berlin 2011. 59 Zit. nach Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39), München 2010, S. 96 mit Anm. 453.

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rer die Kanzlerschaft zu übernehmen, war Legien zu krank, er starb noch im gleichen Jahr nach drei Jahrzehnten an der Spitze der freigewerkschaftlichen Generalkommission. Nur die inzwischen radikalisierte USPD deutete auch nach der Reichstagswahl vom Juni 1920 die ökonomisch und international prekäre Situation der Weimarer Republik noch als potenziell revolutionär im Sinne der Möglichkeit von proletarischer Diktatur: nicht allein lediglich die „rein sozialistische Regierung in Betracht“ ziehend, sondern für die eigene Partei „die Mehrheit“ und „bestimmenden Einfluß“ fordernd.60 Im Protokoll des Kasseler Parteitags der SPD vom Oktober 1920 fällt auf, dass nun Scheidemann in den Begrüßungsworten als gastgebender Oberbürgermeister wie auch Reichspräsident Ebert in seinem Grußtelegramm und der Parteivorsitzende Wels ausdrücklich vom „demokratischen Sozialismus“ sprachen.61 Der zeitgenössische Kontrasthintergrund dafür war zweifellos der Traditionsbruch des im Oktober 1920 beschlossenen Übertritts einer relativ knappen USPD-Mehrheit zur Moskauer III. Internationale. Damit bestand sicher auch ein Zusammenhang, wenn von Wels betont wurde, „daß der tote Lassalle der Arbeiterschaft heute noch mehr gibt als der lebende Lenin jemals zu geben imstande ist“ (S. 28). Zugleich war zu diesem Zeitpunkt unter dem Eindruck eines rechtsgerichteten Wahlkampfs der DVP zu den Reichstagswahlen im Juni 1920 auch die Abgrenzung zur anderen Seite deutlich: „Wir können uns mit Monarchisten nicht zusammensetzen, erst recht aber nicht mit Antisozialisten vom Schlage der Deutschen Volkspartei“ (S. 36). Ein Mitgliederstand von 1,18 Mio. per 31.3.1920 (S. 44) war dem eigenständigen politischen Selbstbewusstsein gewiss förderlich. Als Berichterstatter zur geplanten Programmrevision erwähnte Adolf Braun, dass Bernstein nicht in eine Siebener-Kommission berufen war, um der Unterstellung eines revisionistischen Programms entgegenzuwirken (S. 195). Bernstein meldete sich aber mit dem traditionsbewahrenden Vorschlag zu Wort, „wie wir seinerzeit dem Erfurter Programm solche Darlegungen vorausschickten, auch jetzt eine Zusammensetzung unserer Erkenntnisse der gesellschaftlichen Entwicklung, die kurz und volkstümlich sein kann, dem Programm voranstellen“ zu wollen und ohne Dogmatismus am Theorieerbe festzuhalten: „Die Grundlage der sozialistischen Erkenntnis bleibt trotz alledem doch in ihren großen Zügen diejenige Geschichtsauffassung, die uns Marx und Engels gelehrt haben“ (S. 217). 60 So im Antwortschreiben der USPD, abgedruckt im Vorwärts Nr. 296 v. 12. Juni 1920, zit. nach Alfred Kastning, Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919–1923, Paderborn 1970, S. 54. 61 Protokoll Parteitag SPD 1920, S. 5, 22 u. 31 (so auch das Grußwort des Schweden Engberg, S. 19). Auch weitere Seitenzahlen dieses Absatzes nach jenem Protokoll.

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Auf dem Görlitzer Parteitag im September 1921 wurden beim SPD-Mitvorsitzenden Hermann Müller die inneren Spannungsfelder ersichtlich. Zwar bekannte auch er sich zu dem Leitmotiv: „Unser Programm muß unsere sozialistische Weltanschauung rein erhalten“; doch zuvor hatte er bekräftigt, nur „auf dem Wege der Demokratie zum Sozialismus zu kommen“ und demokratische Prinzipien auch im Sinne des parlamentarischen Kompromisses zu verstehen: „Wie die deutschen Verhältnisse nun einmal liegen, werden wir in den nächsten Jahren nur auf den Wegen der Koalitionspolitik arbeiten können. Und in der Koalitionspolitik drückt sich nun einmal die Weltanschauungspolitik nur in Prozenten aus.“62 Der berichterstattende (ehemals wichtige Ebert-Mitarbeiter) Franz Krüger rechtfertigte die Koalitionspolitik mit Richtungsverlagerungen bei den anderen Weimarer Verfassungsparteien, indem „Demokraten und Zentrum sich nach der Revolution sehr stark nach links auch in der Zusammensetzung ihrer parlamentarischen Fraktionen entwickelt haben“.63 Wenn nun die ohnehin an Stimmen einbüßende DDP überwiegend wieder als die „alte verknöcherte Fortschrittspartei“ mit wirtschaftsliberalen Akzenten erscheine, könne man vielleicht sogar mit Stresemann von der DVP eher über manche Sozialisierungsschritte und Besitzsteuern reden. Dabei leitete Krüger die Vorstellung, „daß wir für eine arbeitsfähige und starke Regierung nicht nur eine Mehrheit im Parlament brauchen, sondern daß die Regierung sich auf alle produktiv wirkenden Kräfte im Volk stützen muß“, soweit diese sich auf dem Boden der „heutigen Staatsordnung“ bewegten (S. 148). Dieser Gedanke leitete auch Bernstein, wenn er die DVP geradezu wegen ihrer Funktion als Kapitalpartei einzubinden befürwortete: „Wir müssen versuchen, diese Partei an den Wagen der Republik zu spannen“ (S. 182). Scheidemann verwies auf das Nein von USPD und DVP zur Weimarer Verfassung als jeweils keinen Hinderungsgrund, nun doch eine breite Kooperation zu versuchen, zumal auch das Zentrum kaum ein programmatisch benachbarter Partner sei: „Bei einer jeden Koalitionsregierung ist zu beachten, daß es sich dabei nicht um eine Gesinnungsgemeinschaft, sondern um eine Arbeitsgemeinschaft handelt“ (S. 175 f.). Otto Braun fasste die sich vollziehende „Umstellung unserer Partei aus einer agitierenden in eine regierende Partei“ in den Leitsatz zusammen: „Wir müssen den Willen zur Macht haben“ (S. 192 f.). Bei so viel prominenter Fürsprache war die Annahme eines Vorstandsantrags zu „Richtlinien 62 Protokoll Parteitag SPD 1921, S. 112 (Seitenzahlen dieses und den nächsten Absatzes aus jenem Protokoll). 63 Wels gab als personenbezogene Komponente der gewachsenen Koalitionsbereitschaft zu verstehen, „daß der Reichskanzler Wirth für die sozialdemokratische Arbeiterschaft und über unsere Kreise hinaus bis zu den links von uns stehenden Parteien der einzige volkstümliche bürgerliche Politiker ist, den es in Deutschland gibt“ (S. 326).

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der Regierungspolitik“, dass unter definierten Bedingungen die eigenen Ziele „am wirksamsten durch Teilnahme an der Regierung“ zu verwirklichen seien (S. 389), mit klarer Dreiviertelmehrheit von 290 zu 67 Stimmen nicht überraschend (S. 207). Der von Löbe erstattete „Bericht der Programmkommission“ erwähnte dortige Annahme gegen nur 2 Stimmen (S. 296) und trotz berücksichtigter Änderungen der Zeitverhältnisse die ungebrochene Traditionslinie: „Der vorliegende Entwurf wahrt in seinem Inhalt, in seinem Aufbau, in seiner Gliederung und dem einheitlichen Fluß der Sprache, den geschichtlichen Zusammenhang mit dem Erfurter Programm. Wir haben bedauert, daß es nicht möglich war, dabei auch den Schöpfer des Erfurter Programms, Genossen Karl Kautsky, an den Beratungen zu beteiligen“ (S. 297). Der im Unterschied zu Kautsky bereits von der USPD zur SPD zurückgekehrte (u.a. 1919/20 ein führender „Weltbühne“-)Publizist Heinrich Ströbel, der bei der Vorstandswahl mit immerhin einem guten Drittel der Stimmen unterlag (S. 311), glaubte mit einer „Religion der Sozialisierung“ so „auch Arbeiterkreise des Zentrums und des Freisinns zu uns herüberziehen“ zu können: „Der Arbeiter hungert nach einem Weltanschauungsinhalt, nach großen Zielweisungen“ (S. 303). Hingegen sollte die Partei nach den Worten des Mehrheitsvertreters und „Vorwärts“-Chefredakteurs Friedrich Stampfer „nicht in die Gefahr kommen dürfen, uns in einen neuen Utopismus zu verlieren“; doch auch er blieb überzeugt: „Wir gehen den Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus“. Sogar der Erzrevisionist David bediente sich einer traditionskonformen Begriffsumdeutung, indem er den Utopieverzicht pseudomarxistisch formulierte: „Die Sozialdemokratie nennt sich mit Stolz die Partei des wissenschaftlichen Sozialismus“ (S. 318). Wohl auch wegen des ersichtlichen Bemühens um innerparteiliche Kontinuität wurde das Görlitzer Programm letztlich „mit allen gegen fünf Stimmen angenommen“ (S. 322). Jenseits der Grundsatzdebatten war es natürlich auch bedeutsam, was die SPD als kommunalen und regionalen Unterbau des Reichs- und weiterhin preußisch dominierten Länderparlamentarismus aufzubieten hatte. Da auch Kommunalvertretungen nunmehr nach Proportionalwahlrecht besetzt wurden, konnte es ohne bereits detaillierte Lokalstudien auffällige Konzentrationen wesentlich nur in Gemeindevorständen geben – und da fielen 1920/21 neben weiterhin an führender Stelle Baden, im historisch-politischen Erbe früherer Mitwirkungschancen, neue Hochburgen in den Parteibezirken Magdeburg und Breslau auf (S. 36). Die Serie der Vereinigungsparteitage im September 1922 eröffnete die SPD in Augsburg mit einem Hinweis von Hermann Müller, dass alle bürgerlichen Parteien gerade für eine Vervierfachung der Getreidepreise – auch zugunsten der Agrarier – verantwortlich geworden seien; dadurch spitzten

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sich Klassengegensätze zu, ohne die Möglichkeit der Regierungsbildung zu verbauen: „Mit diesem Klassenkampf ist Koalitionspolitik ebenso verträglich wie die Arbeitsgemeinschaften der Gewerkschaften“.64 Als politisches Hauptmotiv des Zusammenschlusses von SPD und USPD betonte er die Frontstellung zu den Republikfeinden: „Der Kampf zum Schutze der Republik hat die beiden sozialistischen Parteien zusammengeführt“ (S. 5). Als Berichterstatter der Reichstagsfraktion wies Hans Vogel hinsichtlich der Morde an Erzberger und Rathenau den Deutschnationalen „die moralische Verantwortung dafür“ zu (S. 36). In entgegengesetzter Richtung rückte Wels die KPD in suggestive Nähe des Anarchismus: „Mit derselben Leidenschaft, wie einst Bakunin gegen Marx, kämpft heute der sogenannte Kommunismus gegen die Politik des demokratischen Sozialismus“ (S. 53). Auch deren „Internationale“ sei zur „Propagandaabteilung des russischen Reiches“ herabgesunken: „Die nationalen Bedürfnisse Rußlands haben den internationalen Komplex des Bolschewismus beiseite gedrängt“ (S. 59). Für die in Gera tagende USPD hob Arthur Crispien gleichfalls Bedrohungsfaktoren als Einigungsbeschleuniger mit der Zwischenstation einer „Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktionen“ (S. 133) hervor: Es bestehe die Gefahr „einer reaktionären Regierung, etwa wie in Horthy-Ungarn“ (S. 132), wobei sich auch schon der Weg in den italienischen Faschismus als Folge sozialistischer Desorientierung abzeichne (S. 138); überdies „mußte auch unsere Partei wiederholt die Regierung Wirth gegenüber der Reaktion stützen“ (S. 137). Unter dem an die Seite der SPD treibenden Druck von linksaußen griff Crispien zum Vergleich mit dem Aberglauben bei Naturvölkern: „Es gibt Arbeiter, die ihre Führer ebenfalls als Fetisch betrachten und die auf ihre Führer losprügeln, wenn sie nicht übermenschliche Werke zur Beseitigung aller Elendserscheinungen zu vollbringen vermögen“ (S. 144). Dem widersprach der einigungsgegnerische Ledebour mit dem Bekenntnis, ein politischer „Führer“ müsse bei unbedacht vertrauensseliger Massenstimmung „auch den Mut zur Unpopularität haben“ (S. 168). Dessen ungeachtet wurde die Einigungsresolution Crispiens gegen lediglich neun Stimmen angenommen (S. 173). Die Verschmelzung zur „Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (S. 183) auf dem gemeinsamen Parteitag in Nürnberg war dann nur mehr Formsache: Die Annahme von Aktionsprogramm und Organisationsregeln erfolgte so einmütig debattenfrei wie der zuvor von beiden Parteitagen vorbereiteten Personalvorschläge (S. 190–92). Nur in der sonst 64 Protokoll der Sozialdemokratischen Parteitage in Augsburg, Gera und Nürnberg 1922, Berlin 1923, S. 4 (Seitenzahlen dieses und des nächsten Absatzes aus jenem Protokollband).

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– außerhalb spezieller Debatten und eigener Frauenkonferenzen – noch nicht allzu häufigen Erwähnung der immerhin knapp ein Fünftel ausmachenden weiblichen Mitglieder setzte Marie Juchacz als Vorstandsmitglied ihren besonderen Akzent, wenn sie die gemeinsame Parteistrategie umschrieb: „Wir werden den Klassenkampf führen in jeglicher Form, im Parlament bei der Gesetzgebung, in den verwaltenden Körperschaften und in den Gemeinden, überall, wo Männer und Frauen kameradschaftlich zusammenstehen, um für das Wohl der Allgemeinheit zu arbeiten“ (S. 189).

5. Fazit und Ausblick Das erst 1972 minimal übertroffene Rekordergebnis von 37,9 % SPD plus 7,6 % USPD im Januar 1919 war sicher auch in der Ausnahmesituation des Revolutionswinters 1918/19 und der vorausgegangenen Kriegsniederlage des Obrigkeitsstaates begründet. Abweichend von dem, was in vielen Geschichtsbüchern steht, ging dieser republiktragende Impuls aber nicht schon in den Reichstagswahlen 1920 unwiederbringlich verloren. Nach dem Vereinigungsparteitag im Herbst 1922 konzentrierte die SPD wieder 36 % der Reichstagsmandate, kaum weniger als ihre Fraktion (ohne USPD) 1919 in die Verfassungsberatungen einbrachte. Daneben hatten die wenigen KPD-Abgeordneten kein Eigengewicht, und das war – entgegen deren antiparlamentarischer Denkschablone – in der Wählerschaft noch nicht viel anders: Die ganz überwiegend das USPD-Potenzial enthaltenden Länder Preußen und Sachsen hatten zwischen Ende 1920 und Herbst 1922 Volksvertretungen gewählt, in denen 5–10 % Kommunisten deutlich weniger als die nationalistische Rechte an den Grundfesten der Weimarer Demokratie zu rütteln vermochten. Zwar ging dieser beginnende Rechtsruck auf Kosten der linksliberalen DDP. Doch auch bei der milieustabileren Zentrumspartei waren in den frühen Republikjahren progressive Bündnispartner zu finden: Einen Spitzensteuersatz von 60 % hatte als Finanzminister im Kabinett Bauer der badische Zentrumspolitiker Erzberger eingeführt65; er wurde 1921 aber wohl eher wegen seiner Unterzeichnung des Waffenstillstands im November 1918 ein Mordopfer des Rechtsradikalismus. Als ihm ein Jahr später Außenminister Rathenau ins Grab folgte, rief der badische Zentrumspolitiker Wirth als Kanzler im Reichstagsplenum die viel 65 Dieser wurde von Gustav Hoch bereits in der Fraktionssitzung am 2.10.1918 anstelle des Nichtpolitikers Prinz Max von Baden als Reichskanzler vorgeschlagen (RT-Fraktion II, S. 466), was ein konkreterer Zwischenschritt zum parlamentarischen Regierungssystem gewesen wäre.

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zitierten Worte gegen die reaktionären Mörder und ihre publizistischen Unterstützer aus: „dieser Feind steht rechts!“66 Das hatten Sozialdemokraten in den Jahren zuvor auch so formuliert, so z.B. der für Massenstimmungen häufig instinktsichere Scheidemann bereits im Herbst 1919.67 Doch erst als Kanzlerwort aus dem republiktragenden Teil des bürgerlichen Lagers erregte diese Kampfansage mehr öffentliche Wirkung. Sogar ein nunmehr dezidiert vernunftrepublikanischer ehemaliger Freikonservativer wie der Historiker Hans Delbrück legte vermittelt über diesen Kanzler Wirth dem Reichspräsidenten Ebert nahe, sich nach Ablauf des Gründungsprovisoriums der verfassungsmäßig geforderten Volkswahl zu stellen. Er verband dies mit der Einschätzung, dass gerade im Zeichen der Empörung über den Rathenaumord die Wiederwahl Eberts gesichert erschien.68 In diesen Herbstwochen 1922 wurden aber die historischen Weichen völlig anders gestellt. Statt das Volkswahlmandat auf verfassungsgemäße sieben Jahre abzurufen, ließ sich Ebert mit verfassungsdurchbrechender Zweidrittelmehrheit vom Reichstag die Amtszeit um drei Jahre verlängern. Der Preis in Richtung der für diese Zweidrittelmehrheit benötigten rechtsliberalen DVP war hoch: Auf Wirth folgte das nur mehr halbparlamentarische Cuno-Kabinett. Die grassierende Begründung, die Volksstimmung in schwierigen, angesichts weitgehender Vollbeschäftigung aber kaum generell prekären Zeiten nicht durch einen Wahlkampf zu beunruhigen, klang merkwürdig kaiserzeitlich. Nicht ein die bestehende Republik ohnehin skeptisch begleitender „Weltbühne“-Autor, sondern der linksliberale Verfassungsvater Hugo Preuß kritisierte den Richtungswechsel daher öffentlich in scharfer Form: Ohne die Personen gleichzusetzen, erinnerte ihn die „ganze politisch unfaßbare Art, in der ein Ministerium untergraben und gestürzt, ein neues aus dem politischen Nirwana geschaffen wurde“, in solchem Übergang von Wirth zu Cuno an die Ersetzung Bethmann Hollwegs durch Michaelis im Jahre 1917: „Weit näher als dem parlamentarischen System steht die jetzige Übung der Art, wie unter Wilhelm II. Kanzler und Minister kamen und gingen.“69 Die „Bildung der Regierung Cuno“ machte für Preuß den „Anfang dieses abschüssigen Weges“, auf dem seither „innerhalb der Reichsregierung 66 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 356, 25.6.1922, S. 8058. 67 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 330, 7.10.1919, S. 2888D, und Vorwärts Nr. 586 v. 15.11.1918: Philipp Scheidemann, Der Feind steht rechts! 68 Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 538. 69 Hugo Preuß, Zur „Agonie des deutschen Parlamentarismus“ (1923), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 252–255, hier S. 252 f.

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Anschauungen und Persönlichkeiten immer einflußreicher geworden“ sind, „die auch unter Wilhelm II. ganz ministrabel ... gewesen wären“.70 Abschließend ist daher zu fragen, warum die vereinigte SPD aus der im Sommer und Frühherbst 1922 zurückgewonnenen parlamentarischen Stärke nicht mehr Nutzen für die Partei, ihre Wählerschaft und die Republik gezogen hat. Am Ende des Betrachtungszeitraums, von 1920 bis 1922, hatten die Freien Gewerkschaften bemerkenswerte acht Millionen Mitglieder. Insgesamt zwei Millionen Mitglieder waren auf einem Höhepunkt 1920 in SPD und USPD organisiert. Es folgte aber wiederum anstelle der Chance zu schrittweiser Neuorientierung ein Jahr des forcierten Problemdrucks und Entscheidungszwangs. So wie 1914/15 Integrationsfiguren wie Bebel und Singer fehlten, waren deren Nachfolger Ebert und Haase 1922/23 nicht mehr verfügbar – der eine in die Staatsspitze überparteilich entrückt, der andere gar 1919 ermordet. Politisch in maßgebenden Positionen überlebt hatte kein einziger der exponierten rechten Flügelmänner der Fraktion, weder David oder Heine, noch Noske oder Südekum. Ihre mit dem konfliktscheuen Burgfrieden verbundene Zeit war abgelaufen, schon bevor die Wiedervereinigung mit der USPD stattfand, die aber wichtige Köpfe einbrachte: den federführend das Heidelberger Programm von 1925 konzipierenden späteren Finanzminister Hilferding, den Außenpolitiker und künftigen Fraktionsvorsitzenden Breitscheid und den neben Legien 1920 den Generalstreikaufruf unterzeichnenden Angestelltengewerkschafter Aufhäuser. Doch offenbar blieb neben den bürgerlichen Mittelparteien auch Ebert, als Reichspräsident zu seinen Parteigenossen und insbesondere den von ihm wenig geschätzten ehemaligen USPDlern zunehmend auf Abstand, in seiner Befürwortung einer Großen Koalition bis hin zur DVP insoweit einem Burgfriedensdenken verhaftet. Wer die 36 % Reichstagsmandate der vereinigten SPD möglichst in eine übergroße Koalition mit fast ebenso vielen Abgeordneten von DDP, Zentrum/BVP und DVP zusammenführen wollte, missachtete geradewegs die innere Logik des Parlamentarismus: dass Opposition jeweils auch regierungsfähig werden musste und man diese nicht folgenlos den antirepublikanischen Flügelparteien überlassen durfte.71 Zum erkenntnisfördernden Vergleich bietet sich wegen der Ähnlichkeit der Sozialdemokratie allenfalls Österreich an, zumal es verbündeter Kriegsverlie70 Ders., Um die Reichsverfassung von Weimar, in: Ebd., S. 367–438, hier S. 396 u. 420. 71 Dazu Andreas Wirsching, Koalition, Opposition, Interessenpolitik. Probleme des Weimarer Parteienparlamentarismus, in: Marie-Luise Recker (Hg.), Parlamentarismus in Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, München 2004, S. 41–64, bes. 51–53.

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rer war, allerdings eigenstaatlich aus den Zerfall des Habsburgerreichs hervorging. Dort hatte der Parteigründer Victor Adler gerade noch bis zum Übergang in die Republik gelebt und so den fortbestehenden Zusammenhalt einer Sozialdemokratie gefördert, die jahrelang eigene Wege zwischen SPD- und USPD-Positionen ging. Nach Zustandebringen der mustergültig parlamentarischen Kelsen-Renner-Verfassung 1920 war die Sozialdemokratie österreichweit in die Opposition gegangen, regierte aber Wien ebenso kontinuierlich mit bis 60 % wachsender absoluter Mehrheit.72 Das fast preußenanaloge Übergewicht Niederösterreichs wurde durch Trennung in das „rote Wien“ und ein „schwarzes“ ländlich-kleinstädtisches Niederösterreich zugunsten bundesstaatlicher Balance aufgelöst. Bis über 400.000 SDAP-Mitglieder in einer Hauptstadt von 1,8 Millionen Einwohnern übertrafen die Zahlen von Berlin – und dem Rest der Welt – absolut wie noch mehr relativ bei weitem. Auch konservative Christlichsoziale bewiesen in Österreich zunächst politisches Augenmaß und stoppten unter Hinnahme des Siegerdiktats 1922 die nie in Millionen- oder gar Billionenziffern enteilende Inflation. Die SDAP profitierte davon sogar doppelt, indem gesamtstaatlich alle Sparmaßnahmen den regierenden Konservativen zur Last fielen, in Wien aber mit konsolidierter Währung und stets ausgeglichenem Haushalt ein sozialakzentuiertes Aufbauprogramm vor allem mit kommunalen Wohnungen schon 1923 eingeleitet werden konnte. Offenbar beruhten Unterschiede zu Deutschland wesentlich auf dem tiefer greifenden Kontinuitätsbruch zur Habsburgerzeit. Insofern sollte die Erörterung des Neuordnungspotenzials zu Beginn der Weimarer Republik mit der Frage beginnen: Was hätten auch deutsche Sozialdemokraten weitreichender unternehmen können, um den Neuanfang gegenüber dem Kaiserreich schärfer zu markieren und gleichzeitig die Republik politisch wie ökonomisch beschleunigter zu konsolidieren?

72 Detlef Lehnert, Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919–1932, Berlin 1991.

RAINER BEHRING

Weltfriedensordnung durch Parlamentarisierung SPD und Parlamentarismus in den internationalen Beziehungen 1923–1932

„Demokratische Außenpolitik“ lautete der Titel eines kleinen programmatischen Aufsatzes, den der SPD-Vorsitzende Hermann Müller zum ersten Heft von Rudolf Hilferdings neuer Monatszeitschrift für Sozialismus und Politik „Die Gesellschaft“ beisteuerte, das im Frühjahr 1924 erschien.1 Vor dem Hintergrund einer Neubildung der britischen Regierung unter Ramsay Macdonald, dem ersten Premierminister aus den Reihen der Labour Party, auf den „alle Anhänger der deutschen Demokratie große Hoffnungen setzen“ und dem es gelingen könne, „die Basis einer Verständigung für das französische, deutsche und englische Volk zugleich zu finden“, skizzierte Müller darin seine Vision einer zunehmenden Demokratisierung der internationalen Politik. „Bis zum Vertrag von Versailles wurde die Außenpolitik in allen europäischen Ländern unkontrolliert von wenigen Männern geleitet.“ Selbst in den Vereinigten Staaten habe US-Präsident Woodrow Wilson in außenpolitischen Fragen weitgehend autonom agiert. Die bislang die internationalen Beziehungen prägenden Methoden der Kabinettspolitik und der Geheimdiplomatie hätten folgerichtig in den Weltkrieg und anschließend zu den „Unfrieden atmenden“ Pariser Friedensverträgen geführt, denen „der Militarismus und der Kapitalismus der Entente ... ihren häßlichen Stempel aufgedrückt“ hätten. Auch der Völkerbund in der Form, in der er 1919 gegründet worden war, bilde den Bestandteil „eines in der Weltgeschichte noch nicht dagewesenen Gewaltfriedens“ und stelle „eine unheilige Allianz der siegreichen alliierten Regierungen zur dauernden Niederhaltung der besiegten Nationen“ dar. Dagegen hätten „die Vertreter der demokratisch-sozialistischen Internationale“ bereits auf ihrer ersten Nachkriegskonferenz in Bern im Februar 1919 einen Völkerbund gefordert, „der kein seine Satzungen anerkennendes Volk ausschließt und in dessen Rat Delegierte der Parlamente nach der Stärke der Parteien zu entsenden sind“: „Erst wenn der Völkerbund aufhören wird, eine Vertretung der Regierungen zu sein, und wenn die Völker entsprechend der 1 Hermann Müller, Demokratische Außenpolitik, in: Die Gesellschaft 1/I (1924), S. 42– 46. Daraus die folgenden Zitate.

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Stärke der politischen Parteien in den einzelnen Ländern in einem Völkerbundsparlament selbst zu Worte kommen werden, wird die Voraussetzung für eine erfolgreiche demokratische Außenpolitik gegeben sein.“ Denn dann würde „im Rahmen des Völkerbundes die Plattform gegeben sein, auf der die Pazifisten, Demokraten und Sozialisten aller Länder gemeinsam arbeiten können, um für alle Zukunft der unter den Kriegsfolgen wahrlich schwer leidenden Menschheit den Dauerfrieden zu sichern“. Die Reaktionäre und Militaristen aller Länder hingegen „würden sich in einer Delegiertenversammlung des Völkerbundes untereinander neutralisieren“. Mithin hänge „die Durchsetzung einer demokratischen Außenpolitik ... nach dem Völkerkrieg und der ihm folgenden Ära des Unfriedens“ vom Ausbau des bestehenden Völkerbundes ab. Ungeachtet „der schärfsten Kritik an dem in jeder Beziehung unzulänglichen Genfer Völkerbund von heute“ müsse „die Sozialdemokratie deshalb grundsätzlich für Völkerbundspolitik sein“. Müller hatte hier – und das bildete einen konstitutiven Bestandteil seiner Überlegungen zum Völkerbund – nicht zuletzt die deutschen nationalen Interessen im Auge: Er versprach sich vom Völkerbund „die Wiedergutmachung des Unrechts ..., das 1919 verübt wurde“, in territorialen Fragen, insbesondere hinsichtlich eines Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich und mittelfristig möglicherweise auch in Bezug auf die deutsch-polnische Grenze, auf friedlichem Wege. Jedenfalls werde „der Aufstieg eines neuen Deutschland ... nur auf dem Boden der Demokratie in einem wirklichen Völkerbund möglich sein“. Eine „wahrhafte Völkerbundspolitik“, die zu inaugurieren Aufgabe der englischen Arbeiterregierung sein werde, müsse im Verbund mit ihrer Parlamentarisierung auch zur Überwindung der Geheimdiplomatie führen. Jeder internationale Vertrag müsse nicht bloß am Sitz des Völkerbundes registriert, sondern darüber hinaus durch das Büro des Völkerbundes veröffentlicht werden. „Dann wird die demokratische Öffentlichkeit die Völkerbeziehungen in ihrer gesamten Entwicklung ständig kontrollieren können.“ Damit würde, so Müllers Hoffnung, „auch der demokratische Sozialismus in allen Ländern den Antrieb zur stärksten Werbekraft erhalten“, und es müsse „gelingen, nicht zuletzt mit Hilfe der Frauen, in allen Ländern den Nationalismus dauernd niederzuhalten“. So könne der Weltfrieden erst wirklich gesichert werden. „Bis dahin müssen wir, insbesondere wir in Deutschland, arbeiten, daß der Wille der friedlichen Massen der Arbeiter, Angestellten, Beamten und Bauern sich auch in der Außenpolitik durchsetzt.“ Die Völker selbst müssten sich rühren, damit man zu einem Völkerrecht gelange, „das diesen Namen verdient“. Schließlich umfasste Hermann Müllers Vision eines nach parlamentarischen Prinzipien organisierten weltumspannenden Völkerbundes die Notwendigkeit seiner Ausstattung mit einer Autorität zur „Anwendung des gleichen

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Rechts gegen alle, gegen Große wie Kleine“, dabei materiell gestützt „auf Machtmittel, die rücksichtslos angewendet werden müssen gegen jeden Friedensstörer, wobei schon der als Friedensstörer zu betrachten ist, der sich über die Satzungen des Völkerbundes hinwegsetzt“. Dabei brauche „nicht zuerst an Militär und Polizei, an Kriegschiffe und Flugzeuge gedacht“ zu werden: Schon „die Einschaltung ökonomischer Druckmittel wird es einem Völkerbund mit wirklicher moralischer Autorität leicht machen, seinen Willen zugunsten des Rechts durchzusetzen“. Diese Überlegung setzte eine internationale Abrüstung voraus, „deren Ziel sein muß, die Wehrmacht eines jeden Landes auf das Maß herabzusetzen, das die innere Sicherheit der Staaten erfordert“. Müllers Überlegungen waren insgesamt gewiss nicht frei von utopischen, geradezu endzeitlich anmutenden Zügen, in denen sich traditionelle liberale mit spezifisch sozialistischen Elementen im Ideal einer dauerhaften friedlichen Weltordnung vermengten: „Nur so werden sich die Völker über Flüsse, Meere und Gebirge hinweg zu gemeinsamer friedlicher Arbeit die Hände reichen, um in freiem, internationalem Austausch Handel zu treiben und Verkehr zu pflegen. Nur so wird das Wirtschaftsleben der Welt wieder normale Bahnen finden und die Rohstoffe der Welt werden planmäßig ausgenutzt werden können, die wachsenden Menschenmengen zu nähren, zu kleiden, zu behausen und durch die Segnungen der Menschheitskultur in steigendem Maße zu erfreuen.“ Mit Blick auf „die hingemordeten zwölf Millionen Männer des Weltkrieges“ müsse man jedenfalls daran arbeiten, „daß die Methoden einer friedlichen Demokratie endlich und dauernd in der äußeren Politik Europas triumphieren“.

1. Vom demokratisch-parlamentarischen Nationalstaat zum Weltparlament Tatsächlich lag Müllers Gedanken zu einer Neuorganisation der internationalen Politik und speziell einer Parlamentarisierung des Völkerbunds generell die Vorstellung zugrunde, eine Übertragung von Prinzipien und Funktionsmechanismen der demokratischen Staatswesen mit einer Repräsentativverfassung, die in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten und in einer neuen Welle seit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden waren, aus dem innerstaatlichen auf den zwischenstaatlichen Bereich werde den Weg zu einer friedlichen Neugestaltung Europas und der Welt weisen. Schon als Reichsminister des Auswärtigen, der als erster eigentlicher Außenminister der Weimarer Republik kaum vier Wochen zuvor im Auftrag der Reichsregierung in Versailles den deutschen Friedensvertrag mit den Siegermächten des Weltkriegs unter-

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zeichnet hatte, postulierte Hermann Müller in seiner Regierungserklärung vor der Nationalversammlung am 23. Juli 1919, „unsere äußere und unsere innere Politik müssen einheitlich sein“: „Als das Staatswesen, welches das freieste Wahlrecht der Welt eingeführt hat, als das Staatswesen, das am weitestgehenden die Frauen als voll gleichberechtigte Staatsbürgerinnen am öffentlichen Leben beteiligt, als das Staatswesen, das die Forderungen der internationalen organisierten Arbeiterklassen ... zu seinem Programm erhoben hat, treten wir in eine neue Zeit ein, die, wie unsere bisherigen Feinde versichern, nach diesem Krieg anbrechen soll.“ Der Krieg habe „in dem deutschen Volke die Überzeugung gefestigt ..., daß Streitigkeiten unter den Völkern nicht mehr mit Pulver und Blei ausgefochten werden dürfen“. Folglich forderte Müller im Namen der jungen deutschen Republik eine Neuordnung der internationalen Beziehungen im Zeichen von Frieden, Freiheit und Recht und einen Völkerbund, der sich an völkerrechtlichen Ideen zu orientieren habe, die „verlangen, daß die Völker selbst, und zwar alle Völker, auf die Verfassung des Völkerbundes entscheidenden Einfluß erhalten“.2 Als langjähriger Vorsitzender der SPD und ihrer Reichstagsfraktion während der Weimarer Republik, als Reichsminister des Auswärtigen und zweimaliger Reichskanzler sowie als führendes Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses des Reichstags war Hermann Müller der profilierteste Außenpolitiker der Weimarer Sozialdemokratie; zugleich war er neben und zeitlich vor Gustav Stresemann der bedeutendste parlamentarische Außenpolitiker der ersten deutschen Demokratie überhaupt. Seine einschlägigen Bekundungen waren somit für die Politik des Reichstags und zeitweise der Reichsregierung wegweisend, insbesondere jedoch repräsentativ für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Deshalb ist es kein Zufall, wenn im Görlitzer Programm der Mehrheits-SPD, dessen Entwurf im Laufe des Jahres 1921 diskutiert und das dann im September dieses Jahres verabschiedet wurde, im Abschnitt „Völkerbeziehungen und Internationale“ die Zielsetzung einer Parlamentarisierung des Völkerbundes einen herausgehobenen Rang zugewiesen bekam. Es forderte einen „Völkerbund, der kein die Völkerbundsatzungen anerkennendes Volk ausschließt und in dem die Parlamente aller Länder durch Delegierte nach der Stärke der Parteien vertreten sind.“3 Im Entwurf des Pro2 Hermann Müller, Programmrede vor der Nationalversammlung, 23. Juli 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bd. 328, S. 1852–1859, Zitate S. 1852 f. 3 Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Görlitz 1921, in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 3. Aufl. Bonn 1990, Dok. Nr. XV, S. 203–209, hier S. 209.

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gramms hatte es noch geheißen, „in dessen Rat Delegierte der Parlamente nach der Stärke der Parteien zu entsenden sind“4: Offenbar wurde man sich in der Programmkommission nicht recht klar darüber, ob die Parlamentarisierung der Weltorganisation – wenig praktikabel – in deren Rat oder aber, und das erscheint in sachlicher Hinsicht weitaus plausibler, in der Versammlung des Völkerbundes ansetzen sollte. In seinem Kommentar zu dem außenpolitischen Teil des Programmentwurfs verzichtete Hermann Müller nicht auf seine regelmäßig vorgetragene Kritik am gegenwärtigen Völkerbund, betonte aber, die Sozialisten müßten den an sich guten Gedanken einer solchen Organisation aufnehmen und „dafür wirken, daß er zweckmäßig durchgeführt wird“: „Wenn für alle Zukunft Kriege verhindert werden sollen, dann brauchen wir eine Organisation der Völker, die, auf die Prinzipien der Gerechtigkeit gegründet, sich die höchste moralische Autorität erwirbt und mit einem Mindestmaß von Machtmitteln ihren Willen gegen jeden Versuch des Friedensbruchs durchzusetzen imstande ist.“ Einen solchen Völkerbund mitschaffen zu helfen, müsse „das nächste Ziel der Arbeiterklasse aller Länder sein“. Die Kernforderung einer Parlamentarisierung des Völkerbundrates präzisierte Müller 1921 folgendermaßen: „Das oberste Organ eines wahren Völkerbundes darf nicht aus Delegierten der wechselnden Regierungen der einzelnen angeschlossenen Länder bestehen, sondern sein Rat muß zu einem Weltparlament werden, in das die Delegierten der einzelnen Länder je nach der Stärke der politischen Parteien zu entsenden sind. Nur so wird der Völkerbund den politischen Willen der einzelnen Völker widerspiegeln. Nur so wird der Völkerbund der Welt den dauerhaften Frieden garantieren können. Denn in einem solchen Völkerbund würde die Schichtung der Vertreter nach Nationen bald der Schichtung nach Weltanschauungen Platz machen. Die Militaristen ... wären in einem solchen Weltparlament aber leicht zu isolieren.“ In der Folge würde in einem solchen „wirklichen“ Völkerbund „der so dringliche Ausbau des Völkerrechts sicherlich in dem wünschenswerten Tempo Fortschritte machen“.5

Das Heidelberger Programm der seit 1922 nunmehr um die – besonders unter den Parlamentariern erheblichen – Reste der einstigen USPD erweiterten (Vereinigten) Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus dem Jahr 1925 hat vor allem durch sein Eintreten „für die aus wirtschaftlichen Ursa4 Text des Entwurfs in Hermann Müller, Völkerbeziehungen und Internationale, in: Adolf Braun (Hg.), Programmentwurf der Sozialdemokratischen Partei. Ein Kommentar, Stuttgart 1921, S. 75–83, hier S. 75. 5 Ebd., S. 79.

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chen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa“, Bedeutung bis in die Gegenwart erlangt; ansonsten war dann nur in allgemeineren Worten von der „Demokratisierung des Völkerbundes und seine[r] Ausgestaltung zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik“ die Rede.6 Hermann Müller, dem wiederum die Kommentierung des außenpolitischen Abschnitts im Rahmen der parteioffiziösen Veröffentlichung dieses Programms oblag, ließ aber keinen Zweifel daran, dass damit nach wie vor die parlamentarische Ausgestaltung dieser Institution gemeint war. Müller stand der tatsächlichen Gestalt des Völkerbundes inzwischen aufgeschlossener gegenüber als 1919, 1921 oder noch 1924: Die Vertreter der Siegermächte hätten an Einsicht gewonnen, seien von der Gewaltpolitik der unmittelbaren Nachkriegsjahre abgerückt und hätten den Weg des Diktats allmählich verlassen, ja sie würben nun sogar um den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Allerdings stünden die UdSSR und die Vereinigten Staaten von Amerika weiterhin außerhalb des Bundes.7 „Ein wirklicher Völkerbund soll aber nicht nur alle Völker umspannen, sondern vor allem auch Autorität haben. Ohne Beschränkung der Souveränität der einzelnen Völker geht das nicht.“ Mit der Forderung nach Einschränkung der einzelstaatlichen Souveränität als Voraussetzung einer funktionierenden Rechtswahrung und Friedenssicherung durch eine internationale Organisation hatte Müller sein Konzept um einen wesentlichen Schritt weiterentwickelt, und erneut wird das Muster einer Übertragung des nationalstaatlichen Modells auf die zwischenstaatliche Ebene deutlich: „Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, brachte das auch eine Beschränkung der Souveränität der Bundesstaaten mit sich.“ Die Sicherheit der Welt sei in dieser Hinsicht jedes Opfer wert, „darin sind die Volksmassen in allen Ländern einig“. Diese Volksmassen würden sich gemäß Müllers Konzeption einer Parlamentarisierung des Völkerbundes künftig zu maßgeblich Mit-Handelnden auch in der internationalen Politik erheben. Denn „ein wirklicher Völkerbund darf nicht nur eine Versammlung von Regierungsvertretern der angeschlossenen Länder sein, sondern muß ein Völkerbundsparlament haben, in das die Parlamente der angeschlossenen Staaten nach der Stärke der Parteien Delegierte zu entsenden hätten“. Müller hatte offenbar die wenig praktikable 6 Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Heidelberg 1925, in: Dowe/Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente, Dok. Nr. XVI, S. 211–220, hier S. 220. 7 Hermann Müller, Internationale Politik, in: Das Heidelberger Programm. Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie, Red. Paul Kampffmeyer, Berlin o. J. [1925], S. 65–70, hier S. 68. Dort auch die folgenden Zitate.

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Vorstellung einer Parlamentarisierung des Völkerbundrates überwunden und dachte nun an ein Völkerbundparlament als eigenständiges Organ des Bundes. „In einem solchen Weltparlament würden Sozialisten aller Länder gemeinsam ihren Einfluß für die Erhaltung des Weltfriedens, für den Schutz der Minderheiten, für den Ausbau der internationalen Gerichtsbarkeit und des gesamten Völkerrechts ausüben können.“ Dabei werde ihnen „die Mitarbeit aller bürgerlichen Friedensfreunde willkommen“ sein, „denn es würde sich darum handeln, den Einfluß der Nationalisten aller Länder auf die Geschicke der Völker unwirksam zu machen“: Erst wenn auf diese Weise „ein wahrer, auf einer demokratischen Verfassung gegründeter Völkerbund durch sein Wirken sich eine hohe, moralische Autorität erworben haben wird, werden große und kleine Nationen, werden die Minderheiten in jedem Staat sich des Schutzes erfreuen, auf den sie Anspruch haben“. Und „erst wenn der Völkerbund die Macht hat, jegliche gewaltsame Störung zu bannen und so der Rechtsgedanke triumphiert, wird der Wiederaufbau Europas endgültig gesichert sein“.

In Müllers Überlegungen zur Parlamentarisierung des Völkerbundes als Voraussetzung einer dauerhaften Befriedung der Weltpolitik erscheinen drei Aspekte bemerkenswert, die sämtliche einschlägige Beiträge durchziehen, in denen sich Sozialdemokraten während der Weimarer Republik mit Fragen des Parlamentarismus im Bereich der internationalen Beziehungen beschäftigten. Es handelt sich erstens um die Analogien zwischen inner- und zwischenstaatlichen Erscheinungsformen von politischer Organisation. Den Gedanken und Plänen zu einer zukunftweisenden Neuordnung des Weltstaatensystems lag die Vorstellung zugrunde, die weitgehende Verrechtlichung und Einhegung von Gewalt, wie sie in den zivilisierten Demokratien des Westens – zu denen die Führer des staatstragenden Teils der Weimarer Sozialdemokratie das Deutsche Reich unbedingt zugehörig wissen wollten – gelungen war, könne mit entsprechenden Modifikationen auf eine internationale Rechts- und Friedensorganisation übertragen werden. Nicht nur Einrichtungen wie der Völkerbund oder der Haager Gerichtshof, auch die richtungweisenden Erfolge im Zuge der Parlamentarisierung des Deutschen Reiches und der Gründung der Weimarer Republik gaben in dieser Hinsicht Anlass zu Optimismus. Das galt etwa für die weitreichenden Ansätze zu einer parlamentarischen Kontrolle der Außenpolitik, wie sie in der Erklärung von Krieg und Frieden durch den Reichstag, der Notwendigkeit seiner Zustimmung zu Bündnissen und Verträgen mit fremden Staaten8 oder in der durch die Verfassung gesicherten Einrichtung eines Reichstagsausschusses für auswärtige Angelegenheiten realisiert wor8 Siehe dazu Müller, Demokratische Außenpolitik, S. 46.

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den waren. Der Versuch einer Parlamentarisierung der internationalen Angelegenheiten musste vor diesem Hintergrund nur folgerichtig erscheinen. Zweitens waren die Überlegungen zu einer Parlamentarisierung der internationalen Beziehungen von einer gewissen Unsicherheit über die europäische oder globale Dimension eines solchen Projekts gekennzeichnet: Einerseits existierte mit dem Völkerbund eine Institution mit globalem Anspruch, der jedoch auf vielfältige Grenzen allein schon hinsichtlich der Nichtbeteiligung wichtiger Staaten stieß; andererseits war das tatsächliche Interesse der deutschen Sozialdemokraten erkennbar überwiegend auf die Reorganisation und Befriedung Europas konzentriert, was seinen Ausdruck mitunter in der Vorstellung einer europäischen Sektion des Völkerbundes fand. Das tendenzielle Neben-, Mit- und auch Gegeneinander von jeweils stärker europäisch oder global akzentuierten Organisationsmodellen sollte jedenfalls weit über die Zeit der Weimarer Republik hinaus für die sozialdemokratischen Gedanken zu einer Neuordnung der internationalen Beziehungen prägend bleiben. Drittens weisen die einschlägigen Texte eine Kongruenz der Begriffe „Demokratie“ und „Parlamentarismus“ auf, die sie aus der Perspektive ihrer Verfasser schlicht als Synonyme erscheinen lassen. Als die eigentliche Staatspartei der Weimarer Republik stand die SPD zumindest in Gestalt ihrer führenden Vertreter uneingeschränkt „auf der Grundlage des Bekenntnisses zur parlamentarischen Demokratie, das heißt zu einer Staatsform, die in jeder Beziehung durch den Willen der Mehrheit des Volkes bestimmt wird“, wie es schon in einem einschlägigen Dokument von Anfang Februar 1919 hieß.9 Demokratie und parlamentarisches Regierungssystem bedingten einander und waren in diesem Verständnis nicht voneinander zu trennen.10 Folglich müssen auch Beiträge, in denen viel von Demokratie, aber kaum oder gar nicht von Parlamentarismus die Rede ist, in die Diskussion einbezogen werden, sofern ihre Autoren damit implizit immer zunächst die parlamentarische Demokratie meinten, ungeachtet des analytisch schwierigen Problems, dass in diesen Texten mitunter und ohne weitere Differenzierung auch von den Vereinigten Staaten von Amerika die Rede ist. Das gilt in erster Linie für die Reden und Schriften Rudolf Hilferdings.

9 So in einem Schreiben der SPD-Fraktion in der Weimarer Nationalversammlung an die USPD vom 4. Februar 1919, zitiert nach Alfred Kastning, Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919–1923, Paderborn 1970, S. 22. 10 Vgl. in diesem Sinne bereits dezidiert Georg Gradnauer, Für das parlamentarische Regierungssystem, in: Die Neue Zeit v. 11. Januar 1918, S. 337–344, hier S. 338 f.

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2. Theoretischer Hintergrund: Organisierter Kapitalismus und Realistischer Pazifismus Der Reichstagsabgeordnete, zeitweilige Reichsfinanzminister und führende theoretische Kopf der Weimarer SPD Rudolf Hilferding war der wohl fruchtbarste sozialdemokratische Denker der Zwischenkriegszeit auch und gerade in Fragen der internationalen Beziehungen. Er legte in einschlägigen Beiträgen die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zusammenhänge dar, vor deren Hintergrund die sozialdemokratischen Überlegungen zur Parlamentarisierung der globalen Politik überhaupt erst an Plausibilität gewannen.11 In diesen Beiträgen Hilferdings kommen die Begriffe Parlament und Parlamentarismus innerhalb seiner raumgreifenden Erörterungen zur Rolle der Demokratie für die gegenwärtigen Entwicklungen praktisch nicht vor. Der Staat, so definierte er 1927, sei „politisch gesehen“ nichts anderes als die Regierung, die Verwaltungsmaschinerie und die Staatsbürger, die im modernen Staat ihren Willen durch Parteien zur Geltung brächten.12 An anderer Stelle sprach Hilferding im Zusammenhang mit der „politische[n] Form der demokratischen Republik“ einmal beiläufig und indirekt von der „normalen Funktion der parlamentarischen Kräfte“.13 Das alles erweckt den Anschein, als habe Hilferding die Vorstellung einer weitgehenden Identität von Demokratie und Parlamentarismus so vollständig verinnerlicht, dass er letzteren gar nicht mehr erwähnte, ob nun bewusst oder unbewusst. Dennoch besteht kein begründeter Zweifel, dass er stets die parlamentarische Demokratie als Regel- und Normalfall im Sinn hatte, wenn er in seinen Texten von Demokratie sprach. Rudolf Hilferding analysierte Mitte der 1920er Jahre drei miteinander verwobene weltweite Entwicklungsprozesse, die in ihrer Gesamtheit den Weg in Richtung einer globalen Demokratisierung und Pazifizierung zu weisen versprachen. Es handelte sich um den Übergang der Großwirtschaft zum organisierten Kapitalismus, die zunehmende Geneigtheit der Großmächte zu einer friedlichen Regelung internationaler Konflikte und den stetig wachsenden Anteil der Arbeiterbewegung an den Geschicken der nationalen und internationalen Politik. Der Weltkrieg habe in allen drei Bereichen als Katalysator gewirkt. Als „organisierten Kapitalismus“ bezeichnete Hilferding eine 11 Vgl. insbesondere Rudolf Hilferding, Probleme der Zeit, in: Die Gesellschaft 1/I (1924), S. 1–17, und ders., Realistischer Pazifismus, in: Die Gesellschaft 1/II (1924), S. 97–114. 12 Ders., Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, 26. Mai 1927, in: Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll, Berlin 1927, S. 165–184, hier S. 171. 13 Ders., Schlußwort zur Diskussion über das Parteiprogramm, 18. September 1925, in: Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg. Protokoll, Berlin 1925, S. 293–298, hier S. 296 f.

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spezifische Form der Selbstorganisation der führenden privatwirtschaftlichen Kräfte gemäß rationalen Kriterien in einer Phase verstärkter Konzentrationstendenzen des Kapitals, in der sich „die Periode der freien Konkurrenz“ dem Ende zuneige: „Die großen Monopole werden zu den entscheidenden Beherrschern der Wirtschaft, immer enger wird die Verbindung mit den Banken, in denen das gesellschaftliche Kapital konzentriert und der Wirtschaft zur Verfügung gestellt wird. Die früher getrennten Formen des Industrie-, Handels- und Bankkapitals streben in der Form des Finanzkapitals zur Vereinheitlichung. Dies bedeutet den Übergang von dem Kapitalismus der freien Konkurrenz zum organisierten Kapitalismus.“ Die Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses im Großbetrieb sei fortgeschritten zur Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses ganzer Industriezweige und zur Vereinigung der vergesellschafteten Industriezweige untereinander. „Damit wächst zugleich die bewußte Ordnung und Lenkung der Wirtschaft, die die immanente Anarchie des Kapitalismus der freien Konkurrenz auf kapitalistischer Basis zu überwinden strebt.“ Es handele sich um den „Versuch einer Regelung und Organisierung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zugunsten der im Besitz der Produktionsmittel befindlichen Schichten“, die „den maßgeblichen Einfluß auf Leitung der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Produkts“ zu behaupten trachteten.14 Angesichts dieser Erkenntnis einer zunehmend planmäßigen, auch über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus wirksamen bewussten Organisation kapitalistischen Profitstrebens erweckte der Analytiker Hilferding zugleich sein Interesse als Sozialist, denn „organisierter Kapitalismus bedeutet in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion“. Und „diese planmäßige, mit Bewußtsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewußten Einwirkung der Gesellschaft, das heißt nichts anderes als der Einwirkung durch die einzige bewußte und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat“. Der gegenwärtigen Generation sei folglich das Problem gestellt, „mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln“, ein Problem, das „nichts anderes sein kann als der Sozialismus“.15 Sozialismus in einem solchen Verständnis – Hilferding sprach mitunter auch von sozialer Demokratie, Wirtschaftsdemokratie oder demokratischer Kontrolle der Wirtschaft als weitgehenden Synonymen 14 Ders., Probleme der Zeit, S. 1 f. 15 Ders., Die Aufgaben der Sozialdemokratie, Sozialdemokratischer Parteitag 1927, S. 168 f.

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– würde nichts anderes darstellen als eine durch den demokratischen, mithin parlamentarisch regierten Staat geleitete organisierte Wirtschaft, für die der organisierte Kapitalismus bereits die besten Grundlagen bereitet habe. Wenn so in Hilferdings Interpretation der Kapitalismus dem parlamentarisch agierenden und voranschreitenden evolutionären Sozialismus schon im innergesellschaftlichen Bereich den Weg ebnete, im Deutschen Reich wie anderswo, dann förderten auch im Bereich der internationalen Beziehungen die kapitalistischen Interessen zunehmend friedliche Verhaltensweisen. Das Interesse der angelsächsischen Hauptsiegermächte des Ersten Weltkriegs richte sich nicht mehr auf weitere territoriale Expansion, vielmehr sei eine „Umformung kapitalistischen Expansionsstrebens in der Richtung gemeinsamer Sicherung und Ausnutzung des Weltmarktes statt gewaltsamer Eroberung einzelner Teile“ zu beobachten. Dies führe „zu einer Schwächung der kriegerischen Tendenzen“ in der internationalen Politik, und es werde „eine Politik möglich, die man als realistischen Pazifismus bezeichnen könnte“, zumal damit in den USA und in Großbritannien „das Interesse der demokratischen, zu größerem Einfluß innerhalb des Staates gelangenden Massen in Einklang“ stehe. Hilferding arbeitete seit 1924 an einer weitreichenden Überwindung althergebrachter sozialistischer Auffassungen vom Wesen internationaler Politik und den Ursachen kriegerischer Konflikte: „Bedeutet wirklich Kapitalismus Krieg, so daß nur mit seiner völligen Überwindung der Friede gesichert wäre, oder lassen sich nicht durch eine konsequente Politik, die die einzelstaatliche Souveränität zugunsten einer überstaatlichen Organisation einschränkt, neue Formen politischer Weltordnung schaffen? Ist nicht auch hier evolutionärer Entwicklung viel weiterer Spielraum gegeben, als bisher angenommen ward?“ Internationalität als politisch-praktische Aufgabe stehe dann in Frage.16 Rudolf Hilferding war in seinen bahnbrechenden theoretischen Beiträgen Mitte der 1920er Jahre jedenfalls weit von einer Verdammung kapitalistischer Staaten und ihrer führenden Schichten als territoriale Imperialisten oder gar Kriegstreiber entfernt. Die gedeihliche Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten und Großbritanniens im Gefolge des Weltkriegs und der auf ihn folgenden Friedensregelungen – Hilferding sprach von der „Herstellung und Festigung der Hegemonie der angelsächsischen Welt“ als einem Hauptergebnis des Krieges – beweise, „wie falsch die Behauptung wäre, daß kapitalistische Konkurrenz allein schon zu staatlichem Gegensatz treiben müßte“. Stattdessen sei eine zunehmende Annäherung und Kooperation der beiden Mächte zu beobachten, das Bestreben, wirtschaftliche Konkurrenz durch Vereinbarung 16 Ders., Probleme der Zeit, S. 14 f.

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und Interessengemeinschaft zu überwinden, sich gegenseitig Besitzstände zu garantieren, alle Meinungsverschiedenheiten untereinander durch gemeinsame Konferenzen zu ordnen und einander bei Bedrohung beizustehen; dabei sollten nach Möglichkeit auch weitere Staaten in diese friedlichen Maßnahmen zur Regelung internationaler Fragen und Probleme einbezogen werden: Hilferding erblickte im Umgang der Vereinigten Staaten und Großbritanniens miteinander ein zukunftweisendes Ordnungsmodell für die internationalen Beziehungen. England jedenfalls brauche Ruhe und Frieden, schon um die Probleme seines Weltreiches langfristig zu lösen und dabei revolutionäre Unruhen in den Kolonien nach Möglichkeit zu vermeiden, die USA brauchten gleichermaßen Frieden und Rechtssicherheit zur ungestörten und gewinnträchtigen weltweiten Anlage ihres Kapitals an Gold und Devisen. Kurzum: Die gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen der finanzstärksten kapitalistischen Weltmächte forderten geradezu imperativ eine friedliche Weltordnung, und gerade ihre spezifisch kapitalistischen Interessen richteten sich gegen Unruhen und kriegerische Konflikte. So erschien für Hilferding in betont realistischer Perspektive eine Weltfriedensordnung mittelfristig möglich.17 An dieser Stelle schließlich trat das Ziel der globalen Demokratisierung in den Vordergrund. Hilferding hielt „die Durchsetzung der politischen Demokratie“ für ein weiteres grundlegendes Resultat des Ersten Weltkriegs.18 Und in der Demokratie könne nun endlich die Arbeiterbewegung den ihr gebührenden Anteil an der politischen und wirtschaftlichen Macht erlangen. „Erst nach dem Kriege hat die deutsche und ein großer Teil der europäischen Arbeiterbewegung das große Erlebnis der Demokratie erfahren. Es mußte infolge der Plötzlichkeit des Umschwungs um so stärker wirken.“ In Deutschland betrachte die Arbeiterschaft „die Republik als ihr Werk, sie ist Träger dieser Staatsform, die ohne ihre leidenschaftliche Unterstützung und Verteidigung unmöglich wäre“. Das bislang starre politische System sei nun der Einwirkung der Arbeiterschaft zugänglich, und „zugleich mit der Steigerung des Machtbewußtseins ist der Arbeiterklasse die Möglichkeit gegeben, diese Macht auszuüben“. Hilferding forderte in diesem Zusammenhang die Erstellung einer umfassenden Staatstheorie, die offenbar der aktiven Mitwirkung der Arbeiterschaft am politischen Leben die gedankliche Grundlage verschaffen sollte; „eine eingehende Funktionslehre des demokratischen Staates tut not“.19 Gleichzeitig rief Hilferding die Arbeiter und Angestellten angesichts der günstigen institutionellen Voraussetzungen, die der organisierte Kapita17 Ders., Realistischer Pazifismus, S. 97–107, Zitate S. 99 f. u. S. 104. 18 Ebd., S. 98. Vgl. auch ders., Probleme der Zeit, S. 10. 19 Ders., Probleme der Zeit, S. 13.

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lismus bereits geschaffen habe, zum „Kampf um die Wirtschaftsdemokratie“ auf, „um den Einfluß auf die geregelte und organisierte Wirtschaft“. Es gehe jetzt darum, „die Wirtschaftsorganisation selbst zu beeinflussen und demokratisch umzuwandeln. Fabriksdemokratie, Stärkung der Stellung der Betriebsräte, Produktionskontrolle in allen Nuancen des umfassenden Wortes bis zur schließlichen Erringung der Wirtschaftsdemokratie wird zum Inhalt der Politik der Arbeiterorganisationen.“20 Die Durchsetzung der Demokratie und damit der zunehmende Einfluss der Arbeiterschaft auf die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland, Europa und darüber hinaus war in Hilferdings Konzeption aber nicht bloß auf innergesellschaftlicher oder nationalstaatlicher Ebene erstrebenswert, sondern spielte gerade für die angestrebte globale Friedensordnung eine eminente und entscheidende Rolle: Es ging um „die Bedeutung der Demokratie für eine Politik des realistischen Pazifismus“, und in diesem Zusammenhang gerieten wiederum die Massen der Arbeiterschaft in den Fokus. Zur Demokratie gehörten gewiss Gleichheit des Wahlrechts, Presse- und Versammlungsfreiheit, umfassende Selbstverwaltung auf verschiedenen Ebenen, nicht zuletzt „ebenso die Unterordnung des militärischen Willens unter den zivilen, also die Überwindung dessen, was im eigentlichen Sinne Militarismus heißt“. Vor allem aber sei Demokratie „nur möglich, wenn ihre Träger vorhanden sind: politisch aktionsfähige, geschulte, verantwortungsbewußte, organisierte Massen“. Nicht nur in dieser Hinsicht stehe man in Deutschland noch „am Anfang der demokratischen Entwicklung“, in der insgesamt eine „Befreiung der Demokratie von ihren Mängeln die politische Aufgabe“ darstelle. Doch „so sehr sich innerhalb der staatlichen Herrschaftsorganisation das Interesse der kapitalistischen Schichten noch durchsetzt“, wirke doch bereits „bei der Bildung des Staatswillens der politische Einfluß der breiten Massen immer stärker und im Gegensatz zu früher unmittelbarer“ ein: „Dies um so mehr, als zugleich mit der Änderung des politischen Systems die Stärke und das Machtbewußtsein vor allem der Arbeiterklasse gewachsen ist.“21 Hier fanden die verschiedenen Fäden in Hilferdings Argumentation von der Möglichkeit eines realistischen Pazifismus zu einem Gewebe zusammen: „Wir haben gesehen, wie nach dem Kriege die Machtpolitik gerade der wichtigsten Staaten nicht im Sinne kriegerischer Auseinandersetzungen wirkt; wir haben feststellen können, daß auch innerhalb der Staaten starke kapitalistische Schichten vor allem an der Wiederherstellung der politischen Sicherheit 20 Ebd., S. 6 f. 21 Ders., Realistischer Pazifismus, S. 110–112.

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und damit ihrer Betätigungsmöglichkeit interessiert sind. Mit diesem Interesse verbindet sich das der breiten Bauern- und Arbeitermassen, der Träger der Demokratie.“ Die Sozialdemokraten müssten diese Konstellation „dazu benützen, um sie durch die Verwendung der politischen Macht zu einer definitiven zu gestalten. Und wir können das, weil innerhalb der Demokratie der Staatswille in steigendem Maße beeinflußt werden kann durch den politischen Willen der organisierten Arbeiterbewegung.“ Die Konvergenz von international organisiertem friedlichem Kapitalismus, kooperativer Außenpolitik der führenden demokratisch-kapitalistischen Mächte und wachsendem Einfluss der breiten Massen insbesondere der organisierten Arbeiterschaft in sich stabilisierenden demokratischen Staatswesen ließ die Herstellung einer dauerhaften friedlichen Weltordnung als realistische Möglichkeit erscheinen. Nicht zuletzt hätten „der letzte Krieg und seine Folgen ... die psychologischen Bedingungen geschaffen, um sowohl den Massen als auch den herrschenden Schichten die Überzeugung beizubringen, daß ein neuer Krieg ökonomisch und sozial ungeheuer verderblicher sein müßte als jeder Sieg“. Die Völker seien heute „von Kriegsfurcht erfüllt und bereit, die Arbeit für Sicherung des Friedens ganz anders zu werten als vordem“. Folglich seien, so Hilferdings dezidiert rationalistischer Ansatz, in der Zeit der Demokratie die „wichtigsten Probleme Organisationsprobleme“, die man unter hinreichender Anwendung von Vernunft in den Griff bekommen werde. „Dies gilt auch für die demokratische Außenpolitik. Es handelt sich um Einschränkung der Souveränität der Einzelstaaten durch Schaffung überstaatlicher Organisation.“ Hilferding plädierte sowohl für die Einschränkung der wirtschaftlichen Souveränität, „damit nicht durch wirtschaftliche Absperrung der Staaten voneinander die monopolistischen Tendenzen des organisierten Kapitalismus, die zu gewaltsamen Eruptionen drängen, übermäßig durch staatliche Eingriffe gesteigert werden und gewaltsame Gegenwirkungen anderer Staaten provozieren“, als auch für die Einschränkung der politischen Souveränität, „also Begrenzung der einzelstaatlichen Machtpolitik und ihrer Mittel durch obligatorisches Schiedsgericht und Abrüstung“. Den Anfang zu solcher Organisation stelle der Völkerbund dar, der große Chancen zu seiner Entwicklung an den Tag legen könne, „wenn die objektiven Möglichkeiten, die der Kriegsausgang durch seine Änderung der Machtverhältnisse und der Machtpolitik der Staaten geschaffen hat, energisch ausgenützt werden durch Regierungen, deren politischer Wille bestimmt wird durch den immer wachsenden Einfluß der Demokratie und des Sozialismus“.22

22 Ebd., S. 112–114.

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3. Die Interparlamentarische Union als Vorstufe zum Weltparlament? Wenn Rudolf Hilferding als sozialdemokratischer Theoretiker einer Weltfriedensordnung die Parlamentarisierung von Nationalstaaten und Weltorganisation immer nur implizit mitdachte und nirgends eigens erwähnte, so fand der Parlamentarismus bei sozialdemokratischen Protagonisten der Interparlamentarischen Union (IPU) als den Praktikern der internationalen Parlamentarisierung um so mehr Erwähnung. Die 1889 gegründete Interparlamentarische Union verstand sich als Vereinigung von Parlamentariern aller Länder mit dem Ziel einer Förderung der internationalen Verständigung.23 Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren Vertreter der deutschen Sozialdemokratie führend und als stärkste deutsche Fraktion an der Arbeit der IPU beteiligt; Reichstagsabgeordnete wie der langjährige Reichstagspräsident Paul Löbe, Hermann Müller oder Wilhelm Sollmann waren prominente Mitglieder.24 Sollmann suchte im Herbst 1925 anlässlich der Reise der deutschen IPU-Delegation zur Jahreskonferenz der Organisation in Washington und Ottawa der deutschen Öffentlichkeit ein gedrängtes Bild von ihrem Wirken zu vermitteln: Sein Artikel in der Rheinischen Zeitung trug den schlichten Titel „Ein Weltparlament“. Ein dauerndes interparlamentarisches Büro in Genf, ein Oberster Rat, ständige Arbeitsausschüsse und ein jährlich an wechselnden Orten tagender Kongress seien die Organe der Interparlamentarischen Union. In Washington habe man eine reiche Tagesordnung abzuarbeiten. Es gehe unter anderem um die Entwicklung des internationalen Rechts, europäische Zollverständigung, Probleme nationaler Minderheiten, Einschränkung der Rüstungen und generell um die gegenwärtige Krisis des parlamentarischen Systems und mögliche Abhilfe dagegen. „Es handelt sich also um zeitgemäße und gewaltige Probleme. Wie versucht die Interparlamentarische Union ihnen gerecht zu werden?“ Lösungen seien nicht leicht zu finden, „wenn man bedenkt, daß nicht nur zwischen den verschiedenen nationalen Vertretungen, sondern auch innerhalb dieser ein Ausgleich gesucht werden muß, 23 Vgl. zur Interparlamentarischen Union in der Zwischenkriegszeit den instruktiven Aufsatz von Martin Albers, Between the crisis of democracy and world parliament: the development or the Inter-Parliamentary Union in the 1920s, in: Journal of Global History 7 (2012), S. 189–209, sowie die völkerrechtlich orientierte Arbeit von Claudia Kissling, Die Interparlamentarische Union im Wandel. Rechtspolitische Ansätze einer repräsentativ-parlamentarischen Gestaltung der Weltpolitik, Frankfurt a.M. 2006, S. 83–143. 24 Vgl. etwa die in der Sache unergiebigen Reminiszenzen von Paul Löbe, Der Weg war lang. Lebenserinnerungen, 2. Aufl. Berlin 1954, S. 129 f. u. S. 169–174.

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denn in jeder nationalen Delegation sind mehrere Parteien vertreten, die mit sehr verschiedenen Auffassungen an die zur Lösung stehenden Fragen herantreten“. Die Schwierigkeiten seien daher noch wesentlich größer als etwa auf einem internationalen Sozialistenkongress. „Bindende Beschlüsse zu fassen, ist noch unmöglich. Man muß sich mit einem klärenden Studium der Fragen begnügen und sich darauf beschränken, für ihre nationale und internationale Behandlung Richtlinien zu empfehlen.“ Gleichwohl sei der Wert nicht zu unterschätzen, der „in der persönlichen Fühlungnahme so vieler in ihrem Lande einflußreicher Politiker mit den Kollegen der verschiedensten Länder besteht. Insbesondere die Kommissionsarbeit dürfte nicht ohne nachhaltige Wirkung auf die Beteiligten bleiben.“25

Auch der Reichstagsabgeordnete, frühere Reichsminister und IPU-Aktivist Eduard David wusste um die Annehmlichkeiten, die mit den Reisen zu den Jahreskongressen verbunden sein konnten, wenn „die Delegierten mit ihren Damen ... die Schönheiten und Sehenswürdigkeiten der verschiedenen Metropolen“ kennenlernten und „sich einer festgastlichen Behandlung“ erfreuten, und er hielt „die bei dieser Gelegenheit gewonnenen persönlichen Beziehungen zu den gastgebenden Parlamenten und Politikern“ für wertvoll. David ging allerdings in einer 1926 erschienenen Broschüre über „Die Befriedung Europas“ weit über Sollmanns letztlich zurückhaltend-skeptische Einschätzung der Arbeitsfähigkeit und Reichweite der Interparlamentarischen Union hinaus und hielt sie für befähigt, „die Aufgabe eines provisorischen Parlaments beim Völkerbund zu erfüllen“.26 Auch David war auf der Suche nach Möglichkeiten zu einer dauerhaften Befriedung Europas und der Welt, und er erkannte wie Müller oder Hilferding in der Genfer Völkerbundorganisation „auch schon in ihrer heutigen Verfassung eine Vereinigung sehr bedeutsamer internationaler Kräfte, Rechte und Einrichtungen“, deren Inanspruchnahme „ein selbstverständliches Gebot für jede praktische Befriedungspolitik“ darstelle. Doch entbehre der Völkerbund der „Eigenkraft, jeden Friedensbruch durch Beschluß und Richterspruch zu verhüten“. Solle er „zu einem wirklichen Bund der Völker werden, so müssen seine Organe in einen viel engeren, lebendigeren Zusammenhang mit den demokratischen Kräften und Strömungen der einzelnen Volksgemeinschaften gebracht werden ... Es fehlt der Völkerbundsversammlung der innige und 25 [Wilhelm Sollmann,] Ein Weltparlament, in: Rheinische Zeitung vom 1. Oktober 1925. 26 Eduard David, Die Befriedung Europas. Preisgekrönte Antwort auf das Wettbewerbs-Ausschreiben Edward Filenes: „Wie kann Friede und Gedeihen für Deutschland und Europa durch internationale Zusammenarbeit gesichert werden?“, Berlin 1926, Zitate S. 26 u. 23.

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stete Kontakt mit dem Strom des politischen Lebens der einzelnen Nationen. Sollen die Tagungen des Völkerbundes nicht bloße Diplomatenkonferenzen bleiben, so ist zunächst notwendig, daß sie durch gewählte Volksvertreter aus den beteiligten Ländern ergänzt werden.“ Ein bereits im Völkerbundvorschlag der deutschen Regierung von 1919 vorgesehenes Weltparlament, eine auch in anderen früheren Völkerbundentwürfen vorgesehene „organische Ergänzung durch eine parlamentarische Körperschaft muß das Ziel eines organischen Ausbaues der Völkerbundverfassung sein“. Angesichts der drängenden Aufgaben – auch David verwies hier nicht zuletzt auf die Ziele einer friedlichen deutschen Revisionspolitik – empfehle es sich „aber nicht, bis zur Durchsetzung dieses Endzieles zu warten, sondern baldigst ein Provisorium zu schaffen, das eine spätere definitive Lösung vorbereitet und erleichtert“.27 David hielt die Interparlamentarische Union für die Rolle dieses Provisoriums gleichsam für prädestiniert, da in ihren Reihen „die aktivsten und namhaftesten Völkerrechts- und Befriedungspolitiker aller Länder“ vertreten seien, und weil sie ihrem Programm gemäß das Ziel verfolge, „die in nationalen Gruppen zusammengefaßten Mitglieder aller Parlamente zu gemeinsamem Vorgehen zu vereinigen, um die Mitwirkung ihrer Staaten zu erlangen für die Stärkung und demokratische Entwicklung der internationalen Bewegung für Frieden und Zusammenarbeit zwischen den Völkern mittelst einer allumfassenden zwischenstaatlichen Organisation“. Der Aufgabenkreis der IPU decke sich folglich mit dem des Völkerbundes. Sie sei somit „ihrer Zusammensetzung, ihrer politischen Grundeinstellung und ihrer ganzen theoretischen und praktischen Betätigung nach im hohen Maße geeignet, die notwendige parlamentarische Ergänzung des Genfer Minister- und Diplomatenkongresses vorläufig zu bilden“. Davids Vorschlag lief darauf hinaus, die Interparlamentarische Union in eine enge institutionelle Verbindung mit dem Völkerbund zu bringen und ihre Organe in die des Völkerbunds einzugliedern, in der Folge auf die Kongresse in wechselnden Hauptstädten zu verzichten und einen eigenen ständigen parlamentarischen Apparat in Genf zu schaffen. „Die wichtigsten äußeren Voraussetzungen für ein inniges Zusammenspiel der Parlaments- und Regierungskräfte in Genf wären damit gegeben. Die rasche und leichte Weiterleitung der aus den einzelnen Volksvertretungen über die Interparlamentarische Union kommenden Anregungen und Antriebe an den Völkerbund und deren nachhaltige Weiterverfolgung innerhalb desselben wäre ermöglicht. Und auf der anderen Seite würde sich die unmittelbare Rückwirkung der Völkerbundbeschlüsse auf die einzelnen Parlamente und Regierungen viel kräftiger geltend machen.“ So könne „dem 27 Ebd., S. 17 f. u. S. 21 f.

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Hinschleppen der Ratifikationen und dem gänzlichen Versickern vom Völkerbund ausgehender Anregungen“ wirksam vorgebeugt werden. „Die Parlamente, viel unmittelbarer und aktiver beteiligt an dem Zustandekommen der Genfer Beschlüsse, würden sich auch in viel höherem Maße an deren Durchführung interessiert fühlen.“ Es werde zur „Herausbildung einer engen persönlichen Fühlungnahme zwischen den Vertretern beider Körperschaften“, des Völkerbundes und der IPU, kommen. „Für den Fall einer aktuellen Friedensgefährdung aber wäre die Möglichkeit geschaffen, durch sofortigen Zusammentritt der Interparlamentarischen Union in Genf dort in enger Fühlung mit dem Völkerbund die Verständigungsarbeit sofort aufzunehmen und das ganze Gewicht der parlamentarischen Friedenspolitiker aller Länder für eine friedliche und objektive Lösung in die Wagschale zu werfen.“28

Kurzum: „Die gewissermaßen als ‚Unterhaus‘ beim Staatenkongreß des Völkerbundes ausgebaute und angegliederte Interparlamentarische Union wäre das gegebene Zentralorgan zur sachlichen Klärung zwischenstaatlicher Probleme und Aufweisung gangbarer Wege zur Verständigung.“ Nur ein solcher „internationaler parlamentarischer Arbeitsapparat“, der „in ständiger Beziehung zu den Volksvertretungen und Regierungen der Einzelstaaten einerseits und zur völkerbundlichen Zentrale andrerseits steht“, könne auch „die rasche Durchsetzung aktueller Friedensschutzmaßnahmen gewährleisten. Ohne einen solchen, vom Willen einer wachsenden Volksmehrheit in den einzelnen Ländern unmittelbar autorisierten, organisierten Träger der Friedenspolitik ist an die Überwindung der widerstrebenden politischen und wirtschaftlichen Kräfte nicht zu denken und die besten und schönsten Vorschläge zur Versöhnung und Befriedung der Völker bleiben im Gewirr außen- und innenpolitischer Hemmungen hängen.“29 Der so simple wie ambitionierte, jedenfalls in hohem Maße schwärmerisch-idealistische Vorschlag Eduard Davids rief in der Interparlamentarischen Union anhaltendes Interesse und rege Diskussionen hervor.30 Allerdings lassen ein Blick etwa auf das Schicksal der Sozialistischen Internationale am Vorabend des Ersten Weltkriegs wie auch die Bemerkungen Sollmanns über die tatsächlich recht problembehaftete Kooperationsfähigkeit schon der nationalen Sektionen der IPU Zweifel an ihrer Fähigkeit zur Friedenswahrung im Ernstfall bereits in den eigenen Reihen aufkommen. Außerdem fand in Davids Entwurf das Problem keine Berücksichtigung, dass im Fall einer internationalen Krise die IPU-Mitglieder, die ja gleichzeitig zum ganz überwiegenden 28 Ebd., S. 23–27. 29 Ebd., S. 28. 30 Albers, The development, S. 201.

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Teil Abgeordnete in den einzelstaatlichen Parlamenten waren, dort in ihren Hauptstädten bleiben würden und nicht zur selben Zeit im provisorischen Völkerbundparlament in Genf sein konnten. So konnte Parlamentarismus auf überstaatlicher Ebene kaum handlungsfähig sein.

4. Völker als Akteure: Kritik und Ausblick Insgesamt waren die einschlägigen Überlegungen und Forderungen sozialdemokratischer Politiker zu einer Parlamentarisierung der internationalen Politik von einem ausgesprochen optimistischen Menschen- und Zukunftsbild geprägt. Hermann Müller etwa ging „von der richtigen Auffassung“ aus, „daß die breiten Massen des Volkes in allen Ländern friedliebend sind“.31 Eduard David versicherte, „daß man mit Zuversicht darauf rechnen kann, daß allen in den alten Geleisen fahrenden politischen, sozialen und geistigen Gewalten zum Trotz die um Verständigung ringenden neuen Kräfte immer stärker anwachsen werden“. Geschichte und Soziologie zeigten, „daß Menschen und Völker im wachsenden Maße bewußte Gestalter und damit Herren ihrer Schicksale zu werden bestrebt sind ... Die Tendenz zur geschichtlichen Selbstbestimmung und der Fortschritt auf dieser Linie ist unverkennbar. Dafür zeugt die Tatsache selbst, daß die dauernde Ausschaltung des Krieges zwischen Kulturvölkern als geschichtliche Aufgabe erkannt wurde, daß sie ins öffentliche Bewußtsein der modernen Staaten eindrang und daß eine wachsende Zahl von politischen Pionieren in allen Ländern in ihren Dienst trat.“32

Auch in Rudolf Hilferdings Reflexionen zum realistischen Pazifismus erscheint die Friedensliebe der breiten Massen der Bevölkerung als ein nicht zu hinterfragendes Axiom. Diese Massen, die Völker selbst, nahmen in der sozialdemokratischen Zeitanalyse zunehmend die Rolle der gesellschaftlichen und politischen Akteure ein: „Die Massen, durch den Krieg aufgerüttelt, bleiben in gesteigertem Kraftgefühl als Handelnde auf der Bühne der Geschichte.“33 In seiner bedeutenden Rede vor dem Plenum des Völkerbundes in Genf am 7. September 1928 skizzierte Reichskanzler Hermann Müller in diesem Sinne geradezu einen Paradigmenwechsel der internationalen Politik, der sich 31 Hermann Müller, Vom deutschen Parlamentarismus, in: Die Gesellschaft 3/I (1926), S. 289–305, hier S. 289. 32 David, Befriedung Europas, S. 11 f. 33 Hilferding, Probleme der Zeit, S. 1.

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seit dem Ersten Weltkrieg vollziehe. Der kurz zuvor in Paris unterzeichnete internationale Vertrag zur Ächtung des Angriffskrieges wurzele „letzten Endes nicht in einem willkürlichen Entschlusse der Kabinette, sondern in dem Empfinden ..., das heute durch die ganze Menschheit geht. Mehr als in anderen Epochen der Geschichte werden gegenwärtig fundamentale Staatsaktionen dieser Art von den Kräften diktiert, die in den Völkern lebendig wirken. Die Welt sucht heute nach neuen Formen des internationalen Lebens, weil sie immer mehr erkennt, dass es in hohem Masse andere Faktoren sind, die heute für das Weltgeschehen bestimmend sind, weil sie sieht, dass wir die Dinge nicht mehr allein mit den Methoden zu meistern vermögen, auf deren Anwendung die frühere Politik im wesentlichen beruhte.“ Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, habe „der Staatsmann nichts anderes zu tun ..., als die in den Völkern wirkenden lebendigen Kräfte im richtigen Augenblick und in der richtigen Form zur vollen Auswirkung gelangen zu lassen“. Seine Aufgabe fordere, „dass er, im engsten Kontakt mit dem Fühlen der Völker stehend, die Zeichen der Zeit erkennt, dass er die Hindernisse beseitigt, die sich der lebendigen Entwicklung entgegensetzen, und dass er vor allem dieser Entwicklung nicht seinerseits Hindernisse bereitet“.

Sieht man über die Wortmystik hinweg und akzeptiert die auch hier zugrundeliegende Prämisse, „die breiten Massen sind bei allen Völkern für die Ächtung des Krieges“, dann erscheint Müllers daraus resultierende Forderung durchaus plausibel, es sei nun an der Zeit, die mit den Pariser Friedensverträgen verbundene Selbstverpflichtung der Siegermächte zur eigenen Abrüstung allmählich ernsthaft zu erfüllen.34 Erst vor dem Hintergrund dieses Weltbilds, demzufolge die Völker oder die Massen als handelnde Subjekte nicht nur zunehmend in den Vordergrund treten und gleichsam die Richtlinien der Politik zu bestimmen haben, sondern auch noch vernünftig handeln und im internationalen Bereich per definitionem friedliebend und verständigungsbereit auftreten würden, werden die Vorstellungen vom zukunftweisenden Nutzen einer Internationalisierung des Parlamentarismus und einer Parlamentarisierung des Völkerbundes recht verständlich. Wirkt jedoch schon diese Voraussetzung auf den skeptischen Betrachter in unangemessener Weise optimistisch, so erscheint die Zuversicht nicht weniger befremdlich, mit der ein nüchterner Analytiker wie Rudolf Hilferding „den immer wachsenden Einfluß der Demokratie und des Sozialis-

34 Reichskanzler Hermann Müller, Rede vor dem Völkerbund in Genf, 7. September 1928, in: Archiv der sozialen Demokratie, Nachlaß Hermann Müller, III, Nr. 27, Zitate S. 2 f.

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mus“ postulierte.35 In Hilferdings im Grunde recht mechanistischem Szenario des „realistischen Pazifismus“ agierten alle Beteiligten gleichermaßen rational, die Wirtschaft, die Staaten, die Massen, insbesondere die der organisierten Arbeiterschaft. Und „Krisen waren bei Hilferding nicht mehr vorgesehen“.36 Mit Entwicklungen, die in andere Richtungen führten – nicht nur Staatslenker, sondern Massen, die irrational und aggressiv handelten, Völker, die sich selbst der Freiheit und der Demokratie begaben, oder internationale parlamentarische Einrichtungen, in denen sich die Vertreter verschiedener Nationalstaaten feindlich und unversöhnlich gegenübersaßen –, ließen sich die Vorstellungen einer Weltfriedensordnung durch Parlamentarisierung nicht leicht in Einklang bringen. Implizit war in diesen Vorstellungen immer der Wähler und der Parlamentarier als Urbild des vernunftbegabten und vernünftig handelnden Menschen enthalten. Dabei ist es für die parlamentarische Grundeinstellung der Weimarer Sozialdemokraten von Interesse, dass auch auf der Ebene eines internationalen Parlamentarismus die gedeihliche Zusammenarbeit mit bürgerlichen Demokraten und Friedensfreunden von vornherein einkalkuliert und begrüßt und im Rahmen der Interparlamentarischen Union ja auch bereits praktiziert wurde. Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich hinsichtlich der Tatsache, dass in den Entwürfen Müllers und Davids die essentielle Voraussetzung, dass die Staaten, aus denen gewählte Vertreter in ein Völkerbundparlament entsandt werden sollten, sachlogisch selbst funktionierende Demokratien mit einem repräsentativen Wahlsystem sein mussten, unerwähnt blieb und bestenfalls indirekt erschlossen werden konnte: Wie mit anderen Staaten, die Mitglieder im Völkerbund waren, verfahren werden sollte, blieb unklar. Die 1930er Jahre sollten erweisen, dass das rationale Handeln von friedliebenden Völkern vorerst nicht die Weltpolitik bestimmen würde. Rudolf Hilferding sah das im Züricher Exil rasch ein und setzte sich publizistisch frühzeitig und vehement für eine macht- und militärpolitisch akzentuierte dezidierte Antwort der demokratischen Westmächte auf die nationalsozialistische Herausforderung ein.37 Die Umorientierung von Hilferdings Denken gab die Idee des Völkerbundes nicht auf, setzte aber wieder verstärkt auf die Nationalstaaten als die entscheidenden Faktoren der internationalen Politik und legte die Mechanismen des „realistischen Pazifismus“ vorläufig zugunsten von Entscheidungshandeln und Kontingenz beiseite: 35 Hilferding, Realistischer Pazifismus, S. 114. 36 So Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924–1930, 2. Aufl. Berlin 1988, S. 339. 37 Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999, hier bes. S. 176–179.

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„Es gibt in der Politik keinen Mechanismus, der imstande wäre, bestimmte Wirkungen zu garantieren und andere auszuschließen. Denn die Politik wird von Menschen gemacht. Daß der Völkerbund praktisch außer Kraft gesetzt wurde, war die Folge der Regierungspolitik der verschiedenen Länder. Eine Änderung des Zustandes ist nur möglich, wenn die Regierungen ihre Politik ändern ... Ich habe die Auffassung, daß die allgemeine Abrüstung ein Mittel zur Garantierung des Friedens sei, längst nicht mehr geteilt. Es gibt auch hier keine mechanischen Mittel zur Lösung, es gibt nur eine bestimmte Politik. Der Frieden kann nur garantiert werden, wenn eine überlegene Macht auf der Seite vorhanden ist, die den Willen zum Frieden hat.“38

Diese Einsichten ließen letztlich auch die Vorstellung verblassen, das repräsentativ beschickte Weltparlament eines Völkerbundes könne zur Aufrechterhaltung des Friedens entscheidend beitragen. In den beiden schlüssigsten und faszinierendsten Vorschlägen aus dem sozialdemokratischen Exil zur Herstellung einer neuen Weltordnung nach der militärischen Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur, die Curt Geyer und Albert Grzesinski im Frühjahr 1941 unabhängig voneinander niedergeschrieben haben, ist folgerichtig von einer derartigen Einrichtung keine Rede mehr: Beide gehen von der Wiederherstellung der europäischen Nationalstaaten aus und fordern für alle Mitgliedstaaten einer neuen internationalen Staatenorganisation als unabdingbare Voraussetzung „eine demokratisch-liberal-rechtsstaatliche Verfassung“ bzw. „die demokratische Regierungsform“.39 Wenn es eine allgemeine Ursache der Funktionsdefizite der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Weltorganisation der Vereinten Nationen gibt, die in allen Fragen von wirklicher Bedeutung zutage treten, dann könnte man sie in der Tat darin suchen, dass auf das Kriterium demokratischer Beschaffenheit der Mitgliedstaaten von vornherein verzichtet wurde: Diese Problematik würde auch ein Weltparlament kennzeichnen, das von Diktaturen und Unrechtsregimen beschickt würde.

38 Rudolf Hilferding, Bemerkungen über die Frage der Kriegsziele und über das Problem der Vereinigten Staaten von Europa, 29. Januar 1940, in: Klaus Voigt (Hg.), Friedenssicherung und europäische Einigung. Ideen des deutschen Exils 1939–1945, Frankfurt a.M. 1988, Dok. Nr. 4, S. 50–55, hier S. 53. 39 Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 406–409 u. S. 533–535.

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„Durch Freiheit zum Sozialismus, durch Sozialismus zur Freiheit!“ Zur Programmatik der SPD in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat

„Heran an den Staat“ (Kieler Parteitag der SPD 1927) „Der Staat schlägt den Menschen“ (Wilhelm Leuschner)

Die letzten Sätze des „Prager Manifestes“ von 1934 muten wie das abschließende Wort in einer Debatte an, die Ende der 70er Jahre der damalige Generalsekretär der CDU Heiner Geißler mit der These entfacht hatte: die Sozialdemokratie habe stets in der Gefahr gestanden, kollektivistischen Neigungen zu erliegen. „Freiheit oder/statt Sozialismus?“ – so lautete damals eine Wahlkampfparole von CDU und CSU. Beide nutzten diese später als „Kollektivismus-Debatte“ bezeichnete Kontroverse, um den Wahlkampf zu polarisieren. Ein Hinweis auf eines der wichtigsten Programme der Sozialdemokratie, das in der Auseinandersetzung mit Hitlers Regierungsübernahme, auf Terror und Konsolidierung der NS-Diktatur im Prager Exil entstanden war, unterblieb allerdings – wie auch nicht anders zu erwarten. Mit dem „Prager Manifest“ bekannte sich aber das sozialdemokratische Exil zur Einheit von „Freiheit und Sozialismus“1.

1. Verfolgt, aber nicht wehrlos Die Regierungsübernahme durch die NSDAP und die mit ihr koalierenden Deutschnationalen wurde später als Zivilisationsbruch gedeutet. Das Scheitern der Weimarer Republik entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem Trauma, weil die Verantwortungs- und Schuldfrage politisch brisant blieb. Verfassungsgeschichtlich schien mit dem 30. Januar 1933, dem Tag der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, eine Phase demokratisch-parlamen1 Vgl. allg. Susanne Miller, Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von Lassalle bis zum Revisionismusstreit, Frankfurt a.M. 1964.

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tarischer Mitwirkung endgültig abgeschlossen zu sein. Sozialdemokratische Hoffnungen, die in einem Ausruf (in der Parteijugend) wie „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!“ gebündelt worden waren2, hatten nicht nur getrogen. Die Nationalsozialisten triumphierten und stellten sich als wahre Vertreter einer deutschen Revolution dar. Sie beanspruchten, mit der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ zugleich den neuen politischen Grundkonsens zu verkörpern. Die von ihnen forcierte „Selbstgleichschaltung“ (K. D. Bracher) der deutschen Gesellschaft begleitete die politische Entmachtung der Kräfte, die 1918 darauf gebaut hatten, mit der parlamentarischen Verfassung zugleich auch den Rechtsstaat, mit der Gewaltenteilung auch die Vertretung sozialer Interessen in einem demokratischen Willensbildungsprozess gesichert zu haben. Mit der Verfolgung der Gewerkschaften und der Parteien der Arbeiterbewegung setzte nach 1933 vor allem in der demokratischen Arbeiterbewegung eine politische Neuorientierung ein, die ihren frühen programmatischen Höhepunkt schließlich im „Prager Manifest“ fand. Mit ihm fanden innerparteiliche Kontroversen ein Ende, die zwischen Sozialdemokraten, die emigriert waren, und denen, die gehofft hatten, durch außenpolitische Konzessionen an Hitler die drohende Verfolgung abzumildern.3 Zuvor hatten Sozialdemokraten im Frühjahr und Sommer 1933 in den sich gesinnungsmäßig organisierenden „Kreisen“, nicht zuletzt aber auch in den Diskussionen der sozialdemokratischen Emigration die Konturen einer neuen politischen Ordnung auszuloten versucht. Im Folgenden geht es darum, den nach dem 30. Januar 1933 einsetzenden Klärungs- und Orientierungsprozess in einigen markanten Konturen nachzuzeichnen, der – in den Worten von Richard Löwenthal – eine moderne Sozialdemokratie hervorgebracht hat; diese vermochte erneut die nun als Abkehr vom deutschen „Sonderweg“ gedeutete Nachkriegsentwicklung der deutschen Politik zu beeinflussen und zu gestalten.4 In diesem Beitrag soll versucht werden, die Entwicklung eines neuen politischen Bewusstseins aus zeitgeschichtlicher Erfahrung am Beispiel der programmatischen Entwicklung der SPD zwischen 1933 und 1943/44 darzustellen. Der Blick ist deshalb nicht nur auf die Auseinandersetzung mit dem NS-Staat zu richten, sondern auch auf die 2 Zum Kontext dieses Zitats vgl. die Einleitung S. 26. 3 Ausdruck fand diese Bemühung in der Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstags-Restfraktion zur „Friedensresolution“ vom 17.5.1933. 4 Vgl. allg. zur Parteigeschichte der SPD Detlef Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848–1983, Frankfurt a.M. 1983; Peter Brandt/ Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830– 2010, Berlin 2013.

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kritische Reflexion der genutzten oder verworfenen Handlungsoptionen in der Zeit vor 1933. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Interpretation des „Prager Manifestes“ vom 28.1.1934 gelegt, das eine ethische Fundierung sozialdemokratischer Politik mit einer kritischen Deutung der politischen Fehlentwicklungen verbindet und deutlich werden lässt, weshalb die SPD innerhalb der – sonst auch nationalkonservativ geprägten – Opposition so einflussreich werden konnte. Während der Sozialistenverfolgung unter Bismarck hatte sich die Vorstellung gefestigt, der Staat sei durch Wahlen zu beeinflussen und vor allem in seiner Gewaltbereitschaft und seiner Entschlossenheit zur Repression abzuschwächen. Gesellschaftliche Benachteiligungen und Entrechtungen festigten die Überzeugung, durch Mitwirkung in den Verfassungsinstitutionen und durch Wahlbeteiligung den Staat als Unterdrückungsinstrument zu schwächen. Das Stigma der angeblichen nationalen Unzuverlässigkeit wurde die SPD dadurch – auch nach 1918 – nicht los. Die Sozialdemokratie mutierte in den folgenden Jahren allerdings nicht nur zum Zerrbild angeblicher „Novemberverbrecher“, denen Hindenburg früh einen „Dolchstoß in den Rücken der unbesiegten Front“5 vorgeworfen hatte, sondern in der Kritik der politischen Linken auch als „Verräter“ der revolutionären Arbeiterbewegung. So entstand die neue republikanische Verfassungsordnung von Anbeginn aus heftigen innenpolitischen, kaum zu bewältigenden Konflikten, die die weitere politische Entwicklung der Republik belasteten und die SPD von rechts wie links politisch-moralisch diskreditieren sollten. Die Epoche der Weimarer Republik erschien so lange Zeit lediglich als ein episodisches Vorspiel der nationalsozialistischen Zeit zu sein. Sie war belastet durch das sozialdemokratische Grundgefühl, die spätere Katastrophe nicht durch eine radikale Umgestaltung der ökonomischen Macht- und politischen Herrschaftsverhältnisse verhindert zu haben. Die neuen politischen Gestaltungschancen wurden als „Bürde der Macht“6 gedeutet und zugleich relativiert. Eine prägende Wirkung für die sozialdemokratische Bewusstseinsgeschichte konnte die Revolutions-Epoche im Unterschied zur Sozialistenverfolgung 1878–1890 nicht entfalten. Viel zu stark wirkten selbstkritische Reflexionen nach, die sowohl die Ausnutzung möglicher bzw. angeblicher Handlungsspielräume 1918/19 wie auch 1932/33 berührten. Die Sozialdemo-

5 Horst Möller, Weimar. Die unvollendete Demokratie, München 19934, S. 66 f. 6 Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920, Düsseldorf 1978.

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kraten fühlten sich mitverantwortlich, ja mitschuldig an dem Scheitern der zweiten deutschen Demokratie.7

2. Den Nationalsozialismus bekämpfen, im Innern und von außen Das Jahrzehnt, das der nationalsozialistischen Regierungsübernahme folgte, ist erst jüngst unter besonderer Beachtung der sozialgeschichtlichen Veränderung der Arbeiterschaft umfassend analysiert worden – mehr als ein halbes Jahrhundert nach der nationalsozialistischen Regierungsübernahme und der Befreiung von der NS-Herrschaft.8 Trotz zahlreicher umfangreicher Untersuchungen über das sozialdemokratische Exil und vereinzelter, in die Tiefe der Lokal- und Regionalgeschichte vordringender Studien über den lokalen und regionalen Widerstand wird niemand ernsthaft die Unterdrückungsphase nach 1933 als eine historische Dekade bezeichnen, die entscheidend von der Sozialdemokratie hätte geprägt werden können. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, überlebte in Gesinnungskreisen, stand auch im Exil „mit dem Gesicht nach Deutschland“ und hatte zugleich mit inneren Auseinandersetzungen zu kämpfen, die nicht zuletzt die in der Novemberrevolution und den einzelnen Phasen der Weimarer Republik gemachten Erfahrungen reflektierten. Immer ging es dabei auch um vergangene Fehleinschätzungen der Handlungs- und Koalitionsalternativen. Zugleich zeigte sich, dass die Gegenkräfte nicht nur zahlenmäßig stärker waren; sie verfügten auch über Machtapparate und damit über Repressionsmöglichkeiten, die die Erinnerung an die Sozialistenverfolgung unter Bismarck weit übertrafen. Die Erinnerung an die „Sozialistenverfolgung“ brachte Kurt Tucholsky als „Gefühlskritik“ nach dem Görlitzer Parteitag 1921 zum Ausdruck: „Wir saßen einst im Zuchthaus und in Ketten, wir opferten, um die Partei zu retten, Geld, Freiheit, Stellung und Bequemlichkeit. Wir waren die Gefahr der Eisenwerke,

7 Exemplarisch sind autobiographische Studien, die allerdings noch nicht systematisch auf das dahinter sichtbar werdende Weltverständnis untersucht worden sind. 8 Nach den wichtigen Studien von Timothy Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936–39, Opladen 1975, ist jetzt heranzuziehen: Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999; ders., In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939 bis 1945, Bonn 2014.

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wir hatten Glut im Herzen – unsre Stärke war unsre Sehnsucht, rein und erdenweit. Uns haßten Kaiser, Landrat und die Richter: Idee wird Macht – das fühlte das Gelichter …“9

Die Erinnerungen an diese „heroische Zeit“ wurden nach der Schleifung des „demokratischen Bollwerks“ Preußen am 20. Juli 1932 beschworen. Zugleich erkannten selbstkritische Sozialdemokraten und Gewerkschafter, dass die Hinnahme dieses Verfassungsbruchs zeigte, wie bereits zu diesem Zeitpunkt der Widerstandswille der meisten Mitglieder in den republiktreuen Organisationen erlahmt war. Eine über den „Papenschlag“ weit hinausgehende Verletzung der Grundrechts- und Rechtstaatsordnung bedeutete die Errichtung eines totalitären Repressionssystems nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Zunächst wirkten weiterhin die historisch-politischen Perspektiven und Erwartungen nach. Deshalb wäre jedoch falsch, die Geschichte der SPD im Zeitraum 1933 bis 1945 als einen tiefgehenden realhistorischen Einschnitt der sozialdemokratischen Organisationsgeschichte zu deuten. Kontinuitäten bestimmten weiterhin Denken und Verhalten. Es ging um Gesinnungspflege angesichts der Repression, auch in der Erwartung, dass Hitlers System zum Scheitern bestimmt sei. Dies gilt besonders, wenn der Blick auf das sozialdemokratische Exil gelenkt wird. Zwar war die Zahl der Emigranten im Vergleich zu der Gesamtzahl der Mitglieder gering. In der Veränderung der Programmatik schlägt sich die Öffnung für verfassungsstaatliche Konzeptionen des Westens nieder. Deutsche Sozialdemokraten in Skandinavien und später vor allem in Großbritannien halfen entscheidend, die weltanschaulichen Begrenzungen zu überwinden, die nach 1918 viele innerparteiliche Diskussionen und Kontroversen, aber auch die wechselnden Programme, die Debatten der Parteitage und Pressediskussionen geprägt hatten. Durch das nordeuropäische und britische Exil kamen Sozialdemokraten sehr intensiv mit Ordnungsvorstellungen in Berührung, die bis dahin nicht nur als westlich, sondern geradezu als spannungsgeladen im Hinblick auf die deutsche Verfassungsentwicklung galten. So hat Richard Löwenthal einmal, von mir konfrontiert mit der Frage, ob er sich nach 1933 nicht als Geschlagener gefühlt hätte, in einem persönlichen Gespräch mit der Feststellung gekontert: „Wieso? Wir haben doch gewonnen!“ Er drückte auf diese Weise aus, dass das Jahrzehnt nationalsozialistischer Verfolgung und Unterdrückung eine Mutation der Sozialdemokratie beschleunigt hätte. Überprüft werden könnte 9 Kurt Tucholsky, Der Parteitag in Görlitz, in: Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe Texte und Briefe, Bd. 5, Reinbek 1999, S. 118.

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diese Deutung an programmatischen Dokumenten, die von der ersten Landeskonferenz deutschsprachiger Sozialdemokraten und Gewerkschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika im Juli 1943 bis zur Erklärung der – 1941 in London gegründeten – Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien über die „neue deutsche Republik“ vom Jahresende 1943 reichen.

3. Programmatische Reflexionen Die hier im Mittelpunkt stehende Epoche sozialdemokratischer Parteigeschichte wird deshalb nicht durch politische Einflussnahme auf die deutsche oder alliierte Politik, sondern zunächst vor allem durch programmatische Reflexionen, seit Kriegsbeginn auch durch die Beeinflussung der alliierten Deutschlandpläne bestimmt. Die programmatische Entwicklung ist an Orte wie Prag, die Vorbereitung auf die Mitwirkung an der alliierten Neuordnungspolitik an London und Stockholm geknüpft. Markiert wird diese Epoche anfänglich durch das Nachdenken über die Gründe für das endgültige Scheitern der Weimarer Republik, anschließend durch Unterdrückung, Kriminalisierung und Verfolgungen im Innern, durch die Erfahrung des Exils und die Abhängigkeiten in den Zufluchtsstaaten – aber auch durch die Erwartung einer militärischen Niederlage der deutschen Wehrmacht und die Beteiligung der Emigration an einer politischen Neuordnung von Nachkriegsdeutschland. Insofern ist das Verbot der SPD durch die Nationalsozialisten nicht als Ende, sondern als neuer Anfang zu deuten, der erwartet und erhofft wurde. Deshalb lässt sich der zehnjährige Zeitraum zwischen 1933 und 1943 als eine programmatische Umbruch-Dekade einer auf den westeuropäischen Weg einschwenkenden SPD deuten. Gelähmt schien die Sozialdemokratie durch die Hinnahme des Verfassungsbruchs, die die Absetzung der preußischen Regierung unter Otto Braun durch die Regierung Franz von Papen bedeutete. Das maßgeblich durch Sozialdemokraten und Gewerkschaftsmitglieder getragene „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“10 hatte sich nicht zuletzt als ein republikanischer Kampf- und Verteidigungsverband verstanden, der den Kampfverbänden der politischen Rechten und äußersten Linken Paroli bieten sollte. Die bis zum Sommer 1932 in Ausmärschen und Aufmärschen demonstrierte Verteidigungsbereitschaft war hingegen im Sommer 1932 trotz weiterer Massende10 Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966.

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monstrationen weitgehend verpufft. Der linksliberale Publizist Theodor Wolff hatte vor den Reichstagswahlen im Sommer 1932 prophezeit, von den Nationalsozialisten an der Macht sei eine konsequent realisierte „Legalisierung der Rache“ zu erwarten. Die ersten Notverordnungen der Hitler-Regierung in den Februar-Tagen 1933 hatten dies bewiesen. Die ebenso verfassungswidrige wie gewaltsame Ausschaltung der Kommunisten nach dem Brand des Deutschen Reichstags am 27.2.1933 führte den Sozialdemokraten die eigene Machtlosigkeit vor Augen. Sorgfältig vorbereitete Verhaftungslisten und Massenverhaftungen zeigten, dass Hindenburg nicht nur eine neue Präsidialregierung berufen hatte, sondern dass die Nationalsozialisten die „Macht ergriffen“ hatten und entschlossen waren, diese nicht mehr abzugeben. Die Nationalsozialisten monopolisierten den Begriff des Vaterlandes, wie Theodor Heuss einmal schrieb11, und machten sich zum angeblich „berufenen“ Vertreter nicht nur der Gesamtnation, sondern des nationalen Willens. Zielstrebig errichteten sie eine Diktatur. Sie verklärten alle Maßnahmen und Ziele mit pseudo- und politisch-religiösen Begriffen, die sie der Öffentlichkeit einhämmerten. In Verbindung mit der Propagierung einer „Volksgemeinschafts-Ideologie“ entwickelten sie eine spezifische, politisch hochgradig aufgeladene und nicht mit der LTI12 zu verwechselnde Sprache des Dritten Reiches. Sie proklamierten sowohl eine „moralische Sanierung“ als auch eine Art geistig-moralischer Wende zur Verteidigung von angeblichen „Ewigkeitswerten“. Aus den SA-Lokalen wurden örtliche Folterkeller. Im März entstanden die ersten „wilden Konzentrationslager“. Rechtshilfe konnten die dorthin Verschleppten nicht mehr erwarten, denn die preußische Polizei war Göring, die bayerische Himmler unterstellt worden. Hinzu kamen „Hilfspolizisten“ aus der SA, die vor allem durch Görings Schießerlass geradezu aufgefordert wurden, „hart“ durchzugreifen. Die Bedeutung der Länder schwand, an ihrer Spitze standen der Hitler-Bewegung ergebene „Gauleiter“ und Statthalter. Die Regierungsgewalt wurde zentralisiert und die Vereinheitlichung von Partei und Staat vorbereitet. In wenigen Monaten gelang es den Nationalsozialisten, die Weimarer Verfassungsordnung außer Kraft zu setzen, ja mehr noch: Mit der Reichstagsbrandverordnung hatten die Nationalsozialisten die neue Verfassung geschaffen, die bis zum Mai 1945 in Kraft blieb.

11 Theodor Heuss sprach von einer „ekelhaften Monopolisierung der Worte Vaterland und Nation“. Theodor Heuss, Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 19634, S. 290 f. 12 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947 (neueste Ausgabe: Stuttgart 2007).

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4. Eine Zäsur: Die Reichstagsrede von Otto Wels Vor solchem geschichtlichen Hintergrund wurde die Rede, die der Parteivorsitzende Otto Wels am 23. März 1933 in der Todesstunde des deutschen Parlamentarismus hielt, als mutiges Bekenntnis zum freiheitlichen Verfassungsstaat verstanden.13 Sie gilt seitdem als ein besonders mutiges Zeugnis sozialdemokratischer Selbstbehauptung und Widerstandswillens, als Beweis eines aufrechten Ganges und einer in die Zukunft gerichteten Unbeugsamkeit, die vor der nationalsozialistischen Gewalt nicht kapitulierte. Ausdruck fand sie in dem Satz: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“14 Programmatisch und organisationsbezogen war die Rede jedoch weniger zukunftsweisend. Otto Wels, der 1873 in Berlin als Sohn eines Gastwirts zur Welt gekommen war, verkörperte noch die Sozialdemokratie der Kaiserzeit. Er war 1891 zur SPD gestoßen, in jenem Jahr also, in dem das Erfurter Programm beschlossen wurde. Es blieb wichtig, weil es theoretische Deutung mit einem pragmatischen Politikverständnis verband und zur Grundlage des Heidelberger Programms von 1925 wurde. Der Tod des als Vertreter eines parteiinternen Zentrismus anerkannten sozialdemokratischen „Arbeiterkaisers“ August Bebel im Jahre 1913 hatte eine Zäsur bedeutet. Nach der Wahl des ihm nachfolgenden, als besonnen geltenden Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten im Jahre 1919 hatte sich Wels der Integration der Gesamtpartei unter Respektierung innerparteilicher Gegensätze verschrieben.15 In der Tat hielt er Partei und die Fraktion zusammen, sorgte für eine gute Verbindung zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, wurde in der Öffentlichkeit wahrgenommen als ein verantwortungsbewusster Sozialdemokrat und setzte sich auf den Parteitagen der Weimarer Republik für den Zusammenhalt der Partei ein, trat aber keineswegs als glanzvoller Redner hervor. Er musste die parteiinternen Gegensätze, aber auch die Folgen der jahrelangen Spaltung in MSPD und USPD ausgleichen – in einer Zeit, in der sich die Reichstagsfraktion aus der Mitgestaltung zurückzog und seit 1930 mit der Kanzlerschaft Brünings eine Präsidialregierung tolerierte. Seine größte Stunde kam so erst in den Tagen massiver Verfolgung und Diffamierung im März 1933. Bereits am Tag der Ernennung Hitlers zum 13 Vgl. Meik Woyke, Für Freiheit und Demokratie. Die Rede von Otto Wels zur Ablehnung des nationalsozialistischen ‚Ermächtigungsgesetzes‘, in: Anja Kruke/ders. (Hg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848–1863–2013, Bonn 2012, S. 182 ff. 14 Verhh. des Deutschen Reichstags, Sitzung v. 23.3.1933, S. 32 ff. 15 Hans J. L. Adolph, Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894– 1939. Eine politische Biographie, Berlin 1971.

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Reichskanzler war Julius Leber zusammengeschlagen und inhaftiert worden. Er wurde nach einer Massendemonstration vor seinem Gefängnis befreit und war doch so schwer verletzt, dass er auf einer Kundgebung nur die Parole der entschiedenen Verteidiger der Republik lallen konnte: „Freiheit“. Freiheit und Sozialismus bedeutete in der Überzeugung vieler Sozialdemokraten eine Einheit, keine Alternative. Umso deprimierender war es, zu sehen, wie unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise und der Anti-Versailles-Revanchegedanken fast die Mehrheit der Deutschen ihrer politischen Unterdrückung zustimmte; sie bewies dabei keinen Sinn für die Bedeutung von Verfassungsnormen, die in mehr als zwei Jahrhunderten dazu bestimmt waren, die Freiheit des Individuums gegenüber staatlichen Zwängen und Zumutungen, Machtansprüchen und Unterdrückung zu sichern. Viele Deutsche bejubelten Hitler – das Lager seiner Unterstützer wuchs im Vorfeld der bevorstehenden Reichstagswahl vom 5.3.1933 von Tag zu Tag, weil sich viele angeblich nationalbewusste Deutsche der so massiv durchgesetzten Monopolisierung des Vaterlandsbegriffs durch die politische Rechte nicht mehr widersetzten. Hitler betonte vor allem seinen Entschluss, den Marxismus zu bekämpfen. Die Drohungen richteten sich gegen KPD, SPD und Gewerkschaften. Nachdem die KPD-Abgeordneten nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 im Zuge einer vorbereiteten Verhaftungsaktion aus dem Reichstag entfernt worden waren16, hatte Hitler dort nur noch einen entschiedenen Gegner im Parlament: die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Zu ihrem Sprecher in der „Besprechung“ von Hitlers Regierungserklärung wurde Otto Wels bestimmt, der Hitler unmittelbar entgegentrat. Wels’ Reichstagsrede vom 23. März 1933, die wenige Tage später als Flugblatt verbreitet wurde, galt den Sozialdemokraten, die ihren politischen Zielen und Idealen weder in der inneren Emigration, noch in den Gefängnissen und Konzentrationslagern oder im Exil abschworen, als die Verkörperung einer geschichtsbewussten und mannhaften Sozialdemokratie. „Nach Hitler kommen wir!“ – das war nicht nur die Parole der Kommunisten, sondern entsprach auch der Vorstellung vieler Sozialdemokraten von der Zukunft Deutschlands. Sozialdemokraten, die in Stockholm, London, in den USA und in der Türkei „mit dem Gesicht nach Deutschland“ standen, hatten sich seitdem wieder und wieder an der Rede von Otto Wels aufgerichtet, deren später immer wieder aufgenommenes Credo lautete: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“.

16 Konrad Repgen, Ein KPD-Verbot im Jahre 1933?, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 67–99.

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5. Anknüpfungen: Der Görlitzer Parteitag von 1921 Wels schlug einen als ungewohnt empfundenen kämpferischen Ton an. Offenbar war vergessen, dass er Formulierungen aufgriff, die bereits den Görlitzer Parteitag von 1921 geprägt hatten, der einen ausgesprochen kritischen Blick auf die Weimarer Gesellschaft und ihr politisches System lenkte: „Der Weltkrieg und die ihn abschließenden Friedensdiktate … [hätten] die Konzentration der Betriebe und des Kapitals beschleunigt, die Kluft zwischen Kapital und Arbeit, Reichtum und Armut erweitert. In Industrie und Bankwesen, in Handel und Verkehr ... [habe] eine neue Epoche der Angliederungen und Verschmelzungen, der Kartellierungen und Vertrustungen eingesetzt. Während rücksichtsloses Gewinnstreben eine neue Bourgeoisie von Kriegslieferanten und Spekulanten emporhob, sanken kleine und mittlere Besitzer, Gewerbetreibende, Scharen geistiger Arbeiter, Beamte, Angestellte, Künstler, Schriftsteller, Lehrer, Angehörige aller Art der freien Berufe zu proletarischen Lebensbedingungen hinab. Korrumpierung des öffentlichen Lebens, wachsende Abhängigkeit der bürgerlichen Presse von übermächtigen Wirtschaftsdiktatoren, die auf diese Weise den Staat unter ihre Botmäßigkeit zu bringen versuchen, sind unausbleibliche Folgen.“17 Bereits zwei Jahre nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung war die Distanzierung von der politischen und gesellschaftlichen Realität der frühen Weimarer Republik unübersehbar. „Politische Umwälzungen“ hätten den „Massen die Rechte der Demokratie gegeben, deren sie zu ihrem sozialen Aufstieg bedürfen.“ So sei die Arbeiterbewegung zu einem „ebenbürtigen Gegner des Kapitalismus“ geworden. Allerdings war es angesichts der fortbestehenden Gegensätze nur Ausdruck eines verbalen Radikalismus, wenn behauptet wurde, der „Wille, das kapitalistische System zu überwinden“, sei gestärkt worden „durch internationalen Zusammenschluß des Proletariats, durch Schaffung einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung, eines wahren Bundes gleichberechtigter Völker“, der das Ziel hätte, „die Menschheit vor neuer kriegerischer Vernichtung zu schützen“. Spürbar war das Selbstbewusstsein der Sozialdemokraten, die Einheit der politischen Arbeiterbewegung zu verkörpern. Unter dem Eindruck der politischen Attentate der frühen zwanziger Jahre nahm die Programmatik bereits 1921 fast das spätere Bekenntnis von Wels vom 23. März 1933 vorweg: „Die Sozialdemokratische Partei ist entschlossen, zum Schutz der errungenen Freiheit das Letzte einzusetzen. Sie betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf die Lebensrechte des Volkes.“ Weiter wurde betont, 17 Görlitzer Programm 1921, Abs. 2 ff. (daraus auch die folgenden Zitate).

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die SPD könne sich „nicht darauf beschränken, die Republik vor den Anschlägen ihrer Feinde zu schützen“. Sie kämpfe vielmehr „um die Herrschaft des im freien Volksstaat organisierten Volkswillens über die Wirtschaft, um die Erneuerung der Gesellschaft im Geiste sozialistischen Gemeinsinns. Die Überführung der großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinwirtschaft und darüber hinaus die fortschreitende Umformung der gesamten kapitalistischen Wirtschaft zur sozialistischen, zum Wohle der Gesamtheit betriebenen Wirtschaft erkennt sie als notwendige Mittel, um das schaffende Volk aus den Fesseln der Kapitalherrschaft zu befreien, die Produktionserträge zu steigern, die Menschheit zu höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher Gemeinschaft emporzuführen.“ Die SPD bekannte sich zu sozialer und politischer Gleichheit und zum zentralen Wert der Gerechtigkeit18: „Sie kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung“.

In Görlitz hatte sich also bereits gezeigt, wie sich die Sozialdemokratie gegen die deutschnationale Deutung der nur zwei Jahre zurückliegenden Geschichte und ihre Diffamierung zur Wehr setzen konnte. Zwei Tage vor der Rede von Wels hatte Hermann Göring, der Präsident des Deutschen Reichstages, erklärt, nicht die Nationalsozialisten seien „es gewesen, die das vergangene Emblem Schwarz-Rot-Gold beschmutzt … und diese Fahne zerstört hätten“, sondern die politischen Kräfte, die „in größter Not und Verzweiflung“ diese Fahne „als Zeichen der Unterwerfung, der Unterdrückung, der Schande und der Ehrlosigkeit“ aufgepflanzt hätten. Schwarz-Rot-Gold, dies war die Fahne der demokratischen Revolutionäre des Jahres 1848, in deren Tradition sich nicht nur die SPD, sondern die 1918/19 aus der totalen militärischen Niederlage entstandene „deutsche Republik“ gestellt hatte. Seitdem, erklärte Göring, hätten in Deutschland „nicht mehr Ehre und Freiheit“, sondern „Schmach und Schande regiert“.19 Diese Verleumdung wies Wels zurück. Er beschwor dabei nicht die glorreiche Vergangenheit der SPD, sondern kritisierte die allgegenwärtig spürbare nationalsozialistische Herrschaftspraxis, die durch eine ständig wachsende Gewaltbereitschaft geprägt war. Der nationalsozialistischen Propaganda setzte Wels die These entgegen, die „Volksgemeinschaft“, wie sie Hitler beschworen hatte, sei nur möglich, wenn alle Menschen gleiche Rechte hätten. Manchen klang bei dieser Bemerkung sicherlich im Ohr, dass Joseph 18 Dazu auch Daniela Münkel (Hg.), „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.“ Die Programmgeschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 2007. 19 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags, 8. Wahlperiode 1933, 1. Sitzung v. 21.3.1933, Sp. 17 D.

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Goebbels, der nationalsozialistische Agitator und seit März 1933 auch Minister für Volksaufklärung und Propaganda, die Verurteilung der nationalsozialistischen Mörder eines Landarbeiters in Potempa mit dem Satz kommentiert hatte: „Mensch sei nicht gleich Mensch und Recht sei nicht gleich Recht“20. Der Begriff der Volksgemeinschaft diente den Nationalsozialisten vor allem dazu, ihre Gegner auszugrenzen und zu verfolgen. Wels wandte sich entschieden dagegen, „besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei“.

6. Militante Sozialdemokratie? Der kämpferische Ton der Rede und ihre geradezu mutige, wenn nicht selbstmörderische Offenheit machten deutlich, dass sich angesichts der drohenden Gefahr einer Zerstörung des freiheitlichen Verfassungsstaates die Gegensätze von Flügeln und Richtungen der SPD überbrücken ließen. Sie zeigte, dass nicht nur jüngere – als militant bezeichnete – Sozialdemokraten wie Julius Leber21, Kurt Schumacher22 und Carlo Mierendorff23 kämpferisch-jugendliche Militanz verkörperten, die eine angeblich verantwortungsresistente Sozialdemokratie nach dem Ende der Regierung Müller im Sommer 1930 so sehr hatte vermissen lassen, als sich die Fraktion zu einer Tolerierung der Präsidialkabinette bereit erklärte. Wels sprach sich gegen die Ausschaltung einer jeglichen Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten aus und warnte umso mehr vor der „Allmacht der Regierung“, als die Pressefreiheit faktisch durch Verbote, Zensur und Besetzung von Redaktionsgebäuden abgeschafft worden war. Damit wies er deutlich auf den nicht nur von der neuen Regierung beabsichtigten, sondern durch das Verbot der KPD und die Verfolgung sozialdemokratischer Abgeordneter vollzogenen faktischen Verfassungsbruch der Regierung hin. Es ging mit der Ermächtigung der Regierung als Gesetzgeber nicht nur um die Aufgabe des Gesetzgebungsrechts, sondern um die Zerstörung des Rechtsstaates, die in den ersten Notverordnungen der Regierung Hitler-Papen angelegt worden war und die „Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat“ vom 28.2.1933 zum neuen Fundament der nationalsozialistischen Verfassung machte. Alles dies lag vor Augen – nicht recht vorstellbar waren allerdings 20 Rosenberg hatte dies in einem Artikel im Völkischen Beobachter vom 26.8.1932 ähnlich formuliert. 21 Dorothea Beck, Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983. 22 Volker Schober, Der junge Kurt Schumacher 1895–1933, Bonn 2000. 23 Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943, Berlin 1987.

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die Konsequenz und die Brutalität, mit der die Nationalsozialisten ihre Gegner verfolgten, in wenigen Tagen den pluralistischen Parteienstaat beseitigten, den Rechtsstaat schleiften und ein neues politisches Prinzip institutionalisierten, das den Reichskanzler zum „Führer“ der „Volksgemeinschaft“ machte. Bereits zu Beginn der entscheidenden Reichstagssitzung wurde überdeutlich, dass die Selbstentmachtung des deutschen Parlaments nicht mehr verhindert werden könnte. Die Zentrumsfraktion und die kleineren bürgerlichen Parteien hatten sich längst bereit erklärt, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen. Aber darauf kam es in dieser schwarzen Stunde des deutschen Parlamentarismus nicht an. Denn es ging um ein Zeichen des Muts und der Begeisterungsfähigkeit, um die Demonstration von Kampfbereitschaft und die Bekräftigung einer politischen Kompromisslosigkeit. Die sozialdemokratischen Abgeordneten, lange verunglimpft als Feinde des bürgerlichen Verfassungs- und Nationalstaates, wollten durch ihre Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes das parlamentarische System in dem Augenblick noch einmal demonstrativ verteidigen, als es von den bürgerlichen und konservativen Parteien preisgegeben und in einen zentralistischen Einparteien- und Führerstaat verwandelt wurde. Sie gehörten nun ersichtlich nicht zu den angeblichen Staatsfeinden, sondern verteidigten die Weimarer Verfassungsordnung. Hatten auch letztlich die destruierenden Kräfte ihren Triumph davongetragen, so hatten sich die Sozialdemokraten als prinzipienfest gezeigt. Die politische Rechte galt seitdem als Zerstörer des „Weimarer Systems“. Preisgegeben aber wurde die Republik auch von ehemaligen Vernunftrepublikanern, die niemals akzeptiert hatten, dass die Weimarer Republik ein Kernanliegen sozialdemokratischer Herzensrepublikaner gewesen war; diese hatten sich zuweilen als „Arzt und Erbe“ der kapitalistisch-bürgerlichen Demokratie gefühlt und mussten nun innerlich bewältigen, dass ihre Werte und Grundsätze nichts mehr galten. Aufrecht vom Platz zu gehen, das war vielleicht die letzte Möglichkeit, Würde und Selbstachtung zu demonstrieren. Für dieses Ziel stand Otto Wels. Zwei Tage nach dem Tag von Potsdam24, der die Verbindung des Generalfeldmarschalls mit dem einfachen Soldaten, also von Hindenburg und Hitler demonstrierte, nutzte Wels die Gelegenheit zu einer Antwort und Klarstellung. Seine Fraktion war durch Krankheitsfälle geschwächt, vor allem aber durch Terror dezimiert. Einige der als krank verzeichneten Personen waren Opfer von Übergriffen. Sie waren zusammengeschlagen oder bereits festgenommen worden. Die Rede, die Otto Wels hielt, war so auch mehr als ein letzter ver24 John Zimmermann, Der Tag von Potsdam, in: Michael Epkenhans/Carmen Winkel (Hg.), Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung, Freiburg i.Br. 2013, S. 69–90.

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zweifelter Appell in einer dramatischen und ausweglosen Situation. Es war der Aufruf an seine Parteifreunde, sich zu den Grundlagen des freiheitlichen Verfassungsstaates, zur Weimarer Republik mit Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung zu bekennen. Längst war die Sozialdemokratie zur Partei geworden, die den Pluralismus verteidigte und daraus ihr antidiktatorisches Bekenntnis ableitete. Dies bedeutete, zu dem in der Verfassung festgelegten Minderheitenschutz zu stehen. Der aber setzte Respekt vor der Überzeugung der Andersdenkenden voraus. Wels begann sehr moderat und gab zu erkennen, dass die SPD-Fraktion die Forderung einer außenpolitischen Gleichberechtigung durchaus unterstützte. Er widersetzte sich nicht nur der Behauptung Hitlers, die SPD habe die These von der alleinigen Kriegsschuld vertreten, sondern erinnerte daran, dass er selbst als „erster Deutscher“ schon Anfang Februar 1919 dieser Kriegsschuldthese widersprochen habe. Hitler hatte die Sozialdemokraten als vaterlandslose Gesellen charakterisieren wollen – Wels erinnerte daran, dass Sozialdemokraten den Nationalstaat akzeptiert und verteidigt hatten. Hier klingt bereits die Unterstützung an, die die SPD-Fraktion in der Sitzung vom 17. Mai dem außenpolitischen Programm Hitlers zollte, soweit es auf die Überwindung der Folgen des Versailler Vertrages zielte. Wels sprach Hitler das Recht ab, sich zum Garanten einer nationalen Revolution zu machen. „Zerstörung des Bestehenden“, sagte er, „ist noch keine Revolution“. Die Fortschritte sozialdemokratischer Ausgestaltung der Verfassung gab er nicht preis und relativierte sie nicht: „Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen“, betonte er. Deshalb sah er die Sozialdemokratie als Kraft, die ein Deutschland „geschaffen [hätte], in dem nicht nur den Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates [offenstünde].“ Bei dieser Passage vermerkte das Protokoll nicht, wie so oft im Laufe von Wels’ Rede: „Lachen bei den Nationalsozialisten“. Noch stiller wurde es, als Wels erklärte, ihm sei bewusst, dass sich „machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen“ ließen. Dies hatte die Reaktion des Reichstags und des als Verfassungsgericht fungierenden Reichsgerichts auf Papens Preußenschlag vom 20.7.1932 gezeigt. Wels endete aber keineswegs resignierend, wenn er prophezeite, das „Rechtsbewusstsein des Volkes [sei] eine politische Macht“. Deshalb würden Sozialdemokraten nicht aufhören, „an dieses Rechtsbewusstsein“ zu appellieren. Deshalb bekannte sich Wels „zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes …, zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“ Er verkörperte einen Zukunftsoptimismus, der mitreißen sollte: Die „Ideen“, zu denen er sich bekannte, könnten nicht durch ein Ermächtigungsgesetz „ver-

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nichtet“ werden. Im Gegenteil: „Neue Verfolgungen“ könnten dazu dienen, „neue Kraft zu schöpfen“. Sein abschließender Appell ging in viele Darstellungen zur sozialdemokratischen Parteigeschichte ein: „Wir grüßen die Verfolgten und die Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht (Lachen bei den Nationalsozialisten – Bravo! bei den Sozialdemokraten) verbürgen eine hellere Zukunft.“ Wels hatte nicht nur das Selbstverständnis der Sozialdemokratie kongenial empfunden, sondern auch Hitler im Kern getroffen. In seiner Erwiderung gelang es Hitler nicht, einen zusammenhängenden Gedanken zu entfalten, vielmehr begnügte er sich mit einer geradezu rasenden Polemik. Er bezichtigte Wels des Landesverrats, bezeichnete die Weimarer Verfassung als vom Ausland oktroyiert und bekannte sich dazu, dass „Recht allein leider noch nicht genüge, man muss auch die Macht besitzen“. Schließlich geiferte er: „Sie, meine Herren (zu den Sozialdemokraten) sind nicht mehr benötigt“. So endete der Ausfall gegen Wels und dessen Fraktion und mit Heil-Rufen aus der NSDAP-Fraktion mit der Erklärung, er, Hitler, wolle „auch gar nicht, dass Sie dafür stimmen. Deutschland soll frei werden, aber nicht durch sie“. Wels hatte sein Ziel erreicht. Er hatte nicht nur ein Zeichen der Siegesgewissheit gegeben und auf diese Weise die Würde und den Anstand der Sozialdemokratie verteidigt, sondern Hitler so massiv herausgefordert, dass dieser seine Fassung verlor. Die von Wels vorgetragene „letzte“ Rede wurde so zur wichtigsten seines politischen Lebens. Es ist deshalb nicht abschätzig, wenn betont wird, dass in ihr keine programmatische Perspektive entwickelt wurde. Diese war viel entschiedener im sozialdemokratischen Aufruf zur Reichstagswahl angelegt, der am 2.2.1933 etwa die Enteignung der Großgrundbesitzer zugunsten von kleineren Bauern und Landarbeitern, aber auch die Enteignung der Schwerindustrie gefordert hatte. Mit diesen Forderungen war ein Thema angeschlagen, dass geradezu nahtlos zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Politik in der Entstehungsphase der Weimarer Republik führte.

7. Politisch bedrängt, aber zukunftsoptimistisch Friedrich Stampfer hatte bereits am 12.2.1933 einen Nichtangriffspakt zwischen SPD und KPD angeregt, war aber bei der KPD-Führung auf Widerspruch gestoßen. Zugleich wurde etwa bei einer gleichentags stattfindenden Demonstration der Eisernen Front deutlich, dass die sozialdemokratische und freigewerkschaftliche Arbeiterbewegung zumindest verbal Kampfbereitschaft signalisierte, während hingegen der ADGB-Vorsitzende Leipart die Gefahr

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einer Desintegration der Arbeiterschaft aus dem Staat beschwor. Die Mehrheit der Anhänger des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ fand sich in der Rede des Vorsitzenden des Reichsbanners Karl Höltermann wieder, die dieser vor dem Berliner Schloss hielt. Sie gipfelte in der Prophezeiung: „Nach Hitler kommen wir. Es werden wieder die deutschen Republikaner sein, die einen Scherbenhaufen aufräumen müssen.“ Erstes Etappenziel der Nationalsozialisten war die Ausschaltung der gesamten Arbeiterbewegung. Die KPD-Führung traf es bereits Ende Februar. Am 23. März war es Hitler mit dem Ermächtigungsgesetz gelungen, die Mitwirkung des Reichstags an der Gesetzgebung zu beseitigen. Damit schwand endgültig der sozialdemokratische Einfluss im Parlament. Wenige Wochen später, unmittelbar nach dem 1. Mai 1933, wurden die Gewerkschaften zum Ziel nationalsozialistischer Verfolgung. Kurz darauf traf es die SPD endgültig, sie wurde mit anderen Parteien verboten. In den lokalen Konzentrationslagern wurden zunächst vor allem Angehörige der Arbeiterbewegung eingeschüchtert und misshandelt. Zweites Hauptziel der Nationalsozialisten wurde die kulturelle und mediale Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft. Erst danach konnten die ideologischen Ziele verwirklicht werden, die schließlich in Weltkrieg, Menschenvernichtung und Verlust der nationalen Einheit mündeten. Die NSDAP überrannte nach der Unterdrückung der Arbeiterbewegung förmlich den Staat und seine Institutionen. Sie konnte ihr Ziel schnell erreichen, weil in der deutschen Gesellschaft die Bereitschaft zur gesellschaftlichen und politischen Unterwerfung verbreitet war. Proteste blieben nicht aus. Sie steigerten sich zum Widerstand, zunächst vor allem aus der Arbeiterbewegung, die wegen der antimarxistischen Ziele der NSDAP geradezu als „geborener“ Gegner der Partei Hitlers bezeichnet werden muss. Intellektuelle emigrierten, um ihrer Einweisung in Konzentrationslager zu entgehen. Die Kommunisten erfuhren früh die ganze Wucht des nationalsozialistischen Terrors, der Gegner ausgrenzen und lähmen, die Öffentlichkeit durch ihre Konfrontation mit der Gewaltherrschaft beeindrucken und wehrlos machen sollte. Weitere Massenverhaftungen nach dem Brandanschlag auf den Reichstag vom 27.2.1933 und die unmittelbare Konfrontation mit einem rasch expandierenden und zunehmend wirksameren Unterdrückungsapparat ließen die KPD von dem massenhaften oder gar „legalen“ Protest und einem offenen Widerstand Abstand nehmen. Die politischen Frontstellungen der Weimarer KPD blieben allen antifaschistischen Bekundungen zum Trotz auch nach 1933 noch lange Zeit bestimmend.25 Die „Ge25 Hermann Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929– 1933, Düsseldorf 1982; Siegfried Bahne, Die KPD und das Ende von Weimar, Frankfurt a.M. 1976.

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nerallinie“26 der KPD, die sich nicht zuletzt gegen den angeblichen sozialdemokratischen „Sozialfaschismus“27 gerichtet hatte, bestimmte deshalb auch die Vorstellung einiger Sozialdemokraten von einer antifaschistischen Aktionseinheit oder gar „Aktionsfront“28. Eine Gemeinsamkeit der SPD mit der KPD war bei den als „Bruderkampf“ empfundenen Auseinandersetzungen mit der stalinisierten KPD-Führung undenkbar und beförderte eine antitotalitäre Grundhaltung, die gleichsam erfahrungsgesättigt war. Sie prägte deshalb die Analysen der SPD, weit über die Korrektur der Sozialfaschismusthese 1935 durch das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale hinaus. Andererseits erleichterte die gegenüber der KPD empfundene Konkurrenz der SPD die Formulierung einer in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhalten der SPD in der Frühphase der Weimarer Republik radikalen Position, wie sie auch dann im „Prager Manifest“ der SOPADE-Führung zum Ausdruck kam.29 Die emigrierte KPD-Führung wollte durch Widerstandsaktionen den nationalsozialistischen Herrschaftsanspruch und vor allem auch die Ideologie der Volksgemeinschaft in Frage stellen und die nationalsozialistische Propaganda unglaubwürdig machen. Deshalb waren ihr die Bekundungen eines öffentlichen Widerspruchs, manifestiert durch Wandparolen, Protest und Verweigerung, so wichtig – mit dem Ergebnis, dass die Gestapo rasch zugreifen und die kommunistischen Widerstandsgruppen bis 1935/36 größtenteils zerschlagen konnte. Deshalb blutete das kommunistische Widerstandspotenzial in der Mitte der 30er Jahre weitgehend aus. Die kommunistischen Gruppen mussten immer konspirativer vorgehen und machten sich nach 1939 zunehmend unabhängig von ihrer angeblichen Auslandsleitung. Die Unflexibilität der illegalen und emigrierten KPD-Führung verhinderte vergleichsweise lange eine selbstkritische Beurteilung der früheren „sozialfaschistischen Generallinie“ und rechtfertigte so zugleich jene Kritiker in sozialistischen Kleingruppen und in der SPD, die Demokratie und Sozialismus als Ausdruck eines westlich orientierten Freiheitswillens verbinden wollten und erheblich zur ansatz-

26 Hermann Weber (Hg.), Die Generallinie. Rundschreiben des Zentralkomitees der KPD an die Bezirke 1929–1933, Düsseldorf 1981. 27 Klaus Schönhoven, Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989. 28 Frank Moraw, Die Parole der ‚Einheit‘. Zur parteiorganisatorischen und gesellschaftspolitischen Orientierung der SPD in der Periode der Illegalität und in der ersten Phase der Nachkriegszeit 1933–1948, Bonn-Bad Godesberg 1973. 29 Johannes Tuchel, ‚Die Kunst des Selbstrasierens‘: Das Prager Manifest vom 10. Januar 1934, in: Kruke/Woyke (Hg.), Sozialdemokratie, S. 188–193.

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weisen Modernisierung der Weimarer Sozialdemokratie beigetragen hatten.30 Ihre Anhänger suchten bei der stalinisierten KPD niemals einen politischen Rückhalt, sondern beteiligten sich in Prag, später in Paris, Stockholm, London oder in den USA auf Seiten der westlichen Demokratien am Kampf gegen den Nationalsozialismus.31 Die Haltung der Gewerkschaftsführung wurde vielfach kritisiert32, kann heute aber differenzierter gewürdigt werden33. Dass ein breiter Massen-Widerstand erfolgreich sein konnte, hatte sich im März 1920 im Zuge der Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches gezeigt.34 Allerdings lässt sich die damalige Konstellation nicht mit der im Frühjahr 1933 vergleichen. Sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Massenwiderstand hätte nach dem 30. Januar 1933 kaum eine Chance gehabt und möglicherweise dasselbe Schicksal erlitten wie ein gutes Jahr später die österreichischen Sozialisten, die einen Aufstand wagten und in blutigem Kampf unterlagen. Lähmend wirkte sich bei vielen Sozialdemokraten auch die immer wieder beschworene Orientierung an ihrer Legalitätsstrategie aus. Die Sozialdemokratie hatte zudem im Frühjahr 1933 schwere Zerreißproben zu bestehen, vor allem, als einige führende Funktionäre im Mai 1933 außenpolitische Gemeinsamkeiten mit dem neuen Regime betonten, vielleicht um so weitere Verfolgungen ihrer Anhänger abzuwehren. Andere, unter ihnen auch der bereits seit Ende Januar 1933 inhaftierte und erst infolge einer Massendemonstration wieder aus der Haft entlassene junge Reichstagsabgeordnete Julius Leber, kritisierten die Fraktions- und Parteiführung wegen dieser Anpassung entschieden und scharfsinnig. Julius Leber, der später mit Freunden wie Carlo Mierendorff und Theodor Haubach 30 Wolfgang Luthardt (Hg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927–1933, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1978. 31 Erich Matthias, Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933–1945, Stuttgart 1952; Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999. 32 Hans-Gerd Schumann, Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Vernichtung der deutschen Gewerkschaften und der Aufbau der „Deutschen Arbeitsfront“, Hannover 1958. 33 Hagen Schulze (Hg.), Anpassung oder Widerstand? Aus den Akten des Parteivorstands der deutschen Sozialdemokratie 1932/33, Bonn 1975; Siegfried Mielke, Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jh., Bd. 5: Gewerkschaften im Widerstand und in der Emigration, Frankfurt a.M. 1999. 34 Julius Leber, Schriften, Reden, Briefe, Hg. Dorothea Beck/Wilfried Schoeller, München 1976.

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zum Kreisauer Kreis stieß, kritisierte an der Weimarer Sozialdemokratie, dass neben politischem Realismus und Rationalität keine Zukunftsvisionen entwickelt worden seien. Er wurde lange Jahre gefangen gehalten und gefoltert, ohne dass die Nationalsozialisten seinen Widerstandswillen brechen konnten, stieß später zum Kreis um Stauffenberg und wurde Anfang 1945 hingerichtet. Jüngere Sozialdemokraten wie Wilhelm Hoegner blickten später geradezu im Zorn zurück und übernahmen auch in ihrer kritischen Haltung Mitverantwortung an dem politischen Scheitern ihrer Partei.35 Sie bereiteten sich auf die Pflege „sozialdemokratischer Gesinnung“ in der Illegalität vor. Einige, wie die Reichstagsabgeordnete Toni Pfülf, resignierten angesichts der Haltung der Parteiführung und begingen Selbstmord.

8. Brückenschlag und späte Neuansätze Der sozialdemokratische Widerstand war im Unterschied zum mehr kämpferisch nach außen gerichteten, in Wandparolen sichtbar gemachten kommunistischen Widerstand vor allem durch den Versuch der „Gesinnungspflege“ und Gesinnungsfestigung durch fortwirkende Milieukontakte sowie theoretische und programmatische Rückbesinnung geprägt. Sozialdemokraten fanden sich in den früheren Zentren in Diskussionskreisen zusammen und versuchten zunächst, vor allem die Frage nach den Gründen für das Scheitern der Republik von Weimar zu beantworten – danach waren sie aber auch bestrebt, die Voraussetzungen einer Zusammenarbeit von sozialdemokratischen und sozialistischen Gruppen wie „Neu Beginnen“36, „Roter Stoßtrupp“37 und „Sozialistische Aktion“ zu klären38. Daneben ging es auch um die Sicherung einer Gegenöffentlichkeit, d.h. um eine von den Nationalsozialisten nicht kontrollierte politische Kommunikation durch Flugschriften. 35 Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution, München 1958; ders., Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik, München 1977. 36 Walter Loewenheim, Geschichte der Org [Neu Beginnen] 1929–1935. Eine zeitgenössische Analyse, Hg. Jan Foitzik, Berlin 1995. 37 Hans-Rainer Sandvoß, Die „andere“ Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945, Berlin 2007, S. 76–84; Dennis Egginger, Der Rote Stoßtrupp, in: Hans Coppi/Stefan Heinz (Hg.), Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Berlin 2012, S. 91–106. 38 Vgl. allg. Hartmut Mehringer, Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner, München 1997.

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Es galt, sich in Gesinnungskreisen auf den Kampf gegen das Regime in der Illegalität vorzubereiten. Besonders wichtig wurden kleine Zirkel, die vielfach von Mitgliedern kleiner sozialistischer „Brückenparteien“ wie der „Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP)39, dem „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“ (ISK)40 oder der „KPD (Opposition)“41 gebildet wurden. Die Wirkung dieser Gruppen lag in der gelungenen Beeinflussung der emigrierten SPD-Führung unter Erich Ollenhauer, in ihrem Einfluss, den sie auf alliierte Nachkriegsplanungen nehmen konnten42, nicht zuletzt aber auch in der wirksamen Prägung der weiteren sozialdemokratischen Programmdiskussionen, die nach dem Krieg den politischen Weg der SPD begleiten sollten. Im sozialdemokratischen Widerstand hatte sich die Möglichkeit eines antitotalitären Widerstands von links abgezeichnet: Hier manifestiert sich der demokratische Sozialismus als Alternative zum antidemokratischen Widerstand der Kommunisten und die Relativierung des Anspruchs aller „Antifaschisten“, die sich dem westlich-liberalen Verfassungsverständnis und Demokratiegebot verweigerten, sich auch im Widerstand und vor allem im Exil weiterhin an den Interessen und Positionen der Sowjetunion orientierten43 und so die in Frankreich und im Spanischen Bürgerkrieg proklamierte „Volksfront“ aller Gegner des Faschismus und Nationalsozialismus scheitern ließen. Weil sich sozialdemokratische Regimegegner auf die engeren Freundeskreise ihres Vertrauens 39 Jörg Bremer, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Untergrund und Exil 1933–1945, Frankfurt a.M. 1978; Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1965. 40 Sabine Lemke-Müller, Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988; dies., Ethik des Widerstands. Der Kampf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) gegen den Nationalsozialismus. Quellen und Texte zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933–1945, Bonn 1996; Heiner Lindner, „Um etwas zu erreichen, muss man sich etwas vornehmen, von dem man glaubt, dass es unmöglich sei“. Der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) und seine Publikationen, Bonn 2006. 41 Karl Hermann Tjaden, Struktur und Funktion der „KPD-Opposition“ (KPO). Eine organisationssoziologische Untersuchung zur „Rechts“-Opposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1964. 42 Werner Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940– 1945. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, Bonn-Bad Godesberg 19732; Johannes Klotz, Das ‚kommende Deutschland‘. Vorstellungen und Konzeptionen des sozialdemokratischen Parteivorstandes im Exil 1933– 1945 zu Staat und Wirtschaft, Köln 1983. 43 Klaus Mammach, Widerstand 1933–1939, Berlin (Ost) 1984; ders., Widerstand 1939– 1945, Berlin (Ost) 1987.

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konzentrierten und somit auch öffentlich zurückhaltender agierten, gelang es den nationalsozialistischen Verfolgern im Vergleich zum kommunistischen Widerstand oft nicht, tief in dass sozialdemokratische Beziehungsgeflecht einzudringen. Deshalb war die Zahl inhaftierter Sozialdemokraten wesentlich geringer als die verhafteter und verurteilter Kommunisten. In die sich viel später herausbildenden Kreise der konservativeren Regimegegner um Carl Friedrich Goerdeler und Ludwig Beck konnten sich ehemals als „militant“ bezeichnete Sozialdemokraten einbinden. Sie wurden von den Mitgliedern der militärischen und bürgerlichen Opposition, die zum nationalkonservativ gesonnenen Widerstand enge Verbindungen hatten, als wichtige Brücke zur Arbeiterschaft angesehen. Mit ihrer Hilfe ließ sich der Zugang zur breiteren Bevölkerung sichern. Dies war für einen Erfolg des Anschlags auf Hitler notwendig, weil aus ihrem „bürgerlichen“ Widerstand ohne Volk ein Widerstand aus dem Volk werden sollte, der Elitenwiderstand sich also eine Massenbasis zu sichern hoffte. Neben den Kommunisten waren vor allen die führenden Mitglieder der freien Gewerkschaften und der SPD in der Frühphase des sich konsolidierenden NS-Systems besonders bedroht. Die Vorstände der Gewerkschaften waren zunächst bestrebt, auch nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler nach Kompromissen mit Tarifpartnern und Vertretern der neuen Regierung zu suchen. Gewerkschafter wandten sich anfangs nicht grundsätzlich gegen die neue Regierung, weil sie in ihr sogar einen Garanten der staatlich garantierten Tariffreiheit und Sozialstaatlichkeit erkennen wollten. Wie verhängnisvoll diese Überlegung war, zeigte sich unmittelbar nach dem 1. Mai 1933 mit dem Sturm auf Gewerkschafts- und Volkshäuser. Nun wurde deutlich, wie verhängnisvoll es sein konnte, in der Auseinandersetzung mit der nicht nur deklamatorisch antimarxistischen und gewaltbereiten Hitler-Regierung eine Bereitschaft zum Kompromiss und den Willen zu Kooperation beweisen zu wollen. Manche Gewerkschafter haben später in Gefängnis- und Lagerhaft unter den Folgen dieser Fehleinschätzung gelitten.44 Dennoch gab es in manchen Betrieben trotz einer sich dem Nationalsozialismus doch überraschend gefügig erweisenden Arbeiterschaft eine 44 Vgl. die beeindruckende Forschungsleistung von Siegfried Mielke, Gewerkschafter in den Konzentrationslagern Oranienburg und Sachsenhausen. Biographisches Handbuch, Bd. 1–4, Berlin 2002–2013; ders. (Hg.), Gewerkschafterinnen im NS-Staat. Verfolgung, Widerstand, Emigration, Essen 2008; ders., „Seid wachsam, dass über Deutschland nie wieder die Nacht hereinbricht.“ Gewerkschafter in Konzentrationslagern 1933–1945, Berlin 2011; ders. (Hg.), Funktionäre des Deutschen Metallarbeiterverbandes im NSStaat. Widerstand und Verfolgung, Berlin 2012; ders. (Hg.), Funktionäre des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins im NS-Staat. Widerstand und Verfolgung, Berlin 2012.

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gewerkschaftlich geprägte innerbetriebliche Opposition, die durchaus auf einzelne Betriebsangehörige und Funktionäre zurückgreifen konnte. Bemerkenswert war vor allem der „Generalstreik der Arbeiter in Mössingen“ auf der Schwäbischen Alb, wo sich zeigte, dass es auf lokaler Ebene über innere politische Grenzen der Arbeiterbewegung hinweg die Möglichkeit eines gemeinsamen Handelns gab.45 Nach 1933 blieben Grenzen zwischen gewerkschaftlichem und politischem Widerstand aus den Arbeiterbewegungen stets fließend. In die Zukunft wies der Wunsch einiger Gewerkschafter, in der politischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaftsideologie“ und der Politik des NS-Regimes, nicht zuletzt auch im Konflikt mit nationalsozialistischen Betriebszellen und mit der „Deutschen Arbeitsfront“46 die Konturen einer neuen Einheitsgewerkschaft zu entwickeln und damit endgültig politische Differenzen zwischen Richtungsgewerkschaften zu überwinden. Aus diesen Diskussionen entstanden entscheidende Kontakte zwischen Gewerkschaftern, die verschiedene und bis dahin sogar sich unvermittelbar gegenüberstehende Kreise zusammenführten und insbesondere Wilhelm Leuschner47 zur führenden Persönlichkeit der Gewerkschaftsbewegung im Untergrund machten. Er pflegte enge Verbindungen zu den Berliner Widerstandskreisen um Goerdeler und Beck, gehörte zum Kreisauer Kreis48 und war im Falle eines gelungenen Anschlags auf Hitler nach dem Umsturz als Vizekanzler vorgesehen. Leuschner verkörperte die neben Julius Leber wichtigste Verbindung zwischen militärischem und bürgerlichem Widerstand in Berlin und gewann das Vertrauen von Personen und Gruppen, die bis dahin kein positives Verhältnis zur Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung entwickelt hatten. Wichtige Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung im bürgerlich-militärischen Widerstand waren Theodor Haubach, Carlo Mierendorff und Adolf Reichwein49 als Vertreter 45 Hermann Berner/Bernd Jürgen Warneken (Hg.), „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier!“ Das „rote Mössingen“ im Generalstreik gegen Hitler, Mössingen 2012. 46 Matthias Frese, Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933–1939, Paderborn 1991; Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933–1945, Göttingen 2012. 47 Axel Ulrich, Wilhelm Leuschner – ein deutscher Widerstandskämpfer. Für Freiheit und Recht, Einheit der Demokraten und eine soziale Republik, Wiesbaden 2012. 48 Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967; Volker Ullrich, Der Kreisauer Kreis, Reinbek 2008. 49 Gabriele C. Pallat u.a. (Hg.), Adolf Reichwein. Pädagoge und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914–1944), Paderborn 1999; Ullrich Am-

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der Sozialdemokratie, auch Jakob Kaiser50 und Bernhard Letterhaus aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung51. Sie hatten, wie Leber, sogar Kontakt zu den Vertretern eines von der Moskauer Exilführung um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck unabhängig agierenden kommunistischen Widerstands in Berlin um Anton Saefkow52 gesucht, um auf diese Weise die „Massenbasis“ des Widerstands zu erweitern und aus dem Anschlag auf Hitler einen Umsturz des Gesamtsystems zu machen. Nach der Überwindung des Schocks, den der „Hitler-Stalin-Pakt“ für die Regimegegner in der Arbeiterbewegung bedeutete53, wurden im Laufe des Krieges die Verbindungen zwischen deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten im Widerstand enger als jemals in den Jahrzehnten zuvor. In der gemeinsam erlittenen Verfolgung und durch die Hafterfahrungen schwächten sich viele der früher erbittert ausgetragenen Konflikte ab. Die lokal und regional aktiven Gruppen widerständiger Kommunisten entwickelten zudem eine große Eigenständigkeit gegenüber der früheren Parteiführung der KPD und überwanden so die lange stark lähmende ideologische Selbstisolation. Im Juni 1944 nahmen die Sozialdemokraten Julius Leber und Adolf Reichwein auf Aufforderung Stauffenbergs Kontakt zu einer Berliner kommunistischen Gruppe um Anton Saefkow auf.54 Im Kreisauer Kreis wurden sozialdemokratische und gewerkschaftliche Fragen diskutiert und schlugen sich sogar in einem Manifest zur „Sozialistischen Aktion“55 nieder. Kennzeichen dieses Aufrufs ist seine Vielschichtigkeit. Es ging um Aktion, aber nicht um die nackte Tat, schon gar nicht um eine Demonstration des blanken politischen Willens. Tragende politische Begriffe fallen ins Auge: „Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit, Beseitigung des Gewissenszwanges und unbedingte Toleranz in Glaubens-, Rassen- und Nationalitätenfragen“ stehen neben der Forderung, die „sozialistische Ordnung der Wirtschaft“ zu realisieren, „um lung, „… in der Entscheidung gibt es keine Umwege“. Adolf Reichwein 1898–1944. Reformpädagoge, Sozialist, Widerstandskämpfer, Marburg 20033. 50 Elfriede Nebgen, Jakob Kaiser. Der Widerstandskämpfer, Stuttgart 1967. 51 Michael Schneider, Die christlichen Gewerkschaften 1894–1933, Bonn 1982. 52 Ursel Hochmuth, Illegale KPD und Bewegung „Freies Deutschland“ in Berlin und Brandenburg 1942–1945. Biographien und Zeugnisse aus der Widerstandsorganisation um Saefkow, Jacob und Bästlein, Teetz 1998. 53 Anna Kaminsky u.a. (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011. 54 Johannes Tuchel, Kontakte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten im Sommer 1944. Zur historischen Bedeutung des 22. Juni 1944, in: Dachauer Hefte 11 (1995), S. 78–101. 55 Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand (wie Anm. 48), S. 589 f. spricht allerdings neutral von einem „Aufruf Mierendorffs“, datiert auf den 14.6.1943.

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menschenwürdige und politische Freiheit zu verwirklichen“ und „den bürokratischen Zentralismus abzubauen“. Visionär klingen die Forderung und das Versprechen einer „aufrichtigen Zusammenarbeit mit allen Völkern, insbesondere in Europa mit Großbritannien und Sowjetrußland“. Der Aufruf zur „sozialistischen Aktion“ belegt den Willen der Gegner Hitlers, eine qualitativ neue, liberaldemokratische, freiheitlich geprägte Ordnung zu errichten, in keiner Weise aber die vorrangige Bedeutung von Aktionen an sich zu betonen oder gar die Vereinheitlichung des Parteiensystems durch die Schaffung von Einheitsparteien zu fördern. So betrachtet, wirkte sich bei der Formulierung dieses Aufrufs die Erfahrung der Verfolgung, aber auch der Wille aus, die eigenen Ziele respektiert zu sehen. Der Sozialismus gehörte zu den großen Zielen der politischen, kulturellen und konfessionellen Volksbewegungen. Er saugte diese weder auf noch wollte er sie unterordnen, aber er hatte das Recht, neben diesen Bewegungen zu stehen und in den neuen Kompromiss integriert zu werden, der sich im Widerstand, dem Gegensatz zum Nationalsozialismus, abzeichnete. Die überlieferten Verhörprotokolle nach der Verhaftung von Leber, Reichwein und Saefkow machen deutlich, in welchem Maße Kommunisten und Sozialdemokraten im Widerstand von einem Willen zur gemeinsamen Ablehnung des NS-Regimes geleitet wurden. Sie haben das bei den Verhören, über die wir durch die vor einigen Jahren aufgefundenen Protokolle der Gestapo informiert werden, nicht abzuschwächen versucht. Spürbar ist auch, dass sie sich für die Repräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung hielten, so wie sich Leuschner als Repräsentant der Gewerkschaftsbewegung empfand. Weiterhin trennte Sozialdemokraten und Kommunisten vieles, wenngleich sich mit dem Krieg ihr Gegensatz abgeschwächt hatte. Kommunisten hatten nach 1939 erleben müssen, dass kommunistische Emigranten von Stalin sogar an die Nationalsozialisten ausgeliefert worden waren. Leber und Reichwein hingegen waren seit 1933 zu sehr eigenständig reflektierenden Sozialdemokraten geworden, die wussten, was Kommunismus und Sozialdemokratie trennte, ohne Furcht vor der Vereinnahmung durch die kommunistische Parteiführung zu hegen. Um Hitler zu beseitigen, müsse man sich sogar mit dem Teufel einlassen – aber deshalb war mit ihnen keine Einheitspartei zu machen. Hitler sollte gestürzt werden, die politische Neuordnung war eine Frage der sich anschließenden Auseinandersetzung nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus.

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9. Das „Prager Manifest“ und der revolutionäre Sozialismus Der entscheidende programmatische Neuansatz der Sozialdemokratie erfolgte allerdings bereits 1933/34 im Exil. In seiner Schrift „Neu beginnen“56 hatte „Miles“ (W. Löwenheim) geradezu kämpferisch konsequent den völligen Bruch mit der Vergangenheit gefordert. Damit lenkte er zugleich den Blick auf die Entstehung der Weimarer Republik, um deren Scheitern zu verstehen und mit Überlegungen zu verbinden, die gleichsam aus zeitgeschichtlicher Erfahrung Maximen künftiger Praxis formulierten. Der Text war aber nicht nur eine retrospektive Selbstkritik, sondern ließ sich zugleich als Aufforderung lesen, gegen die Überalterung der sozialdemokratischen Führungsgruppe einen politischen Generationsbruch einzuleiten. „Die alte Form, der alte Apparat ist nicht mehr, und Versuche zu seiner Wiederbelebung entsprechen nicht den neuen Kampfbedingungen.“57 Gefordert wurde von „Miles“ noch in optimistischer Verkennung der Lage, den Schwerpunkt des künftigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus nicht im Ausland, sondern in Deutschland selbst zu leisten, wobei den Betrieben eine besondere Bedeutung zukommen sollte. Diese Einschätzung spiegelte sich noch in den frühen „grünen“ Deutschland-Berichten der SOPADE58, bis der Korrespondenzcharakter der Berichte deutlich wurde: Es galt, die europäische Öffentlichkeit über die innenpolitischen Entwicklungen des NS-Systems zu informieren und dabei insbesondere auch Potenziale der Unzufriedenheit und des Protestes zu erfassen. Programmatisch in die Zukunft wies das unbedingte Bekenntnis zur politischen und sozialen Demokratie, das insofern bemerkenswert war, als dieser Wandel deutlich eine Veränderung in der zunächst stark von kommunistischen Einflüssen getragenen Gruppe um „Miles“ anzeigte. Nur auf dieser demokratisch-freiheitlichen Grundlage sei eine politische Neuordnung möglich. Damit war an die Stelle des Prinzips der so oft beschworenen „Gesetzlichkeit“ das aktionistische Prinzip der Demokratie59 getreten. Damit erfolgte die vor allem von den Kritikern des Parteivorstands erstrebte Rückkoppelung der in Ausei56 Miles, Neu beginnen, Karlsbad 1933; Jan Foitzik, Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40, Bonn 1986, S. 27 f. 57 Prager Manifest, Abschnitt I. 58 Werner Plum (Hg.), Die ‚Grünen Berichte’ der Sopade. Gedenkschrift für Erich Rinner (1902–1982), Bonn 1984, S. 49–119; Bernd Stöver, Loyalität statt Widerstand. Die sozialistischen Exilberichte und ihr Bild vom Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1995), S. 437–471. 59 Richard Saage, Demokratietheorien. Historischer Prozess–Theoretische Entwicklung– Soziotechnische Bedingungen, Wiesbaden 2005.

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nandersetzung mit Hitlers Herrschaft reformulierten politischen Ziele auf die Konstellationen und Situationen, auch auf die Interessen und damit auf den in Wahlergebnissen zum Ausdruck kommenden Willen der Mehrheit. Bestimmend blieb mit dieser strategischen Neuorientierung das Vertrauen in die Vernunft dieser demokratiebewussten Mehrheit.60 Demokratie und Humanität wurden – dies machte Kautsky im Frühherbst deutlich – gleichsam verschmolzen. Eine konzentrierte, nach außen gerichtete Revision des lange gepflegten Selbstbilds von der republiktreuen sozialdemokratischen Verfassungspartei war das Ergebnis eines internen Diskussionsprozesses. Dabei wurde die Selbstdefinition der SPD als „Bollwerk“ der Republik, der Demokratie und des Sozialismus korrigiert, indem nicht mehr allein die Herkunft der Partei und ihre Rolle bei der Begründung der Republik beschworen, sondern vor allem die sich 1918/19 bietenden Handlungsspielräumen thematisiert wurden. Zum ersten Jahrestag der Regierungsübernahme durch Hitler, die in Deutschland als „Machtergreifung“ zelebriert wurde, lag das neue, in sieben Teile gegliederte Programm vor und wurde am 28. Januar 1934 im „Neuen Vorwärts“ veröffentlicht. Das seit Herbst 1933 von Curt Geyer, Erich Rinner und Friedrich Stampfer vorbereitete, durch Walter Loewenheim beeinflusste, intensiv diskutierte61 und noch einmal maßgeblich von Georg Decker und Rudolf Hilferding überarbeitete Programm wurde schließlich am 10.1.1934 angenommen und als „Prager Manifest“62 bezeichnet. Es wurde vergleichsweise schnell in unterschiedlichen Formaten illegal im Reichsgebiet verbreitet.63 Bekannt wurde vor allem die kleine Tarnschrift, die laut Umschlag „von der Kunst des Selbstrasierens“ handeln sollte. Der Untertitel versprach, „Neue Wege männlicher Kosmetik“ zu erschließen. Diese Tarnschrift enthielt das gesamte neue Programm des „revolutionären Sozialismus“.64

60 Vgl. Klotz, Das ‚kommende Deutschland‘ (wie Anm. 42). 61 Vgl. auch Anton Staudinger, Die ‚sozialdemokratische Grenzländerkonferenz‘ vom 15. September 1933 in Salzburg, in: Viktor Flieder (Hg.), FS Franz Loidl zum 65. Geb., Bd. 3, Wien 1971, S. 247–260. 62 Vgl. Tuchel, Kunst (wie Anm. 29). Eine Deutung der DDR-Geschichtswissenschaft bietet Dieter Lange, Das Prager Manifest von 1934, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20 (1972), S. 843–872. 63 Vgl. etwa „Sozialistische Aktion“ v. 28.1.1934, Faksimilé als Material 4.12 der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. 64 Viele Exemplare befinden sich, sogar noch paketweise gebündelt, im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn. Tuchel, Kunst (wie Anm. 29), hat ermittelt, dass etwa 40.000 Tarnschriften und etwa 10.000 Exemplare der Sozialistischen Aktion verteilt wurden.

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In sieben Abschnitten wurde der selbstkritische Rückblick mit der Formulierung politischer Ziele und der Warnung vor Kriegsgefahren sowie der Beschwörung politischer Gemeinsamkeit verbunden, angesichts des Sieges der „deutschen Gegenrevolution“ über den „revolutionären Sozialismus“. Das als „totaler Staat“ bezeichnete NS-Regime wurde im Prolog durch Begriffe wie „Knechtschaft und Gesetzlosigkeit“ charakterisiert und der Arbeiterbewegung die Aufgabe zugeschrieben, die Unterwerfung der Gesellschaft durch „das Recht der Freiheit“, die Gesetzlosigkeit aber durch „die Ordnung des Sozialismus“ zu überwinden. Damit knüpfte das Programm an Analysen des italienischen Faschismus durch die politische Linke an65 und übertrug sie auf den NS-Staat, der bis dahin oftmals in eine Reihe mit den Präsidialregierungen seit Brüning gestellt – und entsprechend politisch verharmlost – worden war. Reflektiert wurde dabei aber nicht nur der eigene Wille, der sich im Programm niedergeschlagen hatte, sondern auch der politische Gegner, der „durch die Übermacht seiner Mittel, durch die Brutalität seiner Anwendung ... das Gesetz des Handelns bestimmt“. Die politische Diskussion in den sozialistischen Brückenparteien beeinflusste das Selbstbild dieser „kleinen Gruppen“ von sich als „Elite von Revolutionären“, die die verbreitete „Unzufriedenheit“ und „Enttäuschung“ nutzen könnte, die „Massengrundlage“ der NS-Herrschaft zu „erschüttern“, um anschließend „Gegensätze im Bewußtsein der Massen zu lenken“ und eine „revolutionäre Massenorganisation“ zu schaffen. In dieser Erwartung drückt sich ein Wandel des Parteiverständnisses aus, denn der Begriff der „Elite“ überschneidet sich mit dem Konzept der „Avantgarde“, das auch mit der Beschwörung des zu stärkenden „revolutionären Geistes“ an das leninistische Parteikonzept erinnert. Angesichts der Gewaltbereitschaft des NS-Regimes mussten die Bedingungen „illegaler Arbeit“ den Blick auf den Zustand der „deutschen Gesellschaft“ lenken. Er war nicht nur das Ergebnis historischer Entwicklungen und der „sich zuspitzenden Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft“, sondern auch der nationalsozialistischen Politik, die eine „Verschlechterung der Lebenshaltung“ zugunsten der „Willkür des Großkapitals“ bewirken müsste, „in dessen Interessen die Diktatur die Staatsmacht gestellt“ hätte.66 Durch die Finanzpolitik belastet, müsste die Bevölkerung einen Kampf um die „Sicherung ihrer materiellen Existenz“ führen und deshalb die – seit dem 28. Februar 1933 abgeschafften – Grundrechte der Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit verlangen und mit der Forderung gesicherter Koalitionsfreiheit verbinden. Dabei ginge es um die „Wiedereroberung“ der „demokratischen 65 Vgl. allg. Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1967. 66 Prager Manifest, Abschnitt 2.

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Bewegungsfreiheit“. Die „Bedrohung der Diktatur“ münde in den „Kampf um die Demokratie“ und erweitere „sich ... zum Kampf um die völlige Niederringung der nationalsozialistischen Staatsmacht“, den „Sturz der Despotie“. Der selbstbewusst geforderte „sozialistische Befreiungskampf“ spiegele eine „revolutionäre Situation“, die „von einer entschlossenen, von radikalem Kampfgeist durchseelten, von einer erfahrenen Elite geführten Partei des revolutionären Sozialismus“ die entscheidende Voraussetzung für die Niederringung der Diktatur als „Tat der Massen selbst“ darstelle. In diesen Passagen spiegeln sich nicht nur die Illusionen über eine sich gleichschaltende Gesellschaft, die – wie Götz Aly zeigen wollte67 – sich durch eine „Gefälligkeitsdiktatur“ nicht nur gleichschalten, sondern auch korrumpieren ließ. Entscheidender als die aus den Berichten über die soziale Realität im NS-Staat abgeleitete Erwartung eines sich zuspitzenden Klassengegensatzes als Folge der Instrumentalisierung des Staates im Interesse der Großindustrie und des Finanzkapitals, die an die Definition des Faschismus durch die Kommunistische Internationale erinnerte, waren die Folgerungen, die sich aus dem prognostizierten Machtwechsel als Ergebnis eines „schweren, opferreichen, leidenschaftlichen Ringens um den Sturz der Diktatur“ ergeben sollten. Unausweichlich musste deshalb der Blick zurückgehen zum Herbst 1918 und dem revolutionären Regimewechsel, der sich „am Abschluss einer konterrevolutionären Entwicklung“ vollzog und durch „Krieg und nationalistische Aufpeitschung der Volksmassen bedingt“ gewesen sei.68 Der Regimewechsel sei nicht das Ergebnis eines „organisierten, vorbereiteten und gewollten revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse“, sondern die Folge der deutschen militärischen „Niederlage auf den Schlachtfeldern“ gewesen. Als weitere Besonderheit wurde die Bereitschaft der „einzig intakt gebliebenen organisierten Macht“, der SPD, kritisiert, nicht nur widerstandslos die „Staatsführung“ zu übernehmen, sondern sich diese „von vornherein mit den bürgerlichen Parteien“ und mit der „alten Bürokratie“ und sogar mit dem „reorganisierten militärischen Apparat“ zu teilen. Wenn im Manifest konstatiert wurde, die Übernahme des „alten Staatsapparates“ sei „der schwere historische Fehler“ der kriegsbedingt desorientierten Arbeiterbewegung gewesen, so musste die Folgerung lauten: „Die neue Situation schließt jede Wiederholung aus“. Der Untergang des NS-Staates müsse dazu dienen, „den Staatsapparat in ein Herrschaftsinstrument der Volksmassen zu verwandeln“. In dieser Formulierung leuchtete die Parole des Kieler Parteitags auf, den Staat nicht als Unterdrü67 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005. 68 Prager Manifest, Abschnitt 3.

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ckungsinstrument, sondern nach der demokratisch bewirkten Bemächtigung als Gestaltungskraft zu nutzen. Das politische Ziel nach dem Umsturz konzipierte bereits 1934 ein Programm, das die Alliierten ein Jahrzehnt später mit der Demokratisierung, Demilitarisierung und Denazifizierung verwirklichten. Es entsprach durchaus dem Prager Manifest, spiegelte also nicht das Recht der militärischen Sieger, sondern ein zentrales Ziel der Verfolgten im Exil: „Der revolutionären Regierung obliegt deshalb die sofortige Durchführung einschneidender politischer und sozialer Maßnahmen zur dauernden völligen Entmachtung des besiegten Gegners. Das erfordert: Einsetzung eines Revolutionstribunals. Aburteilung der Staatsverbrecher, ihrer Mitschuldigen und Helfer in der Politik, der Bürokratie und Justiz wegen Verfassungsbruches, Mordes und Freiheitsberaubung unter Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte. Aufhebung der Unverletzbarkeit der Richter. Besetzung aller entscheidenden Stellen der Justiz durch Vertrauensmänner der revolutionären Regierung. Grundlegende Umgestaltung der Justiz durch Verstärkung des Laienelementes. Reinigung der Bürokratie, sofortige Umbesetzung aller leitenden Stellen. Organisierung einer zuverlässigen Militär- und Polizeimacht. Völlige Erneuerung des Offizierskorps. Aufhebung aller die Freiheit der Arbeiterschaft beschränkenden Gesetze und Verordnungen der nationalsozialistischen Despotie. Volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung ohne Unterschied der Rasse und Religion. Trennung von Kirche und Staat. Unterbindung jeder konterrevolutionären Agitation. Sofortiger Erlaß der notwendigen sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Gesetze durch die revolutionäre Regierung.“

Mit der „Zerschlagung des alten politischen Apparates“ sollte ein grundlegender Wandel der überkommenen Eigentumsordnung einhergehen: „Sofortige entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes, Überführung der Forsten in Reichseigentum und Reichsverwaltung, Verwendung des Ackerlandes zur Schaffung lebensfähiger Bauern-Siedlungen und genossenschaftlicher Betriebe von Landarbeitern mit ausreichender Förderung durch Staatsmittel. Sofortige entschädigungslose Enteignung der Schwerindustrie. Übernahme der Reichsbank in den Besitz und die Verwaltung des Reiches. Vergesellschaftung und Übernahme der Großbanken durch die vom Reich bestimmten Leitungen.“

Nach der „restlosen Zerstörung der kapitalistisch-feudalen und politischen Machtpositionen“ nationalsozialistischer Herrschaft sollte das neue demokratische „freie“ Staatswesen entstehen. Zunächst sei eine Volksvertretung auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts

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in Einzelwahlkreisen zu „berufen“, die mit absoluter Mehrheit (falls notwendig unter Vornahme einer Stichwahl) den Chef der Reichsregierung wählt, der die Reichsminister ernennt. Die Revolutionsregierung hatte nicht nur die Wahlkreise festzulegen, sondern sollte bis zur Konstituierung der neuen Regierung amtieren. Eine wesentliche Bedeutung bei der Schaffung demokratischer Strukturen kam der Selbstverwaltung zu: „Das despotische System der zentralisierten Staatsmacht wird durch die Herstellung einer echten freiheitlichen Selbstverwaltung innerhalb des gegliederten Einheitsstaates gebrochen. In den politischen Gemeinden werden für das Schul-, Wohlfahrts-, Gerichtsund Steuerwesen Selbstverwaltungskörper gebildet, denen die Beamten verantwortlich sind.“ Mit den Worten, es sei „Aufgabe der Arbeiterschaft im neuen Staat“, die mit dem Sturz des NS-Regimes „errungene Staatsmacht“ zu nutzen, um die „sozialistische Organisation der Wirtschaft“ zu forcieren, lenkte das Manifest zur Frage der Wirtschaftsordnung über. Bereits in den späten zwanziger Jahren hatte die häufig in der Verbreitung überschätzte und missverstandene Parole „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus heißt das Ziel!“ nicht bedeutet, die politische Demokratie zu relativieren, sondern diese durch Eingriffe in die Arbeitsorganisation, die Produktion und die Verteilung von Gütern und Gewinn zu festigen. Die sozialistische Wirtschaftsdemokratie wurde immer verstanden als eine Grundlage stabiler politischer Ordnung. An diese Überlegungen, die mit dem Namen von Fritz Naphtali69 und seinem Konzept einer Demokratisierung der Wirtschaft verbunden bleiben, knüpfte das Prager Manifest an, weil „die Vergesellschaftung der Schwerindustrie, der Banken und des Großgrundbesitzes“ nicht als „Endpunkt“, sondern als „Ausgangspunkt für die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft“ bezeichnet wurde. Die Vision eines „organisierten Kapitalismus“ hatte vor allem in der Weltwirtschaftskrise eine Alternative zu der Hilfslosigkeit bezeichnen sollen, die das Regierungshandeln nicht nur in Deutschland zu charakterisieren schien. Programmatisch verknappt hieß es nun: „Die sozialistische Wirtschaftsorganisation beseitigt die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise. Sie überwindet damit die Wirtschaftskrisen und die Arbeitslosigkeit. An die Stelle der planlosen kapitalistischen Wirtschaft tritt die sozialistische Planwirtschaft. An die Stelle des kapitalistischen Profitstrebens tritt das Streben nach Deckung eines stets sich steigernden Bedarfes. An die Stelle der regel69 Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, Hrsgg. im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes von Fritz Naphtali, Berlin 1928 (Neudruck u.a. Frankfurt a.M. 1966).

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losen Rationalisierung zur Erhöhung des Profits durch Ersparung von Arbeitskräften, an die Stelle der regellosen Aufblähung des Produktionsapparates auf Kosten des Konsums tritt die planmäßige Steigerung der Produktionskräfte, die gleichmäßige Erweiterung von Erzeugung und Verbrauch. An die Stelle des zerstörenden Kampfes der einzelnen Produktionszweige gegeneinander tritt die auf einander abgestimmte Entwicklung. Die Leitung der Umorganisation obliegt der obersten sozialistischen Planstelle. Diese dient der Lenkung der gesamten Wirtschaft. Sie hat insbesondere folgende Aufgaben: Aufstellung eines Wirtschaftsplanes für die Entwicklung der Gesamtwirtschaft. Schaffung einer Verwaltungsorganisation für die Verstaatlichung der Wirtschaftszweige unter Mitwirkung der Produzenten, Konsumenten und des Staates. Vorbereitung weiterer Sozialisierung kapitalistisch beherrschter Wirtschaftszweige, Regulierung der Steigerung der Erzeugung und der Anwendung des technischen Fortschrittes durch Lenkung der Kapitalanlagen und der Betriebskredite. Regelung der Beziehungen zwischen dem vergesellschafteten Teil der Wirtschaft und der Marktwirtschaft.“

10. Konturen der neuen Gesellschaft Die Beschreibung der nach dem Untergang des NS-Regimes zu formenden Gesellschaft zielt weniger auf eine „Revolution“ als auf eine Neuordnung. Auf der Grundlage einer „planmäßig“ gelenkten Entwicklung und der „Ausschaltung der Krisen“ soll nicht nur die Arbeitszeit verkürzt, sondern die „Befreiung des Menschengeschlechts“ von den Alltagssorgen um „Lebensfristung“ und Beschäftigung erreicht werden. Konkrete Ziele bestimmen den Neuaufbau: Das Bankkapital ist zu bändigen, um so eine „ausreichende und billige Versorgung des Mittelstands mit ... Betriebskrediten“ zu sichern. Die Alters-, Kranken- und Invalidenversicherung ist auf die Landbevölkerung auszudehnen, die überdies durch eine bäuerlich orientierte „Agrarpolitik“ abgesichert werden müsse. Von zentraler Bedeutung für die positive Entwicklung der postdiktatorischen Gesellschaft sei das Bildungswesen, das die Voraussetzungen für eine „qualifizierte Leitung“ der sozialistischen Wirtschaft zu sichern habe. Umfassende Bildung verlange, das „Bildungsprivileg“ zu brechen, eine Einheitsschule zu schaffen und den Aufstieg des Menschen „ohne Rücksicht auf Herkommen“ allein nach seiner Eignung zu sichern. Entscheidend für eine Bewältigung der Zukunftsprobleme ist deshalb nicht nur die Neuordnung und Kontrolle der Produktion“, sondern auch die wachsende Anerkennung der „neuen Würde“ der Arbeit. Hier zeigt sich, dass die Verfasser des Manifestes die Ideologisierung der Sozialbeziehungen durch die Nationalsozialisten ersetzen wollen. Sie propagieren einen neuen „sozialen Dienst“ in einem

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„freien sozialistischen Gemeinwesen“, in dem die Arbeit der „Gestaltung einer sozialistischen Zukunft“ dienen sollte. Gegen die Politisierung von Kultur und Wissenschaft wird die Wiederherstellung der „Freiheit des Geistes und der Wissenschaft“ gefordert. Kulturarbeit und Kunst müssten ebenso vor „den Eingriffen bürokratischer und kirchlicher Gewalten geschützt“ werden. Auf der Grundlage eines Bekenntnisses zur Menschenwürde wird eine „neue Lebensauffassung“ propagiert, die einen „neuen Wetteifer um die Entfaltung aller Fähigkeiten“ entfachen könne und „die neue Gesellschaft unzerstörbar“ mache. Der fünfte Abschnitt des Manifestes enthält den Kern einer neuen politischen Ethik. Er ist zum einen geprägt durch das Bekenntnis zu der von den Nationalsozialisten zerstörten Weimarer Verfassungsordnung, zum sozialen Pluralismus und zur Anerkennung sehr unterschiedlicher beruflicher Lebenskreise, zum anderen aber auch durch ethische Forderungen, wie diese in den Kreisen um Leonhard Nelson und Willi Eichler erhoben worden waren. Manche der Forderungen werden fast zehn Jahre später auch in den Kreisauer Tagungen des Freundeskreises von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg reflektiert; sie markieren eine Gemeinsamkeit von Neuordnungsvorstellungen, die sich aus der Kritik am Anspruch des totalen Staates auf weltanschauliche Führung entwickelt hatte. So überrascht es nicht, dass sich im Prager Manifest auch ein entschiedenes Bekenntnis zur kommunalen Demokratie als Grundlage einer partizipatorischen Selbstverwaltung findet: „Je mehr sich der gesellschaftliche Umbau seiner Vollendung nähert, je mehr der Obrigkeitsstaat durch die Selbstverwaltung ersetzt wird, umso mehr wird der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft überwunden. An die Stelle des Machtstaate, der durch Militär, Bürokratie und Justiz seine Untertanen beherrscht, tritt die Selbstverwaltung der Gesellschaft, in der jeder zur Mitwirkung an den allgemeinen Aufgaben berufen ist. An die Stelle des Führerprinzips und der Parteihierarchie, die Willkür und Verantwortungslosigkeit bedeuten, tritt die Verantwortung freier Menschen für die Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben. Die Despotie wird abgelöst durch die freie Selbstbestimmung des Volkes, die Unterdrückung weicht der Gleichheit der gesellschaftlichen Rechte und Pflichten für alle Volksgenossen. Die Menschheit ist aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit getreten.“

Dass die „nationalsozialistische Diktatur“ nicht nur Deutschland, sondern die Menschheit und ihre Zivilisation gefährdet, wird in dem vorletzten Abschnitt des Manifestes belegt. Er entfaltet eine visionäre Kraft, die weit über die Erwartung hinausgeht, dass die Herrschaft Hitlers Krieg bedeute. Denn die Konstatierung einer „Barbarei und Bestialität“ wird konkret als „Gewaltdro-

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hung gegen Freiheit und Zivilisation aller anderen Völker“ beschrieben. Aufrüstung, die „vergiftende Wirkung eines militaristischen Angriffsgeistes“ und die „Großmachtpolitik“ werden als Ansatz für eine „Schande“ empfunden, die zugleich das deutsche Volk mit „tiefer Schmach bedeckt“. Auch dieses Argument findet sich viele Jahre später in den Überlegungen des militärischen Widerstands. Das Manifest benennt früher als die Angehörigen des nationalkonservativen Widerstands die Absicht der NS-Führung, „Neuland für die Siedlung im Osten zu schaffen“ und „alle ‚deutschstämmigen‘ Gebiete dem faschistischen Reich einzuverleiben“. Die nationalsozialistische Expansion bedrohe deshalb nicht nur durch Terror und Unterdrückung die Deutschen, sondern stelle eine Gefahr für die „Freiheit und Zivilisation aller anderen Völker“ dar. Spürbar ist, dass die Verfasser des Manifests die Kriegsgefahr als eine „Untergangsdrohung für die Zivilisation“ schlechthin interpretieren und deshalb auffordern, die „Verewigung der Sklaverei“, die „Bestialität im Inneren“ und deren „Ausbreitung über die übrige Welt“ zu verhindern. Die sich im Prager Manifest niederschlagende Bestrebung der deutschen Opposition gegen Hitlers Herrschaft wird so geradezu universalisiert und mit dem Anspruch verbunden, dass diese innerdeutsche, in das Exil getriebene Opposition als Verbindung der deutschen Demokratie mit den „großen Demokratien des Westens“ erscheint. Die Gegner des NS-Staates warnen vor außenpolitischen Zugeständnissen, die den Frieden und die Freiheit der Nationen nicht sichern könnten. Sie kritisieren jede Regung zum Appeasement und bekennen sich zu „Recht und Gesetz“, indem sie auch deren „schamlose Vergewaltigung“ geißeln. Vor allem machen sie deutlich, dass jeder Kompromiss die Kriegsgefahren vergrößern werde, und erinnern deshalb an die antimilitaristische Forderung der Vorkriegs-Sozialdemokratie: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“: „Es ist nicht Aufgabe der Sozialdemokratie, auf den Sturz der Despotie durch den Krieg zu hoffen. Es ist vielmehr ihre Aufgabe, den Krieg zu verhindern. Deshalb verwirft sie alle militärischen Konzessionen an Hitlerdeutschland. Sie warnt die Arbeiterparteien aller Länder, die Gefahr des deutschen Nationalismus zu unterschätzen. Gleichberechtigung der Demokratien, aber keinerlei Aufrüstung für eine kriegslüsterne Diktatur! … Nicht militärische Zugeständnisse erfordert die Sicherung des Friedens und der Freiheit der Nationen, sondern Wiederabrüstung, Entwaffnung und Auflösung der SA- und SS-Formationen.“

Weniger überraschend als vielmehr bewegend ist das Bekenntnis zu Einheit in Freiheit. Damit wird zugleich der Anspruch verbunden, deutsche Interes-

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sen auch im Fall einer militärischen Niederlage zu vertreten. Die Partei, der von der politischen Rechten immer wieder nationale Unzuverlässigkeit und geradezu eine landesverräterische Internationalität unterstellt wurde, bekennt sich ein Jahr nach der Regierungsübernahme Hitlers und unbeeinflusst von Verfassungsbruch und gesellschaftlicher Selbstgleichschaltung dazu, nationale Interessen zu vertreten. Die deutschen Sozialdemokraten würden unversöhnlich die Front gegen die nationalsozialistische „Despotie“ halten. Denn die „Einheit und Freiheit der deutschen Nation“ könne allein „gerettet“ werden durch die Überwindung des deutschen Faschismus. Zugleich aber würde man sich „mit Entschiedenheit gegen jeden Versuch von außen wenden, einen kriegerischen Zusammenbruch der Despotie in Deutschland zu einer Zerstückelung Deutschlands auszunutzen. Sie wird keinen Frieden anerkennen, der zur Zerreißung Deutschlands führt und eine Hemmung seiner freiheitlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet.“ Das Prager Manifest zeichnet sich somit durch eine klare, weitsichtige außenpolitische Perspektive, zugleich aber auch ein Bekenntnis zur ethischen Fundierung sozialdemokratischer Ziele aus, die eine Alternative zur NS-Herrschaft darstellen sollen. Die Qualität des „totalen Staates“ verlange, so heißt es, eine „totale moralische, geistige, politische und soziale Revolution“, also nicht nur den Sturz der NS-Herrschaft, sondern eine Neudefinition der deutschen Gesellschaft und der politischen Bewegungen, die ihre Rechtfertigung aus dem Kampf gegen den aggressiven „deutschen Nationalismus“ ziehen. So endet das Manifest mit einer Beschwörung der Einheit aus dem Gegensatz zum Regime: „Wir haben den Weg, wir haben das Ziel des Kampfes gezeigt. Die Differenzen in der Arbeiterbewegung werden vom Gegner selbst ausgelöscht. Die Gründe der Spaltung werden nichtig. Der Kampf zum Sturz der Diktatur kann nicht anders als revolutionär geführt werden. Ob Sozialdemokrat, ob Kommunist, ob Anhänger der zahlreichen Splittergruppen, der Feind der Diktatur wird im Kampf durch die Bedingungen des Kampfes selbst der gleiche sozialistische Revolutionär. Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt.“

Nach den langen Phasen der heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten bekennen sich die Verfasser zu einem politischen Neuanfang, der die Spaltung der Arbeiterbewegung überwinden soll. Sie bekräftigen ihre Bereitschaft zur Auseinandersetzung über Wege und Ziele der „Machteroberung und Machtbehauptung“ und lehnen es zugleich selbstkritisch und rückblickend ab, wie bisher eine politische „Selbstzerfleischung zuzulassen, die um der Frage der Ausnutzung noch nicht errungener Siege

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die Spaltung der Arbeiterklasse, den sichersten Schutz der Diktatur, verewigen“ wolle. Die Ausrottung des Freiheitsgedankens könne und wolle man den Nationalsozialisten nicht überlassen, die als augenblickliche Sieger „an den Unterdrückten grausame Rache“ nähmen. Zukunftsgewiss wurde noch einmal betont, dass die Krise des Kapitalismus auch durch die NS-Herrschaft nicht überwunden werden könne, dass also der politische „Triumph von heute“ für das NS-System schon den „Untergang von morgen“ bedeute. Dem Gegner die Zukunft zu überlassen war keine Handlungsoption: „Gegen die faschistische Barbarei führen wir den Kampf für die großen und unvergänglichen Ideen der Menschheit. Wir sind die Träger der großen geschichtlichen Entwicklung seit der Überwindung der mittelalterlichen Gebundenheit, wir sind die Erben der unvergänglichen Überlieferungen der Renaissance und des Humanismus, der englischen und der französischen Revolution. Wir wollen nicht leben ohne Freiheit und wir werden sie erobern. Freiheit ohne Klassenherrschaft, Freiheit bis zur völligen Aufhebung aller Ausbeutung und aller Herrschaft von Menschen über Menschen!“

11. Verpflichtung: Verteidigung der „Zivilisation“ Mit seinem deutlichen Bekenntnis zu Freiheit und Sozialismus bot das „Prager Manifest“ mehr als die radikale Kritik des Weimarer Weges der Sozialdemokratie, denn eindringliche Passagen des Textes analysierten die Unterdrückung im Innern, die Kriegsgefahren und die zukünftige Neuordnung. Zwar wurde betont, es sei in der Umbruchphase von 1918/19 ein „schwerer historischer Fehler“ der SPD gewesen, „den alten Staatsapparat fast unverändert“ übernommen zu haben, aber nur, um zu bekräftigen, dass sich die Fehler nach der Befreiung Europas von der NS-Herrschaft nicht wiederholen dürften. Entscheidender als der Rückblick war die Vorausschau und die Beanspruchung der Verpflichtung zur Stärkung der „Zivilisation“. Deshalb sollten die politischen Grabenkämpfe beendet und eine gemeinsame antinationalsozialistische Abwehrfront geschaffen werden. Die Kritik an der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis bahnte so den Weg in die Gemeinsamkeit des Widerstands. Das Bekenntnis zum Frieden und die Warnung vor einem ganz Europa unterdrückenden Krieg zeigte, dass die Sozialdemokratie auch im Bereich der Internationalen Politik die Haltung korrigierte, die noch in der Zustimmung zu Hitlers „Friedensresolution“ vom 17. Mai 1933 deutlich geworden war. So wurde in diesem Manifest eine Perspektive sichtbar, die allerdings erst im Laufe der Jahrzehnte die gebührende Anerkennung finden sollte.

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Das „Prager Manifest“ wurde nach 1945 nicht in die Reihe der offiziell anerkannten sozialdemokratischen Parteiprogramme aufgenommen70 – vermutlich weniger, weil der Ton sehr klassenkämpferisch und radikal war, sondern weil sich die Exil-Führung, die sich erstmals vergleichsweise geschlossen und selbstkritisch mit der Rolle der SPD in der revolutionären Entstehungsphase des „Deutschen Republik“ auseinandersetzt hatte71, zur Forderung durchrang, eine revolutionäre Organisation anzustreben; sie hatte sich damit anscheinend verpflichtet, die ins Auge gefasste neue „revolutionäre Praxis“ umzusetzen, um auf diese Weise den Einfluss der jüngeren Sozialdemokraten zu stärken. Allerdings zeigt ein Blick sogar auf das vorausgegangene (angeblich stark „revisionistische“) Görlitzer Programm aus dem Jahre 1921, dass der nun angeschlagene Ton so neu nicht war. Im Prager Manifest wurde der revolutionäre Anspruch, Wirtschaft und Gesellschaft umzugestalten, um den kulturellen Anspruch der SPD ergänzt, die nicht nur Milieu-Partei, sondern eine die ganze Gesellschaft mitgestaltende Partei bleiben wollte. Zu dieser neuen sozialdemokratischen Kultur gehörte ein radikaler Veränderungswille, der auch die Einheit der Arbeiterklasse beschwor. Innerparteilich „sektenhafte Abschließung“ sollte es nicht mehr geben – die SPD definierte sich geradezu als eine „politische Partei des revolutionären Sozialismus“. Ein Einheitsappell der exilierten Sozialdemokraten wurde im Bewusstsein des eigenen Führungsanspruchs formuliert. Er lässt sich also nicht als Anerkennung der kommunistischen Opposition oder gar als Unterwerfung unter deren Führungsanspruch verstehen. Die Differenzen zwischen den beiden Parteien blieben bestehen, wurden aber weniger als unüberbrückbarer Gegensatz beschworen, sondern gleichsam auf eine Ebene gehoben, auf der von politischen Kräften der Arbeiterbewegung und ihrer Gewerkschaften eigenständig und selbstbewusst nach einer neuen Gemeinsamkeit gesucht wurde. Insofern wurde das „Prager Manifest“ zur wichtigen Ausgangsposition für alle weiteren Diskussionen über die antifaschistische Volks-, Aktions- oder 70 Enthalten ist das Manifest in: Kurt Klotzbach u.a. (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 19903, S. 221–235. Gewürdigt wurde es von Günter Markscheffel im Sozialdemokratischen Pressedienst v. 19/26.1.1984, S. 8 f. 71 Vgl. dazu auch die umfangreiche Gesamtdarstellung, die nach Spielräumen der SPD fragt und die These variiert, trotz aller Sachzwänge sei zu wünschen gewesen, dass der Wille zur Veränderung größer als der Wille zur Bewahrung gewesen wäre: Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1924, Berlin 19852; ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924–1930, Berlin 1985; ders., Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930–1933, Berlin 1987.

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gar „Einheitsfront“. Wegen der Gerichtsverfahren, die die NS-Justiz gegen Besitzer und Verbreiter dieser Tarnschrift durchführten, wissen wir, dass die Verbreitung dieses Manifestes kriminalisiert wurde. Es galt den Nationalsozialisten als Beweis für praktizierten Hochverrat. In der Tat hatte die SPD dem weltanschaulichen Führungsanspruch der Nationalsozialisten widersprochen: Für den Fall eines Krieges hatte sie angekündigt, sich nicht mit Deutschland zu identifizieren, denn ihr Kampf galt weiterhin der politischen „Despotie“. Zugleich aber bekannte sie sich zur deutschen Einheit und wandte sich gegen mögliche „Zerstückelungspläne“. In den folgenden Jahren verständigte sich die SPD dann auf wenige dezidierte Positionen. Der Arbeitskreis revolutionärer Sozialisten sagte im Herbst 1934 zwar reformistischen Positionen den Kampf an. Er provozierte damit aber vor allem innerparteiliche Gegenbestrebungen. Die Abgrenzung gegenüber kommunistischen Kooperationsangeboten blieb davon unberührt. Es finden mehrere Gespräche zwischen dem SOPADE-Vorstand und der KPD-Führung statt, aber es kommt zu keiner organisatorischen Zusammenarbeit. „Nicht auf den Spitzen fremder Bajonette kann dem deutschen Volk die Freiheit gebracht werden, es muss sie sich selbst erobern, wenn sie dauerhaft sein soll.“72 Mit diesen Worten wandte sich der Prager SOPADE-Vorstand fünf Jahre nach der Regierungsübernahme durch Hitler an seine Anhänger. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen begann eine neue Phase, die hier nicht mehr im Detail behandelt werden konnte. Britische Vorstellungen von der Civil Society, die bereits im Prager Manifest durch die Beschwörung der Gemeinsamkeit von „deutscher Demokratie“ und den „großen Demokratien des Westens“ angedeutet wurden, prägten zunehmend die Wahrnehmung von Politik, aber auch das Selbstverständnis der Sozialdemokraten. Dies begründete eine Zusammenarbeit mit der Labour Party, die schließlich, ganz im Sinne des eingangs zitierten Richard Löwenthal, aus der SPD eine moderne Partei machte, die tatsächlich schon vor dem Tag agierte, an dem das NS-Regime endgültig scheiterte: bereits im Exil, nicht erst nach Kriegsende auf der Parteikonferenz in Wennigsen.73

72 Aufruf des Vorstands der SOPADE, „Nach fünf Jahren – Die Sozialdemokratie klagt an“, in: Neuer Vorwärts v. 28.1.1938. 73 Vgl. zur späten Kriegs- und vor allem Nachkriegsentwicklung den Beitrag von Peter Brandt in diesem Band.

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„Nach Hitler wir“ SPD und parlamentarische Demokratie 1943–1952

Zu Beginn des Jahres 1943 wurde die militärische Wende des Zweiten Weltkriegs offensichtlich: In Russland (Stalingrad), in Nordafrika (El-Alamein) und im Atlantik gerieten die hitlerdeutschen Streitkräfte in die Defensive. Insofern erhielten die Konzeptionen und Planungen des deutschen Widerstands und Exils für die Nachkriegszeit einen stärkeren Realitätsbezug. Die meisten Gruppierungen gingen davon aus, dass inländische antifaschistische Kräfte aus der Arbeiterschaft zumindest in der Endphase des Kampfes als eigene Akteure in Erscheinung treten würden. Eine Ausarbeitung der „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“, des Zusammenschlusses der Reste des SPD-Parteivorstands mit mehreren linkssozialistischen Gruppen, die auch in Deutschland verbreitete Programmschrift „Die neue deutsche Republik“ von Ende 1943, hob auf die Rolle revolutionärer Betriebsräte und lokaler Selbstverwaltungskörperschaften im Umbruch ab. Solchen räteähnlichen Organen sollten in erster Linie die Aufgaben der Zerschlagung des NS-Regime, der Sicherung der neuen Volksmacht und des Vorgehens gegen nationalsozialistische Funktionäre sowie Angehörige der sozial herrschenden Klasse zukommen.1 1 Die neue deutsche Republik, London o.J. (1943). – Zum sozialdemokratischen Exil in Großbritannien vgl. Werner Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940–1945, Hannover 1968; Ludwig Eiber, Die Sozialdemokratie in der Emigration. Die „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“ 1941–1946 und ihre Mitglieder. Protokolle, Erklärungen, Materialien, Bonn 1997; Anthony Glees, Exile Politics during the Second World War. The German Social Democrats in Britain, Oxford 1982; vgl. auch Jan Foitzik, Revolution und Demokratie. Zu den Sofort- und Übergangsplanungen des sozialdemokratischen Exils für Deutschland 1943–1945, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 24 (1988), S. 308–342. Für die parallelen kommunistischen Überlegungen und Planungen vgl. Arnold Sywottek, Deutsche Volksdemokratie. Studien zur politischen Konzeption der KPD 1935–1946, Düsseldorf 1971; Horst Laschitza, Kämpferische Demokratie gegen Faschismus. Die programmatische Vorbereitung auf die antifaschistisch-demokratische Umwälzung in Deutschland durch die Parteiführung der KPD, Berlin 1969.

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1. Neuordnungskonzeption während der späten NS-Diktatur Mit der Ernüchterung über die bis zum Schluss anhaltende, jedenfalls äußere Loyalität der großen Mehrheit der Deutschen dem „Führer“ gegenüber trat die Antizipation revolutionärer Sofortmaßnahmen zurück; erhalten blieben die Grundelemente der angestrebten demokratischen Umwälzung mit sozialistischer Entwicklungsperspektive, wie sie auch in den diesbezüglichen Schriften des sozialdemokratisch-sozialistischen Exils in Schweden und den USA verankert waren.2 Die Wiederherstellung einer möglichst wenig durch institutionelle Gegenkräfte gebremsten parlamentarischen Republik in einem „pluralistischen“ Parteienstaat einschließlich des Wechsels von Regierung und Opposition durch Wählervotum wurde mittlerweile auch von den Linkssozialisten, so der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), als (nicht nur Zwischen-) Ziel akzeptiert; dazu trug die Anschauung des britischen und des skandinavischen Parlamentarismus-Modells, seines Menschenrechtsverständnisses und seiner politischen Kultur zweifellos bei. Als wichtigste Lehre aus der halben Revolution von 1918/19 und der Weimarer Republik galten nicht institutionelle Veränderungen gegenüber der Reichsverfassung von 1919. Dezentralisierter Einheitsstaat und weitgehende Selbstverwaltung, Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid, Konzentration der politischen Macht im „Volksrat“, wie der frühere Reichstag nun heißen sollte, lauteten in einer Richtlinie der Londoner „Union“ vom Frühjahr 1945 die Stichworte. Das Parlament sollte künftig nach modifiziertem Mehrheitswahlrecht gewählt werden (was in Deutschland nicht aufgegriffen wurde) und – wie auch die Regierung – beratende Körperschaften aus Vertretern von Berufs- und Kulturgruppen sowie Experten berufen können. Auch ein Staatspräsidentenamt und ein Verfassungsgericht waren vorgesehen. Gravierender war etwas anderes: Gemäß den Richtlinien für die Wirtschaftspolitik (November 1944) sollten sämtliche Schlüsselindustrien verstaatlicht, der Außenhandel staatlich kontrolliert und die Gesamtwirtschaft, namentlich die Investitionen, zentral geplant werden. Auch eine gegen den Großgrundbesitz gerichtete Bodenreform schien unabdingbar. Zusammen mit Stellungnahmen zum Aufbau von Verwaltung und Justiz, zur Kulturpolitik und zum Erzie2 Vgl. namentlich die Schriften: The Next Germany. A Basis of Discussion on Peace in Europe, Harmondsworth 1943; Paul Hagen, Germany after Hitler. A Hard-Headed but Workable Way to a Democratic Germany, New York 1944; Friedrich Stampfer, Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration, Hg. Erich Matthias/Bearb.Werner Link, Düsseldorf 1968; Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten (hg. von einem Kreis früherer Funktionäre der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Schweden), Stockholm 1944.

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hungswesen legte die Union die erwähnten Richtlinien zur Staats- und zur Wirtschaftsordnung als Anregung für ein Programm der in Deutschland neu entstehenden Sozialdemokratie vor.3 Angesichts der beinahe totalen Kontaktsperre zwischen den Illegalen im Reich und dem Exil im Ausland, solange der Krieg andauerte, sowie der grundlegend abweichenden Handlungs- und Diskussionsbedingungen waren die Verlautbarungen in Deutschland selbst in einem anderen Ton gehalten. Inhaltlich stimmten die Sozialdemokraten hier wie dort insbesondere im Hinblick auf die Entmachtung bzw. Enteignung des Großkapitals überein; das gilt auch für die am Kreisauer Kreis und an der Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligten Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die wie Julius Leber der Weimarer Republik durchweg kritisch gegenüberstanden und nicht einfach die Wiederherstellung eines Parlamentarismus westlichen Typs wünschten. Die Kritik an der Weimarer Republik ging zwar teilweise in eine andere Richtung als beim bürgerlichen und militärischen Widerstand, aber es gab auch programmatische Berührungspunkte, insbesondere mit den jüngeren Verschwörern wie Graf Stauffenberg, der sich unter dem Einfluss Lebers popular-demokratischen Positionen öffnete. Eine überparteiliche linke Massenbewegung sollte den erfolgten Militärumsturz plebiszitär absichern und zugleich die Voraussetzungen für ein Weitertreiben des Prozesses schaffen. Die Reserven gegenüber den alten politischen Parteien einschließlich der eigenen, der SPD, waren beträchtlich; deren vermeintliche bürokratische Erstarrung und parlamentarischer „Kretinismus“ wurden für die Niederlage von 1933 mitverantwortlich gemacht.4 3 Zur Politik deutscher Sozialisten. Politische Kundgebungen und programmatische Richtlinien der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien (1941–1945), London Ende November 1945. 4 Vgl. Emil Henk, Die Tragödie des 20. Juli 1944. Ein Beitrag zur politischen Vorgeschichte, Heidelberg 21946; Hermann Graml (Hg.), Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten, Frankfurt a.M. 1984 (darin insbes., S. 14–91: Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstands); Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 1985; Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967; Günter Brakelmann, Peter Yorck von Wartenberg 1904–1944. Eine Biographie, München 2012; Kurt Finker, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Berlin 41973; Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992; Bodo Scheurig, Henning von Tresckow. Ein Preuße gegen Hitler, Berlin 1987; Dorothea Beck, Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983; Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943, Berlin 1987.

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Gegen die Tradition der alten Parteien und die Wiederanknüpfung an die Weimarer Republik war auch das Programm gerichtet, das unter Federführung von Hermann L. Brill 1944/45 im Konzentrationslager Buchenwald entstand. Die im Lager wesentlich stärkeren Kommunisten distanzierten sich von dem zunächst als Ausdruck der sozialistischen Einheit gedachten, dann von der Gruppe der „demokratischen Sozialisten“ allein vorgelegten „Buchenwalder Manifest“ vom 13. April 1945.5 Es war das Aktionsprogramm einer radikalen antifaschistischen Umwälzung, das – unter weitgehender Abstraktion von den Besatzungsverhältnissen – die semi-autoritäre Führungsrolle der von früheren Parteibindungen gelösten Widerstandselite mit der basisdemokratischen Aktivität aus den verschiedenen linken bzw. antifaschistischen Richtungen gebildeter „Volkskomitees“ verband. Die stufenförmig aufgebauten Komitees sollten in einem „Deutschen Volkskongress“ zusammengefasst werden. Dieser hätte dann eine Regierung und eine Volksvertretungskörperschaft einzusetzen.

2. Erste Initiativen und Kontroversen des Neubeginns 1945–1947 In den während des Frühjahrs 1945 überall in Deutschland entstehenden, doch in der Regel spätestens im Sommer aufgelösten oder domestizierten Antifa-Ausschüssen6 kann man eine reduzierte Form der antizipierten revolutionären Volkskomitees sehen. Sie waren zugleich ein Ausdruck des unter den überlebenden Kadern der Arbeiterbewegung beider Hauptrichtungen und darüber hinaus weit verbreiteten Wunsches, keinen getrennten Wiederaufbau der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei vorzunehmen,

5 Abgedruckt u.a. in Peter Brandt/Herbert Ammon (Hg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek 1981, S. 58–63. – Zu Brill vgl. ansonsten Manfred Overesch, Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992; Renate Knigge-Tesche/Peter Reif-Spirek (Hg.), Hermann Louis Brill 1895–1959. Widerstandskämpfer und unbeugsamer Demokrat, Wiesbaden 2011; Frank Moraw, Die Parole der „Einheit“ und die Sozialdemokratie, Bonn 21990, insb. S. 47 ff., S. 65 ff. u. S. 112 ff. 6 Vgl. Lutz Niethammer u.a. (Hg.), Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Rekonstruktion der Arbeiterbewegung in Deutschland, Wuppertal 1976. Als lokales Beispiel vgl. auch Peter Brandt, Antifaschismus und Arbeiterbewegung. Aufbau– Ausprägung–Politik in Bremen 1945/46, Hamburg 1976; für die etwas abweichenden südbadischen Verhältnisse vgl. Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Politische Neuansätze in der „vergessenen Zone“ bis zur Bildung des Südweststaates, Düsseldorf 1991, S. 36 ff.

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sondern gleich eine vereinigte sozialistische Formation zu bilden.7 Sozialdemokraten dachten dabei eher an die alte Bebel’sche Partei; Linkssozialisten hofften auf die dynamisierende und demokratisierende Wirkung eines solchen Zusammenschlusses statt einer Rekonstruktion der beiden tradierten Funktionärsapparate. Aus der Sorge heraus, in einem spontanen, nicht von oben gesteuerten Vereinigungsprozess Einfluss zu verlieren, bremste die in der Sowjetzone schon im Juni 1945 relegalisierte KPD-Führung zunächst die Einheitsbestrebungen. Als die Kommunisten im Herbst ihre eigene Kampagne für die Fusion mit der SPD starteten, die in der Folge immer deutlicher auf eine separate zonale Lösung zielte, ohne auf die Verhältnisse im Westen Rücksicht zu nehmen, hatte sich der Wind bei den Sozialdemokraten, auch in der SBZ und in Berlin, bereits gedreht. Nur unter massivem Druck seitens der sowjetischen Besatzungsmacht kam die SED-Gründung im Frühjahr 1946 zustande; in der neuen Partei ging der sozialdemokratische Einfluss rasch zurück, während sich in der SBZ und den östlichen Bezirken Berlins sukzessive eine über den faktisch SED-gesteuerten Parteienblock „antifaschistisch-demokratische“, pseudo-plebiszitär abgesicherte Diktatur etablierte.8 Die überragende Führungsgestalt in der sich von den Ortsvereinen her wiedergründenden SPD der Westzonen wurde Kurt Schumacher9, als Kriegs7 Vgl. Moraw, Parole; Matthias Loeding, Führungsanspruch und Einheitsdrang. Der Zentralausschuss der SPD im Jahre 1945, Hamburg 2002; Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit. Die Wiedergründung der SPD 1945/46, Hannover 1964; Hans-Joachim Krusch, Irrweg oder Alternative? Vereinigungsbestrebungen der Arbeiterparteien 1945/46 und gesellschaftliche Forderungen, Bonn 1996; Johannes Klotz (Hg.), Zwangsvereinigung? Zur Debatte über den Zusammenschluss von SPD und KPD 1946 in Ostdeutschland, Heilbronn 1996 (darin insb., S. 11–29: U. Schneider, Vereinigungsbestrebungen nach 1945 in den Westzonen); und wie Fn. 6. 8 Vgl. Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1996; ders., Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typs in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996; Harold Hurwitz, Zwangsvereinigung und Widerstand der Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone, Köln 1990; Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996; Werner Müller, Die KPD und die „Einheit der Arbeiterklasse“, Frankfurt a.M. 1979; Manfred Wilke (Hg.), Die Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998; und wie Fn. 7. 9 Vgl. zu Schumacher Willy Albrecht, Kurt Schumacher. Ein Leben für den demokratischen Sozialismus, Bonn 1985; Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher, Stuttgart 1995; Peter Brandt, Kurt Schumacher, der neue Lassalle, in: Ders./Detlef Lehnert (Hg.), Ferdinand Lassalle und das Staatsverständnis der Sozialdemokratie, Baden-Baden 2014, S. 274–293.

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versehrter des Ersten Weltkriegs und nach zehnjähriger KZ-Haft geradezu eine Versinnbildlichung des deutschen Elends. Vor 1933 in Württemberg für die Sozialdemokratie tätig, nahm er von seinem Wohnsitz Hannover aus sofort nach Kriegsende den überregionalen Organisationsaufbau in die Hand und verständigte sich frühzeitig mit den Resten des Exilvorstands in London; zudem vereinbarte er mit Willi Eichler, gewissermaßen dem späteren Vater des Godesberger Programms, für den ethisch-sozialistischen Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) und mit Otto Brenner, dem späteren Vorsitzenden der IG Metall, für die SAP die Rückkehr der beiden Dissidentengruppierungen in die Mutterpartei. Zur Jahreswende 1945/46 konnte die SPD der Westzonen bereits wieder ca. 500.000 Mitglieder zählen. Zwei Jahre später war mit 875.000 ein vorübergehender Höchststand erreicht.10 Auch die Gewerkschaften nahmen einen ähnlich rasanten organisatorischen Aufschwung. Schumacher dominierte die Nachkriegs-SPD kraft seiner willensstarken, kämpferischen und charismatischen Persönlichkeit, doch auch durch sein konzeptionelles Angebot. Die im Auftreten meist konzilianteren, teilweise stärker föderal orientierten Landespolitiker wie Wilhelm Hoegner in Bayern und Wilhelm Kaisen in Bremen musste Schumacher ebenso hinnehmen wie die meisten der wieder tätig werdenden Alt-Funktionäre, die schon das Gesicht der SPD in der Weimarer Republik geprägt hatten. Umgekehrt hatten die sozialdemokratischen Bürgermeister und Landesminister keine Chance, sich durchzusetzen, wenn sie Schumachers Linie widersprachen. Sowohl gegenüber dem kapitalistischen Großbesitz, dem die soziale Verantwortung für den Faschismus zukomme, als auch den bürgerlichen Parteien, die in der Weimarer Republik ebenfalls ihren Teil zur Machtübernahme der NSDAP beigetragen hätten, stellte sich ihm die SPD als einzige unzweifelhaft demokratische Partei dar. Daraus ergab sich für Schumacher ungeachtet aller Schwächen der Parteiführung vor 1933 ein unabweisbarer Führungsanspruch der deutschen Sozialdemokratie. In deutlichem Kontrast zu der in der Sowjetischen Besatzungszone propagierten Block-Konzeption wie auch zu den All- oder Mehrparteienkoalitionen auf Landesebene in den Westzonen sah er gerade im Parteienwettstreit das entscheidende Element politischen Fortschritts und politischer Aufklärung. 10 Zahlenangaben nach Siegfried Heimann, Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Richard Stöss (Hg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Opladen 1983, S. 2025–2216, hier S. 2174. – Ende 1947 lag die SPDMitgliederzahl auf dem betreffenden Territorium auch unter Berücksichtigung der Ostflüchtlinge und -vertriebenen deutlich über den Zahlen der späten Weimarer Republik. Die Mitgliederzahl ging in den Jahren ab 1948 auf unter 600.000 zurück, bevor sie ab der Mitte der 50er Jahre erst langsam, ab 1963 dann schneller wieder anstieg.

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Demokratie war für Schumacher nur denkbar als parlamentarischer Mehrparteienstaat. Am 6. Mai 1945 stellte er bei einer Rede vor Parteigenossen in Hannover mit Nachdruck fest, „daß es von vornherein keine bloß ‚formale’ oder ‚kapitalistische‘ oder ‚proletarische‘ oder mit einem sonstigen Beiwort geschmückte Demokratie gibt ... Es gibt nur eine Demokratie schlechthin, und das, was die Einsicht und die Kraft einer Klasse aus ihr machen!“11 Das ist ein Schlüsselsatz, weil er verständlich macht, warum Schumacher im Ost-West-Konflikt von Anfang an grundsätzlich auf der Seite des Westens stand. Es ging für ihn um die Abwehr eines totalitären, staatskapitalistischen, großrussischen Imperialismus seitens der von ihm so genannten „Weltdemokratie“. Dieser Kampf war der innergesellschaftlichen Klassenauseinandersetzung gleichsam übergeordnet, obschon er überzeugt war, dass nur eine sozial progressive Entwicklung in den Staaten des Westens diesen in die Lage versetzen würde, die kommunistische Herausforderung zu bestehen. Wie niemals zuvor die Partei in ihrer Geschichte identifizierte die Schumacher’sche Sozialdemokratie ihre gesellschaftspolitischen Ziele mit den „nationalen Notwendigkeiten“ 12 des bis weit in die Mittelschichten pauperisierten deutschen Volkes, dessen Lebensbedürfnisse auch gegenüber den westlichen Siegermächten nachdrücklich verteidigt wurden. Nur wenn die SPD zur Trägerin der Regierungsgewalt werde, könne der neue demokratische Staat den Interessen der Nation Rechnung tragen. Die sozialistische Neugestaltung wollte die SPD in den ersten Nachkriegsjahren als „Gegenwartsaufgabe“ anpacken. Erstens hielt man einen kapitalistischen Wiederaufbau aus politischen wie aus sozialen und selbst aus ökonomischen Gründen für unmöglich. Dabei wurden die materiellen Zerstörungen vielfach als Zusammenbruch des Kapitalismus, die Bewirtschaftungsökonomie und die teilweise und zeitweilige Suspendierung von Eigentumsrechten auch in den Westzonen als Aufhebung des Kapitalverhältnisses fehlinterpretiert. Ferner hoffte man bei entsprechendem Wählervotum auf 11 Kurt Schumacher, Reden–Schriften–Korrespondenzen 1945–1952, Hg. Willy Albrecht, Berlin 1985, S. 213. 12 Zit. nach Karin Walter, Neubeginn–Nationalsozialismus–Widerstand. Die politischtheoretische Diskussion der Neuordnung in CDU und SPD 1945–1948, Bonn 1987, S. 192. – Der Sozialismus sei zu einer „Angelegenheit des ganzen Volkes“ geworden, und es müsse die „Aufgabe der Sozialdemokratie“ sein, „diesem Volk bei aller Anerkennung des Verschuldens, das es durch das Dritte Reich auf sich genommen hat, zu einem freien Selbstbewusstsein zu verhelfen“, so die Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm, in: Kurt Schumacher, Programmatische Erklärungen auf der Konferenz am 5.10.1945, o.O.o.J., S. 21; sowie zit. nach Rainer Zitelmann, Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit, Erlangen 1991, S. 201/Anm. 104.

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die Tolerierung antikapitalistischer Strukturreformen seitens der Besatzungsmächte, da eine Sicherung der Demokratie durch die Beseitigung der sozialen Wurzeln des deutschen Imperialismus doch auch in ihrem Interesse läge. Der zunächst prominenteste Wirtschaftspolitiker der SPD war der dezidierte Marxist Viktor Agartz, der auf dem ersten Nachkriegsparteitag im Mai 1946 das zweite Hauptreferat hielt.13 Agartz genoss nicht nur das Vertrauen Schumachers, sondern auch des DGB-Vorsitzenden Hans Böckler. In seiner programmatischen Rede brachte Agartz sein Neuordnungskonzept auf den zentralen Begriff einer „sozialistischen Planwirtschaft im demokratischen Rechtsstaat“. Er bekräftigte somit die Festlegung der SPD auf die repräsentative, parlamentarische Demokratie und knüpfte zudem an die gradualistischen wirtschaftsdemokratischen Konzepte insbesondere Fritz Naphtalis aus den 20er Jahren an.14 Agartz ging aber darüber hinaus, indem seine Forderungen einen unmittelbaren Bruch mit dem kapitalistischen Profitprinzip zugunsten des Primats gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung ins Auge fassten: Das kleine und mittlere Eigentum an Produktionsmitteln sollte beibehalten, jedoch durch gewerkschaftliche Mitbestimmung und Arbeiterkontrolle in seiner Verfügungsgewalt eingeschränkt werden. Hingegen war eine Aufteilung des Großgrundbesitzes geplant, wobei die Vergenossenschaftlichung von Landwirtschaft, Handwerk und Handel gefördert werden sollte. Die monopolisier13 Viktor Agartz, Sozialistische Wirtschaftpolitik. Referat, gehalten auf dem Parteitag der SPD in Hannover, Mai 1946, Hg. SPD Groß-Hessen, Frankfurt a.M. o.J.; vgl. auch ders., Neue Formen der Wirtschaft. Vortrag, gehalten am 27.3.1947 auf dem ersten Konsumgenossenschaftstag in Hamburg, Hamburg 1948. – Speziell zu Agartz vgl. Christoph Jünke, Wirtschaftsdemokratische Neuordnungskonzepte nach dem Faschismus am Beispiel von Viktor Agartz, in: Stefan Berger (Hg.), 80 Jahre Zerschlagung der deutschen Gewerkschaften – Erfahrungen, Lehren, Erinnerungen, Essen 2015 (i.E.) – Zur Wirtschaftspolitik der SPD nach 1945 generell vgl. Ernst-Ulrich Huster, Die Politik der SPD 1945–1950, Frankfurt a.M. 1978; Erich Ott, Die Wirtschaftskonzeption der SPD nach 1945, Marburg 1978; Hans-Peter Ehni, Sozialistische Neubauforderung und Proklamation des „Dritten Weges“. Richtungen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik 1945–1947, in: Archiv für Sozialgeschichte 13 (1973), S. 131–190; Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin 1982. 14 Vgl. Fritz Naphtali, Wirtschaftsdemokratie, ihr Wesen, Weg und Ziel, Frankfurt a.M. 1966 (zuerst 1928); Günter Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideologie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (1924–1932), Stuttgart 1987; Benno Fischer, Theoriediskussion der SPD in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1987; Thomas Meyer/Horst Heimann (Hg.), Reformsozialismus und Sozialdemokratie. Zur Theoriediskussion des Demokratischen Sozialismus in der Weimarer Republik, Berlin 1982.

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ten Schlüsselindustrien und Großbanken waren zur Sozialisierung vorgesehen, bei der Verstaatlichung mit Vergesellschaftung kombiniert werden sollte. Ebenso wichtig war als zweites Element die öffentliche Planung und Lenkung der Gesamtwirtschaft durch den demokratischen Staat unter Beteiligung paritätisch besetzter Selbstverwaltungsorgane. Es handelte sich hier nicht um die Gedankenspiele eines Einzelnen, sondern um die basale Positionsbestimmung der SPD und der Mehrheitsströmung in den Gewerkschaften. Darauf deuten schon die oben erwähnten, gegen das Großkapital gerichteten Programmschriften des sozialdemokratisch-sozialistischen Exils hin. Andere berufene Wirtschaftsexperten der Partei neben Agartz wie der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Erik Nölting stimmten im Wesentlichen mit diesem überein.15 Noch auf dem Hamburger SPD-Parteitag 1950 benannte der Wirtschaftsminister von Württemberg-Baden, Hermann Veit, neben der Notwendigkeit zentraler Planung und Lenkung der Volkswirtschaft folgende Bereiche, die sozialisiert werden sollten: Bergbau, Energiewirtschaft, Großchemie, Großunternehmen der Baugrundstoffe, Großbanken, große Versicherungsgesellschaften und Monopolbetriebe, bei denen Monopolkontrolle nicht ausreiche.16 Wie aber sollte der sozialistische Neubau auf parlamentarischem Weg verwirklicht werden, wenn eine einheitliche deutsche Staatsgewalt gar nicht existierte und auch auf den unteren Ebenen zunächst nur Auftragsverwaltungen in Erscheinung traten? Parlamentarische Aktivität entfaltete sich zuerst in den auf kommunaler und Länderebene von den Militärregierungen ernannten Vertretungskörperschaften, dann ab Herbst 1946 bzw. Frühjahr 1947 in gewählten Organen. Eine eigene Mehrheit (doch keine absolute Stimmenmehrheit) erlangte die SPD in Schleswig-Holstein, wo viele Ostflüchtlinge und Vertriebene ihr zunächst die Stimme gaben; stärkste Kraft wurde sie in den Hansestädten sowie in Niedersachsen und Hessen. In mehrheitlich katholischen Ländern wie Nordrhein-Westfalen lag die SPD knapp hinter der CDU, während in Bayern die CSU allein und in den übrigen Ländern der amerikanischen sowie der französischen Zone entweder eine CDUoder eine christlich-liberale Mehrheit sie majorisieren konnte. Abgesehen von (Süd-)Baden legte die CDU/CSU jedoch Wert darauf, die Sozialdemokraten in die Regierungsarbeit einzubeziehen; diese waren ihrerseits in der Regel auf Koalitionspartner angewiesen, wo sie vorn lagen.

15 Vgl. Grundgedanken eines sozialistischen Wirtschaftsprogramms. Wege und Ziele sozialdemokratischer Wirtschaftpolitik, o.O.o.J. (Hannover 1947); Claudia Nölting, Erik Nölting. Wirtschaftsminister und Theoretiker der SPD (1892–1953), Essen 1989. 16 Nach Huster, Politik, S. 59.

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Legt man die Summe aller bei den ersten Landtagswahlen 1946/47 in den Westzonen abgegebenen Stimmen zugrunde, so erzielte die neue Sammlungspartei CDU/CSU 37,7 % und die SPD 35 %. Liberale und Kommunisten lagen mit 9,3 % bzw. 9,4 % etwa gleichauf.17 Die Ausgangslage für die SPD schien somit nicht ganz schlecht. Die KPD erzielte 1947 in Nordrhein-Westfalen allerdings einmalig 14 %; sie profitierte von einer Welle von Streiks und Massendemonstrationen im Ruhrgebiet gegen die Mangelversorgung, bei denen auch die Sozialisierung der Grundstoffindustrien gefordert wurde.18 Das strategische Dilemma der SPD in den überwiegend neu gebildeten Ländern bestand darin, dass bei ihren Neuordnungsvorstellungen, etwa auch im Bereich der Schulpolitik (Gemeinschafts- statt Bekenntnisschule), ein hohes Maß an Übereinstimmung mit der KPD bestand, vor dessen systematischer Nutzung die Sozialdemokraten aber meist zurückschreckten. Auch in Bremen, wo die beiden Arbeiterparteien zusammen mit den Gewerkschaften gegen heftigen Widerstand der Unternehmerseite und der bürgerlichen Parteien in einem Sondervolksentscheid den Verfassungsartikel zur umfassenden paritätischen betrieblichen Mitbestimmung durchsetzten, koalierte die SPD unter Einfluss Kaisens nach einigem Hin und Her schließlich mit der rechtsliberalen Bremer Demokratischen Volkspartei (BDV), der Hauptpartei des etablierten bremischen Bürgertums.19 Neben der KPD kam der gemäßigt-reformerische, teilweise gewerkschaftsnahe linke Flügel der CDU als Koalitionspartner infrage, der ab 1947/48 jedoch an Einfluss verlor. In Hessen, wo die SPD im Zusammenwirken mit der KPD die Enteignung der Schlüsselindustrien in der Verfassung verankern wollte, erklärte sie sich als Konzession an die CDU bereit, die für Hessen so wichtige Chemieindustrie aus dem Sozialisierungsartikel der Verfassung herauszunehmen; die amerikanische Besatzungsmacht ordnete trotzdem ein separates Plebiszit an, das eine überwältigende zustimmende Mehrheit ergab.20 In den Auseinandersetzungen über die Landesverfassungen 1946/47 richteten die Sozialdemokraten überall einen Großteil ihrer Energie darauf, in den 17 Zahlen nach Klotzbach, Weg, S. 113. 18 Vgl. Christoph Kleßmann/Peter Friedemann, Streiks und Hungermärsche im Ruhrgebiet 1946–1949, Frankfurt a.M. 1977. 19 Vgl. Peter Brandt, Betriebsräte, Neuordnungsdiskussion und betriebliche Mitbestimmung 1945–1948. Das Beispiel Bremen, in: IWK 20 (1984), S. 156–202. 20 Vgl. Willi Knothe u.a., Im Kampf für eine neue Verfassung. Programmatische Reden, Hg. Landesparteivorstand der SPD, Frankfurt a.M. 1946; Manfred Dörr, Restauration oder Demokratisierung. Zur Verfassungspolitik in Hessen 1945/1946, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2 (1971), S. 99 ff.; John Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945–1949, Frankfurt a.M. 1971; Huster, Politik, S. 47 ff.

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Verfassungsurkunden wirtschaftsdemokratische Bestimmungen zu verankern, was ihnen – im Zusammenwirken mit den Kommunisten bzw. Christlichen Demokraten – in unterschiedlichem Maß gelang. In Baden vermochten es die SPD-Abgeordneten, einen in jeder Hinsicht ausgeprägt konservativ-semiautoritären Verfassungsentwurf aus den Reihen der Badisch Christlich-Sozialen Volkspartei (BCSV), der Vorläuferpartei der CDU im Südwesten, in den Beratungen der Landesversammlung so zu verändern, dass er sich, zumal wenn man die Mehrheitsverhältnisse in Rechnung stellt, sehen lassen konnte. Das Gesamtergebnis lehnte die SPD dann aus vorrangig oppositionstaktischen parteipolitischen Erwägungen trotzdem ab.21

3. Fallstudie Nordrhein-Westfalen Von besonderer Bedeutung war offenkundig die Entwicklung im bevölkerungs- und wirtschaftsstärksten deutschen Land, dem neu gebildeten Nordrhein-Westfalen.22 Hier konstituierte sich unter Führung eines CDU-Politikers des linken Flügels, Karl Arnold, als Ministerpräsident im Juni 1947 eine Vier-Parteien-Koalitionsregierung, der neben den beiden Großen die KPD und das eher linkskatholische und zugleich kirchentreue (Rest-)Zentrum angehörten; nur die rechtsliberale FDP blieb der Regierung fern. Die beiden KPD-Minister wurden im Februar 1948 aufgrund eines deutschlandpolitisch begründeten, pauschalen Landesverratsvorwurfs an die Mehrheit des Landtags abberufen, ohne dass die betont sachliche Zusammenarbeit insbesondere zwischen den KPD-Abgeordneten und ihren sozialdemokratischen Kollegen damit schon geendet hätte. Die Kontroversen während der Verfassungsberatungen konzentrierten sich vorrangig auf zwei Felder: die Sozialisierung des Bergbaus, bei der es indirekt auch um den Status des Ruhrgebiets in Deutschland und Europa ging, sowie die Schulpolitik. Konsequent abgelehnt wurden Enteignungsmaßnahmen von der FDP, während die von Konrad Adenauer geführte CDU-Fraktion Modelle einer „Vergesellschaftung“ präferierte, wo Aktienkapital öffentliche und private Anteile enthalten sollte. Die SPD strebte eigentlich eine weitgehende Sozialisierung der Grundstoff- bzw. Schlüsselindustrien an, brachte 21 Vgl. Wolfrum, Besatzungspolitik, S. 180 ff. 22 Für das Folgende vgl. Dieter Düding, Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946– 1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, insb. S. 173 ff., S. 243 ff. u. S. 267 ff.; ders. Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946–1966, Bonn 1995.

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dann aber im Vorgriff auf die Verfassung Ende Juli 1947 im Landtag eine Gesetzesvorlage zur Verstaatlichung der Stein- und Braunkohlewirtschaft durch das Land ein. Zur Leitung der Kohlewirtschaft war ein Selbstverwaltungsgremium vorgesehen, das sich hauptsächlich aus Vertretern des Landtags, der Gewerkschaften und der einzelnen Bergbauunternehmen zusammensetzen sollte. Unterstützung fand die SPD-Fraktion außer bei den Kommunisten auch beim Zentrum; zusammen stellten die drei Parteien die Landtagsmehrheit. Ein volles Jahr befasste sich das Landesparlament in von offenen Redeschlachten begleiteten drei Lesungen, einer Sondersitzung des Plenums und in der Detailarbeit zweier Ausschüsse mit dem Rahmengesetz. Nachdem sowohl Verschleppungsversuche als auch – als Kompromiss gedachte – Änderungsanträge aus der CDU-Fraktion von den Befürwortern zurückgewiesen worden waren, passierte das Gesetz am 6. August 1948 gegen die Stimmen der FDP und bei Stimmenthaltung der CDU den Landtag. Die später verabschiedete Landesverfassung enthält in Artikel 28 Soll-Bestimmungen bezüglich der Überführung der „Großbetriebe der Grundstoffindustrie“ und „monopolartiger“ Unternehmen in Gemeineigentum. Noch weitaus emotionaler als beim Kohle-Sozialisierungsgesetz wurde im Zuge der Verfassungsberatungen der Streit um die Regel-Schulform für die Volksschule geführt (damals von 85 % der Kinder besucht). Während die nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten mit der „christlichen“ (also nicht weltanschaulich neutralen) Gemeinschaftsschule bei Gleichrangigkeit der Konfessionsschule ein für die CDU und das Zentrum akzeptables Kompromissangebot zu machen meinten – eingebettet in grundsätzlichere innovative Überlegungen zur Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und Sozialismus, Kirchen und SPD, namentlich von seiten Heinz Kühns –, zeigten die beiden kirchennahen Parteien vollkommene Intransigenz, bestärkt vor allem von der Katholischen Kirche. Das zentrale Argument für die konfessionelle Bekenntnisschule einschließlich der Einrichtung einklassiger Dorfschulen war das Elternrecht, das die Sozialdemokraten durch das Recht der Kinder auf Bildung und durch das Gemeinschaftsinteresse relativiert sehen wollten. Als es – zuerst am 6. Juni 1950 – zur Schlussabstimmung über die Landesverfassung kam, votierte die SPD zusammen mit KPD und FDP wegen der schulpolitischen Kontroverse negativ, was die Annahme der Verfassung in der folgenden Volksabstimmung aber nicht verhindern konnte. Generell war die Übereinstimmung zwischen Sozialdemokraten und Liberalen in kultur-, kirchen- und schulpolitischen Fragen weitaus größer als die zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten, so dass sich hier wiederholt andere Frontenbildungen ergaben, so auch bei der Vorbereitung des bundesdeutschen Grundgesetzes.

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4. Auf dem Weg zum Grundgesetz von 1949 Um im Sinne ihrer sozialistischen Ziele voran zu kommen, strebte die SPD an, in sämtlichen Landesregierungen den Posten des Wirtschaftsministers zu besetzen, was ihr größtenteils auch gelang. Mit Jahresbeginn 1947 wurde die britisch-amerikanische Bizone und mit ihr einige Monate später in Gestalt des Wirtschaftsrats eine aus den Länderparlamenten zusammengesetzte überregionale quasi-parlamentarische Vertretung gebildet. In dieser hatten SPD und KPD jeweils einen Sitz weniger inne als CDU/CSU und FDP (dazu kamen einige kleinere nicht-sozialistische Parteien). Dort stand die Wahl der Direktoren von fünf bizonalen Verwaltungsämtern an. Als der sozialdemokratische Wunsch, Alfred Kubel in der Nachfolge von Viktor Agartz die Leitung der Verwaltung für Wirtschaft zu übertragen, von den parteipolitischen Gegnern zurückgewiesen wurde (Ludwig Erhard erhielt dann im Frühjahr 1948 das Amt), verzichtete die SPD auf die Beteiligung am exekutiven Direktorium.23 Dabei spielte angesichts der vielen restriktiven Bedingungen deutscher Politikgestaltung – bedingt durch die Besatzungsverhältnisse und die existenzielle Notlage – die Erwartung eine Rolle, aus der Opposition heraus die sozialen Missstände offen anprangern zu können. Doch fuhren die sozialdemokratischen Mitglieder des Wirtschaftsrats währenddessen fort, intensiv und nicht ohne Erfolg im Einzelnen mitzuarbeiten, wie es der parlamentarischen Tradition der Partei entsprach. Für die Landesparlamente galt Entsprechendes, und die SPD blieb in fast allen Landesregierungen vertreten. Generell veränderten sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis und die politische Atmosphäre im Frühjahr und Sommer 1948 deutlich: Nachdem die Grundsatzentscheidung der Westalliierten für eine separate Staatsgründung auf dem Territorium der drei Westzonen gefallen war, wurden die deutschen politischen Akteure, auch unter dem Eindruck der sowjetischen Blockade West-Berlins, zur Mitwirkung gedrängt, namentlich durch die Ausarbeitung einer Verfassung. Mittlerweile zeigte sich auch, wie wenig – entgegen sozialdemokratischen Beschwörungen – der Marshall-Plan gesellschaftspolitisch neutral war. Im Juni wurde die Währungsreform durchgeführt, die Unternehmen und Besitzer von Sachmitteln klar begünstigte. Etwa zeitgleich suspendierten die amerikanische und unter deren Einfluss die britische Besatzungsmacht mehrere von der SPD mühsam durchgekämpfte Sozialisierungs- und Mitbestimmungsartikel in Länderverfassungen bzw. -gesetzen (oder Teile davon) 23 Vgl. Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln 1970, S. 92 ff.; Tilman Pünder, Das bizonale Interregnum. Die Geschichte des Vereinigten Wirtschaftsgebiets 1946–1949, o.O. 1966, S. 108 ff.

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mit Hinweis auf die bevorstehende bundeseinheitliche Regelung. Das betraf Nordrhein-Westfalen ebenso wie Schleswig-Holstein, Bremen, Württemberg-Baden und Hessen sowie Berlin, das bis zur Teilung der Stadt Ende 1948 eine Sonderentwicklung nahm. Alles das fand nachdrückliche Unterstützung bei den deutschen bürgerlichen Parteien und der Bizonenverwaltung.24 Im Grunde war die bisherige sozialdemokratische Politik sozialistischer Transformation über die parlamentarische Gesetzgebung damit strategisch gescheitert. Bezeichnend für die verfassungspolitische Position der SPD auch noch nach den Londoner Empfehlungen der Westalliierten vom Frühjahr 1948 war das Beharren auf dem provisorischen, nicht-staatlichen Charakter des entstehenden trizonalen „Gebildes“. Carlo Schmid, der schon bei der Verfassungsgebung der südwestdeutschen Länder eine wichtige Rolle gespielt hatte, erläuterte gegenüber dem aus den Länderparlamenten gebildeten Parlamentarischen Rat: „Wir haben unter Bestätigung der alliierten Vorbehalte das Grundgesetz zur Organisation der heute freigegebenen Hoheitsbefugnisse des deutschen Volkes in einem Teile Deutschlands zu beraten und zu beschließen. Wir haben nicht die Verfassung Deutschlands oder Westdeutschlands zu machen“.25 In der Präambel des früheren Entwurfs einer „westdeutschen Satzung“, ausgearbeitet von Walter Menzel, Innenminister Nordrhein-Westfalens und Stellvertreter Schmids in der Führung der SPD-Fraktion des Parlamentarischen Rats, bezeichnete die Partei den künftigen „Bund“ der westzonalen Länder Deutschlands als „Hoheitsgemeinschaft ... ohne staatliche Rechte“.26 So sehr die Sozialdemokraten bemüht waren, im Aufbau und in der Terminologie den Eindruck zu vermeiden, eine regelrechte Staatsverfassung vorzuschlagen, war die Substanz ihrer Vorschläge davon nicht so weit entfernt. Zwar akzeptierte die SPD schließlich das neue Grundgesetz der Bundesrepublik als Rahmen für die staatliche Organisation des künftigen Deutschland. Zugleich verzichtete sie auf den Versuch, ihre gesellschaftsreformerischen Ziele, etwa bezüglich der Enteignung bestimmter Wirtschaftszweige, im Grundgesetz zu verankern. Den Ersatz für die nähere Bestimmung der Wirtschafts- und Sozialordnung lieferte das allgemeine Sozialstaatspostulat. Und 24 Vgl. Gimbel, Besatzungspolitik, bes. S. 301 ff.; Huster, Politik, S. 71 ff. u. S. 118 ff.; Hartwich, Sozialstaatspostulat, S. 62 ff.; Gerold Ambrosius, Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945–1949, Stuttgart 1977; und wie Fn. 19. 25 Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Plenums, 2. Sitzung, 8. September 1948, S. 11. – Generell vgl. Michael G. M. Antoni, Sozialdemokratie und Grundgesetz, 2. Bde., Berlin 1991; Werner Sörgel, Konsensus und Interessen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes, Stuttgart 1969. 26 Abgedruckt in Antoni, Sozialdemokratie, S. 346–368, hier S. 346.

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immerhin eröffnete Artikel 15 GG bei entsprechender Mehrheitsbildung die Möglichkeit massiver Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse. Abgesehen von ihrer Betonung des provisorischen Charakters des Grundgesetzes war sich die SPD der Tatsache einer strukturellen Privilegierung des Bürgerblocks durch das Fehlen der sozialdemokratischen Hochburgen in der Sowjetzone und Berlin schmerzlich bewusst und wollte diesen Tatbestand durch die Wiedervereinigung korrigiert wissen. Damit es dahin kommen könne, müsse indes der westdeutsche Rumpfstaat ein ausreichendes Maß an Handlungsfähigkeit erlangen. Um das zu erreichen, riskierten Schumacher und die große Mehrheit des Parteivorstands mit ihrem kompromisslosen Nein zu den Verfassungsvorstellungen der Besatzungsmächte im Frühjahr 1949 noch einmal die Konfrontation der SPD mit den Westalliierten. Konkret ging es in dem betreffenden Beschluss des Parteivorstands vom 20. März 1949, der die Bedingungen für eine Zustimmung zum Grundgesetz formulierte, vor allem um die Beschränkung der Rechte des Bundesrats, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse und um die Finanzhoheit des Bundes.27

5. Wahlniederlage in der ersten Bundestagswahl und späte Ära Schumacher Es blieb die große Hoffnung auf einen Wahlerfolg bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949, die der SPD eine politische Führungsrolle zuweisen würde. Das Ergebnis war ernüchternd: Zwar verloren bei relativ hoher Wahlbeteiligung von knapp 80 % beide großen Parteien, CDU/CSU und SPD, gegenüber dem Durchschnitt der vorangegangenen Landtagswahlen gleichermaßen annähernd 7 % des Stimmenanteils, wodurch die Christdemokraten 31 % und die Sozialdemokraten 29,2 % verbuchen konnten. Doch wurden die CDU- und CSU-Verluste durch FDP-Gewinne und den Einzug mehrerer kleinerer konservativer, teils regionaler Parteien in den Bundestag im Sinne einer breiten bürgerlich-antisozialistischen Mehrheit überkompensiert, während der Anteil der KPD jetzt nicht mehr als 5,7 % betrug. 1950/51 wurde die SPD durch schwere Einbrüche in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zwischenzeitlich auch auf der Länderebene zurückgeworfen. Die SPD zog aus dem Bundestagswahlergebnis die nahe liegende Konsequenz, in die Opposition zu gehen (was auch den Intentionen Adenauers entsprach). Auf einer Tagung des Parteivorstands, dann auch von der Bundestagsfraktion und den sozialdemo27 Abgedruckt ist die Resolution im Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1948/49, Hannover o.J., S. 138 f.

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kratischen Ministerpräsidenten bestätigt, wurde für die Parlamentsarbeit der kommenden Legislaturperiode ein detailliertes Aktionsprogramm formuliert. Neben den gegen die liberal-kapitalistische Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Koalitionsregierung gerichteten Programmpunkten (Vollbeschäftigung, gerechter Lastenausgleich, Kredit- und Rohstofflenkung, Mitbestimmung, Sozialisierung der Schlüsselindustrien u.a.m.) bekräftigten die Richtlinien das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands und einer europäischen „Neuordnung“.28 Das Demokratieverständnis des SPD-Fraktionsvorsitzenden Schumacher beinhaltete die Ablehnung der Konsenssuche um ihrer selbst willen, des Harmonisierens der politisch-sozialen Gegensätze in Inhalt und Form. Dem Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, einem hartnäckigen innerparteilichen Kritiker, hielt er 1949 entgegen: „Der Todfeind der Demokratie sind nicht die polaren gegensätzlichen Prinzipien, der Todfeind der Demokratie ist ihre Passivität, ihr Nichtkämpfenwollen, ihr Gleitenlassen!“ Und kurz vor seinem Tod: „Wer nicht die Kraft hat, in gewissen Situationen Nein zu sagen, dessen Ja ist völlig wertlos.“29 Die Opposition war für Kurt Schumacher und seine Fraktionskollegen ein lebenswichtiges Organ der parlamentarischen Demokratie wie die Regierung auch, ihr Wesen „der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien ihren positiven Gestaltungswillen aufzuzwingen“ – so in einer Antwort auf die erste Regierungserklärung des Bundeskanzlers Adenauer im September 1949.30 Diese Kontroll- und Mitgestaltungsfunktion der Opposition bezog sich sowohl auf eine Richtungskritik entsprechend den – der Regierung entgegengesetzten – gesellschaftspolitischen Zielsetzungen als auch auf eine Leistungskritik, die der in die Tagesgeschäfte verstrickten Administration die größeren Perspektiven und den Tiefblick voraushaben sollte. Bereits Ende der 40er Jahre begann in der SPD ein Prozess der schleichenden Revision des ursprünglichen Transformationskonzepts. Das galt für die Wirtschaftsplanung ebenso wie für den Umfang und die Art der Überführung von Teilen der Ökonomie in öffentliches Eigentum. Neokeynesianische Theorieelemente traten neben und sukzessive vor den marxistisch begründeten, auf Überwindung des Kapitalismus als System zielenden Reformsozialis28 Richtlinien der Politik der SPD im Bundestag (Dürkheimer 16 Punkte), abgedruckt ebd. S. 139 f. 29 Schumacher, Reden, S. 662 (20. April 1949) u. S. 827 (6. August 1952). 30 Ebd., S. 691 (21. September 1949). – Zur Problematik der SPD als Oppositionspartei vgl. Klotzbach, Weg, S. 188 ff.; Michael Hereth, Die parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, München 1969, insb. S. 75 ff.

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mus. Schon das Dortmunder Aktionsprogramm von 195231 und nicht erst das Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 erkannte wesentliche Elemente der Erhard’schen Sozialen Marktwirtschaft wie Leistungswettbewerb, Monopolkontrolle und begrenzte staatliche Rahmenplanung an und wollte sie, ohne mit den eigenen tradierten wirtschaftspolitischen Ansätzen unmittelbarer und mittelbarer Vergesellschaftung zu brechen, durch gezielte Vollbeschäftigung und antizyklische Konjunkturpolitik sowie Investitionskontrolle ergänzen. Die darin zum Ausdruck kommende gewisse programmatische Anpassung war eine Reaktion auf die unerwartete ökonomische Prosperität, insbesondere mit dem Korea-Boom, die sich – bei ungebremster sozialer Polarisierung – auch für das Realeinkommen der breiten Massen positiv auszuwirken begann, nachdem sich schon mit der Währungsreform das Angebot an Konsumwaren schlagartig verbessert hatte. Die Vorhersagen über das Scheitern der Erhard’schen Wirtschaftspolitik bewahrheiteten sich nicht, obwohl es im zweiten Halbjahr 1948, einer Phase rapider Preissteigerungen, zeitweilig so aussah. Dass man am Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte des Kapitalismus stand, mit historisch einmaligen Einkommenszuwächsen auch für die untere Bevölkerungshälfte und dem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme hin auch zu einer veränderten Qualität, war indessen noch keineswegs abzusehen. Es zeigte sich aber spätestens mit der ersten Bundestagwahl, was auch amerikanische Umfragen belegten32, dass die antikapitalistische Massenstimmung der frühen Nachkriegsjahre bei der Mehrzahl der Werktätigen, und das betraf auch die Wählerschaft der SPD, fragil, diffus und teilweise in sich widersprüchlich gewesen war. Insbesondere schien die Zwangsbewirtschaftung der Jahre 1945–48 in Fortsetzung der Kriegswirtschaft und zur Steuerung der Versorgungsnot nicht für den Gedanken der demokratischen Wirtschaftsplanung zu sprechen. Umso wichtiger wurde für die SPD und naturgemäß die Gewerkschaften die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in einer bezüglich der Eigentumsverhältnisse weiterhin fast ausschließlich privatkapitalistisch strukturierten Wirtschaft, auch als Demokratiefrage. Die 1947 für die rheinisch-westfäli31 Aktions-Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Dortmunder Parteitag am 28. September 1952. Mit einem Vorwort von Dr. Kurt Schumacher, o.O.o.J.; die auf dem Parteitag in Berlin 1954 erweiterte und noch stärker marktwirtschaftlich akzentuierte Fassung in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1973, S. 297–348. 32 Eingehend herausgearbeitet bei Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 1: Die politische Kultur der Bevölkerung und der Neubeginn konservativer Politik, Köln 1983; vgl. auch Anna J. Meritt/Richard Merritt (Hg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys 1945–1949, Chicago 1970.

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sche Montanindustrie eingeführte Parität konnte nach einer diesbezüglichen Kampagne des DGB 1951 noch mit Zustimmung von CDU/CSU – Adenauer hoffte auf die gewerkschaftliche Duldung seines außen- und sicherheitspolitischen Kurses – verteidigt und geographisch ausgeweitet werden. Bei der Entscheidung über das Betriebsverfassungsgesetz ein Jahr vor der zweiten Bundestagswahl, zusammen mit dieser die letzte große gesellschaftspolitische Weichenstellung der Nachkriegsperiode, während mit der Niederschlagung des Juni-Aufstands 1953 gleichzeitig der vermeintliche Anlauf einer demokratisch-sozialistischen Umgestaltung der DDR von innen heraus scheiterte33, erlitten SPD und Gewerkschaften 1952 eine eindeutige Niederlage. Daran konnte die Mobilisierung außerparlamentarischen Protests durch Massendemonstrationen und Warnstreiks seit Mai 1952, begleitet von einem Druckerstreik, nichts ändern.34 Obwohl die wesentlichen Grundsatzentscheidungen gegen sie gefallen waren und fortlaufend fielen, gestalteten die Sozialdemokraten den neuen westdeutschen Staat aktiv mit: Sie bemühten sich mit beträchtlichem Erfolg, in den Bundestagsausschüssen Verbesserungen von Gesetzesentwürfen zu bewirken, deren Konzeption nicht ihre Zustimmung finden konnte, unterstützt von Abgeordneten aus dem Regierungslager. Das galt vor allem für die Sozialpolitik. So ergab sich das Dilemma, dass weder eine (vielfach dennoch erfolgte) Zustimmung noch eine Ablehnung von Regierungsvorhaben dieser Art Mitwirkung ganz gerecht werden konnte. In diesem Zwiespalt kam auch die ambivalente Stellung des Bundestags (und der Landtage) als gleichermaßen Arbeits- und Redeparlament zum Ausdruck.35 Von der aus ihrem Verständnis parlamentarischer Arbeit und aus der Logik des Parlamentarismus erwachsenen partiellen Kooperation wich die SPD nur bei einigen grundlegenden Regelungen der sozialen Verhältnisse ab, wo ihre Vorschläge nicht oder nur unerheblich zum Tragen kamen. Dies galt für den Lastenausgleich, wo sie die an der möglichst weitgehenden Restitution früheren Vermögens orientierte 33 Vgl. dazu Peter Brandt, Der Arbeiter- und Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR – Versuch einer Deutung, in: Detlev Brunner/Mario Niemann (Hg.), Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung, Paderborn 2011, S. 135–157. 34 Vgl. Klotzbach, Weg, S. 247 ff.; Wolfgang Hirsch-Weber, Gewerkschaften in der Politik. Von der Massenstreikdebatte zum Kampf um das Mitbestimmungsrecht, Köln 1959, S. 92 ff.; Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945–1952. Zur Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 21971, insb. S. 211 f. 35 Zu dieser klassischen Unterscheidung vgl. Winfried Steffani, Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag – ein Vergleich, in: Kurt Kluxen (Hg.), Parlamentarismus, Köln 1967, S. 230–248.

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Vorlage der Regierungsparteien ablehnte; sie sah darin einen sozial restaurativen und ungerechten Ansatz.36 Fast selbstverständlich war die regelmäßige Ablehnung des Bundeshaushalts, die klassische Symbolhandlung der Opposition im parlamentarischen System. Umso mehr trat die Deutschland-, Europa- und Wehrpolitik ins Zentrum des insbesondere parlamentarischen Ringens zwischen Regierung und Opposition. Im Kern ging es dabei um das Verhältnis von Wiedervereinigung, dem „Maßstab aller Dinge“37, für jeden einzelnen politischen Schritt des bundesdeutschen Provisoriums, und Westintegration, genauer: der wirtschaftlichen und politischen Eingliederung in Westeuropa, der Stellung der Bundesrepublik innerhalb des Westblocks und ihrer militärischen Sicherung durch (Wieder-)Aufrüstung.38 Zwar lehnten die SPD und namentlich ihr Vorsitzender Schumacher die militärische Westbindung und die europäische Einigung nicht grundsätzlich ab. Doch bedeuteten die „nationalen“ (der Gesichtspunkt der faktischen Souveränität und Gleichberechtigung der Bundesrepublik) und „gesamtdeutschen“ (der Gesichtspunkt der Wiedervereinigung) Vorbehalte, dass sich Regierung und Opposition Anfang der 50er Jahre und darüber hinaus unversöhnlich gegenüberstanden. In den Worten von Carlo Schmid, der sich auf den Schumann-Plan für eine westeuropäische Montanunion bezog: „Wir haben von Anfang an die Bundesrepublik ein Provisorium genannt, … weil wir damit etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen, daß die Bundesrepublik nichts Endgültiges ist, auch nicht auf einem beschränkten Teil des deutschen Staatsgebiets, und haben damit zum Ausdruck gebracht, dass dieses Provisorium keine definitiven Bindungen für ganz Deutschland schaffen kann … Das Provisorium erlaubt nicht mehr als den modus vivendi. Es erlaubt nicht Status-Verträge.“39

Adenauers Linie der schrittweisen Wiedergewinnung von Souveränität, auch durch zwischenzeitliche einseitige Zugeständnisse, der Westintegration und der Einpassung in die amerikanische Blockbildungsstrategie war durchaus 36 Vgl. Klotzbach, Weg, S. 253 f.; vgl. auch Peter Paul Nahm, Lastenausgleich und Integration der Vertriebenen und Geflüchteten, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 817–842. 37 Schumacher, Reden, S. 964 (15. Juli 1952). 38 Vgl. für das Folgende, hier knapp gehalten, die zusammenfassende Darstellung (mit weiterer Literatur) bei Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, S. 248 ff. 39 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Bd. 1, S. 8113.

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plausibel, wenn man akzeptierte, dass er die Prioritäten anders setzte als die sozialdemokratische Opposition. Unter den sozialdemokratischen Prämissen bot die Regierungspolitik immer wieder Angriffsflächen, die in erbitterten Redeschlachten im Parlamentsplenum öffentlichkeitswirksam ausgetragen wurden. Zur Zuspitzung der Konfrontation trug bei, dass die Regierung es unterließ, die Opposition auch nur annähernd über diejenigen Tatbestände und Vorgänge zu informieren, die nur sie kennen konnte. Im Hinblick auf die faktische Wirkung spricht indessen vieles dafür, dass die scharfe Opposition der Schumacher-SPD gegen die Adenauer’sche Regierungspolitik dem Kanzler in seinen Verhandlungen mit den Westmächten geholfen hat. Das ändert nichts daran, dass Adenauers Linie von der SPD in der Methode wie im vermuteten Effekt entschieden abgelehnt wurde. Sie hatte – neben den gesellschaftspolitischen Implikationen – stets die Kriterien sowohl der Unabhängigkeit der westdeutschen Politik von den Besatzungsmächten als auch der Wiedervereinigung Deutschlands im Auge. „Wer diesem Generalvertrag [zur Aufhebung des Besatzungsstatus] zustimmt, hört auf, ein Deutscher zu sein.“40 In solchen, auch von Wohlwollenden als deplatziert empfundenen Formulierungen drückte Schumacher am Ende seines Lebens seine Verbitterung darüber aus, mit welcher Bedenkenlosigkeit Adenauer seiner Meinung nach den Kurs forcierter Westintegration um jeden Preis fortsetzte. Kurt Schumacher starb am 20. August 1952. Die überwältigenden Trauerfeierlichkeiten mit Beteiligung von Hunderttausenden belegten die tiefe Verehrung der deutschen Sozialdemokratie für ihre Identifikationsfigur während der ersten sieben Nachkriegsjahre.

40 Schumacher, Reden, S. 902 (15. Mai 1952).

SIEGFRIED HEIMANN

Von Erich Ollenhauer zu Willy Brandt Organisatorischer und programmatischer Wandel der SPD 1953–1963

Das Jahrzehnt 1953 bis 1963 war für die Geschichte der SPD nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung. Nach der Wiedergründung der Partei stellte sich schon Ende der vierziger Jahre heraus, dass viele „Blütenträume“ aus der unmittelbaren Nachkriegszeit „Träume“ geblieben waren. Programmatische und organisationspolitische Veränderungen hätten schon nach der Bundestagswahl 1949 auf der Tagesordnung stehen müssen. Es brauchte jedoch ein ganzes Jahrzehnt, bis erste Vorschläge dazu in der Partei auch umgesetzt wurden.1

1. Die SPD zwischen 1953 und 1963 – ein Überblick Mitte des Jahres 1952 starb Kurt Schumacher. Mit seinem Tod verlor die Sozialdemokratie einen Parteivorsitzenden, der wie kein anderer seit dem Tode August Bebels der Partei seinen politischen Willen aufgeherrscht hatte. Im selben Jahr erlitten die Partei und die – mehrheitlich – sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften auch bei der Abstimmung über das Betriebsverfassungsgesetz eine Niederlage. Der Versuch, in der westdeutschen Gesellschaft wirtschaftsdemokratische Ziele zu verwirklichen und reformistische sozialdemokratische Programmatik auch durch außerparlamentarischen Druck wenigstens teilweise in politische Praxis umzusetzen, war nach anfänglichen Erfolgen gescheitert: Unter den Mitgliedern in der Partei und in den Gewerkschaften wuchs die Enttäuschung. Dennoch blieb zunächst die Charakterisie1 Die Darstellung stützt sich vor allem auf meinen Text: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Parteienhandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Hg. Richard Stöss, Bd. 2, Opladen 1984, S. 2025–2216, dort auch umfassende Verweise auf die Literatur. Vgl. dazu auch: Siegfried Heimann, Die Sozialdemokratie – Forschungsstand und offene Fragen, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 147–186. Die Darstellung bezieht darüber hinaus die seither erschienene Literatur bis 2015 mit ein, auf die jeweils verwiesen wird.

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rung Schumachers als überragende Persönlichkeit der unmittelbaren Nachkriegssozialdemokratie unbestritten. Erst nach 1989 gab es Versuche, diese Rolle kritischer zu sehen. Es sei an der Zeit, schrieb der Historiker Heinrich Potthoff im Jahre 1990, „die Heroengestalt [Schumachers] nicht länger mit einem Glorienschein zu versehen, sondern sich ihm mit kritischer Distanz zu nähern“. Noch deutlicher übten Peter Lösche und Franz Walter Kritik an der Rolle Schumachers. Dessen Vermächtnis habe nach seinem Tode „wie ein Alp“ auf der SPD gelastet und „ihre politische Handlungsfähigkeit noch auf lange Zeit beeinträchtigt. Erst als die Sozialdemokraten aus dem Schatten des ersten Nachkriegsvorsitzenden heraustraten, waren sie in der Lage neue Wege zu gehen.“2 Im Jahre 1953 kam eine noch größere Niederlage bei der Bundestagswahl hinzu. Was 1949 noch knapp erschien, war 1953 eindeutig: Die SPD hatte gegenüber einer mit über 45 % klar führenden CDU/CSU nur 28,8 % der Stimmen erhalten (1949: 29,2 % SPD zu 31 % CDU/CSU). Der „Bürgerblock“ hatte sich als politische Kraft stabilisiert, die SPD schien auf lange Sicht von der Teilhabe an der politischen Macht auf Bundesebene ausgeschlossen zu sein, da aufgrund der politischen Polarisierung in grundlegenden außen-, aber auch wirtschaftspolitischen Fragen – anders als in den Bundesländern – eine Koalition ausgeschlossen war. Der Wählerstamm der SPD umfasste rund 30 % aller Wähler, während der ganzen fünfziger Jahre blieb die SPD in diesem 30-Prozent-Turm gefangen. Der Schock der Wahl von 1953 löste in der Partei Bewegung aus: Eine Reform an Haupt und Gliedern wurde verlangt, eine Programmrevision und eine Organisationsreform sollten die Partei aus dem politischen Tief herausführen, vor allem sollte „Ballast“ abgeworfen werden. Besonders die letzte Forderung stieß auf den erfolgreichen Widerstand der Traditionalisten in der Partei, die dadurch die Anrede „Genosse“ und die rote Fahne auf der „Baracke“ (dem provisorischen Bau in Bonn, in dem der Parteivorstand residierte) noch einmal retten konnten. Dennoch hatte der Wandel der Partei bereits begonnen. Auf dem Berliner Parteitag 1954 wurden dafür die Weichen gestellt. Das noch von Schumacher mit formulierte Dortmunder Aktionsprogramm wurde in wichtigen Passagen verändert. Die von dem Professor für Volkswirtschaft Karl Schiller geprägte und ins Aktionsprogramm eingefügte Formel „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit 2 Zum Zitat von Potthoff vgl. Heinrich Potthoff, Aufstieg und Niedergang der SPD, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 38. Jg./Heft 4 (1991), S. 354 ff.; zum Zitat von Lösche und Walter vgl. Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei–Volkspartei–Quotenpartei. Zur Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 110.

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wie nötig“ sollte zum Leitmotiv aller künftigen programmatischen Aussagen der Partei werden.3 Allerdings fand nach dem Berliner Parteitag eine weiterführende, besonders von den ethischen Sozialisten in der Partei um Willi Eichler geforderte Programmdiskussion kaum noch statt, und auch der Elan, mit dem die Reform der Organisationsstruktur angepackt werden sollte, erlosch rasch.4 Die Parteiführung berief zahlreiche Kommissionen, in denen heftige Diskussionen geführt wurden, die den Willen zu einer Parteireform bald erlahmen ließen. Die alte Klassenkampfrhetorik war aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung seit 1948/49 immer weniger überzeugend geworden. Die Bundesrepublik erlebte „eine fast ununterbrochene, zweieinhalb Jahrzehnte anhaltende Periode starken Wachstums“.5 Aufgrund des ökonomischen Aufschwungs, der als „Wirtschaftswunder“ wahrgenommen wurde, prägte seit Beginn der fünfziger Jahre eine allmählich entstehende „Wohlstandsstimmung“ das Bewusstsein der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Auch die Mitglieder und Wähler der Sozialdemokratie begannen sich dieser Stimmung anzupassen. Die Parteiführung nahm die veränderte gesellschaftliche Realität kaum zur Kenntnis. Nach der Wahlniederlage 1953 propagierte sie zwar eine kämpferische Politik der Partei, die die enttäuschten Anhänger wieder mobilisieren helfen sollte, sie tat aber wenig, um diese Politik in die Tat umzusetzen. Noch häufiger aber waren die Konsequenzen ihrer praktischen Politik widersprüchlich.6 Die SPD bot so in der Öffentlichkeit das Bild einer Partei, die nicht wusste, was sie wollte. Der mit großer Mehrheit zum Nachfolger Schumachers als Parteivorsitzender gewählte Erich Ollenhauer verwaltete die Partei redlich. Er bewies dabei angesichts der großen Schwierigkeiten, vor denen die Partei stand, viel Geschick und politisches Können, aber es gingen von ihm keine Impulse aus, die der Partei unter veränderten Bedingungen Weg und Ziel gewiesen hätten.7 Die Mitgliederzahlen gingen weiter zurück. Im Jahre 1954 erreichten sie ihren Tiefpunkt. Die Partei zählte nur noch 585.000 Mitglieder. Die geplante Organisationsreform war zunächst im Sande der Kommissionsdiskussionen versickert; die Kritik am bürokratischen Parteileben wuchs. 3 Vgl. den veränderten Wortlaut des „Aktionsprogramms“ in: Jahrbuch der SPD 1954/55, S. 285–317. 4 Vgl. dazu: Sabine Lemke-Müller, Ethischer Sozialismus und Sozialdemokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988. Zur Organisationsreform und zur Programmdebatte vgl. ausführlicher weiter unten. 5 Vgl. dazu: Peter Brandt/Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013, S. 174. 6 Zur politischen Praxis der SPD vgl. weiter unten. 7 Vgl. Brigitte Seebacher-Brandt, Ollenhauer. Biedermann und Patriot, Berlin 1984.

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Wahlerfolge auf Bundesebene ließen weiter auf sich warten. Die SPD konnte ihr Ergebnis 1957 nur um knapp 3 % steigern, die CDU dagegen errang die absolute Mehrheit. In Nordrhein-Westfalen sah es bei Landtagswahlen nicht ganz so hoffnungslos aus, in anderen Bundesländern dagegen (z.B. in Bayern und in Rheinland-Pfalz) blieb der erhoffte Wählerzuwachs aus. In der politischen Praxis der Partei besaß die Außenpolitik weiterhin eindeutig Priorität. Noch zu Lebzeiten Schumachers war allerdings bereits Widerspruch gegen dessen Akzentuierung laut geworden: Die außenpolitische Orientierung der Partei, so richtig sie gewesen sein mochte – und auch darüber war man sich in der Partei nicht einig –, werde den Problemen der SPD-Wähler und -Mitglieder nicht mehr gerecht. Dabei schien das wichtigste deutschlandpolitische Ziel der SPD, die Wiedervereinigung zu erreichen, für die Partei weiterhin von existentieller Bedeutung. Fritz Erler gab dem pathetisch Ausdruck, als er 1954 schrieb: „Die Sozialdemokratie atmet nur auf einem Lungenflügel, solange ihre Hochburgen in Mitteldeutschland nicht wieder in Freiheit am Leben der Partei beteiligt sind.“8 Die Sozialdemokratie musste jedoch zur Kenntnis nehmen, dass ihre an den Regierungsparteien geübte Kritik wegen der stereotyp wiederholten Bekenntnisse zur Wiedervereinigung auch die SPD selbst zu treffen begann: Die Forderung nach Wiedervereinigung wurde zum innenpolitisch verwertbaren Ritual, ohne dass politische Konzepte sichtbar waren, die eine reale Aussicht auf Erfolg boten. Im Jahre 1959 machte die SPD deshalb noch einmal mit der Propagierung des „Deutschlandplanes“, der bemerkenswerte, von Schumachers Konzeption abweichende Akzente aufwies, einen letzten Versuch, die alte deutschlandpolitische Zielsetzung in praktische Politik umzusetzen. Der Versuch scheiterte, und der Plan wurde bereits nach einem Jahr als unrealistisch aufgegeben.9 Darüber hinaus blieb die gesamte außenpolitische Orientierung der SPD in den fünfziger Jahren in der Tagespolitik widersprüchlich. Die Parteiführung reagierte auf neue politische Ereignisse unsicher: Einerseits wollte sie nicht von Schumachers Prämissen aus den ersten Jahren der Nachkriegszeit abweichen, andererseits sah sie kaum noch eine Möglichkeit, die von den Regierungsparteien betriebene Westintegration wegen einer erhofften Wieder8 Fritz Erler, Das ganze Deutschland soll es sein, in: Berliner Stimme vom 4.12.1954. Vgl. dazu auch: Hartmut Soell, Fritz Erler. Eine politische Biographie, 2 Bde., Bonn 1976, hier: Bd. 2, S. 73 f. Auf diesen alten sächsischen und thüringischen „Hochburgen“ ruhten nach 1989 die Hoffnungen der SPD. Die „Hochburgen“ waren freilich schon längst Vergangenheit. Vgl. dazu: Franz Walter u.a., Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora, Bonn 1993. 9 Zum Wortlaut vgl. Jahrbuch der SPD 1958/59, S. 397–401. Vgl. ausführlicher weiter unten.

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vereinigung ernsthaft in Frage zu stellen. So stellte sie sich Mitte der fünfziger Jahre an die Spitze von Massenbewegungen gegen die Wiederbewaffnung, zugleich aber stimmte sie im Bundestag teilweise Gesetzentwürfen zu, die diese befürworteten. Immer wieder wurden zwischen 1955 und 1960 in der Bundestagsfraktion auf Parteitagen beschlossene sozialdemokratische Positionen „nachgebessert“, und erst auf den jeweils folgenden Parteitagen von der Parteimehrheit durch Entschließungen „abgesegnet“. Obgleich die innerparteiliche Opposition gegen den schrittweisen Wandel sozialdemokratischer Politik stärker wurde, gelang es der Parteiführung immer wieder, die Opponenten ohne großen Widerspruch zu disziplinieren und einige Wortführer der Opposition sogar aus der Partei auszuschließen. Die stets uneinige Front der Parteilinken wurde weiter geschwächt, konnte sich aber auch gegen die sich abzeichnende programmatische Neuorientierung Ende der fünfziger Jahre nicht zu gemeinsamem Handeln aufraffen. Umso aktiver waren schließlich die im Bündnis vereinten ethischen Sozialisten und Sozialreformer. Nach dem Schock der Bundestagswahl von 1957 betrieben sie zunächst – und mit beachtlichem Erfolg – die nach 1953 auf die lange Bank geschobene Reform der Organisationsstruktur. Das neue, auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 beschlossene Organisationsstatut entmachtete die hauptamtlich beschäftigte Parteibürokratie, und die gleichzeitig absolvierten Parteivorstandswahlen brachten einen personellen Wechsel, der vor allem die Position der Bundestagsfraktion in der neuen Parteiführung stärkte; gleichzeitig betriebene Versuche, auch die innerparteiliche Demokratie auszuweiten, blieben dagegen ohne Erfolg. Auf dem außerordentlichen Parteitag 1959 in Bad Godesberg wurde schließlich ein 1958 bereits vorbereitetes neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das im Selbstverständnis der Mehrheit der Mitglieder den Wandel der Partei zu einer gemeinwohlorientierten sozialreformerischen Volkspartei programmatisch bestätigte. Eine Bundestagsrede Herbert Wehners Mitte 1960, in der er die veränderten außenpolitischen Zielsetzungen der SPD begründete, bildete den Schlusspunkt in der Veränderung des Charakters der Sozialdemokratie in den fünfziger Jahren. Die alte Partei, die sich in der Opposition „einzurichten“ begonnen hatte, gehörte der Vergangenheit an, die SPD war nun zu einer „konstruktiven“ Opposition bereit. Der Wille der Mehrheit in der Partei, vor allem der neuen Parteiführung, endlich zur politischen Macht zu gelangen und diese auch zu behaupten, bestimmte das politische Handeln. Zu Beginn der sechziger Jahre erschien erstmals auch eine Koalition denkbar, in der – was für Schumacher noch unvorstellbar gewesen wäre – die SPD nur die Rolle des Juniorpartners spielen würde.

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2. Die SPD auf dem Weg in die Regierung Seit dem Beginn der sechziger Jahre signalisierte die SPD den bürgerlichen Parteien innen- und außenpolitische Gemeinsamkeiten und lotete in Gesprächen der Parteiführungen die Möglichkeiten einer Koalition aus. Der Parteitag in Hannover im Jahre 1960 hatte eine von Fritz Erler gefundene „atomare Formel“ verabschiedet, die der SPD sogar für eine mögliche atomare Bewaffnung der Bundeswehr eine Hintertür offen ließ; auf diesem Parteitag hatte die SPD auch – trotz aller Ablehnung der vorliegenden Entwürfe – ihre prinzipielle Bereitschaft erklärt, an einer Notstandsgesetzgebung mitzuwirken. Kritiker der „Godesberger Wende“ meinten deshalb auch, dass die Haltung der SPD zu den Notstandsgesetzen eine Konsequenz ihrer Anpassung an die Politik der CDU/CSU gewesen sei. Die Bereitschaft der SPD, an Notstandsgesetzen mitzuwirken, war jedoch älter als die „Godesberger Wende“; andererseits war es nicht zuletzt die SPD, die durch ihren Einfluss auf die verschiedenen Entwürfe bewirkte, dass die Notstandsgesetze nach ihrer Verabschiedung 1968 kein Thema in der Partei mehr waren. Der Protestbewegung gegen die Notstandsgesetze war es allerdings zu danken, dass der Wille zur Liberalisierung des Inhalts dieser Notstandsgesetze in der SPD in den sechziger Jahren größer wurde.10 Seit der Berlin-Krise 1958 besaß der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt großes, auch internationales Ansehen. Mit ihm als Kanzlerkandidaten konnte die SPD bei der Bundestagswahl 1961 einen beachtlichen Stimmenzuwachs auf 36,2 % erzielen. Brandt schlug den regierenden Parteien ein „Kabinett der nationalen Konzentration“ vor, um der politischen Herausforderung nach dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 begegnen zu können.11 Aber so schnell war ein Mitregieren noch nicht zu erreichen, und die Parteiführung versuchte deshalb in den folgenden Jahren, die Partei an einer kleinen oder großen Koalition zu beteiligen. Für einen Teil der Fraktion im Bundestag war die FDP der Wunschpartner, ein anderer Teil, vor allem aber Herbert Wehner, hielt aufgrund der Mehrheitsverhältnisse nur eine Koalition mit der CDU/CSU für möglich. Im November 1962 schien die Koalition zum 10 Vgl. dazu Michael Schneider, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze. Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958–1968), Bonn 1986. 11 Vgl. zum „Kabinett der nationalen Konzentration“: Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975, Hamburg 1976, S. 43. Vgl. auch: Siegfried Heimann, Willy Brandt vor und nach dem Mauerbau, in: Bernd Faulenbach/Andreas Helle (Hg.), Menschen, Ideen, Wegmarken. Aus 150 Jahren deutscher Sozialdemokratie, Berlin 2013, S. 247–255.

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Greifen nahe zu sein, die Verhandlungen scheiterten aber noch einmal. Die SPD glaubte, sich noch mehr an die Regierungspolitik anpassen zu müssen: Der Oppositionsstil wandelte sich erneut, aus der kooperativen Opposition wurde in der ersten Hälfte der sechziger Jahre oft eine „stumme“ Opposition.12 Die SPD wollte in der Öffentlichkeit das Bild einer modernen und dynamischen Partei bieten, die den – durch lange Jahre des Regierens verbraucht erscheinenden – bürgerlichen Parteien erfolgreich Konkurrenz machen könne. Ein neuer, an amerikanischen Vorbildern orientierter Wahlkampfstil sollte zu diesem veränderten „Image“ ebenso beitragen wie die neue „Mannschaft“, die den Wahlkampf bestritt. Willy Brandt war 1962 stellvertretender Parteivorsitzender geworden, nach dem Tode Erich Ollenhauers Ende 1963 wurde er Anfang 1964 der Erste Vorsitzende der Partei. Die Bundestagsfraktion hatte seit 1958 ihren Einfluss auf die Parteiführung vergrößern können. Bereits seit 1958 war Herbert Wehner stellvertretender Parteivorsitzender; er leitete die wichtigsten Abteilungen (Internationale Beziehungen, Organisation und Öffentlichkeitsarbeit) und hatte, besonders nach der Neuordnung der Parteiverwaltung im Jahre 1963, die Parteiorganisation fest in der Hand. Auf der Grundlage des Godesberger Programms wurde die programmatische Diskussion fortgesetzt. Auf zahlreichen Fachkonferenzen, die oft Parteitage ersetzten, wurden programmatische Grundsätze für einzelne Politikbereiche beschlossen. Willy Brandt und Egon Bahr setzten mit ihren programmatischen Reden im Jahre 1963 in Tutzing, mit denen sie in Richtung Osten einen „Wandel durch Annäherung“ postulierten, ein Zeichen für eine deutschlandpolitische Neuorientierung. Das Passierscheinabkommen von 1963 in Berlin deutete die Richtung für eine neue Ostpolitik an.13

3. Zur Diskussion um eine Organisationsreform in den fünfziger Jahren und das Organisationsstatut von 1958 Die Diskussion über eine Organisationsreform erhielt in den fünfziger Jahren ein immer größeres Gewicht und verdrängte zeitweilig sogar die Programmdiskussion aus der parteiinternen Auseinandersetzung.14 Alle „Reformer“ in 12 Vgl. ausführlicher weiter unten. 13 Vgl. „Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt, im Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing am 15. Juli 1963“, in: Willy Brandt, Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1957–1966, bearb. und mit einer Einleitung von Siegfried Heimann, Bonn 2004, S. 419–449. 14 Vgl. dazu Soell, Fritz Erler, Bd. I, S. 238 f. und: Lösche/Walter, Die SPD, S.173 ff., zur Reform von 1958 vor allem S. 184 ff.

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der Partei kritisierten die Bürokratisierung der Partei und die „Erstarrung“ des Parteilebens. Sie sahen im „Parteiapparat“ das Haupthindernis. Der größere Teil der Kritiker wünschte eine „Reform der Parteispitze“, um eine Modernisierung und größere Schlagkraft der Partei zu erlangen, und sei es auch nur durch einen Austausch von Personen. Eine kleinere Anzahl von Opponenten wollte auch die innerparteiliche Demokratie vergrößern, um eine größere Beteiligung der Mitglieder an der Willensbildung zu erreichen. Die sogenannten „Hauptamtlichen“ in der Parteispitze versuchten jedoch die immer häufiger geforderte Organisationsreform zu verschleppen. Es drohte ein Machtkampf zwischen dem vom „Apparat“ beherrschten Parteivorstand und der Bundestagsfraktion, in der die „Reformer“ die Mehrheit hatten. Er konnte vermieden werden, da die „Reformer“ einer zweiten, eleganteren Strategie den Vorzug gaben: Durch eine „Reform der Parteispitze“ sollte der „Apparat“, der von den hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern beherrscht wurde, entmachtet und durch eine überlegte „Personalplanung“ der Einfluss der Parteispitze im Parteivorstand selbst verstärkt werden. Das erneut enttäuschende Ergebnis der Bundestagswahl von 1957 begünstigte diese Strategie. Wieder sollten Kommissionen die Organisationsmisere durchleuchten und auf dem Parteitag in Stuttgart 1958 Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Die „Reformer“ konzentrierten ihre Anstrengungen auf die von einer Siebener-Kommission diskutierten Vorschläge zu einer Reform der Parteispitze.15 Die Stimmung unter den Delegierten und eine überlegte Parteitagsstrategie verhalf ihnen auf dem Parteitag 1958 in Stuttgart zu einem großen Erfolg.16 „Die Organisationsreform von 1958, die damit verbundenen personellen Entscheidungen und die daraus hervorgehende ‚Parlamentarisierung‘ der SPD können in ihrer Bedeutung und in ihren Auswirkungen kaum überschätzt werden, sie stehen gleichrangig neben der programmatischen Erneuerung der Partei“.17 Die am meisten diskutierte Statutenänderung war die Umgestaltung der Parteispitze: Statt des alten geschäftsführenden Parteivorstandes, der aus den Vorsitzenden, dem Kassierer und den besoldeten Vorstandsmitgliedern bestanden hatte, wurde nun aus der Mitte des vom Parteitag gewählten Parteivorstandes ein zehnköpfiges Parteipräsidium gewählt; der Vorsitzende, die zwei Stellvertreter und der Kassierer in jeweils Einzelwahl15 Der „Siebener-Kommission“ gehörten an: Herbert Wehner, Fritz Erler, Carlo Schmid, Erich Ollenhauer, Wilhelm Mellies, Alfred Nau und Waldemar von Knoeringen. Zu den Vorschlägen der Kommission vgl. Soell, Fritz Erler, Bd. I, S. 307. 16 Zur Diskussion auf dem Parteitag in Stuttgart vgl. Protokoll Parteitag SPD 1958, S. 285 ff.; zu den Abstimmungen: S. 348 ff; zum Wortlaut der angenommenen Änderungen des Organisationsstatuts: S. 499 ff. 17 Lösche/Walter, Die SPD, S. 188.

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gängen, die weiteren 29 Vorstandsmitglieder in einem Wahlgang. Prompt fiel dann auch das am meisten kritisierte besoldete Vorstandsmitglied Fritz Heine bei den Wahlen zum Vorstand durch. Der alte Parteiausschuss hieß künftig Parteirat, und der Parteivorstand sollte ihn jeweils vor wichtigen Beschlüssen der Partei einberufen und anhören. Das zur Parteireform entschlossene „Frühstückskartell“, dem Carlo Schmid, Fritz Erler, Herbert Wehner und später auch Willy Brandt angehörten, hatte sich mit seinen Vorstellungen, die Partei von oben nach unten „durch[zu]organisieren“ und damit ihre Schlagkraft zu erhöhen, weitgehend durchgesetzt. Weniger Erfolg hatten diejenigen, die auch mehr innerparteiliche Demokratie anstrebten. Ihr Ziel, das Stimmrecht auf dem Parteitag den gewählten Delegierten aus den Bezirken vorzubehalten, erreichten sie nicht. Sie konnten allerdings – zumal auch der Vorschlag der Organisationskommission diese Änderung enthielt – die Anzahl der „qua Amt“ Stimmberechtigten wesentlich einschränken. Künftig hatten die Mitglieder des Parteirats und die Vertreter der Bundestagsfraktion nur noch beratende Stimme. Alle Versuche, den Parteirat zu einem weiteren Kontrollorgan der Parteibasis zu machen, schlugen jedoch fehl: Anträge, die die Zugehörigkeit zum Parteirat auf gewählte Vertreter aus den Bezirken beschränken wollten, wurden abgelehnt. Die Zusammensetzung des Parteirats sollte in erster Linie das einheitliche Auftreten der Partei in Bund und Ländern verbessern helfen. Die anschließenden Wahlen zum Parteivorstand und zum Parteipräsidium krönten den Erfolg der „Reformer“ aus der Bundestagsfraktion: Von den neu in den Parteivorstand gewählten Kandidaten gehörte der überwiegende Teil der Bundestagsfraktion an. Im Präsidium, das vom neuen Parteivorstand gewählt wurde, war der Triumpf der Fraktion noch größer: Acht von zehn Präsidiumsmitgliedern gehörten der Bundestagsfraktion an. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass die Diskussion über eine Organisationsreform in den fünfziger Jahren vor allem zu einer Stärkung der Parteiführung geführt hatte. Veränderungen, die größere Beteiligungsmöglichkeiten der Parteibasis anstrebten, blieben marginal. Das Verständnis, die Partei als „Kampfverband“ zu sehen, dessen Schlagkraft umso größer sei, je mehr Entscheidungsbefugnis beim Parteivorstand liege, hatte sich durchgesetzt.18 In den folgenden Jahren ging die – durch den Parteitag im Mai 1958 gestärkte – Parteiführung daran, ihre gestiegene Entscheidungskompetenz auch für eine „Straffung“ der unteren Parteigliederungen zu nutzen. Neue Richtlinien des Parteivorstandes für die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaften, vor 18 Zum Begriff der „Schlagkraft“ des „Kampfverbandes“ SPD und zur Geringschätzung einer „Mitbestimmung von unten“ vgl. Klaus Günther, Sozialdemokratie und Demokratie 1946–1966, Bonn 1979, S. 38.

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allem der Jungsozialisten, für die Arbeit der Betriebsgruppen und für die Verstärkung des Einflusses der Partei in den Kirchen sollten die wenig sichtbare Zielgruppenarbeit der Partei wiederbeleben. Das mit der Organisationsreform verbundene „Prinzip der Geschlossenheit“ hatte freilich für die Partei langfristige Folgen. Nicht nur die innerparteiliche Demokratie nahm großen Schaden, die Partei verlor schon während der fünfziger Jahre, noch mehr aber zu Beginn der sechziger Jahre eine große Zahl von Mitgliedern, entweder durch Ausschluss oder durch Austritt aus der SPD. So beschloss der SPD-Parteivorstand nach längeren Querelen im Oktober 1961, dass die Mitgliedschaft im Sozialistischen Studentenbund (SDS) unvereinbar sei mit der Mitgliedschaft in der SPD. Im November 1961 schloss die SPD 27 sozialdemokratische Professoren und andere SPD-Akademiker aus der Partei aus, darunter Wolfgang Abendroth und Ossip K. Flechtheim, weil sie weiterhin den SDS zu fördern gewillt waren. Die SPD trennte sich damals von einem großen Teil ihres akademischen Nachwuchses. Erst in späteren Jahren wuchs die Einsicht, dass die Partei damit das zum Selbstverständnis der Partei gehörende Bekenntnis zur offenen innerparteilichen kontroversen Debatte dem auch noch bürokratisch exekutierten „Prinzip der Geschlossenheit“ geopfert hatte. Peter Glotz resümierte 1975 selbstkritisch: „Überhaupt halte ich, wenn es um ‚Unvereinbarkeiten’ geht, mehr vom Hinausdiskutieren als vom Hinauswerfen ... Dies lehrt vor allem die Erfahrung mit derartigen Disputen in der Sozialdemokratischen Partei der fünfziger Jahre; beispielsweise die Erfahrung mit dem Ausschluß des SDS und des SDS-Förderkreises um 1960“.19

4. Das Godesberger Programm von 1959 Mit der Verabschiedung des Godesberger Programms hatten sich diejenigen Sozialdemokraten eindeutig durchgesetzt, die einem Programm vor allem eine Funktion zuschrieben: die Mehrheit der Wähler zu gewinnen.20 Das Ergebnis 19 Vgl. für das Zitat: Peter Glotz, Der Weg der Sozialdemokratie, Wien 1975, S. 28. Vgl. zum „Prinzip der Geschlossenheit“: Günther, Sozialdemokratie, passim. Zum SDS: Willy Albrecht, Zur Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes von 1946–1960, in: Zum 40. Jahrestag der Gründung des SDS, Bonn 1987, S. 19 ff.; Tilman Fichter, SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen 1988, Peter Jahn, Ohne Anführungszeichen. Die Politik des SDS gegenüber der DDR zwischen Unvereinbarkeitsbeschluß und Studentenrevolte, Berlin 1990. 20 Zum Wortlaut vgl. Jahrbuch der SPD 1958/59, S. 373–386 und: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Hg. Dieter Dowe/Kurt Klotzbach, 3. überarb. Aufl. Bonn 1990, S. 349–370.

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konnte sich aus ihrer Sicht sehen lassen: Mit dem Godesberger Programm wurden, wie Willy Brandt im Rückblick konstatierte, „traditionelle Doktrinen durch neu definierte fundamentale Wertvorstellungen ersetzt und die Öffnung der SPD zur Volkspartei bestätigt ... Außenpolitisch blieben wir in der europäischen und internationalistisch-friedenssichernden Tradition, grenzten uns aber gegen die Kommunisten noch deutlicher ab.“ Vor allem aber sei – wie Carlo Schmid schon in den sechziger Jahren feststellte – die SPD nun auch für andere Bevölkerungsschichten wählbar geworden.21 Der 1959 dem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg vorgelegte Programmentwurf war in der Partei zunächst sehr umstritten. Mehrere Gegenentwürfe kursierten. Dass bei der Schlussabstimmung nur noch 16 Delegierte dagegen stimmten, hatte auch viel mit dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Herbert Wehner zu tun. Er sorgte nicht nur dafür, dass der Entwurf wesentlich kürzer wurde, nicht zuletzt weil er die von Willi Eichler stammende Einleitung zusammenstrich. Sein, des „linken“ Wehner, Eintreten für den Programmentwurf sorgte für Verwirrung und schließlich auch für die Annahme des Entwurfs mit großer Mehrheit. Mit den Worten von Jochen Steffen gesagt: „Das Godesberger Programm machte er [d.i. Wehner] für die Gefühlslinke der SPD durch seine Argumentation und Interpretation annehmbar.“22 Innerparteiliche Opponenten wollten einem Programm andere, teilweise ausschließlich andere Funktionen zuschreiben. Sie kritisierten, dass das neue Programm „konkrete soziale Analyse und konkrete Zielsetzung [ersetzt] durch den Appell an ‚Werte‘ und Formeln, die jeweils beliebig ausgelegt werden können“.23 Sie schrieben damit allerdings dem Grundwertekatalog im Godesberger Programm eine Bedeutung zu, die dieser im Bewusstsein der meisten Mitglieder der Partei gar nicht besaß und dessen einheitsstiftendes Gewicht erst in den siebziger Jahren zur Kenntnis genommen werden sollte. Nicht alle marxistisch argumentierenden, reformstrategisch orientierten Kritiker in der Partei teilten deshalb die „Empörung“ mancher Sozialdemokraten über die programmatische Neuorientierung der SPD, in der der Verweis auf die marxistischen Wurzeln der Partei völlig ausgespart geblieben war. Nur zu offenbar war die Tatsache, dass mit dem Godesberger Programm lediglich die „Grundsätze … einer seit fast 40 Jahren geübten Praxis angepasst“ worden waren. Die SPD war in ihrer Sicht „nun endlich auch in ihren Worten, was sie 21 Vgl. dazu Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten, Hamburg 1976, S. 46 f. und: Carlo Schmid, Erinnerungen, Bern 1979, S. 680. 22 Vgl. Jochen Steffen, Personenbeschreibung. Biographische Skizzen eines streitbaren Sozialisten, Kiel 1997, S. 224. 23 Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt a.M. 1964, S. 74.

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in Taten schon lange war: Eine demokratische und soziale Reformpartei“. Sie kritisierten am neuen Programm nicht, „daß es nicht sozialistisch ist als vielmehr, daß seine eigenen reformerischen Projekte nicht hinreichend begründet und folgerichtig durchdacht seien“.24 Peter von Oertzen, einer der sechzehn Delegierten, die das Programm auf dem Godesberger Parteitag abgelehnt hatten, fasste diese, das Programm am eigenen Anspruch messende Kritik zusammen: Es richte die Partei zu einseitig auf die parlamentarische Auseinandersetzung aus, es verwische die Klassenlage und die Klasseninteressen der Arbeitnehmerschaft, es komme dem „selbständigen Mittelstand“ ohne Not zu weit entgegen, und der Versuch, durch ein Friedensangebot an die Kirchen die katholischen Arbeitnehmer zu gewinnen, gehe von falschen Voraussetzungen aus. Der entscheidende Mangel des Programms aber sei sein unbegründeter wirtschaftlicher Optimismus. „Die Verfasser glauben im Grunde nicht an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge.“ Mit diesem Satz hat Peter von Oertzen in der Tat das wirtschaftspolitische Credo der sozialdemokratischen Mehrheit, die Wirtschaftspolitik mit „vernünftigen Faustregeln“ zu betreiben gedachte, zusammengefasst. Freilich machte sich Peter von Oertzen, der vor allem auch beklagte, dass die linken Kritiker uneinig und zerstritten gewesen waren, keine Illusionen über die Wirkung seiner Kritik, denn allein die Tatsachen der künftigen Entwicklung könnten die Parteimitglieder „von der Mangelhaftigkeit des neuen Programms“ überzeugen. In der nachfolgenden Diskussion über die Bedeutung des Godesberger Programms für die Geschichte der Partei differiert die Einschätzung, je nachdem, ob es als Programm für sich diskutiert wird oder ob es in seiner Wirkung und in seiner von der Parteimehrheit gebilligten, auf Wählerzuwachs zielenden Funktion gesehen wird. Die der Sozialdemokratie nahestehenden Historiker neigen zu Letzterem und betonen, dass die SPD mit diesem Programm reale Chancen im Kampf um die Macht gewonnen habe; ferner seien die mit der Annahme des Programms verbundene innerparteiliche Beruhigung und Klärung sowie der Wandel ihres Erscheinungsbildes in der Öffentlichkeit für sie die Voraussetzungen gewesen, „eine von verschiedenen Schichten wählbare ‚Volkspartei‘ zu werden“.25 Auch vehemente Kritiker der SPD betonten, dass mit dem Godesberger Programm „die Partei nun endlich zu sich selber gekommen war“. Freilich habe die SPD mit dem neuen Programm auch 24 Vgl. dafür und für die folgenden Zitate: Peter von Oertzen, Wegmarke Godesberg, in: Sozialistische Politik 6 (1959), Nr. 11/12, S. 1 ff. 25 Heinrich Potthoff/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848–2002, 8.  Aufl. Bonn 2002, S. 212.

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„aufgehört, eine antikapitalistische, sozialistische oder radikaldemokratische Partei zu sein“.26 Wird mit diesen Einschätzungen die Bedeutung eines Programms für Theorie und Praxis der Sozialdemokratie zu gewichtig gesehen, so unterschätzt eine Programmanalyse, die vor allem die besonders für die sechziger Jahre nur instrumentell genutzte Programmauslegung betrachtet, das inhaltliche Gewicht der neuen programmatischen Orientierung. Das Godesberger Programm war zwar in den ersten Jahren nach seiner Verabschiedung ein innerparteilich auch taktisch verwendetes „Parteidokument“, das in erster Linie die „Imageveränderung“ zur Volkspartei begründen half. So wurde es besonders in der Öffentlichkeit wahrgenommen, und es trug damit sicherlich auch zu den, zunächst freilich bescheiden bleibenden, Wahlerfolgen in den sechziger Jahren bei. In dem Maße aber, in dem es diese ihm bewusst zugeschriebene Funktion erfüllt hatte, mussten zwangsläufig das theoretische Selbstverständnis und die langfristigen Ziele der Partei, die ja im Programm (wenn auch der „imagebildenden“ Funktion untergeordnet) angesprochen werden, wieder mehr Gewicht erhalten. Darüber hinaus hatte die einseitige Programmauslegung in den sechziger Jahren auch zur Folge, dass die sonst so zerstrittene Parteilinke den Grundwertekatalog als wesentlichen Teil des Programms zu verteidigen begann und schließlich sogar das ganze Programm als „schutzwürdiges“ Programmdokument der Partei entdeckte. Für den nunmehr besonders von Parteilinken betonten „Spielraum“ des Godesberger Programms galt zwar weiterhin, dass das mit seiner Hilfe möglich erscheinende Manövrieren der Partei nach links eine Linke voraussetzte, die diesen „Spielraum“ auch zu nutzen verstand. Aber indem auch die Parteilinke das Godesberger Programm neu entdeckte und die Parteirechte ihre überzogene Auslegung infrage gestellt sah, war es erstmals zum „Grundsatzprogramm“ der Partei geworden, auf das sich die ganze Partei beziehen konnte und bezog.

5. Der Deutschlandplan von 1959 und die Rede Herbert Wehners von 1960 Monate vor der Verabschiedung des Godesberger Programms verfasste die SPD unter der Federführung von Herbert Wehner einen „Deutschlandplan“. Am 18. März 1959 beschlossen Partei- und Fraktionsvorstand der Partei, den Plan zu veröffentlichen. In der SPD und in der Öffentlichkeit wurde er als radikale Alternative zur Deutschlandpolitik der CDU/CSU-Regierung, die 26 Theo Pirker, Die SPD nach Hitler, München 1965, S. 284 f.

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Wiedervereinigungspolitik stets nur im Sinne eines Anschlusses der DDR an das politische und soziale System der Bundesrepublik betrieben hatte, verstanden. Der „Deutschlandplan“ wich in entscheidenden Punkten von den deutschlandpolitischen Vorstellungen der SPD zu Beginn der fünfziger Jahre ab, die noch maßgeblich von Kurt Schumacher formuliert worden waren. Er stellte – abgesehen vom innerparteilichen Stellenwert des „Deutschlandplanes“ – eine, wenn auch nur kurzfristig gültige Veränderung der außen- und deutschlandpolitischen Programmatik der SPD dar.27 Der Plan sah eine stufenweise Annäherung beider deutscher Staaten vor, die durch gleichberechtigte Verhandlungen von Beauftragten beider deutscher Staaten unter alliierter Aufsicht über die „politische und wirtschaftliche Zusammenführung Deutschlands“ erreicht werden sollte. Veränderungen der sozialen und ökonomischen Grundlagen der west- und ostdeutschen Gesellschaft blieben als Ergebnis der Verhandlungen nicht ausgeschlossen. Gleichzeitig sollte über eine atomwaffenfreie und von Truppen der Nato und des Warschauer Paktes freie mitteleuropäische „Entspannungszone“ verhandelt werden, die neben der Bundesrepublik und der DDR auch Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei umfassen sollte. Ein wiedervereinigtes, abgerüstetes und mit einem aus freien Wahlen hervorgegangenen „gesamtdeutschen Parlament“ ausgestattetes Deutschland sollte Kerngebiet dieser „Entspannungszone“ werden. Mit dem Plan übernahm die Parteiführung Vorstellungen des amerikanischen Diplomaten Kennan und des polnischen Außenministers Rapacki, die jeweils auf einen Abbau von Spannungen in Mitteleuropa zielten, und verknüpfte sie mit einem Konzept einer in Etappen zu erreichenden Wiedervereinigung. Die SPD-Parteiführung sah – wenn auch nur für kurze Zeit – eine reale Chance, diesen Plan zu verwirklichen, da sie in der DDR nationalkommunistische Tendenzen registrieren zu dürfen glaubte, die zu unterstützen auch im staatlichen Interesse der Sowjetunion liegen könnte. Für einen Teil der innerparteilichen Opposition gegen einen programmatischen Wandel der Partei schien mit dem „Deutschlandplan“ die Tradition der „Paulskirchenbewegung“ von 1955 wiederbelebt zu sein und die Kampagne gegen die Atombewaffnung von 1958 eine reale und umfassende Perspektive zu erhalten. Die Oppositionellen hatten die Hoffnung, dass die Partei wenigstens einen Teil ihrer Kritik am Kurs der SPD, vor allem in der Frage der Zustimmung zur Wiederbewaffnung, akzeptieren würde. Aus der Sicht der Parteiführung war freilich die Geschäftsgrundlage für die Realisierung des Planes bereits vor der Veröffentlichung entfallen, da die Gespräche Erlers und Schmids mit Chruschtschow im März 1959 in Mos27 Zum Wortlaut vgl. Jahrbuch der SPD 1958/59, S. 397–401.

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kau ergeben hatten, dass die Sowjetunion gar nicht daran dachte, „auf die DDR einzuwirken, damit die Wiedervereinigung Deutschlands stufenweise in Gang gebracht werden könne“.28 Die Parteiführung modifizierte zwar den Plan durch im April 1959 veröffentlichte „Erläuterungen zum Deutschlandplan“. Sie verteidigte ihn aber trotz wachsender Kritik aus den eigenen Reihen auch noch in den außenpolitischen Bundestagsdebatten Anfang November 1959, also kurz vor dem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg, der das neue Grundsatzprogramm beschließen sollte. Dieser Widerspruch hatte mehrere Ursachen. So war die Ende 1958 ausgesprochene sowjetische Drohung, den Status von Berlin einseitig zu verändern, unmittelbarer Anlass für die Parteiführung gewesen, den „Deutschlandplan“ zu formulieren. Diesen Anlass betonte später auch sein maßgeblicher Verfasser Herbert Wehner, als er darauf hinwies, dass der Plan „aus Sorge um Berlin und als ein Versuch der Entlastung Berlins entstanden“ sei.29 Die Parteiführung hatte sich mit der Veröffentlichung des Planes kurz vor der Genfer Außenministerkonferenz im Mai 1959 aber auch internationale Resonanz und innenpolitische Anerkennung versprochen. Da die ergebnislos endende Genfer Konferenz immerhin die Zurücknahme des sowjetischen Berlin-Ultimatums gebracht hatte und die Deutschlandfrage auch auf der für 1960 geplanten Pariser Konferenz weiter diskutiert werden sollte, war der „Deutschlandplan“ als außenpolitisches Dokument der westdeutschen Oppositionspartei daher zunächst weiterhin aktuell. Darüber hinaus hätte die bereits im Herbst 1959 von Teilen der Parteiführung anvisierte Zurücknahme des „Deutschlandplanes“ zusätzlichen innerparteilichen Zündstoff bedeutet, was der Parteiführung angesichts der auf dem Godesberger Parteitag zu erwartenden Debatten nicht opportun erschien. Die linken Kritiker des Programmentwurfs konnten sich so noch einige Monate länger in der Illusion wiegen, dass wenigstens in der Sicherheits- und Deutschlandpolitik eine programmatische Orientierung festgeschrieben blieb, die ihren Vorstellungen entsprach. Die Illusion verflog, als Herbert Wehner am Jahrestag der Veröffentlichung des „Deutschlandplanes“, am 18. März 1960, in einem „Vorwärts“-Artikel den Plan für überholt erklärte, weil er der weltpolitischen Situation nicht mehr entspreche. In seiner Rede am 30. Juni 1960 im Bundestag verband Wehner die Aufkündigung des „Deutschlandplanes“ mit einem „Plädoyer für eine gemeinsame Politik“ von Regierung und Opposition in außenpolitischen

28 Vgl. dazu und für das Zitat von Erler: Soell, Fritz Erler, Bd. 1, S. 380. 29 Herbert Wehner, in: Vorwärts v. 18.3.1960.

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Grundfragen.30 In der Öffentlichkeit wurde diese Rede vor allem als „taktische Meisterleistung“ Wehners wahrgenommen, die die „sozialdemokratische Anpassung durch Umarmung“ vollenden helfen sollte, um so die Koalitionsbereitschaft und -fähigkeit der SPD zu dokumentieren. Ebenso wie die Interpretation des Godesberger Programms gehörte sicherlich auch die Rede Wehners zu dem von der Parteimehrheit gewollten neuen „Image“ der Partei, mit dem sie künftige Wahlen erfolgreicher zu bestehen hoffte. Die außenpolitische Rede Wehners formulierte aber neben dem Angebot, mit der CDU/CSU zusammenzuarbeiten, auch die Grundlagen einer neuen außen- und deutschlandpolitischen Orientierung der Partei, ohne die die deutschland- und ostpolitischen Konzeptionen der Sozialdemokratie in den sechziger Jahren nicht vorstellbar wären. Die Rede war und ist daher nicht allein parteitaktisch zu interpretieren, sondern auch als Beginn einer außen- und deutschlandpolitischen „Wende“ der SPD: In seiner „Bestandsaufnahme“ erklärte Wehner unmissverständlich, dass auch für die SPD das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehöre, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik sei, dass sie nicht aus den Vertrags- und Bündnisverpflichtungen auszuscheiden gedenke und dass sie sich zur Verteidigung der freiheitlichen und demokratischen Grundrechte und Grundordnung auch zur Landesverteidigung bekenne. Nicht zuletzt wegen dieser „außenpolitischen Wende“ war die SPD zu Beginn der sechziger Jahre auf dem Weg in die Regierungsverantwortung.31 Freilich betonte Wehner auch, dass diese Willenserklärung der SPD eine Politik gegen das nukleare Wettrüsten und für eine zugunsten des sozialen Fortschritts notwendige militärische Entspannung nicht ausschließe. Wie sich später zeigen sollte, schloss sie auch nicht den Entwurf einer neuen Deutschland- und Ostpolitik durch die SPD aus, nachdem am 13. August 1961 offenbar geworden war, dass die alten Rituale einer Wiedervereinigungs-Rhetorik an eine Mauer geraten waren: Das galt im Wortsinne (von „Mauer und Stacheldraht“) ebenso wie im übertragenen Sinne der Zementierung des weltund deutschlandpolitischen Status quo der Ost-West-Konfrontation.

30 Zum Wortlaut vgl. Bundestag. Stenographische Berichte, 3. Wahlperiode, 122. Sitzung vom 30.6.1960, S. 7052 ff. Zum Zusammenhang vgl. Christoph Meyer, Herbert Wehner. Biographie, München 2006, S. 25 ff. 31 Vgl. dazu: Beatrix W. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung, Bonn 1990.

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6. Zur politischen Praxis und zum Stil der Opposition der SPD in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre Bereits kurz nach dem Tode Kurt Schumachers 1952 und nach dem erneut enttäuschenden Wahlausgang 1953 wandelte sich der Stil der Opposition der SPD. Von der Parteiführung kamen erste Signale, dass die SPD nun auch in der Bundespolitik die Kooperation suche: Gesetzentwürfe der Regierungsparteien sollten nicht mehr pauschal abgelehnt werden; die SPD-Fraktion wollte, auch wenn sie den Gesetzen selbst schließlich nicht zustimmte, versuchen, die Entwürfe in ihrem Sinne zu verändern. Beispielhaft für die Art jedoch, wie die SPD ihre neue oppositionelle Praxis lediglich andeutete, war die Rede Ollenhauers auf dem Berliner Parteitag 1954 zur Frage der Wiederbewaffnung: Ollenhauer begründete eine eventuell sich wandelnde Haltung in dieser Frage mit den Worten: „Für den Fall – nicht heute! – dass wirksame Verhandlungen nicht möglich sind oder zu keinem Erfolg führen, erklärt die Sozialdemokratie, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen nicht bereit ist, den freien Teil Deutschlands ohne jeden Versuch einer Sicherheit seinem Schicksal zu überlassen (Beifall).“32 Angesichts dieses verklausulierten Satzes verwundert es nicht, dass die veränderte oppositionelle Haltung der SPD in der Öffentlichkeit und vor allem auch bei den eigenen Mitgliedern kaum zur Kenntnis genommen wurde. Als sich im Bundestagswahlkampf 1957 zeigte, dass die Regierungsparteien die sozialdemokratische Kooperationswilligkeit nicht honorierten, versuchte die SPD nach der neuerlichen Niederlage Alternativen wieder entschiedener zu formulieren und in der politischen Praxis auch offensiv zu vertreten. Die von ihr 1958 maßgeblich mit ins Leben gerufene außerparlamentarische Bewegung „Kampf dem Atomtod“ und der 1959 propagierte „Deutschlandplan“ stellten solche Versuche dar. Aber wie schon 1955 während der „Paulskirchenbewegung“ war ein deutlicher Zugewinn an Mitgliedern und Wählern nicht erkennbar. Die SPD änderte nun ihre seit 1945 ohnehin stets skeptische Haltung gegenüber außerparlamentarischen Bewegungen endgültig: Sie beschränkte sich seit dieser Zeit bewusst auf eine parlamentarische Praxis.33 Exemplarisch deutlich wird die gewandelte oppositionelle Praxis der SPD in der Frage einer Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Obwohl sich die SPD schon 1950 nicht prinzipiell gegen eine Wiederbewaffnung ausgesprochen hatte, lehnte sie 1952 wegen der weiterhin eingeschränkten Souveränität der Bundesrepublik den Vertrag über eine Europäische Verteidigungsge32 Zum Wortlaut vgl. Protokoll Parteitag der SPD 1954, S. 145 ff. 33 Vgl. dazu: Günther, Sozialdemokratie, S. 184 ff.

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meinschaft (EVG) ab. Die Begründung dafür aber war für die Öffentlichkeit so missverständlich und unklar, dass die CDU die SPD im Wahlkampf 1953 erfolgreich zum Sicherheitsrisiko stempeln konnte. In den folgenden Jahren – erstmals 1954 in der Entschließung des Berliner Parteitages zur Außenpolitik – bekannte sich die SPD in deutlicheren Worten zur Landesverteidigung.34 Zugleich – und das kennzeichnete die veränderte oppositionelle Praxis – begann sie an der Ausarbeitung einer Wehrverfassung mitzuwirken, nicht mehr das „Ob“, sondern das „Wie“ war entscheidend geworden. Auch wo die SPD Wehrgesetze hätte verhindern können, stimmte sie ihnen dennoch teilweise zu, um – wie Fritz Erler im Bundestag begründete – die Demokratie vor „Missbrauch der militärischen Macht zu schützen“ und durch Zustimmung zu den „Wehrsozialgesetzen“ die soziale Situation der Soldaten zu sichern.35 In der Wirtschaftspolitik der fünfziger Jahre vermochte die SPD auf den Gehalt der wirtschaftspolitischen Gesetze allerdings fast überhaupt keinen Einfluss zu nehmen, sie konnte lediglich alternative Vorstellungen propagieren und beispielsweise bei der Diskussion über ein „Investitionshilfegesetz“ ihre Vorstellungen von Investitionslenkung verdeutlichen. Anders sah es dagegen auf dem schon während der Weimarer Republik traditionellen Feld sozialdemokratischer Praxis aus, in der Sozialpolitik. Wichtige sozialpolitische Gesetze der fünfziger Jahre wurden von der SPD angeregt und die Entwürfe durch den Einfluss der Opposition teilweise in einer Qualität dem Bundestag vorgelegt, dass die SPD-Fraktion ihnen schließlich zustimmen konnte. Das betraf u.a. das Gesetz zur Schaffung eines Bundesarbeits- und Sozialgerichts und vor allem das Gesetz über die dynamische Rente aus dem Jahre 1957. Bereits 1955 hatte die SPD-Fraktion einen Gesetzentwurf über die „Gleichstellung aller Arbeitnehmer im Krankheitsfall“ formuliert, der auch für Arbeiter eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bringen sollte. Der Gesetzentwurf wurde für über zehn Jahre zum Dauerbrenner sozialpolitischer Auseinandersetzungen im Bundestag und dokumentierte die auf diesem Politikfeld beharrlichen Versuche der SPD, mit Hilfe einer sozialpolitischen Gesetzgebung ein Grundrecht auf soziale Sicherheit zu verankern. Mitte 1960 wandelte sich der Stil der oppositionellen Praxis der SPD ein weiteres Mal: Die SPD war erstmals bereit, von Gemeinsamkeiten in der Politik auszugehen, sie wollte nur noch in Details andere Akzente setzen. Im Selbstverständnis der SPD-Parteiführung bedeutete das, vom lautstarken zum leisen Oppositionsstil überzugehen, „statt schwerer Säbel – das Florett zu gebrauchen“ (Erler). Der neue Stil einer „geräuscharmen“ Opposition sollte nicht 34 Zum Wortlaut vgl. Protokoll Parteitag der SPD 1954, S. 340 f. 35 Vgl. dazu Soell, Fritz Erler, Bd. I, S. 189 ff., das Zitat von Erler: S. 209

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nur Vehikel sein, um wenigstens teilweise sozialdemokratische Programmatik in von Wählern honorierte Praxis umzusetzen, er sollte auch den seit 1959 immer häufiger geäußerten Wunsch zum Mitregieren endlich erfüllen helfen, selbst um den Preis, nur als Juniorpartner in eine von der CDU/CSU geführte Regierung eintreten zu müssen. Inhalte und Form der Opposition wurden deshalb auch oft dem Ziel untergeordnet, sich in der Öffentlichkeit und vor den bürgerlichen Parteien als „regierungsfähig“ zu erweisen. Die im eigenen Selbstverständnis dergestalt funktionalisierte Oppositionsrolle der SPD hatte schließlich zur Folge, dass aus der „leisen“ nicht selten eine „stumme“ Opposition wurde, dass aus der Anpassung eine Umarmung des zukünftigen Regierungspartners wurde. Das war besonders in der Regierungskrise 1962/63 deutlich erkennbar, in der schließlich Ludwig Erhard Adenauer als Kanzler ablöste. Während der „Spiegel-Affäre“ im Sommer 1962 musste die SPD erst durch den Druck der öffentlichen Meinung auf die Pflicht der Opposition aufmerksam gemacht werden, politische Skandale aufzudecken statt mitzuhelfen, sie unter den Teppich zu kehren. In der Partei und in der Öffentlichkeit wuchs die Kritik, dass die SPD ihr Wächteramt als Oppositionspartei nicht mehr wahrnehme, sondern „eine Umarmungsstrategie [verfolge], die sich der Zustimmung des Regierungslagers fast bettelnd zu versichern suchte“.36 Das sollte sich in den kommenden Jahren nur allmählich ändern.

7. Zur sozialen Struktur und zur Entwicklung der SPD-Wählerbasis Auch in den fünfziger Jahren war die gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiterschaft besonders aus protestantischen, groß-industriellen Regionen der unverändert sichere Wählerstamm der SPD. Das entsprach der sozialen Struktur der Mitglieder. Die Anziehungskraft der Partei auf neue, vor allem jüngere Mitglieder ließ weiterhin zu wünschen übrig. Es gab allerdings große regionale Unterschiede. Ein schon vorher bestehendes Nord-Süd-Gefälle war beim Zugewinn von Mitgliedern und Wählern nach 1953 noch größer geworden. Nach Kriegsende hatten zwar viele Flüchtlinge zur SPD gefunden oder wählten sie zumindest. Das änderte sich jedoch mit der Gründung und der alliierten Zulassung einer „Flüchtlingspartei“, dem „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE). Auch der Zugewinn von jüngeren Mitgliedern aus der sogenannten „HJ-Generation“, der „neuen Lassalleaner“ (Ever36 Vgl. dazu, auch für das Zitat: Günther, Sozialdemokratie, S. 143.

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hard Holtmann), die gegenüber der „sozialdemokratischen Traditionspartei“ eine „bemerkenswerte klassenpolitische Unbefangenheit“ besaßen, war wohl eher regional auf Nordrhein-Westfalen beschränkt.37 Dabei war die in einigen Regionen, nicht zuletzt im Ruhrgebiet, zunächst sehr starke Konkurrenz der Kommunistischen Partei fast völlig verschwunden, und um „die Mitte der 1950er Jahre war die Sozialdemokratie faktisch zur Einheitspartei der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik geworden“.38 „Links von der SPD war keine politisch wirksame, über eine parlamentarische Vertretung verfügende Partei mehr vorhanden.“39 Zugewinn für die SPD kam nach 1957 aus einer ganz anderen Richtung. Nach der Auflösung der von Gustav Heinemann gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) traten nicht wenige Protestanten und vereinzelt auch Katholiken in die SPD ein. Auch wenn sich die Zahl der Mitglieder nicht wesentlich erhöhte, waren neue Mitglieder wie Gustav Heinemann, Erhard Eppler und Johannes Rau ein großer Gewinn für die Partei.40 Die Wählerbasis wurde in den fünfziger Jahren dennoch nicht größer. Die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiterschaft reichte nicht, um den 30 %-Turm zu verlassen. Vor allem in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre war es nicht gelungen, kirchlich gebundene, vor allem katholische Arbeiter und Angestellte als Wähler zu gewinnen. Zugewinne bei der Bundestagswahl 1957 kamen vermutlich aus der ehemaligen KPD-Wählerschaft. Erst seit 1961 veränderte sich die Struktur der SPD-Wählerschaft. Die SPD gewann auch bei Angestellten und Beamten überdurchschnittlich viele Wähler, und sie konnte damit erfolgreich in das Wählerpotential des „Bürgerblocks“ einbrechen. Mehrere Ursachen sind dafür verantwortlich. Die Attraktivität der Bürgerblock-Parteien war gegen Ende der „Ära Adenauer“ geringer geworden, die SPD legte – verstärkt nach dem Godesberger Parteitag 1959 – besonderen Wert auf ein verändertes Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, das sie für Nicht-Arbeiter attraktiver machen sollte. Der Beitritt des anerkannten Pro37 Vgl. dazu Everhard Holtmann, Die neuen Lassalleaner. SPD und HJ-Generation nach 1945, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, Hg. Martin Broszat u.a., München 1988, S. 170 f. Zur regionalen Begrenzung vgl. den Literaturbericht von Heinrich August Winkler in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 403 ff. Vgl. auch: Karl Rohe, Vom sozialdemokratischen Armenhaus zur Wagenburg der SPD, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 508 ff. 38 Brandt/Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“, S. 180. 39 Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 143. 40 Vgl. dazu: Siegfried Heimann, Die Gesamtdeutsche Volkspartei, in: Parteienhandbuch, Band 2, S. 1478 ff.

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testanten Gustav Heinemann und der katholischen Politikerin Helene Wessel signalisierte ein neues Verhältnis der SPD zu den Kirchen. Sie erhielt bei der Bundestagswahl 1961 mit 36,2 % aller Zweitstimmen 4,4 % mehr als 1957, obwohl die erstmals kandidierende Deutsche Friedensunion auch der SPD einige Mitglieder und Wähler gekostet hatte. Die bereits 1961 möglich erscheinende Große Koalition von CDU/CSU und SPD deutete an, dass die politische Polarisierung geringer geworden war, was längerfristig auch die sozialstrukturelle Polarisierung beeinflusste. Die Zahl der Angestellten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft war gewachsen. Ihre immer geringere Privilegierung im Arbeitsprozess veränderte auch ihr Bewusstsein, ihre Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren, nahm zu. In den sechziger Jahren steuerte die SPD endlich die „40-Prozent-Traumgrenze“ an. In den Ländern lösten sich Erfolge und Misserfolge der SPD bei Wahlen immer wieder ab. Im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen, wo die SPD seit 1950 in der Opposition war, kam es im Jahre 1956 zu einer sozialdemokratisch geführten Koalition zwischen SPD, FDP und Zentrum, die aber nur bis zu den nächsten Landtagswahlen im Jahre 1958 Bestand hatte. Danach blieb die SPD wieder bis 1966 in der Opposition. Sogar in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin war die SPD in den fünfziger Jahren nur mit Unterbrechungen an der Regierung beteiligt, lediglich in Bremen gab es keine Unterbrechung. Betrachtet man das Koalitionsverhalten der SPD in den fünfziger Jahren, so fällt vor allem auf, dass die SPD weiterhin in den Ländern mit fast allen Parteien Koalitionen eingegangen ist; in Niedersachsen scheute sie sich nicht, sogar mit einer stark rechtslastigen Partei wie der Deutschen Partei (DP) zu koalieren. In den ersten Jahren nach 1950 überwogen Koalitionen mit der CDU, die FDP war zunächst nur selten ein Koalitionspartner. Aufgrund dieser Koalitionspalette konnte die SPD auch in den fünfziger Jahren in vielen Bundesländern die Landespolitik mitprägen. In einigen Ländern, beispielsweise in Hessen und in den Stadtstaaten, waren die Erfolge so groß, dass die SPD bereits den Ruf hatte, beispielhafte Landes- und Kommunalpolitik zu betreiben. Freilich führten die langen Jahre der weitgehend ungefährdeten „Regierung“ in diesen Ländern auch zur „Abnutzung“ und zur „Verfilzung“ in den Landesparteien. Die Mitgliederentwicklung in den fünfziger Jahren lässt erkennen, dass die großen Mitgliederverluste zu Beginn der fünfziger Jahre mit dem Tiefpunkt von 585.479 im Jahre 1954 nur allmählich ausgeglichen werden konnten: Bis zum Wahljahr 1957 waren 626.189 erreicht und 1963 auch erst 648.415, d.h. hier war der Effekt des Godesberger Programms, der Wehner-Rede von 1960 und der Brandt-Kandidatur 1961 nur gering.

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8. Zur Charakterisierung der SPD in den fünfziger Jahren Als bereits nach 1947/48 die Politik der Alliierten keinen Raum mehr für die außen- und deutschlandpolitische Konzeption der SPD ließ, als der „Bürgerblock“, den die SPD zerstritten wähnte, sich zu stabilisieren begann und Wahlerfolge erzielte, und als für die regenerierte privatkapitalistische Wirtschaft ein so nicht erwarteter Aufschwung begann, wurden die Lässlichkeiten der Anfangsjahre zu Sünden mit Langzeitwirkung: Die fehlende Aktualisierung der programmatischen Aussagen und das bürokratisch erstarrte Parteileben ließen die gesellschaftspolitische Alternative der SPD in den Augen der Mitglieder und Wähler immer weniger attraktiv erscheinen. Die Partei verlor Mitglieder, sie verlor in den Ländern Wähler, und auf Bundesebene reichten die 30 % an Wählerstimmen bei weitem nicht aus, den propagierten Führungsanspruch zu realisieren. Dies sind die Gründe, die für den politischen Misserfolg der SPD Ende der vierziger Jahre und zu Beginn der fünfziger Jahre oft genannt werden. Eine weitere Ursache für das politische Scheitern als „Arbeiterpartei“ nach 1945 aber wird selten zur Kenntnis genommen: Das Selbstverständnis der meisten Sozialdemokraten entsprach nur teilweise der Realität von Programm und Praxis der Partei. Die Partei war nie die Partei der Arbeiterklasse, sie war stets die Partei der qualifizierten, gewerkschaftlich organisierten, aus protestantischen Regionen stammenden, vom sozialdemokratischen Milieu geprägten Facharbeiter und ihres Umfelds. Diese Sozialdemokraten, die die Partei prägten und die Mitglieder- und Wählerbasis bildeten, waren sicherlich überzeugt davon, für die Interessen aller Lohnabhängigen einzutreten, und sie verstanden sich in diesem Sinne auch als offen für alle Schichten der Bevölkerung. Große Teile der Arbeiterklasse und der lohnabhängigen Mittelschichten aber versagten ihr die Gefolgschaft. Die katholischen Arbeiter, zumal außerhalb von Großstädten, dachten nicht daran, ihre Religion zu vergessen, die Angestellten gaben ihre „Mentalität“ so schnell nicht auf, und die Mittelständler fürchteten weiterhin, durch die angedrohten Sozialisierungen (auch wenn diese nur auf Großbanken und Großkonzerne zielten) ihr Häuschen und die Verfügung über ihren Betrieb zu verlieren. Die SPD tat noch zu Beginn der fünfziger Jahre wenig, was erkennen ließ, dass sie die weltanschaulichen Bindungen, die „Mentalitäten“, die Ängste derjenigen, die man gewinnen wollte, zur Kenntnis genommen hätte. Das vom „Kalten Krieg“ und vom „Antikommunismus“ geprägte Bewusstsein eines großen Teils der Bevölkerung minderte noch mehr die Bereitschaft, SPD zu wählen. CDU/CSU versuchten erfolgreich, die SPD geradewegs in die Nähe der 1956 verbotenen KPD zu rücken und zum „Sicherheitsrisiko“ zu stempeln.

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Die SPD-Parteiführung zog daraus Ende der fünfziger Jahre eine Konsequenz, die zwar auch in der Partei immer wieder kritisiert, letztlich aber mehrheitlich nicht mehr infrage gestellt wurde: Die SPD vermied es künftig, sich an außerparlamentarischen Bewegungen zu beteiligen oder gar sich an die Spitze dieser Bewegungen zu stellen. Noch im Jahre 1955 hatte die SPD, zusammen mit den Gewerkschaften und der Gesamtdeutschen Volkspartei eines Gustav Heinemann, die „Paulskirchenbewegung“, eine außerparlamentarische Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik mit ins Leben gerufen. Tausende Sozialdemokraten unterzeichneten ein „Deutsches Manifest“ für die Wiedervereinigung und gegen die Wiederaufrüstung in Ost und West, Hunderttausende beteiligten sich an Protestmärschen und Kundgebungen, auf denen Erich Ollenhauer oft der Hauptredner war. Ende der fünfziger Jahre organisierte die SPD zwar maßgeblich die Kampagne „Kampf dem Atomtod“ mit. Aber noch während der Kampagne ging die Parteiführung, nicht zuletzt wegen des Verdachts der „Fremdsteuerung aus dem Osten“, auf Distanz. Seit dieser Zeit ist die SPD vor allem eine parlamentarisch agierende Partei, die außerparlamentarischen Aktivitäten mit Distanz und Skepsis begegnete. Die Partei – Mitglieder und Parteiführung gleichermaßen – begann darüber hinaus wegen des ausbleibenden Erfolges an ihrem Selbstverständnis als einer die Interessen aller Lohnabhängigen vertretenden Klassenpartei zu zweifeln. Mehr und mehr Sozialdemokraten ließen sich davon überzeugen, dass es nicht ausreiche, nur die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Das Konzept der „Volkspartei“ fand deshalb schon vor 1959 in der Partei einen vorbereiteten Boden. Im Begriff „Arbeiterpartei“ war bereits ein Verständnis der SPD als „Volkspartei“ versteckt, das sich zwar sehr vom „ideologischen Kampfbegriff“ der späteren Jahre unterschied, es den „Traditionalisten“ in der Partei jedoch erleichterte, ein gewandeltes Selbstverständnis nicht nur zu akzeptieren, weil keine Alternative sichtbar schien, sondern es sogar als ein sozialdemokratischer Tradition entsprechendes Selbstverständnis voll zu bejahen. Denn alle Sozialdemokraten sahen sich weiterhin als Sachwalter des Volkes, gemeint war das „einfache Volk“ im Gegensatz zu denen da oben, die alles hatten, Besitz ebenso wie politische Macht. Ein großer Teil derjenigen Sozialdemokraten aber, die in den fünfziger Jahren einen Wandel der Sozialdemokratie anstrebten, wollten die von der Partei zu leistende Interessenvertretung gerade nicht nur auf „alle, die da unten sind“ ausweiten, im Gegenteil: sie wollten die Interessenvertretung im Dienste einer konkret vorhandenen Mitglieder- und Wählerbasis zugunsten der Propagierung eines „Gemeinwohls“ zurücktreten lassen, von dem sich – so hofften sie – alle Wahlberechtigten ohne Ausnahme angesprochen fühlen

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sollten. Das wesentliche Motiv für diese Zielsetzung war es natürlich, die Wählerbasis auszuweiten. In diesem Sinne strebten diejenigen in der Partei, die in den fünfziger Jahren den Wandel der Partei wollten, tatsächlich eine „catch-all-party“ an, eine „Allerweltspartei“ im Kirchheimerschen Sinne.41 Die Gefahr bestand – und sie wurde auch während der Programmdebatte gesehen –, dass die SPD „zu einem sozialreformerischen Wahlverein“, zu „einer ‚Jedermann-Partei‘ zur Stimmenmaximierung ... verkommen“ und so der „Anspruch auf eine alternative Gesellschaftsveränderung“ aufgegeben werden könnte.42 Das freilich ist die SPD nicht geworden. In den ersten Jahren nach dem Godesberger Parteitag 1959 schien mit dem propagierten Konzept einer „gemeinwohlorientierten sozialreformerischen Volkspartei“ der Bruch mit der Tradition der „Arbeiterpartei“ so groß zu sein, war die quantitative und sozialstrukturelle Veränderung der Mitglieder- und Wählerbasis so eindeutig, dass in der Partei und in der Öffentlichkeit der Eindruck entstand, der sich zu Beginn der sechziger Jahre abzeichnende politische Erfolg der Partei sei dem gewandelten Charakter der Partei zuzuschreiben. Der Charakter der Partei hatte sich in der Tat stark verändert, zumindest tendenziell war die SPD zu Beginn der sechziger Jahre zu einer „,Rahmen- und Sammelpartei‘ geworden, die eine Vielzahl der politischen Interessen aller sozialen Schichten zu integrieren sucht“. Aber sie blieb, auch wenn „Marx vergessen“ wurde, auch aus der Sicht der Kritiker der programmatischen Wende „die einzige Organisation, in der ein Sozialist wirken kann“ (Peter von Oertzen).43

41 Vgl. Otto Kirchheimer, Parteistruktur und Massendemokratie in Europa, und ders., Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Gilbert Ziebura (Hg.), Beiträge zur allgemeinen Parteienlehre, Darmstadt 1969, S. 288 ff. u. 341 ff. 42 Vgl. dazu auch für die Zitate Grebing, Geschichte (2007), S. 154 ff. 43 So beschreibt Helga Grebing, indem sie einen Begriff von Jürgen Friedrich übernimmt, den Charakter der Partei: Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, 9. Aufl. München 1979, S. 245. Das Zitat von Oertzen bei Grebing, Geschichte (2007), S. 158.

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Die SPD zwischen kooperativer Opposition, Großer und Kleiner Koalition 1963–1972 Im Folgenden geht es um die Frage des Selbstverständnisses der Sozialdemokratie im parlamentarischen Staat der Bundesrepublik, insbesondere vor dem Hintergrund der Westernisierung1 der SPD und der Godesberger Wende, sowie um die konkrete Ausgestaltung der parlamentarischen Praxis in dieser Zeit. Außerdem wird das Verhältnis der SPD zu der erstarkenden Außer- (und teilweise auch anti-)parlamentarischen Opposition in den 1960er Jahren und der Weg zu parlamentarischen Mehrheitsregierungen unter der Kanzlerschaft Willy Brandts behandelt.2

1. Zur Vorgeschichte bis in die späten 1950er Jahre Das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Parlamentarismus war bis Ende der fünfziger Jahre ambivalent. Denn der Parlamentarismus berührte ein früheres ideologisches Grundproblem der Sozialdemokratie, jenes des Dualismus von Revolution und Reform.3 War das Parlament „ein bloßes Hilfsinstrument auf dem Wege zur sozialistischen Revolution“4 oder eigenwertige Institution für die kleinschrittige Arbeit an reformistischen Verbesserungen? War das Parlament ein Mittel im Klassenkampf mit dem Ziel der Eroberung der politischen Macht und Ausschaltung des bürgerlichen Gegners, also am Ende ein Werkzeug der Klassenherrschaft, oder eine Institution des pluralistischen Politikwettstreits prinzipiell gleichberechtigter sozialer Kräfte? Die stärker werdenden Strömungen des Revisionismus und Reformismus begünstigten im Laufe der Zeit ein immer positiveres Verhältnis der Sozialdemokratie zum Parlamentarismus. Das parlamentarische Regierungssystem wurde schließlich zum erklärten Verfassungsziel der SPD. Nach der Spaltung der Arbei1 Siehe dazu: Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 2 Der Text basiert zum Teil auf: Robert Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel 1959–1969, Baden-Baden 2012 (zugl. Diss. Bonn 2010). 3 Vgl. zum Folgenden: Wolfgang Durner, Antiparlamentarismus in Deutschland, München 1995, S. 71 ff. 4 Vgl. ebd., S. 71.

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terbewegung fanden sich die revolutionären, antiparlamentarischen Kräfte, die das Parlament nur als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie verstanden, vorwiegend in der kommunistischen Partei wieder. Aber dennoch: Auch der linke Flügel der SPD sowie Teile der Parteibasis blieben in ihrem Verhältnis zum Parlamentarismus noch in der Weimarer Republik zweideutig.5 Für diese Teile der Sozialdemokratie hatte die parlamentarische Demokratie immer nur einen relativen Wert, nämlich die Funktion, den Boden zu bereiten für die soziale Revolution.6 In der Sozialistischen Arbeiterjugend wurde mancherorts „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel“ skandiert. Der Parlamentarismus war danach letztlich nur ein Übergangsstadium auf dem Weg in den Sozialismus. Lösche und Walter bescheinigen Teilen der SPD in dieser Zeit daher auch ein „instrumentelles Parlamentarismusverständnis“.7 Kritik entzündete sich auch an den oligarchisierenden Tendenzen des Repräsentationsprinzips, Robert Michels hatte dazu die wissenschaftlichen Grundlagen geliefert.8 In der parlamentarischen Praxis war die Sozialdemokratie dadurch selten mit sich im Reinen; sie oszillierte zwischen dem Wunsch nach Fundamentalopposition und der Notwendigkeit, Reformarbeit zu machen und die Republik in ihrem Bestand zu bewahren.

2. Nach dem Godesberger Programm zur Gemeinsamkeitspolitik Die Versöhnung der Sozialdemokratie mit den Prinzipien des westlichen Parlamentarismus fand erst im Rahmen der „Sozialliberalisierung“ der SPD durch die programmatische Wende des Godesberger Programms und der sogenannten Westernisierung ihren Abschluss.9 Die Sozialdemokratie brach nun end5 Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924–1930, Berlin 1985; Hans Mommsen, Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften in der Weimarer Republik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 34 (1983), S. 203–218, hier S. 208. 6 Vgl. Susanne Miller, Zur Rezeption des Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie, in: Heiner Flohr u.a. (Hg.), Freiheitlicher Sozialismus. Beiträge zu seinem heutigen Selbstverständnis, Bonn 1973, S. 21–33, hier S. 26. 7 Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei–Volkspartei–Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 5. 8 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911. 9 Zur Westernisierung grundlegend: Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie.

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gültig mit ihrem sozialrevolutionären und klassenkämpferischen Erbe, und das Spannungsverhältnis zwischen sozialistischer Utopie und parlamentarischem Reformismus wurde aufgelöst.10 Natürlich war die konstruktive Beteiligung von Sozialdemokraten an der Gesetzgebungsarbeit im Parlament schon zuvor selbstverständlich, aber der systemimmanente parlamentarische Reformismus bekam nun auch offiziell den zentralen Stellenwert zugeschrieben, den er in der Praxis bereits seit langem hatte. Die parlamentarische Demokratie war nun ein „Wert an sich“ und nicht mehr nur ein Mittel auf dem Weg zum sozialistischen Endziel. Mit der ideellen Aufwertung des Parlamentarismus nahm auch das Interesse in der SPD an der Mobilisierung oder Beteiligung an außerparlamentarischen Aktionen zur Hervorbringung politischen Wandels ab. Der volksparteiliche Wandel der SPD und die Sozialliberalisierung ihrer Ideologie manifestierten sich auf der parlamentarisch-politischen Ebene in der sogenannten „Gemeinsamkeitspolitik“.11 Damit ist ein veränderter Oppositionskurs der SPD-Bundestagsfraktion in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gemeint, der darauf abzielte, alte Grundsatzkonflikte zwischen Union und SPD in der Außen- und Sicherheits- sowie der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik abzuschleifen und in Grundfragen ein hohes Maß an inhaltlicher Gemeinsamkeit mit der Regierung zu erreichen. Sowohl Westbindung und NATO als auch die soziale Marktwirtschaft wurden von der SPD nun grundsätzlich akzeptiert. Gezielt und im Bruch mit ihren antikapitalistischen Traditionen bemühte sich die SPD in den sechziger Jahre „um den Nachweis, dass es ihr nicht um den Umsturz des bestehenden Wirtschafts- und Sozialsystems ging, sondern um Weiterentwicklung, Besserung und Vervollkommnung“.12 Das Bestreben war, einer harten Konfrontation zwischen beiden politischen Lagern so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen und sich über modernere Konzepte und attraktiveres politisches Personal vom Unionslager abzugrenzen. Ziel war es vor allem, in der Öffentlichkeit endlich als regierungsfähig wahrgenommen zu werden. Die SPD profilierte sich in diesen Jahren insbesondere auf innenpolitischen Feldern, so in der Bildungs-, Sozial-, und Gesundheitspolitik. Die Konzepte waren technokratisch ausgerichtet, visionäre Zukunftsentwürfe, emanzipatorische Begründungszusammenhänge, gesellschaftsverändernden Verve 10 Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Soziademokratie 1945 bis 1965, Berlin 1982, S. 449–454. 11 Vgl. die dafür grundlegende Untersuchung von Beatrix W. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische Umorientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1960–1966, Bonn 1990. 12 Klotzbach, Staatspartei, S. 539.

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suchte man vergeblich. Indem sie ihre entsprechenden Vorhaben als deutsche „Gemeinschaftsaufgaben“ hinstellte, suggerierte die SPD, dass es ihr um das ganze Volk und nicht mehr um Politik für eine klassenspezifische Klientel ging. Ein zielgerichteter Versuch, das traditionelle sozialdemokratische Milieu zu überwinden und Schritte zur Verwirklichung des Anspruchs einer Volkspartei zu machen, waren verschiedene Begegnungen zwischen Vertretern der SPD und Wissenschaftlern, Experten, und gesellschaftlichen Gruppen unter dem Motto „Das Große Gespräch“. Auf Foren und Konferenzen diskutierte die SPD mit Vertretern der Industrie, der Wissenschaft oder der Kirchen über die Probleme der Zeit und deren Lösungsmöglichkeiten; sie präsentierte sich dadurch in der Öffentlichkeit als entideologisierte Partei des Sachverstands und der modernen Konzepte. Die SPD verkörperte nun „nicht mehr die große Alternative, sondern die ‚bessere’ Partei“.13 Innerhalb der Partei gab es jedoch immer auch Vorbehalte gegen den neuen Kurs, denn damit war ein Grad an Identifizierung mit dem Bestehenden verbunden, der insbesondere der Parteilinken zu weit ging. Neben der inhaltlichen Neupositionierung gehörte zur Strategie der „Gemeinsamkeitspolitik“ auch die Veränderung der Kultur der parlamentarischen Auseinandersetzung. Insbesondere auch Willy Brandt setzte sich für eine Politik des „neuen Stils“ ein, dessen Merkmale „redliche Zusammenarbeit“ und „sachlicher Ausgleich“ sein sollten.14 Der bisherige Stil der politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik – den es zu überwinden gelte – sei gekennzeichnet gewesen durch Polemik, Selbstgerechtigkeit, Überheblichkeit, Anmaßung und Machtgier. Die führenden Sozialdemokraten betonten immer wieder die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen den beiden großen Parteien der Bundesrepublik zu entkrampfen und die politische Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition zu versachlichen.15 Das Streben der SPD nach „Respektabilität“, nach Anerkennung ihrer Regierungsfähigkeit, verleitete sie nicht selten dazu, Konflikten mit der Regierung „bis an die Grenzen oppositioneller Selbstverleugnung“16 auszuweichen. Es kam, so konstatiert Beatrix Bouvier, zum „Verzicht auf Op13 Ebd., Überschrift des 4. Kapitels. 14 Vgl. Protokoll der Verhandlungen und Anträge vom Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Hannover, 21. bis 25. November 1960, Hg. Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hannover o.J., S. 674. Siehe auch: Bouvier, Zwischen Godesberg, S. 72–79. 15 Zum Beispiel: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, Stenographische Berichte Bd. 46, 122. Sitzung, 30.6.1960, S. 7061. 16 Klotzbach, Staatspartei, S. 522.

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position auch in taktisch günstigen Situationen“.17 Ein Beispiel dafür ist die sehr verzagte Vorgehensweise der SPD gegenüber der Regierung während der sogenannten Spiegel-Affäre im Herbst 1962. Obwohl das Vorgehen der Regierungs- und Justizbehörden in der liberalen Öffentlichkeit einen Proteststurm entfachte, weil es mit Geist und Buchstaben des Grundgesetzes kaum in Einklang zu bringen war, die Regierung in diesem Fall also zahlreiche Angriffsflächen bot, hielt sich die SPD mit politischer Kritik zurück. Anstatt das Vorgehen der Regierungs- und Justizbehörden anzuprangern, forderte die SPD lediglich, „dass die den Spiegel-Redakteuren vorgeworfenen Delikte ... aufgeklärt werden müssen“. Außerdem müsse man „prüfen, ob bei den Aktionen gegen den ‚Spiegel’ alle Gesetzesvorschriften beachtet worden sind“.18 Kritiker in und außerhalb der SPD – vor allem in der linken und liberalen Öffentlichkeit – monierten denn auch, dass die Opposition mit der Gemeinsamkeitspolitik ihrer Rolle in der parlamentarischen Demokratie nicht gerecht werde und die Gefahr bestehe, dass die Bundesrepublik in autoritäre Verhältnisse abgleite.19 Weitere Indizien in diese Richtung waren Übertreibungen der SPD in ihren Bemühungen um eine Versachlichung und Entschärfung des Parteienstreits: In den Bundestagswahlkämpfen 1961 und 1965 wurden Parolen und Rhetorik der SPD stark entpolitisiert und ein Bild allseitiger nationaler Harmonie und Eintracht gezeichnet. Formeln wie „Miteinander, nicht Gegeneinander“ oder „Wir sind alle eine Familie“ irritierten aufgeklärte Zeitgenossen aus liberalem wie sozialistischem Lager. Die Kritik lautete im Kern, die SPD komme ihrer Oppositionsfunktion nicht genügend nach und die Gemeinsamkeitspolitik trage zur Tradierung antidemokratischer, antiliberaler, konfliktscheuer Einstellungen und zur allgemeinen Entpolitisierung der Bevölkerung bei.20 Die Theorie vom Niedergang der parlamentarischen Opposition im Zeitalter des modernen Wohlfahrtsstaates hatte in diesen Jahren ihre Blütezeit, und das hängt nicht zuletzt mit dem Oppositionskurs der SPD in den frühen 1960er Jahren zusammen. Ebenfalls wurde diagnostiziert, dass der neue Kurs der So-

17 Bouvier, Zwischen Godesberg, S. 272. 18 SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 292/62, 29.10.1962. 19 Vgl. Klaus Schönhoven, Unbehagen an der Bonner Demokratie. Ein Rückblick auf die politikwissenschaftliche Diskussion in den sechziger Jahren, in: Karsten Rudolph/ Christl Wickert (Hg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. FS für Helga Grebing, Essen 1995, S. 338–353. 20 Vgl. Bouvier, Zwischen Godesberg, S. 84 f., 236–240, 272, 320 f. u. 324 f; Schönhoven, Unbehagen.

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zialdemokratie Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Trends der „Entideologisierung“ sei.21

3. Vor und in der Großen Koalition Die konstruktive Mitarbeit an der Gesetzgebungsarbeit in den Ausschüssen war selbstverständlicher Teil des parlamentarischen Selbstverständnisses der SPD. Die SPD-Jahrbücher dieser Jahre zeigen die Vielfalt der parlamentarischen Aktivitäten, die Initiativen und die Mitarbeit, aber auch die Variationen des Verhaltens. Trotz des Gemeinsamkeitskurses war Kritik an der Regierung weiterhin zentral und selbstverständlich, sie richtete sich aber vorwiegend auf fachpolitische Fragen und wurde nur nuanciert vorgetragen. Die SPD verteidigte ihren von linksliberaler Seite als zu zahm kritisierten Oppositionskurs als eine demokratische Normalisierung. Es sei in einer fortentwickelten Demokratie nichts Ungewöhnliches, dass die Parteien in einigen Grundfragen und Sachgebieten ähnliche oder inhaltsgleiche Forderungen verträten.22 Die SPD betonte den für eine parlamentarische Demokratie notwendigen parteienübergreifenden demokratischen Grundkonsens und sah in der Überwindung des „unheilvollen Feindverhältnisses“ zwischen Union und SPD, das „jahrelang das politische Leben der Bundesrepublik zerrissen habe“, einen Beitrag „zur Stabilisierung der demokratischen Ordnung“.23 Ihr Kurs der konstruktiven und systemimmanenten Opposition wurde dabei als positives Gegenbild zu „Weimarer Verhältnissen“ gezeichnet, denn die Weimarer Republik war im allgemeinen Verständnis auch an den Zerklüftungen der politischen Kultur, den Glaubenskriegen zwischen den politischen Lagern gescheitert. „Damals war selbst das Verhältnis der demokratischen Parteien zur parlamentarischen Demokratie nur lauwarm. Heute ist der politische Kampf zivilisiert“.24 Für die SPD waren Sachlichkeit, Pragmatismus, Mäßigung des Parteienkampfes

21 Vgl. Wolf-Dieter Narr, CDU – SPD. Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart 1966; Peter Molt, Wertvorstellungen in der Politik – Zur Frage der „Entideologisierung“ der deutschen Parteien, in: Politische Vierteljahrsschrift 4 (1963), S. 350–368. 22 Vgl. z.B.: Politik für Deutschland. Rede vom 25. November 1960, in: Willy Brandt, ...auf der Zinne der Partei... Parteitagsreden 1960 bis 1983, Hg. Werner Krause/Wolfgang Gröf, Berlin 1984, S. 23–40, hier S. 35. 23 Vgl. Möglichkeiten zur Stabilisierung der demokratischen Ordnung. Herbert Wehner vor der katholischen Akademie in Bayern. Der Graben des Feindverhältnisses zwischen CDU/CSU und SPD soll zugeschüttet werden, in: SPD-Pressedienst, 1. April 1963. 24 Fritz Erler, Demokratie in Deutschland, Seewald 1965, S. 42.

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Grundbedingungen für eine echte Entfaltung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Etwa ab der Mitte der 1960er Jahre machte sich die SPD zudem zum Anwalt der gesellschaftlich aufkommenden Demokratisierungs- und Modernisierungsansprüche.25 Anlässlich des Erhardschen Diktums der „formierten Gesellschaft“ unterstellte sie der Union eine obrigkeitsstaatliche oder zumindest antipluralistische Einstellung und setzte dagegen die Forderung nach mehr Demokratie, im Sinne einer tatsächlichen Durchdringung der gesellschaftlichen Institutionen mit liberaldemokratischen Einstellungen und Verhaltensweisen, sowie einer Stärkung der Parteien und der Parlamente.26 Konkret wurde beispielsweise gefordert, die Öffentlichkeit zu wichtigen Ausschusssitzungen zuzulassen, um dem Parlament als wichtigster demokratischer Institution zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen und die Bevölkerung über den Parlamentarismus aufzuklären.27 Mit dem Beginn der Großen Koalition kam für die Sozialdemokratie die Auseinandersetzung mit Grundfragen des parlamentarischen und politischen Selbstverständnisses verstärkt auf die Tagesordnung. Die Große Koalition wurde von linksliberalen und linken Kritikern als eine schwere Belastung des Parlamentarismus bewertet, da der Regierung keine nennenswerte Opposition im Bundestag mehr gegenüberstand. Für die erstarkende, zunehmend neomarxistische APO war der Regierungseintritt der SPD eine weitere Fortsetzung in der vermeintlichen Geschichte des Versagens und der Anpassung der Sozialdemokratie an die kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaftsordnung. In den Augen des radikalen Kerns der APO war der Parlamentarismus im Rahmen der sogenannten „bürgerlichen Demokratie“ überhaupt nur eine Verschleierung der tatsächlichen Machtausübung durch die kapitalistischen Monopole.28 25 Siehe dazu Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel 1959–1969, S. 420 ff.; Moritz Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 245–277. 26 Pointiert in diesem Sinne: Waldemar von Knoeringen, Das Leitbild Erhards. Obrigkeitsstaat – demokratisch aufgemacht, in: SPD-Pressedienst, 20. Juli 1965. Grundlegend auch: Waldemar von Knoeringen u.a., Mobilisierung der Demokratie. Ein Beitrag zur Demokratiereform, München 1966. Siehe auch: Ulrich Lohmar, Eine Streitschrift aus Bayern, in: Die Zeit, 19.5.1966; Artikel „Alarm am Sonntag“, in: Der Spiegel, 18.04.1966. 27 Vgl. etwa: Fritz Sänger, Ausschussarbeit öffentlich. Mehr Publizität für die Parlamente, in: SPD-Pressedienst, 21. Dezember 1965. 28 Vgl. Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel, S. 209– 212.

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4. „68er Bewegung“ und deren Einfluss auf Jungsozialisten und SPD Das Zusammengehen von CDU und SPD verstärkte innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition die Wirksamkeit antiparlamentarischer Theorien, so dass für den Kern der Bewegung in den Jahren 1967–1969 auch von einer antiparlamentarischen Bewegung gesprochen werden kann.29 Johannes Agnolis Studie über „Die Transformation der Demokratie“ bringt die Kritik der APO am systematischsten zum Ausdruck. Oligarchisierte Parteien und Parlamente verträten angeblich nicht die wahren Volksinteressen, sondern die der herrschenden Klasse. Klassengegensätze würden durch den Parlamentarismus verschleiert, das Parlament sei letztlich eine manipulative Institution zur Befriedung der Gesellschaft im Interesse der herrschenden Schichten.30 Mit der Parlamentarismuskritik gingen räte- und basisdemokratische Vorstellungen und Konzepte einher, die die APO allerdings nicht systematisch entwickelte. Rudi Dutschke erklärte einmal, er bevorzuge „ein System von direkter Demokratie“, um „die Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß [zu] reduzieren“. Die Leitvorstellungen des SDS lauteten jedenfalls, „alle für das politische Handeln relevanten Entscheidungen in Basisgruppen zu fällen, über Entscheidungsalternativen gemeinsam und öffentlich zu beraten, die Gefahr einer Verselbständigung von Herrschaftsrollen durch dauernde Kontrolle und Ämterrotation auf ein Minimum zu beschränken und ein imperatives Mandat zu gewährleisten“.31 Weniger radikalen Teilen der 68er-Bewegung ging es aber mehr um eine Reform des Parlamentarismus als um dessen Abschaffung. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre entfaltete sich beispielsweise eine Diskussion um die Einschränkung des Repräsentativsystems und die Einführung des imperativen Mandats. Jenseits dieser mehr theoretischen Debatten wird der Parlamentarismus seit „1968“ – bzw. dem damit verbundenen Werte- und Kulturwandel – durch die sog. „partizipatorische Revolution“ herausgefordert. Diese manifestiert sich in wachsender Skepsis gegenüber vermittelten Formen der Demokratie, Institutionen, Parteien und anderen Großorganisationen und dem gestiegenen Wunsch nach unmittelbarer Beteiligung und Mitsprache bzw. direkter Demokratie. Im Rahmen der 68er-Bewegung äußerte sich das auch in der Abgrenzung zur Organisationsrealität der etablierten Parteien und durch 29 So unter anderen: Wolfgang Kraushaar, Denkmodelle der 68er-Bewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22-23 (2001), S. 14–27, hier S. 20 f. 30 Johannes Agnoli/Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967. 31 Interview Dutschkes im „Spiegel“, 10.7.1967.

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ein Politikverständnis, welches institutionalisierte Politik abwertet und demgegenüber spontane und aktivistische Formen, Basisaktivitäten und „direkte Aktionen“ propagiert.32 Die Reaktion der SPD auf diese neuen Herausforderungen war ein Stück weit gekennzeichnet durch ihre weiterhin existente Doppelnatur zwischen „Emanzipationsbewegung und Verfassungspartei“33, zwischen realer Institutionalisierung und Bewegungstradition; zum anderen war sie natürlich auch bestimmt durch die reale Heterogenität der 68er-Bewegung selbst. Einerseits standen führende Sozialdemokraten der 68er-Bewegung mit Sympathie gegenüber, weil sie alles in allem als eine Emanzipationsbewegung bewertet wurde, die der Sozialdemokratie ideell nahestehe und deren Protest zu einem Gutteil berechtigte Gründe habe. Selbstkritisch wies die SPD auf versäumte Reformen in vielen politischen Bereichen hin, vor allem im Hochschulwesen, auf die Unmenschlichkeit des Vietnamkrieges oder auf tatsächlich existierende gesellschaftlich-politische Demokratiedefizite. Mit Nachdruck verteidigten die Sozialdemokraten das Grundrecht der Demonstrations- und Meinungsfreiheit, appellierten aber gleichzeitig an die Protestbewegung, sich an die „Spielregeln“ der Demokratie, also an Recht und Gesetz zu halten. Letzten Endes wurde die 68er-Bewegung von vielen Sozialdemokraten, darunter Willy Brandt, gerade deswegen mit viel Sympathie bedacht, weil sie in der Unruhe, den Protesten, der Kritik, auch wenn diese oft überschießend waren, doch im Grunde Merkmale einer liberaldemokratischen politischen Kultur sahen, die in der Bundesrepublik bisher noch unterentwickelt zu sein schien.34 Horst Ehmke erklärte beispielsweise auf dem Nürnberger Parteitag 1968: „Ich bin jedenfalls der Meinung, Genossinnen und Genossen, was die Bewährungsprobe der deutschen Demokratie betrifft, so ist dies die Generation, auf die wir gewartet haben.“35 Und Willy Brandt erklärte im Sommer 32 Zur Vielschichtigkeit des Phänomens der 68er-Bewegung zwischen politischem Radikalismus und kultureller Liberalisierung siehe u.a. Philipps, Sozialdemokratie, 68erBewegung und Gesellschaftlicher Wandel, S. 5–18, dort auch weitere Literaturhinweise. 33 Peter Lösche, Sozialdemokratie zwischen Verfassungspartei und Emanzipationsbewegung, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 36 (1989), S. 402–407. Detlef Lehnert spricht in diesem Zusammenhang von der „permanente[n] Herausforderung an die SPD, eine institutionenbezogene Regierungsfähigkeit mit der Mobilisierungskraft von Basisbewegungen zu verbinden“ (Detlef Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848 bis 1983, Frankfurt a.M. 1983, S. 14). 34 Vgl. Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel, S. 206 ff. 35 Vgl. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17. bis 21. März 1968 in Nürnberg. Protokoll der Verhandlungen, Hg. Vorstand der SPD, Bonn o.J., S. 220.

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1967: „Ich halte diese Unruhe nicht nur in vielen Punkten für verständlich und begründet. Ich halte sie auch für positiv in ihren Wirkungen, sofern sie auf dem Boden der demokratischen Ordnung erfolgt. Sie ist Ausdruck einer kritischen Verantwortung, die der überwiegende Teil der Studentenschaft gegenüber dem Gemeinwesen empfindet.“36 Insoweit sich allerdings zeigte, dass mindestens ein radikaler Kern der 68er-Bewegung sowohl ideologisch wie im Hinblick auf das konkrete Verhalten keineswegs auf dem Boden der demokratischen Grundordnung stand, wuchsen auch innerhalb der Sozialdemokratie die Vorbehalte. Die Grenzziehung zu den radikalen Kräften der APO wurde nachdrücklicher vorgetragen, immer natürlich auch mit Blick auf die SPD-Wähler, die der APO ganz überwiegend mit Ablehnung gegenüberstanden. Bereits im Sommer 1967 warnten Mitarbeiter des Parteivorstandes: „Es wäre ein Fehler, die Studentendemonstrationen ... nur positiv als demokratische Bewegung zu werten. Die Zielsetzung der Minderheit ... ist jedenfalls negativ. Sie ist genauso negativ, wie die Studentenbewegung in den dreißiger Jahren, die mit dazu beigetragen hat, die Weimarer Republik zu Fall zu bringen.“37 Diese Deutung setzte sich in der Folgezeit immer mehr durch, Helmut Schmidt erklärte etwa im Frühjahr 1968: „Mit Leuten, die also die parlamentarische Demokratie als solche verächtlich machen wollen, aushebeln wollen, mit denen habe ich keine Gesprächsmöglichkeiten“.38 Und nach den Osterunruhen erklärte das Parteipräsidium: „Eine kleine Gruppe radikaler Studenten, die sich vor allem im SDS organisiert hat, ist schon seit langem bestrebt, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu zerstören.“39 Willy Brandt sprach der außerparlamentarischen Opposition nicht grundsätzlich ihre Legitimität ab, zog aber die Grenze da, „wo 36 Interview des Parlamentarisch-Politischen Pressedienstes mit Willy Brandt, abgedruckt in: SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 286/67, 30.6.1967. Zu Brandts Haltung in der Auseinandersetzung mit der 68er-Bewegung siehe auch: Peter Brandt, Willy Brandt und die Jugendradikalisierung der späten sechziger Jahre – Anmerkungen eines Historikers und Zeitzeugen, in: Einhart Lorenz (Hg.), Perspektiven aus den Exiljahren. Wissenschaftlicher Workshop in Zusammenarbeit mit dem Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin am 9. Februar 2000, Dinkelsbühl 2000, S. 79–97. 37 Vgl. Horst Bachmann, Referat vor dem Jugendpolitischen Ausschuss beim Vorstand der SPD über die Lage der Studenten und die Situation an den deutschen Hochschulen, Anlage zur Sitzung des Jugendpolitischen Ausschusses beim Parteivorstand vom 6.7.1967, in: Archiv der sozialen Demokratie, SPD-PV, Neuer Bestand, Abteilung Jugend und Bildung, Referat Jugendpolitik, 1924. 38 Interview Helmut Schmidts in der Sendereihe des Südwestfunks: „Die Welt von Heute“, abgedruckt in: SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 177/68 b, 17.4.1968. 39 SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 173/68 b, 17.4.1968.

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aus einer außerparlamentarischen Opposition eine antiparlamentarische und antidemokratische Opposition zu werden droht“.40 Die Sozialdemokratie war sich spätestens seit dem Frühjahr 1968 darüber im Klaren, dass ein radikaler Kern der APO die parlamentarische Verfassungsordnung grundsätzlich negierte und ideologisch totalitäre Züge aufwies. Angesichts der anhaltenden Gewalttätigkeiten von Teilen der Bewegung fühlten sich viele Sozialdemokraten an die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Endphase der Weimarer Republik erinnert. Einige Sozialdemokraten, darunter Helmut Schmidt, verglichen sogar das Verhalten der linksradikalen Außerparlamentarischen Opposition mit den Methoden der nationalsozialistischen Schlägertrupps oder des NS-Studentenbundes. Aber auch jetzt verstummten die Stimmen keineswegs, die innerhalb der 68er-Bewegung zwischen Radikalen und Gemäßigten differenzierten und die im Grunde Sympathie gegenüber den breiteren Phänomenen der Unruhe, des Aufbegehrens, der Partizipations- und Demokratisierungsansprüche einer friedlich bleibenden Mehrheit der 68er-Bewegung verspürten.41 Da die Parteijugend der SPD, Jungsozialisten und Sozialdemokratischer Hochschulbund, in diesen Jahren schnell in den Sog der 68er-Bewegung gerieten, fanden die ideellen Topoi sowie die Verhaltensweisen der 68er-Bewegung nun auch innerhalb der Sozialdemokratie ihren Niederschlag. Auf allen Ebenen der SPD wurde gegen Ende des Jahrzehnts und Anfang der siebziger Jahre über den politischen Kurs und grundlegende Fragen des Selbst- und Sozialismusverständnisses diskutiert und gestritten. Marxistische, neomarxistische, antikapitalistische Deutungs- und Zielvorstellungen reüssierten bzw. kamen neu auf. Die bayerischen Jungsozialisten erklärten beispielsweise 1968: „Das gesamte System der repräsentativen Demokratie ist dieser Jugend zur Fassade geworden, hinter der die Interessenverbände und das politische Establishment ihre Machtpositionen untereinander aushandeln.“42 In der Verbandszeitschrift der südhessischen Jungsozialisten wurden Agnolis „Thesen zur Transformation der Demokratie und zur Außerparlamentarischen Opposition“ abgedruckt. Agnolis Beitrag sollte „Ansatzpunkte der Parlamentaris-

40 Interview Brandts mit der Illustrierten „Quick“, 26.4.1968, komplett abgedruckt in: SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 198/68 b, 26.4.1968. 41 Vgl. Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel, S. 315 f. u. 324–331. 42 Vgl. Haushammer Manifest der bayerischen Jungsozialisten, abgedruckt in: JS-Magazin 3 (1968), Nr. 7, Juli 1968, S. 4–7.

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mus-Kritik der außerparlamentarischen Opposition vermitteln“, wie im Vorwort der Zeitschrift erklärt wurde.43 1970 wurde die sogenannte „Doppelstrategie“ bei den Jungsozialisten maßgeblich, nach der die Jungsozialisten ihre politischen Ziele einerseits im Rahmen der Mitwirkung in den parlamentarisch-demokratischen Institutionen, andererseits durch außerparteiliche und außerparlamentarische Mobilisierungskampagnen und „Basisarbeit“ zu verwirklichen trachteten.44 Die parlamentarische Demokratie wurde von manchen Jungsozialisten als bloß „formale Demokratie“ herabgesetzt, richtige Demokratie setze eine sozialistische Wirtschaftsordnung voraus, Teile der Jusos hatten auch Sympathien für eine Rätedemokratie.45 Parlamentarismusdebatten wurden 1969/70 auch im Sozialdemokratischen Hochschulbund geführt, wobei die Konfliktlinie zwischen einer pauschalen Ablehnung des Parlamentarismus durch den antiautoritären Flügel und einer taktischen Instrumentalisierung des Parlamentarismus durch die traditionalistischen Marxisten lag.46 In dieser Zeit entstanden in der Sozialdemokratie basisimperative Strömungen, die jedoch zurückgewiesen wurden. Brandt und andere hielten dem „Parteitagsstaat“ ihre Bindung an den Amtsgedanken, also an die Herrschaft als anvertrautes, zum Wohle aller Bürger zu gebrauchendes Staatsamt entgegen.

5. Die SPD in der sozial-liberalen Koalition bis zum Wahlsieg von 1972 Die Parteiführung bzw. das Parteiestablishment war Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre auf allen Ebenen dazu gezwungen, den systemimmanenten, volksparteilichen Kurs der SPD gegenüber neomarxistischen Bestrebungen zu verteidigen, was ihr auch gelang. Auf theoretischer Ebene bemühte sie sich zum Beispiel, die Errungenschaften der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung herauszustellen und sie als Teilverwirklichung der sozialistischen Utopie hinzustellen.47 Dennoch wurde Ende der 1960er Jahre und mehr noch 43 Vgl. JUSO Hessen-Süd. Zeitschrift der südhessischen Jungsozialisten 2 (1969), Nr. 1, S. 3. 44 Vgl. Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel, S. 333 ff., 371, 420 f. u. 473. 45 Vgl. Ebd., S. 333 ff., Zitat S. 343. 46 Vgl. Ebd., S. 375 ff. 47 Vgl. Bundeskonferenz der SPD 1967, Thema: Die Sozialdemokraten in der Regierungsverantwortung. Protokoll, 13. bis 15. November 1967, Hg. Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Bonn–Bad Godesberg o.J., S. B 7, B 9.

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in der ersten Hälfte der 1970er Jahre auf allen Ebenen der Partei um das politische Selbstverständnis gerungen. Um gestiegenen Partizipationsansprüchen Rechnung zu tragen und den reformistischen Teilen der 68er-Bewegung ein positives Angebot zu machen, forcierte die SPD Ende der 1960er Jahre ihren Diskurs über die Notwendigkeit der „Demokratisierung“ der Gesellschaft massiv. Demokratisierung hieß für die SPD im Kern die stärkere Öffnung der staatlichen und politischen Institutionen gegenüber der Gesellschaft, mehr Mitsprache, Beteiligung, Transparenz, aber auch Verwissenschaftlichung und Professionalisierung politischer Entscheidungsprozesse. Vor allem ging es um eine stärkere Verankerung liberaldemokratischer politischer Kultur in allen politisch-gesellschaftlichen Bereichen.48 Willy Brandt erklärte verschiedentlich, die SPD kämpfe für eine Demokratie, „die sich nicht im parlamentarischen Betrieb erschöpft“, sondern die auch im Wirtschaftlichen und im Sozialen zum Durchbruch gelangt. „Für die SPD bedeutet Demokratie ein Prinzip, das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beeinflussen und durchdringen muss“, so Willy Brandt Ende 1969.49 Der Ruf nach Demokratisierung fand schließlich Eingang in Willy Brandts Regierungserklärung zur Bildung der sozialliberalen Koalition, in der er die berühmten Worte sprach: „Wir wollen mehr Demokratie wagen ... Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“50

5.1 Demokratisierung und innere Reformen der sozialliberalen Koalition Die Umsetzung der angekündigten Demokratisierung fiel in die Zeit nach der Bundestagswahl 1969, die in eine SPD/FDP-Bundesregierung mündete.51 Die SPD stellte nun erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik mit Willy Brandt den Bundeskanzler. Der Regierungswechsel war Symbol für einen Neubeginn und zugleich Katalysator der allgemeinen Reform- und Aufbruchsstimmung in breiten Teilen der Öffentlichkeit. Die Gesellschaft schien geradezu von Reformeuphorie gepackt, und sogar die Mitglieder des 48 Vgl. dazu Philipps, Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und Gesellschaftlicher Wandel, S. 420 ff. 49 Willy Brandt, Die Alternative, in: Die Neue Gesellschaft 16 (1969), Sondernummer (Mai 1969), S. 3–4, hier S. 4. 50 Ders., Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969. 51 In Teilen knüpfte die Reformpolitik aber auch an politische Initiativen der Großen Koalition an.

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neuen Kabinetts ließen sich davon anstecken.52 Die Aufbruchsstimmung und der allgemeine Fortschrittsoptimismus verbanden sich mit einem heute naiv anmutenden Zutrauen in die umfassende Planbarkeit und Gestaltungsfähigkeit von Politik.53 Der Anspruch der Regierung war es, die „Demokratisierung“ in einer umfassenden innenpolitischen Reformpolitik umzusetzen. Die „inneren Reformen“ wurden daher neben der neuen Ost- und Deutschlandpolitik zum Leitmotiv der Koalition. Zunächst konnte die Senkung des aktiven Wahlalters von 21 auf 18 Jahre und des passiven von 25 auf 21 Jahre als Beitrag zur Demokratisierung gesehen werden. Die Reformagenda erstreckte sich aber vor allem auf die Bereiche der Hochschul- und Bildungspolitik, der Rechtsbzw. Justizpolitik, der Arbeitnehmermitbestimmung, der Raumordnung und des Umweltschutzes, der Sozial- und Steuerpolitik.54 In der Bildungspolitik griff die SPD viele Forderungen der gemäßigten Teile der Studentenbewegung auf und orientierte sich dabei an den Zielen Chancengleichheit und Mitbestimmung, z.B. manifestiert in der Forderung nach Drittelparität an den Hochschulen und der Einführung integrierter Gesamtschulen anstelle des bisherigen dreigliedrigen Schulsystems. Demokratisierung durch Bildung hieß für die SPD auch, dass möglichst viele Menschen an Bildung und damit an der Gesellschaft teilhaben konnten. Der quantitative Ausbau des Bildungswesens und die Einführung der Ausbildungsförderung (BAFÖG) wurden daher ebenfalls zu wichtigen Elementen der Reformpolitik im Bildungsbereich. Ausdruck des Demokratisierungsanspruchs waren zudem die Bestrebungen, neue Bildungsinhalte wie individuelle Selbstständigkeit, Kritik- und Konfliktfähigkeit zu verankern.55 Auch die rechtspolitischen Reformen waren von der Absicht geleitet, den gewandelten gesellschaftlichen Einstellungen und Werten Rechnung zu tragen.56

52 So schreibt Horst Ehmke in seinen Erinnerungen: „Über der Regierungsbildung als Teil des Machtwechsels lag trotz aller Geschäftigkeit ein gewisser Zauber“, vgl. Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur deutschen Einheit, Berlin 1994, S. 104, siehe auch: Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 125 ff. 53 Dazu weiterführend: Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. 54 Siehe dazu umfassend: Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 181 ff. 55 Vgl. ebd., S. 200 ff. 56 Vgl. dazu: Sonja Profittlich, Mehr Mündigkeit wagen. Gerhard Jahn (1927–1998). Justizreformer der sozial-liberalen Koalition, Bonn 2010.

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„Demokratisierung“ konkretisierte sich auf diesem Feld beispielsweise in der Liberalisierung des Demonstrationsrechtes, die 1970 durchgesetzt wurde, indem der Tatbestand des Landfriedensbruchs zugunsten der Demonstrationsfreiheit eingeengt wurde. Auch das Sexualstrafrecht wurde liberalisiert und die Strafbarkeit von Abtreibungen eingeschränkt. Reformiert wurde in den frühen 1970er Jahren ebenfalls das Ehe- und Scheidungsrecht, das die Gleichberechtigung der Frau in der Ehe entscheidend vorantrieb. Insgesamt standen die rechtspolitischen Reformen im Zeichen einer Rücknahme des staatlichen Strafanspruchs und eines größeren Vertrauens in die Mündigkeit und Erziehbarkeit des Menschen. Eines der zentralen innenpolitischen Vorhaben der Koalition war zudem der Ausbau der Arbeitnehmermitbestimmung durch die Reformen des Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetzes. Hier konkretisierte sich die von den Sozialdemokraten seit langem geforderte Ausweitung der Demokratie von der politischen auch auf die wirtschaftliche Ebene. Die Neuregelungen sollten den Arbeitnehmern und Betriebsräten mehr Rechte und Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Betrieben geben, aber auch der Arbeitsschutz sollte verbessert werden. Die paritätische Zusammensetzung der Aufsichtsräte in den größeren Unternehmen stand ebenfalls auf der Reformagenda. Im Zeichen der „Demokratisierung“ stand auch der Ausbau des Sozialstaates, denn wohlfahrtsstaatliche Umverteilung bedeutete nach dem Verständnis der sozialdemokratischen Reformer, die Teilhabechancen schwächerer Bevölkerungsschichten zu stärken. Da die wirtschaftliche Entwicklung in den frühen siebziger Jahren noch ungetrübt war, wurden die finanziellen Folgewirkungen dieser Politik noch wenig problematisiert. Insgesamt blieb die Reformpolitik hinter manchen hochgesteckten Erwartungen zurück. Vieles, was in den frühen 1970er Jahren angeschoben oder erdacht wurde, ließ sich am Ende nicht oder nur sehr abgespeckt durchsetzen. Demokratisierung, Liberalisierung, Modernisierung und Rationalisierung waren die Leitmotive der Reformpolitik, die damit nicht zuletzt auf gewandelte gesellschaftliche Einstellungen und Wertvorstellungen reagierte.57 In der praktischen Umsetzung – kleinteilig, unfertig, technokratisch – verlor die Reformpolitik jedoch vieles vom Glanz ihrer hochfliegenden Begründungszusammenhänge. Kritik von links wie rechts nahm zu, und mit der massiven Verschlechterung der ökonomischen Rahmendaten, die 1973/74 einsetzte, veränderten sich auch die gesellschaftlichen und politischen Prioritäten inso57 Vgl. Paul Nolte, Die letzte Euphorie der Moderne. Die Reformen der alten Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren, in: Ders., Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München 2006, S. 27–46.

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fern, dass die Sicherung des Bestehenden den Veränderungswillen mehr und mehr verdrängte.

5.2 Der Bundestagswahlkampf 1972 im Zeichen der „Fundamentalpolitisierung“ Wie sehr gesellschaftliche Tendenzen der „partizipatorischen Revolution“ und der „Fundamentalpolitisierung“ die traditionelle, auf Institutionen, Verfahren und parlamentarischen Betrieb ausgerichtete politische Kultur verändert hatten, zeigte sich eindrucksvoll im Bundestagswahlkampf 1972. Der Kurswechsel in der Deutschland- und Ostpolitik hatte dazu geführt, dass mehrere sozialdemokratische und liberale Abgeordnete, die die neue Linie nicht mittragen wollten, zur CDU/CSU übertraten, so dass die Bundesregierung im Frühjahr 1972 im Parlament keine Mehrheit mehr besaß. Zwar scheiterte ein von der Union angestrengtes Misstrauensvotum knapp58, die Koalition war aber gezwungen, die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers zu stellen und Neuwahlen zu erzwingen. Die Übertritte von Abgeordneten, die über die Parteilisten ihr Mandat erhalten hatten, erregten viele Menschen, weil sie als Verfälschung des Wählerwillens betrachtet wurden. Auch deshalb bewirkte die Bundestagswahl von 1972 eine bis dato einzigartige Mobilisierung von Wählern und gesellschaftlichen Gruppen. Bürger aus allen Schichten beteiligten sich an der politischen Auseinandersetzung und viele warben öffentlich für die von ihnen präferierte Partei; dabei überwog das öffentliche Bekenntnis zur SPD und Willy Brandt deutlich.59 Auf lokaler Ebene wurden Anzeigen geschaltet, in denen sich Bürger zur SPD bekannten, Aufkleber und andere öffentliche Zeichen der politischen Präferenz waren überall präsent. Erneut trat die „sozialdemokratische Wählerinitiative“ in Aktion, die bereits im Bundestagswahlkampf 1969 die SPD unterstützt hatte.60 Dabei handelte es sich um eine Initiative von der SPD 58 Mindestens ein Abgeordneter der Union wurde in seinem Abstimmungsverhalten durch Geldzahlungen der Staatssicherheit der DDR beeinflusst, die genauen Umstände und eine mögliche Beteiligung des SPD-Fraktionsgeschäftsführers Karl Wienand sind bis heute ungeklärt. 59 Vgl. Daniela Münkel, Trommeln für die SPD. Die Sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Kai Schlüter (Hg.), Günter Grass auf Tour für Willy Brandt. Die legendäre Wahlkampfreise 1969, Berlin 2011, S. 190–223, hier S. 211. 60 Siehe dazu: Klaus Schönhoven, Wendejahre, S. 620 ff.; Daniela Münkel, Intellektuelle für die SPD: Die Sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Dies., Bemerkungen zu Willy Brandt, Berlin 2005, S. 187–210.

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nahestehenden Intellektuellen um Günter Grass, die mit Veranstaltungen und Publikationen die SPD im Wahlkampf unterstützen und beraten wollte. Die Wählerinitiative entwickelte sich zum breiten Netzwerk von Schriftstellern, Journalisten, Wissenschaftlern und Studenten, mit Ablegern in fast allen größeren Städten der Bundesrepublik. Sie führte zahlreiche Veranstaltungen durch, auf denen prominente Gesichter wie Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Günter Grass oder Inge Meysel für die SPD warben. Durch das Wirken solcher Initiativen wurden breite linksbürgerliche Schichten, die durch traditionelle Parteiarbeit eher schwer zu erreichen sind, für die SPD mobilisiert. Im Bundestagswahlkampf 1972 entwickelte sie fast eine Art Bürgerbewegungscharakter. Das Bild vom „unpolitischen Bürger“ schien der Vergangenheit anzugehören. Der Bundestagswahlkampf 1972 zeigte eindrucksvoll, wie sehr die neuen Partizipationsansprüche die politische Kultur und die Parteien veränderten. Und es zeigte sich, dass es die SPD war, die dem veränderten Zeitgeist am besten Rechnung trug. Sie erzielte im November 1972 einen deutlichen Erfolg, wurde mit 45,8 % der Stimmen stärkste Partei und erreichte damit ihr bis heute bestes Wahlergebnis der gesamten Parteigeschichte.

BERND FAULENBACH

Die Sozialdemokratie im parlamentarischen System der Bundesrepublik 1973–1982 Die Sozialdemokratie ist wie keine andere deutsche Partei Garantin des Parlamentarismus. Sie verkörpert ein wesentliches Stück Kontinuität des deutschen Parlamentarismus seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein. Die Sozialdemokraten waren – ungeachtet des Plädoyers für eine direktdemokratische Komponente in der Verfassung – praktisch immer Mitträger des parlamentarischen Systems.1 Sie engagierten sich zunehmend für die parlamentarische Regierungsweise, in der die Regierung von einer Parlamentsmehrheit getragen wird, der oppositionelle Parteien gegenüberstehen. Keine Frage, dass sich das parlamentarische System, das in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland wie in weiten Teilen Europas abgeschafft wurde, doch nach dem Zweiten Weltkrieg in der westlichen Welt eine Renaissance erlebt hat, immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert gesehen hat. Nicht nur gesellschaftliche Strukturen und Zeitklimata, sondern auch Parteien und Parteiensystem haben sich immer wieder verändert, so dass sich mit ihnen Formen und Inhalte der Arbeit des parlamentarischen Systems gewandelt haben.

1. Zu Thema und Fragestellungen Wir thematisieren hier die Jahre 1973–1982, in denen sich das parlamentarische System durchaus bewährt hat. Wir fragen nach der Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Parlamentarismus und nach der Prägung ihrer Politik durch das parlamentarische System, auch nach ihrer Rolle im parlamentarischen System in der Zeit vom Kanzlerwechsel von Brandt zu Schmidt bis zum Kanzlerwechsel von Schmidt zu Kohl. Während der erstgenannte Wechsel die Koalition aus SPD und FDP nicht tangierte, bildete der zweite das definitive Ende der sog. sozial-liberalen Koalition. Wir behandeln damit 1 Vgl. Susanne Miller, Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik von Lassalle bis zum Revisionismusstreit, 3. Aufl. Berlin 1977; Bernd Faulenbach, Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012.

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nur einen Teil der sozialdemokratisch dominierten Phase der deutschen Politik, die man als „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ der alten Bundesrepublik bezeichnen mag. Ihr ging gleichsam als „Vorbereitung“ die Zeit der ersten „großen Koalition“ voraus.2 1973/74 endete die mit der Wahl 1969 Willy Brandts zum Bundeskanzler einsetzende Zeit des Umbruchs, der Reformeuphorie und der das Ost-West-Verhältnis verändernden Neuen Ostpolitik. Zu diesem Ende trugen Verteilungskonflikte, vor allem aber wachsende ökonomische Probleme bei, die durch die – vom Jom Kippur-Krieg ausgelöste – Ölkrise teils hervorgerufen, teilweise verstärkt wurden, die jedoch letztlich auch etwas mit dem Ende des großen Wachstumszyklus der Wirtschaft seit den 50er Jahren zu tun hatten.3 Für die Sozialdemokratie, deren Politik des Ausbaus des Sozialstaates hohe Wachstumsraten zur Voraussetzung hatte, verschlechterten sich damit die Rahmenbedingungen ihrer Politik. Dementsprechend aber zerfällt retrospektiv das „sozialdemokratische Jahrzehnt“ in zwei Teile, die gleichsam durch die Namen der beiden Kanzler symbolisiert werden, auch wenn es selbstverständlich Momente der Kontinuität, nicht nur in der Deutschlandund Außenpolitik, sondern auch in der Innenpolitik gab.4 Hier geht es also um die Sozialdemokratie in der Ära des Kanzlers Helmut Schmidt, an deren Ende nicht nur ein Kanzler-, sondern auch ein Koalitionswechsel stand, der ein Einschnitt in die Geschichte des parlamentarischen Systems war, obwohl das Mischungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in den verschiedenen Politikfeldern unterschiedlich war.5 Während der 70er Jahre war die Sozialdemokratie Regierungspartei, was sie in ihrer vorherigen Geschichte überwiegend nicht war. Sie war von ihrer Entstehung und Prägung her – im Kaiserreich sogar systemkritische – „Oppositionspartei“, 2 Zum Begriff „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ siehe Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011. Siehe zu den 70er Jahren außerdem Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Karl Dietrich Bracher u.a., Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt, Stuttgart 1986; Wolfgang Jäger/Werner Link, Die Republik im Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987. 3 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte im 20. Jahrhundert, München 1994, S. 285 ff. Zum deutschen Fall siehe Hartmut Kaelble (Hg.), Der Boom. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992; Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 416 ff. 4 Siehe Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, insbes. S. 409 ff. u. 428 ff. 5 Zum Einschnitt 1982/83 vgl. ebd., S. 755 ff.; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 17 ff. u. 47 ff.

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was auch in den Perioden nachwirkte, in denen sie (mit-)regierte. Besonders gilt dies für Perioden, in denen das Regieren schwierig wurde. Zu klären ist also, inwieweit die SPD – wie Klaus Schönhoven für die Weimarer Zeit formuliert hat6 – in der Zeit 1973–1982 „halbe Regierungs- und halbe Oppositionspartei“ war. Selbstverständlich ist auch die konkrete Ausformung des Verhältnisses von Regierung und parlamentarischer Mehrheit auf der einen Seite und der parlamentarischen Opposition auf der anderen Seite zu beleuchten, darüber hinaus auch das Verhältnis von Regierung und Parlamentsfraktion und von Partei und Parteiflügeln zu Fraktion und Regierung. Neben diesen Fragen, die auf Strukturen und Mechanismen des parlamentarischen Systems zielen, sind Fragen von Interesse, die auf den Zusammenhang von gesellschaftlich-politischer Dynamik und Politik der Sozialdemokratie im parlamentarischen System gerichtet sind. Was wurde – so ist etwa zu fragen – aus Willy Brandts Ankündigung, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen in der Ära Schmidt? Inwieweit veränderte sich die politische Konstellation für die Sozialdemokratie grundlegend? In diesen Kontext gehört auch ein in der zweiten Hälfte der 70er Jahre sich entwickelnder neuer Schub der Fundamentalpolitisierung: das Entstehen „alternativer“ Bewegungen, der Antiatomkraft- und der Umweltbewegung, der Neuen Frauenbewegung und der Friedensbewegung. Zweifellos forderten diese Bewegungen das parlamentarische System heraus. Wie reagierten die Sozialdemokraten auf diese neuen sozialen Bewegungen? In folgenden Schritten ist vorzugehen: a) ist die Bedeutung des personalen Faktors zu erörtern. Was bedeutet der Wechsel von Brandt zu Schmidt, auch die damit verbundenen Wechsel in Kabinett und Fraktionsführung? b) ist das Verhältnis von Regierungslager und Opposition in der Ära Schmidt zu beleuchten. Erstmals war die CDU/CSU, die gewohnt war, die Bundesrepublik zu regieren, 1969 in der Opposition gelandet. Inwieweit führte dieser Rollenwechsel für das ganze Jahrzehnt zu veränderten Formen in der parlamentarischen Auseinandersetzung? c) ist zu fragen, inwieweit der parlamentarische Entscheidungsprozess der sozial-liberalen Regierung gesellschaftliche Interessen aufgegriffen hat und Akzeptanz fand (von der Ostpolitik bis zum Abtreibungsrecht); 6 Klaus Schönhoven, Arbeiterbewegung und soziale Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Beiträge, München 2002, S. 211 ff. u. 237; ders., Probleme des Rollenwechsels: Die SPD als Regierungs- und Oppositionspartei in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, in: Franz-Josef Jelich/Stefan Goch (Hg.), Geschichte als Last und Chance. Festschrift für Bernd Faulenbach, Essen 2003, S. 515–528.

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d) ist das Verhältnis von Regierung, Fraktion und Partei und die Flügelbildung zu untersuchen, die gerade in dieser Zeit ein enormes Ausmaß annahm und zunehmend die Frage der Handlungsfähigkeit der SPD zu tangieren schien; in diesem Kontext ist die Rolle der Fraktion etwas genauer auszuleuchten; e) ist die Reaktion der Sozialdemokratie auf die Neuen Sozialen Bewegungen zu thematisieren, deren Politikbegriff partiell die parlamentarische Demokratie in Frage zu stellen schien; f) ist das Scheitern der sozial-liberalen Regierung im Spannungsfeld von parlamentarischer Willensbildung und gesellschaftlicher Politisierung einzuordnen und das Ergebnis der Politik der Sozialdemokratie im Kontext der Parlamentarismusgeschichte zu bilanzieren.

2. Zum Kanzlerwechsel und seinen Konsequenzen Der Kanzlerwechsel von 1974 war kein auf der parlamentarischen Ebene initiierter Vorgang. Brandt wurde nicht gestürzt durch ein konstruktives Misstrauensvotum, er trat vielmehr von sich aus wegen der Guillaume-Affäre zurück, für die er die Verantwortung übernahm. Inwieweit seine engste Umgebung, insbesondere SPD-Fraktionschef Herbert Wehner Anteil an dem Rücktritt hatte, ist bis heute umstritten.7 Jedenfalls blieb – da der als unverzichtbar geltende Innenminister Hans-Dietrich Genscher nicht zurücktrat, in dessen Verantwortungsbereich die Affäre recht eigentlich lag – die sozial-liberale Koalition erhalten. Allerdings war Brandts Autorität als Kanzler – nur eineinhalb Jahre nach seinem grandiosen Wahlerfolg, bei dem die SPD 45,8 % der Stimmen erzielte – bereits erheblich geschwächt, als die Guillaume-Affäre publik wurde und die Medien sich auf diese stürzten. Nach der Projektion vieler teilweise unrealistischer Hoffnungen in der deutschen Gesellschaft auf Brandt 1972 hatten Enttäuschungen bei Wählern und Öffentlichkeit nicht ausbleiben können. Außerdem ließen mehrere Faktoren die Position des Kanzlers Brandt erodieren: Nach dem Fluglotsenstreik 1973 – der erste Streik (offiziell „Dienst nach Vorschrift“) einer Spartengewerkschaft in der Geschichte der Bundesre7 Vermutlich werden sich die Vorgänge, insbesondere die Gespräche unmittelbar vor Brandts Rücktritt in Bad Münstereifel zwischen Brandt und Wehner, nicht mehr genau rekonstruieren lassen. Vgl. August H. Leugers-Scherzberg, Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. Mai 1974, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 303–322; Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 405 ff.

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publik – folgte der Streik im öffentlichen Dienst im Februar 1974, bei dem sich ÖTV-Chef Heinz Kluncker über Brandts Votum hinwegsetzte. Von großer Bedeutung waren überdies die wachsenden ökonomischen Probleme, die durch den Jom-Kippur-Krieg und die amerikanische Finanzpolitik u. a. ausgelöst worden waren, sowie manche Rückschläge in der Ostpolitik. Der heftige Angriff Herbert Wehners auf Brandt während der Reise einer Bundestagsdelegation im September 1973 in Moskau, hinter dem Meinungsunterschiede in der Ostpolitik und im Hinblick auf den Führungsstil Brandts standen, machte deutlich: Brandt konnte sich der Unterstützung in der engeren Parteiführung nicht mehr sicher sein, wozu auch seine zurückhaltende Reaktion auf den Angriff beitrug. Brandts verschlechterte gesundheitliche Verfassung – Brandt war schlicht erschöpft, heute würde man von einem „burn-out“ sprechen – spielte dabei sicherlich eine Rolle. Wer Brandts Nachfolger werden sollte, wurde im kleinsten Kreis entschieden. Offensichtlich gab es keine Diskussionen über Helmut Schmidt, obgleich er in Partei und Öffentlichkeit wegen seines forschen Auftretens keineswegs unumstritten war. Zu ihm war – anders als einige Jahre zuvor – keine personelle Alternative erkennbar. Schmidt hatte es zwar an – zumindest indirekter – Kritik an Brandts Führungsstil nicht fehlen lassen, doch hatte er keineswegs zielstrebig auf die Ablösung Brandts hingearbeitet, gleichwohl aber darauf geachtet, dass sich nicht ein anderer „Kronprinz“ aufbaute. Die Zeiten, in denen in derartigen Kontexten (vor dessen Parteiaustritt) Karl Schiller oder der Kanzleramtsminister Horst Ehmke genannt wurden, waren längst vorüber. Nach eigenen Angaben ging es Schmidt zunächst nur darum, die Legislaturperiode ordentlich zu Ende zu führen, doch wurde daraus eine mehr als 8-jährige Kanzlerschaft.8 Brandt und Schmidt waren in Lebensgeschichte und Charakter sehr unterschiedliche Menschen, was sich – trotz eines breiten Bereichs gemeinsamer Überzeugungen – im Hinblick auf Parlamentarismus, Parteikonzeption und politischen Stil auswirkte.9 So war Brandt in der sozialistischen Bewegung sozialisiert worden, danach in Exil und Widerstand. In der Nachkriegszeit war er in Berlin – trotz seines Bundestagsmandates – durch seine Nähe zu Ernst Reuter und später durch seine Tätigkeit als Regierender Berliner Bürgermeister in der Zeit des Kalten Krieges, nicht zuletzt des Mauerbaus, geprägt worden. In 8 Zu Schmidts retrospektiver Sicht siehe Helmut Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz, München 2008, S. 152. Zu Helmut Schmidt vgl. Hartmut Soell, Helmut Schmidt. 1969 bis heute. Macht und Veränderung, Stuttgart 2008. 9 Vgl. Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 377 ff.; Gunter Hofmann, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft, München 2012.

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diesen Jahren beschäftigte er sich intensiv mit deutschland- und außenpolitischen Fragen. Gleichzeitig aber wurde er in den 60er Jahren nicht nur Kanzlerkandidat, sondern wuchs zunehmend – unterstützt nicht zuletzt von Herbert Wehner – in die Rolle des Parteivorsitzenden hinein. Helmut Schmidt, der eine unpolitische Jugend im kleinbürgerlichen Milieu erlebte, danach aber Kriegsdienst als Offizier einer Flakeinheit absolviert hatte, fand erst im Kriegsgefangenenlager den Weg zur Sozialdemokratie. Ungeachtet seines frühen Engagements als SDS-Vorsitzender wurde er vor allem als Parlamentarier im deutschen Bundestag politisch sozialisiert. Unterbrochen wurde seine Arbeit im Bundestag durch seine Tätigkeit als Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg, bei der er sich u. a. als souveräner Manager bei der Hamburger Flutkatastrophe im Februar 1962 hohes Ansehen erwarb. Als Parlamentarier, dem von den Medien der Spitzname „SchmidtSchnauze“ verpasst wurde, fiel er durch seine ungewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten auf, zu denen bald breite fachliche Kompetenzen kamen. In der Zeit der Großen Koalition hat Schmidt ebenso gerne wie erfolgreich die Funktion des SPD-Fraktionsvorsitzenden ausgeübt und war danach Verteidigungsminister und Finanzminister, bevor er Bundeskanzler wurde. Auch als Kanzler genoss er geradezu die parlamentarischen Auftritte und spielte nicht selten im Bundestag seine rhetorische Überlegenheit aus, insbesondere gegenüber Helmut Kohl, der – seit 1976 Oppositionsführer – in der Konfrontation mit Schmidt nicht selten provinziell und manchmal unbeholfen wirkte.10 Schmidt blieb als Kanzler stellvertretender Parteivorsitzender, doch war diese Funktion für ihn letztlich nachgeordnet, während die Partei für Brandt mehr als zwei Jahrzehnte zentrales Anliegen war – niemand war außer Bebel so lange wie er SPD-Parteivorsitzender. Schmidt, der es später als strategischen Fehler betrachtete, 1974 nicht auch den Parteivorsitz angestrebt zu haben11, dachte stärker als Brandt in den Kategorien des klassischen Parlamentarismus. Dementsprechend war auch ihre Parteikonzeption unterschied10 Schmidt betrachtet sich rückblickend als „guten Parlamentsredner und Debatter“, doch habe er meist versucht, „mit Argumenten und Vernunft zu überzeugen – wenn nötig, mit einem gehörigen Schuss Polemik“. Er habe es jedoch – und hier sah er einen Unterschied zu Willy Brandt, auch zu Kurt Schumacher und Herbert Wehner – nur selten vermocht, „die Massenseele einer großen Versammlung in Bewegung zu bringen“ (Schmidt, Außer Dienst, S. 157). 11 Diese Einschätzung hat Schmidt nach Brandts Tod offen vertreten, in jüngster Zeit jedoch neigt er dazu, die Motive für seine Entscheidung 1974, nicht zugleich den Parteivorsitz beansprucht zu haben („Loyalität zu Willy Brandt und … Besorgnis hinsichtlich der Belastung durch das Doppelamt“) „als vernünftig und gewichtig anzusehen“ (Schmidt, Außer Dienst, S. 152).

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lich, wie die teilweise brieflich ausgetragene Kontroverse in den 70er Jahren zeigt.12 Brandts Parteiverständnis war wohl nicht zuletzt durch seine skandinavischen Erfahrungen geprägt; die Partei sollte offen sein auch für unbequeme neue Positionen, soweit diese nur eine ideelle Nähe zur Sozialdemokratie hatten. Deutlich wurde diese Offenheit in seiner Bereitschaft, auf die Dauer Teile der studentischen Protestbewegung – obgleich er gegenüber ihren Zielen skeptisch war – in die Partei zu integrieren und diese auch zu den Positionen der Alternativbewegung Ende der 70er Jahre zu öffnen.13 Allerdings übersah er die Belastungen für die politische Kultur der Partei durch den Einstrom junger Leute nicht. Helmut Schmidt kritisierte die aus seiner Sicht zu „lasche“ Führung der Partei durch Brandt. Schmidt betrachtete die SPD als eine Organisation zum Machterwerb und zur Machtorganisation, die Politik mit praktischer Vernunft machen wollte. Zwar räumte Schmidt ein, dass die Partei über den Tag hinaus denken müsste, doch waren aus Schmidts Sicht viele der neu aufgenommenen Mitglieder bestenfalls unpraktische Idealisten, die zudem Minderheitenpositionen vertraten. Die Partei sollte sich aus seiner Sicht vor allem auf die breiten Arbeitnehmerschichten stützen, während Brandt zunehmend sie eher als Bündnis verschiedener Schichten und Gruppen sah. Trotz dieser Unterschiede haben Helmut Schmidt und Willy Brandt in der neuen Rollenverteilung 1974– 1980 recht gut zusammengearbeitet; erst der NATO-Doppelbeschluss und die Nachrüstungsfrage führten zu einer ernsthaften Entzweiung der beiden bedeutenden Sozialdemokraten. Der dritte Mann in der legendären „Troika“14 der 70er und frühen 80er Jahre war Herbert Wehner, der älteste der drei, der wegen seiner kommunistischen Vergangenheit bis in die 70er Jahre vielfältige Angriffe auf sich zog. Das Verhältnis zwischen Brandt und Wehner war seit 1973 zerrüttet, doch hielt Schmidt Wehner als Fraktionsvorsitzenden für unverzichtbar in der Führung der Fraktion, sicherlich anfangs auch als nützlich durch seinen besonderen Draht zu Erich Honecker über den Rechtsanwalt Vogel.

12 Siehe dazu Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 645–654; Hofmann, Willy Brandt und Helmut Schmidt, S. 235 ff. Eine Edition des Briefwechsels Brandt– Schmidt durch Meik Woyke ist soeben erschienen: Willy Brandt/Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958–1992) hg. u. eingel. von Meik Woyke, Bonn 2015. 13 Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 281 ff. u. 640 ff. 14 Zur „Troika“ vgl. Martin Rupps, Troika wider Willen. Wie Brandt, Wehner und Schmidt die Republik regierten, Berlin 2004. Der Begriff Troika ist strittig; er trifft das komplizierte Verhältnis der Drei nicht wirklich.

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Die unterschiedlichen Profile der beiden Kanzler zeigten sich im Übrigen auch in der Personalpolitik. Schmidt setzte seit 1974 eigene personalpolitische Akzente. Hatte Brandt bei aller Realpolitik in der Personalpolitik eine gewisse Vorliebe für eigenwillige Köpfe, so griff Schmidt in besonderer Weise auf erfahrene Parlamentarier zurück, wobei unter diesen Altersgenossen auffallen, die wie er am Krieg teilgenommen hatten. Man denke etwa an Kurt Gscheidle, Hans Matthöfer, Karl Ravens, Helmut Rohde, Herbert Ehrenberg, Heinz Westphal. Seit 1980 kamen dann bei ihm neben Hans Apel weitere jüngere Leute wie Volker Hauff, Rainer Offergeld und Andreas von Bülow sowie Gunter Huonker zum Zuge.15 Helmut Schmidt war von Anfang an der eigentliche Star in seinem Kabinett. Die anderen hatten aus seiner Sicht vor allem zu funktionieren. Zwar ist in vielen Bereichen eine Kontinuität von der Ära Brandt zur Ära Schmidt erkennbar, insbesondere in der Deutschland- und Außenpolitik, auch in der Innenpolitik (Schmidt wollte Reformen weiterführen).16 Doch setzte Schmidt andere Schwerpunkte, beschäftigte sich ungleich mehr mit dem internationalen ökonomischen Krisenmanagement, so dass wir teilweise von einem Themenwechsel sowie von einer Veränderung des politischen Stils sprechen können. Ein Stück Kontinuität von Brandt zu Schmidt verkörperte Wehner als Fraktionsvorsitzender, dessen Einfluss freilich – nicht zuletzt wegen seiner zunehmenden physischen Beeinträchtigung – in der zweiten Hälfte der 70er Jahre abnahm. Sein Politikverständnis speiste sich nun wieder stärker aus der Arbeiterbewegung, mit der er etwa im Ruhrgebiet besonders verbunden war.17 Ursprünglich KPD-Mann, galt er in der SPD während der 50er Jahre zunächst als Vertreter des linken Flügels, arbeitete jedoch auf der Fraktionsebene auch eng mit den Reformern zusammen. Wehner war wie Schmidt während der 60er und 70er Jahre stets engagierter Parlamentarier (legendär sind seine Zwischenrufe, die ihm häufig Ordnungsrufe einbrachten, auch seine Schachtelsätze oder seine Ausbrüche); andererseits galt er als Mann der Parteiführung, die nach Verabschiedung des Godesberger Programms den Volksparteikurs in den 60er Jahren mit Nachdruck, gegebenenfalls auch autoritär, durchgesetzt und für ein breites Bündnis in der Gesellschaft für die Sozialdemokratie geworben hatte. Während der Kanzlerschaft Schmidts versuchte er, Schmidt und seiner Regierung den Rücken frei zu halten. Anders als gegenüber Brandt 1973/74 arbeitete er – bei aller Unabhängigkeit und Selbständigkeit – loyal

15 Siehe Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 367 ff. 16 Ebd., S. 429 ff. 17 Zu Wehner siehe Christoph Meyer, Herbert Wehner. Biographie, München 2006.

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mit Schmidt zusammen.18 Angesichts ihrer herausragenden Rolle im parlamentarischen System wird auf alle drei im Folgenden immer wieder zurückzukommen sein.

3. Das Verhältnis von Regierungslager und Opposition Von erheblicher Bedeutung für den Parlamentarismus der 70er Jahre war, dass das Verhältnis zwischen der Koalitionsregierung von SPD und FDP, dem Regierungslager auf der einen Seite und der Opposition auf der anderen Seite die meiste Zeit ausgesprochen konfrontativ blieb, was zur Stabilisierung der Regierung und der sie tragenden Koalition beitrug und ihre Lebensdauer tendenziell erhöht hat. In den Jahren 1969–1972 hat bei der CDU/CSU geradezu die Vorstellung vorgeherrscht, bei der Koalitionsbildung 1969 um die Macht betrogen worden zu sein, war man doch gewohnt, die führende Regierungspartei zu sein, und war auch jetzt – nimmt man die Schwesterparteien zusammen – die stärkste Fraktion geblieben. Bitter war für die Union, dass sie sich nun nicht mehr auf den Staatsapparat abstützen konnte. Die Führung ging auf die Fraktion über, die möglichst bald die als Betriebsunfall betrachtete Entscheidung von 1969 rückgängig zu machen suchte. Angesichts der bald bröckelnden knappen Mehrheit der Koalition hat deshalb die Opposition im April 1972 im Bundestag den Antrag eingebracht, Kanzler Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen, was freilich misslang.19 Auch nach dem großen Wahlsieg der sozial-liberalen Koalition am 19. November 1972 blieb das Verhältnis zur Opposition in hohem Maße konfrontativ; vor allem die CSU tat sich dabei hervor. Auf der Tagung der CSU-Landesgruppe am 18./19.11.1974 umriss Franz-Josef Strauß seine Konfrontationsstrategie: „Zur Taktik jetzt: Nur anklagen und warnen, aber keine konkreten Rezepte etwa nennen … Lieber eine weitere Inflationierung, weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nehmen, als das anzuwenden, was wir als Rezept für notwendig halten … Wir müssen die Auseinandersetzung hier im Grundsätzlichen 18 Siehe Schmidt, Außer Dienst, S. 16 f. 19 Wie eher selten in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus kam es 1970–72 zu einer ganzen Reihe von Partei- und Fraktionswechseln von Abgeordneten, die schließlich die Mehrheit der sozial-liberalen Koalition in Frage stellten. Überraschenderweise aber behauptete sich die Koalition, weil mindestens zwei Abgeordnete der Opposition sich gegen das Misstrauensvotum aussprachen, wobei offenbar Geld der Stasi im Spiel war (siehe Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 399 f.).

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führen. Da können wir nicht genug an allgemeiner Konfrontierung schaffen … Da muss man die anderen immer identifizieren damit, dass sie den Sozialismus und die Unfreiheit repräsentieren, dass sie das Kollektiv und die Funktionärsherrschaft repräsentieren und dass ihre Politik auf die Hegemonie der Sowjetunion über Westeuropa hinausläuft.“20

Die „Sonthofen-Strategie“ wurde von der SPD als verantwortungslos attackiert. Charakteristisch für die Strategie der Union war, dass sie zunächst nicht nur die Ostpolitik weiter bekämpfte, sondern auch – anders als fast alle europäischen Regierungen – den KSZE-Prozess ablehnte, der 1975 mit der Konferenz in Helsinki und der KSZE-Schlussakte seinen ersten Höhepunkt erlebte. Erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre begann in Teilen der CDU eine realistischere Sicht des Verhältnisses zur DDR an Boden zu gewinnen. Ausgesprochen polarisierend wirkte 1976 das CDU/CSU-Wahlkampfmotto „Freiheit statt Sozialismus“ (1976 und ähnlich 1980), das von der Sozialdemokratie als diffamierend empfunden wurde, weil es tatsächlich eine Nähe der Sozialdemokratie zu den kommunistischen Systemen im Osten insinuierte. Für die Sozialdemokratie war Sozialismus ein Mittel um Freiheit zu realisieren. Sie hatte diesen Begriff – auch in der Kombination „demokratischer Sozialismus“ – allerdings so wenig zu einem lebendigen positiven Leitbild erhoben, dass das Wahlkampfmotto der CDU/CSU möglich wurde. Über die richtige Strategie zur Wiedergewinnung der Macht gab es in den Unionsparteien auch nach 1976 heftigen Streit, der die Unionsparteien schwächte. Zeitweilig erwog Strauß nach der neuerlichen Wahlniederlage mit Helmut Kohl als Spitzenkandidat die Ausdehnung der CSU auf die ganze Bundesrepublik. Dieses Konzept stieß auf Widerspruch (die CDU drohte mit der Ausdehnung auf Bayern) und war spätestens mit der Kanzlerkandidatur von Strauß bei der Bundestagswahl 1980 erledigt. Seine Kandidatur setzte noch einmal den konfrontativen Kurs der Unionsparteien fort. Franz-Josef Strauß war umgekehrt für die Sozialdemokratie und weite Teile der linksliberalen und linken Öffentlichkeit seit den 50er Jahren das Feindbild schlechthin. Strauß hatte diesem Feindbild immer wieder Nahrung gegeben, durch Affären, bei denen es wiederholt um die Ausnutzung von Möglichkeiten zum eigenen Vorteil oder auch um sehr robusten Umgang mit der Macht ging, was auf mangelndes Rechtsbewusstsein hinzudeuten schien. Hinzu kamen seine scharfe – aus einem dezidierten Antikommunismus erwachsende – Kritik an der Entspannungspolitik, bei der er Anleihen beim Vokabular der Rechten der Weimarer Republik nicht scheute, sowie seine scharfe 20 Zit. nach DER SPIEGEL 11/1975, S. 34 u. 36.

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Polemik gegen die Wirtschafts- und Finanzpolitik, wie sie etwa in der Sonthofen-Strategie zum Ausdruck kam.21 Allerdings stellte sich Ende der 70er Jahre die Frage, ob das Feindbild Strauß, das sich schon in der Zeit der Großen Koalition 1966–69 etwas abgeschwächt hatte, nicht irgendwann einmal obsolet werden würde. Der SPD-Wahlkampf konnte dementsprechend 1980 nur noch partiell auf diesem Feindbild aufbauen. Sehr hohe Wahlbeteiligungen waren die Folge der konfrontativen Strategien.22 Die polarisierenden Wahlkämpfe der 70er Jahre waren geeignet, auf beiden Seiten Anhänger – Mitglieder wie Wähler – zu mobilisieren. Auch schweißten die Wahlkämpfe SPD und FDP zusammen, obgleich Meinungsunterschiede in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bald unübersehbar wurden. Allerdings erleichterte das Klima der Konfrontation auf Seiten der Union das Nachholen der Herausbildung eines Parteiapparats und einer Massenmitgliedschaft während der 70er Jahre. Aufs Ganze gesehen waren die bundespolitischen Mehrheitsverhältnisse nach 1972 stabil, allerdings erreichte die CDU/CSU nach dem Machtwechsel in Niedersachsen 1976 die Mehrheit im Bundesrat, was die Regierungsarbeit der sozial-liberalen Koalition erschwerte. Die sozial-liberale Koalition gewann die Bundestagswahl 1976 zwar nur knapp, war aber in der Folgezeit – der besten Zeit des Kanzlers Helmut Schmidt – nie gefährdet. Dies änderte sich erst nach der Bundestagswahl 1980, bei der die Zuwächse der Koalition fast alleine der FDP zu Gute kamen, die den Wahlkampf mit dem Slogan geführt hatte, dass man den sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt stärke, wenn man FDP wähle. Der daraus resultierende Wahlerfolg setzte eine Diskussion über Koalitionsfragen in der Öffentlichkeit und vor allem bei der FDP frei und schürte Misstrauen bei den Sozialdemokraten. Sie begannen sich trotz der Behauptung des bisherigen Ergebnisses nicht als Sieger, sondern geradezu als Verlierer zu sehen, zumal Spekulationen über einen Koalitionswechsel der FDP bald ins Kraut schossen.23

21 Zu Strauß vgl. jetzt auch Horst Möller, Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell, München 2015; Peter Siebenmorgen, Franz Josef Strauß. Ein Leben im Übermaß, München 2015. 22 In den 70er Jahren (und frühen 80er Jahren) wurden Wahlbeteiligungen bei den Bundestagswahlen erzielt wie niemals vorher oder nachher. 1969: 86,7 %; 1972: 91,1 %; 1976: 90,7 %; 1980: 88,6 %; 1983: 89,1 %; 1987: 84,3 %. 23 Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 674 ff.

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4. Politische Entscheidungsprozesse der sozial-liberalen Koalition und gesellschaftliche Interessen Die Willensbildung über die Reformpolitik der sozial-liberalen Koalition vollzog sich keineswegs ausschließlich auf Regierungs- und Parlamentsebene. Willy Brandt hatte in seiner berühmten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, die unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ stand, die Gesellschaft und ihre Organisationen aufgefordert, sich an der politischen Willensbildung, zumal an der Reformpolitik zu beteiligen. Dies geschah dann sehr bald in reichlichem Maße, da insbesondere die Politik der inneren Reformen zu einer Mobilisierung von Interessen gegen die Regierung der sozial-liberalen Koalition führte, so dass die Reformpolitik in den verschiedenen Bereichen zu einer Sisyphus-Arbeit wurde, die die Reformeuphorie rasch dämpfte; schon 1973 verschwand sie. Gleichwohl wurden in einer Reihe von Bereichen Reformen beschlossen oder auf den Weg gebracht, in Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung, in der Rechtspolitik, in der Betriebsverfassung und Mitbestimmung, in der Sozialpolitik, in Städtebau und Umweltschutz und bei der Bundeswehr. In anderen Bereichen – etwa in der Vermögensbildung – blieben sie hinter den Erwartungen zurück. In diesem Kontext artikulierten sich vielfältige Interessen, die teilweise über die vorgelegten Reformkonzepte hinausgingen, häufiger aber die Reformen begrenzen oder gar verhindern wollten. Dafür ist der Bildungs- und Hochschulbereich ein gutes Beispiel. Der Bund Freiheit der Wissenschaft, in dem sich konservativ, liberal und auch einige sozialdemokratisch orientierte Wissenschaftler zusammenschlossen, wandte sich gegen die Drittelparität in den Hochschulen und rief dazu schließlich mit Erfolg das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) an, so dass die Hochschulgesetze entsprechend korrigiert werden mussten.24 Interessengegensätze – so zeigte die Reformpolitik – ließen sich keineswegs auf der parlamentarischen Ebene ohne weiteres überwinden, zumal die Gegensätze auch auf Regierung und Parlament einwirkten und es im Übrigen eine Reihe von Vetospielern gab, wie das BVerfG oder auch den Bundesrat. In der Ära Schmidt wurde – wenn auch nicht in der Breite wie in der Zeit des Kanzlers Brandt – die Reformpolitik fortgesetzt, durch das Mitbestimmungsgesetz (1976), die definitive Reform des Paragraphen 218 (nach dem BVerfG-Urteil), die Reform des Scheidungsrechtes (1977), die Reform des Strafvollzuges (1976) sowie Reformen zur beruflichen Bildung. Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik schlugen zunehmend die Gegensätze von 24 Vgl. dazu jetzt Nicolai Wehrs, Protest der Professoren. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ in den 1970er Jahren, Göttingen 2014.

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Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf die Koalition durch. Ein gutes Beispiel dafür ist die jahrelange Auseinandersetzung um ein Mitbestimmungsgesetz außerhalb des Montanbereichs.25 Während die SPD das Montanmodell am liebsten auf die ganze Großindustrie übertragen hätte, auf jeden Fall aber die Parität der beiden Seiten Kapital und Arbeit anstrebte, sah sich die FDP als Sachwalter der Kapitalseite und der leitenden Angestellten und wollte unbedingt die Parität verhindern. Die Arbeitgeberseite zog die Verfassungsgemäßheit jeder Reform in Frage, die der Kapitalseite keinen klaren Vorrang einräumte. Mit einiger Mühe kam schließlich ein Kompromiss zu Stande, der freilich die Gewerkschaftsseite nicht befriedigte. Obgleich es den Gewerkschaften selbst nur bedingt gelungen war, den Gedanken der Mitbestimmung in einer Weise wach zu halten, dass er in den Gewerkschaften und der Öffentlichkeit breite Unterstützung fand, machten die Gewerkschaften Kanzler Schmidt und die SPD für den Kompromiss verantwortlich. Dies war für Schmidt insofern ein Problem, als er – dezidierter als Brandt – seine Politik auf die großen Gewerkschaften und ihre Führungen abzustützen suchte. Dies entsprach dem nüchterneren Politikbegriff Schmidts, der geradezu korporatistisch die verschiedenen Interessen einzubinden suchte. Eine Sozialpartnerschaft, die auch den Gewerkschaften wichtige Kontrollmöglichkeiten und Mitbestimmungsrechte einräumte, war in gewisser Weise der Kern dessen, was Helmut Schmidt „Modell Deutschland“ nannte, mit dem er im Wahlkampf 1976 die „Freiheit statt Sozialismus“-Kampagne zu unterlaufen suchte.26 Die Frage der Durchsetzung von Reformpolitik während der 70er Jahre war jedenfalls für die Sozialdemokratie ein Problem. Horst Ehmke, während der Kanzlerschaft Brandts Kanzleramts- und Forschungs- sowie Postminister, später stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, hat 1994 retrospektiv gemeint, dass die SPD als „Schrittmacher von Reformen“ zwar wichtig gewesen sei, die strukturell bedeutsamen Reformvorhaben jedoch „meist nur im breiten politischen Konsens durchgesetzt werden“ konnten.27 Mit einer Tendenz gegen die sich als Basisbewegungen verstehenden Alternativbewegungen, die 25 Siehe Karl Lauschke, Mehr Demokratie in der Wirtschaft. Die Entstehung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976, 2 Bde., Düsseldorf 2006; Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 440 ff. 26 Zum Begriff „Modell Deutschland“ Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 475 ff. Sehr weit gefasst ist der Begriff in dem Sammelband Thomas Hertfelder/ Andreas Rödder (Hg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion, Göttingen 2007. Vgl. auch Angelo Bolaffi, Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise, Stuttgart 2014, S. 124–146. 27 Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, S. 169 ff., Zitat S. 170.

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sich während der 70er Jahre herausbildeten, fügte Ehmke hinzu: „Reformen können weder allein von ‚oben‘ noch allein von ‚unten‘ durchgesetzt werden. Sie erfordern ein gesellschaftlich-politisches Zusammenspiel, das handlungsfähige, durch Wahlen legitimierte politische Parteien voraussetzt. Ein Gemeinwesen kann sich nicht im Pluralismus erschöpfen. Handlungsfähigkeit auf politischer und administrativer Ebene muß hinzukommen.“28 Keine Frage, dass es einer handlungsfähigen Regierung und Koalition bedurfte, um Reformpolitik durchzusetzen. Doch mussten eben auch die Bevölkerung und die demokratischen Kräfte bei den Reformen „mitgenommen“ werden; auch waren die Betroffenen für die Akzeptanz der Reformen zu gewinnen. Als die SPD Mitte des Jahrzehnts ihre Reformvorstellungen im Orientierungsrahmen ’85 erneut zu bündeln versuchte, wurde die Frage nach der Unterstützung der Reformpolitik aufgegriffen.29 Es schien nicht auszureichen, auf Regierungs- und Parlamentsebene über Modernisierung der Wirtschaft, Reform der Berufsausbildung, Humanisierung der Arbeitswelt, Reform des Gesundheitswesens, Städteplanung und Stadtentwicklung sowie Gleichstellung der Frauen – Anliegen, die alle Gegenstand des Orientierungsrahmens ’85 waren – Gesetzesvorhaben zu entwickeln. Vielmehr galt es eben auch, das Bewusstsein der Bürger zu berücksichtigen und die Bürger für Reformen in den verschiedenen Politikbereichen zu gewinnen. Deshalb sollte die Politik aus der Sicht des Orientierungsrahmens begleitet sein durch Überzeugungs- und Vertrauensarbeit, zu der folgende Elemente gehören sollten: „1. die Ermittlung und Diskussion von Bedürfnissen der Bevölkerung; 2. die Vermittlung einer längerfristigen Orientierung, die Maßstäbe für die Beurteilung tagespolitischer Kompromisse lieferte; 3. vielfältige Zusammenarbeit mit anderen demokratischen Kräften; 4. die Verbesserung der Fähigkeit von Bürgern, gesellschaftliche Probleme in ihrem eigenen Lebens- und Arbeitsbereich selbstverantwortlich zu lösen, und 5. Begründung der Entscheidung sozialdemokratisch geführter Bundesregierung vor den Bürgern“.30

Das Ganze erinnerte ein wenig an die Doppelstrategie der Jusos der frühen 70er Jahre und ließ erkennen, dass es Mitte des Jahrzehnts Vermittlungspro28 Ebd. 29 Zum Orientierungsrahmen siehe Peter von Oertzen u.a. (Hg.), Orientierungsrahmen 85. Text und Diskussion bearbeitet von Heiner Lindner, Bonn-Bad Godesberg 1976. 30 Ebd., S. 42 ff.

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bleme der Politik der SPD und der sozial-liberalen Koalition gegenüber der Bevölkerung gab.31

5. Entwicklungstendenzen der Partei und ihre Auswirkung auf die Regierungs- und Parlamentsarbeit Die 70er Jahre, auch die Zeit der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, sind mitgeprägt durch einen – in den 60er Jahren sich entwickelnden – Prozess der Fundamentalpolitisierung, der auf verstärkte Mobilisierung und Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an der politischen Willensbildung zielte. Manifest wurde dieser Prozess nicht nur in hohen Wahlbeteiligungen, sondern auch im Eintritt vieler auch junger Menschen in die Parteien, in denen die interne Willensbildung sich enorm intensivierte. Im Jahre 1972 z. B. traten mehr als 100.000 Menschen in die SPD ein, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts – in der Ära Schmidt – erreichte die SPD die Zahl von einer Million Mitgliedern.32 Diese Entwicklung veränderte die Partei – 1973 waren mehr als zwei Drittel der Mitglieder weniger als zehn Jahre in der Partei, die meisten waren jung, politisch unerfahren, unter ihnen viele Studierende, Schüler, Menschen, die in Lehr- und Sozialberufen tätig waren. Die SPD wurde lebendiger, doch entstanden mancherorts auch Probleme – Willy Brandt sprach von „Wachstumsproblemen“. Insbesondere in den Ballungszentren und in Universitätsstädten kam es zu nicht nur generationell bedingten Gegensätzen zwischen bodenständigen Sozialdemokraten und Neumitgliedern, die teilweise zugezogen waren. Helga Grebing hat die These vertreten, dass dieser Einstrom junger Leute, die vielfach „Produkte“ der Bildungsexpansion waren, auf einen „Abschied von der alten Arbeiterbewegung“ hinauslief33, ein Prozess, der durch die zunehmende Auflösung des traditionellen Arbeiter- bzw. Arbeitnehmermilieus gefördert wurde. Die soziale Zusammensetzung der Partei veränderte sich weiter in Richtung Volkspartei. Gleichzeitig wandelte sich die innerparteiliche politische Kultur. Die „naturwüchsige“ Solidarität, die teilweise einen gewissen Konservativismus in den Verhaltensweisen zur Konsequenz hatte, wurde 31 Zur Juso-Doppelstrategie siehe Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 294 f. – Vgl. auch Martin Oberpriller, Jungsozialisten. Parteijugend zwischen Anpassung und Opposition, Bonn 2004, S. 164 ff. 32 1976 zählte die SPD 1.022.191 Mitglieder. Zur Mitgliederentwicklung siehe die Jahrbücher der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Vgl. Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 275 ff. 33 Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 183 ff.

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ebenso in Frage gestellt wie manche verkrustete Strukturen. In den Ortsvereinen gab es lange Diskussionen, selbst um Verfahrensfragen. Nicht zuletzt entbrannte vielerorts ein Kampf um die Besetzung von Funktionen und um die Kandidaturen für Mandate. Mit der Fundamentalpolitisierung verbunden war – übrigens nicht nur in Westdeutschland, sondern auch international – eine Verbreiterung des politischen Spektrums.34 Für die SPD bedeutete dies, dass Ideen der „Neuen“ neben der „Alten Linken“ an Einfluss gewannen und eine in der Zeit der Großen Koalition in Ansätzen herausgebildete, während der Kanzlerschaft Brandts sich verfestigende Flügelbildung zur Dauererscheinung wurde, die sich auf die Regierung und Fraktion (und auch auf das Verhalten des Koalitionspartners) auswirkte. Die Intensivierung der Willensbildung betraf alle Ebenen, von den Ortsvereinen über Stadtbezirke und Stadtverbände und die Bezirke (und teilweise Landesverbände) bis zur Bundesebene, auf der der Bundesparteitag die letzten Entscheidungen traf und Forum großer Debatten – etwa zur Energiepolitik oder zur Nachrüstungsproblematik – wurde. Gleichzeitig wurden auf allen Ebenen Kommissionen und Arbeitskreise gegründet, die Konzepte und Positionen in vielen wichtigen und weniger wichtigen Politikfeldern zu erarbeiten hatten. Bedeutsam war, dass quer zur normalen Organisationsstruktur Arbeitsgemeinschaften gegründet wurden – unter Beteiligung des Vorstandes und auch mit politischen Absichten –, die von der Basis bis zur Bundesebene eine eigene Willensbildung entwickelten: neben den Jusos die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) und die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF).35 Diese ohnehin schon komplizierte Struktur wurde überlagert durch richtungspolitisch geprägte Parteiflügel, die sich naturgemäß organisationspolitisch in den vorhandenen Strukturen abzustützen suchten. Die Gesamtstruktur bezeichneten Peter Lösche und Franz Walter – die Partei der 80er Jahre vor Augen – als „lose verkoppelte Anarchie“.36 Keine Frage, dass die Flügelbildung in der Partei von besonderer Relevanz für die Willensbildung im Regierungslager wurde. Auf der Linken bildete sich 34 Zu den Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs für die Parteien vgl. Elmar Wiesendahl, Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft im Zeitenwechsel der siebziger und achtziger Jahre, in: Axel Schildt/Barbara Vogel (Hg.), Auf dem Weg zur Parteiendemokratie. Beiträge zum deutschen Parteiensystem 1848–1989, Hamburg 2002, S. 138–169. 35 Siehe dazu und zum Folgenden Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 314 ff. 36 Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei–Volkspartei–Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Stuttgart 1992, S. 192 ff.

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der „Frankfurter Kreis“, auf der Rechten der „Seeheimer Kreis“. Beide hatten auf der parlamentarischen Ebene eine gewisse Entsprechung: Die sog. Kanalarbeiter, eher konservative Sozialdemokraten sowie der Metzger-Kreis auf der einen Seite, und die parlamentarische Linke, der Leverkusener Kreis auf der anderen Seite. So wurde die Bundestagsfraktion und damit das Regierungslager von dieser Flügelbildung erfasst, wenn es auch Abgeordnete gab, die weder der einen noch der anderen Richtung angehörten. Der rechte Flügel und die „Zentristen“ in der Mitte gingen meist mit der Regierung konform, der linke Flügel musste bei manchen Fragen erst gewonnen werden; er war teilweise potentiell regierungskritisch und tendierte dazu, in der Regierungspartei – unter dem Anspruch, Demokratie zu realisieren – ein Stück weit oppositionelles Denken und Handeln fortzusetzen bzw. zu praktizieren. Folge der Flügelbildung war, dass die Regierung nicht per se die Unterstützung der gesamten Fraktion hatte. Die Regierung und ihre Repräsentanten brauchten viel Zeit, um ihre Positionen in Gremien der Fraktion und der Partei zu vertreten und durchzusetzen, worüber Bundeskanzler Helmut Schmidt und andere Spitzenpolitiker der Partei gelegentlich stöhnten. Dass die Flügelbildung die Gefahr barg, dass das Profil sozialdemokratischer Politik unscharf wurde, wurde z.T. verkannt. Mit der Flügelbildung hatte schon Brandt zu kämpfen, insbesondere nach der Bundestagswahl 1972, als die beiden Flügel angesichts des guten Wahlergebnisses glaubten ihre Auseinandersetzungen umso unbefangener in der Öffentlichkeit austragen zu können. Nach dem Kanzlerwechsel begann sich das Verhältnis von Regierung und der großen Mehrheit der Fraktion einerseits und der Partei andererseits insofern zu verändern, als Regierung und Partei von verschiedenen Personen repräsentiert wurden: Die Regierung und letztlich auch die Fraktion wurden von Kanzler Schmidt, unterstützt vom Fraktionsvorsitzenden Wehner, geführt; an der Spitze der Partei aber stand der sich politisch wieder erholende Brandt, dem nach relativ kurzer Zeit sein Rücktritt zum Rätsel wurde (und wohl immer blieb). Von Anfang an gab es zwischen Brandt und Schmidt eine Diskussion über die Rolle der Partei, der unterschiedliche Blickwinkel, doch letztlich auch – wie schon angesprochen – differierende Parteikonzeptionen zugrunde lagen. Schmidt beklagte sich bei Brandt wiederholt über das Erscheinungsbild der Partei, Brandt verteidigte z.B. 1976 die Partei mit dem Argument, sie sei in besserer Verfassung als er glaube und riet ihm zu mehr demonstrativer Identifikation mit der Partei.37 Brandt und Schmidt arbeiteten etwa im Wahlkampf 1976 erstaunlich gut zusammen, in dem beide die SPD durch die CDU-Kam37 Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 465 f.

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pagne „Freiheit statt Sozialismus“ diffamiert sahen. Doch völlig problemlos konnte das Verhältnis zwischen beiden angesichts der komplizierten Verflechtung beider Biographien nie sein. In der Folgezeit versuchten Kanzler und Parteivorsitzender Partei- und Regierungshandeln sowohl abzugrenzen als auch zu verschränken.38 Die Partei sollte stärker langfristige Perspektiven verfolgen, Regierung und Fraktion konkret verhandeln. Doch äußerte sich die Partei – auf allen Ebenen – auch zur Tagespolitik, umgekehrt wollte sich Schmidt nicht auf ein pragmatisches Krisenmanagement reduzieren lassen. Eine praktikable Arbeitsteilung erwies sich als unmöglich; es gab keine Alternative zu kontinuierlicher intensiver Kommunikation. Willy Brandt, der 1976 mit der Präsidentschaft der Sozialistischen Internationale und 1978 mit der Leitung der Nord-Süd-Kommission neue internationale Aufgaben übernahm, bemühte sich als Parteivorsitzender die Handlungsfähigkeit der Regierung von Seiten der Partei sicherzustellen. Zwar bildete der Orientierungsrahmen ’85 so etwas wie eine Brücke zwischen den Flügeln, doch nahmen die innerparteilich kontroversen Fragen zu. Dabei griff der linke Flügel verstärkt Fragen der Alternativbewegungen (an Stelle traditioneller linker Anliegen) auf, etwa die Bedeutung der Ökologie gegenüber industriellen Interessen, die Frage der Nutzung von Atomenergie, schließlich den NATO-Doppelbeschluss und die Nachrüstungsfrage. Bundesparteitage wurden zum Forum bzw. zum Ersatzparlament, in dem über manche große Frage in einer Weise gestritten wurde, die an Debatten zwischen Parteien im Bundestag erinnerte.39 Politische Gegensätze verlagerten sich in die SPD hinein, die bei einigen Fragen Mühe hatte, sich zu einer einheitlichen Position durchzuringen, was indirekt oder direkt sich auf das Regierungshandeln auswirkte. Über Jahre konnte sich Kanzler Schmidt in allen Streitfragen – bei moderater Annäherung an die jeweilige Gegenposition – mit seiner Politik auf den Parteitagen durchsetzen, woran Willy Brandt als Parteivorsitzender einen nicht unerheblichen Anteil hatte. Allerdings entzweite Bundeskanzler und Parteivorsitzenden die Nachrüstungsfrage, bei der sich Brandt der Friedensbewegung annäherte und – zum Missfallen von Kanzler Helmut Schmidt – keine Einwände gegen die Rede Erhard Epplers auf der großen Friedenskundgebung im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten erhob. Brandt fürchtete, das Friedensthema für sich und seine Partei zu verlieren und sah wohl auch die Einheit der Partei gefährdet.40 1983 – nach dem Verlust der Macht – votierte dann 38 Ebd., S. 648 ff. 39 Vgl. Wiesendahl, Überhitzung und Abkühlung, S. 144–147. 40 Vgl. dazu Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 709 ff.; Friedhelm Boll/ Jan Hansen, Doppelbeschluss und Nachrüstung als innerparteiliches Problem der

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die große Mehrheit des Parteitages gegen die Nachrüstung. Bei der Abstimmung im Plenum des Bundestages war die Zahl der Stimmenthaltungen aus der SPD-Fraktion prozentual größer als bei den Delegierten des Parteitages. Aufs Ganze gesehen veränderte sich während der sozialdemokratischen Regierungszeit insofern die Willensbildung über die sozialdemokratische Politik. Dies hatte schon während der Großen Koalition 1966–69 eingesetzt, unter der Kanzlerschaft Willy Brandts sich verstärkt und beeinflusste auch die Regierungszeit Helmut Schmidts – als die Eigengewichtigkeit der Partei zunahm. Verursacht war sie durch eine wachsende Politisierung, die sich in Parteieintritten und dem Bestreben nach politischer Teilhabe vor allem bei jungen Menschen zeigte. In gewisser Weise wurde damit ein Stück der Parteireform von 1958, durch die die Führung der Sozialdemokratie teilweise auf die Bundestagsfraktion überging, zumindest modifiziert – trotz der parlamentarischen Orientierung Helmut Schmidts.

6. Zur Rolle der Bundestagsfraktion Auf dem Hintergrund der gewachsenen Bedeutung der Partei auf der einen Seite und des Führungsanspruchs der Regierung und nicht zuletzt des Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf der anderen Seite musste die Bundestagsfraktion im Grunde in eine Schlüsselfunktion kommen: Die Abgeordneten waren einerseits vielfältig mit der Partei und ihren Gliederungen sowie mit den Wählerinnen und Wählern, doch andererseits mit der Regierungspolitik verbunden. Inwieweit hat die Fraktion in der Ära Schmidt diese Schlüsselfunktion nutzen können? Die Fraktion war durch die regelmäßigen Sitzungen und die kontinuierliche Parlamentsarbeit ein Willensbildungskörper eigener Art. Dennoch hat sie ihre Funktion kaum im Sinne einer die Politik mit prägenden oder gar gestaltenden Rolle ausgefüllt. Zweifellos waren die Abgeordneten – die übrigens in ihrer großen Mehrheit noch männlich waren – durchweg in der Bewältigung ihrer parlamentarischen Arbeit fleißig, und die meisten von der Regierung eingebrachten Gesetzesvorhaben wurden im Laufe der parlamentarischen Beratung durchaus verändert. Und doch gingen – auch nach dem übereinstimmenden Urteil wichtiger Zeitgenossen – von der Fraktion eher

SPD, in: Philipp Gassert u.a. (Hg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011, S. 203–228.

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selten eigene Impulse aus, eher wurden in der Fraktion Regierungsaktivitäten gebremst.41 Dies lag gewiss auch an der gegenüber der Nachkriegszeit veränderten Zusammensetzung des Parlaments. In der Fraktion gab es inzwischen weniger „Originale“, Politiker, die vor allem durch ihre besondere Lebenserfahrung geprägt waren. Die Professionalisierung der Arbeit im Bundestag hatte zugenommen, auch der Anteil derjenigen, die früh in die Politik eintraten, Politik als Beruf betrachteten. Gleichzeitig verstärkte sich die Spezialisierung der Abgeordneten, die durch den Charakter des Arbeitsparlaments (das allerdings gleichzeitig auch als Redeparlament die großen Fragen der Nation zu diskutieren suchte) ohnehin gefördert wurde. Der Einfluss der Führung der Partei (und der Fraktion) auf die Nominierung von Kandidaten (etwa von Seiteneinsteigern) ging weiter zurück, auch dies eine Folge der starken Intensivierung der innerparteilichen Willensbildung auf allen politischen Ebenen. Man wird im Übrigen sagen können, dass wohl für die meisten Abgeordneten die Wahlkreisarbeit wichtiger war als die Parlamentsarbeit – so jedenfalls das retrospektive Urteil Horst Ehmkes.42 Dass die Fraktion seit Mitte der 70er Jahre keine größere Rolle spielte, dafür haben Zeitgenossen zum Teil Herbert Wehner, den dritten Mann neben Brandt und Schmidt in der sog. „Troika“ der SPD, mitverantwortlich gemacht. Er galt als „Zuchtmeister“ der Fraktion, der ein autoritäres Fraktionsregiment ausübte. Tatsächlich wurde er in diesen Jahren jedoch gesundheitlich immer angeschlagener – er litt u. a. an der Zuckerkrankheit –, seine Kraft ließ nach, er war letztlich mit der Fraktionsführung trotz seiner großen Routine zunehmend überfordert. Als Kompensation für seine nachlassenden Kräfte verstärkte sich sein autoritärer Stil noch, worin die Urteile so unterschiedlicher Leute wie Horst Ehmke und Hans Apel übereinstimmen. Hans Apel schrieb 1978 in sein Tagebuch über Probleme in der Bundestagsfraktion aus der Perspektive der Regierung: „Wehner hat immer weniger die Kraft, die Fraktion in normaler Tonlage zu führen. Uns fehlt die offene notfalls kontroverse Debatte mit dem Ziel der Einbindung der Fraktion in unser Regierungshandeln. Wehners Kräfte schwinden. Sie reichen gerade noch, um die laufenden Arbeiten zu schaffen. Für die politische Orientierung und damit den politischen Zusammenhalt der Fraktion bleibt keine Reserve.“43 Verschärft werde dies durch den Tatbestand, dass Brandt – vielfältig auch in41 Hans Apel, Der Abstieg. Politisches Tagebuch 1978–1988, Stuttgart 1990; Ehmke, Mittendrin. 42 Ehmke, Mittendrin, S. 248 f. 43 Apel, Der Abstieg, S. 65 f.

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ternational engagiert – nicht immer an den Fraktionssitzungen teilnehme. Angesichts der Probleme gebe sich Wehner „Brüllorgien“ hin.44 In Ehmkes Erinnerungen heißt es: „Die Mitwirkung der Fraktion wurde dadurch erschwert, dass Herbert Wehner immer vergeßlicher und immer mißtrauischer wurde. Ein Teamarbeiter war er ohnehin nicht. Es fehlte der über seine eigenen Füße gestolperte Karl Wienand“, der von 1967–1974 parlamentarischer Geschäftsführer gewesen war. Wehner habe die Hauptaufgabe der Fraktion darin gesehen, die Regierung „durch dick und dünn zu stützen“. Die Meinungsbildung in der Fraktion sei mühsam gewesen, „deren Einfluss auf die Regierung meist gering“.45 Die Zusammenarbeit unter den Stellvertretern, er war einer der stellvertretenden Vorsitzenden (die anderen waren Walter Arendt, Bruno Friedrich, Karl Liedtke und Fritz Schäfer), sei zwar gut gewesen; doch sei es nicht leicht gewesen, „dem von der Partei verehrten Wehner den gebotenen Respekt zu erweisen und gleichzeitig den Einfluss der Fraktion auf die Regierung zu stärken“.46 Zweifellos war das Verhältnis von Wehner und Ehmke schwierig. Wehner besaß hohes Ansehen in der Partei, bei Vorstandswahlen – etwa auf dem Hamburger Parteitag 1977 – erzielte er exzellente Ergebnisse. Wehner war zum Mythos, zur Legende geworden, die den realen Wehner zu verdecken begann. Wehner erschien als der alte Fuhrmann, der scheinbar unermüdlich den Karren zog – er war in allen Plenarsitzungen anwesend „bis zum letzten Hauch von Ross und Mann“47 – aber er steuerte den Karren nicht mehr. Wehners Biograph Christoph Meyer hat Recht, dass Wehner zunehmend eine Tradition verkörperte, „vor allem aber eine Haltung, nämlich die eigene Regierung zu unterstützen“.48 Gleichzeitig aber wurde der alte Wehner – wegen seiner Ausbrüche – in der Öffentlichkeit teilweise wieder zum „Bürgerschreck“, anderen galt er als Mann aus einer anderen Zeit. Allerdings wäre es falsch, die Schwierigkeiten der Fraktion allein Wehner anzulasten. Auch jeder andere wäre angesichts der divergierenden Tendenzen in Partei und Öffentlichkeit an Grenzen der Konsensbildung gestoßen. Die Nachfolgefrage wurde – auch wegen des Ansehens von Wehner in der Sozialdemokratie – zum Problem. Als mögliche Nachfolgekandidaten wurden (außer Hans-Jochen Vogel) genannt: Hans Apel, Hans-Jürgen Wischnewski, Hans Matthöfer und Horst Ehmke, die aus unterschiedlichen Gründen dann 44 45 46 47 48

Ebd., S. 66. Ehmke, Mittendrin, S. 278. Ebd. Meyer, Wehner, S. 460. Ebd., S. 471.

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doch nicht zum Zuge kamen. Gegen Apel gab es Bedenken beim linken Flügel, zu Ehmke, von dem Wehner glaubte, dass dieser ihn ablösen wolle, bei den „Kanalern“ und beim rechten Flügel, auch Schmidt hatte ein ausgesprochen distanziertes Verhältnis zu Ehmke. Überdies wurden die Genannten für andere Aufgaben gebraucht. Nachfolger Wehners wurde dann schließlich – nach den Neuwahlen 1983 – Hans-Jochen Vogel, der die Arbeitsweise der Fraktion neu organisierte und sich um eine Beteiligung von ungleich mehr Abgeordneten an der Fraktionsführung bemühte. Charakteristisch ist jedenfalls für die späteren 70er Jahre, dass abweichende Positionen in der Fraktion zunehmend öffentlich sichtbar wurden und sich manchmal sogar im Abstimmungsverhalten einzelner oder einer Gruppe im Plenum niederschlugen, was auf Integrationsprobleme in der Fraktion schließen lässt. Recht spektakulär war nach der Bundestagswahl 1976 die Debatte in der SPD-Fraktion über die Koalitionsvereinbarungen der Koalitionsparteien zur Rentenerhöhung. Angesichts der nun offensichtlichen Finanzprobleme der Rentenversicherung wollte die Koalition die Rentenerhöhung um ein halbes Jahr verschieben, was nicht nur die Opposition, die von einer Rentenlüge sprach, auf den Plan rief, sondern auch in der SPD zu innerparteilichen Protesten führte, insbesondere auch in der SPD-Bundestagsfraktion. Kanzler und Koalitionsspitzen korrigierten sich, indem sie zur Gewährleistung der Rentenerhöhung die Rentenrücklagen reduzierten. Die Fraktion war der Ansicht, einen schweren Fehler der Verhandlungsdelegation ausgebügelt zu haben. Schmidt meinte – auf diesen Vorgang in seiner Regierungserklärung anspielend – „Eine Regierung ist nicht unfehlbar“; Schmidt hat diesen Fehler auch später immer wieder eingeräumt.49 Einen ähnlich spektakulären Vorgang hat es in der Folgezeit nicht mehr gegeben, obgleich in der Fraktion, insbesondere auf dem linken Flügel, eine Tendenz erkennbar war, insbesondere im Hinblick auf finanzielle Konsolidierungsmaßnahmen, die auch Sozialleistungen betrafen, sich als Korrektiv zur Regierung zu verstehen. Die geringen ökonomischen Zuwachsraten seit 1975 verengten jedoch die politischen Spielräume für sozialdemokratisches Handeln erheblich. Ein weiteres Beispiel50 für innerfraktionelle Meinungsverschiedenheiten war auch die Debatte über das im Herbst 1977 – angesichts des Linksterrorismus – verabschiedete sog. „Kontaktsperregesetz“, durch das die Verbindung von RAF-Häftlingen und ihren Verteidigern bei ernster Gefahrenlage 49 Regierungserklärung vom 16.12.1976, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, 5. Sitzung, S. 31–52, hier S. 31; Schmidt, Außer Dienst, S. 157 f. 50 Zu den hier genannten Beispielen vgl. die entsprechenden Kapitel in Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt.

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unterbrochen werden konnte. Dieses betraf einen wichtigen Punkt der Handlungsfähigkeit der RAF, doch war es von den Rechtspolitikern – weil rechtsstaatlich nicht unbedenklich – lange Zeit abgelehnt worden. Als sich die Fraktion angesichts der aktuellen Situation doch zu diesem Gesetz durchgerungen hatte, stimmten nicht nur die linken Flügelleute Manfred Coppik, Karl-Heinz Hansen, Dieter Lattmann und Klaus Thüsing dagegen, sondern enthielten sich auch so prominente Abgeordnete wie Peter Conradi, Herta Däubler-Gmelin, Eckart Kuhlwein, Rudolf Schöfberger, Olaf Schwencke und Heide Simonis bei der Abstimmung über das zeitlich befristete Gesetz der Stimme. 1980 missbilligten einzelne Abgeordnete der SPD-Fraktion durch eine Erklärung die – auch von Schmidt nur widerwillig vorgenommene – Absage einer Teilnahme deutscher Sportler bei den Olympischen Spielen in Moskau, wodurch der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan sanktioniert und Loyalität gegenüber der amerikanischen Politik in einer schwierigen weltpolitischen Lage bekundet werden sollte. Man mochte derartiges Abgeordneten-Verhalten als Ausdruck lebendiger Demokratie bewerten, doch wurde es eben offensichtlich zunehmend auch schwieriger, die SPD-Abgeordneten bei kontroversen Fragen auf eine Linie festzulegen.51 An Fraktion und Partei scheiterte 1981 die Regierung mit ihrem Panzergeschäft mit Saudi-Arabien, dem strategische Erwägungen zu Grunde lagen. Allerdings konnte sich im gleichen Jahr eine Gruppe von 25 Abgeordneten in der Fraktion nicht durchsetzen mit dem Antrag, den Verteidigungsetat zu Gunsten der Hilfe für die Dritte Welt zu kürzen – womit sie ein Signal für eine andere Prioritätensetzung geben wollten, was nur als Kritik an Helmut Schmidt zu verstehen war. Ungleich gravierender war dann die Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss, der mit der Partei auch die Fraktion erfasste. Etwa ein Drittel der Abgeordneten der SPD-Fraktion tendierten schließlich zur Friedensbewegung, was freilich im politischen Entscheidungsprozess des Bundestages keine Rolle spielte. Parallel zur Auseinandersetzung in der Frage der Mittelstreckenwaffen, die zu großen Demonstrationen führte, nahmen 1981/82 die Gegensätze in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen den Koalitionsparteien zu. Während die FDP die wachsende Arbeitslosigkeit auf der Basis neoliberaler Programmatik bekämpfen wollte, fuhr Kanzler Schmidt einen mittleren Kurs, der eine gewisse soziale Symmetrie nicht aus den Augen verlieren wollte. Als Zweifel entstanden, ob alle Abge51 Eine überparteilich ausgehandelte Amnestie für alle, die sich bei der Parteienfinanzierung strafbar gemacht hatten, stieß nicht nur bei Justizminister Schmude und Kanzler Schmidt auf Bedenken, sondern wurde auch von der Bundestagsfraktion entschieden abgelehnt. Vgl. Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 745 f.

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ordneten der Regierungsparteien Schmidts Kurs mittrugen, äußerte Schmidt sich zuversichtlich, stellte dann aber – ohne dies mit einer Sachfrage zu verbinden – im Bundestag die Vertrauensfrage, über die am 5. Februar 1982 abgestimmt wurde. Schmidt ging es um eine Disziplinierung der Fraktionen der Koalition und um eine Demonstration der Handlungsfähigkeit seiner Regierung. Die Demonstration gelang, Schmidt erhielt 269 von 493 Stimmen, 226 votierten gegen ihn. Gleichwohl setzte sich die Erosion der sozial-liberalen Koalition weiter fort.

7. Das Verhältnis der SPD zu den Alternativbewegungen Die Lage der Sozialdemokratie in der politischen Auseinandersetzung wurde in der zweiten Hälfte der 70er Jahre nicht nur wegen des Aufkommens des Neoliberalismus, der eine Brücke zwischen FDP und CDU/CSU bilden konnte, zunehmend schwierig, sondern auch wegen der Herausbildung der Alternativbewegungen, aus denen sich die Partei „Die Grünen“ bildete. Das parlamentarische System und mit ihm die Sozialdemokratie sah sich in den 60er und 70er Jahren verschiedenen Politisierungsschüben ausgesetzt; ein neuer Schub wurde getragen von den Alternativbewegungen, die sich seit ca. 1974 – also nach der Phase der Reformeuphorie – herausbildeten. Sie speisten sich aus verschiedenen Quellen: – sie waren Teil der Grundwelle der Politisierung der deutschen Gesellschaft seit den 60er Jahren; – bei ihnen setzten sich – bei Verbreiterung der sozialen Basis – Impulse der Studentenbewegung fort, die sich u. a. in Vorbehalten gegenüber der repräsentativen Demokratie äußerten; – in ihnen wurden verstärkt auf dem Hintergrund sich ausbreitender postindustrieller Wertorientierungen Themen wie die Gefahr der Atomkraft, Probleme der Ökologie oder das Friedensthema angesichts der Gefahr einer neuen Stufe des Wettrüstens, doch auch Anliegen der Frauen aufgegriffen. In nicht unerheblichem Maße entwickelten sich die Bewegungen, die sich als Basisbewegungen verstanden, im Protest gegen die Politik des Bundes, der Länder und der Kommunen, indem sie sich wandten – gegen den Bau weiterer Atomkraftwerke zur Energiegewinnung angesichts der Gefährdung der Ölversorgung, die die Ölkrise 1973 gezeigt hatte; – gegen Infrastrukturprojekte, den Bau von Autobahnen, Flughäfen bzw. Landebahnen usw.;

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– gegen die Art der Sanierung von Altbaugebieten (durch die Besetzung von leer stehenden Häusern, wodurch eine Hausbesetzerszene entstand); – gegen den NATO-Doppelbeschluss und die drohende Nachrüstung. Die Friedensbewegung überstieg in der gesellschaftlichen Reichweite die Alternativbewegungen.52 Ein seit Ende der 60er Jahre entstandenes alternatives Milieu53 bildete in mancher Beziehung den sozialen Kern der Bewegungen; allerdings gingen die Bewegungen weit darüber hinaus. Ansätze einer gesellschaftlichen Selbstorganisation waren erkennbar, wenn sich auch rasch das Streben nach der Förderung durch „Staatsknete“ artikulierte. Für die sozial-liberale Bundesregierung (sowie die Länderregierungen und die Kommunen) brachten diese Bewegungen Herausforderungen mit sich. Bestimmte Themen wie den Umweltschutz versuchte die Regierung selbst aufzugreifen, bei anderen etwa im Städtebau versuchte sie auf ihre Weise die Probleme zu lösen (wobei etwa die Immobilienspekulation die Grenzen der bisherigen Reformpolitik aufzeigte). Viele der Aktionen der sich auf ihre Lebenswelt berufenden Alternativbewegungen aber richteten sich gegen staatliches Handeln, das auf der Basis parlamentarischer Entscheidungsprozesse und im Rahmen rechtsstaatlicher Verfahren erfolgte. Offensichtlich stießen hier verschiedene Politikbegriffe aufeinander, die u.a. in der Einschätzung des parlamentarischen Systems differierten. Die Sozialdemokraten, vom Kanzler bis zu den Mandatsträgern in den Kommunen, begriffen Politik als durch parlamentarische Beratung und Entscheidung, durch Gesetzgebung, Verträge, Verwaltungshandeln usw., demokratisch legitimiertes staatliches Handeln, durch das die Gesellschaft, Wirtschaft und auswärtige Politik gestaltet wurden. Gerade angesichts der starken Intensivierung der innerparteilichen Öffentlichkeit und der Kommunikation mit der Öffentlichkeit glaubte die Sozialdemokratie zugleich für sich in Anspruch nehmen zu können, die Impulse aus der Gesellschaft breit aufzugreifen. Das parlamentarisch-repräsentative System stand dabei für die Sozialdemokratie außer Zweifel, auch wenn Brandts „mehr Demokratie wagen“ darauf zielte, zugleich die Gesellschaft mit demokratischem Geist zu erfüllen. Die Alternativbewegungen – wo sie nicht relativ selbstgenügsame Subkulturen bildeten – versuchten staatliches Handeln, das auf parlamenta52 Zur Friedensbewegung vgl. Rüdiger Schmitt, Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Ursachen und Bedingungen der neuen sozialen Bewegungen, Opladen 1990; Philipp Gassert u.a. (Hg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. 53 Siehe dazu Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010.

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risch-rechtsstaatliche Weise zustande kam, zu verhindern und tendierten nicht selten zu einer Antipolitik, die das demokratische System mit Hilfe Betroffener und eines vagabundierenden Protestpotentials unterlaufen wollte. Eine prinzipielle Skepsis gegenüber staatlichem Handeln und Parlamentarismus war dabei nicht selten verknüpft mit einem dezidierten Antiinstitutionalismus, der sich in dem Willen ausdrückte, „Bewegung“ zu sein. Das hat sich in der Abneigung, Partei zu werden, ausgedrückt, die freilich nur ein Teil der Engagierten teilte, während die anderen den Weg zum Engagement in Parlamenten und zur Gründung der Partei „Die Grünen“ gingen.54 Diese versuchte sich selbst als „Antiparteien-Partei“ (Petra Kelly) darzustellen, mit der Rotation und anderen strukturellen Merkmalen basisdemokratischer Willensbildung sich von den „Alt-Parteien“ zu unterscheiden. Der stark fundamentalistische Zug eines Teils der ansonsten recht heterogenen Partei und das Rekurrieren auf eine eigene Kultur machte den Graben zu den etablierten Parteien, auch zur Sozialdemokratie zunächst schwer überwindbar. Erst in einem längeren Prozess, in dem die Richtung der „Realos“ unter den Grünen die Führung ergriff, mutierten die Grünen dann schrittweise zu einer normalen Partei in der parlamentarischen Demokratie. Die Sozialdemokraten verteidigten gegenüber den Grünen und ihrem alternativen Umfeld, in dem es anfangs manche Eiferer – teilweise auch mit Herkunft aus den linksextremen K-Gruppen – gab, in vielen Diskussionen das parlamentarische System, wie übrigens auch das staatliche Gewaltmonopol.55 Doch zugleich stellte die sozialdemokratische Grundwertekommission in ihrem Papier „Die Arbeiterbewegung und der Wandel des gesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens“ Affinitäten zwischen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und den neuen Bewegungen fest, etwa in Fragen der gesellschaftlichen Selbstorganisation, im Genossenschaftswesen, in Ökologiefragen usw.56 Bemerkenswerterweise wurden nun auch in der SPD ökosozialistische Ansätze vertreten. Und nicht zuletzt fand der Protest gegen die Kernkraftnutzung auch in der Sozialdemokratie Resonanz, so dass die SPD 1977 auf dem Hamburger Parteitag eine zwei Optionen-Position beschloss, die die Beibehaltung der Option Kernkraft ebenso wie die Möglichkeit auf sie zu verzichten enthielt, was Kritiker mit dem Bonmot charakterisierten: „Mit Helmut 54 Zur Gründung der Grünen vgl. Joachim Raschke, Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993; Thomas Poguntke, Alternative Politics. The German Green Party, Edinburgh 1993. 55 Vgl. Ehmke, Mittendrin, S. 291–301. 56 Die Arbeiterbewegung und der Wandel gesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens. Ein Diskussionspapier der Kommission Grundwerte beim SPD-Parteivorstand, Februar 1982. Vgl. Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 609–615.

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Schmidt und Erhard Eppler für und gegen die Kernenergie“.57 Einig war man sich freilich bald darin, dass man doch stärker auf einen Energie-Mix setzen wollte, der auch die Nutzung der „heimischen Steinkohle“ einschloss. Die kontrafaktische Frage, ob es der SPD mit einer anderen Politik hätte gelingen können, die Parteigründung der „Grünen“ zu verhindern, wird man aus heutiger Sicht eher verneinen müssen. Die SPD sah sich nicht nur mit den Alternativbewegungen und ihrem teilweise gespannten Verhältnis zur repräsentativen Demokratie konfrontiert; vielmehr wurde auf sie zugleich auch Druck von den Gewerkschaften ausgeübt, die für die Nutzung der Kernkraft plädierten und sich gegen industriefeindliche Tendenzen der Alternativen wandten. Auch spielten neben generationellen kulturelle Faktoren bei der Gründung der „Grünen“ eine Rolle, obgleich auch Sozialdemokraten hier und da zu den Grünen wechselten. Wie bei ähnlichen kontrafaktischen Fragen wäre zu klären, was alles anders hätte sein müssen, um einen anderen Verlauf zu ermöglichen. In dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 1980, der durch die Konfrontation von Strauß und Schmidt, von CDU/CSU und SPD geprägt war, gingen die Grünen noch unter und blieben weit unterhalb der Sperrklausel. Doch zogen sie 1983 dann in den Bundestag ein, was die Position der SPD im Parteiensystem zunächst schwächte, weil für SPD und Grüne eine Koalition von beiden Seiten her noch unmöglich schien und die SPD mehr als die anderen Parteien Wähler an die Grünen abgab. Ihre Etablierung, die die Grenzen der Integrationsfähigkeit der bisherigen Parteien, insbesondere der SPD, erkennen ließ, bedeutete einen Einschnitt für das Parteiensystem in der Bundesrepublik – das Zweieinhalb-Parteiensystem kam an sein Ende, ein Vierparteien-System entstand. Erwähnt werden muss, dass die Sozialdemokratie das parlamentarische System auch in den 70er Jahren verteidigt hat gegen die K-Gruppen und andere linksextreme Gruppen, vor allem auch gegen den Terrorismus der RAF – und zwar in einer Weise, dass die demokratische Substanz des Landes und die politisch-kulturelle Liberalität nicht dauerhaft beschädigt wurden. Auch beim sog. Radikalenerlass ging es um die Verteidigung der demokratischen Verfassung, in dem das parlamentarische System ein Herzstück ist. Die Wirkung dieses Erlasses ist schon bald als sehr ambivalent beurteilt worden, nicht zuletzt in der Sozialdemokratie. Keine Frage aber, dass die SPD auch in der Bundesrepublik stets „Verfassungspartei“ gewesen ist, wobei die Identifikation mit der Verfassung sich während der 70er Jahre noch weiter erhöht haben dürfte. Sozialdemokraten wurden in besonderer Weise Vertreter des Verfassungspatriotismus. 57 Siehe ebd., S. 590 ff.

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Bernd Faulenbach

8. Die SPD und das Scheitern der sozial-liberalen Koalition Die FDP definierte sich im Laufe der 70er Jahre zunehmend als „mäßigendes Korrektiv“ zur SPD, insbesondere zu deren linkem Flügel58; doch war die Koalition, die unter Kanzler Schmidt als „Zweckbündnis“ begriffen wurde, zumal angesichts der CDU/CSU-Konfrontationsstrategie bis 1980 nie gefährdet. Danach aber entwickelte sich ein Entfremdungsprozess der beiden Partner. Dieser Prozess, der durch das Aufbrauchen des Vorrates gemeinsamer Ziele und Projekte mit bedingt war, spiegelte sich auf der parlamentarischen Ebene und fand über weite Strecken in der Öffentlichkeit statt. Auf dem Hintergrund der neuerlichen Wirtschaftskrise verschärften sich 1981/82 die Gegensätze in der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik – insbesondere dadurch, dass die FDP entschieden neoliberale Positionen aufgriff und sich bei den Haushaltsberatungen, die als Katalysator der Entfremdung wirkten, weitgehend intransigent gegenüber sozialdemokratischen Wünschen nach sozialer Symmetrie verhielt. Die FDP nahm einen Koalitionswechsel in Aussicht, den ihr gutes Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 1980 zu ermöglichen schien. Diese Neuorientierung des kleinen Koalitionspartners, die als Vorbereitung eines Koalitionswechsels aufgefasst werden musste, wurde schließlich durch Helmut Schmidt durchkreuzt, als er zu der Überzeugung kam, dass die FDP eine Koalition mit CDU/CSU anstrebte. Er beendete deshalb unter klarer Feststellung der Verantwortlichkeit der FDP seinerseits die Koalition, was die FDP in erhebliche Schwierigkeiten brachte. Das Ende der sozial-liberalen Koalition war damit das Ergebnis eines fast misslungenen parlamentarischen Wendemanövers der FDP. Allerdings hat die SPD zu diesem Ende beigetragen. Zwar hat die „Troika“ aus Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner lange an der Koalition festgehalten. Wehner warnte, dass es, falls die Macht verloren gehe, 12 Jahre dauern würde, bis die SPD wieder regieren würde (tatsächlich wurden es 16 Jahre). Doch wuchsen eben auch auf Seiten der SPD Skepsis und Misstrauen gegenüber der FDP, die ihren Wahlerfolg – wie man glaubte – Helmut Schmidt verdankte. Es war der scharfe neoliberale Kurs, der die SPD irritieren musste, weil er die breiten Arbeitnehmerschichten traf, während die Klientel der FDP ungeschoren blieb. Das Klima in der SPD war freilich auch bestimmt durch die Rücksichtslosigkeit, mit der Repräsentanten der Parteiflügel ihre Positionen vertraten, was zur weiteren Polarisierung über die Frage der Mittelstreckenwaffen, über die Nutzung der Atomkraft, über Waffenexporte, über die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit u. a. führte. Das konnte als 58 Wiesendahl, Überhitzung und Abkühlung, S. 148.

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umso dramatischer anmuten, als sich ein Mangel an Zukunftsperspektiven – nicht nur für die Koalition, sondern auch für die SPD – abzuzeichnen schien. Die Stimmung war auch in der SPD auf einem Tiefpunkt angekommen. Teile der Partei betrieben ihrerseits offen das Ende der Koalition und einige auch – wie Oskar Lafontaine – offen die Demontage des Kanzlers Helmut Schmidt.

9. Bilanzierende Schlussbemerkung Betrachtet man aus der Distanz das „sozialdemokratische Jahrzehnt“, so wird man sagen können, dass die Bundesrepublik besser als andere Länder durch dieses zunehmend durch Krisenphänomene charakterisierte Jahrzehnt gekommen ist und das Ansehen sowie der Einfluss der Bundesrepublik in der internationalen Politik wuchs. Auch wurden wesentliche Weichenstellungen in der Deutschland- und Europapolitik vorgenommen, die auf Gleise führten, die nach 1982 weiterbenutzt wurden und erheblich dazu beitrugen, den Ost-West-Gegensatz zu überwinden. Im Hinblick auf den Parlamentarismus wird man sagen können, dass die Sozialdemokratie ihn nicht nur in diesem Jahrzehnt – wie die meiste Zeit zuvor – mit Leben erfüllt, sondern auch wesentlich zu seiner Verankerung in der Gesellschaft durch Demokratisierung beigetragen hat. Wo nötig, hat sie diesen auch gegen seine Gegner verteidigt, was nicht ohne Konflikte abgehen konnte. Die Befürchtung konservativer Kritiker jedoch, dass die Demokratisierung zur „Unregierbarkeit“ führen würde, bestätigte sich nicht. Das Ende des großen Nachkriegsbooms fällt mitten in das sozialdemokratische Jahrzehnt.59 Es ist hier nicht der Ort, die Leistungen der sozial-liberalen Koalition und der SPD während der 70er Jahre zu bilanzieren. Vieles spricht aber dafür, dass unter politischer Verantwortung und Mitwirkung der Sozialdemokratie, die die gesellschaftlichen Veränderungen teils gestaltete, teils akzeptierte, der deutsche parteienstaatliche Parlamentarismus während der 70er Jahre sich gegenüber den 50er und 60er Jahren erheblich wandelte. Damit trat er in eine neue Epoche ein, die durch ein wachsendes Maß von neuen Formen politischer Partizipation gekennzeichnet war, die nicht mehr unbedingt den Parteien zugute kamen.

59 Vgl. Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.

Autorenverzeichnis Dr. Rainer Behring, Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Düsseldorf Dr. Peter Brandt, Professor (i.R.) für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Fernuniversität Hagen, Direktor des Dimitris-TsatsosInstituts für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Holger Czitrich-Stahl, Geschichtslehrer an der Max-BeckmannOberschule in Berlin-Reinickendorf Dr. Bernd Faulenbach, Professor (i.R.) für Zeitgeschichte an der Universität Bochum, Vorsitzender der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD Dr. Siegfried Heimann, Privatdozent (i.R.) für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Robert Philipps, Referent in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Dr. Karl Heinrich Pohl, Professor (i.R.) für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Kiel Dr. Volker Stalmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin Dr. Peter Steinbach, Professor (i.R.) für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim, Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin

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